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reViews 30 - Noisy-neighbours.com

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<strong>30</strong><br />

<strong>reViews</strong><br />

AMPL:TUDE -<br />

DER IGEL AN DER ORGEL<br />

(Sinnbus/Alive)<br />

Ein Homerecording-Studio in<br />

Berlin-Neukölln, 2006: Vier jugendliche<br />

Tüftler-Nerds machen<br />

es sich vor dem Rechner gemütlich, drehen<br />

an Knöpfchen und hauen in die Tasten. Sie sind<br />

Teil einer Generation, die schon im Kindesalter<br />

ganz selbstverständlich mit Videospiel-Soundtracks<br />

aufwuchs und so schon früh mit Beats, Bits<br />

und Bytes Bekanntschaft machte. Hier hören wir<br />

das Resultat, quietschbunt wie sein Cover. Von jeglicher<br />

partieller Rockband-Vergangenheit hat sich<br />

das sinnbussche Eigengewächs Ampl:tude gemäß<br />

der Maxime „digital ist besser“ getrennt, nur selten<br />

verirrt sich noch eine Gitarre ins Klangbild. Nein,<br />

„Der Igel an der Orgel“ (sic!) ist der mittlerweile<br />

dritte Entwurf von C64-Elektrodance-Indietronics<br />

und dabei DIY in Reinkultur. Wenn andere Bands<br />

Soundtracks für Filme konzipieren, muss das verrückte<br />

Computerspiel, das „Der Igel an der Orgel“<br />

untermalen soll, noch erfunden werden. Abgedreht<br />

wäre es ganz sicher, quietschbunt und vergnüglich.<br />

Ein bonbonfarbenes Jump'n'Run in 4D, mit einem<br />

Protagonisten aus dem Tierreich - vielleicht ja<br />

„Die kleine Katze“? Mit Casio-Keys und Spielzeugklavier<br />

basteln sich Matti, Phil, Conrad & Jo eine<br />

Gameboy-Soundästhetik zusammen, die sehr eigen<br />

klingt und uns fern von hippen Dance-Trends<br />

und sterilen Elektro-Konventionen mit lässiger<br />

Gute Laune-Attitüde quirlig vergnügt. Putzig und<br />

naiv pluckert und fiept der Brotkasten, er funkt,<br />

zischt und steht ständig unter Strom - und spuckt<br />

dennoch immer wieder maximal poppige Melodie<br />

und schräge Tanzbeats aus. Computermusik mit<br />

warmem Herz und analoger Seele, eine „Revolution<br />

zum Selberkochen“, die kühler Kybernetik auf<br />

den elektrischen Synapsen ein Spiegelei brät. Vergleiche<br />

fallen schwer. Ein abwegiger: Man stelle<br />

sich vor, Horse The Band würden ihre Saiteninstrumente<br />

wegschmeißen, auf jegliche Metal-Hampeleien<br />

verzichten und ohne Machismo zu ihrem Nintendo-Nerdtum<br />

stehen. Und dann auch noch<br />

freundliche Tiere gut finden. Höchstens Console<br />

taugt vielleicht als entfernter Cousin im Geiste als<br />

Anhaltspunkt, zumindest ist Martin Gretschmann<br />

bekennender Hornbrillenträger. Vielleicht treffender<br />

ist das Bild, das der Plattentitel evoziert: Nicht<br />

selten klingt das tatsächlich so wuselig, als hätte<br />

sich der kleine Racker in der elektronischen Orgel<br />

verfangen und würde beim Fluchtversuch über die<br />

Tasten huschen und dabei sämtliche Knöpfe auf<br />

einmal drehen. Eine hohe Toleranzgrenze ist für<br />

derlei Eskapaden vonnöten, denn oftmals treibt es<br />

„Der Igel an der Orgel“ ziemlich bunt, sprich: nervenbelastend.<br />

Und für viele mag das gar schon von<br />

Anfang an nur ein Gedudel ersten Grades sein,<br />

kindlich und albern noch dazu. Aber trotz Stellen<br />

hoher nervlicher Belastung: diese Platte entschädigt<br />

mit vielen großartigen Momenten. Spätestens<br />

beim Hidden Track, der das alte „Ich packe meinen<br />

Koffer…“-Spiel reanimiert, ist man sich<br />

schließlich sicher: Das hier ist Musik von Nerds,<br />

für Nerds.<br />

9 Punkte<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

elektro-on.de<br />

Alles neu macht der Mai. Oder auch das neue Jahr. Zeit für Veränderung. Zeit, unsere <strong>reViews</strong>-Flut ein bisschen<br />

zu strukturieren. Und da in mancher Leben die Schulzeit noch sehr präsent ist („hach, damals, weißt Du noch?“),<br />

haben wir uns für ein 15-Punktesystem entschieden. Da gibt’s nicht viel mehr zu erklären... außer vielleicht noch:<br />

0-3 Punkte: irgendwo da unten. 4-6 Punkte: „Nicht Fisch, nicht Fleisch“, aber „essbar“. 7-9 Punkte: Mittelfeld.<br />

10-12 Punkte: gut! 13-15 Punkte: Supergutes Schätzchen!!!<br />

ANAJO -<br />

HALLO; WER KENNT HIER<br />

EIGENTLICH WEN?<br />

(Tapete/Indigo)<br />

Meine erste Begegnung mit<br />

dem Phänomen Anajo hatte ich, noch bevor ich<br />

auch nur eines ihrer Lieder gehört hatte - in einem<br />

Münchner Platten-Discounter tauchten während<br />

meines halbstündigen Stöberns nach interessanten<br />

Neuerscheinungen eine Dame mittleren Alters<br />

und ein Girlie auf. Sie erkundigten sich beide nach<br />

Platten einer Band, von denen es noch keine einzige<br />

Scheibe im Handel gab und die Tags zuvor einen<br />

ihrer allerersten Münchner Auftritte absolviert<br />

hatte: Sie sprachen von ganz niedlichen Jungs aus<br />

Augsburg und der tollen Partymusik. Es ging um<br />

Anajo - nach den im Möchtegern-Major-Rohr krepierten<br />

Nova International und Roman Fischer der<br />

nächsten großen Hoffnung der selbsternannten<br />

Popcity Augsburg. Und sie machten ja auch richtig<br />

Freude, die drei Jungs aus der knallbonbonbunten<br />

Tralala-Abteilung, in der scheinbar nur harmlos<br />

hübsche Unterhaltung ohne jegliches schlechtes<br />

Gewissen feilgeboten wurde. Doch das Witzige<br />

waren die stets präsente Selbstironie und eine nie<br />

zur Pose degenerierende Teenager-Frische, die<br />

Songs wie „Monika-Tanzband“ zu echten Kleinoden<br />

machten - und jedem, der es nicht hören wollte,<br />

raunte ich zu, dass ich auf den Erfolg dieser Jungs<br />

gerne Wetten anböte. Nur - niemand wettete dagegen.<br />

Nun also die Neue - erst Jahre später. „Wir lassen<br />

uns gehen und machen uns frei“ singen sie am Anfang,<br />

unsere drei Spaßpopper. „Alles, was da ist,<br />

und alles, was war: Wir werden es toppen, wir werden<br />

zum Star.“ Sie wären nicht die ersten Musiker,<br />

die in leicht schief liegender Grammatik den eigenen<br />

Aufstieg zutreffend besingen, auch, wenn der<br />

Gag einen weit in die Musikgeschichte zurück reichenden<br />

Bart hat. Es klingt ja so naiv, so - irgendwie<br />

- richtig, so schön leicht schräg und echt authentisch.<br />

Und von Anfang an entsteht das Bild<br />

weich gespülter Sportfreunde. (Doch, das geht!)<br />

Auch hier der Gesang, der sich nicht um seine Lehrer<br />

schert, die völlige Hinwendung zum Privaten<br />

und Unpolitischen. Eine fruchtgummi-süße Welt<br />

ohne Probleme. Da besingt man den Hotelboy, den<br />

mit Wasser in den Augen, weil man ihn halt gesehen<br />

hat, und vielleicht noch ein bisschen einen auf<br />

schwul macht, dann eine liebevolle Begegnung in<br />

Norddeutschland, das Mädchen im Fenster gegenüber<br />

- all die matt aufscheinenden, niemals ausgeleuchteten<br />

Projektionsflächen von Teenagerliebe<br />

und gymnasiastischen Allerwelts - Verblasenheiten.<br />

Und je länger das weiter dudelt, desto sicherer<br />

bin ich mir, dass das wirklich das nächste<br />

große Ding ist. Dass es mich immer mehr langweilt.<br />

Dass hier aus Ironie wirklich Pose wurde.<br />

Dass die Readers - Digest - Kopie harmloser<br />

Scherze flach werden muss. So flach, dass sich<br />

die Masse endlich davon träumen kann, in ein Zukkerwatte-Land<br />

ohne Alltagsdramen und existenzielle<br />

Unsicherheit. Dieser musikalische Lollipop<br />

ist eine Designer - Droge - auch, wenn Anajo ihr<br />

angebliches Indie - Bewusstsein so gerne betonen,<br />

dass sie wahrscheinlich selbst - noch! - dran glauben<br />

- independent ist hier nur die Freiheit zum Geld<br />

verdienen. Späßchen und Worte ohne Bedeutung<br />

gibt es ja auch in Zukunft ohne Ende. Also wird dieses<br />

Konzept fast ewig funktionieren - in all seiner<br />

kalkulierten Beliebigkeit. Und so mancher Intellektuelle<br />

mag dabei fröhlich und folgenlos mitwippen.<br />

So, wie in den Fünfziger - Jahren zu dümmlichen<br />

Schlagerliedchen in der Musiklandschaft das dösende<br />

Publikum auch um die Wette zum Verdrängen<br />

verführt wurde.<br />

Nette Liedchen also zwischen Schlager und Pop,<br />

zu denen Mutti mit ihrer Tochter tanzen kann. Mutti<br />

träumt von `nem jungen Lover und hofft, dass ihre<br />

Kleine mal so einen abkriegt, nicht so `nen Revoluzzer<br />

oder armen Arbeiter. Töchterchen möchte<br />

mit so `nem lieben Mittzwanziger schmusen, nachdem<br />

er von den Musikertantiemen die Champagnerrechnung<br />

gezahlt hat. Vorsicht, Mädel: Nicht<br />

jede nette Fassade bleibt beim besser Kennen lernen<br />

auch so nett. Von wegen: alles ist gut. Blablabla.<br />

Tralala.<br />

„Bunte Lichter, dunkle Wolken, ohne Bedeutung,<br />

denn dein Geheimnis liegt darin, dass Du keins<br />

hast.“ Das ist die ungewollte Selbstbeschreibung<br />

einer Erfolgsband von gleich morgen, die schon<br />

heute keine Eigenschaften mehr hat und hübsche<br />

Liedchen perfektioniert, die niemandem wehtun<br />

und völlig folgenlos bleiben. Opium fürs Volk? Aber<br />

sicher. Die (Platten-) Industrie freut das. Karl Marx<br />

hatte Recht. Ihrem häufig so mutigen, feinen Label<br />

gönne ich die garantiert fette Beute! Und die<br />

Jungs sollen von dem Geldregen, der jetzt auf sie<br />

niedergehen wird, das tun, was sie schon immer<br />

wollten, aber sich in ihren Liedern nicht auszusprechen<br />

trauen. Dann haben sie uns beim nächsten<br />

Mal vielleicht wieder Relevantes zu berichten.<br />

Die mir noch allzu gut erinnerliche Band Münchner<br />

Freiheit hat jedenfalls unerwartet Erben bekommen.<br />

Schlimm genug.<br />

5 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

anajo.de<br />

BEEHOOVER -<br />

THE SUN BEHIND THE DUSTBIN<br />

(Exile On Mainstream Rec / Soulfood)<br />

Mit Beehoover bekommt der derzeit so beliebte<br />

Club der trauten Zweisamkeit ein neues Mitglied.<br />

Diesmal aus Deutschland. Drums, Bass und Gesang<br />

sind die Mittel mit denen C.-P. Hamisch und<br />

I. Peterson ihre Version des Stoner-Doom-Metal<br />

zum Besten geben. Anfangs klingt „The Sun Behind...“<br />

dann auch ziemlich interessant, weil es<br />

schon überrascht, wie mächtig und druckvoll das<br />

Duo zu Werke geht. Aber jedes Mal, wenn das Album<br />

etwa zur Hälfte durchgelaufen ist - so etwa ab<br />

Break Nummero 1093 also - kann ich mir einen<br />

verstohlenen Blick auf das CD-Player-Zählwerk<br />

nicht mehr verkneifen. Irgendwie zieht sich das Album<br />

mit seinen gut 63 Minuten Gesamtspielzeit<br />

nämlich sehr in die Länge - obwohl Beehoover alles<br />

daran setzen, anders und „besonders“ zu klingen.<br />

Wahrscheinlich ist es aber genau dieser eigene,<br />

etwas zu verkopft wirkende Anspruch, der<br />

dem Album die Leichtigkeit nimmt und die Band<br />

letztendlich schlechter wegkommen lässt, als sie<br />

es eigentlich verdient hat. Live in einem kleinen,<br />

stinkenden Club oder auf EP-Länge sicherlich eine<br />

Macht. Abendfüllende Unterhaltung bieten Beehoover<br />

aber leider (noch) nicht.<br />

8 Punkte<br />

Jochen Wörsinger<br />

mainstreamrecords.de


BODI BILL - NO MORE WARS<br />

(Sinnbus/Alive)<br />

Es ist eine Krux mit dieser Platte! Die so gut und einzigartig<br />

hätte werden können und das nicht nur andeutet, sondern<br />

zeitweise auch konsequent in die Tat umsetzt, was<br />

man sich von ihr erwartet. Man muss nämlich wissen: Hinter<br />

Bodi Bill, diesem geheimnisvollen, körper- und gesichtslosen Konstrukt in<br />

50er-Jahre-Schwarzweiß-Ästhetik, verstecken sich Alex Amoon, vormals bei<br />

den Postrockern von Nonostar aktiv und der Elektronik/Laptop-Tüftler Pantasz<br />

alias Fabian Fenk. Auf dem Papier verspricht das eine Fusion aus verquerem<br />

Schöngeist und warmen Beats, auf dem Platz ist das zunächst sogar noch<br />

besser. Denn der Beginn von „No More Wars“ hat es in sich: Das ist smarter<br />

Indie-Elektro-Pop mit Köpfchen, leicht neben der Spur und im unterkühlt sterilen<br />

Gewand aus Querdenkerbeats stets aufgewärmt von einer unperfekten<br />

Stimme, der ganz viel Seele innewohnt - die Anglophilen unter euch könnten<br />

das auch beruhigt Soul nennen. Doch irgendwann passiert es dann unvermittelt:<br />

Die Stimmung kippt, kompakte Kleinode weichen ausufernden, monotonen<br />

Club-Beats und das intime Wohnzimmerkonzert wird in die anonyme,<br />

unpersönliche Großraumdisko verlegt. Dass Herr Pantasz mitten im Aufnahmeprozess<br />

seinen Kollegen kurzerhand aus dem Studio verbannte, ist höchst<br />

unwahrscheinlich, aber doch klingt es so. Der permanent uninspirierte Ausflug<br />

auf den instrumentalen Techno-Tanzflur langweilt jedenfalls zutiefst und will<br />

auch mal so gar nicht recht in den Kontext dieser so vielversprechend gestarteten<br />

Scheibe passen. Nichts gegen eine ordentliche Portion Bodi-Moving, in<br />

Trance verfallen will man bei dieser besseren Hintergrundbeschallung aber<br />

nicht. Nach quälend langem Ausharren auf Erlösung verpassen uns Bodi Bill<br />

dann mit dem finalen Track, der Single „Willem“, den finalen Schmerzenshieb.<br />

Denn dieser beste Song auf „No More Wars“ führt in knapp drei Minuten und<br />

mit charmanter Klavier-Begleitung nochmals deutlich vor Augen, was vorher<br />

in viel zu langen, abstrakten Dance-Exkursionen versäumt wurde: Wie ein guter<br />

Song auszusehen hat. Was hier hätte gehen können, wäre da nicht auf halber<br />

Strecke der böse Clubberwolf im Schafspelz aufgetaucht. Die Kriege können<br />

uns Bodi Bill zwar weiterhin gerne verbieten - aber nicht die Tränen für<br />

diese verpasste Chance.<br />

6 Punkte<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

bodibill.de<br />

BOMBEE+ - BEACHBOYS BACK FROM ANCHORAGE<br />

RADAR - ROLLSPLITT<br />

(beide Sweet Home Records/Poordog)<br />

Und wieder mal tritt ein neues, interessantes Label auf den Plan. Diesmal beheimatet<br />

in Sachsen, genauer Hohenstein-Ernstthal. Der Grundgedanke dahinter<br />

ist so einfach wie löblich: DIY, enge, auf Gleichberechtigung basierende<br />

Zusammenarbeit mit den Bands, eine eigenständige Plattform für Eigenständigkeit<br />

liebende Bands bieten, Netzwerke gründen und aufrecht erhalten und<br />

nicht zuletzt ein hohes Maß an Idealismus.<br />

Die beiden aktuellen Veröffentlichung des Labels spiegeln dann auch genau<br />

diese Haltung wieder. Da wären zunächst mal BOMBEE+ mit einem Album,<br />

das man schon alleine wegen des absolut genialen Titels „Beachboys Back<br />

From Anchorage“ mögen muss. Auf solche Ideen kommt man wohl nur, wenn<br />

man sich wie die Herren De Flander, Roeder und ein junger Mann, genannt<br />

der Kaiser, eine Woche einsperrt und zehn Songs wachsen lässt, wo vorher<br />

noch keine waren. So klingt alles auch sehr frisch und spontan und obwohl lediglich<br />

Stimme, Gitarre und Cajón (peruanisches/kubanisches Percussioninstrument)<br />

zum Einsatz kommen, lassen die rein akustisch gehaltenen Songs<br />

nichts vermisst. Im Gegenteil: Erst durch diese Freiraum lassende Instrumentierung<br />

entfalten sie eine angenehme Tiefe, und vor allem wenn das Trio in<br />

Richtung Blues und Country im Cash'esken Stil schielt, kann das Ganze auch<br />

latent ins Rocken kommen. Insgesamt also ein recht eigenständige, leicht verstrahlte<br />

Platte, die mit sehr viel liebe zum Detail daher kommt.<br />

Ein etwas anderes Feld beackern RADAR, die mit „Rollsplitt“ den zweiten aktuellen<br />

Sweet Home-Release liefern. Der Infoschreiber scheut sich ein wenig<br />

die Schublade Post-Rock aufzumachen und ich frage mich warum! Ist die denn<br />

mittlerweile denn auch schon wieder so uncool geworden? Klar. Klassischer<br />

Post-Rock geht schon ein wenig anders, als es Radar vormachen, aber eine<br />

gewisse Verwandtschaft lässt sich sicherlich nicht verleugnen. Und damit<br />

meine ich nicht nur den lediglich rudimentär eingesetzten Gesang, sonder vielmehr<br />

die verschachtelten, auf Repetition und geschickte Verzögerung basierenden<br />

Songstrukturen, die dem ganzen Album einen leicht psychedelische<br />

Anstrich verleihen. Am Besten lässt sich das hier wohl als (neuere) The Sea<br />

And Cake mit weniger Zuckerguss oder (ältere) Trans Am mit mehr Liebe zum<br />

Song beschreiben. Positiv fällt zudem auf, dass hier nicht nur auf das alte<br />

Laut/Leise/Steigerung/Eruption-Spiel vertraut wird, sondern vor allem im Bereich<br />

Rhythmus immer wieder Modernismen, sprich Club-Beats, eingestreut<br />

werden und auch die stets vorhandenen Keys und Orgeln für zusätzliche Abwechslung<br />

und einen leicht krautig-avantgardistischen Anstrich sorgen.<br />

Bombee+: 11 Punkte<br />

Radar: 10 Punkte<br />

Jochen Wörsinger<br />

sweethomerecords.<strong>com</strong><br />

BOUND STEMS - APPRECIATION NIGHT<br />

(Flameshovel/Alive)<br />

<strong>reViews</strong> 31<br />

Wie klingt es, wenn ein ehemaliger Geschichtslehrer, ein<br />

Comic Art-Director und ein Techniker eine Band gründen?<br />

Richtig: intellektuell, künstlerisch wertvoll und frickelig. Die<br />

Bound Stems knallen uns mit ihrem Debüt einen ganz schönen Brocken vor<br />

den Latz. Eine mit 15 Songs prall gefüllte Wundertüte, auf der musikalischen<br />

Landkarte irgendwo zu verorten zwischen pavementschem Indierock und dem<br />

Emo des amerikanischen Mittelwestens. „Appreciation Night“ ist schräg und<br />

neben der Spur, zerrissen, konfus und anstrengend, wirkt zerstreut und macht<br />

doch Sinn. Die Bound Stems sind stolz auf ihre chaotische Ader, die sich in<br />

collagenartigen, komplett zerwürfelt wirkenden Songstrukturen niederschlägt.<br />

An Conor Obersts Rockband Desaparecidos muss man da denken, an deren<br />

Saddle Creek-Labelmates von Cursive und vor allem an Modest Mouse. Frontmann<br />

Bobby Gallivans Stimme klingt wie ein Hybrid aus den Sängern dieses<br />

Band- Trios. Vor allem die stimmliche Ähnlichkeit zu Brock ist fast schon beängstigend<br />

- bei jedem Imitationswettbewerb würde Galligan die Konkurrenz<br />

gnadenlos in Grund und Boden singen. Und hier wie da denkt man, dass dem<br />

getriebenen Wahnsinnigen am Mikro eine Teufelsaustreibung nur helfen<br />

könnte, um von seinen Dämonen loszukommen. Für ein wenig liebliche Wärme<br />

sorgt sein charmanter weiblicher Counterpart Janie Porche, zum Beispiel im<br />

sich stellvertretend für die ganze Scheibe unberechenbar wandelnden „Excellent<br />

News, Colonel“, das sich von lieblichem, fröhlichem Indie-Pop über nachdenkliche<br />

Schwermut bis hin zum triumphierenden Gesangsduett im Wechselbad<br />

der Gefühle einer beachtlichen Transformation unterzieht. Thematisch<br />

befasst man sich auf der abenteuerlichen Reise durch „Appreciation Night“<br />

von Geschichten über die Namensgebung von Säuglingen bis hin zur Historie<br />

des amerikanischen Bürgerkriegs mit einem weiten Spektrum. Im Grunde<br />

genommen ist die geballte Lyrikansammlung eine Hommage an den Alltag in<br />

der Heimatstadt Chicago, Illinois, ergänzt durch Zitate aus der Literatur von<br />

James Joyce und Kurt Vonnegut Jr. Auch textlich also schwerer Stoff. „pretty<br />

/ <strong>com</strong>plex / music“ steht im Booklet dieser Scheibe geschrieben. Kann man<br />

unterm Strich so stehen lassen. Wenn man sich auch oft noch mehr Dominanz<br />

des Schönklangs gegenüber der oft übertriebenen Komplexität wünscht. Langweilig<br />

wird es in dieser langen Nacht jedenfalls so schnell nie. Allein das ist<br />

schon bemerkenswert.<br />

9 Punkte<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

boundstems.<strong>com</strong>


32<br />

<strong>reViews</strong><br />

BROMHEADS JACKET -<br />

DITS FROM THE COMMUTER BELT<br />

(Pias)<br />

Oh dear! This is very british! Wild, schnell, jung,<br />

nervös, ein wenig punky und - Achtung, jetzt kommt<br />

die einzige Überraschung der nächsten gut 20<br />

Textzeilen - NICHT durch das Internet bekannt und<br />

berühmt geworden. Zumindest steht davon nichts<br />

im Info. Vielmehr hat sich die Band wohl auf konventionellem<br />

Wege einen Plattenvertrag erspielt -<br />

sprich einfach Singles veröffentlicht und so viel wie<br />

möglich Live gespielt. Das macht sie sympathisch,<br />

scheint aber auch schon der einzige wirklich erwähnenswerte<br />

Unterschied zwischen den drei<br />

Jungs von Bromheads Jacket und den derzeitigen<br />

Platzhirschen des neuen Brit-Pops zu sein. Im Großen<br />

und Ganzen ist „Dits From The…“ nämlich lediglich<br />

ein lauwarmer Aufguss von „Whatever People<br />

Say I Am,....“ der Arctic Monkeys. Das fängt<br />

mit der ach so rebellisch-wilden Haltung an, zieht<br />

sich weiter zur stimmlichen Phrasierung und findet<br />

seine Vollendung in der exakten Kopie einzelner<br />

Gitarren- und Bass-Sounds. Der Gipfel des Plagiats<br />

ist jedoch „Fight Music For The Fight“, bei dem<br />

sich Sänger Tim Hampton wahrscheinlich regelmäßig<br />

auf der Bühne anstrengen muss, damit er<br />

nicht aus Versehen „I Bet You Look Good On The<br />

Dancefloor“ trällert. Komplett machen dieses Bild<br />

die zwei bis drei ruhigeren Songs, die - wer hätte<br />

es gedacht - natürlich nach B-Seiten der Kooks<br />

klingen.<br />

Insgesamt also eine Platte mit dem Coolnessfaktor<br />

eines Milhouse van Houten und eigentlich keiner<br />

Bewertung würdig. Die Punkte gibt es nur für<br />

den Mut der Band, die es sich wohl tatsächlich<br />

traut, diesen absolut überflüssigen Rip-Off zu veröffentlichen.<br />

Punkte: 3<br />

Jochen Wörsinger<br />

bromheadsjacket.<strong>com</strong><br />

CANCER BATS -<br />

BIRTHING THE GIANT<br />

(Hassle/Full Time Hobby/PIAS/<br />

Rough Trade)<br />

Gegen Ende des letzten Jahres<br />

konnte man die Cancer Bats aus Toronto noch im<br />

Vorprogramm ihrer kanadischen Landsmänner<br />

von Alexisonfire auf deutschen Bühnen wüten sehen;<br />

eine Paarung, die ganz offensichtlich eher aus<br />

freundschaftlichen Banden entstanden ist als<br />

durch gemeinsame musikalische Bezugspunkte.<br />

Denn „Birthing The Giant“ ist als Bastard aus Hardcore,<br />

Punk, Metal und Rock mit Betonung auf den<br />

ersteren Spielarten ein ganz schön fieses Ding. Die<br />

Rhythmussektion macht ordentlich Dampf und griffige<br />

Riffs werden reihenweise mit großem Knall<br />

vom Stapel gelassen. Nur selten schafft man es<br />

allerdings, diese vielversprechenden Ingredienzen<br />

zu einem ebenso griffigen und vor allem schlüssigen<br />

Song zu vermengen. „French Immersion“,<br />

„Grenades“ und „100 Grand Canyon“ schaffen es<br />

und paaren die straighte Punkrock-Energie von<br />

The Bronx mit der energischen Hardcore-Wut von<br />

Everytime I Die, brachialem Southern-Metal in<br />

Pantera-Manier und einem Quentchen Melodik -<br />

das den meisten anderen Stücken völlig abgeht -<br />

zu einer krachend explosiven Mischung. Doch sind<br />

das nur 3 von 11 Tracks - eine Quote, die in hohem<br />

Maße verbesserungswürdig ist. Genau so wie<br />

das scheinbar nur in einer Tonlage vorrätige, auf<br />

Dauer extrem monotone Gekeife von Sänger Liam.<br />

Gerade vom Gesang her hätte ein wenig mehr Melodie<br />

und Wiedererkennungswert dieser Scheibe<br />

sicherlich gut getan - und sei es nur zur besseren<br />

Unterscheidung der doch sehr ähnlich und stets<br />

ziemlich eindimensional gestrickten Songs. Es<br />

fehlt „Birthing The Giant“ einfach an Abwechslung<br />

und auch in Sachen Songwriting müssen die Cancer<br />

Bats nachsitzen, denn da bleibt „Birthing The<br />

Giant“ pures Stückwerk. Ein guter Song besteht<br />

nun mal aus mehr als einem feschen Riff. So ist<br />

hier entgegen des Albumtitels ganz und gar nichts<br />

Gigantisches entstanden, sondern eher eine kleinwüchsige<br />

Zwergengestalt geschlüpft.<br />

5 Punkte<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

cancerbats.<strong>com</strong><br />

Claudius - angel for us<br />

(Triple Eggs/RADAR Music)<br />

Ein relaxtes Stück Musik. Mit<br />

dem nötigen Drive an den nötigen<br />

Stellen. Nach den ersten<br />

Tönen wähne ich mich im<br />

elektrointelligentem Universum von Lali Puna, MS<br />

John Soda, Console und all den Verwandten. Die<br />

Clique um die Mannen von Notwist eben. Weilheim.<br />

Kollaps. Hausmusik. All diese mächtigen und<br />

so musikrelevanten Begriffe spielen auch hier eine<br />

Rolle. Claudius atmet diese Atmosphäre. Und<br />

schwitzt intelligenten modernen Pop aus. Schräge<br />

Arrangements. Wohlige zweistimmige Gesangsharmonien<br />

führen durch die Stücke, relaxtes Sich-<br />

Treibenlassen wechselt mit mehr oder minder derben<br />

Parts; die können durchaus auch mal das Nervenkostüm<br />

strapazieren. Da wird man schon mal<br />

von überraschendem Noise heimgesucht. Erwähnte<br />

ich schon Jazz? Jener schlägt sich nicht<br />

nur im schlagenden Besenrhythmus nieder, nein,<br />

mit „Tranquilidad“ stoßen wir auch auf ein Monster<br />

von Instrumental-Song, den Tied & Ms. Puna nie<br />

geschrieben haben. Aber hätten können. Dieser<br />

trifft uns auch im denkbar richtigsten Moment, genau<br />

dann, wenn wir eine kleine Auszeit von der melancholisch-hauchenden<br />

Doppelstimme brauchen.<br />

Da ist das Stichwort gefallen. Die Platte ist<br />

von einer höchstpräsenten Melancholie durchzogen.<br />

Kein Wunder, wenn man den Hintergrund der<br />

Entstehung kennt; dient sie doch als Verarbeitungshilfe<br />

und -ventil zum Tode des Vaters. Die<br />

Therapie zum Voranschreiten, zum Weitermachen.<br />

Melancholie ist die neue Hoffnung. Als leidenschaftlich<br />

agierende Shoegazer tragen wir dieses<br />

Wissen schon auf urnatürliche Weise in uns.<br />

Zurück zur Musik, zurück zum Endspurt. Naked<br />

Lunch wäre auch noch ein Name, der fallen müsste.<br />

Intelligenter melancholischer Pop in Schräglage.<br />

So wie Claudius. Mit dem Ideenreichtum,<br />

dem Experimentellen und der Gewitztheit der alten<br />

Soulwax. Huch, da war ja noch ein Name. Und<br />

selten habe ich so eine coole wenn auch ziemlich<br />

freche Hommage an „Plush“ von den Stone Temple<br />

Pilots gehört. Genau, Track 11: „Don't look<br />

around“. Die Gitarren. Cool. Und frech. Und cool.<br />

11 Punkte<br />

Matthias Horn<br />

CLOWN ALLEY -<br />

CIRCUS OF CHAOS<br />

(Southern Lord/Soulfood)<br />

Crossover hatte ganz früher,<br />

bevor es zu einem Schimpfwort<br />

für Funk-Metal und ähnliches wurde, einmal<br />

eine andere Bedeutung. Es war u. a. die Bezeichnung<br />

für die Verbindung zwischen Hardcore und<br />

Heavy/Thrash-Metal, seinerzeit zwei eher konträre<br />

Lager, nicht aber unbedingt auf musikalischer<br />

Ebene. Es wurden damit aber auch Bands etikettiert,<br />

die man nicht so recht einordnen konnte, da<br />

sie neben den härteren Rockeinflüssen auch mit<br />

Jazz oder Reggaekomponenten spielten. Minutemen<br />

oder Bad Brains seien hier stellvertretend genannt.<br />

Zur erstgenannten Hardcore/Thrash-Fusion<br />

kann man die ganz frühen Anthrax („Among<br />

The Living“), Nuclear Assault, SOD oder auch Sacred<br />

Reich nennen. Clown Alleys „Circus Of<br />

Chaos“ ist ein Re-Release von 1986, also der Kernzeit<br />

der „Bewegung“, und jetzt erstmals auf CD er-<br />

hältlich. Anfänglich gibt es auch recht guten Uptempo<br />

Hardcore/Thrash, der wirklich ein wenig an<br />

die sehr frühen Anthrax erinnert. Im Laufe der Zeit<br />

geht dem Album aber, gerade in den langsameren<br />

Tracks, die Energie verlustig. Überdies ist die Produktion<br />

nach heutigen Maßstäben nicht besonders<br />

(um das mal euphemestisch zu sagen), sie liefert<br />

aber ein authentisches Soundbild dieser Zeit. Wer<br />

Clown Alley nicht mitbekommen hat, der könnte<br />

zumindest ihren Track „Theme“ kennen, der von<br />

den Melvins öfter gecovert und aufgenommen<br />

wurde. Lori Black und Mark Deutrom waren<br />

zwischendurch übrigens auch bei den Melvins aktiv<br />

und letzterer tourt immer wieder mit SunnO))).<br />

Für Sammler sicherlich eine interessante Sache,<br />

da neben einem Radiopromotiontrack noch vier Livetracks<br />

zu hören sind.<br />

ohne Wertung<br />

Christian Eder<br />

CLUTCH - From Beale Street to Oblivion<br />

drt Entertainment / Soulfood<br />

Wer hätte gedacht, dass sich Clutch noch mal so<br />

kraftvoll zurückmelden? Ich persönlich war schon<br />

versucht, die Jungs unter „Früher wichtig - heute<br />

ein Schatten ihrer selbst“ abzulegen.<br />

Von Geniestreichen wie „Transnational Speedway<br />

League“ und „Elephant Riders“ angefixt, musste<br />

ich mir die letzten Veröffentlichungen erst schönhören.<br />

Ganz anders jetzt! „From Beale Street“ zündet<br />

sofort, groovt wie Hölle und die seit dem letzten<br />

Album fest integrierte Orgel klingt mittlerweile,<br />

als ob sie schon immer dabei gewesen wäre.<br />

Konnte man früher Stoner-Rock-Affinität bescheinigen,<br />

klingen Clutch 2007 nach klassischem<br />

Hard-Rock im besten Sinne des Wortes.<br />

Referenz für die alten Säcke: Deep Purple, Atomic<br />

Rooster, etc. / Referenz für die jungen Hüpfer: Spiritual<br />

Beggars, Wolfmother, etc.<br />

Um mal philosophisch zu enden: Vergänglichkeit<br />

ist, wenn man die Originale mit den Kopien erklären<br />

muss.<br />

12 Punkte<br />

Mike Maisack<br />

CONEY NOISE/AM YETO -<br />

THE BROTHER AND SISTER JAM III (Split)<br />

(12 Pylons)<br />

Die Geschwister-Session geht in die dritte Runde.<br />

Den Einstieg bilden CONEY NOISE - eine 12 Pylons-Band<br />

der ersten Stunde, die jedoch leider viel<br />

zu wenig von sich hören lässt. So ist das letzte Lebenszeichen<br />

nun schon gut vier Jahre her. Und<br />

auch jetzt beglücken sie uns gerade mal mit drei<br />

Songs. Die jedoch - und das lässt sich mit Fug und<br />

Recht behaupten - sind das Beste, was man je von<br />

Coney Noise gehört hat. Noch nie war die Band so<br />

nah an Nirvana's „Bleach“ und den frühen Sonic<br />

Youth. Noch nie hat sie es geschafft, diese Einflüsse<br />

so homogen in die eigene Klangvision, bestehend<br />

aus Noise und regelmäßig in Destruktion<br />

endenden Brachial-Parts, einzubauen. Im Vergleich<br />

dazu kommen AM YETO zwar etwas popiger,<br />

aber sicherlich nicht minder interessant daher.<br />

Auf fünf Songs zeigen sie, wie man Einflüsse aus<br />

fast allen Ecken und Dekaden des Indie-Rock in<br />

kompakte, nach vorne gehende Songs packt und<br />

dabei dennoch nicht plakativ klingt. Vielmehr verstehen<br />

es Am Yeto, allen Einflüssen neue Seiten<br />

abzugewinnen. Sie überraschen mit abrupt einsetzenden<br />

Dreampop-Parts, wo vorher noch ein nach<br />

vorne gehender, riffbasierter Rocksong war („Uniform“),<br />

oder sie legen die Stimme gleich ganz ad<br />

acta und wagen so einen Blick in Richtung Post-<br />

Rock („Trans RAF“).<br />

Insgesamt also eine Splitt-CD, die zwei Band vereinigt,<br />

die Unterhaltung auf allerhöchstem Niveau<br />

bieten.<br />

Punkte: 12<br />

Jochen Wörsinger


CORNUCOPIA - BREATH<br />

(12 Pylons)<br />

Rasend schnelle Recherchen<br />

im Google-Zeitalter ergeben:<br />

Das Füllhorn (lat.: cornu copiae)<br />

ist das in der griechischen<br />

Mythologie verwendete Symbol für Glück, Fruchtbarkeit,<br />

Reichtum und Überfluss. Unglaubliche<br />

sechs Jahre hat das gleichnamige Quartett aus dem<br />

Raum Rothenburg ob der Tauber benötigt, um sein<br />

zweites Album fertigzustellen, das nun aber mit<br />

mächtigem Heavy Rock im Überfluss zu beglücken<br />

und die lange Wartezeit durchaus zu rechtfertigen<br />

weiß. In bester Black Sabbath-Tradition animieren<br />

Cornucopia mit elektrisierenden Stromgitarren zum<br />

Schütteln des Haupthaars. Der ein oder andere<br />

Schlenker über die Landstraße wird dabei gerne in<br />

Kauf genommen, nur um dann doch wieder mit voller<br />

Wucht wie ein schwer beladener Monster-Truck<br />

über den Highway zu brettern. Cornucopia lieben<br />

das Spiel der Kontraste, ohne sich allzu sehr in psychedelischen<br />

Zwischenmomenten zu verlieren. In<br />

den meditativen Momenten der Ruhe wird zumeist<br />

nur kurz Atem geholt, bevor man abermals mit voller<br />

Kraft voraus weiterstürmt. Breitbeinig und majestätisch<br />

münden die Refrains mit zunehmender<br />

Spielzeit im Hymnischen. Ein wenig lang ist die<br />

Scheibe dann in Analogie zum nie versiegenden<br />

Füllhorn aber doch geraten, zum Ende hin franst<br />

„Breath“ aufgrund mangelnder Abwechslung ein<br />

wenig aus. Dennoch eignet sich diese hervorragend<br />

druckvoll inszenierte Ladung Heavy Rock dank der<br />

Betonung des Rock-Faktors mit derben Stoner-<br />

Grooves, eingängigen Leads und melodischem Gesang<br />

gerade für Genre-Neulinge ganz vorzüglich<br />

als Einstiegsdroge.<br />

11 Punkte<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

myspace.<strong>com</strong>/cornucopiarocks<br />

CULM -<br />

LIFE IN A STEEL CAGE<br />

IS NO LIFE AT ALL<br />

(Miyagi)<br />

Irgendetwas muss richtig gelaufen<br />

sein bei der musikalischen<br />

Sozialisation im Hause Schulte, gelegen in Rheine<br />

nahe Münster. Michael, der ältere beider Brüder,<br />

steht mit seiner Band A.M. Thawn schon seit gut 12<br />

Jahren für Experimente im Spannungsfeld zwischen<br />

Indierock und Postpunk. Und auch Christoph,<br />

der jüngere, hat seitens des Elternhauses vermutlich<br />

so einige Fugazi-Platten geerbt. „Life In A Steel<br />

Cage Is No Life At All“ heißt das zweite Album seiner<br />

Band Culm: 14 mal sperriger Postcore, der auf<br />

den ersten Blick mit Dynamik und Drive überzeugt,<br />

mit Melodien aber geizt. Diese erschließen sich erst,<br />

wenn man ihre spröde Außenschicht durchdringt.<br />

Bleiben anfangs nur markante Gitarrenläufe wie der<br />

aus dem tollen „Time And Thoughtless“ hängen, ergeben<br />

die Puzzlestücke mit wachsender Beschäftigung<br />

ein zusammenhängendes Bild aus schneidenden<br />

Gitarrenriffs und verspielter Rhythmik. In ihrer<br />

vertrackten, aber dennoch eruptiv Emotionen<br />

ausstoßenden Art erinnern Culm an die viel zu früh<br />

verschiedenen The Ghost aus Chicago, zumindest<br />

wenn man sich mal den ziemlich arg durchscheinenden<br />

deutschen Akzent wegdenkt. Trocken und<br />

authentisch in DIY-Manier im eigenen Tanztee-Studio<br />

produziert, lenken keine Effekte vom wahren<br />

Kern der knackig kompakt gehaltenen Songs ab.<br />

Christophs Gesang ist rau und ungekünstelt, hin<br />

und wieder klingt sein melancholisch ungeschliffenes<br />

Timbre tatsächlich wie zufällig nach dem jungen<br />

Robert Smith. An anderer Stelle wiederum werden<br />

die Parolen dringlich und atemlos wie ein Manifest<br />

hinausgeschleudert. Ein Manifest der personal<br />

politics, bestehend aus explizit hoffnungslosen,<br />

desillusionierten Phrasen über zwischenmenschliche<br />

Desaster, Sehnsucht, Selbstbild, Orientierungslosigkeit<br />

und unverortbare Zweifel. Selbst ein<br />

Abschiedsbrief wird vertont. Schwere Kost, aber gerade<br />

die macht bekanntlich satt und zufrieden. Das<br />

Album ist beim frisch gegründeten Label Miyagi Records<br />

übrigens als Vinyl-LP mit beiliegender CD-<br />

Fassung plus Aufnäher für einen glatten Zehner erhältlich.<br />

Das heimst zusätzliche Sympathiepunkte<br />

ein, die diese Platte aber gar nicht nötig hat, kann<br />

sie doch für sich allein bestehen.<br />

11 Punkte<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

culm.de<br />

DAATH - THE HINDERERS<br />

(Roadrunner/Universal)<br />

Schon seit Wochen, besser Monaten, wird über<br />

diese Band gemunkelt, die es da geschafft hat, als<br />

New<strong>com</strong>er beim nun nicht gerade kleinen Label Roadrunner<br />

unterzuschlüpfen. Erinnerungen werden<br />

da schnell wach an all jene Bands, die das Kultlabel<br />

einst bereits frühzeitig entdeckte und ganz nach<br />

vorne brachte, Machine Head beispielsweise, Fear<br />

Factory oder Life Of Agony. Nach zwischenzeitlicher<br />

kreativer Durststrecke der A&R-Abteilung zeigt sich<br />

das 1979 ins Leben gerufene Label in letzter Zeit<br />

mit Bands wie Trivium oder Killswitch Engage auf<br />

der Höhe der Zeit.<br />

Die Erwartungen, die an das Sextett aus Atlanta,<br />

Georgia geknüpft werden, sind damit, gefördert<br />

noch durch das massive Rühren der Werbetrommel,<br />

fast schon übermäßig groß - und werden dementsprechend<br />

enttäuscht. Entpuppt sich „The Hinderers“<br />

doch keineswegs als ein innovatives Album,<br />

das in der Lage wäre, Metal-Geschichte zu schreiben,<br />

sondern vielmehr als eine schlichte Mischung<br />

klassischen Death-, Black- und Thrash-Metals.<br />

Doch dieser erste Moment der Enttäuschung sollte<br />

keinesfalls dazu führen, Daath und „The Hinderers“<br />

zu unterschätzen. Denn dass mit Kevin Talley ein<br />

Mann in die Band eingestiegen ist, der schon für<br />

Chimaira und Dying Fetus am Schlagzeug saß,<br />

kommt nicht von ungefähr: das Talent, das in Daath<br />

schlummert, ist mehr als ausreichend, um die Band<br />

wahrhaftig weit nach vorne zu bringen. Was sich im<br />

ersten Augenblick nach einer wilden Mischung der<br />

weiter oben genannten Stile darstellt, offenbart sich<br />

nach ausführlicherer Auseinandersetzung mit dem<br />

Debütwerk als äußerst intelligent durchgeplante<br />

Kombination. Denn nicht nur, dass sich der Sechser<br />

musikalisch äußerst versiert zeigt, muss man<br />

sich, was das Songwriting anbelangt, kaum vor weitaus<br />

größeren Bands, die seit Uhrzeiten ihr Geschäft<br />

betreiben, verstecken. Denn wenn auch der Vergleich<br />

ob der fehlenden symphonischen Momente<br />

fehlt, erweisen sich Daath Black Metal-Größen wie<br />

Dimmu Borgir oder Cradle Of Filth durchaus als<br />

ebenbürtig, wissen mit Thrash-Riffs mindestens<br />

ebenso gut umzugehen wie manche Legende der<br />

Bay Area und können auch als Death Metaller<br />

100%ig überzeugen. Dass ihr Label dafür gesorgt<br />

hat, dass dabei garantiert nichts schief geht, versteht<br />

sich von selbst: Mit James Murphy (Produktion,<br />

ex-Death, Testament, Obituary), Colin Richardson<br />

(Mix, Fear Factory, Bullet For My Valentine, Machine<br />

Head) und Andy Sneap (Technik, Soulfly, Nevermore,<br />

Opeth, Kreator) wurde Daath ein Produzententeam<br />

verpasst, wie es für den Old-School-<br />

Sound der Band, der natürlich perfekt in die aktuelle<br />

Retrowelle des Metal passt, wie es kein besseres<br />

geben kann. Trotz Anlaufschwierigkeiten: ein Debüt<br />

für die Ewigkeit.<br />

13 Punkte<br />

Arnulf Woock<br />

daathmusic.<strong>com</strong><br />

myspace.<strong>com</strong>/daath<br />

DAKOTA SUITE -<br />

WAITING FOR THE DAWN TO CRAWL<br />

THROUGH AND TAKE AWAY YOUR LIFE<br />

Glitterhouse / Indigo<br />

Jau, er hat's noch mal geschafft!! Der dauerdepressionsgeplagte<br />

Chris Hooson - besser bekannt unter<br />

dem Pseudonym Dakota Suite - hat entgegen<br />

aller selbst geäußerten Schwarzmalerei - von<br />

wegen, er würde es psychisch nicht mehr schaffen,<br />

weiterhin Musik zu veröffentlichen… - ein neues Album<br />

aufgenommen.<br />

Wäre auch zu schade gewesen, wenn dieser Ausnahmekünstler<br />

sich seinen Dämonen ergeben hätte<br />

und verstummt wäre.<br />

Das aktuelle Werk bringt kaum Überraschungen.<br />

Wieder werden traurige Melodien zart interpretiert,<br />

Schwermut vertont und Weltschmerz in Noten gegossen.<br />

Trotz der wehmütigen Grundstimmung der<br />

Platte könnte ich mich wegschmeißen vor Lachen,<br />

wenn ich dran denke, dass die Inspiration für diese<br />

frisch veröffentlichten Musik-Dramen nicht etwa aus<br />

dem Scheitern einer großen Liebe oder dem<br />

Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen,<br />

sondern aus den häufigen Niederlagen seiner<br />

Lieblings-Fußballmannschaft (dem FC Everton)<br />

entspringt. Da behaupte doch noch mal jemand,<br />

Fußball habe nichts mit Kunst zu tun. Komische<br />

Käuze, die Engländer.<br />

Im direkten Vergleich mit dem 2002 veröffentlichten<br />

Meilenstein „This River Only Brings Poison“ muss<br />

die aktuelle Scheibe sich zwar knapp geschlagen<br />

geben, wer aber schnell zugreift, kann in der Erstauflage<br />

neben der CD noch eine interessante Dokumentation<br />

zweier Schweizer Filmemacher über<br />

Hooson und seine Musik auf einer beigelegten DVD<br />

abgreifen. Und das ohne Aufpreis!<br />

Natürlich hat der sensible Künstler wiederum angekündigt,<br />

dies sei seine definitiv letzte Platte. Er habe<br />

nicht die Kraft, weiterhin Musik aufzunehmen.<br />

Hoffentlich täuscht er sich. Wenn es zum Wecken<br />

seiner Kreativität der Niederlagen des FC Everton<br />

bedarf, könnte man ja mal eine Sammlung unter den<br />

Dakota Suite - Fans veranstalten. Mit dem gespendeten<br />

Geld würden Schiedsrichter bestochen, die<br />

im entscheidenden Moment für den uns genehmen<br />

Ausgang der FC Everton - Spiele sorgten. Was tut<br />

man nicht alles für gute Musik? Ich würde spenden!<br />

12 Punkte<br />

Mike Maisack<br />

hooson.demon.co.uk<br />

DÄLEK -<br />

ABANDONED LANGUAGE<br />

(Ipecac/Soulfood)<br />

<strong>reViews</strong> 33<br />

Auf ihrem letzten vollwertigen Album<br />

„Absence“ hatten Dälek das<br />

mit seinem Vorgänger „From Filthy<br />

Tongue Of Gods And Griots“ aufgestellte Prinzip<br />

der Mischung aus HipHop und Noise - gerne im<br />

recht radikalen Sinne - konsolidiert und eventuell<br />

sogar auf die Spitze getrieben. Man ertappte sich<br />

dabei das Wort „krass“ plötzlich nicht mehr mit dem<br />

inflationären neudeutschen Klang zu denken, sondern<br />

wieder als das althergebrachte Adjektiv etwas<br />

wirklich Extremen. Eindeutig eine musikalische<br />

Ausnahmeerscheinung. Naturgemäss ist man mit<br />

einem wirklichen Extrem am Ende einer Ausdrukksform<br />

angekommen und so gibt es mit dem neuen<br />

Album Däleks eine Art Bruch, der nur in der Umsetzung<br />

des Prinzips nicht aber in seiner Wirkung einer<br />

ist. Deutet der Titel „Abandoned Language“ diesen<br />

Abschied eventuell sogar direkt an? Eine Sprache<br />

aufgeben heisst ja nicht, dass der Ausdruck an<br />

sich aufgegeben wird. Den Krach haben Dälek<br />

größtenteils abgeschaltet bzw. in ein durchbrochenes<br />

und variierendes Dröhnen hineinkomprimiert;<br />

mit dem Effekt, dass ihre Musik zwar „leichter“ hörbar,<br />

aber zu keiner Zeit weniger bedrohlich geworden<br />

ist. Im Gegenteil: eine sehr düstere Platte. Die


34<br />

<strong>reViews</strong><br />

Soundkollagen, die dieses Mal den Rap und die<br />

Beats begleiten, wirken aufgeräumter und (in der<br />

Regel) auf den ersten Blick friedlicher als die älteren.<br />

Man kann aber sicher sagen, dass die Kompositionen<br />

eigentlich komplexer sind als je zuvor,<br />

aber eben so subtil, dass sie dem Hörer eben nicht<br />

ins Gesicht schlagen, sondern langsam an der Gesichtshaut<br />

schaben. Schubladenmässig hat man<br />

es jetzt eher mit Avantgarde zu tun als mit Noise,<br />

was wie gesagt der Wirkung der Musik keinerlei<br />

Abbruch tut; es steht der Band sogar sehr gut zu<br />

Gesicht. Da Dälek auch bei den „Refrains“ weiterhin<br />

auf jede Eingängigkeit verzichten, wird die im<br />

Promoinfo erwähnte Mainstream HipHop-Audience<br />

auch weiterhin ausbleiben. Der in dieser<br />

Hinsicht stärkste Song ist ausgerechnet der letzte<br />

„(Subversive Script)“. Wohin die drei Finsterlinge<br />

gehen, bestimmen sie offensichtlich auf sehr geschmackssichere<br />

Weise selber. Mit diesem Album<br />

haben sie sich wahrscheinlich noch keine neue<br />

Türe geöffnet, aber sie haben die Klinke in der<br />

Hand - und es liegt bei ihnen, was sie damit machen.<br />

12 Punkte<br />

Marcel von der Weiden<br />

deadverse.<strong>com</strong><br />

ipecac.<strong>com</strong><br />

DAVID CELIA -<br />

THIS ISN'T HERE<br />

(Finest Noise/Radar)<br />

David Celia kommt aus Toronto, Canada und zeigt<br />

uns mit „This Isn't Here“ sein Herz. Dieses besteht<br />

größtenteils aus beschwingtem Singer/Songwriter-Pop-Folk,<br />

der mit eingängigen Hooks und Melodie<br />

nicht geizt und vom Leben, der Liebe und all<br />

den Sachen dazwischen erzählt. Was? Ihr habt das<br />

schon mal so oder so ähnlich gelesen? Das kann<br />

gut sein, denn David Celia hat mit „This Isn't Here“<br />

sicherlich das musikalische Rad nicht neu erfunden,<br />

sondern ganz einfach eine grundsolide Genreplatte<br />

abgeliefert, die - wenn - dann vor allem<br />

durch ihr vergleichsweise sonniges Gemüt auffällt.<br />

Genrefans werden hier also ein mollig warmes zu<br />

Hause und auch einige wirklich tolle Songs finden;<br />

alle anderen können natürlich auch mal anchecken,<br />

sind aber mit Genregrößen wie Howie Beck,<br />

Gus Black, Ben Folds, Ron Sexsmith oder auch<br />

Kristofer Aström auf jeden Fall auf der sichereren<br />

Seite.<br />

Punkte: 8<br />

Jochen Wörsinger<br />

davidcelia.<strong>com</strong><br />

DELILAH -<br />

SAME<br />

(Zach Records)<br />

In Österreich gärt schon seit<br />

längerer Zeit ein interessanter<br />

Noise(rock)-Subkultursumpf. Bul Bul, Bug, Sensual<br />

Love, Men Killing Men, Azeotrop und noch einige<br />

die mir gerade entfallen sind. Mit Deliahs<br />

selbstbetitelter Debüt-EP ranzt sich ein weiterer<br />

Release an die räudigen Kadaver des Undergrounds<br />

ran. Verkopft-verquerer Noiserock in permanenter<br />

Überlänge meuchelt hier kommerzstrangulierend<br />

vor sich hin. Atonalität und Distortion sind<br />

die Hormonbasis für diesen Bastard, der breaklastig<br />

vor sich hin taumelt. Manchmal ist der stumpfe<br />

Fuß wund und der Bastard jault in trockenschmerzhaften<br />

Gitarrentönen, um sich dann in<br />

weidwunden Noiseeruptionen am Boden zu wälzen.<br />

Immer wieder irrt er jedoch orientierungslos<br />

von schräg bis seltsam und verirrt sich im Versuch<br />

möglichst anders zu sein. Aber jetzt mal Klartext.<br />

Deliah schaffen es innerhalb ihrem komplexen Noisesound<br />

immer wieder, gute Gitarrenwände zu<br />

schaffen, wobei sie sich meiner Meinung nach ge-<br />

legentlich zu sehr auf die eruptive Energie konzentrieren<br />

und zu wenig auf den Aufbau des Stückes.<br />

Es gibt viele interessante schräge Noten und gute<br />

Einfälle, doch auf dieser EP - die immerhin knapp<br />

29 min. lang ist - wirkt einiges noch etwas zusammengewürfelt.<br />

Vor allem, wenn sie gute intensive<br />

Noiseparts, die durch den spärlichen Gesang<br />

noch an Intensität gewinnen, durch mühselige, polterhafte<br />

Breaks zerstören, möchte man sie gerne<br />

am Krawattl packen. Aber hey, das hier ist eine<br />

wirklich interessante EP für Noise Fans der komplexeren<br />

Schule. Und die ist hoffentlich erst der Anfang.<br />

Da steckt viel Potential drin! Man möge beim<br />

Folgerelease bitte unbedingt an mich denken.<br />

8 Punkte<br />

Christian Eder<br />

delilah.popfakes.<strong>com</strong><br />

zach-records.<strong>com</strong><br />

DO MAKE SAY THINK -<br />

YOU, YOU'RE A HISTORY IN RUST<br />

(Constellation/Southern/Alive)<br />

Do Make Say Think zählen bekanntlich zu den Wenigen<br />

ihres Labels, die sich zumindest ansatzweise<br />

von bewährten Constellation-Konzepten zu<br />

entfernen wissen.<br />

Dabei wirkt „You, you're a history in rust“ weder gestellt<br />

noch abgehoben, gibt sich durchweg natürlich,<br />

glaubwürdig und hält mit „A With Living“ ein<br />

wirklich schönes Stück bereit. Das Instrumentarium<br />

bleibt dabei wie immer breit gefächert. Die Eröffnung<br />

„Bound To Be That Way“ mit seinen von<br />

Trip Hop und Drum'n'Bass beeinflussten Schlagzeugeskapaden<br />

driftet über sieben Minuten vor<br />

sich hin, „The Universe!“ und „A Tender History In<br />

Rust“ schleppen sich noch über die Runden, bis<br />

spätestens nach halber Spielzeit Schluss ist, „You,<br />

You're A History In Rust“ sichtlich abflacht und Do<br />

Make Say Think in Belanglosigkeit verfallen. Was<br />

soll's…<br />

7 Punkte<br />

Torge Hüper<br />

southern.net<br />

DOMINICI -<br />

O3 A TRILOGY - PART 2<br />

(Inside Out/SPV)<br />

Spricht man von Dominici,<br />

kommt man an Dream Theater<br />

nicht vorbei: Deren Jahrhundert-Debüt „When<br />

Dream And Day Unite“ wurde 1989 von Charlie Dominici<br />

eingesungen. Was anschließend aus den<br />

New Yorker Ausnahmetalenten (und deren neuem<br />

Frontmann James LaBrie) wurde, ist jedem Prog<br />

Metal-Fan bekannt. Zu einer derartigen Weltkarriere<br />

wird Herrn Dominici allerdings „O3 A Trilogy<br />

- Part 2“ kaum verhelfen. Denn obwohl er sich mit<br />

seiner (ziemlich tighten) Band recht nah am „Großen<br />

Bruder“ bewegt - ganz so 'nen dicken Strahl,<br />

wie ihn die ehemaligen Kumpels pissen, bekommt<br />

der Ami hier nicht hin. Proggies und Metaller bekommen<br />

zwar reichlich Breaks und Riffs für's Geld<br />

- aber erst, wenn's beim abschließenden dritten<br />

Teil noch ein, zwei Killer-Refrains mehr sind, gibt's<br />

das Extralob.<br />

9 Punkte<br />

Heavy<br />

insideout.de<br />

DRAGONTEARS -<br />

2000 Micrograms From Home, CD<br />

(Bad Afro/Cargo)<br />

Die Tatsache, dass es - wie auf dem beiliegenden<br />

Info vermerkt - keine Bandfotos von „Dragontears“<br />

gibt, könnte darauf zurückzuführen sein, dass die<br />

Herren aus Kopenhagen ähnlich verkorkste Frisu-<br />

ren haben wie die Labelmacher. Wir wissen es<br />

nicht und wollen auch nicht rumunken. Gemessen<br />

an dem, was man auf „2000 Micrograms …“ hören<br />

kann, darf ein „Afro“ als bevorzugte Frisur jedoch<br />

ohnehin ausgeschlossen werden; bei den Dragontears<br />

ist die Matte eher lang, und vielleicht ist sogar<br />

die ein oder andere Blume ins Haupthaar geflochten;<br />

es kreist der Joint, die Zauberpilze (Psilocybe<br />

Cubensis) wachsen, die Duftkerzen glühen<br />

und Rosentee wird gereicht. Da passt es auch ins<br />

Bild, dass der Abstand von daheim in Gewichtseinheiten<br />

gemessen wird. Eine hypnotisch-postrokkige-Drone-Tripp-Reise,<br />

die den Hörer in einen<br />

„einzigartigen psychedelischen Kosmos entführt“.<br />

Wasserpfeifchen raus und zugelauscht! Große<br />

Platte!<br />

12 Punkte<br />

Kai<br />

Badafro.dk<br />

DORRN -<br />

Oversexed And Underfucked, CD<br />

(STF-Records/M-System)<br />

Auf dem Plattecover räkelt sich eine laszive Schönheit,<br />

blond natürlich, über und über mit Hautbildchen<br />

ausgestattet; und immer wenn die Weiblichkeit<br />

derart vorangestellt wird, drängt sich leicht der<br />

Eindruck auf, dass vom inhaltlichen Gehalt abgelenkt<br />

werden soll. Ich kann den Leser beruhigen,<br />

denn sobald der Abtaster die diversen Nullen und<br />

Einsen auf der Silberscheibe zu Musik umgeformt<br />

hat, macht sich Erleichterung breit; nein, derlei Ablenkungsmanöver<br />

haben „Dorrn“ definitiv nicht nötig;<br />

zum einen kann die blonde Dame, Jackie mit<br />

Namen, nicht nur hübsch dreinschauen, sie kann<br />

auch richtig! gut singen. Ohne Übertreibung darf<br />

festgestellt werden, dass derlei stimmliche Begabung<br />

in diesen Landen eher rar gesät ist. Und da<br />

auch der Rest der Truppe ein durch und durch stimmiges<br />

Bild abgibt, kann man hier, ohne gleich wieder<br />

einen Fünfer ans Phrasenschwein loszuwerden,<br />

von „Geheimtipp“ sprechen. Hut ab! „Dorrn“<br />

haben mit „Oversexed And Underfucked“ ein ganz<br />

feines Teil rausgehauen. Die Mischung aus Crossover<br />

und Rock, „die auch vor Sequenzerlinien“<br />

nicht halt macht“ (Bandinfo), hat extrem viel Potential<br />

und wird ihren Weg machen.<br />

11 Punkte<br />

Kai<br />

stf-records.de<br />

EARTHBEND -<br />

YOUNG MAN AFRAID<br />

(Rookie/Cargo)<br />

Verkneifen wir uns Witze über<br />

Manfred Mann und kommen direkt<br />

zur Sache: „Young Man Afraid“ ist nicht etwa<br />

der Ausdruck einer wie auch immer gearteten<br />

Teenage Angst, sondern vielmehr des ewig währenden<br />

Kampfes des ambitionierten Rockmusikers,<br />

sich aus der Liebe zur Musik knapp überm<br />

Existenzminimum durchs Leben zu schlagen. Ausgefochten<br />

wird dieser von drei gestandenen Männern<br />

aus dem beschaulichen Fleckchen mit dem<br />

düsteren Namen Finsterwalde, gelegen eine Autostunde<br />

von der hippen Großstadt Berlin. In dieser<br />

Abgeschiedenheit haben Earthbend ein Debütalbum<br />

aufgenommen, das man je nach Gusto für<br />

zeitlos oder für unzeitgemäß halten kann. In jedem<br />

Fall widmet man sich auf „Young Man Afraid“ Rokksongs<br />

gänzlich unmodernen Charakters, fern von<br />

jeglichem Spektakel, rockhistorisch einzusiedeln<br />

irgendwo zwischen 60s und 70s. Hans-Dampf-inallen-Gassen<br />

Kurt Ebelhäuser hat mal wieder<br />

seine Finger im Spiel bzw. am Produzentenpult gehabt<br />

und der Platte einen trockenen Sound verpasst,<br />

auf dass der Wüstenstaub auch so richtig<br />

zwischen den Zähnen knacke. Ohne Fehl und Ta-


del geraten eingängige, aber dennoch clever arrangierte,<br />

klassische Rocksongs Songs wie „Ready<br />

To Revolt“, „Hula Road“ oder auch „Traveller“,<br />

die mit straight bratenden Powerchords und Bilderbuch-Refrains<br />

hängen bleiben. Leider wird man<br />

nicht immer wird man auf der Suche nach dem großen<br />

Chorus fündig, denn der Rest fällt leider etwas<br />

ab. Egal, ob das Trio die Slide-Gitarre ansetzt oder<br />

das Klavier stimmt, die Abkehr vom Rock führt unweigerlich<br />

zu Einbrüchen in der werkimmanenten<br />

Spannungskurve. Ob das neben dem üblichen Gitarrenschwall<br />

von einer stets präsenten Fußorgel<br />

dominierte Klangbild mit einer Dosis getragener<br />

Psychedelik eingefärbt oder beschwingt countryfiziert<br />

wird - so lobenswert der Versuch, ein wenig<br />

Abwechslung hereinzubringen, auch sein mag, so<br />

durchwachsen fällt das Resultat bis auf wenige<br />

Ausnahmen aus. Letztlich kann „Young Man<br />

Afraid“ so wegen unbestreitbarer Längen nicht<br />

eben begeistern, geht aber als solides Debüt<br />

durchaus in Ordnung. Beim nächsten Anlauf gilt es<br />

dann, vorhandene Baustellen zu beseitigen.<br />

8 Punkte<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

earthbend.de<br />

EL*KE -<br />

WIR MÜSSEN HIER RAUS<br />

(EMI/it-sounds)<br />

Noch härter, schneller, weiter,<br />

heiserer. Rocken und rollen die<br />

Herren der EL*KE mit Stern in der Mitte auf ihrer<br />

neuen Platte. Am Anfang. So dahin.<br />

Was die Stärke ihres Erstlings ausmachte, war die<br />

Tiefe ihrer Empörung, eine Welt von Bedeutungen,<br />

Konnotationen hinter den scheinbar einfachen<br />

Chiffren. Chauvi-Musikanten mit Charme und Biss<br />

auf der Handwerkswalz. Arbeiter mit Stil und Tiefgang.<br />

Doch was leider immer wieder mit Überraschungsmannschaften<br />

nach der ersten Veröffentlichung<br />

geschieht, es passiert im verschärften Maß auch<br />

hier.<br />

Was da handwerklich ordentlich über den Rock`n<br />

Roll - Parcour rumpelt, erweist sich bei genauerem<br />

Hinhören als leere Pose. Ich skippe mich von Song<br />

zu Song und finde nur noch hohle Pseudo-Emotionen<br />

(„ Ich schau nach vorne, nie zurück. Warum<br />

kommst Du nicht mit? Es ist doch nie zu spät, du<br />

weißt schon lang, wie`s geht, es ist noch nie zu<br />

spät…“) und nach den ersten nett vorwärts peitschenden<br />

Premiumrockern bleiben auch musikalisch<br />

eine Menge Wünsche offen. Nein, dieses Gewäsch<br />

und Betroffenheitsgedusel im Fragen-Sie-<br />

Dr.-Sommer-Format, dass das Lied „Sonne“ nun<br />

wirklich ungenießbar macht („Ich muss, ich will Dir<br />

was sagen, ich lass alles stehn, ich schließ meine<br />

Augen, ich kann Dich immer noch sehn, an manchen<br />

ruhigen Tagen kann ich die Stille verstehn,<br />

und ich lass mich in die Wolken falln, bis die Sonne<br />

untergeht, und ich lass mich wieder auf dich ein,<br />

weil die Sonne dann aufgeht.“)<br />

DAS geht nun einfach nicht. Bei aller Liebe. Es ist<br />

okay, gegen Hamburger Schule und kompliziertes<br />

Abiturientengefasel anzurocken - doch das muss<br />

nicht enden in kalkulierter doofer, sinnentleerter<br />

Beliebigkeit.<br />

So lass ich die Berliner fürderhin von tollen Frauen<br />

und einer Welt ohne Geld und Angst träumen, lass<br />

sie ordentlich beliebig bedeutungslos vorwärts rokken<br />

und denk mir mal, dass denen eh bald das<br />

Benzin ausgeht.<br />

„Du bist die Traumfrau, der ich in die Augen schau.<br />

Du bist die Traumfrau, ich weiß es ganz genau.“<br />

Immer wieder. Hää?<br />

Überholspuren fühlen sich anders an. Und die hier<br />

müssen dringend an die Ideen-Tanke.<br />

4 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

alleselke.de<br />

EVILSONS - Cooking With … Evilsons, CD<br />

(Nordic Notes/Broken Silence)<br />

Die kommen aus Finnland? Der Name klingt aber<br />

schwedisch, was mir nun irgendwie wieder spanisch<br />

vorkommt ... Auf jeden Fall kenne wir uns ja<br />

nun wirklich mit finnischem Ska aus, inzwischen,<br />

und unser Urteil, dass hier die „Verschmelzung von<br />

Punk, Reggae und Ska zu einem kurzweiligen Vergnügen“<br />

wird, darf als „fundiert“ betrachtet werden<br />

- und ganz nebenbei steht das ja auch so im Info!<br />

Aber mal im Ernst: Ska geht mir immer dann irgendwie<br />

etwas auf den Zeiger, wenn die Reggae-Anteile<br />

überwiegen (und dies, man konnte es ahnen,<br />

weil mir Reggae halt irgendwie irgendwann mächtig<br />

auf den Wecker geht). Bei „Evilson“ ist der Anteil<br />

Reggae für meineneinen exakt richtig dosiert;<br />

es überwiegt der Punk und auch der Rock. Man<br />

kann sich jetzt natürlich die Frage stellen, ob es<br />

überhaupt „geht“, dass jemand, der Reggae nicht<br />

mag, Ska hören kann, und, ja, sogar richtig lieb hat;<br />

ist das nicht so, als wenn ein Vegetarier zwar kein<br />

Fleisch ist, aber auf Muttis Buletten einfach nicht<br />

verzichten mag? Mit diesen Zwiespalt muss ich leben<br />

und mit dieser Platte auch. Wobei letzteres<br />

kein Problem ist, denn neben den guten Songs hat<br />

es mir die mächtig fette Produktion dieser Scheibe<br />

angetan - was für ein Gitarrenbrett! Naja, und zuviel<br />

Reggae ist eben auch nicht drin …<br />

10 Punkte<br />

Leo<br />

nordic-notes.de<br />

EXPLOSIONS IN THE SKY -<br />

ALL OF A SUDDEN I MISS EVERYONE<br />

(Bella Union/Cooperative Music/Rough Trade)<br />

Explosions In The Sky haben ein einfaches Problem:<br />

Seit Jahren nehmen sie die gleichen Platten<br />

auf. Mal besser, mal schlechter, nie wirklich daneben.<br />

Kommentiert wird das Ganze dann meist mit<br />

einer Mischung aus Ungreifbarkeit, passionierter<br />

Selbstverwirklichung und magischem Soundwellen-Geschwafel.<br />

Nichtsdestotrotz: „All Of ASudden<br />

I Miss Everyone“ ist in der Tat ein dramatisches Album.<br />

Und nicht einmal ein Schlechtes. Schließlich<br />

bieten EITS wie immer einige nette, wenn auch<br />

nicht wirklich unbekannte Geräusche, eine Menge<br />

minimalistische Melodien zwischen leise und laut<br />

und den wohl ranzigsten Schlagzeugsound weit<br />

und breit. Hinzu kommt eines der ansehnlichsten<br />

Plattencover seit Jahren. Und zu guter Letzt die Erkenntnis,<br />

bei dieser Band wohl keine musikalische<br />

Revolution mehr erwarten zu dürfen.<br />

8 Punkte<br />

Torge Hüper<br />

bellaunion.<strong>com</strong><br />

FONODA - EVENTUALLY<br />

(Büro/Hausmusik)<br />

Fonoda müssen nette Jungs sein. Umso schwerer<br />

fällt es dabei, „Eventually“ als Mittelmaß abzutun.<br />

Abgesehen von einigen Gesängen, die letzten Endes<br />

deutlich an Jimmy Lavalles Ausflüge erinnern,<br />

bleiben sich Fonoda mit ihrer Post-Rock geprägten<br />

Interpretation in Manier der klassischen Mogwai<br />

trotzdem treu. Und doch funktioniert das Ganze<br />

auf „Eventually“ eben nicht in so eindringlicher und<br />

geschliffener Form, wie es noch beim Vorgänger<br />

„Blinker:Farben“ der Fall war. Bleibt das sich aufbäumende<br />

„Not Dead, Just Sleeping (They Are)“,<br />

das zweifelsohne als wunderbares Stück durchgeht,<br />

im Zusammenhang mit „Eventually“ jedoch<br />

nur ansatzweise zu seiner vollständigen Wirkung<br />

gelangt.<br />

Schwamm drüber, erinnern wir uns weiterhin an<br />

das großartige „Blinker:Farben“ von 2002. Und<br />

hoffen.<br />

7 Punkte<br />

Torge Hüper<br />

fonoda.de<br />

FROM A,UTUMN TO ASHES -<br />

HOLDING A WOLF BY THE<br />

EARS<br />

(VAGRANT)<br />

Urgewalt und Gebrüll vermitteln<br />

das Leid und den Aufschrei<br />

gequälter Kreaturen. Trommelwirbel, Gitarrensalven.<br />

Wir sind im Emocore. Hier wird das Metallgewitter<br />

zwischendurch durch poppige Vocallines für<br />

sensible Seelen aufgelockert. Die Zutaten sind seit<br />

Jahren bekannt und im Wesentlichen unverändert.<br />

Und From Autumn To Ashes machen da keine Ausnahme.<br />

Das Songwriting solide, die Technik überragend,<br />

sogar die Schreie sind korrekt intoniert -<br />

und selbst gramgebeugte Altmetaller können hier<br />

ihre Scheuklappen ablegen und nach Herzenslust<br />

mitmoshen. Eine Gratwanderung zwischen New<br />

Metal und Hardcore mit Popappeal in den Softie-<br />

Breaks. Eine Band, der offensichtlich auch Alkoholexzesse<br />

weniger ausgemacht haben, als ihren<br />

angeknockten Roadies. Ein Produzent (Brian<br />

McTernan), der auch bei Thrice seine Emoklasse<br />

(„fett“ !!!) unter Beweis gestellt hat. Ein Drummer,<br />

der zum Klasse-Frontmann wurde und dessen<br />

Nachfolger an den Schlegeln die anspruchsvollen<br />

Vorgaben mindestens erfüllt. Gute Chorgesänge,<br />

ein Gitarrero, der auch beim klassischen Gniedelmetall<br />

jede Chance hätte.<br />

Also alles da für unsere Hüftstretchhosen-<br />

Schwarzträger. Ab vor die Bühne. Der Rest darf<br />

gern auch mal seine Aggressionen in die Menge<br />

werfen. Fliegende Schweißströme in jedem Song.<br />

Das hat befreiende Wirkung. Egal, wie abgegriffen<br />

das Genre sonst so ist - und auch, wenn man die<br />

ohnehin nur in den seltensten Passagen verständlichen<br />

Lyrics als weitgehend uninteressant vernachlässigen<br />

kann - die New Yorker verstehen ihr<br />

Handwerk und liefern wirklich gute Arbeit ab. Respekt.<br />

11 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

fromautumntoashes.<strong>com</strong><br />

GODS OF BLITZ -<br />

REPORTING A MIRAGE<br />

(BPF1992/Sony/BMG)<br />

<strong>reViews</strong><br />

35<br />

Hätte man, ja hätte man in<br />

Deutschland die entsprechende<br />

Radiolandschaft, dann<br />

könnte „ALife Repilca“ vom neuen Album der Gods<br />

Of Blitz zum Hit, zum rauf und runter gespielten<br />

Dauerbrenner werden. Da sich hierzulande allerdings<br />

nur noch wenige Inseln mit hörbaren Radiosendern<br />

finden, werden wohl allenfalls Hörer von<br />

Freien Radios oder MotorFM in den Genuss dieses<br />

Songs kommen. Da wäre natürlich noch die<br />

Alternative, sich den zweiten Langspieler des Vierers<br />

von Kreuzberg einfach zuzulegen. Und das ist<br />

eine Lohnende, keine Frage, hat „Reporting A Mirage“<br />

vielleicht auch kein zweites Stück von der<br />

Großartigkeit des genannten im Programm, ist der<br />

Rest des Albums trotzdem angefüllt mit äußerst<br />

starken dreiminütigen Rockkrachern. Wer den Erfolg,<br />

den die Gods Of Blitz mit ihrem Debüt „Stolen<br />

Horse“ noch ein auf den ersten Blick für einen<br />

zufälligen, für manchen kaum fassbaren hielt, dem<br />

beweist die Band mit ihrem Zweitwerk, dass Ehren<br />

wie die Eröffnungsposition bei Touren von Maximo<br />

Park oder Wolfmother durchaus berechtig<br />

waren. „Reporting A Miracle“ jedenfalls ist von<br />

vorne bis hinten höchst unterhaltsam, abwechslungs-<br />

wie ideenreich und in keinem Moment berechenbar.<br />

11 Punkte<br />

Arnulf Woock<br />

godsofblitz.<strong>com</strong>


36<br />

<strong>reViews</strong><br />

GRAND ISLAND -<br />

SAY NO TO SIN<br />

(Haldern Pop/Cargo)<br />

„Say No To Sin“ raten uns die<br />

fünf Norweger, obwohl man<br />

beim Hören ihres Debüt Albums<br />

den Eindruck gewinnen will, dass die Buben nicht<br />

gerade die strengsten Neinsager, die man sich<br />

denken kann sind. Musikalisch schon gar nicht. Die<br />

Unbekümmertheit und Gedankenlosigkeit im positiven<br />

Sinne mit der hier mit Bluegrass, Rock mit einer<br />

punkigen Attitüde, einem Sprengsel Banjo und<br />

einem Sprengsel Wurlitzer jongliert wird, erinnert<br />

schon an gewisse Phasen von gewissen grossen<br />

amerikanischen Freaks, zumal man sich auch gesanglich<br />

Eskapaden leistet, die sich zum Beispiel<br />

auch auf Captain Beefheart And His Magic Bands<br />

„Safe As Milk“ sehr gut machen würden. Rock-Vocals<br />

unterbrochen von animalischem, (liebes-?)<br />

trunkenem Lallen, mal Mars Volta-hoch jauchzend,<br />

mal jammernd mit einer gehörigen Portion Selbstironie.<br />

Da trifft es sich natürlich nicht schlecht, dass<br />

sich diese Art Sound im Moment einer grossen Beliebtheit<br />

erfreut. Ein direkter musikalischer Vergleich<br />

mit den Kings of Leon oder dem Kaizers Orchestra<br />

wäre sicher unsinnig, da man Grand Island<br />

einen eigenen Stil bescheinigen kann - es ist eher<br />

diese allgemeine frische Energie und das musikalisch<br />

vom Neunziger-Schubladen-Trauma Befreite,<br />

was hier eine Gemeinsamkeit wäre. Gerne<br />

lehnt man sich beim Ausleben dieser neuen Freiheit<br />

an die Vorbilder der sechziger, siebziger Jahre<br />

an, die ja eh schon gemacht haben was sie wollten.<br />

Da es neben der aktuellen Single „US Annexed“<br />

noch mindestens eine weitere Single gibt (Wie<br />

wär's mit „Vanity“?) und es mit dem Teufel zugehen<br />

müsste, wenn das live nicht funktioniert, dürfte<br />

es ganz gut aussehen für Grand Island. Schade,<br />

dass es nicht so mein Ding ist. Darum „nur“<br />

9 Punkte<br />

Marcel von der Weiden<br />

grandisland.no<br />

haldern-pop.de<br />

Green Frog Feet - 11 Ways To Kill Your Idols<br />

(Modernnoise/Cargo)<br />

Wie? Wer wird denn gleich seine Idole umbringen?<br />

Die Herren mit den grünen Schenkeln gewiss nicht,<br />

denn dafür sind sie, mit Verlaub, zu brav - was nun<br />

wiederum mitnichten despektierlich gemeint ist.<br />

Denn mit nachgerade kalifornischem Sonnenscheingemüt<br />

knallen sie uns elf Emo-Punk-Kracher<br />

um die Ohren, die nicht nur in einem mehr als<br />

anständigen Soundgewand daherstolzieren, sondern<br />

auch so einige Ohrwurm-Hooks zu bieten haben.<br />

Ach jaaaa - ich höre sie schon wieder meckern,<br />

die Nörgler, die ewigen „da-fehlt-es-an-Eigenständigkeit“-<br />

oder „das-kennen-wir-alles-vonden-Ami-Bands-besser“-Meckerer.<br />

Es sei ihnen<br />

ein herzhaftes Schieß-Dir-Doch-Ins-Knie entgegengeschleudert,<br />

denn natürlich wollen<br />

Green.Frog.Feet (nur echt mit den drei Punkten!)<br />

nicht den tönenden Faustkeil neu schaffen - Spaß<br />

haben und Spaß machen wolln's, die Reg'nsburger,<br />

nicht mehr - und gewiss nicht weniger. Hört<br />

auf zu meckern und habt endlich Spaß!<br />

11 Punkte<br />

Leo<br />

HEIDEROOSJES -<br />

CHAPTER EIGHT: THE GOLDEN STATE<br />

(U Sonic/Cargo Records)<br />

Es scheint eine Ewigkeit, die die Heideroosjes in<br />

der Punk-Szene aktiv sind. Und tatsächlich, satte<br />

18 Jahre hat die Band aus Holland mittlerweile auf<br />

dem Buckel. In einem Land, in dem Punkrock an-<br />

sonsten nicht allzu viel zu melden hat, ist das an<br />

sich schon mal eine Besonderheit. Völlig aus der<br />

Masse der Allgemeinheit aber erhebt die Heideroosjes<br />

ein ganz anderer Umstand: Seit Anbeginn<br />

der Tage und über 1.500 Konzerten hat die<br />

Band nicht ein einziges Mal ihr Lineup verändert -<br />

Respekt. Hört man sich das achte Album der Band,<br />

die natürlich schon mit allen Punkgrößen der letzten<br />

Dekaden von Bad Religion über Pennywise bis<br />

The Offspring die Bühne geteilt hat, steigt dieser<br />

noch um eine gehörige Portion. „Chapter Eight:<br />

The Golden State“ nämlich klingt alles andere als<br />

nach einer Band, die schon seit annähernd zwei<br />

Dekaden den Proberaum teilt, sondern macht viel<br />

mehr den Eindruck, von einer Gruppe junger wie<br />

heißer Punkrocker eingespielt worden zu sein, die<br />

von der unbändigen Energie Pubertierender angetrieben<br />

werden. Lediglich beim Songwriting wird<br />

deutlich, dass man es hier mit einer Band zu tun<br />

hat, die durchaus ihre Erfahrungen gemacht hat<br />

und genau weiß, wo und wie welcher Effekt zu setzen<br />

ist - was „Chapter Eight: The Golden State“ natürlich<br />

nur zu Gute kommt. Wie gesagt: Respekt!<br />

12 Punkte<br />

Arnulf Woock<br />

HELLA - THERE'S NO 666 IN<br />

OUTER SPACE<br />

(Ipecac/Southern/Soulfood)<br />

Alles neu im Hause Hella: Nach<br />

sechs Jahren und über zehn<br />

Veröffentlichungen als multi-instrumentalistisches<br />

Duo sind die durchgeknallten Spackos plötzlich<br />

zum Quintett gewachsen, zu einer richtigen Band<br />

im klassischen Line-Up. Vor allem durch die Integration<br />

von Gesang öffnet man sich fortan die<br />

Pforte zu ein wenig mehr Eingängigkeit - so unpassend<br />

dieses Wörtchen im Kosmos dieser positiv<br />

Verrückten auch sein<br />

mag, die auch im neuen<br />

Gewand noch immer<br />

ziemlich weit entfernt von<br />

der Norm ihr alles andere<br />

als leicht verdauliches<br />

Süppchen kochen. Aaron<br />

Ross, der neue Mann<br />

am Mikro, klingt wie eine<br />

Kreuzung aus einem der<br />

Blood Brothers-Schreihälse<br />

und Cedric Bixler-<br />

Zavalas. Doch nicht nur<br />

aufgrund der stimmlichen<br />

Nähe fühlt man<br />

sich bei den neuen Hella<br />

öfters mal an The Mars<br />

Volta erinnert, auch in<br />

Punkto Haken schlagen<br />

und der Verweigerung<br />

von konventionellen<br />

Songstrukturen würden<br />

beide Bands vermutlich<br />

hervorragend im Proberaum<br />

miteinander harmonieren.<br />

Die oftmals<br />

unterkühlte Technikdemonstration<br />

der Kollegen<br />

aus El Paso geht den ansonsten<br />

ähnlich abgedreht<br />

zu Werke gehenden<br />

Hella allerdings ab.<br />

Spielfreudig gibt man<br />

sich auf „There's No 666<br />

In Outer Space“ und beweist<br />

nicht nur wegen<br />

blöden, aber trotzdem<br />

irgendwie coolen Songtiteln<br />

wie „The Ungrateful<br />

Dead“ oder „Anarchists<br />

Just Wanna Have Fun“<br />

Sinn für Humor. Der Einstieg in den undurchsichtig<br />

komplexen Soundkosmos wird mit ständiger<br />

Gesangsuntermalung als rotem Faden erleichtert.<br />

Die aber auch, und das ist vielleicht das größte<br />

Manko dieser Platte, gerade wegen ihrer penetranten,<br />

pausenlosen Dauerbeschallung auf die Nerven<br />

gehen kann. Und trotz der Hilfestellung des<br />

Gesangs bei der Orientierung bleibt die Musik im<br />

höchsten Maße zerfahren und schwer greifbar. Mit<br />

der Präzision einer für Normalsterbliche kaum<br />

nachvollziehbaren mathematischen Formel zerhackstückelt<br />

Drummer Zach Hill den Rhythmus<br />

stets bis zur Unkenntlichkeit und gibt mit ständigen<br />

rhythmischen Verschiebungen die Richtung für die<br />

restlichen Instrumente vor. Tempi wechseln Hella<br />

wie andere Bands Akkorde, Breaks erfolgen so regelmäßig<br />

wie bei anderen der Schlag auf die Bassdrum.<br />

Und dennoch: „Hand That Rocks The<br />

Cradle“ ist funky wie Prince in der imaginären<br />

Zwangsjacke. In „World Series“ brechen urplötzlich<br />

und nur für wenige Sekunden Jazz-Trompeter<br />

in den Raum. Dann taucht in all dem Chaos und<br />

hinter all den rhythmischen Verwirrungen eine saubere,<br />

klare Gitarrenmelodie auf („Dull Fangs“).<br />

Doch sind das nur kurze Strohfeuer, nicht mehr als<br />

falscher Alarm, bewusst ausgelöst von diesen<br />

hinterlistigen Muckibuden-Musikern. Denn natürlich<br />

ist das hier irgendwie auch musikalisches Muskelmessen,<br />

das auditive Äquivalent zum Fitnesstraining.<br />

Natürlich holen sich Hella hier öfters mal<br />

einen auf sich selbst runter. Das beruhigende<br />

daran: Diese Platte macht dennoch nicht nur den<br />

Musikern selbst Spaß, sondern auch dem offenen,<br />

nervlich belastbaren Hörer.<br />

9 Punkte<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

hellaband.<strong>com</strong>


HORE - CHEAP LUXURY BOMB<br />

(Swamp Room)<br />

Man könnte an dieser Stelle sehr gut einen Lückentext<br />

präsentieren, in dem die Querverweise selbst<br />

eingetragen werden können, so sehr drängen sie<br />

sich auf. Man kann auch einfach eine Liste mit sämtlichen<br />

guten Stoner-Bands, die einem gerade so einfallen<br />

anfertigen, und man bekommt brauchbare Anhaltspunkte<br />

für „Hangover Rock Explosion“. Ungewöhnlich<br />

ehrlich wird die Tatsache, das Hore (steht<br />

für Hangover Rock Explosion) nicht unbedingt das<br />

Stoner-Rad neu erfinden im Info thematisiert. Aber,<br />

und auch das ist Thema und Fakt, es ist in diesem<br />

Fall wirklich egal, dann Hore rocken einfach mit viel<br />

Energie und vor allem Leidenschaft, dass man eigentlich<br />

jedem Stoner Fan, der nicht auf Innovation<br />

insistiert, dieses Album empfehlen kann. Fu Manchu,<br />

QOTSA, Pothead, Colour Haze, Nixon Now…<br />

Bitte selbst vervollständigen. Was Hore dennoch in<br />

ihrem Stil auszeichnet ist der melancholische<br />

Grunge Einschlag, der in vielen Stücken mitschwingt<br />

und ihnen zu einer gewissen Eigenständigkeit<br />

verhilft. Wie gesagt, nichts wirklich neues,<br />

aber ein Album, das Spaß macht, abwechslungsreich<br />

ist und konventionelle Qualität im besten Sinne<br />

bietet.<br />

8 Punkte<br />

Christian Eder<br />

hore-rock.de<br />

swamp-room.de<br />

ICH JETZT TÄGLICH - ALLEE SORGENLOS<br />

(Popup Records/Cargo)<br />

Ich Jetzt Täglich haben einen wirklich guten Schlagzeuger.<br />

Und letztendlich war's das auch schon. Instrumental<br />

wäre „Allee Sorgenlos“ über weite Strekken<br />

zumindest besser zu ertragen. Dabei hatte der<br />

Vorgänger „Stilfragen“ mit einer zwar besorgenden<br />

Mischung aus wirklich guten Liedern wie „Mein Therapeut“<br />

oder „Januarsonne“ und allerlei Peinlichkeiten<br />

Anlass für berechtigte Hoffnung gegeben, mit<br />

gutem Willen irgendwann mit einem durchweg ordentlichen<br />

Album in voller Länge rechnen zu können.<br />

Davon scheinen sich Ich Jetzt Täglich mit „Allee<br />

Sorgenlos“ nun ein für allemal zu verabschieden.<br />

Und obwohl die Funktionsweise mit viel Liebe<br />

zum Detail und einer Menge an Einfällen wie beim<br />

Debüt „Stilfragen“ genauso sperrig wie filigran<br />

bleibt, ist „Allee Sorgenlos“ zu einem großen Teil<br />

einfach völlig bescheuert.<br />

6 Punkte<br />

Torge Hüper<br />

popup-records.de<br />

KARL SEGLEM - URBS<br />

JAKE PLAYMO FEAT. DAS BÖSE DING - MY FA-<br />

VOURITE TOYS<br />

(beide Ozella/In-Akustik)<br />

Sehr schönes und liebevoll gemachtes Digipack, in<br />

dem „Urbs“ daherkommt. Die Promo ist hier keine<br />

räudige CD-R mit kopiertem Cover, sondern ein<br />

schmuckes Original. Gefällt! Der norwegischeTenorsaxofonist<br />

und Ziegenhornbläser Karl Seglem<br />

nimmt uns auf „Urbs“ mit auf eine weltmusikalische<br />

Reise und bringt uns seine vertonten Landschaftsbeschreibungen<br />

näher. Norwegische Folklore trifft<br />

hier auf zeitgenössischen Jazz, die den Begriff<br />

Worldmusic im besten Sinne interpretieren. Kein<br />

New Age Lamento, sondern ausgetüftelte und sehr<br />

ideenreiche Songs, die von rhythmisch treibend<br />

(wie der Opener als bester Song) bis versunkenmeditativ<br />

reichen. Eine visionäre Klangreise zeitgenössischer<br />

Wordmusic norwegischer Prägung, für<br />

Leute mit einem sehr offenen Musikverständnis (8).<br />

Mit mit Jake Plymo (alis Jan Klare) habe ich dagegen<br />

ein grundlegendes Problem, beziehungsweise<br />

an dieser Stelle hat erstgenannter eines mit mir. Ich<br />

kann Synthpopelemente partout nicht ausstehen,<br />

noch nie und wahrscheinlich für immer. Von daher<br />

ist dieses Album einfach nicht beim richtigen Redakteur<br />

gelandet. Jake Playmo spielt eine Art Synthpopjazz,<br />

der musikalisch und kompositorisch gut<br />

gemacht und ideenreich arrangiert ist, nur sind mir<br />

diese Keyboards und sülzigen Melodien absolut unerträglich.<br />

Da hilft auch kein Auflockern durch Sampling<br />

oder quengelige Saxophone. Sorry.<br />

ohne Wertung<br />

norcd.no/seglem<br />

janklare.de<br />

ozellamusic.<strong>com</strong><br />

KOLPORTEURE -<br />

LEINEN LOS<br />

(Nix Gut Rec.)<br />

Christian Eder<br />

Ich erwartete Punkrock. Einen<br />

Start mit Rums und Humtata.<br />

Stattdessen überraschen die Berliner Urgesteine<br />

anfangs ihrer Leinen Los - CD mit einem etwas unsicher<br />

vor sich hin swingenden Titelsong, der sich<br />

in kryptischen Bildern den missglückten Versuch einer<br />

grundsätzlichen inhaltlichen Verortung vornimmt.<br />

Und dann doch noch losrumpelt. Geht so.<br />

Hatte mir mehr erwartet. Song zwo. „Häuser mussten<br />

wir besetzen, Schwarz-Rot wedeln, dabei<br />

brülln, ´Anarchie`, ´Gerechtigkeit`, und zeigen, wer<br />

sich Taschen füllt, weil's Land ja auch ein Feindbild<br />

braucht, gibt es zum Dank, ein bisschen Punk!“<br />

Das hat Stil. Die einstigen Schwarz-Weiss-Maler haben<br />

ihre Entschiedenheit<br />

nicht verloren,<br />

aber sie beherrschenmittlerweile<br />

die Kunst der<br />

ironischen<br />

Distanz, ohne die<br />

Selbsterkenntnis<br />

nur sehr selten anzutreffen<br />

ist.<br />

Auch, wenn die<br />

Kolporteure in so<br />

manchem Song<br />

als Referenz an<br />

alte Fans mit eingeschränktemHorizont<br />

zu den alten<br />

simplen Mitsing-<br />

Gewissheiten greifen,<br />

die so viele<br />

Punkrockbands so<br />

bedauerlich austauschbar<br />

machen<br />

in ihrer musikalisch<br />

begrenzten<br />

Uniformität, hier<br />

wird wirklich gekonnt<br />

Gas gegeben<br />

und die linke<br />

Faust gereckt, bis<br />

die Schweißtropfen<br />

fliegen. Natürlich<br />

eine selbstreferentielle<br />

Hymne<br />

an die Mithoppser<br />

(„Tanzen“), damit<br />

die scheintherapeutische<br />

Wirkung<br />

im Konzert im<br />

Massenerlebnis<br />

möglich bleibt. Mit<br />

„Heul nicht“ folgt<br />

eine der schwächsten<br />

Nummern der<br />

Platte, wenn zu All-<br />

<strong>reViews</strong> 37<br />

gemeinheiten über Generationskonflikte weder eine<br />

konkrete Geschichte, noch eine stimmige Atmosphäre<br />

entstehen und der schwach intonierte Refrain<br />

im Beliebigkeitssumpf versinkt. Es folgt eine<br />

echte Überraschung aus Wien. Georg Danzer<br />

grüsst - sein alter, schöner Gassenhauer „Freiheit“<br />

(„… denn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit<br />

sein…“) wird von den Kolporteuren - tja, leider gnadenlos<br />

verhunzt. Ein schönes Stück Rock über unerwiderte<br />

Liebe („Muse“), ein guter Song zum Wochenende,<br />

der unter zuviel Pathos beim mäßigen<br />

Gesang leidet („Freitag Nacht“), undsoweiter undsofort.<br />

Die Platte ist grundsympathisch, pure Punk-<br />

Attitüde mit schönen Elementen von Volxmusik,<br />

handwerklich im Grossen und Ganzen okay - ein<br />

guter Tipp für Genrefans. Mehr aber nicht.<br />

7 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

kolporteure.de<br />

nix-gut.de<br />

LITTLE BARRIE -<br />

STAND YOUR GROUND<br />

(PIAS/Genuine)<br />

Woher kommen die? Mitten aus<br />

den Arbeitervierteln Birminghams?<br />

Und sind gerade mal zu dritt und - im Schnitt<br />

Anfang bis Mitte Zwanzig? Und hübsch? Und machen<br />

derart reifen puren Bluesrock mit Soul in der<br />

Stimme und den raffiniert treibenden Beats? Und<br />

dieser famose Sänger mit den exakt temperierten<br />

und korrekt intonierten kleinen sexy Screams spielt<br />

auch noch derart versiert Gitarre? Mit schönem<br />

Gruß von Jimi Hendrix… und dann noch dieser Bas-


38<br />

<strong>reViews</strong><br />

ser, woher nimmt der diese stoische elegante Ruhe<br />

her, diese seltene Tightness?<br />

Warum will ich gerade zu dieser Scheibe sofort aufstehen<br />

und lostanzen, warum macht mich das hier<br />

eigentlich so rallig?<br />

Keinen Bock mehr, weiter zu schreiben. Bock auf<br />

einen Abend mit Plänen zur Revolution, ein paar<br />

Biers zu Rock`n Roll, und wenn`s mit der Revolution<br />

nicht klappt, ersatzweise ein guter Fick und<br />

schöne gemeinsame Träume tuns auch schon. Die<br />

hier grooven dann garantiert wieder dazu, wenn`s<br />

bei mir zuhause sein sollte. Der Staub der englischen<br />

Arbeiterstrasse und der hart erkämpfte Optimismus,<br />

den Rockmusiker in ihren Songs nur abbilden<br />

können, wenn der Weg nach oben verdammt<br />

hart erkämpft war. Oder das Leben, die<br />

Kindheit. Weitgehend ein Scheiß. Der Übungsraum<br />

zur letzten Zuflucht wurde. Diese Bluesakkorde,<br />

dieses Bottleneckriff, hey, sagen sie mir, enjoy<br />

the moment, enjoy this night, just that.<br />

Was singt dieser abgefahrene junge Typ da?<br />

„Hit my bunk about my world past ten, felt like<br />

skunks until I don`t know when, got my bottle and<br />

I got my bags, so hit that throttle, so the road don`t<br />

drag...“<br />

Kleine Bilder mit großer Wirkung, rationelle Arrangements<br />

mit Blick auf das Wesentliche, eine feine,<br />

höchst unerwartete Platte einer sehr, sehr aussichtreichen<br />

Truppe - mit einem überragenden Talent<br />

an den Drums, der Ruhe selbst am Bass, und einem<br />

formidabel Gitarre spielenden Sänger, in dessen<br />

spitzen Shout-Outs so unglaublich viel Soul<br />

steckt.<br />

„…you wanna know the future, my answer wouldn`t<br />

suit ya, so, I`d better be a charmer, cause I didn`t<br />

mean to harm ya.“<br />

Okay, kleiner Gitarrero. But give me more of those<br />

shouts, please. Give me more, more, more!<br />

13 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

www.littlebarrie.<strong>com</strong><br />

LOCKJAW - LOCKJAW<br />

(Consolidate/Rough Trade)<br />

Nein, nicht die Hardcorebolzer-<br />

Schrägstrich-New Metaller aus<br />

den USA sind gemeint. Wir beschäftigen<br />

uns an dieser Stelle mit Lockjaw aus Solingen,<br />

deren Krawall-Attitüde nur eine Seite der<br />

Medaille darstellt. Auf der anderen Seite hätten wir<br />

die Lust am Gefrickel, an überraschenden Attacken,<br />

an hypnotischen Wiederholungen in den Gesangslines,<br />

an Stakkato-Geschrei, an merkwürdigen<br />

Breaks, die Lust daran, das Unerwartete genau<br />

dann zu tun, wenn man glaubt, den Song zu<br />

kennen. So sind wir also hier auf einmal bei Referenzbands<br />

wie Mars Volta angekommen - oder,<br />

besser gesagt, At The Drive-In - weil die Herren<br />

aus dem deutschen Westen nämlich auch im<br />

schrägsten Dornengestrüpp nie die Power und<br />

Catchyness der Grundidee liegen lassen, weil sie<br />

mit Vorliebe im High-Temp vorwärts heizen.<br />

Das ist gut gemacht und rockt auf spielerisch, wie<br />

kompositorisch verdammt hohem Niveau. Auch,<br />

wenn ich mir den Sänger zuweilen eine Oktave tiefer<br />

wünschen würde, weil sein permanent eher hoher<br />

Gesang auf die Dauer auf mich etwas eintönig<br />

wirkt und so mehr Dynamik in die Spannungsbögen<br />

kommen würde - auch, wenn sie sich bisweilen<br />

auch mal verzocken - und für mein Gefühl in<br />

Deutsch mehr drin wäre.<br />

Sie gehören in einem Atemzug mit Bands aus dem<br />

Neurot-Umfeld genannt und eine Tour mit Envy<br />

wäre musikalisch sicher nicht verkehrt, oder noch<br />

besser, mit Oxbow. Und wenn sie jetzt live noch<br />

mehr Mut zur Anarchie, zu lustvoller Selbstinszenierung<br />

und -entäußerung entwickeln, dann kann<br />

das Kult werden. Feinschmeckerkost ist es allemal.<br />

10 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

www.lockjaw.de<br />

THE LOCUST - NEW ERECTIONS<br />

(Epitaph)<br />

Es ist billig und es ist verlogen. Erst über die Verhältnisse<br />

hadern und dann doch irgendwie mitmachen.<br />

Mit „New Erections“ wiederholt sich das<br />

Stammtischplädoyer. Ambivalenztoleranz ist gefragt.<br />

Es gibt Geschäfts-/Promotaktiken von Plattenfirmen,<br />

die man eigentlich nicht hinnehmen<br />

sollte, einfach ignorieren. Also kein Review zu The<br />

Locust? Dazu ist dieses Album zu gut und darüber<br />

hinaus müht sich diese Band seit Jahren mit radikalem<br />

Außenseitersound in der Szene ab, was<br />

überaus sympathisch ist… Was ist eigentlich los?<br />

„New Erections“ gibt es - zumindest für uns - nicht<br />

als Promo-CD (die ja teils auch immer übler/billiger<br />

aussehen), sondern nur noch als Link und diesen<br />

auch noch mit wechselndem Passwortzugang.<br />

Das ist gelinde gesagt einfach Scheiße. Zumindest<br />

aber besser als bei den Beatsteaks, wo man nur<br />

vor dem Interview in das Album hätte reinhören<br />

können, sonst erstmal nicht. Und dann soll man<br />

gleich Fragen stellen. Von Epitaph - wir sind wieder<br />

bei Locust - hätte man solcherlei Praktiken eigentlich<br />

nicht erwartet. Und kurioserweise ist es<br />

auch nicht der Firmenpolitik geschuldet, sonder<br />

rein der Paranoia der Band. Konsequent gedacht<br />

hätte man nicht eine Leerzeile für eine Review darauf<br />

verschwenden sollen, wenn The Locust nicht<br />

ein wirklich interessantes Album eingespielt hätten.<br />

Sie klingen ein wenig gemäßigter als in ihren<br />

radikalsten Grindnoisetagen, ein wenig „songorientierter“.<br />

Sie knüppeln und schrägen zwischendurch<br />

immer noch wie in alten manischen Tagen,<br />

sind aber diesmal durchdachter im Sound. Das<br />

klingt immer noch wie eine sehr eigene Melange<br />

aus Mathcore, Dillinger Escape Plan, Industrialsprenkeln,<br />

Grind, Experimentalhardcore, sicken<br />

Soundscapes und Noise. Fans der „good old days“<br />

mögen die durchgängig extrem radikale Energie<br />

ein klein wenig vermissen, die hier zugunsten von<br />

mehr Struktur im Sound (und somit Nachvollziehbarkeit)<br />

eingetauscht wurde, was für Normalkonsumenten<br />

nicht weniger Wahnwitz bedeuten soll.<br />

Nichtsdestotrotz sind sie immer noch eine der besten<br />

und interessantesten Bands in diesem Sektor,<br />

die wirklich mehr Aufmerksamkeit verdient hat.<br />

Die Veröffentlichungspraktik der Band ist und bleibt<br />

dabei unwürdig übel. Kurve gekriegt? Der Ambivalenztoreranzkönig<br />

schmunzelt eineinhalb Lächeln.<br />

10 Punkte<br />

Christian Eder<br />

thelocust.<strong>com</strong><br />

LOGH - NORTH<br />

(Bad Taste/Soulfood)<br />

Nachdem die sympathischen<br />

Schweden zuletzt ihre Songs<br />

in einer Parforce-Tour in Nullkommanix<br />

einspielten, haben<br />

sie diesmal lange herumgetüftelt. Und der große<br />

Aufwand war nicht umsonst. In epischen Bögen<br />

beschreiben sie die Widrigkeiten des Lebens und<br />

in präzisen Bildern suchen sie nach Trost, angesichts<br />

bitterer Wahrheiten und kalter Wohlstandsfassaden<br />

und dem Spießertum der Provinz. Doch<br />

dort, wo einst noch Slowcore die passende Bezeichnung<br />

war, ist das neue Logh-Universum ein<br />

schwebendes, filigran irrlichterndes, Logh heute<br />

sind stilvoller Indiepop für Freunde progressiv spielerischer<br />

Elegien, die ansonsten Coldplay zu routiniert<br />

finden und Snowpatrol zu berechenbar.<br />

Einfach schön, was ich da höre. Musik, die zum<br />

Herbst und Winter besser gepasst hätte, als zum<br />

herandrängenden Frühling. Am Fenster stehen mit<br />

diesem Sound hinter Dir. Draußen Menschen, die<br />

von Stürmen getrieben vorwärts hasten, während<br />

wir die Authentizität unseres Ausgeschlossenseins<br />

von Ruhm und Ehre in einer Umarmung genießen.<br />

In einem Lächeln. In geteilter Trauer.<br />

Logh sind kunstvoll, dabei aber immer sehr nahe,<br />

warm, voller Liebe, auch, wenn sie ihrer Heimatstadt<br />

den Tod andichten.<br />

Sie brechen nicht mehr aus in das früher so große<br />

fragile Geschrei, das schon zu viel früheren Tagen<br />

dieser von manchem Popconnaisseur schier geliebten<br />

Band „The Raging Sun“ zu einem Song für<br />

die Ewigkeit machte. Logh sind nun bei sich selbst<br />

und in ihren Gewissheiten angekommen und zelebrieren<br />

diese Selbstsicherheit in ähnlicher Weise<br />

wie The Notwist an ihren besten Tagen. Und auch<br />

die stilistische Unsicherheit von „A Sunset Panorama“,<br />

die in nicht nur geglückten, aber charmanten<br />

Experimenten mündete, haben sie selbstbewusst<br />

ad acta gelegt.<br />

Grosse Popsongs, elegisch, schlicht, schön, tröstend,<br />

mitfühlend. Manchmal einfach nur Wohlklang.<br />

Manchmal vermisse ich ein ganz klein wenig<br />

die alten Widerhaken. Musik wie über Fjorde<br />

schweben, Wälder, ab und zu ein Windstoß. Pure<br />

Schönheit und Nähe, was will ich denn eigentlich<br />

mehr? Ich darf Logh weiter lieb haben, wie einen<br />

richtig guten Freund.<br />

13 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

logh.se<br />

P. W. LONG -<br />

GOD BLESS THE DRUNKARD'S DOG<br />

(Black Diamond/Cargo)<br />

Mule waren eine verschrobene Indie-Band, die ich<br />

seinerzeit etwas verpasst bzw. noch nicht ganz verstanden<br />

hatte. P. W. Long war seinerzeit bei diesen<br />

aktiv, kennen könnte man ihn auch noch von<br />

Wig, die mir allerdings unbekannt sind. Auf „God<br />

Bless The Drunkard´s Dog“ widmet sich P. W. Long<br />

seiner Version des Blues, die eine gute Portion<br />

Southern Einschlag hat. Dafür hat er sich noch Taylor<br />

Young (Polyphonic Spree, Young Heart Attack)<br />

in die Plantage geholt. Das Duo zelebriert raubeinigen<br />

Blues mit geschrabbter Southern Gitarre, die<br />

den Großteil des Albums ausmachen. Zwischendurch<br />

besinnen sie sich auch auf recht traditionelle<br />

Bluesformen bzw. Schemata. Für Bluesfans oder<br />

Leute die Sister Double Happiness mochten, ist die<br />

Scheibe sicherlich eine interessante Sache, mir<br />

allerdings ist das in vielen Fällen zu gewöhnlich,<br />

auch wenn Long eine coole Stimme hat. Da hat<br />

William Elliot Whitmore in diesem Metier vor einiger<br />

Zeit ein wesentlich spannenderes Werk abgeliefert.<br />

7 Punkte<br />

Christian Eder<br />

www.southern.net/southern/band<br />

MARYSLIM - A PERFECT MESS<br />

(Wild Kingdom)<br />

Normalerweise sind Peter Tägtgrens musikalische<br />

Vorlieben etwas anders gelagert: Seine Band Hypocrisy<br />

zählt zu den Urgesteinen des skandinavischen<br />

Death Metal-Lagers, mit Pain hat er sich einer<br />

Elektro-Metal-Melange verschrieben, die<br />

gleichermaßen auf hartes Riffing wie tanzbare Beats<br />

setzt. Als Produzent versorgte er schon die ungekrönten<br />

Fürsten des Black Metal, Dimmu Borgir,<br />

mit dem richtigen Sound, zählt Marduk zu den regelmäßigen<br />

Gästen seines in den tiefen Wäldern<br />

Schwedens gelegenen Studios The Abyss, wo er<br />

auch schon mit der deutschen Thrash Metal-Legende<br />

Destruction das eine oder andere Album<br />

eingespielt hat.<br />

So verwundert es denn im ersten Moment ein wenig,<br />

seinen und den Namen seines Studios auf dem<br />

aktuellen Album der Stockholmer Maryslim zu lesen.<br />

Tatsächlich aber zeichnete sich Tägtgren<br />

schon für das 2004 erschienene „Split Visions“ als<br />

Produzent verantwortlich - seinerzeit seine erste<br />

Begegnung mit dem Genre Rock'n'Roll.


Ob die Konstellation nun wirklich eine gute ist,<br />

stellte schon „Split Visions“ ein wenig in Frage - wie<br />

nun auch „A Perfect Mess“. Dass Tägtgren seinen<br />

Landsleuten einen perfekten Studiosound verpasst<br />

hat, steht zwar außer Frage, eine allzu glatte<br />

Behandlung tut dem Songmaterial der Band allerdings<br />

eigentlich gar nicht so gut. Um gegen einen<br />

perfekten Klang zu bestehen, haben die Songs der<br />

Schweden letztendlich zu wenig Potential und arten<br />

in manchen Fällen („Part Of Me“) durch diese<br />

Behandlung in äußerst radiotaugliche Mainstreamlangweiler<br />

aus. Das mag im Sinne aller Beteiligten<br />

sein, Fans der ersten Stunde werden sich trotzdem<br />

die etwas erdigeren, dreckigen und rotzigen Maryslim<br />

zurück wünschen. Mit „A Perfect Mess“ jedenfalls<br />

hat sich die Band eigentlich genau jenes<br />

geschaffen.<br />

7 Punkte<br />

Arnulf Woock<br />

maryslim.<strong>com</strong><br />

modernnoise.de<br />

MONKEY 3 - 39 LAPS<br />

(Buzzville/Soulfood)<br />

Bei Monkey 3 muss ich immer<br />

unwillkürlich an meine letzte<br />

Prag-Reise denken, da mir dort<br />

deren feines Debüt gestohlen wurde, inklusive dazugehörigem<br />

Auto meines Freundes. Auto gibt es<br />

jetzt ein besseres neues und auch die Schweizer<br />

legen mit „39 Laps“ gewaltig nach.<br />

Konnte man das Debüt noch in etwa in die Heavy-<br />

Stoner Ecke stellen und Vergleiche zu Sons Of Otis<br />

ziehen, tut man sich jetzt ungleich schwerer mit<br />

solch leidigen Kategorisierungen. Und genau das<br />

zeichnet gute, innovative Alben ja aus. Monkey 3<br />

haben sich selbst neu erfunden und spielen jetzt<br />

in einer anderen Soundliga. Weniger Stoner, mehr<br />

Psychedelic, Prog und Post-/Spacerock. Ergo,<br />

überlange Instrumentalsongs, die mit ausgefeilten<br />

epischen Arrangements glänzen, Gitarrenwände,<br />

die monohaft geschichtet werden, melancholischflirrende<br />

Keyboardteppiche. Manche Parts sind jedoch<br />

sehr zerdehnt, hier verliert sich die Idee gelegentlich<br />

im outta space. Vor allem gegen Ende<br />

des Albums scheinen ihnen etwas die Ideen ausgegangen<br />

zu sein. Am Ende steht auch das Ennio<br />

Morricone Cover „Once Upon ATime In The West“,<br />

das vielerorten hochgelobt wurde, mir persönlich<br />

aber nicht allzu zusagt. Trotz der Längen am Ende<br />

ein überaus empfehlenswertes Album, in das Stonerrockfans,<br />

die Loose (35007) schätzen, genauso<br />

reinhören sollten wie Fans von Tool oder den neueren<br />

Isis. Und wenn sie noch mehr so Wahnsinnssongs<br />

wie „Xub“ und „Last Moulinao“ schreiben, ist<br />

ihnen die Highlight Position beim nächsten Mal sicher.<br />

11 Punkte<br />

Christian Eder<br />

monkeythree.<strong>com</strong><br />

NEAL MORSE -<br />

SOLA SCRIPTURA<br />

(Inside Out/SPV)<br />

Es gibt nicht wenige Stimmen,<br />

denen die ewige Religions-<br />

Leier des Herrn Morse inzwischen einigermaßen<br />

auf den Zwirn geht. Zu den Texten (diesmal inspiriert<br />

durch Martin Luther) kann man stehen, wie<br />

man Kleingeld hat - Fakt ist, dass Neal Morse auch<br />

auf „Sola Scriptura“ musikalische Gourmetkost<br />

serviert. Zwar hätte ich mir hier und da ein, zwei<br />

Überraschungsmomente mehr gewünscht, aber<br />

auch so wuchtet der ehemalige Spock's Beard-<br />

Fronter seinen neuen Solo-Output wieder locker<br />

über Durchschnittsniveau. Unterstützung erfährt er<br />

dabei u.a. von Saitenhexer Paul Gilbert (Mr. Big)<br />

und Fellverdrescher Mike Portnoy (Dream Theater),<br />

denen es gelingt, feinsten Bombast-Prog<br />

Rock ohne den Hauch einer Staubschicht wuchtig<br />

und teils erstaunlich heavy in Szene zu setzen.<br />

Amen!<br />

12 Punkte<br />

Heavy<br />

insideout.de<br />

NORWAY -<br />

RISING UP FROM THE ASHES<br />

(MTM/SPV)<br />

Der mächtig mit Pathos belegte<br />

Titel lässt Gewaltiges erwarten -<br />

was dann aber aus den Boxen schallt, ist eher bieder.<br />

Nichts gegen AOR/Melodic Rock, aber etwas<br />

mehr Schmackes und weniger Vorhersehbarkeit<br />

darf das Ganze dann doch haben. Der Opener<br />

„Save Me“ wäre Ende der Achtziger mit einer fetteren<br />

Produktion wohl noch als recht amtlicher Stadionrocker<br />

durchgegangen. Wenn aber bereits der<br />

zweite und dritte Track beides Balladen sind, bleibt<br />

der Gewaltigkeits-Faktor irgendwie auf der<br />

Strecke... Wer auf die üblichen Verdächtigen aus<br />

dem Hause Def Leppard, Bon Jovi & Co. steht und<br />

kein Soundfetischist ist, kann hier mal reinhören.<br />

Unterm Strich aber ziemlich beliebiger Stoff aus<br />

New Jersey. Nicht Norwegen.<br />

6 Punkte<br />

Heavy<br />

mtm-music.<strong>com</strong><br />

OPHYDIAN - The Perfect Symbiosis, CD<br />

(Dioxzion Records/Twilight)<br />

Jaja, die Italiener! Den ganzen Tag in der Sonne<br />

liegen, Espresso saufen und den lieben Gott einen<br />

guten Mann sein lassen. Zu diesem Klischees<br />

passt irgendwie auch, dass man den Jungs „da unten“<br />

solche Mucke, mit der beispielsweise Bands<br />

wie „Ophydian“ aufwarten, schlechterdings nicht<br />

zutraut; die nämlich stimmen die Gitarren runter,<br />

hauen clever durchdachte Metal-Riffs raus und basteln<br />

einen Sound, den man irgendwie eher jenseits<br />

des Atlantiks als jenseits der Alpen vermuten<br />

würde. Die getriggerte Bassdrum nervt zwar ohne<br />

Ende, dennoch ist der Sound ein echter Schlag in<br />

die Fresse und Fundament eines überaus kreativen<br />

Outputs, der gerne für ein paar weitere Umdrehungen<br />

im Player verweilen darf. Ein weiteres<br />

Plus ist der abwechslungsreiche Gesang, der in<br />

seiner hart-zart-Dynamik eine - eben - perfekte<br />

Symbiose mit der Restruppe eingeht. Hinsichtlich<br />

des Songwritings gibt es natürlich beim ein oder<br />

anderen Track noch ein wenig Luft nach oben -<br />

aber wenn dieses Schiff hier Kurs hält, dann können<br />

wir uns zukünftig auf einiges gefasst machen.<br />

11 Punkte<br />

Leo<br />

PAIN OF SALVATION -<br />

SCARSICK<br />

(Inside Out/SPV)<br />

Pain Of Salvation waren noch<br />

nie Easy Listening. Dass sie im<br />

Vergleich zum doch leicht überladenen Vorgänger<br />

„Be“ etwas abgespeckt haben, steht den Jungs<br />

also gut zu Gesicht. „Scarsick“ benötigt zweifellos<br />

ein paar Durchläufe, dann aber zünden die zehn<br />

Tracks ohne Zweifel. Der moderne, nur vordergründig<br />

unzugängliche Metal der Schweden wirft<br />

zwischen den streckenweise strapaziösen Strophen<br />

stets rechtzeitig akustische Anker aus, an denen<br />

der Orientierungslose zurück zum Grundgerüst<br />

des jeweiligen Songs findet. Zusätzlich bieten<br />

Pain Of Salvation in regelmäßigen Abständen<br />

kleine Verschnaufpausen in Form von verhältnismäßig<br />

unkomplizierten Tracks an. So kann der geneigte<br />

Break-Aficionado z.B. nach dem anstrengenden<br />

Eröffnungsdoppel „Scarsick“ und „Spitfall“<br />

39<br />

beim anschließenden „Cribcaged“ durchatmen.<br />

Dieser Aufbau zieht sich sinnvollerweise komplett<br />

durch dieses empfehlenswerte Album, und so kann's<br />

weitergehen für die Männer um Daniel Gildenlöw.<br />

Pain Of Salvation are not easy, but worth listening<br />

to!<br />

12<br />

Punkte<br />

Heavy<br />

insideout.de<br />

PALEHORSE -<br />

AMONGST THE FLOCK<br />

(Bridge Nine Rec.)<br />

Dabei soll es in Connecticut<br />

eher beschaulich sein. Rums,<br />

Krach, Schepper, Empörung. Muss man zwischen<br />

bibelbewehrten Landkundschaftsspießern aufwachsen,<br />

um soviel Wut zu entwickeln, wie die<br />

hier? Doublebase, Gebrüll, die Welt eine Bedrohung<br />

im Allgemeinen und die Neue-Welt-Ordnung<br />

im Besonderen.<br />

Keine Gefangenen auf der schwarz-roten Lärminsel<br />

im Meer der ahnungslosen, betrogenen, saudummen<br />

Schaafe. Das ist der Kern der Botschaft.<br />

Ich will jetzt nicht diskutieren, ob die Herren da nicht<br />

doch ein wenig Recht haben. Hatte ja gerade den<br />

Emocore von From Autumn To Ashes gehört, der<br />

technisch etwas versierter war, aber in seinen<br />

Emotionen weniger ehrlich und authentisch wirkte.<br />

Die hier zelebrieren ihre echte Wut - vorzugsweise<br />

white-angry-young-men-on-the-highway-kompatibel.<br />

Für den Aufstand in den Vorstädten. Für den<br />

Bleifuss bei getunten 180, wenn die Frau vorher<br />

am Telefon Schluss gemacht hat. Solider Hightemp-Hardcore<br />

ohne größere Schwächen oder<br />

Höhepunkte. Keine Überraschungen, zu wenig Varianten.<br />

Echte Empörung und Gewalt in den Riffs.<br />

Sound gewordene Gegengewalt also. Die Fans<br />

wird's freuen.<br />

8 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

myspace.<strong>com</strong>/palehorse<br />

PERLE° KOMMT - s/t<br />

(Triple Eggs/Radar Music)<br />

<strong>reViews</strong><br />

Perle° kommt. Und wird spalten.<br />

Spaltet. Kanalisiert. Spaltet<br />

mich. Was soll ich da schreiben?<br />

Wenn ich Perle nicht ganz begreife? Ratlos.<br />

Hmmm. Erinnert mich ein bisschen an Blumfeld.<br />

Hasst ihr mich jetzt? Lieg ich völlig daneben? Ich<br />

weiß nicht. Perle° kommen aufjedenFall auf<br />

deutsch. Beispiel gefällig? „Ich küsse Dich wach<br />

mein Engel. Und schmiege mich an Dein Ohr. Die<br />

Sonne geht auf am Himmel. Ich hab heut viele<br />

schöne Dinge mit Dir vor...“.<br />

Psychopathisch? Unbedingt. Dazu ist das auch<br />

noch gehaucht. Oder bin ich versaut? Ist meine<br />

Gedankenwelt so neben der Spur? Das ist eine<br />

unterschwellig-bedrohliche Atmosphäre. Für mich<br />

zumindest. Hat irgendwas vom Schlaflied der<br />

Ärzte. Man wartet die gesamte Spielzeit des Songs<br />

auf eine eventuelle grausame Auflösung des ganzen.<br />

Aber. Man. Kriegt. Nichts. Und so fängt Perle°<br />

an. Ok, weiter im Text. Perle° sind Pop. Und sehr<br />

versierte Musiker. Ob Gitarre, Piano oder Stimme.<br />

Offener Pop. Spielfreudiger Pop. Offen für alles.<br />

Und das Bedrohliche sinkt so langsam mit Fortschreiten<br />

der Platte. Das ist alles sehr auf den<br />

Punkt gebracht. Die Sterne fallen mir auch ein, aber<br />

nur kurz. Aber Perle° sind eines. Eigenständig. Die<br />

Texte sind manchmal einen Tacken zu banal für<br />

mich, ein anderes Mal aber doch wieder hochkomplex<br />

miteinander verwebt. Lebenstexte, die<br />

manchmal aber ganz schön schmerzen. Ein Kandidat<br />

ist „ich möchte nur Freundschaft“, bei dem<br />

eine Frauenstimme duettmäßig aushilft. Der Text!<br />

Aua, schon erlebt. Hach, wir sind immer noch bei


40<br />

<strong>reViews</strong><br />

Perle°. Die Jungs sind im Booklet leicht überbelichtet<br />

verewigt. So ein bisschen Weichzeichnerweichspüler.<br />

Und manchmal plätschert die Musik<br />

auch so in etwa vor sich hin. Dann aber wieder<br />

doch nicht... Schöne Momente und Momente, bei<br />

denen ich mich fragen muss, ob das überhaupt<br />

geht. Dass die das einfach so machen. Und ob ich<br />

so etwas gut finden kann. Darf. Es aber auch tue.<br />

Whatever. Erwähnte ich schon, dass Perle° polarisieren?<br />

Zumindest geben sie viel Stoff für Partydiskussionen.<br />

Schon geschehen. Auf langen Autofahrten<br />

zu zweit. Schon geschehen. Nur hassen<br />

oder lieben. Es gibt kein Zwischendrin. Aber genau<br />

da stehe ich. Zwischendrin. Nochmal anhören?<br />

Hmmm. Perle° kommen spaltend. Ich bleib<br />

dabei.<br />

Mittendrin heißt wohl 8 Punkte oderso.<br />

Oder 9? Ach, ich weiß nicht.<br />

Matthias Horn<br />

Triple-eggs.de<br />

Perlekommt.de<br />

Pirate-smile.de<br />

REDHANDED - CLOSER<br />

Das ist gut. Fängt an an Tool<br />

erinnernd und steigert sich in<br />

ein Riffgewitter mit nettem<br />

kräftigem Shouten. Der zweite Song erinnert mich<br />

so was von an Slutgitarren. Und das dritte Stück<br />

reißt mit. Auch hier Slutgitarren im Spiel. Plus Redhanded<br />

stehen auf und streuen sozialkritische Lyrics<br />

unters Volk. Sind die gar politisch? Songtitel<br />

wie „scapegoat“, „freedom“, „world in your hand“<br />

und „army walk“ lassen die Vermutung aufkommen.<br />

Das find ich auch gut. Ein arges bisschen<br />

Crossover spielt hier keine minder Rolle. Tante<br />

Grunge schaut um die Ecke. Dann nette Hardcorelicks.<br />

Und ein Sänger, der das auch kann. Deftonesverwandt<br />

wechseln sich hier atmosphärische<br />

ruhigere schön gesungene Parts mit eben dem genauen<br />

Gegenteil ab. Alles im unteren bis oberen<br />

Midtempobereich gehalten. Geht ins Ohr. So. Melancholisch<br />

wachrüttelnd. Mit zwei Akustikschmankerln<br />

endet die Platte. Unplugged to an end. Ach,<br />

Redhanded sind schön. Und ich bin auf weiteres<br />

gespannt. Und raus.<br />

9,5 Punkte<br />

Matthias Horn<br />

redhanded.de<br />

insideout.de<br />

SLAVIOR - SLAVIOR<br />

(Inside Out/SPV)<br />

Es schwirren eine ganze Menge Vibes durch die<br />

verqualmte Restluft, wenn Slavior das heimische<br />

Wohnzimmer beschallen: Seien es u.a. alte Alice<br />

In Chains- immergrüne Faith No More- bzw. Living<br />

Colour- oder aktuellere Disturbed-Referenzen -<br />

egal, Slavior rocken das Eigenheim facettenreich<br />

und verdammt heavy. Dass sich dabei sogar ein<br />

gewagter Ausflug in ferne Reggae-Gefilde noch<br />

cool ins Gesamtbild fügt (der potentielle Single-Hit<br />

„Dove“), spricht für die drei beteiligten Musiker und<br />

ihr Können, wobei Fates Warning-Drummer Marc<br />

Zonder, MSG-Sechssaiter Wayne Findlay und ex<br />

Trybe Of Gypsies-Röhre Gregg Analla zu gleichen<br />

Teilen zum Gelingen dieses Debüts beitragen. Modern?<br />

Zeitgemäß? Cool!<br />

9 Punkte<br />

Heavy<br />

insideout.de<br />

SINNER - MASK OF SANITY<br />

(MTM/SPV)<br />

Es gibt in der Hartwurst-Szene<br />

genügend namhafte Beweise<br />

dafür, dass man im Alter nicht<br />

unbedingt einen Gang zurück<br />

schrauben muss. Das war also nicht der Grund,<br />

dessentwegen die neue Sinner-Scheibe weniger<br />

Ecken und Kanten aufweist, als ihr Vorgänger. Fest<br />

steht jedefalls, dass Mat Sinner und die Seinen mit<br />

„Mask Of Sanity“ einen über weite Strecken lupenreinen<br />

aber unspektakulären Hardrock-Silberteller<br />

zusammengeschraubt haben. Überraschend ist<br />

an diesem Album bis auf das verstärkte Auftreten<br />

einschmeichelnder Ohrwürmeleien nicht viel - bis<br />

hin zum mauen Cover (bei Sinner ja schon Tradition…).<br />

Die Songs gehen zwar zügig in die Hirse,<br />

nur hat man sie eben auch genau so schnell wieder<br />

vergessen. Solide, nicht mehr.<br />

8 Punkte<br />

Heavy<br />

mtm-music.<strong>com</strong><br />

SPLIT IMAGE -<br />

TOD UND TEUFEL<br />

(Broken Silence/Impact)<br />

Böser Sänger. Böse Motörhead-Riffs.<br />

„Ich glaub an Gott,<br />

glaubt er an mich? Verlorener Sohn, Engel des<br />

Lichts, Sehnsucht, Zweifel, Hass, so nennt Ihr<br />

mich!“<br />

Da ist sie, die von dieser wieder auferstandenen<br />

Band vor circa zehn Jahren - wenn auch auf musikalisch<br />

weniger entwickeltem Niveau - zu Schrott<br />

gerockte Attitüde des unverstandenen Cowboys,<br />

der die Realität sauber in schwarz und weiß aufteilt<br />

und diese einfachen Antworten auf schwierige<br />

Fragen seinen pogenden, meist männlichen Fans<br />

und ihren aufmunternd gereckten Fäusten entgegenbrüllt.<br />

Schwarz und weiß, gut und böse. Hier<br />

ist die Dualität noch in Ordnung. Und diese zur<br />

Pose geronnenen Gewissheitshymnen werden<br />

durch die grenzenlose Selbstgerechtigkeit zum<br />

schwer genießbaren Teutonen-Core: „Ihr habt es<br />

so gewollt“ (wirklich?), „Na gut, hier bitteschön,<br />

doch was Ihr davon habt, Ihr werdet es<br />

noch sehn.“ Ja, was haben wir also davon?<br />

Immerhin Zeilen, die dann doch ein<br />

wenig mehr in die Tiefe gehen: „Punk<br />

sein, das ist in, wird Teil der Spaßkultur,<br />

von Rebellion und Aufruhr seh` ich keine<br />

Spur.“<br />

Aha. Die rebellischen Helden von einst<br />

sind sauer. Nachdem ihre früheren musikalischen<br />

Taten weder zu nennenswerten<br />

Verkaufszahlen, noch zur Welt<br />

(respektive deutschen) -Revolution<br />

führten, haben die Nachwachsenden<br />

trotz fortwährender Unterdrückung die<br />

Freude am Leben entdeckt.<br />

Das ist für unsere teutschen Helden<br />

nicht denkbar. Mit heiligem Ernst politpoltern<br />

und rocken sie sich um den<br />

Rest ihres Verstands, wenn sie der<br />

muslimischen Hassprediger-Abteilung<br />

schon mal mitteilen, wo ihr Stern im eigenen<br />

Blut versinkt: „Ihr glaubt Euch<br />

gesegnet, doch Ihr seid gottverlassen,<br />

geheiligter Hass und Terrorkassen,<br />

bald ist es zu spät und Ihr seht, das<br />

Euer Mond im Westen untergeht.“ Na,<br />

das wird bei Bin Laden & Co. mächtig<br />

Eindruck machen.<br />

Wo einst Metallica & Co. rechtzeitig<br />

vermieden, am Rande ihrer Swimmingpools<br />

noch den Street-Fighting-<br />

Man zu mimen, gleitet diese Männermusik<br />

unfreiwillig ins Lächerliche ab,<br />

wenn sie zu - zugegebenermaßen handwerklich<br />

ordentlichem Hauruck-Rock ihre politische Nabelschau<br />

zum Ereignis erklärt: „Ich biete hier doch<br />

nicht Eure Parolen feil und zum Entsetzen aller ein<br />

freundliches Sieg Heil, in die andere Richtung, bevor<br />

der Jubel kommt, balle ich die Faust zum Gruß<br />

an die Rotfront“.<br />

Es folgt ein markiges Ostwestfalenlied für die Bierzelte<br />

ihrer Heimat - da habe ich schon kaum noch<br />

Lust, es ihnen zur Ehre gereichen zu lassen, dass<br />

sie im Lied „In Memoriam“ die trockene Skizze einer<br />

missglückten Alt68er-Vater-Sohn-Beziehung<br />

anlegen, in der zu mäßiger Intonation erfreulicherweise<br />

nicht nur Großbuchstaben und Ausrufezeichen<br />

gesungen werden. Stilistisch sowohl in den<br />

Arrangements, als auch im Textstil werden hier die<br />

Guten, Gerechten Onkelz gegeben - und genau<br />

deren Anhängern wird das wohl auch gefallen.<br />

Doch warum das dauernde allgemeine Gewäsch?<br />

Warum dieser Omnipotenzwahn? Warum nicht<br />

Selbstkritik versuchen, warum nicht ehrlich und ironisch<br />

Bilanz ziehen und nachprüfen, was aus den<br />

alten Schlachtruf-Gewissheiten wurde?<br />

Diese Herren haben noch immer die Weisheit in<br />

Hymnen gefressen: „Zweifel sind ein billiges, aber<br />

wirksames Gift, das sich langsam - unaufhaltsam<br />

- in unsere Herzen frisst.“ Schade, dass sie diese<br />

Zweifel demonstrativ verdrängen.<br />

Stattdessen wird es zum Schluss wirklich peinlich.<br />

„Sie erzählen Lügen über unseren Kult, an toten<br />

Asylanten gibt man uns die Schuld, die wichtigsten<br />

Maximen sind ´Ehre, Treue, Spaß`…“<br />

Zum Würgen: Diese Sandkastenkrieger biedern<br />

sich mit ihrem Midtemp-Gegröhl doch noch den<br />

Rechten an, nachdem sie sich vorher ausdrücklich<br />

von Nazis distanziert hatten. Und offensichtlich begreifen<br />

sie das nicht einmal selbst. Grenzen sie<br />

sich doch auf ihrer Homepage mit wohltuender<br />

Klarheit von Dogmatismus und totalitärem Denken<br />

jeglicher Art ab. Während sie es selbst, und das ist<br />

hier die Krux, in ihren Liedern auch nicht besser<br />

machen.<br />

Anschließend folgt ein Hasslied auf „Verräter“, die<br />

noch die Rache unserer tapferen Westfalen gewärtigen<br />

müssen und schließlich wird noch mal kurz<br />

Gott für die eigenen Allmachtsphantasien in Anspruch<br />

genommen: „Gott,<br />

lass mich<br />

KURZ & KNAPP mit Torge Hüper<br />

REEL BIG FISH dürften inzwischen die besten Jahre hinter<br />

sich haben und präsentieren mit OUR LIVE ALBUM IS<br />

BETTER THAN YOUR LIVE ALBUM (Rock Ridge Music)<br />

ein Doppelalbum inklusive DVD. Der Titel sagt dabei eigentlich<br />

schon alles. Urkomisch, die Jungs. Musikalisch hält sich<br />

das Ganze äußerst klassisch zwischen Rock und Ska (3).<br />

Nicht weniger klassisch gibt sich DAMIERAs Kopie aus At<br />

The Drive-In und allerlei Emo-Kollegen. Mit M(US)IC (Equal<br />

Vision Records) liefern Damiera zwar zehn wirklich ordentliche,<br />

durchweg vertrackte Stücke, denen trotz außergewöhnlicher<br />

instrumentaler Fähigkeiten letztendlich jedoch<br />

nicht ein einziger fortführender Gedanke anzumerken ist (6).<br />

THE BRANDOS aus New York melden sich nach ziemlich<br />

genau acht Jahren mit OVER THE BORDER (Blue<br />

Rose/Soulfood) zurück. Ihr staubiger, teils gar mittelalterlicher<br />

Mexiko-Rock mit Anleihen aus Monster Magnet und<br />

traditionellem 70er Jahre Rock in seiner deutlich schmierigsten,<br />

geschmacklosesten und gleichzeitig widerwärtigsten<br />

Form würde dabei in rauchigen Bluesrock-Absteigen sicherlich<br />

auf uneingeschränkte Begeisterung treffen (2). Und<br />

auch NAKED LUNCH haben es nach dem wundervollen<br />

„Songs For The Exhausted“ mit THIS ATOM HEART OF<br />

OURS (Louisville/Universal) sichtlich vergeigt. Nicht nur,<br />

dass sie inzwischen auf dem vielleicht unsympathischsten<br />

Label weit und breit gelandet sind, fehlt „This Atom Heart Of<br />

Ours“ eben die ungreifbare Besonderheit des Vorgängers<br />

auf ganzer Linie. Dabei zählt das langatmige „Military Of The<br />

Heart“ neben dem Titelstück sogar noch zu den besten (6).


Dein Schwert sein, lass mich Deine Klinge führen,<br />

bestimme ihre…“ (gemeint ist die Amtskirche)<br />

„…Schuld, lass sie Dein Urteil spüren.“ Prost und<br />

Ende der Durchsage.<br />

Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem, das<br />

immer wieder sowohl im faschistischen - oder wie<br />

hier, selbstverliebt wertkonservativen, als aber<br />

auch im linken Oi-Punk-Rock feststellbar ist: Statt<br />

präziser Bilder und sorgfältiger Beobachtung findet<br />

man auch bei diesen selbsternannten Freibeutern<br />

der Töne nur Omnipotenzgegröhl und verworrene<br />

Allgemeinheiten. Hoch die Tassen! Ist Westfalen<br />

wirklich so trostlos?<br />

2 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

splitimage.de<br />

STEAKKNIFE -<br />

Parallel Universe Of The Dead<br />

(RookieRecords/Cargo)<br />

Seit der letzten LP, der „Plugged Into The Amp Of<br />

God“, sind sage und schreibe sechseinhalb Jahre<br />

ins Land gegangen; gut: es gab ein paar Seveninches<br />

und die „Stuff“-Compilation - mehr aber nicht.<br />

Vielleicht ließen die diversen Side-Projekte - allen<br />

voran die „Spermbirds“ um Sänger Lee Hollis und<br />

dessen diverse Spoken Word Performances - einfach<br />

keine Zeit; vielleicht war es aber auch eine gewisse<br />

Perspektivlosigkeit, entstanden durch Kritik<br />

am letzten Album, die auf durch „musikalische Einbrüche<br />

entstehende Unentschlossenheiten“ (Plattentests)<br />

abzielten und die letztlich die Kreativität<br />

der Truppe hemmten. Nun ist Gitarrist L. Demon<br />

wieder zurückgekehrt, und vielleicht ist er dafür<br />

verantwortlich, dass „das neue Album wieder ganz<br />

nah an den Wurzeln der Band“ (Label-Info) ist. Und<br />

diese Rückkehr zu den Wurzeln, zum Punk, tut Steakknife<br />

hörbar gut; nix „Perspektivlosigkeit“ - mit<br />

Leidenschaft, die an die guten alten „Black Flag“<br />

erinnern, mit Spielfreude wie bei den „Dead Kennedys“<br />

und einer enormen Portion Coolness haben<br />

sie diese Platte eingeprügelt. Vielleicht ist es<br />

im späten März 2007 noch zu früh, das zu sagen<br />

- aber „Parallel Universe Of The Dead“ könnte eine<br />

der Punkrock-Alben des Jahres werden.<br />

12 Punkte<br />

Kai<br />

steakknife.de<br />

SURROUNDED - THE NAUTILUS YEARS<br />

(Make My Day/Alive)<br />

Hört man diese Platte, meint man, die vier Schweden<br />

von Surrounded hätten sich während der Aufnahmen<br />

ihres zweiten Albums wirklich irgendwo<br />

20.000 Meilen unter dem Meer befunden - sich ungehemmt<br />

und frei in den endlosen Weiten des Ozeans<br />

verlierend. Eine gefühlte Ewigkeit ohne Kontakt<br />

zu dem, was sich da oben abspielt; völlig entrückt<br />

und auf sich selbst konzentriert. Und dann<br />

tauchen sie auf. Mit einem Album im Schlepptau,<br />

das mit ausladenden Popsongs aufwartet, die trotz<br />

opulenter Instrumentierung mit allerlei Samples,<br />

Streichern und Keys doch so zerbrechlich und feingliedrig<br />

wirken, wie frisch geschlüpfte Jungspinnen.<br />

Elf Songs, die ein stetiger Fluss an nachdenklichen<br />

Gefühlen und bittersüßer Traurigkeit durchzieht.<br />

Darüber schwebend eine stets verzerrte,<br />

mehr gehaucht als gesungene Stimme und die<br />

oben angesprochene, in warmen Tönen gehaltene<br />

Instrumentierung, die alles zusammenhält.<br />

Aber halt! Der aufmerksame Leser wird merken:<br />

All das kennt man doch schon seit Jahren von einem<br />

gewissen Mark Linkous, dessen Selbsthilfegruppe<br />

für akut Suizidgefährdete - auch Sparklehorse<br />

genannt - einem natürlich sofort in den Sinn<br />

kommt, wenn die ersten Töne von „The Nautilus<br />

Years“ ertönen. Und im direkten Vergleich können<br />

Surrounded dann leider auch nicht ganz bestehen,<br />

denn irgendwie fehlt da etwas. Ich kann nicht ge-<br />

nau beschreiben, was es ist, aber irgendetwas<br />

sträubt sich in mir, irgendetwas bäumt sich auf und<br />

verhindert, dass ich diese Platte hier hemmungslos<br />

über den Klee lobe. Obwohl sie so toll ist. Obwohl<br />

ich mich gerade in jeden Song verlieben<br />

möchte. Ist es die bei Sparklehorse einfach authentischer<br />

und konsequenter erscheinende Darstellung<br />

von schwer tragender Traurigkeit und Melancholie?<br />

Ist es die bloße Kenntnis, dass es da eben<br />

auch noch eine andere Band gibt, die genau so wie<br />

Surrounded klingt, aber halt schon sehr viel früher<br />

da war? Ich weiß es nicht und bin überfragt. Deshalb<br />

schnell zum Fazit: Tolle Platte für Leute, die<br />

Sparklehorse nicht kennen. Alle anderen müssen<br />

selbst entscheiden.<br />

9 Punkte<br />

Jochen Wörsinger<br />

MARIA TAYLOR -<br />

LYNN TEETER FLOWER<br />

(Saddle Creek/Indigo)<br />

Als ich Maria Taylor das letzte<br />

Mal traf zu einem Interview,<br />

sagte sie überraschend sofort ja: Zu der Frage, ob<br />

sie nicht eigentlich statt der Singer & Songwriter-<br />

Attitüde Musik mit `ner Big Band oder einem kompletten<br />

Symphonieorchester mit reserviertem rotem<br />

Teppich am Broadway machen würde, ihr<br />

Songwriting nicht eigentlich doch was für`s große<br />

Musikeraufgebot sei. Dann schwindelte sie mir<br />

noch vor, als erstes würde sie zuhause den TV einschalten<br />

und sich ne große Pizza bestellen, wenn<br />

sie nach einer Tour nachhause komme. Ausgerechnet<br />

sie, die Lofi-Diva. Mit einem irritierenden<br />

Maß an Kühle und geschäftsmäßiger Unnahbarkeit.<br />

Hier nun auf ihrer zweiten Solo-Scheibe fährt sie<br />

ganz, ganz vorsichtig größeres Geschütz auf, die<br />

Arrangements werden opulenter, und aus dem<br />

Freundeskreis und dem Saddle Creek-Umfeld darf<br />

alles mithelfen, was Rang, Namen oder den gleichen<br />

Nachnamen hat. Doch diesmal - stimmen die<br />

Songs teilweise nicht. Während ausgerechnet das<br />

Songwriterinnen-Kleinod „Clean Getaway“ noch<br />

so was wie zerbrechliche Nähe entwickelt, bleiben<br />

die meisten Tracks doch trotz aller handwerklichen<br />

Präzision - leblos, kühl, gesichtslos.<br />

Natürlich ist das gut gemacht und schön und liebevoll<br />

und alles…doch es bleiben letztlich Mitteilungen<br />

über behauptete Emotionen, die sich auf<br />

den Informationsgehalt der Botschaft selbst beschränken,<br />

ohne die Gefühle wirklich zu vermitteln.<br />

Hatte ich ihr auf dem ersten Album noch den Mut<br />

zum Orchester gewünscht, weil die Songs so<br />

schön und echt waren und mehr Ballaststoffe vertrugen<br />

- diesmal wünsche ich ihr weniger unbeschwerte<br />

Zeiten und weniger wohltemperiertes<br />

Geschwätz auf Cocktailparties, weniger Komplimente<br />

von allen Seiten - aus der Musikerfamilie,<br />

aus dem wunderbar gut situierten anerkannt tollen<br />

Indie-Label mit all den großartigen Kollegen, all<br />

den Journalisten, all jenen, die an der wohlbehüteten<br />

Dame aus New York abprallen. Die in weniger<br />

guten Zeiten gelernt haben mag, niemand zu<br />

nahe an sich ran zu lassen. Leider halten auch ihre<br />

neuen, sicherlich gut gemachten Songs keine<br />

Spannung aufrecht. Bis auf drei schöne, leise Nummern<br />

perlen sie hübsch und durchaus liebevoll gemacht<br />

aus meinen Boxen und halten mich - auf<br />

Distanz.<br />

8 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

saddle-creek.<strong>com</strong><br />

TELE -<br />

WIR BRAUCHEN NICHTS<br />

(Vertigo/Universal)<br />

Es kommt, wie es zur Zeit bei<br />

Deutsch-Pop-Fröhlichkeiten<br />

41<br />

wohl kommen muss - da ist ein fröhlich quäkender<br />

Sänger und ne nette Hymne zu Beginn - da sind<br />

demonstrative Selbstironie, da wird niemandem<br />

weh getan, da dreht sich eine weitere Band ohne<br />

erkennbar schlechtes Gewissen um sich selbst,<br />

sympathisch und handwerklich auf hohem Niveau.<br />

„… Es geht ein Rest um die Welt und die Sonne<br />

scheint rein, es geht ein Lied um die Welt, und wir<br />

tanzen im Kreis,…“<br />

Schon im zweiten Track, „Fieber“, liefern Tele einen<br />

fröhlichen Abgesang auf eine egozentrische<br />

Popwelt, die auf der Titanic dem eigenen Untergang<br />

entgegen feiert. Hier ist mehr zu finden, als<br />

das in der deutschsprachigen Schlager-Zu-E-Gitarren-Gilde<br />

verbreitete Kopulieren mit dem eigenen<br />

Spiegelbild. Dann wieder ein Song, der mich<br />

nicht im Mindesten berührt: Voll gepackt mit Referenzen<br />

an den Deutsch-Poprock der Achtzigerjahre<br />

lassen sie uns mit blass-sentimentalem Gestus<br />

an den genreüblichen Sehnsüchteleien unglücklich<br />

Verliebter teilhaben, recht schöne Zeilen<br />

und platten Refrain inklusive.<br />

Wie das also beschreiben? Als schlagerkompatible<br />

Refrains auf der Suche nach dem Evergreen?<br />

Angejazzte Chansons von ex-ewig Jugendlichen<br />

mit Angst vorm folgenlosen Älterwerden? In „Rio<br />

de Janeiro“ gehen Tele mit Swing einen Schritt weiter<br />

und beginnen, einen neuen musikalischen Horizont<br />

zu beschreiben - ein witziger, ironischer Text<br />

zum gekonnten Hüftwackel-Gebläse, Bigband-Referenzen<br />

mit Stil. Schluss mit Indie-Weinerlichkeit,<br />

keine Spur von Emo. Mal wird hier lasziv gerockt,<br />

mal melodramatisch mit der inzestuösen Selbstbeweihräucherung<br />

der angeblichen Popavantgarde<br />

- beispielsweise in Berlin -abgerechnet,<br />

während man sich von der Hauptstadt und ihrem<br />

selbstgerechten Lärm Um Nichts bis auf Weiteres<br />

verabschiedet. Doch all dies passiert gefällig, ohne<br />

Ausrufezeichen, Tele verweigern einen roten Faden<br />

und machen eine Platte ohne Plan. Auf dem<br />

Cover halten sie Nadeln in der Hand, um bunte<br />

Luftballons platzen zu lassen. Die bunten Versprechungen<br />

für das unkritische Funktionieren? Die<br />

selbstgerechten Gewissheiten derer, die sich für<br />

verkörperte Zukunft halten?<br />

Da geht ein Hans in die Welt, der Text bleibt beliebig<br />

und ersetzt Inhalt durch dramatisch anmutende<br />

Banalität. Der Song dudelt ebenso beliebig. Und<br />

die Waage meiner Rezeption neigt sich ins Soll, je<br />

länger ich dieser Scheibe zuhöre. Eine seichte<br />

Nummer ist „So Weit Weg“ - ohne jegliche Relevanz.<br />

„Wo Soll Das Hinführen?“, fragt ein Titel und<br />

führt nirgendwo hin. Tele beweisen noch mal<br />

schnell, dass sie auch rocken können und beim abschließenden,<br />

überlangen Titelsong fällt das Fazit<br />

auch eher bedauerlich aus: Das Cover hat nämlich<br />

Recht. Tele beschreiben Leere - und bringen<br />

die bunten Luftballons selbst nicht zum Platzen.<br />

Sie deuten an, dass sie könnten. Wenn sie wollten.<br />

Sie könnten bunt sein - und nicht folgenlos.<br />

Sie könnten lasziv sein - und glamourös swingend<br />

Gemeinheiten verbreiten. Diese Scheibe tut das<br />

noch nicht. Sie ist sympathisch, gut gemacht und<br />

entbehrbar. Wo Superpunk Mut bewiesen, bleiben<br />

Tele auf halbem Wege stehen. Schade.<br />

7 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

telemusic.de<br />

The Callahan - Hardpop<br />

(Modernnoise/Cargo)<br />

<strong>reViews</strong><br />

Zugegeben: Der Begriff „Hardpop“ erweckt bei mir<br />

nicht gerade positive Assoziationen. Ist hier der Album-Name,<br />

respektive der -Titel, Programm? Bin<br />

ich dann nicht der falsche Mann, um das aktuelle<br />

Album von „The Callahan“ zu beurteilen? Derlei<br />

Zweifel verfliegen beim Hören schnell. Zunächst<br />

erinnert Sänger Andy ein klein wenig an David Bowie,<br />

was meinereiner mit Sympathiepunkten vergütet.<br />

Der Sound, der durchaus als „Partyrock“ zu<br />

bezeichnenden Tracks, ist eher „Hard“ als „Pop“,


42<br />

<strong>reViews</strong><br />

was zusätzlich erfreut; und wenn dann noch zwölf mit reichlich Melodie<br />

und Abwechslung ausgestattete Songs aus den Boxen strömen, dann ist<br />

das Bild eines rundherum gelungenen Debuts vollkommen. Die schwedische<br />

Presse soll „The Callahan“ mit schwedischen 90s-Band wie „Wannadies“<br />

oder „The Sounds“ verglichen haben. Und das ist durchaus zutreffend.<br />

Zwar wird „The Callahan“ mit seiner deutlichen Populärmusik-Attitüde<br />

nicht jeden „Indie“-Fan begeistern können, bei mir und anderen „für<br />

alles offene“ Wesen sind sie herzlich willkommen und müssen die garantiert<br />

offene Türen nicht einrennen.<br />

11 Punkte<br />

Leo<br />

modernnoise.de<br />

THE FLAMING SIDEBURNS -<br />

Keys To The Highway<br />

(Bitzcore/Ranch)<br />

„Hallelujah Rock`n`Rollah“ hieß vor acht Jahren die erste<br />

Hymne der finnischen Asphaltcowboys mit eingebauter<br />

Überholgarantie beim kracherten Vorwärtsgerumpel für alle Männer,<br />

die in jedem Riff und Chorgesang den Schweißgeruch echter Männer<br />

spüren wollen.<br />

Sie haben sich nicht verändert. Mit fröhlichem Krakeele zu purem dreckigem<br />

Rock`n Roll liefern sie ihren Fans, was sie wollen. Bevor sie mit dem<br />

Mädel auf der Rückbank auf den Highways dahin düsen. Oder davon träumen,<br />

vorzugsweise.<br />

Sogar für den Zwischenstopp an der Tankstelle gibt es hier was zu hören<br />

(„Slow Down“), die Rocker mit neuem, gutem Gitarristen (der alte ist Jungpapa<br />

und macht Vaterschaftsurlaub) spielen also nicht nur im Full-Speed-<br />

Format. Ist auch besser so, denn ob „Keys To The Highway“, „Cut The<br />

Crap“, hier wird Autobahnrock ohne Überraschungen genau innerhalb der<br />

sattsam bekannten Genregrenzen und Stereotypen zelebriert. „Keine Experimente“<br />

- aber das immerhin mit Liebe zum dreckigen Detail. Für jeden<br />

Motorradfahrer und Hard-Rocker, der Zodiac Mindwarp verehrt eine gute<br />

Platte und die richtige Zutat zum nächsten Bikertreffen. Die anderen werden<br />

das reichlich berechenbar finden. Voll mit Klischees. Gibt es noch die<br />

Welt der Rock´n Roll-Krieger, der heißblütigen Machos mit den vollbusigen<br />

Miezen, die die Welt dieser Herren ausmachen, wenn man ihrer Musik<br />

glauben soll?<br />

Die Erfahrung lehrt, dass die meisten dieser Herren schon bald zu tumben<br />

Spießern werden, deren Lebensinhalt sich außer der geheiligten<br />

Plattensammlung auf Big Macs, die sonntägliche Ausfahrt mit dem blank<br />

gewienerten Hobel und den Bausparvertrag beschränkt.<br />

Dagegen glauben die hier wenigstens an den Lärm und klingen immer<br />

noch ziemlich frisch in ihrer Stereotypenwelt. Wird Zeit, dass diese<br />

Sparte auch von ein paar Jungs aus `ner Garage aufgemischt wird. Warum<br />

nicht von den deutlich jüngeren deutschen Boozed, mit denen sie<br />

im gerade erwachenden Frühling durch unsere Lande touren werden?<br />

Aber was soll´s, die Rocker freut auch diese Scheibe und dem Rest<br />

kann´s furzegal sein.<br />

8 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

theflamingsideburns.<strong>com</strong><br />

THE HIDDEN HAND -<br />

THE RESURRECTION OF WHISKEY FOOTE<br />

(Southern/Soulfood)<br />

Keine Frage, dieser Mann ist sowas wie unantastbar.<br />

Mit The Obsessed, Spirit Caravan und natürlich<br />

St. Vitus jedenfalls hat Scott „Wino“ Weinrich, nebenbei bemerkt einer<br />

der symphatischsten Musikerpersönlichkeiten, die man sich vorstellen<br />

kann, fraglos Musikgeschichte geschrieben. Sein aktuelles Projekt The<br />

Hidden Hand aber hinterließ von der ersten Veröffentlichung, dem 2003<br />

erschienenen „Divine Propaganda“, mindestens zwiespältige Gefühle.<br />

Denn bei aller Wertschätzung, die man dem großen alten Mann des<br />

Doom-Metals auch entgegenbringen musste und muss, waren „Divine<br />

Propaganda“ wie auch das folgende „Mother, Teacher, Destroyer“ und<br />

die Split-CD mit Wooly Mammoth nicht unbedingt dazu angetan, für Begeisterungsstürme<br />

zu sorgen. Daran ändert sich auch bedauerlicherweise<br />

mit „The Resurrection of Whiskey Foote“ nichts. Wie gehabt ist<br />

dieses weit entfernt davon, ein schlechtes Album zu sein, professionell<br />

umgesetzt und mit lässigem Können in Szene gesetzt. Das gewisse<br />

Extra, das für wirklich mitreißende Momente sorgen könnte aber geht<br />

auch dem dritten Album von The Hidden Hand ab. Ein wenig zu abgeklärt<br />

wirkt das Ganze, zu locker und leicht aus dem Ärmel geschüttelt,<br />

als dass man eine tatsächlich 100%ige Überzeugung hinter dem Tun<br />

der Band vermuten könnte.<br />

9 Punkte<br />

Arnulf Woock<br />

THE HOLD STEADY -<br />

BOYS AND GIRLS IN AMERICA<br />

(PIAS/Vagrant/Full Time Hobby)<br />

Was für ein großartiger Einstieg in eine Platte...<br />

„…boys and girls in America have such a sad time together, sucking off each<br />

other at demonstrations, making sure their makeup straight, crushing one another<br />

with colossal expectations, dependent, undisciplined, sleeping late...“<br />

Die berühmte Zeile aus Jack Kerouacs Novelle „On The Road“ wird hier aufgegriffen,<br />

zeitadäquat weiter verarbeitet, und die Jungs aus Brooklyn und Minneapolis<br />

tun gut daran, gleich ganz oben bei den Zitaten einzusteigen.<br />

Wow! In jedem Song ein magnetisierender Gitarrenakkord zu Beginn, der Sänger<br />

mit Charisma als fröhlicher Verkünder bitterer Wahrheiten, kein Bagatellisieren<br />

oder Sich Wegducken kritischer Geister vor der scheußlichen nicht nur<br />

amerikanischen Wirklichkeit, aber auch kein demonstrativ depressives Betroffenheitsgewinsel.<br />

Kleine große Geschichten über Menschen werden zu allgemeingültigen Wahrheiten<br />

über uns, bei denen wir uns von fröhlich drängenden Songs blendend<br />

unterhalten fühlen. „How can any band be this good?“, fragte Rob Sheffield<br />

vom englischen Rolling Stone. Jetzt weiß ich, woher er diese großen Worte<br />

nahm. Solange Rock`n Roll pur derart phantasievoll und mit Lust am eigenen<br />

reflektierten Frohsinn lärmt, sich dann auch mal zwischen Dylan und Curry angesiedelte,<br />

countryeske Balladen mit pur gefühltem Weltschmerz erlaubt, ohne<br />

je dabei eine Spur Ehrlichkeit einzubüssen, - solange eben Rock`n Roll pur alles<br />

andere ist, als der eifersüchtig gehütete Spießertummelplatz verlogener<br />

Lederhosenträger, solange kann auch für die Tight-Jeans-Fraktion in verräucherten<br />

Kneipen der Sonnenaufgang noch gut werden. Solange gibt es für den<br />

Americano-Rock jenseits von Nashville noch Hoffnung. Große Orgel, großes<br />

Piano. Tolle Gastmusiker. Keine Einwände.<br />

Wie meinen? Die sind doch ein bisschen zu dick und tragen zum Teil Brille und<br />

sind unerotisch? Auch darin mag Hoffnung liegen. Wurden sie mit ihrem frischfröhlich-freien<br />

Retro-Rock doch in allen möglichen us-amerikanischen Jahrespolls<br />

zur Number One gewählt, obwohl sie nur von ´nem kleinen Label stammten.<br />

Nun sind sie ´ne Nummer höher eingestiegen, haben mit John Agnello<br />

(Sonic Youth, Dinosaur Jr., Drive By Truckers) den richtigen Produzenten an<br />

Bord gehabt. Wir erleben den Unterschied zum tumben Highway Rock: keine<br />

Pose, pure Wahrheit. Und die demonstrative Lust am Zelebrieren der eigenen<br />

Intelligenz. Fein, dass es solche Musiker gibt…


„…meet me right in the party city, that two sided<br />

tape, it gets way too sticky, I got a bad case of noisemaker<br />

blues.“<br />

Wer immer diese Einladung nicht annimmt, ist<br />

selbst schuld.<br />

13 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

theholdsteady.<strong>com</strong><br />

boysandgirlsinamerica.<strong>com</strong><br />

THEE MERRY WIDOWS -<br />

Revenge Served Cold, CD<br />

(PeopleLikeYou/SPV)<br />

Dass Rache ein Gericht ist, das am besten kalt serviert<br />

wird, wissen wir nicht erst seit „Star Treck 2“.<br />

Die fünf Mädels behaupten von sich, die erste „all-<br />

Girl-Psychobilly/Horror/Surf-Punk-Band zu sein,<br />

was hier nicht wirklich überprüft werden kann; auf<br />

alle Fälle treffen die Begriffe Surf, Punk und<br />

„Psychobilly“ die Sache schon mal ganz gut. Die<br />

fünf mehr oder weniger durchgängig tätowierten<br />

Flintenweiber erfinden dabei das Genre nicht neu,<br />

setzen eher auf Altbewährtes und kommen dabei<br />

mitunter etwas arg betulich rüber. Auch erinnert die<br />

Stimme von Frontwitwe Miss Eva von Slut - ich<br />

vermute jetzt mal, dass das ein Künstlername ist -<br />

eher an Pop als Psychobilly. Sei's drum, vielleicht<br />

ist es ja gerade diese Mischung aus Surf- und Pop,<br />

die diese Scheibe interessant macht - von mir gibt<br />

es auf alle Fälle ein Küsschen. Das trau ich mich<br />

jetzt mal, denn ich glaube kaum, dass mir einer der<br />

Damen dafür aufs Maul haut.<br />

8 Punkte<br />

Leo<br />

merrywidowsmusic.<strong>com</strong><br />

THUNDERBIRDS ARE NOW!<br />

- MAKE HISTORY<br />

(French Kiss/Alive)<br />

Ein Ausrufezeichen steht für<br />

Dringlichkeit. Wenn dieses<br />

dann auch nicht nur in vergänglichen Songtiteln,<br />

sondern im Bandnamen selbst fest verankert ist,<br />

scheint die Sache noch klarer zu sein: Die wollen<br />

was, die haben ein Anliegen. Thunderbirds Are<br />

Now! wollen in deine Gehörgänge fliegen. Jetzt!<br />

Nur ein Jahr nach „Justamustache“ wenden sich<br />

die Donnervögel auf ihrem neuen Album im Sturzflug<br />

mehr Geradlinigkeit zu und nähern sich dem<br />

Pop. Power-Pop wie Motion City Soundtrack, denen<br />

man die übertrieben kindischen Keyboard-<br />

Flausen ausgetrieben hat. Was nicht etwa heißen<br />

soll, dass Thunderbirds Are Now! auf Synthies verzichten,<br />

im Gegenteil: Im Klangbild stets präsent<br />

sorgen diese für die Extraportion Flippigkeit, durch<br />

die diese Art von Pop im günstigsten Fall zum rhythmischen<br />

Arschwackeln verleitet. Power-Pop ist<br />

das auch im Sinne der Brüder im Geiste von Piebald,<br />

die gleichermaßen den Schalk im Nacken mit<br />

einer ordentlichen Portion gewitzter Musikalität<br />

verbinden. „Make History“ ist eingängig und tanzbar<br />

genug, um selbst unbedarfte Party-Animals<br />

oberflächlich zu begeistern, fällt aber auch desöfteren<br />

in die Schräglage, um eine längere Halbwertszeit<br />

zu garantieren. Oft genug scheinen die<br />

Postpunk-Wurzeln durch, um die Veröffentlichung<br />

auf dem Les Savy Fav-Label French Kiss einleuchtend<br />

zu machen. Tiefgang braucht man hier aber<br />

dennoch erst gar nicht zu suchen, die Vorzeichen<br />

stehen ganz klar auf unbeschwertem Tanzspaß.<br />

Die dafür benötigten offensichtlichen Hits sind am<br />

Start: „The Veil Comes Down“ etwa, mit Kindergeburtstags-Strophe,<br />

lässigem Refrain und obligatorischem<br />

Breakdown-Part. Auch die elegante Dancefloor-Durchgeknalltheit<br />

von „Sound<br />

Issues/Smart Ideas“ nimmt einen im Sturm ein.<br />

Nicht alle Songs reichen an dieses äußerst kurzweilige<br />

Level heran. Die Geschichtsschreibung<br />

werden Thunderbirds Are Now! erst recht nicht be<br />

einflussen können. Aber ein in Akkorde gegossener<br />

Aufruf zur Lebensfreude wie „Shake Them<br />

Awake“ kann einem zumindest schon mal einen<br />

ganzen Tag retten. Ist ja auch schon mal was! Mit<br />

Ausrufezeichen!<br />

10 Punkte<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

thunderbirdsarenow.<strong>com</strong><br />

TRANSMISSION -<br />

BEYOND LIGHT<br />

(Malicious Damage Rec/Cargo)<br />

Ex-Killing Joke Bassist, Labelmacher<br />

und Produzent Martin<br />

„Youth“ Glover hörte auch nach Abschluss der „Urban<br />

Hymns“ Produktion von The Verve, für die er<br />

den Brit Award als bester Produzent des Jahres<br />

1998 verliehen bekam, nicht auf, mit deren Gitarrist<br />

Simon Tong, der zur Zeit wegen seiner Teilnahme<br />

bei Damon Albarns Projekt The Good, The<br />

Bad And The Queen in den Medien stark präsent<br />

ist, Musik zu machen. 2006 schien Land in Sicht<br />

zu kommen, und die beiden schnappten sich den<br />

Keyboarder Tim Bran (Dreadzone) sowie den<br />

Schlagzeuger und Mitbegründer von Killing Joke<br />

„Big“ Paul Ferguson, um ihre 75 Minuten an Musik<br />

an einem Wochenende einzuspielen. Diese Minuten<br />

vergehen wie im Fluge, obwohl es sich bei<br />

„Beyond Light“ um ein reines Instrumental-Album<br />

handelt. Umschreiben kann man die fliegenden<br />

Sound-Teppiche als durch die Achtziger geprägten,<br />

psychedelischen Post-Rock. Oder als Dance<br />

- bzw. forsche Chill out-Musik für Rockmusikhörer.<br />

Keine große Überraschung, hat Youth doch in seinen<br />

Killing Joke-Phasen stets für ein wuchtiges,<br />

monoton-hypnotisierendes Groove-Gerüst garantieren<br />

können. Seine diversen Trance und Dub Label<br />

kann man wohl als zweiten klanglichen Einfluss<br />

nennen. Die Kompositionen auf „Beyond light“, die<br />

auch Sessions sein könnten - es aber angeblich<br />

nicht sind - bieten sich mit ihrem mal euphorisch<br />

strahlenden, mal mondsüchtig schimmernden<br />

Charakter als Soundtracks für ekstatisches Tanzen<br />

inklusive dem sogenannten „Chillen“ ebenso an<br />

wie für eine Wanderung durch die Natur - mal ohne<br />

Vogelgesang. Ein sporadischer Gesang würde das<br />

Ganze sicher noch mal aufwerten.<br />

11 Punkte<br />

Marcel von der Weiden<br />

myspace.<strong>com</strong>/transmissionofficial<br />

maliciousdamage.co.uk<br />

TRENCHER - LIPS<br />

(Southern/Soulfood)<br />

Casio-Grind, wird Trencher gelablet. Das weckt Assoziationen<br />

zu den seligen Lawnmower Deth, die<br />

ich früher sehr „verehrt“ habe. Mit Grind hatten sie<br />

zwar nichts zu tun, aber Keyboardkindermelodien<br />

gehörten zu ihrem Repertoire genauso wie rude<br />

Hardcore-Punksounds. Diese kuriose Verbindung<br />

hatte großen Charme. Trencher sind im Vergleich<br />

dazu einige Stufen hochgetaktet und bringen Death/Thrash/Grind,<br />

der immer wieder mit billigen<br />

Casiomelodien versehen sind. Inwieweit das jetzt<br />

ironisch zu verstehen ist, bleibt unklar. „Hung,<br />

Drawn Yet Shorter“ ist beispielsweise keine clowneske<br />

Reverenz zu Deicides „Hung, Drawn, Quartered“.<br />

Irgendwie ironisch klingt das aber allemal.<br />

Kaufhauskeyboardsounds jaulen zwischen brachialem<br />

Deathgrind, was dem Geist der Platte in etwa<br />

entspricht. Der Sound ist recht klassisch, den Genres<br />

entsprechend, birgt gute Ideen. Sie transportieren<br />

auch die nötige Wut und Aggression. Immer<br />

wieder wird das aber mittels der kruden Casiosounds<br />

konterkariert. Vielleicht die Lawnmower<br />

Deth des 21. Jahrhunderts.<br />

8 Punkte<br />

Christian Eder<br />

trencher.tk<br />

TYPE O NEGATIVE -<br />

DEAD AGAIN<br />

(Steamhammer/SPV)<br />

<strong>reViews</strong><br />

Schon der Opener und Titelsong<br />

„Dead Again“ stellt das<br />

Meiste dessen, was ich von<br />

Type O Negative in den letzten Jahren gehört habe,<br />

in einen tiefschwarzen Schatten - endlich rocken<br />

und grabschänden die Brooklyn-Diplom-Asis wieder<br />

schaurig schön über den städtischen Friedhof.<br />

Auch das anschließende „Tripping A Blind Man“<br />

lässt die Tendenz der Amis erkennen, anno 2007<br />

wieder verstärkt auf Nachvollziehbarkeit und<br />

Songstruktur statt ewig waberndes Slomo-Gedröhne<br />

zu setzen - und warum auch nicht, sie können's<br />

schließlich. Alleine wegen des frechen Voice-Overs<br />

der Promo könnte ich zwar ausrasten,<br />

die konstant aufblitzenden Highlights dieser zehn<br />

Grusel-Garstigkeiten stimmen mich allerdings<br />

schnell wieder versöhnlich. Fieser Goth-Rock-Metal<br />

auf Referenz-Klasse-Niveau.<br />

anonymus<br />

V.A. - BATSCHKAPP -<br />

76-06, <strong>30</strong> Jahre Hörgenuss<br />

(EMI)<br />

V.A. - POP OFF THE TOPS<br />

(Little Teddy Recordings)<br />

V.A. - THE DEAD PILOTS<br />

(Daredevilrecords/Heckspoilermusic)<br />

V.A. - FRISCH GEPRESST 2<br />

(Redwinetunes/PIAS/Rough Trade<br />

43<br />

Die Sampler im Schnelldurchlauf - und einen Glükkwunsch<br />

zu dreißig Jahren Batschkapp in Frankfurt<br />

vorneweg. In einer kunterbunten Zusammenstellung<br />

auf zwei CDs werden drei Jahrzehnte Popund<br />

Rock-Geschichte lebendig und damit Bands,<br />

die sich im Frankfurter Popular-Musikschuppen ein<br />

Stelldichein gaben - von Faith No More bis Fehlfarben,<br />

von Moby über Nightwish bis The Kooks.<br />

Längst den Anfangstagen der „Bier und Hanf gehört<br />

zum Kampf“ - Streetfighter-Cliquen entwachsen,<br />

hätte ich mir zum Geburtstag eine DVD mit alten<br />

Bild- und Tondokumenten gewünscht, oder<br />

auch Live-Mitschnitte aus der alten Clubtante am<br />

Eschersheimer Bahnhof. Oder junge Bands im<br />

Wechsel mit den Erfolgreichen, denen nach Meinung<br />

der Clubmacher die Zukunft gehört. Die mittlerweile<br />

mainstreamige Auswahl entspricht leider<br />

der Clubpolitik neuerer Tage. Doch auch so - macht<br />

die Doppelscheibe Spaß und die Gratulation<br />

kommt von Herzen. Schließlich ist wenigstens die<br />

Hausband mit von der Partie… (8 Punkte).<br />

Schon sehr viel eher genreimmanent kommt „Pop<br />

Off The Tops“ als Compilation daher, die eine vor<br />

allem noch im deutlich jüngeren Münchner Club<br />

„Prager Frühling“ stattfindende Reihe mit international<br />

(noch) weniger bekannten Garagen- und Indiepop-Bands<br />

illustriert. Das poltert fröhlich und<br />

geht in die jungen Tanzbeine. Und es sind ungeschliffene<br />

Edelsteine dabei: Fury Of The Headteachers<br />

(!!!), The Hells (!!), The Movements (!), This<br />

Et Al, Kill The Young, The Homewreckers Club,<br />

Gem, Them Nudes, Cazals, Humanzi, The Voom<br />

Blooms, Linear… Das macht uneingeschränkt<br />

Spaß und bietet guten Partysound für alle, die gern<br />

auf britisch/skandinavisch geprägten Power-Indie-<br />

Garagen-Pop abgehen. Fein! (11 Punkte)<br />

Eher für Hartgesottene empfehlenswert ist die<br />

„The Dead Pilots“ - Compilation aus den Häusern<br />

Daredevil Records und Heckspoliermusic - Hardcore<br />

pur - für Genrefans sicher eine Alternative auf<br />

der Suche nach neuem Namen im lärmenden<br />

Untergrund, mit massiven Qualitätsschwankungen<br />

allerdings (7 Punkte).


44<br />

<strong>reViews</strong><br />

Der zweite vom Münchner Veranstaltungsmagazinin-muenchen<br />

herausgegebene „Frisch<br />

Gepresst“ - Sampler schließlich<br />

vereinigt 40 Bands aus völlig<br />

gemischten Genres, die deutlich<br />

machen, dass die Qualität<br />

der Münchner Bands jener anderer deutscher Großstädte<br />

in Nichts nachsteht. Für Nicht- und Neumünchner<br />

ein Pflichtkauf, für andere aus der Region<br />

in schöner Überblick, bei dem allerdings Augsburg<br />

mal frech eingemeindet wird und Schwachheiten<br />

a la Tip Top leider nicht ausbleiben, an deren<br />

Stelle es genügend interessanten Nachwuchs aus<br />

den Münchner Übungskellern gegeben hätte<br />

(9 Punkte).<br />

Bliebe noch „Genug Gelabert“ - der Punkboard-<br />

Benefiz-Sampler zugunsten eines privaten Waisenhauses<br />

auf Sri Lanka. Wir erleben von Punkrock a<br />

la „Wir sind der Asoziale Widerstand“ bis hin zu<br />

Punkcore - eine eher eindimensionale Veranstaltung,<br />

die mich leider zu der Anmerkung zwingt, dass<br />

auch die gute Absicht keine musikalische Qualität<br />

ersetzen kann. Und an der gebricht es hier ganz<br />

entschieden. Die einzigen positiven Ausnahmen:<br />

Gottkaiser sowie Verlorene Jungs. Wer gerne<br />

Schunkelrock hört, bei dem er bierselig mitgröhlen<br />

kann und bei dem die Guten noch eindeutig die Guten<br />

und die Bösen noch die Bösen sind, der mag<br />

ein Ohr riskieren. Doch mit den Samplern der gängigen<br />

Punkrockmagazine ist man entschieden besser<br />

bedient (3 Punkte).<br />

Andrasch Neunert<br />

batschkapp.de<br />

myspace.<strong>com</strong>/topoffthepops<br />

daredevilrecords.de<br />

in-muenchen.de<br />

punkboard.de<br />

V./A. - BOUND FOR THE BAR<br />

(People Like You/SPV)<br />

Natürlich, die Verbindung der mittlerweile zum Kult<br />

erwachsenen Plattenfirma und Spezialisten für Rokk'n'Roll<br />

People Like You und der Klamottenfirma<br />

Lucky Thirteen ist eine durchaus konsequente. Ob<br />

das wirklich Anlass gibt, ein Zusammengehen<br />

mittels einer Compilation zu feiern, sei dahin gestellt<br />

- dass es in der Vergangenheit schon schlimmere<br />

Aufhänger gegeben hat, um schnell einen Sampler<br />

zusammen zu stellen, ist jedenfalls nicht zu leugnen.<br />

Um es kurz zu machen: „Bound For The Bar“, so<br />

der Name des Projektes, versammelt mit The Bones,<br />

The Generators, The Disasters oder The Stone<br />

Cutters nicht nur die etwas andere Variante der<br />

‚The'-Bands, sondern mit 2nd District, US Bombs,<br />

Demented Are Go oder Born To Lose sicherlich die<br />

feinsten Bands, die das Label aus Dortmund zu bieten<br />

hat. Die Songauswahl lässt zudem keinerlei<br />

Wünsche offen, so dass das 13 Stücke umfassende<br />

„Bound For The Bar“ der ideale Partysampler einerseits<br />

und die ideale Möglichkeit, sich eine Überblick<br />

über das Wirken des Labels zu verschaffen andererseits<br />

ist.<br />

ohne Wertung<br />

Arnulf Woock<br />

peoplelikeyourecords.<strong>com</strong><br />

VOODOSHOCK - MARIE SISTER'S GARDEN<br />

(Exile On Mainstream)<br />

Neben Shepherd sind Voodooshock die einzige<br />

Doom Band aus Deutschland, die mir bekannt ist.<br />

Bereits 1998 gegründet, haben sie diverse Besetzungswechsel<br />

verkraften müssen, von denen nur<br />

noch Uwe Gröbel (Ex-Naevus) im jetzigen Line Up<br />

verblieben ist. Nach einem Album auf Lee Dorians<br />

Label Rise Above hier also das zweite Album innerhalb<br />

von neun Jahren. „Marie´s Sister´s Garden“ ist<br />

sehr klassischer Doom im Sinne von Count Raven,<br />

Candlemass, Pentagramm oder Saint Vitus. Die<br />

Produktion könnte etwas mehr Fette und Dichte vertragen,<br />

wird dem Sound im Großen und Ganzen<br />

aber qualitativ gut gerecht.<br />

Gegenüber den Vorbildern vermisst man bei Voodooshock<br />

allerdings etwas das eigene Profil, den<br />

Mut mehr zu wagen und den Doom etwas weiter zu<br />

denken. Aber das wollen sie vielleicht auch gar nicht<br />

und das ist völlig in Ordnung. Genrefans bekommen<br />

hier alles, was man am Doom liebt. Voodooshock<br />

setzen das mit gutem Händchen für klassische<br />

Strukturen und Gespür für den Song ohne größere<br />

Durststrecken um.<br />

8 Punkte<br />

Christian Eder<br />

WELCOME - SIRS<br />

(Fat Cat/Namskeio)<br />

Nochmal von vorne starten. Ich<br />

wollte mir alle Überraschungen<br />

en passant einprägen. Sind<br />

aber zu viele. Die Nummer vier,<br />

„First“, habe ich mir immerhin als Anspieltipp gemerkt.<br />

Ansonsten: eine Platte, definitiv nicht !!! für<br />

alle Gelegenheiten, aber eine, bei der ich jedes Mal<br />

was Anderes neu entdecke. Anfangs waren sie mir<br />

eher zu chaotisch verworren: die Verschrobenheiten,<br />

die kleinen Nischen und großen Schrägen (insbesondere<br />

von der großartigen Basserin und Sängerin<br />

Jo Claxton), die liebevollen Männchen-Weibchen-Chorgesänge<br />

zu Gitarrenausbrüchen im angejazzten<br />

Freestyle-Pop-Format. 60ies-Revival in<br />

der musikalischen Anarchie-Werkstatt. Was weiß<br />

ich wieviel merkwürdige Gitarreneffekte. Eine feine<br />

kunterbunte Platte. Indie pur. Und kaum verlangt der<br />

Wohlklang eine Popklassifizierung, schon hauen<br />

Sie mir schon wieder flatternde Free-Jazz-Noise-<br />

Einbauteile um die Ohren. Also gut, komm ich dann<br />

zum Leisermachen der Fernbedienung näher:<br />

freundliches Mädelgesäusel. Leg sie wieder weg.<br />

Krach. Aber mit Stil. Ist irgendwo in der Nähe ein<br />

Freibeuter-des-Pops-Treffen? Oder eine anarchistische<br />

Zukunftswerkstatt? Nimm diese tolle mutige<br />

Platte mit und Du wirst zu ihren Klängen<br />

nachts der freien Liebe frönen. Oder einfach<br />

der Star der Abschlussparty sein. Unangefochten.<br />

Nie das erwartete. Und nie<br />

ist das nur Pose. Nie ein Effekt als Selbst-<br />

zweck. Und eine Menge davon.<br />

Wirklich abgefahren. Man nehme North<br />

Of America und kreuze sie mit den Beatles.<br />

Die Blumenkinder der 60ies sind<br />

per Zeitreise in einem amerikanischen<br />

Undergroundkeller aufgewacht und<br />

bringen auf die Noiseparties lauter<br />

bunte Blumen und ein hintergründigseliges<br />

Grinsen mit. Sind die auf<br />

Droge? Ist doch so was von egal.<br />

Hauptsache, sie sind.<br />

12 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

yrwel<strong>com</strong>e.<strong>com</strong><br />

WOO - MOBI ROCK<br />

(rx-tx/A-Musik)<br />

WoO ist einer der Begründer der<br />

Belgrad Noise Society, entstammt<br />

der dortigen Szene und<br />

betreibt Herbarium Records. In<br />

früheren Tage war er Mitglied<br />

der Noise-Rock Band Off, jetzt<br />

konzentriert er sich nach diversen<br />

CD-Rs auf freie, psychedelischeGitarren-Improvisationen.<br />

Neben zwei Gitarren<br />

und diversen, wahrscheinlich<br />

unüberschaubaren Effektpedalen,<br />

nutzt WoO die<br />

Klänge von Mobiltelefonen, Magneten, Fernbedienungen,<br />

Radio, TV und elektrischen Gitarrensignalen<br />

für seine psychotronische Soundforschung. Auf<br />

„Mobi Rock“ finden sich entgegen der semantischen<br />

Erwartungshaltung eher flächige Sounds ohne<br />

Drums und mit nur sehr wenigen perkussiven Elementen,<br />

die aber durchaus rhythmisch durchgestaltet<br />

sind. Feinsinnige Soundstapeleien, die sich<br />

manchmal sanft und warm mäandernd verlieren, immer<br />

wieder pulsieren und auf eine etwas abstrakte<br />

Weise psychedelisch sind. Ein Rauschen, Flirren,<br />

Fiepen, alles hat hier seinen besonderen Klanplatz<br />

und füllt ihn aus. Dabei verliert sich WoO nie in<br />

avantgardistische Experimente, sondern gibt den<br />

Klängen den Raum, den sie brauchen. Er schafft es<br />

auf eine sehr eigensinnige Art, einen äußerst interessanten<br />

flirrenden Soundteppich zu weben, der<br />

warme Sounds und Melodien nicht missen lässt. Abstrakt<br />

schön!<br />

9 Punkte<br />

Christian Eder<br />

belgradnoise.<strong>com</strong><br />

VOLT - RÖRHAT<br />

Exile On Mainstream / Soulfood<br />

Da haben die Jungs in der BluBox mal wieder ein<br />

grooviges Noise-Süppchen zusammengebraut.<br />

Trockene Drums und schön sumpfige Saiten, wobei<br />

sumpfig nicht matschig heißen darf. Die Musik<br />

erinnert an Vorbilder wie die alten Harmful oder Unsane,<br />

manchmal blitzt auch die Brutalität der alten<br />

Ulme auf.<br />

Melodien sind rar gesät, Volt beeindrucken mit Stakkatoriffs<br />

und Dampfwalze. Die Laufzeit ist mit 35 Minuten<br />

zwar etwas knapp bemessen, dafür gibt es<br />

aber auch ein wirklich schickes Digipack zu bestaunen.<br />

Fans des Genres sollten mal ein Ohr riskieren,<br />

man könnte neue Helden entdecken. Wer die „Romeo<br />

K.O.“ Mini-LP kennt und schätzt, darf bedenkenlos<br />

zugreifen.<br />

10 Punkte<br />

Mike Maisack<br />

volt-music.de<br />

KURZ & KNAPP mitt Jochen Wörsinggerner<br />

DUSTER 69 - ANGEL KING (DecibellRecords/Radar): Das<br />

nenne ich mal puren Rock! Duster 69 hämmern immer mitten<br />

auf die Zwölf und das so straight und erfrischend, dass<br />

es eine wahre Freude ist. Riff-Rock, Metal, HC und eine kleine<br />

Portion Stoner - da bleibt keine Zeit für Geplänkel oder ausschweifende<br />

Gesten. Und all das braucht es auch nicht, denn<br />

den Lederjacken wird's gefallen. Und von mir gibt es den Purismuspreis.(9)<br />

DUSTIN KENSRUE - PLEASE COME HOME<br />

(Cargo Records): Waren wir eben noch beim Rock, heißt die<br />

Schublade nun Pop. Diesmal von Dustin Kensrue, von Beruf<br />

Singer/Songwriter. Der hat eine nette, leicht nörgelnde<br />

Stimme mit der er nette Pop-Songs singt. Aber leider klingt<br />

dabei vieles etwas zu brav, radiotauglich und konventionell.<br />

Schade eigentlich, denn mit etwas mehr Mut hätte daraus<br />

durchaus mehr werden können. (8) MADELEINE - THE CITY<br />

IS A STORYABOUT PEOPLE (www.madeleine-music.<strong>com</strong>):<br />

Leute, lasst die Geldbörsen stecken! Das hier gibt es für lau<br />

als freien Download unter der oben genannten Adresse. Und<br />

das Anwerfen der Kiste lohnt wirklich, denn Madeleine aus<br />

Bonn liefern astreinen Indie-Pop, der produktionstechnisch<br />

absolut dem kommerziellen Standard entspricht und in Sachen<br />

Melodie und Songwriting so manch andere Band gleichen<br />

Schnittmusters alt aussehen lässt. Der Platte merkt man<br />

zu jedem Zeitpunkt an, dass hier Leute am Werke sind, die<br />

einfach nur Spaß am Musikmachen haben. Als einziges<br />

Manko könnte man vielleicht anführen, dass der Platte die<br />

wirklichen Hits fehlen und alles auf etwa gleichem Level abläuft.<br />

Aber warum immer das Haar in der Suppe suchen!? (10)


Balzac - Deep Blue/Chaos FromDarkism II (GForce/BrokenSilence) Bei denen wusste ich<br />

nie so recht, was die Band wirklich ausmacht - ist es die Musik oder ist es ihr Image als Horror-Punker?<br />

So konnten mich die bisherigen Veröffentlichungen nie so wirklich überzeugen.<br />

Vielleicht liegt es schon am falschen Etikett, denn zumindest die aktuelle Scheibe hat mit Punk<br />

in den seltensten Fällen zu tun. Das ist schlicht schnell gespielter Hardrock, mit passablen<br />

Hooks und vielen neckischen Riff-Ideen. Und wenn der Sänger nicht immer so klingen tät, als<br />

hätte er die Vocals in einer Großraumtoilette eingesungen, dann wäre meine Freude noch ungetrübter.<br />

So gibt es leider ein paar Abzüge in der B-Note (08).Creeks - s/t (Dirty Faces) Von<br />

den 15 Songs, die die „Creeks“ auf ihrem aktuellen Album zum besten geben, fällt besonders<br />

„Freiheit Der Wahl“ ins Auge - respektive: ins Ohr: die Jungs aus Dresden offenbaren hier ihren<br />

Hang zum Wave und zum Powerpop, der sich als roter Faden durch die komplette Platte<br />

zieht. Dennoch bleibt das ganze sehr rotzig und Garagen-punkig. (08) Dallax - Core Color +<br />

Bonus, CD (Pork Pie/Broken SiIence) Ska-aaa Banzai! Der Ska hat nun also auch die ferne<br />

Insel im Pazifik erobert. Und die Jungs aus Tokyo „knallen“ mal eben „alles nieder“ - so steht<br />

es im Info, auch wenn es als Motto alter Eastwood-Filme durchgehen könnte. Feuerpausen<br />

gibt es ab und an in Form hübscher Melodien. Die elf besten Songs der Truppe sind als Bonus<br />

gleich mit auf dem Scheibchen. Besonders gelungen ist eine Cover-Version des Billy Joel-<br />

Klassikers „Honesty“. (10)Disconvenience - Umea Punk City (Dirty Faces) klingen ein bisschen<br />

wie die guten alten „Partisans“ - schneller Insel-Punk mit Hardcore-Einflüssen von jenseits<br />

des großen Flusses. Interessanterweise bekommen die Stockholmer bei all dem Getöse<br />

immer wieder die Kurve und ballern nicht nur, sondern (er)finden auch die ein oder andere hübsche<br />

Melodei. (09) Fedchenka - Mary & Other Assorted Lovesongs (Pitar/CMS SONY) Klingt<br />

russisch, sind aber Niederländer, vier an der Zahl, rocken munter und soundtechnisch fit drauflos.<br />

Nicht viel zu meckern, wenn auch anzumerken bleibt, dass „Fedchenka“ ihre ganz großen<br />

Momente eher dann haben, wenn das Tempo deutlich zurückgenommen wird („Two People“,<br />

„Hard Times“). Ich würde das gerne mal live sehen! (09).Front - Bitte Recht Freundlich (Dirty<br />

Faces) machen recht wave-lastigen Punkrock, der vor 25 Jahren gewiss auch als Beitrag zur<br />

Neuen Deutschen Welle durchgegangen wäre - die Humpe-Schwestern lassen grüßen, und<br />

auch „Fehlfarben“ haben die Wiesbadener schonmal gehört; runde Sache, nicht zuletzt wegen<br />

der sehr guten Texte (09). Handsome Hank & His Lonesome Boys - Live At Murmansk<br />

(RookieRec/Cargo) Dass man Klassiker wie „Back In The USSR“ oder „Ra-Ra-Rasputin“ in<br />

Country-Kleider stecken kann, hätte ich vielleicht noch für möglich gehalten; dass HH & HLB<br />

das auch mit Popschleudern wie „Thriller“ und Metalsägen wie „Highway Star“ und - sic! - „Ace<br />

Of Spades“ hinbekommen, nötigt mir eine gehörige Portion Respekt ab; so stelle ich denn fest,<br />

dass mir mein „das-kenn-ich-doch“-Grinsen über knapp fünfzig Minuten nicht mehr aus dem<br />

Gesicht weichen will; das Ganze ist in eine wunderbar ge-fake-te live-Atmo getaucht. Leute -<br />

Das hier ist DAS Teil für die nächste Fete, wenn es nach vier Kisten Bier mal wieder heißt: „Erkennen<br />

Sie die Meldodie?“ (12) Kuersche - Oxygene Overdose, CD (NTL Records/CMS<br />

Sony) Zwei Mann Band, die sich dem Singer/Songwriter-Genre verschrieben hat; die 14 Tracks<br />

schwanken zwischen wunderschön (Love Is A River, Room With A View) und belanglos, wobei<br />

glücklicherweise diejenigen Tracks überwiegen, die ersterer Kategorie zuzuordnen sind.<br />

Die Produktion ist leider etwas steril geraten; überdies wird Kuersche Mühe haben, sich als<br />

Deutscher in einem Genre durchzusetzen, in den Amis und Kanadier die Majorität stellen. Ungerecht?<br />

Schon.(9)<br />

Mainline - From Oblivion To Salvation (Dioxzion Records/Twilight) Die Mannen um Sänger<br />

Stinking Lizaveta -<br />

Scream Of The Iron Iconoclast<br />

(Monotreme/Cargo) Nach drei Alben<br />

in zehn Jahren kehrt einer der „Institutionen<br />

des US-Underground“ (Cargo) mit neuem Album zurück. Metal<br />

meets Prog meets Post. Cooler, bisweilen etwas dumpfeliger Sound (vor allem die Snare tönt<br />

geil, der etwas näselige Gitarrensound nervt bisweilen) - na ja, es kann ja auch nicht immer<br />

Herr Albini hinter den Reglern sitzen. Nette Platte, etwas kopflastig, vielleicht (09) The Cretins<br />

- s/t (Dambuster/Cargo) „Gimme, Gimme“ - da hüpfen sie wieder und powerpop-punken<br />

sich den Arsch ab. Die vier Jungs sind halt ausgezogen um zu schauen, ob „mit echtem,<br />

straighten Punk“ noch eine Nietenmaus hinter dem Ofen hervorzulocken ist. Und selbst, wenn<br />

das hier vom Urpunk soweit entfernt ist, wie der FC von der Bundesliga - den Cretins ist eine<br />

frischfreche Homage an den Funpunk der Ramones gelungen, der viele Fans finden soll und<br />

- definitiv - wird (11). The Defectors - Bruised And Satisfied (BadAfro) „Dänen lügen nicht“<br />

- zugegeben abgeschmackt, der Spruch. Aber es stimmt, weitestgehend: eine „Unmenge morbide<br />

Riffs, bluttriefende Hooklines“ von mächtiger Farfisa-Schweineorgel getragen - „nie war<br />

greifbarer, was Horror-Psychobilly ausmacht“, aber - ein bisschen flunkern tun sie dann doch,<br />

die Nordmänner: „Punkrock“, wie sie das selbst nennen, ist das nicht wirklich, auch wenn<br />

Songs wie „Lose It“ den Eindruck erwecken mögen. Aber egal, und ich sachma: Fuck You‚<br />

Cause You Looking Good (10). The Grit - Shall We Dine? (PeopleLikeYou/SPV) Blick ich<br />

aufs Cover, dann ist die Sache klar: Rockablly-Tolle, Kontabass und Halbakustische - so klingt<br />

es dann auch, und dennoch (?) bin ich positiv überrascht: Punk- und Rockabilly, eine Prise<br />

Surf und natürlich Rock'n'Roll - geht fröhlich ab wie das viel zitierte Zäpfchen. Herausragend<br />

in einer ohnehin guten Truppe ist übrigens Little Man Kurt am Upright. Ja, ok, mit Euch würd'<br />

ich gerne mal essen gehen! (11) Yellow Umbrella - Little Planet, CD (Rain Records/Broken<br />

Silence) Viel gelernt, in den letzten drei Monaten, zum Beispiel dass der Ska im Prinzip irgendwie<br />

aus dem Reggae kommt oder so … Wenn es eines Beweises hierfür bedurfte - Yellow<br />

Umbrella treten ihn an: herzerfrischende Synthese aus beidem, groovig, schweißtreibend, rasend.<br />

Das hier habe ich schnell ins Herz geschlossen. (11)<br />

<strong>reViews</strong><br />

Maurizio Lazzaroni wandeln auf den Spuren von „Opeth“ und „A Perfect<br />

Circle“ und damit auf eingeschlagenen Pfaden; „nicht viel Neues“<br />

kann man meckern, „Altbewährtes“ kann man loben; keine Offenbarung,<br />

aber solide gemachter Crossover, sage ich (08).<br />

Mary-Jane - What I Came Here For (Chocolate Fireguard/Our)<br />

Bei der Band aus dem englischen Huddersfield trifft Punk auf Rokk'n'Roll,<br />

und Sängerin Rachel Goulding sorgt dafür, dass sich die<br />

Truppe deutlich von der Masse der vielen Gleichgesinnten abhebt.<br />

Produziert wurde das Ganze von keinem geringeren als<br />

Geordie Walker (Killing Joke), der meines Erachtens jedoch<br />

eine etwas eigensinnige Auffassung von „Sound“ hat. Sei's<br />

drum - geschadet hat er der Band, die es leider nur ganze siebenmal<br />

kräftig krachen lässt, nun auch wieder nicht (10).<br />

Perfect Daze - Five Years Scratch (RookieRec/Cargo) Boss<br />

Tuneage goes Retro - und Rookie geht mit. Diesmal haut man<br />

eine inzwischen gut 20 Jahre alte Platte raus, die seinerzeit<br />

auf dem legendären Vinyl-Solution-Label rausgekommen ist;<br />

sagt mir gerade nüscht, aber - hey! Kids! - wenn Ihr wissen<br />

wollt, was Mutti und Vati in den 80ern gehört haben, und<br />

wenn Ihr schon eine Gitarre halten könnt und wissen wollt,<br />

wie man einen ordentlichen Punksong komponiert, ohne<br />

eben diese Eltern aus dem Haus zu treiben, dann könnt Ihr<br />

hier was lernen (09) Second Monday - Imagery (Lockjaw<br />

Records) Die Herren kommen aus Winchester, USA, und<br />

irgendwelche Kalauer, die einen Zusammenhang zwischen<br />

der Herkunft und dem präzisen, durchschlagskräftigen<br />

Sound herstellen, sind bei Strafe verboten. „Quicksand“<br />

oder „Waterdown“ sei demjenigen an den Kopf geworfen,<br />

der wissen will, wie es klingt. Ist ok, reißt mich<br />

aber nicht vom Sitzmöbel (09) Spontane - Good Is Dead<br />

In Good Luck City (Dad Records/Our) - sind eine französisch-amerikanische<br />

Formation, die sich an der<br />

Schnittstelle von HipHop, Electronic und Rock'n'Roll bewegen;<br />

selbst wer jetzt meint, mit „sowas eigentlich we-<br />

nig am Hut“ zu haben, wird zugeben müssen, dass sich „Spontane“<br />

fernab vom Klischee bewegen und mit ihrer Bereitschaft, immer über den Tellerrand<br />

zu schauen, viel Spaß machen. Kein Wunder also, dass so unterschiedliche<br />

Künstler und Bands wie „V2“ und „Buena Vista Social Club“ die Truppe gerne mit auf Tour<br />

nehmen (10).<br />

45


46<br />

<strong>reViews</strong><br />

13 SANE -<br />

DER ANFANG VOM BEGINN<br />

Fürther Alternative Rock-Combo, die<br />

sich mit schweren Metalriffs, Pop-<br />

Parts, exaltiertem Gesang und Hardcore-Einsprengseln<br />

mutig und experimentell<br />

zeigt. Technisch versiert versucht<br />

man sich am künstlerischen<br />

Overdrive - und manches Mal wäre weniger<br />

mehr gewesen. Nicht jedes Break<br />

ist nachvollziehbar, die überwiegend<br />

deutschen Texte sind reichlich pathetisch<br />

und unkonkret, teilweise bleibt der<br />

Spannungsbogen auf der Strecke.<br />

Trotzdem sehr achtbar und insbesondere<br />

in der Gitarrenarbeit hoch veranlagt.<br />

8 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

myspace.<strong>com</strong>/13sane<br />

Acoustic Club - s/t<br />

Ziemlich abgehangener Akustik-Rock<br />

der Marke 90er schallt mir da aus meinen<br />

Autoboxen entgegen. Yeah, fahr mit<br />

mir, Baby! Und alles so luftig, locker und<br />

mit ausgeprägtem Hang zu perkussivem<br />

Schlagwerk, erinnert mich an Calypso,<br />

an karibische Klänge. Soweit zur Rhythmusfraktion,<br />

wobei Latin auch immer<br />

mal wieder im Rest wiederzufinden ist.<br />

Junge Männer sind hier am Werk. Und<br />

haben jeglichen „elektronischen“ Instrumenten<br />

abgeschworen, der Name ist<br />

Programm... Die können spielen. Jeder<br />

Ton sitzt hier an der richtigen Stelle. Zwei<br />

Sänger sind Mitglied der Akustischen.<br />

Die eine Stimme eher ein bisschen college-rockig,<br />

die andere erdiger-grungig<br />

orientiert. Und wohl auch zwei Hauptsongwriter.<br />

Somit gehen die Songs in<br />

zwei verschiedene Richtungen, Hauptnenner<br />

bleibt aber derselbe, der Akustik-<br />

Rock. Bei der „Grungefraktion“ z.B. klingen<br />

für mich da ab und an die Steintempelpiloten<br />

durch. Stimmt das? Helden<br />

der Jugend?<br />

Aber zurück zu den Songs: die sind nämlich<br />

ziemlich komplex und dürfen auch<br />

mal verkopft sein; dazu kaum welche unter<br />

der 4-Minuten-Marke. Bis Song vier<br />

reißt die Platte was und mit. Zu erwähnen<br />

ist auch, dass die Hauptvokalisten<br />

durch einen netten Männerchor im<br />

Hintergrund Unterstützung finden. Dann<br />

wird's aber ein bisschen beliebig, man<br />

möge mir verzeihen. Aber mit Stück 6<br />

(„coral reef“) schleicht sich wiederum ein<br />

kleiner Hit in die Hörgänge und weckt<br />

auf... Mit dem Rest der Spielzeit dünnt<br />

sich bei mir jedoch wieder die Aufmerksamkeitsspanne<br />

aus, ab und an wird<br />

dennoch verharrt und aufgehorcht. Auch<br />

nach dem dritten und vierten Mal lässt<br />

sich jener eben geschilderte Ablauf nicht<br />

abschütteln. Was jedoch unweigerlich<br />

passiert: man wird immer mehr der Professionalität<br />

gewahr, die mit im Spiel ist;<br />

hier haben wir dann auch die Crux am<br />

Club: Jeder Ton sitzt. Das eine oder auch<br />

öftere Mal ein bisschen „zu“ perfekt. Da<br />

passt alles. Rund. Harmonisch. Dann<br />

aber plätschert es. Ich vermisse ein bisschen<br />

rauen Wind. Hier und da mal eine<br />

Kante. Eine ungeschliffene Ecke. Ein Atmen.<br />

Aufatmen. Aus- und Aufbrechen.<br />

DEMO's<br />

Acoustic-club.de<br />

Die Grenzen sprengen.<br />

Den cleanen<br />

Moment vertreiben.<br />

Die Ketten ablegen.<br />

Das ist gut, ohne<br />

Frage. Und der Club<br />

wird seine Zuhörer<br />

finden. Idealerweise<br />

an einer Strandbar,<br />

mit Sonnenuntergang<br />

im Rücken und<br />

Cocktail in der<br />

Flosse. Ich für meinen<br />

Teil wünsche<br />

mir für die nächste<br />

Platte all die aufgezählten<br />

missing<br />

parts und das für<br />

mich so essentielle<br />

more storm - less<br />

breeze. Oderso. Bis<br />

dahin verbleibe ich<br />

mit 8 Punkten.<br />

Matthias Horn<br />

KAELTELOESUNG -<br />

BY ACCIDENT AND SURPRISE<br />

Der Münchner Soundtüftler legt hier<br />

schon den zweiten, witzigen und gekonnt<br />

gemachten Output seiner experimentellen<br />

Elektropop-Spielereien vor,<br />

bei dem man sich fragt, warum das noch<br />

kein Label entdeckt hat. Hübsch arrangierte<br />

Schrägen zu quirligen Beats, die<br />

Vocals dazu manchmal eher unfreiwillig<br />

knapp neben der Spur, was aber zumeist<br />

auf charmante Weise gewollt klingt. Es<br />

knarzt, rummst und fiept ebenso vergnügt,<br />

wie raffiniert - der Herr von der<br />

Seifenblasen-Tankstelle nimmt<br />

sich ne Menge vor - und meist<br />

löst er ein, was er verspricht. Hat<br />

was.<br />

10 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

kaelteloesung.de<br />

MISSENT TO DENMARK -<br />

A CLUE, A HINT, A LOVE<br />

Aus dem Umfeld der Indie-Poprocker<br />

Conic kommt dieses<br />

neue Bandprojekt, das den<br />

Fokus deutlicher auf den Pop<br />

legt und gerne auch mal<br />

sphärisch dahinschwebt,<br />

bevor Druck gegeben wird.<br />

Toller, charismatischer Gesang<br />

zu britisch geprägtem<br />

Pop mit Radiohead meets<br />

Oasis-Appeal. Einige auffallend<br />

hypnotische Gitarrenriffs,<br />

stoisch treibende<br />

Beats, stilsichere Melodien,<br />

die hängen bleiben,<br />

kalkulierte kleine Disharmonien<br />

zwischen Gesangslinie<br />

und Gitarren.<br />

Ein schwärmerisches Intro<br />

scheint grundsätzlich<br />

dazu zu gehören, man<br />

bedient sich auch mal<br />

der Streicher-Abteilung<br />

und scheut sich zum<br />

Glück nicht vor großen<br />

ausholenden Popgesten. Die Songs entwickeln sich ruhig und<br />

selbstverständlich, das Songwriting wirkt souverän, die Arrangements<br />

dienen dem Song und überfrachten die kleinen, hübschen<br />

Melodien nicht. Die Balladen wirken nah, liebevoll, authentisch,<br />

nie gestelzt. Ziemlich reif und ein guter Tipp für den Indiepop-<br />

Connaisseur in eher anspruchsvoll signenden Häusern. Fehlt nur<br />

noch ein Kick Hysterie und eine Portion gelebter Optimismus.<br />

Die deutet sich aber immer wieder bereits an. Ein Touch Fröhlichkeit.<br />

Ist allemal drin. Das wird. Ein ernsthafter Anwärter auf<br />

die deutsche Pop-Bundesliga.<br />

11 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

missenttodenmark.de<br />

Nichts - Nichts<br />

„Grüß Gott und herzlich Willkommen bei N I C H T S“, steht auf<br />

der Homepage, auf der man irgendwie - aber doch nahe liegend<br />

- nichts findet, und wenn man auf eines der Bilder klickt, zum Beispiel<br />

auf das vom Gitarristen mit der Schweinemaske, dann passiert<br />

- natürlich - nichts. Würde es sehr überraschen, wenn auf<br />

dem aktuellen Demo der Band - Achtung! Kalauer! - NICHTS<br />

drauf ist? Schon, oder? Also: Kein Thema. Vier Songs haben uns<br />

David, Jonas, Toni und Schweinekopfmann Mobertsen eingespielt,<br />

und DIE sind wirklich alles andere als NICHTS! Feine Indiepop-Perlen,<br />

mit viel Postpunk und viel NDW drin; man greift<br />

auf altbewährte Musikalien wie Gitarre, Bass und Drumset zurück<br />

und garniert die Songs mit ein paar kleinen elektronischen<br />

Spielereien. Und die Texte! Wie wohltuend für denjenigen, der<br />

der Gemanistik-Student-im-dritten-Semester-Lyrik á la Kante<br />

und Hamburger Schule überdrüssig ist. Freilich: Oberflächlich<br />

betrachtet könnte man „Nichts“ verdächtigen, heftig in den Revieren<br />

von „Trio“ und „Hubert K“ gewildert zu haben, lauscht man<br />

aber genauer hin, dann erkennt man ein mächtig eigenes Profil!<br />

Gut so, weiter so! Ich drücke Euch die Daumen, dass es bald mit<br />

dem Deal klappt; ich muss jetzt aber los, ich muss „zum ich bin<br />

doch nicht blöd Markt mir einen Farbfernseher kaufen, denn um<br />

20:15 beginnt meine Wirklichkeit“.<br />

Keule<br />

nichtsfuereuch.de<br />

KURZ & KNAAPP mit AAndrasch NNeunert<br />

CHAPEAU CLAQUE - HAND AUF`S HERZ (1STDECADERECORDS)<br />

- Thüringer Sängerin, die Northern Lite in deren Vorprogramm so sehr<br />

überzeugte, dass sie in deren Company landete. Hübsche Songs mit<br />

annehmbaren Lyrics, für Freunde der besonders in Berlin gehypten<br />

Elektropop-Tänzerei zu netten Liedern mit lasziven Weibchen-Vocals<br />

inklusive kleinen kalkulierten Text-Frechheiten eine echte Alternative.<br />

Hübsch und reichlich kalkuliert, besonders, wenn es auf einmal mit Blick<br />

auf Björk in völliger Selbstüberschätzung um Reykjavik geht. Für diesen<br />

Fehlgriff Punktabzug (6). PHIL VETTER - SAY GOODBYE TO THE<br />

MOMENT (Redwine/PIAS) - Aus München kommt Phil Vetter, inzwischen<br />

nicht mehr ganz so junger Singer, Songwriter, der sich schon an<br />

diversen Bandprojekten versuchte, von denen Big Jim das Bekannteste<br />

war. All seinen Projekten gebrach es jedoch an Charisma, so hübsch<br />

und absolut sympathisch das auch immer war. Leider gilt das auch für<br />

seine Singer & Songwriterplatte. Sie ist schön, abwechslungsreich, doch<br />

bleibt letztlich blass in den Vocals. Tolle Songs, leider ohne große Ausstrahlung<br />

(8). ALUMINIUM BABE - SMOKE IN CHINATOWN (Netmusiczone/<br />

Rough Trade) - New Yorker Uptemp-Beat-Garagen-Band mit<br />

schnellen, knurrigen Beats des Bassers, mit unterdimensioniertem Gitarreneinsatz<br />

und Piepsstimmen-Vocals. Klingt sehr modern und ist bei<br />

genauerem Hinhören ebenso beliebig, wie überflüssig. Ein Fake (4).<br />

MSTRKRFT - THE LOOKS (Different/PIAS) - Die Torontoer Dance-<br />

Groove-Beatniks Jesse F. und AI-P bitten streng elektronisch zum euphorisierenden<br />

Tanztee, das tun sie mit Stil, Frische, Klasse - wer sich<br />

so richtig durchschütteln will, kann dies hier ohne schlechtes Gewissen<br />

tun. Musik, die trotz der Kühle des Sounds Lust und Wärme transportiert,<br />

die ass-kickin ist und sexy, so bunt wie das wunderhübsche Coverinnenleben.<br />

Dem Lieblings-DJ in der E-Disko mitbringen, er wird Euch<br />

dafür lieben. Oder selbst auflegen (11).


AEREOGRAMME - MY HEART HAS A WISH<br />

THAT YOU WOULD NOT GO<br />

Chemical U / Rough Trade<br />

Musikalische Großtaten sind wir von den fünf<br />

Schotten ja gewohnt, dass sich Aereogramme aber<br />

dermaßen weiter entwickeln - fast neu erfinden -<br />

hätte ich nicht erwartet.<br />

Mittlerweile spielt man in einer eigenen Post-Rock-<br />

Liga, in der von arabischen Rhythmen über fetten<br />

Streicherschmonz bis hin zum Walzertakt alles<br />

möglich ist. Was sich zunächst nach heillosem<br />

Durcheinander und nervigem Chaos anhört, wird<br />

geschickt mit großartigen Melodien und dem sensiblen<br />

Gesang von Craig B. vermengt.<br />

Die Glasgower schaffen den Spagat zwischen Pop<br />

und Relevanz mit diesem Meisterwerk in wirklich<br />

beeindruckender Weise. Aereogramme lassen das<br />

von den bisherigen Alben bekannte Dynamikpendel<br />

in Ruhestellung und konzentrieren sich auf den<br />

Song und seine Melodie. Sie schwanken nicht<br />

mehr zwischen laut und leise, Wimmern und Brüllen,<br />

spielen stattdessen lieber mit breiten Soundflächen,<br />

in die sich der Hörer entspannt fallen lassen<br />

kann.<br />

Nie waren Aereogramme so zugänglich wie heute.<br />

Dass sie dabei vollkommen unpeinlich geblieben<br />

sind, rechne ich dieser Band hoch an.<br />

Mike Maisack<br />

aereogramme.co.uk<br />

LOCAS IN LOVE - SAURUS<br />

(Sitzer/Virgin/EMI)<br />

Was ist in der Flut der in unserer<br />

Mütter- und Vätersprache<br />

poppenden und rockenden Veröffentlichungen das<br />

besondere Etwas, das diese wunderbare Platte<br />

von der blubbernden Masse so sehr unterscheidet?<br />

Ist es die Selbstverständlichkeit und Präzision<br />

der Bilder? Der Mut zum musikalisch Unerwarteten?<br />

Die Konsequenz der Nabelschau bis hin zur<br />

demonstrativen Selbstschädigung? Die Relevanz<br />

der Beobachtungen? Die Lust an kurzzeitigen,<br />

ganz und gar nicht verschämten Lärmeuphorien?<br />

Die Wärme des Gesangs und die stets spürbare<br />

liebevolle Nähe zu Fans und Musikkollegen? Die<br />

skandinavisch anmutende Frische ohne erkennbares<br />

Verfallsdatum? Die Stilsicherheit der Folkund<br />

Countryanleihen? Die Atemlosigkeit des<br />

ebenso charismatischen wie lakonischen großen<br />

Jungens am Mikro?<br />

Von all dem etwas. Hier ist eine weitere wirklich<br />

wichtige deutschsprachige Veröffentlichung nach<br />

Pendikel im letzten Jahr. Locas In Love rocken und<br />

schrubben ebenso gut, wie sie reimen. Sie schmeicheln<br />

uns mit Widerhaken, wenn sie uns leise kommen.<br />

Sie pfeifen auf das sonst stets so gleiche Verhältnis<br />

zwischen Silben- und Taktzahl, indem sie<br />

hier mühelos berechtigt Rekorde aufstellen. Sind<br />

dabei stets selbstverständlich ungekünstelt lieb im<br />

allerbesten Sinn, gerade dann, wenn sie im amerikanischen<br />

Folk-Wald Setzlinge klauen und sie als<br />

große kleine Gesten in ihren Indie-Schönheiten so<br />

stimmig einpflanzen, wie es sonst hierzulande nur<br />

Fink je hinbekamen. Was singt da die Co-Sängerin<br />

Stefanie? „Ich war es nicht, es war Mabuse. Er<br />

benutzte mein Gehirn.“ Im Wechsel mit „Das verdammte<br />

Deutschland hat mich dazu getrieben!“ im<br />

Hintergrund. Toller Kanon. Auch hier offenbart sich<br />

das Geheimnis dieser über viele Jahre harmonisch<br />

s<br />

gewachsenen und immer wieder von Kollegen liebevoll<br />

ergänzten Gruppe: in der Einfachheit guter<br />

Ideen und der Gewissheit ihrer Weiterentwicklung.<br />

In der kompromisslosen Subjektivität. In der rationellen<br />

Selbstbeschränkung bei den phantasievollen<br />

Arrangements. Nie wird die Idee hier zum<br />

Selbstzweck. Diese Lieder sind unaufdringlich und<br />

intensiv. Fordernd und beschützend. Zweifelnd<br />

und motivierend. Was singt er da gerade nach dem<br />

Nachhausekommen und meint es tatsächlich genau<br />

so? „Wir fragen uns, ob wir was machen aus<br />

der Zeit, die uns bleibt.“ Nur keine Angst, Freunde.<br />

Ihr habt doch schon so viel geschafft. Eine Platte<br />

für alle unsere Tage. Viel mehr geht nicht.<br />

Andrasch Neunert<br />

locasinlove.<strong>com</strong><br />

FISCHESSEN - SUICIDE IS MUCH TO BLONDE<br />

(bluNoise/Alive)<br />

Fischessen ist ein offenes Band-Projekt, das Jörg<br />

A. Schneider - eigentlich Drummer von LHQWE -<br />

ins Leben gerufen hat, um in ständig wechselnder<br />

Besetzung seine eigenen musikalischen Visionen<br />

umsetzen zu können - und das genau zwei Jahre<br />

nachdem die Hommes eine Pause auf unbestimmte<br />

Zeit eingelegt haben. Soweit so gut. Das<br />

Verwunderliche daran ist aber, dass sich Schneider<br />

- neben wenigen anderen Gastmusikern - mit<br />

Yvonne Nussbaum und Mark Kreutzer ausgerechnet<br />

die alte LHQWE-Mannschaft an Bord geholt<br />

hat, um das Debut „Suicide Is...“ aufzunehmen. Ist<br />

das hier also eine Espandrillo-Platte unter dem<br />

Deckmantel eines anderen Bandnamens? Mitnichten,<br />

denn schon nach den ersten Tönen wird<br />

klar, dass bei Fischessen eine ganz andere Herangehensweise<br />

zu erkennen ist: Weniger Struktur,<br />

dafür mehr Improvisation, weniger Interesse an<br />

gängigen Songformaten, dafür viel Freiraum, in<br />

dem sich die Songs entfalten können. Diese taumeln<br />

zwischen zwei Extremen: Meandernde, fast<br />

meditative Ruhe einerseits; andererseits laute,<br />

wilde, grenzauslotende Ausbrüche, bei denen sich<br />

Soundschicht auf Soundschicht türmt und die regelmäßig<br />

sehenden Auges in die unausweichliche<br />

Explosion rasen. Gesang bleibt da gleich (fast)<br />

ganz außen vor. Diesen vermisst man auch nicht,<br />

denn auf musikalisch-instrumentaler Ebene passiert<br />

so vieles, werden so zahlreiche Ideen verarbeitet<br />

und Nuancen eingestreut, dass man sich<br />

irgendwann in der Musik verliert, sich treiben lässt<br />

vom ständigen Wechselspiel zwischen melodiöser,<br />

fast schmeichelnder Eingängigkeit und rohen,<br />

nervenzerrenden Noise-Attacken. Angetrieben<br />

und zusammengehalten wird das Ganze vom gewohnt<br />

einzigartig dynamischen Drumspiel Schneiders',<br />

der hier auch erstmals selbst produzierte und<br />

dabei auch immer wieder elektronische Elemente<br />

Einfluss nehmen ließ. Das größte Plus der Platte<br />

ist jedoch sicherlich, dass sie - obwohl vor allem<br />

auf dem Mist des Individualisten Schneider gewachsen<br />

- nie zur Nabelschau verkommt und somit<br />

stets für den Hörer nachvollziehbar bleibt. Ein<br />

Punkt, der bei Projekten mit ähnlichem Ansatz ja<br />

oftmals aus den Augen verloren wird...<br />

Jochen Wörsinger<br />

fischessen.net<br />

IAN LOVE - s/t<br />

(arcticrodeorecordings/AL!VE)<br />

Kurzer Blick ins Info - und schon<br />

bereut. Zwei Seiten mit gefühlter<br />

Schriftgröße von 5 Punkten! Und es geht um<br />

ein Leben. Um Ian Love's Leben. Da steht viel.<br />

Über Drogensucht, ehemalige Bands wie Rival<br />

Schools und dementsprechend dicke Kumpels wie<br />

Walter Schreifels, von Erfolgen und immer wieder<br />

Scheitern, von erfreulichen wie auch sehr unerfreulichen<br />

Dingen. Und wieder von Drogensucht.<br />

Eigentlich too much. Für ein Info. Eine komplette<br />

<strong>reViews</strong><br />

Biografie? Vielleicht aber auch traurig, dass jene<br />

„nur“ zwei Seiten füllt. Wobei, was mir unters Auge<br />

gerät, könnte auch locker mal ein mehrhundertseitiges<br />

Buch in Beschlag nehmen. Also nur mal eben<br />

die Essenz hier und jetzt... Rival Schools, cool...<br />

Dann aber die Überraschung. Klingt ja gar nicht so<br />

danach. Eher sehr reduziert. Akustisch.<br />

Singer/Songwriter. Einzuordnen zwischen Denison<br />

Witmer, Sufjan Stevens, Eliott Smith, die reduzierteren<br />

Grandaddy-Songs und José Gonzalez.<br />

Vor allem José Gonzalez. Da Herr Love das perkussive<br />

Moment liebt. Ob mit der Gitarre erarbeitet<br />

oder auch wirklich mit Schlagwerk veredelt.<br />

Treibend. Immer nach vorn. Und teilweise mal so<br />

wirklich noisig, wenn auch „noisig-unplugged“. So<br />

geschehen bei „black diamonds“ oder „turn off“ (so<br />

Sparklehorse. So was von Sparklehorse!!)... Gut!<br />

Sehr gut! Dann wieder ruhige Momente. Innehaltende<br />

Momente. Und wieder Ausbrechen. Wir blikken<br />

tief. Nicht nur anhand des Infos, auch musikalischer<br />

Art vollführt Ian Love ein Offenbaren, Blankliegen,<br />

Bloßstellen und einen Seelenstriptease,<br />

der manchesmal fast einen Tacken zu viel ist. Aber<br />

nur fast. Jener kommt mit allerhand Akzenten im<br />

Schlepptau: mehrstimmiger Gesang, allerlei Geräusche,<br />

auch mal gerne schräger Natur, Piano,<br />

Mundharmonika, Pedal Steel undsoweiterundsofort.<br />

Dazu noch ein schön designter Pappschuber.<br />

Herz, was brauchst Du mehr? Genau. Liebe. Noch<br />

genauer: Ian Liebe. Schön! Wie auch der unbedingte<br />

Anspieltipp „Don't let go“!<br />

Matthias Horn<br />

Ianlove.<strong>com</strong><br />

Arcticrodeorecordings.<strong>com</strong><br />

MAGICRAYS - OFF THE MAP<br />

(Gentlemen/Alive)<br />

47<br />

Da meint man alles zu kennen und dann flattert eines<br />

schönen Tages das Album einer Band ins<br />

Haus, das anscheinend schon deren viertes ist.<br />

Man ist hin und weg und stellt sich die Frage, wie<br />

es sein kann, dass man von dieser Band bisher<br />

noch nie etwas gehört hat. Aber einfach mal von<br />

Anfang an: Magicrays kommen aus der Schweiz,<br />

sind - wie es sich für eine anständige Gitarren-Band<br />

von dort gehört - bei Gentlemen-Records und machen<br />

Musik, die schlichtweg unter die Haut geht.<br />

Dabei ist „Off The Map“ eines der wenige Alben,<br />

das das Feld von hinten aufräumt. Denn anstatt<br />

dass es - wie bei einzigartigen Platten eigentlich<br />

üblich - anfangs sperrig und undurchdringlich erscheint<br />

und sich erst von Hördurchgang zu Hördurchgang<br />

mehr und mehr erschließt, wird hier der<br />

umgekehrte Weg gegangen. Der Einstieg in „Off<br />

The Map“ fällt nämlich relativ leicht und man meint<br />

schon nach kurzer Zeit die Marschrichtung zu erkennen:<br />

Nachdenkliche, verzaubernde Popmusik,<br />

die Tiefgang hat, an vielen Stellen ausbricht und<br />

immer wieder ausufernde Gitarrenintermezzi einstreut.<br />

Man kennt das ja von Bands wie Grandaddy,<br />

Flaming Lips oder auch den Decemberists, die allesamt<br />

in ähnlichen Fahrwassern umherschiffen.<br />

Jetzt aber, nach zwei Wochen, in denen ich diese<br />

Platte unentwegt gehört habe, erscheint sie mir<br />

seltsam verschlossen, irgendwie unergründlich.<br />

Immer wenn ich den Startknopf drücke, bin ich<br />

überrascht, meine diesen oder jenen Song gar<br />

nicht zu kennen, frage mich, welcher Song das nun<br />

schon wieder ist. Der Vierte? Der Achte? Der Erste?<br />

Habe ich diesen Song überhaupt schon mal<br />

gehört? Das sind dann die Momente, in denen ich<br />

mich verliere, eintauche in die Gitarrenwände und<br />

Melodien, die fein gewoben ihr Netz über mich fallen<br />

lassen. Die Stimme von Raphael Enard liegt<br />

irgendwo zwischen Thom York und Tim Smith von<br />

Midlake, die mit ihrem zweiten Album „The Trails<br />

Of Van Occupanther“ einen ähnlichen Effekt auf<br />

mich hatten, wie nun die Magicrays. Aber „Off The<br />

Map“ wäre nur halb so gut, wäre da nicht dieser<br />

warme und intime Sound, für den sich John Parish<br />

(u.a. Eels, Sparklehorse) verantwortlich zeichnet,


48<br />

<strong>reViews</strong><br />

der die Band in seinen Toy Box Studios der Legende<br />

nach mit allerlei angestaubtem Equipment<br />

bekannt machte. Aber was soll ich hier noch weiter<br />

über etwas schreiben, was eigentlich unbeschreib-bar<br />

ist!? Einfach anhören!!<br />

Jochen Wörsinger<br />

magicrays.<strong>com</strong><br />

MANATEES - UNTITLED<br />

MT. - LETHOLOGICA<br />

(beide Motivesounds Recordings/Indigo)<br />

Dieses Promo-Paket ist kurz nach Redaktionsschluss<br />

reingehuscht und eigentlich heißt das<br />

dann „ab in die nächste Ausgabe.“ Aber was uns<br />

hier das kleine und mir bisher völlig unbekannte<br />

englische Zwei-Mann-Indielabel Motivesounds<br />

kredenzt, ist so besonders, dass man es niemanden<br />

vorenthalten sollte.<br />

Die Einzigartigkeit fängt schon bei dem wunderbaren<br />

Artworks an. So kommt das Debut-Album der<br />

MANATEES im Digi-Pack mit mantra'esk-komplexen<br />

Design, das mehrere Lackschichten mit einer<br />

metallischen Kupfer-Folie kombiniert. Wunderschön<br />

und so bisher höchst selten gesehen. Aber<br />

nicht nur die Verpackung überzeugt. Manatees<br />

sind gewaltig, walzend, düster und hell, noisy und<br />

brachial und an anderer Stelle wiederum so fragil<br />

und melodiös. Stark perkussive Soundwände, Trible-Parts,<br />

eindringliche Vocals und ausbrechende<br />

Gitarren lösen sich kurz vor Überschreitung des<br />

„point of no return“ in zarte, fast dahingehauchte<br />

Bitterkeit auf. Eine Bitterkeit, die mich irgendwie einen<br />

leicht lakonischen Blick auf das Morgen werfen<br />

lässt. Das Info nennt unter anderem Neurosis,<br />

Pink Floyd und King Crimson als Vergleich. Das<br />

stimmt ohne Zweifel, aber das hier geht noch viel,<br />

viel weiter. Diese Platte ist so vielschichtig, so reich<br />

an Entdeckenswertem, aber gleichzeitig auch so<br />

kryptisch und verschlossen, dass man sie wohl nie<br />

in ihrer ganzen Pracht erschließen wird. Leute, allein<br />

das wuchtige Finale sucht seinesgleichen!<br />

Der vom Label eingeschlagene Weg, Musik und<br />

Design zu kombinieren und in künstlerischen Einklang<br />

zu bringen, wird auch mit dem zweiten vorliegenden<br />

Motivsounds-Release von MT. weiter<br />

verfolgt. Zwar etwas weniger aufwendig in punkto<br />

Verpackung aber dennoch sehr schön aufgemacht,<br />

entführt „Lethologica“ im Vergleich zu „Untitled“<br />

von den Manatees in etwas ruhigere, aber<br />

nicht minder aufwühlende Gefilde. Man ist versucht,<br />

den Begriff Post-Rock in die Runde zu verwerfen<br />

- und irgendwie liegt man damit auch nicht<br />

ganz falsch. Denn hier wird das Beste von Giardini<br />

di Miro, Mono, Ostinato, Trans Am, Mogwai, Aerogramme<br />

und auch ein wenig von Sigur Rós zu einem<br />

Extrakt aus Ruhe und Sturm, aus Innehalten<br />

und Ausbrechen vermengt. Vor allem aber die<br />

Dream-Pop-Anleihen sowie die teils messerscharf<br />

gesetzten Breaks, die ab und an zwischen dem<br />

wogenden Auf und Ab hervorblitzen, machen „Lethologica“<br />

zu einer musikalischen Reise, die sehr<br />

viel Interessantes und Neues entdecken lässt. Einfach<br />

Fahrkarte lösen, noch mal tief Luft holen, fallen<br />

lassen und eintauchen!<br />

Jochen Wörsinger<br />

motivesounds.<strong>com</strong><br />

Ox - Dust Bowl Revival<br />

(arcticrodeorecordings/AL!VE)<br />

Heyhey, wieder Arcticrodeorecordings!<br />

Die ersten Töne von<br />

dem Kollektiv Ox und gleich ein Zuhausewohlfühlen.<br />

Countryesk does nunmal fu**in' rule! Ältere<br />

Calexico. OP8. Mazzy Star. Iron&Wine. My Morning<br />

Jacket. Mehr Namen gefällig? Irgendwo dazwischen,<br />

ganz vorne mit dabei! Teilweise ziemlich<br />

traditionell. Wie die genialen Soggy Bottom<br />

Boys (you remember? Das unwiderstehliche Stück<br />

bei O Brother, Where Art Thou?) und vor allem auch<br />

jenes coole „Örrr“ - slangbedingt - ist vorhanden.<br />

Alternative Country at its best. Americana. LoFi.<br />

Whatever. Passt alles. Hier gilt ein Auf und Ab auf<br />

und ab der Gefühlsskala. Ruhigere Stücke vertreiben<br />

treibende Songs. Treibende Songs lassen sich<br />

ruhigere Töne durch den Kopf gehen. Und natürlich<br />

sind Ox auch offen für allerlei anderes Instrumentarium.<br />

Auch hier Piano, Steel, Viola undundund.<br />

Geht ja auch nicht anders. Für mich ein wunderschönes<br />

und warmes Album. Dazu ein Glas<br />

Wein oder von mir aus auch 'n Whiskey, und das<br />

Schicksal im Lehnstuhl ist für erst mal besänftigt.<br />

Es zieht sich den Hut zurecht, fixiert mich mit einem<br />

Zwinkern durch weise ältere Augen, sieht zufrieden<br />

in das eben von mir eingeschenkte Glas<br />

edlen Rachenputzer, und tönt unter seinem weißem<br />

Schnauzer - jener muss schon viele Schimpfwörter<br />

umrandet haben - hervor: „Siehste. Geht<br />

doch.“ Morgens von der Sonne wachgeküsst werden,<br />

in den warmen Tag blinzeln, barfuss über kühles<br />

Parkett Richtung helle großzügige Wohnküche,<br />

den Kaffee aufsetzen, sich am Tisch niederlassen<br />

und erst mal eine Kippe. Und im Hintergrund läuft<br />

sich Ox warm für den Vordergrund. Mit „Carolinah“<br />

und allem, was da noch so folgt. Wie z.B. gleich<br />

darauf „weaving“. Der erste Kaffeeschluck lässt<br />

aufblühen. Hinreißend.<br />

Matthias Horn<br />

Oxmusic.ws<br />

Arcticrodeorecordings.<strong>com</strong><br />

POLARKREIS 18 - S/T<br />

(Motor/Edel)<br />

Es ist die Ausnahme, dass ein<br />

New<strong>com</strong>er wie Polarkreis 18<br />

schon jetzt so viel richtig macht.<br />

Dass ein Debüt so überwältigend schön und einzigartig<br />

gerät wie dieser entrückte, mystische Ort.<br />

Der unendliche Weiten ausstrahlt, unberührte, in<br />

gleißend hellweißes Licht getauchte Winterlandschaften,<br />

wie sie es nur im Kopf(-kino) geben kann.<br />

Ein klirrend kalter Wind bläst über diese Eiswüste,<br />

die jegliche Form von Vegetation umhüllt wie ein<br />

frostiger Schutzmantel. Als Soundtrack dazu spielen<br />

Polarkreis 18 ihre Version schlafwandlerischer<br />

Popmusik für Tagträumer, mit tanzbaren Beats,<br />

klassischen Symphonie-Streichern und flächigen<br />

Synthies. Doch ist es vor allem der unnachahmliche<br />

Gesang Felix Räubers, der diese Platte in einem<br />

anderen Licht dastehen lässt - diese androgyne<br />

Kopfstimme, dieses himmelsstürmende Falsett<br />

voll überschäumender, exaltierter Emotion.<br />

Sein Organ entführt uns in eine andere Welt, deren<br />

Tor mit einem Rausch in hellen Farbtönen geöffnet<br />

wird: Hyperventilierend tänzelt der „Dreamdancer“,<br />

als wäre er von Sinnen. Zur Erholung wird<br />

in den sanften Gleitflug geschaltet, gemächlich<br />

schwebt man erhaben in ungeahnten Sphären,<br />

dem Wolkenbett so nah, allem irdischen so fern.<br />

Im intensiven „Look“ pulsieren flirrende Elektro-Beats<br />

wie ein rasender Herzschlag, während sich<br />

Räuber hysterisch in ungeahnte Höhen schraubt.<br />

„Stellaris“ lebt vom stets präsenten, aber nie aufdringlichen<br />

Streichorchester, „Somedays Sundays“<br />

vom überraschenden Jazzbass. Eine surreale<br />

Traumskizze wird abrupt durch den Verzerrer<br />

gejagt und mutiert zum rhythmusbetont pumpenden<br />

Drum'n'Bass-Entwurf, plötzlich marschiert ein<br />

vielstimmiger Männerchor im Gleichschritt ins<br />

Rampenlicht. All das gilt es zu entdecken. Jetzt.<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

polarkreis18.de<br />

UNSANE - VISQUEEN<br />

(Ipecac/Southern/ Soulfood)<br />

Auf dem Cover sieht man eine<br />

Leiche fein säuberlich in Plastikfolie<br />

eingepackt auf einem<br />

Feld liegen. Was vorher geschah, bleibt mysteriös.<br />

Wurde sie plattgewalzt von der unsaneschen Noiserock-Dampfwalze?<br />

Nur der Soundtrack zur mörderischen<br />

Tat ist bekannt: Auf dem mittlerweile<br />

sechsten Unsane-Album „Visqueen“ fegt ein tonaler<br />

Orkan über einen hinweg, der ein solches Feld<br />

innerhalb von Sekunden umpflügen kann. Unsane<br />

hatten schon immer ein Faible für gewalttätige Cover-Artworks<br />

und auch „Visqueen“ ist pure Gewalt:<br />

Der Bass ist heavy as fuck, die Gitarre wird gewetzt<br />

wie ein übergroßes Küchenmesser und jeder<br />

Schlag auf die Drumfelle ist auch einer in die Magengrube.<br />

Dabei fungiert der Opener „Against The<br />

Grain“ noch als geschicktes Täuschungsmanöver,<br />

denn selten hörte man bei dieser Band derart melodische<br />

Gitarren, eingängiges Liedgut gar. Das<br />

geht dieses Mal seltener rasant auf die Zwölf, sondern<br />

entwickelt meist einen schwer schleppenden<br />

Kopfnicker-Groove, ist aber in jedem Fall immer<br />

eins: unbarmherzig und brutal. Der Mördergroove<br />

von „Last Man Standing“ erinnert an Helmet in ihrer<br />

„Meantime“-Bestform, im Gegensatz zu alten<br />

Weggefährten wie eben Page Hamilton haben Unsane<br />

aber über die Jahre nicht an kompromissloser<br />

Härte eingebüßt. Selbstredend wird die berühmt-berüchtigte<br />

Wall Of Sound von ihren Mitbegründern<br />

in selten erreichter Perfektion aufgefahren:<br />

Tight wie eh und je, dreckig, böse und lauter<br />

als laut hämmern, lärmen, dröhnen und kratzen die<br />

Instrumente, immer wieder kurz unterbrochen von<br />

abgefahrenen Soli von Meister Chris Spence, dessen<br />

fatalistisch aggressives, schmerzverzerrtes<br />

Gebrüll zur verstörenden Intensität nur weiter beiträgt.<br />

Und als man ohnehin schon völlig abgekämpft<br />

zu Boden geht, gibt einem der abschließende<br />

Neunminüter „East Broadway“ als Abfahrt<br />

in die dissonante Störgeräusch-Liga endgültig den<br />

Rest. Im nächsten Jahr feiert das Powerhouse-Trio<br />

aus New York City sein 20-jähriges Bestehen,<br />

Grund zur Gratulation besteht allerdings schon<br />

jetzt: Unsane verteidigen ihre Vormachtstellung<br />

eindrucksvoll und sind auf diesem Sektor noch immer<br />

die unangefochtene Nummer eins. Schön<br />

auch, dass sich mit den ungekrönten Königen des<br />

Noiserock-Genres und dem seit jeher für extreme<br />

Sounds bekannten Ipecac-Label ein perfektes<br />

Paar gefunden hat. Von dem wünschen wir uns<br />

schon jetzt weiteren Nachwuchs.<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

theunsane.<strong>com</strong><br />

SHINING - GRINDSTONE<br />

(Rune Grammofon/Cargo)<br />

Kaum ist Prog wieder en vogue, tauchen auch<br />

schon die musikalischen Halbirren aus dem Sumpf<br />

auf. Meshuggah meets Jethro Tull? Progjazz im<br />

Acidwirbel? Mars Volta auf Elektrotrip? Neue Musik<br />

meets Weltraumsoundtrack? Captain Future dirigiert<br />

ein Orchester? Jazz Version 3.0? Surrealistischer<br />

Hoppy Kamiyama? Zappa im digitalen<br />

Avantgardegewand? Hilflose Assoziationsketten<br />

um diesen unglaublichen Hybrid an faszinierender<br />

Musik. Und wer jetzt noch nicht aufgehört hat zu<br />

lesen, der wird diesen famos-genialen Bastard lieben,<br />

der von durchgeknallten, aber äußerst versierten<br />

Musikern geschaffen wurde. Auch wenn<br />

hier Prog, neben Metal, Experimental zwischen<br />

Jazz und Bossa Nova steht, Klavier auf Elektronik<br />

trifft, Saxophon auf Tribalrhythmik, Soundtracks<br />

neben noisigen Bassläufen koexistieren müssen,<br />

schräge Avantgarde Nachbar von Synthpopmelodien<br />

ist. Auch wenn hier die Soundebenen öfter bis<br />

zum Kulminationspunk dicht geschichtet werden,


nur um sie wieder in einem einzigen Ton zusammenfallen<br />

zu lassen. Es ist das kompositorische<br />

Genie, das „Grindstone“ zusammenhält<br />

und es nie willkürlich oder gar eklektizistisch<br />

wirken lässt. Dieses Genie hört auf den<br />

Namen JØrgen Munkeby, der ein äußerst gutes<br />

Gespür für Dynamiken und Stilkonglomerate<br />

hat. Er gönnt uns nach gut der Hälfte musikgeschichtlicher<br />

Komprimierung innerhalb<br />

des Albums eine kurze Ruhepause, nur um auf<br />

der anfänglichen Stille Stück für Stück und<br />

Schicht für Schicht einen dichten, fast noisigen<br />

Soundtrack aufzubauen. Unglaublich geniale<br />

Musik, die sprachlos macht.<br />

Christian Eder<br />

shining.no<br />

SCRAPS OF TAPE<br />

THIS IS A COPY IS THIS<br />

A COPY<br />

(Tender Version/ Hausmusik)<br />

Meine Güte, ist das gut. Hatte gerade die neue<br />

Logh gehört und höchstens ein wenig die alten<br />

Widerhaken und Ausbrüche vermisst. Und<br />

jetzt das. Songs, die scheinbar ziellos um sich<br />

selbst perlen, und dann werden wir aus unserem<br />

lethargisch besänftigten Mitwippen gerissen,<br />

wenn wir eben nicht mehr damit rechnen.<br />

Oder auch nicht. Es passiert das Unerwartete,<br />

die Musik ist im stetigen Fluss, nie berechenbar,<br />

immer wieder entdecke ich neue kleine<br />

Überraschungen. Längst nicht alles mag da<br />

folgerichtig sein, und ab und zu landet ein<br />

Song auch mal in einer Sackgasse. Um sich<br />

dann frech grinsend zu mir hin zu<br />

drehen und mich mit lustvollem<br />

Lärm doch noch zu überrollen.<br />

Oder auch nicht. Die Lust an der<br />

musikalischen Freiheit ist diesen<br />

Schweden ein offensichtlicher<br />

Selbstzweck und dadurch sind<br />

sie an Bands wie Godspeed You<br />

Black Emperor oder den Liars näher<br />

dran als an Bands des Indiepopgenres,<br />

die sich stets bereitwillig<br />

an die ungeschriebenen<br />

Gesetze des Songwritings halten.<br />

Pure Ironie, soviel Originalität<br />

auf einer Platte auch noch<br />

„This Is A Copy Is This A Copy“<br />

zu nennen. Ach ja, das sind fast<br />

Instrumentals. Der Gesang ist<br />

nur eine spärlich eingesetzte<br />

Klangfarbe. Aber wenn, dann<br />

lohnt die Beschäftigung mit tollen,<br />

lakonischen Lyrics.<br />

Dann wieder leise, aber kraftvoll<br />

kontrastierende Disharmonien,<br />

Instrumente übereinander geschichtet,<br />

Instrument für Instrument,<br />

jedoch nicht grundsätzlich<br />

final zur lauten Apotheose getürmt,<br />

sondern auch mal lustvoll<br />

sich verlaufend frei variiert. Wer<br />

macht so was, macht diese<br />

enorme innere Freiheit derart<br />

hörbar, ohne sie je eitel zur Schau<br />

zu stellen? Zum poppolitischen<br />

Statement zu<br />

degradieren? In den lauten Entladungen,<br />

aber auch in der<br />

Grundstruktur einiger Songs<br />

Mono aus Japan als Anhaltspunkt.<br />

Bei aller Lust am laufenden Experiment:<br />

It`s still only the song.<br />

Sie klingen jung, suchend, dabei<br />

sehr viel ahnend. Sie sind jung.<br />

Pendeln zwischen großen elegischen<br />

Bay-Area-Türmen und<br />

Free-Jazz-Indie-Pop-Gefrickel.<br />

Kennen weder Limits, noch Tabus.<br />

Klingen wie der anarchistische<br />

kleine Bruder von Logh. Ich<br />

freu mich, diese Band weiterempfehlen<br />

zu dürfen.<br />

PS: Mein Gott, die machen mich<br />

wirklich fertig. Jetzt blasen und<br />

fiepen sie auch noch rum und<br />

kommen mir im Ausklang einer<br />

angejazzten Freecore-Attacke<br />

kammermusikalisch orientalisch.<br />

Und dann wieder implodieren sie<br />

in leiser Wehmut. Was um alles<br />

in der Welt werden uns diese jungen<br />

schwedischen Genies erst<br />

mal dann einschenken, wenn sie<br />

wissen, was sie tun?<br />

Andrasch Neunert<br />

scrapsoftape.<strong>com</strong><br />

KURZ & KNAPP mit Patrick Agis-Garcin THE DOPE - TIME TO. EP<br />

(Pretty Pink): Schon im zarten Alter<br />

von 13 Jahren fanden sich Gitarrist/Sänger Rudi und Drummer Klaus in einem niederbayerischen Gymnasium<br />

zum Duo The Dope zusammen. Drei Jahre später hat man sich vom pubertären Punkrock der Anfänge<br />

emanzipiert: In der Minimalbesetzung aus Gitarre & Drums bemüht man sich um Abwechslung und pendelt zwischen<br />

neugewonnener Indierock-Attitüde, wütender Teenage Angst und alter Punk-Leichtigkeit. Nett, aber noch<br />

nicht wirklich ausgereift. Aber das kann ja noch werden, schließlich sind The Dope noch jung, sehr jung sogar.<br />

Und dafür schon jetzt durchaus talentierte Songwriter. Dranbleiben! (6) V/A - 8 YEARS OF 12 PYLONS RE-<br />

CORDS (12 Pylons): Seit acht Jahren steht das Winz-Label und über die gesamte Landkarte der Nation verstreute<br />

Freunde-Kollektiv 12 Pylons nun schon für zumeist roh tönenden, komplexen Sound im Spannungsfeld<br />

von brachialem Noise- und kaputtem Indie-Rock. Zeit und Anlass für einen Querschnitt des sowohl aktuellen als<br />

auch die letzten vier Jahre umfassenden Geschehens. Der erfolgt hier über 16 Tracks, sowohl mit bereits veröffentlichtem<br />

als auch exklusivem Material. Sicherlich nicht essentiell, aber Highlights wie der Party-Postrock von<br />

Am Yeto oder die entspannten, unerwartet poppigen Beiträge von Laszlo Juri oder Useless Wooden Toys lassen<br />

das Fazit „entdeckenswert“ allemal zu. (8) TARENTATEC - BARACKE 5 EP (12 Pylons): Und noch einmal 12<br />

Pylons: Die „Baracke 5“-EP zeigt die Thüringer Tarentatec beim Siebenkampf live aus dem Proberaum. Und so<br />

klingt's dann auch: wie eine Freistil-Übung mit interdisziplinärem Schwerpunkt. Zwischen (gerne auch mal instrumentaler)<br />

krachiger Noise-Vertracktheit, minutenlang regungslosen Ambient-Passagen, Gitarrensoli aus dem<br />

Classic Rock-Katalog und räudiger Punk-Rasanz mit Anti-Gesang ist alles drin. Ebenso vielfältig fällt allerdings<br />

auch das Ergebnis aus: Zwischen dem herausragenden, dynamischen Opener und einem zwar enorm wuchtigen,<br />

letztlich aber richtungslosen Ausbruch wie „The Queen“ herrscht ein großer Graben. Da wünscht man sich<br />

fürs nächste Mal einen eindeutigeren Fokus. (7) FRANKY LEE - CUTTING EDGE (Burning Heart/SPV): Nach<br />

den folkigen Singer/Songwriter-Soloausflügen von Millencollin-Frontmann Nikola Sarcevic tobt sich nun auch deren<br />

Gitarrist Mathias Färm auf einem Nebenschauplatz aus. Dem Vernehmen nach aus einer Trinklaune heraus<br />

gründete er mit dem Drummer von Randy und dem ehemaligen Gitarristen der Peepshows eine kleine schwedische<br />

Allstar-Group, bleibt aber dem Sound seiner Hauptband im Großen und Ganzen treu. „Cutting Edge“ ist<br />

oft schneller, stets eingängiger Punkrock mit Punch; melodieselig, aber nicht zu glatt. Ein Projekt, das Spaß<br />

macht, aber kein Spaßprojekt. Natürlich wird hier nicht auch nur der geringste Aufwand betrieben, um sich von<br />

längst gesetzten Genre-Standards abzusetzen, aber weil hier dennoch mit genug frischer Power und stellenweise<br />

gar euphorisch gezockt wird: ein netter Zeitvertreib. (8) NERVOUS CABARET - S/T (Naive/Indigo): Ein<br />

schauerhaftes Kammerspiel vom jämmerlich gescheiterten Künstler, ganz ohne Publikum. Ein düsteres Bild ist<br />

es, das vom Sextett Nervous Cabaret aus Brooklyn gezeichnet wird - keine göttliche Komödie, sondern ein Trauerspiel<br />

mit Pauken und Trompeten, das auf Dauer schwer zu ertragen bleibt. Eine große Mitschuld daran trägt<br />

die an den Nerven zehrende, heisere Stimme von Sänger Elyas Khan, der wie ein Hund zum obskur-verqueren<br />

Indie-Theater-Entwurf seiner Backingband leidet. Die Mischung aus geballtem Seelenschmerz-Blues und Big-<br />

Band-Sound hat tatsächlich etwas kabarett-haftes an sich. Nun ersetze man das“nervous“ im Bandnamen noch<br />

durch „nervig“ und man kommt der Sache schon ziemlich nah. Da helfen auch gleich zwei Drummer nicht. (3)<br />

<strong>reViews</strong><br />

49


50<br />

Anna Ternheim<br />

Von Fledermausflügeln davongetragene P0esie<br />

Anna Ternheim -Hmmm, wie zu erklären? Sie ist aus Schweden. Hat gerade ihre neue<br />

Platte „Separation Road“ veröffentlicht. Und trifft einfach. Mitten ins Herz durch den<br />

Kopf durch den Gehörgang -mit verstörenden Lyriks über die Liebe, sich finden, verlieren,<br />

für einen Tag, eine Nacht, das ganze Leben. Hinreißende Songs. Einst folkiger und<br />

reduzierter unterwegs (auf ihrer letzten Platte „Somebody outside“ von 2004), jetzt orchestraler,<br />

pompöser, soundtrack'esker. Sie ist Pop. Indie-Pop. Singer/Songwriter-Pop. Folk-<br />

Pop. Großer Pop eben. Mit unglaublich klarer Stimme und Poesie in ihren Geschichten.<br />

Nah dran an uns allen. Der Soundtrack zum Leben. Vorhang auf.<br />

Wir befinden uns in der schönen Daimlerstadt Schorndorf<br />

bei Stuttgart, in unserem Lieblingsclub „Manufaktur“, meist<br />

fünfte und letzte Station hochkarätiger Bands auf ihrer<br />

Deutschlandtour - nach Hamburg, München, Köln, Berlin.<br />

Namen gefällig? Yo La Tengo, Low, Kings of Convenience,<br />

G!YBE, Feist, Mogwai, I am Kloot, Soulwax….im April<br />

gastieren die Melvins und Built to Spill schaut auch mal<br />

eben vorbei. Und heute Abend die von uns herbeigesehnte<br />

Anna Ternheim. Wir treffen sie im Hinterhof neben einem<br />

riesigen Ungetüm von Tourbus und machen es uns auf<br />

einer Gittertreppe bequem; drinnen werden geschäftige<br />

Vorkehrungen zum Soundcheck<br />

getroffen, draußen begrüßen<br />

die Vögel zwitschernd den<br />

Frühling. Wir bitten<br />

Anna, sich so uns vorzustellen,<br />

als ob wir uns<br />

eben zufällig ohne Vorwissen<br />

getroffen hätten.<br />

A: „My name is Anna, and I'm<br />

just as old as I look, 28 years. I'm<br />

a fanatic when it <strong>com</strong>es to my work,<br />

right now I think my life is not that interesting,<br />

I play a lot of music, basically the<br />

whole time, I'm on tour, for 2 weeks in Germany,<br />

the future is like a white sheet of paper,<br />

what else should I say?“<br />

nN: White sheet of paper?<br />

A: Ja... ich arbeite jetzt sehr viel, werde<br />

im Sommer viel spielen und vermutlich<br />

in Schweden auf Festivals auftreten,<br />

hoffentlich auch auf einigen in<br />

Deutschland, aber danach -<br />

... ich weiß es noch nicht haargenau,<br />

aber sicherlich werde ich an etwas<br />

arbeiten...<br />

nN: ...z.B. am 3. Album...?<br />

A: (lacht) Ja, genau, aber ich weiß noch nicht wo, möglicherweise<br />

gehe ich woanders hin, einfach um aus einem anderen Fenster herauszuschauen,<br />

ich fühle mich sehr inspiriert weiterzugehen. Dieses<br />

Album war wirklich sehr schwierig in seiner Entstehung, ich musste<br />

hart arbeiten, jedoch standen gefühlsmäßig viel mehr Türen offen als<br />

bei der letzten Platte, bei der habe ich mich sehr eingepfercht gefühlt.<br />

Sie wurde zu einer Art Baby, das man 10 Jahre lang umsorgt hat und<br />

dann verlässt man es, damit die<br />

Welt es sehen kann.


Man erkennt, dass man niemals etwas Vergleichbares wieder<br />

tun kann und dann muss man neue Sachen finden; was Spaß<br />

macht! Aber es ist immer etwas komplett anderes, bei meinem<br />

neuen Album ist das genau so. Es findet sein eigenes Leben<br />

und versucht nicht, irgendetwas zu wiederholen - ich wollte<br />

das auch auf jeden Fall anders machen.<br />

nN: Was sind die größten Veränderungen<br />

zur alten Platte?<br />

A: Vor allem eben gerade nicht<br />

zurück zu der alten Bar (dort<br />

wurde die erste Platte aufgenommen<br />

- Anm. d. Verf. ) und versuchen, dieselben Stimmungen<br />

und Atmosphäre aufzugreifen. Im Gegenteil: ich war in<br />

sehr guten Studios, habe mit anderen Musikern zusammen<br />

gearbeitet und immer eine genaue Vorstellung davon, was ich<br />

machen wollte.<br />

Das Album wurde größer, manchmal „more popy“, gleichzeitig<br />

aber sehr nackt und bloß. Ich musste nicht diese Richtung<br />

einschlagen, aber ich wollte es! Vielleicht gehe ich demnächst<br />

wieder zurück zu etwas Akustischem oder ich finde eine Art<br />

Mischung aus beiden Alben... vielleicht aber auch etwas völlig<br />

anderes. Bei dieser Platte hatte ich alles um mich herum verändert,<br />

das war etwas ganz Neues für mich, ähnlich wie neue<br />

Songs zu schreiben, alleine der Fakt, 4 Jahre älter zu sein. Die<br />

Stimme ist ein klein bisschen tiefer (lacht) wirklich, es fühlt sich<br />

für mich wie ein sehr großer Schritt an, ich weiß nicht, ob das<br />

jeder hören kann.<br />

„...sometimes you’re lucky /<br />

sometimes you’re not...“<br />

Anna Ternheim 51<br />

nN: Die Platte ist ein wenig düsterer...<br />

A: Ja, vielleicht, nicht mehr so naiv und vielleicht auch nicht<br />

mehr so „girl-like“, ich denke, man kann dieses Mal hören, dass<br />

ich vorher genaue Vorstellungen davon hatte, wie alles werden<br />

sollte. Ich hab es gemacht. Entweder man mag es oder eben<br />

nicht. Gerade kann ich aber die Songs nicht mehr hören, bin<br />

ihnen ein bisschen überdrüssig...(lacht über sich selber).<br />

nN: Ist es dann schwer für dich, diese jeden<br />

Abend zu singen?<br />

A: Nein, überhaupt nicht! (sehr begeistert und nachhaltig)<br />

Denn das ist was total anderes! Schreiben ist<br />

die eine Sache, Aufnehmen eine andere... und Performen ist<br />

dann die dritte Art, Musik zu erleben! Ich liebe es rauszugehen<br />

und aufzutreten, denn es ist so direkt und hat soviel mit der<br />

Band zu tun; alles klingt so anderes als auf Platte. Diese nehmen<br />

wir als eine Art Start-Plattform, von der wir dann ausgehen.<br />

Auftreten ist eine explosive Energie, ich mag das Publikum da<br />

draußen, beim Auftreten kann man kleine neue Dinge entdecken,<br />

andere Menschen, andere Länder, einfach alles ist unterschiedlich.<br />

Nach ein paar Wochen braucht man aber eine Auszeit,<br />

um sich anderen kreativen Dingen zu widmen.<br />

nN: Hast Du eine bestimmte Mission?<br />

A: In Kontakt kommen mit den Menschen da draußen. Sie<br />

bewegen! Wenn man nur in emotionslose fahlglatte Gesichter<br />

schauen würde, dazu ohne Inspiration spielen...?<br />

Ich meine, man nimmt einen so langen Weg auf sich, man fährt


52<br />

Anna Ternheim<br />

viele Stunden irgendwo hin, man plant das ganze über Wochen<br />

und Monate hinweg, die Crew arbeiten einen halben Tag hinter<br />

der Bühne und dann hat man 1 ½ Stunden auf der Bühne... Da<br />

muss dass dann einfach gut werden! Und das ist der springende<br />

Punkt. Das ist der Höhepunkt vom Tag!<br />

Und beim Tourleben geht es aber unter anderem auch darum,<br />

Stunden verstreichen zu lassen, denn man hat sehr viel Zeit.<br />

Für einige Leute ist es der blanke Horror, denn wenn man nichts<br />

zu tun hat, kann man müder und müder werden, sehr destruktiv<br />

für manche...Ich denke aber, ich habe für mich einen Rhythmus<br />

gefunden: ich bin hier heute herumgeschlendert, habe die Kühe<br />

gerochen (alle lachen), ein nettes Omelett heut in der Stadt<br />

gegessen (von glücklichen Hühnern - Anm. d. Verf.), in Berlin<br />

hatten wir z.B. einen fetten dekadenten Sonntagsbrunch, sind<br />

nur relaxt in der Sonne herumgesessen... es ist manchmal so<br />

wie auf einem Schulausflug! Wir sind 14 Jahre alt, weit weg von<br />

Zuhause und man muss sich für nichts verantwortlich fühlen...<br />

ich kann Leute verstehen, die ihr ganzes Leben auf Tour sind,<br />

weil es eine ganz spezielle Art zu leben ist.<br />

nN: Du musst auf Tour also nichts arbeiten oder managen?<br />

Du kannst dich ganz neuen Songs widmen?<br />

A: Nein, überhaupt nicht, wir leben<br />

gerade so eng zusammen... da<br />

kann ich keine Songs schreiben.<br />

Ich bin niemand, der 360 Tage im<br />

Jahr auf Tour sein kann, das<br />

würde ich nicht aushalten. Wobei ich<br />

das Auftreten mag. Für eine Weile ist<br />

Touren gut, aber dann... Irgendwann<br />

ist die Energie aufgebraucht. Auf der<br />

einen Seite verlängern viele Ortwechsel<br />

und Veränderungen das<br />

Leben irgendwie. Wenn man 10<br />

Jahre am selben Fleck wohnt, geht<br />

alles irgendwie ineinander über.<br />

Wenn man z.B. einfach mal sein<br />

Bett woanders hinstellt, kann man<br />

die Zeit etwas verlangsamen, vielleicht<br />

lieg ich auch falsch (lacht).<br />

Songwriting<br />

Halfwway to fivepointss<br />

How to get to fivepoints<br />

Make the wrong turn you know<br />

If you're thinking of going<br />

Think no more<br />

Who's taking you down there<br />

What's his name<br />

Let me know<br />

The price he offers<br />

Round the corner of love<br />

Halfway to fivepoints<br />

Is as far as you <strong>com</strong>e<br />

Halfway with high hopes<br />

Of love<br />

(...)<br />

(...) who could possibly save / Save us from<br />

madness / Love is the <strong>com</strong>mon name / Again, we<br />

depend / On the one to blame (...)<br />

nN: Was ist zuerst da? Musik oder Text?<br />

A: Ziemlich oft zuerst die Musik mit ein paar wenigen Worten<br />

und dann ein Gefühl oder eine Idee, irgendwo versteckt. Ich<br />

liebe Melodien und Musik, ich habe Millionen von Ideen, könnte<br />

den ganzen Tag dasitzen und einfach nur spielen, ohne zu<br />

wissen, was ich sagen möchte. Aber wenn es dann zum Songwriting<br />

kommt, sind die Wörter meist ziemlich schnell da, ebenso<br />

die Melodie dazu. Aber es gibt keine konkrete Methode oder<br />

Regel... jedes Mal anders.<br />

nN: Welche Rolle spielt die Band?<br />

A: Es waren schon immer meine Songs, ich schreibe sie und<br />

präsentiere sie dann der Band. Aber das bedeutet nicht, dass<br />

sie nicht wichtig für mich wäre...<br />

Kerstin's Lieblingsstück von Anna Ternheim<br />

nN: ...Du bist kein Diktator...<br />

A: Doch genau, das bin ich! Und<br />

das ist vielleicht ein Problem für<br />

mich, denn ich bin kein Bandmitglied,<br />

bin es auch nie gewesen und<br />

wenn ich es doch mal gewesen bin,<br />

wurde es zum Problem, denn ich<br />

bin der Diktator...<br />

nN: ...Du bist der Bandleader.<br />

A: Genau! Eine Band ist eine besondere<br />

Art von Chemie; wenn jeder<br />

seine Rolle findet, ist es das allerschönste<br />

auf der Welt. Ich bin sehr<br />

abhängig von meinen Musikern,<br />

denn wenn ich mit den falschen Leuten<br />

spiele, die die falschen Sachen<br />

mit einbringen, wäre das ein Desaster.


Mentor<br />

nN: Hast du einen Mentor, der dich weiterbringt?<br />

A: Mein Produzent Andreas Dahlbäck, der heute Abend Schlagzeug<br />

spielen wird. Das passt einfach mit ihm auf eine ganz besondere<br />

Weise. Wir pushen uns gegenseitig, ein wenig weiter zu<br />

gehen: niemand weiß, wie lange so etwas funktioniert oder was<br />

dabei herauskommt. Vielleicht wird er mein neues Album gar nicht<br />

produzieren... aber ich hoffe wirklich, dass es jemand sein wird, den<br />

man einfach anrufen kann, wenn man ihn braucht. Komplett isoliert<br />

zu sein, das kann nicht gut sein.<br />

Anna Ternheim 53<br />

Das große Ding an dieser Produktion war eigentlich nicht die<br />

Produktion selber, sonder viel mehr die Musiker. Das letzte<br />

Album war komplett anders, mehr „Indie“, wir haben in dieser<br />

alten Bar aufgenommen ohne ein fettes Label im Rücken,<br />

aber unsere eigenen Sachen reingestellt, soviel Zeit investiert,<br />

es war eigentlich eine Riesen-Produktion!<br />

Dieses Mal wurde einfach nur gespielt, die Musiker haben<br />

ihre Melodien eingebracht, es ging alles viel schneller. Ich<br />

mag beide Arten! Die langsame und die schnelle.<br />

Coversongs<br />

nN: Wie findest du deine Coversongs, oder finden sie<br />

dich?<br />

A: Ich finde die Songs und anschließend finde ich eine Art,<br />

sie zu spielen. Es gibt ein Haufen guter Stücken, die ich niemals<br />

machen könnte, die einfach schon komplett magic sind<br />

wie z.B. der „Hallelujah Song“ von Jeff Buckley, oh wow! Es<br />

hat mit „shoreline“ angefangen (auf dem 1. Album - Anm. d.<br />

Verf.) , ich habe schon immer Broder Daniel gemocht und bin<br />

von seiner Art, wie er mit Melodie und Texten umgeht, sehr<br />

angetan. Die Songs auf der Cover EP sind allesamt große<br />

80er Jahre Produktionen, wirklich gute Popsong, Songs, mit<br />

denen ich arbeiten wollte. Ich liebe es, sie sehr einfach zu<br />

halten. Wenn man keine eigenen Idee zu einem Coversong<br />

hat, macht das keinen Sinn.<br />

Anna findet es sehr spannend, wie z.B. auch beim Cover<br />

„China girl“ ein von einem Mann gespieltes Stück aus der<br />

Sicht einer Frau zu singen, was dem ganzen eine ganz neue<br />

Bedeutungsebene hinzufügt. Gleichzeitig betont sie auch,<br />

dass sie es jedem offen halten möchte ihre Songs zu<br />

deuten, damit sich jeder seine eigenen Geschichten<br />

dazu interpretieren kann.<br />

Artikulation<br />

nN: Was mich bei deinem Gesang sehr<br />

angezogen hat, war die Tatsache,<br />

dass du jeden Laut, jede Silbe so<br />

deutlich bringst.<br />

A: Meinst du meinen Akzent?<br />

nN: Nein, du sprichst sehr klar und direkt.<br />

A: Ich glaube, wir Schweden sprechen alles<br />

sehr deutlich aus. Ich bin eigentlich kein<br />

Sänger, ich singe einfach. Es gibt Sänger<br />

wie Mariah Carey, die packen all diese<br />

Sachen rein (macht Schnörkelbewegungen<br />

mit der Hand), aber ich halte es sehr klar und<br />

straight. Es funktioniert für mich; ist irgendwie<br />

mehr wie Geschichtenerzählen, ich bin mehr<br />

ein Geschichtenerzähler denn Sänger.


54<br />

Artwork<br />

Anna Ternheim<br />

nN: Erzähl uns was zu deinem Artwork.<br />

A: Unser Studio war sehr nahe am abgebildeten Ort. Das Bild<br />

kann eigentlich gar nicht die Landschaft zeigen, wie sie wirklich<br />

ist, es ist unglaublich riesig<br />

dort! Das lässt sich mit<br />

nichts vergleichen, das ich<br />

kenne. Deswegen kommt<br />

das alles ein wenig surreal<br />

rüber, es könnte die<br />

Zukunft und die Vergangenheit<br />

sein. Diese Jungen,<br />

die Jungen-Armee<br />

schaut auch furchterregend<br />

aus. Sie ist beides:<br />

unschuldig und gefährlich.<br />

nN: Ich muss da an David<br />

Lynch denken...die Atmosphäre.<br />

A: Ich liebe seine Filme, sie können genau so eine Atmosphäre<br />

an sich haben. Was macht sie aus? Die Bilder? Die Musik?<br />

...Schwer herauszufinden, was es ist. Und schwierig, genau dort<br />

hin zu kommen. Es ist zumindest aufregend, sich darauf einzulassen.<br />

Jeder kann sich was dazu ausdenken.<br />

nN: ...Eine Spezialität in Schweden?<br />

A: Ich denke der Rollenunterschied zwischen Mann und<br />

Frau besteht in Schweden kaum mehr, je weiter man<br />

aber in Europa nach Süden kommt, desto größer wird er.<br />

Was folgt, ist ein aufregendes Gespräch zwischen Frauen:<br />

über Gesellschaftssysteme, Kinder, Beruf, Rollen,<br />

Unterschiede.<br />

nN: Jetzt zum Schluss: Dein Motto oder eine Weisheit<br />

an unsere Leser!<br />

A: „No, maybe in 20 years, I made mistakes all the<br />

time… maybe, „don't be too hard to yourself.“?<br />

Zum Schluss gibt es 5 kleine Schokohäschen für Anna<br />

und Band, wir bedanken uns für das nette Gespräch und<br />

freuen uns auf die Show, die wie erwartet voll und vor<br />

allem wundervoll<br />

war! In einigen<br />

Publikationen<br />

konnte man etwas<br />

von einem „Nonnenkostüm“,<br />

in das<br />

Frau Ternheim auf<br />

der Bühne angeblich<br />

gehüllt war, lesen.<br />

Mitnichten! Der<br />

Kapuzenumhang,<br />

den Anna während<br />

ihrer Show trug,<br />

war eher eine Anspielung<br />

auf das<br />

Matthias' Lieblingsstück von Anna Ternheim<br />

Feeellss lliikee ssaannd<br />

I know you have no place left to go<br />

I'm your last escape<br />

So I've been told<br />

You get paranoid<br />

Drinking on your own<br />

I've been replaced by you before<br />

I'm just another corpse along your road<br />

No regretful eyes<br />

Can win my sympathy this time<br />

Halo, halo<br />

Above your head today<br />

Saying you're a changed man now<br />

(...)<br />

dunkle Genre der alten Grusel- und Horrorklassiker, der ihrer<br />

Leidenschaft hierzu programmatisch Rechnung trägt. Vielleicht<br />

waren jene Schreiberlinge besagter Zeitungen enttäuscht<br />

gewesen ob dem Mangel an brachialem Männerklischee bedienendem<br />

Sexappeal auf der Bühne... Vielleicht aber auch nicht.<br />

Eines steht für uns jedenfalls fest: Ihre Musik wirkt! Und ist ohne<br />

tiefen Ausschnitt sehr sehr sexy!<br />

Text/Fotos<br />

Kerstin Wahl und Matthias Horn<br />

annaternheim.de


JOHNOSSI -s/t<br />

(V2 Music Scandinavia)<br />

War ich doch letztens aufm Mando Diao Konzert, nä?<br />

War ganz schön voll. Und wie standen wir da noch im Vorraum<br />

rum, tranken Bier, schäkerten und beobachteten die<br />

ganzen vielen jungen hübschen Menschen. Wobei, auch<br />

ich war ja mit ein paar jungen hinreißenden Menschen vor<br />

Ort. Nehmen wir z.B. Uwe, meinen Mitbewohner: Knapp 18<br />

Lenze und denkt, er sei'n ganz großer... Auf jeden Fall<br />

ertönte plötzlich ein Grummeln aus dem Inneren des Veranstaltungsortes<br />

und es kam Bewegung in die junge große<br />

(Einheits-)Masse. Die Vorbands mussten begonnen haben,<br />

die Spiele waren eröffnet. Das Grummeln stieb zu einem<br />

Grollen heran und dann war da ein Mann mit einer Gitarre,<br />

der nach einem kurzen ruhigen Part und unglaublich genialem<br />

Gesang seiner Band für ein fettes Rockgewitter Platz<br />

machte - zumindest kam es mir so vor. Bis ich bemerkte,<br />

dass die Band nur aus zwei Menschen bestand. John und<br />

Ossi. Ganz einfach Johnossi. Unglaublich. Purer reduzierter<br />

Rock, so emotional zum besten gegeben, als würde am Tag<br />

danach die Welt untergehen. So präsent, dass es schmerzt.<br />

So vom Leben erzählend. Und sofort in einem drin. Unter<br />

dem Herzen, im Magen, im Kopf. Vor allem im Kopf. Elf<br />

Songs, 35 Minuten. Keine Zeit für unwesentliche Dinge verschwendet.<br />

Alles sagen, was gesagt werden muss. Keine<br />

Zeit verschwenden. Purismus. Reduziertheit. Wesentlich.<br />

Auf den Punkt gebracht. Und schmerzhaft. Unbedingt nachvollziehbar,<br />

textlich wie musikalisch. Johnossi kommen aus<br />

Schweden und sind das unglaublichste Duo seit den Two<br />

Gallants und den Black Keys (und weil's ja fallen muss:<br />

auch seit den White Stripes... zufrieden?). So energisch und<br />

energetisch wie auf der Bühne kommen Johnossi auch in<br />

Dein Zimmer; da wird gesäuselt, musiziert und geschrieen,<br />

als wenn es das letzte wäre, das man je machen könnte.<br />

Als würde es kein Morgen geben. Dazu ist die Platte heftig<br />

nah und präsent produziert! So retro im positiven Sinn, so<br />

emotional weit vorne, wohin das Gros der doch zahlreich<br />

vorhandenen Emo-Bands nie nie nie kommen wird. Ein<br />

unglaubliches Rock-Singer/Songwritertum voller Überraschungen.<br />

Und unglaublich muss nochmals fallen. Eine<br />

unglaubliche Platte. Meine des Jahres. Und "Press Hold" ist<br />

mein neuer Lieblingssong auf Lebenszeit.<br />

Matthias Horn<br />

Johnossi.<strong>com</strong><br />

Ride - Going Blank Again<br />

auchSchoen 55<br />

Manchmal wird man ja ganz unverhofft auf alte Lieblingsscheiben<br />

gestoßen. Eine Situation, die einen an eine alte Schlüsselszene<br />

erinnert, beim Kramen in alten Zeit- oder Tagebuchschriften,<br />

beim Gedankensortieren. Es bleibt dann oft ein Gedankensplitter<br />

der sich festsetzt, der musikalisch absolutiert werden will.<br />

Diesmal war es eine einfache, nichtsdestoweniger sehr schöne<br />

und vor allem unerwartete SMS eines alten Freundes, die mich<br />

wieder auf ein langjähriges Lieblingsalbum hingewiesen hat.<br />

"Tut echt gut diese Platte", stand an deren Ende und schon ging<br />

an einem trüben Montagvormittagscheißverregnettag die Assoziationskette<br />

los und ließ mich lächelnd im Arbeitschaos stehen.<br />

Sämtliche Erinnerungen zu dieser Platte im Sekundenszenario<br />

abgerufen. Für kurze Zeit haben wieder alle Ausblendungsmechanismen<br />

wunderbar funktioniert. "Never been so far away".<br />

Genauso wie damals am Sonnenbalkon - mann, das war wirklich<br />

1992, also vor knapp 15 Jahren - als wir zwei schweigend,<br />

fast weltentrückt nebeneinander liegend dieses Album gehört<br />

haben. Im Hintergrund "Leave Them All Behind". Verträumte<br />

Indiegitarren mit einem unglaublich vielseitigen Schlagzeugfundament<br />

und einem drückend-melodiösen Bass, die Musik trotz<br />

aller mehrstimmigen Vocalmelancholie nach vorne treibend.<br />

Immer wieder chantend "Leave Them All Behind". Ride sind in<br />

erster Linie Melodie, in zweiter Stimme. Akustik- und Distortion-<br />

Gitarre jagen sich dann gegenseitig in den Melodienhimmel und<br />

heruntergetunte Mollsounds bringen sie manchmal wieder down<br />

to earth. Orgel und Echos weben ein leicht psychedelisches<br />

Fundament. Mit Britpop hat das alles überhaupt nichts zu tun,<br />

dafür ist es zu fein. Es ist auch nicht einfach nur ein schönes<br />

Indiealbum. Diese Platte atmet und lebt so viel unglaubliche<br />

juvenile Energie, Melancholie und Kreativität. "Going Blank<br />

Again" ist immer noch ein sich fallen lassen und fortgespült werden.<br />

Die Realität ausspielen, ihr mehr als nur zwei, drei kurze<br />

Schnippchen schlagen, aber trotzdem Pläne schmieden.1992,<br />

da waren wir teils noch ganz schön naiv, irgendwie war das aber<br />

auch schön. Und manchmal kann es einem das Gemüt falten,<br />

wenn man merkt, wie begeisterungsfähig man damals war. Wie<br />

lange man sich wegträumen konnte. Einfach so am Nachmittag,<br />

in der Sonne. Womit man jetzt gelinde Probleme hat, über die<br />

man nicht so viel nachdenken möchte. Ride haben nie wieder<br />

ein annähernd so gutes Album herausgebracht. Das ist auch<br />

egal, denn dieses hier ist eines für die Ewigkeit. Auch die grandiosen<br />

Momente lassen sich nicht mehr wiederholen. Aber vielleicht<br />

können wir uns ab und an wieder etwas auf diese träumerische<br />

Naivität konzentrieren, ihr mehr Nischen bieten, mehr<br />

Leichtigkeit zulassen.<br />

Christian Eder


B Fuoco<br />

56<br />

ericht aus Feuerland<br />

nN: Flo, auf eurer Homepage fuoco-noise.<strong>com</strong> ist ein „Travelogue“<br />

- also ein Reisebericht - zu finden, der die<br />

Songs und vor allem die Songtexte auf der Platte in<br />

einen prosaischen Kontext einbettet....<br />

Flo: Ja, der Travelogue ist quasi die Geschichte zum Album, in<br />

dem die Songs und ihre Texte in einen unmittelbaren<br />

Zusammenhang gestellt werden. Die Songs hängen nicht nur<br />

akustisch aneinander, sondern ergeben auch zusammen eine<br />

Geschichte, einen Inhalt, die der Travelogue auf unserer Website<br />

erzählt. Ich denke durch diesen Bericht erhält die Platte für<br />

den Hörer einen Rundum-Zusammenhang und ist nicht nur ein<br />

Mobile aus einzelnen Fragmenten.<br />

Viele Bands separieren ihr Album in verschiedene Moment - beispielsweise<br />

bezüglich Textinhalt, musikalische<br />

Umsetzung und optische Gestaltung. Das<br />

sind dann alles in sich stimmige Fragmente,<br />

aber ich möchte mit dem<br />

Album „A Travelogue“ eine ganze,<br />

aufeinander aufbauende Geschichte<br />

erzählen, die beim<br />

ersten Song beginnt und<br />

beim Letzten endet. Ich<br />

habe über 60 Minuten Zeit<br />

so ein Album mit Inhalt zu<br />

füllen, alles reinzupacken.<br />

Eine einsame Akustikgitarrenmelodie,<br />

gepickt, gezogen, leicht<br />

mit Hall unterlegt; dann ein tiefes, bassreiches Grollen und eine Stimme, die im Nirgendwo zu schweben<br />

scheint. „Spaceship On The Back Of My Acoustic Guitar“ - das Intro von „A Travelogue“ zeigt<br />

schon an, wohin uns das zweite Album der Frankfurt/Mannheim/Wien-Connection FUOCO (dt.: Feuer)<br />

entführen will: in vernebelt-psychedelische Gefilde, angereichert mit alten Analogsynthesizern, ebensolchen<br />

Orgeln und unbedingt locker aus dem Handgelenk gespielten Gitarren. Die Band selbst nennt<br />

das Space-Vintage-Rock, der die „Klangkultur der 70er-Jahre“ neu belebt. Das würde ich auch so unterschreiben.<br />

Das wirklich tolle an „The Travelogue“ ist aber, dass wir es hier nicht nur mit einem wirklich<br />

erstklassigen Stück Musik zu tun haben - Flo Baum, Songschreiber, Produzent und Mastermind von<br />

Fuoco, hat zusammen mit seinen vier Mitstreitern vielmehr versucht, eine Art „Gesamtwerk“ aus Musik,<br />

Text und Prosa zu schaffen.<br />

Man kann so viel mehr erzählen, so viel transportieren, anstelle<br />

der allgemeinen 3:<strong>30</strong> Minuten-Weisheiten. Wie spannend ist es,<br />

permanent Neues an einem Album zu entdecken, Zusammenhänge<br />

und Geschichten zu begreifen!? Zu bemerken, dass sich<br />

da jemand viele Gedanken gemacht hat, viel Zeit und Liebe investiert<br />

hat, um nicht einfach ‚nur' nett Musik auf CD zu pressen!?<br />

Ich persönlich habe diesen Anspruch und es war mein Ziel, mit<br />

„A Travelogue“ ein so rundes „Gesamtwerk“ zu erschaffen, wie<br />

nur möglich.<br />

nN: Als ich „A Travelogue“ das erste Mal hörte, war ich mir<br />

sicher, dass da eine Band am Werke ist, deren Mitglieder<br />

schon das ein oder andere Jahr über die <strong>30</strong> hinausgeschritten<br />

sind und die vielleicht auch schon einige<br />

Jahre in anderen Bands Erfahrungen<br />

sammelten. Ihr seid nun aber alle<br />

Mitte 20.


Wie kommt es, dass man sich in diesem Alter ausgerechnet<br />

psychedelisch-epischen Prog-Kraut-Rock mit klaren 70er-<br />

Reminiszenzen verschreibt?<br />

Flo: Ich liebe einfach die Musik, den Zeitgeist, und das Musikverständnis,<br />

wie es sich in den 70er Jahren entwickelte. Für mich ist<br />

das der Zenit der „Popmusikgeschichte“ und verkörpert eine Leidenschaft<br />

und Ambition, die heute nicht mehr existiert. Leider.<br />

Die 70er sind vor allem in Soundkultur und Songwriting meine<br />

großen Vorbilder und transportieren den ehrlichen, menschlichen<br />

Musikcharakter.<br />

Für mich ist dies das Ideal, und aus diesem Grund erkennt man<br />

in unserer Musik gewisse Formen und Silhouetten, die der Musik<br />

aus den 70ern ähneln.<br />

Die gegenwärtige Musiklandschaft langweilt mich zunehmend.<br />

Zu vieles dreht sich in meinen Augen um die „fette Produktion“,<br />

die Marktfähigkeit der Songs und um glamouröse Verpackung.<br />

Leider dominiert aufgrund dieser Kriterienverschiebung zu viel<br />

Scheiße die derzeitige Musiklandschaft...<br />

nN: Dennoch ist eine gewisse Rückbesinnung auf diese,<br />

von dir angesprochenen ‚alten Ideale' in der gegenwärtigen<br />

Musiklandschaft nicht zu überhören. Was hältst du<br />

generell von diesem Retro-Trend?<br />

Flo: Ich habe das Gefühl, dass der Retro-Trend schon wieder<br />

abklingt. Das Ganze fing in meinen Augen 2001 mit dem ersten<br />

Album der Strokes an, das auch medial ein riesiges ‚Hurra Hurra'<br />

entfachte. Secondhand-Läden wurden (und sind bis heute) unverschämt<br />

teuer und einschlägige Konsum-Klamottenhäuser<br />

machten mit ausgewaschenen Shirts von den Ramones oder<br />

Iron Maiden bei den Kids Furore. Allerdings meine ich zu beobachten,<br />

dass diese mittlerweile auch aus<br />

den Re-galen wandern, um am<br />

nächsten Tag auf der<br />

Schnäppchen-Stange<br />

zu landen.<br />

Mittlerweile ist<br />

der Trend<br />

Fuoco 57<br />

eher auf ‚Jeder-kann-Popstar-sein' gekippt. Das wird uns ja auch<br />

ständig durch all die beknackten Privatsender dieses Landes eingeimpft.<br />

nN: Hast du nicht Angst, dass Fuoco auch in diese kommerziell<br />

ausgeschlachtete ‚Retro-Ecke' gestellt wird?<br />

Flo: Angst vor der Retro-Ecke? Beziehungsweise Angst als<br />

„Trend-Band“ abgestempelt zu werden? Habe ich absolut nicht.<br />

Aus dem einfachen Grund, weil unsere Band sich nicht bemüht<br />

so zu klingen, weil's gerade hip ist. Das ist nicht unser Antrieb.<br />

Für mich kommt Musik aus dem Bauch und „A Travelogue“ ist<br />

genau so entstanden. Mein Ziel war es, die Songs so zu gestalten<br />

und zu bearbeiten, dass sie sich für MICH richtig anhören<br />

und das Maximum an Gefühl in mir wecken. Ziemlich egoistisch<br />

also, und so gar nicht die Art einer Band, die krampfhaft einem<br />

Trend nacheifert!<br />

nN: Fuoco steht musikalisch in der Tradition von Bands, die<br />

sehr viel experimentierten - mit Sounds, Instrumenten<br />

und nicht zuletzt Drogen. Wie wichtig ist dir dieser experimentelle,<br />

bewusstseinserweiternde Ansatz beim Musik<br />

machen und im Leben generell?<br />

Flo: Du meinst konkret in Bezug auf Drogen? Obwohl wir -<br />

anscheinend - so klingen, sind wir alle fünf völlig drogenfrei!<br />

Ohne Quatsch. Bene und Oli rauchen sogar beide nicht und trinken<br />

selten Alkohol.<br />

Ich persönlich habe ziemlichen Respekt vor Drogen und kann es<br />

mittlerweile überhaupt nicht mehr leiden, nach Alkoholkonsum<br />

nicht mehr Herr meiner Sinne zu sein. Von daher kommen andere<br />

‚Mittelchen' bei mir gar nicht erst in Frage. Ich persönlich<br />

bastele an der Rezeptur, wie meine Musik zu meiner Droge wird<br />

und mich gnadenlos in den Orbit jagt. Und zum Entwickeln dieser<br />

Rezeptur brauche ich einen klaren Kopf. Anders kann ich<br />

nicht arbeiten. Ich möchte permanent durch Musik mein<br />

Bewusstsein erweitern<br />

und mich berauschen<br />

lassen.


58<br />

Fuoco<br />

Auf der Bühne klappt letzteres mittlerweile schon ganz gut. Beim<br />

Musikrausch bin ich dann jederzeit in der Lage meinen Rausch<br />

zu steuern, kann mich entscheiden, wo der Trip hingehen soll,<br />

oder lasse mich von der Band mitnehmen. Und ich kann auch<br />

runterkommen, wenn ich das möchte. Der Drogenrausch birgt<br />

immer die Gefahr, dass die Droge komplett das Steuer übernimmt.<br />

Diese Vorstellung mag ich nicht. Ich<br />

bin gerne in der Lage zu entscheiden,<br />

ob ich hoch oder runter schalten will.<br />

nN: Die Bandmitglieder von Fuoco<br />

leben sehr weit voneinander<br />

entfernt - genauer gesagt<br />

in Wien, Frankfurt und<br />

Mannheim. Wie kam<br />

es eigentlich überhaupt<br />

zu dieser<br />

Konstellation?<br />

Flo: Ich bin gebürtig<br />

aus dem Frankfurter<br />

Raum - genauso<br />

wie mein Bruder<br />

Bene (Bassist) und<br />

Oli (Orgel-und<br />

Synthiespieler). Ich<br />

habe zwei Jahre in<br />

Wien gelebt und<br />

gearbeitet. Dort lernte<br />

ich Alex und Ludwig<br />

(Drummer und<br />

Gitarrist) kennen. Seit<br />

2005 lebe und studiere ich<br />

in Mannheim...Und das ist<br />

auch schon die ganze Geschichte!<br />

nN: Wie „funktioniert“ die Band angesichts dieser großen<br />

räumlichen Distanz?<br />

Flo: Ich schreibe die Songs alle selber. Ich habe ein kleines Studio,<br />

wo ich die Songs dann aufnehme, alles selber einspiele und<br />

an die Jungs schicke - meistens per e-Mail. In gemein- samen<br />

Proben tüfteln wir noch ein wenig an den Songs rum und spielen<br />

sie dann live.<br />

nN: Was sind Vor- aber auch Nachteile dieser Vorgehensweise?<br />

Flo: Für mich ist klar der Vorteil, dass ich den Song nach meinen<br />

Vorstellungen ‚erstellen' kann und quasi fertiges Material weitergebe.<br />

Jeder Musiker verleiht dem Song durch seine Eigenart<br />

wiederum eine gewisse Note, die aus dem Song dann einen<br />

Fuoco-Song macht. Eiserne Regel ist dabei natürlich: Jeder<br />

neue Song muss auch der ganzen Band gefallen!!<br />

Nachteile hatten wir bisher noch nicht wirklich. Dass die Jungs<br />

einen Song zum Beispiel gar nicht mochten oder abgelehnt<br />

haben, kam Gott sei Dank noch nicht vor.<br />

nN: Wünschst du dir trotzdem nicht ab und an eine Band<br />

„vor Ort“? Hierdurch ließen sich Ideen und Ansätze<br />

eventuell spontaner und dynamischer umsetzen...<br />

Flo: Eine Band lebt davon, letztendlich gemeinsam zu musizieren.<br />

So gesehen wäre es natürlich klasse, Leute vor Ort zu<br />

haben, mit denen man regelmäßig proben kann. Mittlerweile<br />

habe ich mich aber so daran gewöhnt, selten zu proben, dass<br />

mir regelmäßige Proben auf den Sack gehen würden. Zu oft<br />

werden die Songs wieder und wieder gespielt, man doktert<br />

eventuell endlos dran rum und verliert natürlich<br />

seine Objektivität.<br />

Für uns funktioniert unserer Arbeitsweise sehr gut,<br />

und wir laufen durch seltenes Proben auch nicht<br />

Gefahr, unsere Songs tot zu spielen bis sie uns langweilen.<br />

Voraussetzung ist natürlich immer, dass sich<br />

jeder selbständig vorbereitet und für die Probe die<br />

Songs auf dem Kasten hat. In der gemeinsamen<br />

Probe müssen die einzelnen Fragmente dann nur<br />

noch zusammengesetzt werden. Wenn wir uns<br />

sehen, ist alles auf die Probe und den bevorstehenden<br />

Gig konzentriert - das ist auch ein Vorteil.<br />

Außerdem sehen wir uns selten und dadurch wird<br />

jeder gemeinsame Gig in seiner Art zelebriert. Wir<br />

genießen es in dem Moment miteinander Musik zu<br />

machen.<br />

Andererseits liegen 780 Kilometer zwischen uns<br />

und wir mussten aus diesem Grund schon den ein<br />

oder anderen Gig ablehnen - natürlich ein großer<br />

Nachteil!!<br />

nN: Zum Schluss: wieso eigentlich ein italienischer Bandname...?<br />

Flo: Ich mag die italienische Sprache und ihren Klang sehr gerne.<br />

Daher habe ich mich auch gezielt nach etwas Italienischem<br />

umgeschaut. Ich war nicht wirklich scharf auf einen englischen<br />

Namen. Ich stehe dann doch eher auf etwas unkonventionellere<br />

Bandnamen...<br />

nN: Vielen Dank!<br />

Flo: Wir haben zu danken!<br />

fuoco-noise.<strong>com</strong> * Fotos: Fuoco<br />

Jochen Wörsinger


60<br />

Dälek<br />

Düsterer ist eine HipHop-Platte wohl seltener ausgefallen:<br />

Mit "Abscence" sorgten DÄLEK vor knapp zwei Jahren für<br />

einen der wohl schwärzesten Momente in der Geschichte<br />

des Sprechgesangs. Mit dem aktuellen Album "Abandoned<br />

Languages" arbeitet sich das Projekt um MC Will Brooks aka<br />

Dälek zwar wieder ein wenig aus den ganz morbiden Tiefen der<br />

drückenden Bässe heraus, um dabei sogar so etwas wie ein paar<br />

positive Momente zu schaffen, fröhlich aber, und damit können<br />

"Abscence"-Fans beruhigt werden, ist das vierte Studiowerk Däleks<br />

garantiert nicht geworden.<br />

"Wir haben einfach einen Abschnitt hinter<br />

uns gelassen und uns neu orientiert",<br />

erklärt Haven die nicht mehr ganz so<br />

schwermütige Prägung der neuen Veröffentlichung:<br />

"Das letzte Album ist ein in<br />

sich abgeschlossenes, das einfach für<br />

eine gewisse Phase in der Band steht,<br />

die aber mittlerweile beendet ist. Das<br />

heißt mitnichten, dass ich nicht mehr<br />

stolz auf "Absence" wäre. Aber zu versuchen,<br />

ähnlich klingende Stücke einzuspielen,<br />

wäre einfach sinnlos gewesen -<br />

unkreativ und langweilig." So spielt denn<br />

"Abandoned Languages" mit weitaus<br />

wärmeren Sounds, ist eingängiger ausgefallen<br />

und bietet damit fast schon<br />

Hörern gewöhnlichen HipHops eine Einstiegsmöglichkeit,<br />

ohne die eingeschworene<br />

Anhängerschaft vor den Kopf gestoßen.<br />

Überraschenderweise handelt es<br />

sich bei den darauf zu findenden<br />

Songs nicht<br />

direkt um brandneues<br />

Material,<br />

sondern um Stükke,<br />

die zu einem<br />

Großteil während<br />

der Aufnahmen<br />

von<br />

"Abscence"<br />

entstanden.<br />

"Man kann nicht einfach nur einen Zyklus<br />

düsterer Songs schreiben - da ist<br />

immer wieder etwas dabei, das aus<br />

dem Rahmen fällt. So war es in<br />

dem Moment, als wir vor zwei<br />

Jahren am letzten Album gearbeitet<br />

haben. Eine Menge der<br />

dabei entstandenen Stücke<br />

haben einfach von ihrer Grundausrichtung<br />

nicht zusammen<br />

gepasst, so dass wir schließlich<br />

entschieden haben, den<br />

eher schweren Teil auf einer<br />

Platte zusammen zu fassen<br />

und bei der kommenden auf<br />

das andere Material zurück<br />

zu greifen."<br />

Live werden Dälek daher<br />

verstärkt auf die gerade veröffentlichten<br />

Stücke zurückgreifen:<br />

"Wahrscheinlich werden<br />

wir sogar das komplette<br />

Album vorstellen, allerdings natürlich<br />

nicht in der Reihenfolge<br />

der Stücke, wie sie auf "Abandoned<br />

Languages" zu finden ist. Das wäre dann<br />

doch etwas sehr langweilig. Daran<br />

anschließend wird es wohl so etwas wie<br />

einen ‚Best Of'-Block geben, der dann<br />

auch älteres Material enthält. Wenn man<br />

Stücke jahrelang live gespielt hat, ist es<br />

manchmal etwas schwierig, die dafür<br />

nötige Energie noch aufzubringen. Daher<br />

ist es auch für uns ganz spannend, uns<br />

größtenteils auf Neue zu konzentrieren."<br />

Elf Monate werden MC Dälek, The Okto-<br />

pus und wechselnde Gäste auf Tour sein<br />

- mindestens: "Das ist eine lange Zeit,<br />

keine Frage. Aber ich bin jetzt Anfang<br />

Dreißig, da stellt sich die Frage, wie<br />

lange man das überhaupt noch machen<br />

kann. Und da es mir unheimlich Spaß<br />

macht, unterwegs zu sein, möchte ich<br />

das noch so lange wie möglich genießen.<br />

Dazu kommt, dass wir mit einem wech-


selnden Line-Up unterwegs sein werden,<br />

und je nachdem, wo wir gerade sind, mit<br />

unterschiedlichen Musikern touren werden.<br />

So werden wir bei einer Reihe Termine<br />

mit größerer Besetzung unterwegs<br />

sein, unterstützt beispielsweise von<br />

einem Saxophonspieler, während bei<br />

anderen auch mal nur drei Leute auf der<br />

Bühne stehen werden. Das bringt eine<br />

Menge Abwechslung<br />

mit sich, kaum eines der<br />

Konzerte wird daher wie<br />

das andere sein."<br />

Anders als in früheren<br />

Tagen können sich<br />

Dälek mit steigendem<br />

Bekanntheitsgrad auf<br />

einen vollen Tourkalender<br />

verlassen. Bei ihren<br />

ersten Touren in Europa<br />

sah das noch ganz<br />

anders aus. "Das war<br />

fast schon ein Desaster,<br />

die Agentur, die die Tour<br />

gebucht hat praktisch völlig unfähig. Sie<br />

waren nicht in der Lage, zusammenhängende<br />

Termine zu buchen. So ist es<br />

immer wieder vorgekommen, dass wir bis<br />

zu sechs Tage Pause zwischen zwei<br />

Shows hatten. Da wir dabei auch noch<br />

kaum Geld verdient haben, sind wir teilweise<br />

tagelang irgendwo rumgehangen<br />

und waren froh, wenn wir uns überhaupt<br />

etwas zu Essen kaufen konnten. Am liebsten<br />

hätten wir irgendwann die ganze<br />

Tour abgebrochen - aber wir konnten uns<br />

ja nicht mal die Flüge zurück leisten!" Für<br />

einen bleibenden Eindruck hat diese Tour<br />

aber nicht nur aus genannten Umständen<br />

heraus gewonnen, sondern auch durch<br />

eine ganz besondere Konstellation, die<br />

sich in ihrem Verlaufe ergab. So ist ihr<br />

letztendlich die EP "Faust vs. Dälek" zu<br />

verdanken, eine Kooperation, die man<br />

sich so wohl kaum ausgemalt hätte. "Das<br />

war wirklich eine interessante Geschichte.<br />

Ich war schon seit früheren Tagen ein<br />

großer Anhänger der Band, und in einem<br />

Song auf "Negro, Necro, Nekros" beziehen<br />

wir uns sogar auf Faust. Keine<br />

Ahnung, wie sie letztendlich auf uns<br />

gekommen sind (von dem Track jedenfalls<br />

wussten sie nichts), aber irgendwann<br />

kam die Anfrage, ob wir nicht etwas<br />

zusammen machen können. Wow, eine<br />

Band, die du schon immer bewundert<br />

hast, von der du dir aber nicht mal vorstellen<br />

kannst, dass sie deinen Namen<br />

kennt, kontaktiert dich plötzlich und will<br />

etwas mit dir zusammen machen. Das<br />

war schon ein toller Moment. Nun ja, und<br />

da wir ja in dem Moment etwas mehr Zeit<br />

hatten, sind wir einfach zwischen zwei<br />

Konzerten für ein paar Tage zu ihnen ins<br />

Studio, um die Songs einzuspielen. Es<br />

gibt sogar noch ein paar mehr, als dann<br />

letztendlich veröffentlicht worden sind.<br />

Vielleicht bringen wir die zu einem späteren<br />

Zeitpunkt auch noch mal raus."<br />

Abgesehen von der Grundkonstellation<br />

Dälek und Oktopus erlebt das Projekt<br />

Dälek beständige Besetzungswechsel,<br />

die auf das Arbeiten der Band allerdings<br />

offensichtlich relativ wenig Einfluss<br />

haben. "Schon klar, worauf Du hinaus<br />

willst: auf unsere Trennung von DJ Still.<br />

Ja, das war schon eine etwas schwierige<br />

Entscheidung und ein harte Phase. Der<br />

Mann ist wirklich gut, ein Künstler am<br />

Plattenteller und es war wirklich großartig,<br />

mit ihm zusammen zu arbeiten. Von<br />

irgendeinem Moment an aber hat seine<br />

Begeisterung beständig nachgelassen.<br />

Zum Schluss hatte er kaum noch Lust,<br />

auf der Bühne zu stehen, und auch wenn<br />

er dabei meistens noch seinen Job<br />

gemacht hat, hat sich das einfach<br />

bemerkbar gemacht. Zudem hat er nicht<br />

immer alles so wirklich im Griff und<br />

irgendwann allzu häufig zu Sachen<br />

gegriffen, die seiner Leistungsfähigkeit<br />

nicht gerade zuträglich waren. Es kam so<br />

weit, dass wir uns ernsthaft fragen mussten,<br />

ob unsere Liveshows durch seine<br />

Anwesenheit jetzt eigentlich an Qualität<br />

gewinnen oder nicht. Immerhin haben wir<br />

ja zu früheren Zeiten auch immer wieder<br />

zu Zweit gearbeitet bzw. wechselnde<br />

Gäste mit dabei gehabt. Wir haben uns<br />

dann entschieden, es einfach mal zu probieren,<br />

und siehe da, die Shows wurden<br />

wirklich wieder besser. Natürlich lag das<br />

einfach daran, dass wir wieder mehr<br />

Spaß daran hatten, auf der Bühne zu stehen,<br />

die Lust wieder richtig da war. Wenn<br />

du jemanden im Hintergrund hast, der<br />

dich runterzieht, leidet auch deine Sache<br />

Dälek<br />

61<br />

darunter. Und letztendlich ist das auch<br />

mein Job, den ich gut machen will. Auch<br />

die Arbeiten am neuen Album liefen<br />

plötzlich wieder so locker, problemlos<br />

und mit soviel Spaß, dass wir es keinen<br />

Moment bereut haben, diese Entscheidung<br />

zu treffen."<br />

Im Gegensatz zum letzten Album wird<br />

"Abandoned Languages" den Ankündi-<br />

gungen zufolge nicht in einer Vinyl-Version<br />

erscheinen. Ein Sakrileg für eine<br />

Band, die sich dem klassischen HipHop<br />

verschrieben hat? "Wäre es, ganz klar.<br />

Aber zur Beruhigung aller: Wir haben mit<br />

einem kleinen Label aus New York, das<br />

sich auf solche Sachen spezialisiert hat,<br />

einen Vinyl-Deal abgeschlossen. Soweit<br />

ich weiß, haben sie auch ganz gute Verbindungen<br />

nach Europa, so dass das<br />

Album auch dort als LP problemlos<br />

erhältlich sein sollte!"<br />

Arnulf Woock<br />

Bilder (in Reihenfolge):<br />

Cindy Frey, Paul Romano, Herve Baudat<br />

www.deadverse.<strong>com</strong><br />

www.ipecac.<strong>com</strong>


62<br />

Polarkreis 18 ..<br />

Klang Uber Inhalt<br />

ostdeutsche Sozialisation und ihre Folgen<br />

Auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum verzaubern fünf Jungs<br />

aus Dresden mit traumhaft schönem Pop mit isländischem<br />

Gestus. Ein musikalisch mehr als interessanter Nebenschauplatz,<br />

zu dessen Entstehung wir Frontmann Felix Räuber<br />

befragt haben.<br />

Sprechstimme ist nicht gleich Singstimme.<br />

Eine These, die durch ein<br />

Gespräch mit Felix Räuber, seines<br />

Zeichens Sänger und Gitarrist bei<br />

Polarkreis 18, untermauert wird. Denn<br />

statt einem androgynen, körperlosen<br />

Elfenwesen spricht da ein ganz normaler<br />

junger Mann mit minimal sächselndem<br />

Dialekt aus der Leitung. Für<br />

die ziemlich einzigartige Klangästhetik<br />

seiner Band eignen sich als Referenzen<br />

allenfalls Ausnahmekünstler wie<br />

wahlweise Sigur Rós (im druckvollen<br />

Rockformat) oder Radiohead (mit<br />

jugendlichem Ungestüm). Dass dafür<br />

letzten Endes die ostdeutsche Sozialisation<br />

eine gewisse Mitschuld trägt,<br />

überrascht dann doch: "Zu unserer Schulzeit haben wir Musik immer<br />

nur nach ihrem Klang geordnet, Texte sind nie wirklich wichtig für uns<br />

gewesen. Das liegt vermutlich daran, dass in Ostdeutschland ein ganz<br />

anderer Umgang mit einer ausländischen Sprache herrscht als beispielsweise<br />

in Dänemark, wo viele Filme im O-Ton gezeigt werden<br />

und man so schon im Kindesalter mit der englischen Sprache vertraut<br />

gemacht wird. Das war im Osten einfach nicht so gegeben und deshalb<br />

war der Klang für uns schon immer wichtiger als die Vermittlung<br />

von irgendwelchen politischen Botschaften."<br />

Klang über Inhalt lautet also die Maxime, die die ungewöhnliche Reife<br />

des Polarkreis 18-Debüts im Ansatz erklärt. Die Konzentration auf ein<br />

unbestimmtes Gefühl zählt im Polarkreis mehr als die Vermittlung<br />

eines konkret fassbaren Inhalts. So paart sich nun zu tanzbaren<br />

Elektrobeats, aufwändigem Symphonie-Orchester und flächigen Synthies<br />

eine Form lautmalerischen Gesangs, der in seiner extravaganten<br />

Andersartigkeit keine uns bekannte Sprache zu sprechen und<br />

nicht von dieser Welt zu stammen scheint. Über Jahre hinweg reiften<br />

am Rechner aus skizzenhaften Ideen klammheimlich Songperlen von<br />

unwirklicher Brillanz. Derer elf gibt es nun auf dem gleichnamigen<br />

Debüt zu hören. Auch deshalb, weil die Band trotz gewisser Bedenken<br />

bei einem New<strong>com</strong>er-Wettbewerb antrat und in Folge dessen die<br />

Aufmerksamkeit des renommierten Indie-Labels Motor Music auf sich<br />

zog: "Wir haben ziemlich lange diskutiert, ob wir das überhaupt<br />

machen wollen, ob so ein Bandwettbewerb überhaupt zu uns passt.<br />

Letztlich haben wir's dann einfach als einmalige Auftrittsmöglichkeit<br />

wahrgenommen, bei der wir aufgrund der professionellen Rahmenbedingungen<br />

auch erstmals live mit einem Streichorchester zusammen<br />

auf der Bühne stehen konnten. Das war schon ein riesen Moment für<br />

" Im Grunde genommen<br />

hinterfragen wir alles,<br />

was wir machen. Total."<br />

uns, noch dazu in dieser riesigen Halle vor soviel Publikum.<br />

Große Chancen haben wir uns aber nie ausgerechnet,<br />

da solch experimentelle Randgruppenmusik, wie wir<br />

sie spielen, bei einem Bandwettbewerb ohnehin selten<br />

bestehen kann."<br />

Von wegen. Polarkreis 18 landen auf dem zweiten Platz,<br />

bald darauf klopft Motor Music unter der Führung von<br />

Indie-Guru Tim Renner an und zeigt fortan großes Interesse<br />

an der Band. "Irgendwann kam dann sogar die<br />

Ansage von Motor, dass sie uns gerne in Dresden besuchen<br />

würden. Das war völlig überraschend für uns, gerade<br />

wo normalerweise immer wir den Weg von Dresden<br />

nach Berlin antreten mussten, um musikalische Kontakte<br />

zu knüpfen. Nun war es umgekehrt. In dem Moment realisierten<br />

wir, dass sich das Label wirklich sehr um uns<br />

bemühte."


" "Ein Klang war fur uns schon<br />

..<br />

immer wichtiger als die Vermittlung<br />

von irgendwelchen<br />

politischen Botschaften."l."<br />

Doch immer wieder<br />

scheint auch im<br />

Gespräch durch: Die<br />

wissen schon ganz<br />

genau, worauf sie sich<br />

eingelassen haben.<br />

Trotz eines blutjungen Altersdurchschnitts - keiner in der Band<br />

ist älter als 21 Jahre - sind Polarkreis 18 keine Anfänger, die<br />

Gefahr laufen, vom urplötzlich erwachten öffentlichen Interesse<br />

an ihrer Band übermannt zu werden oder gar abzuheben. "Wir<br />

sehen das eigentlich ziemlich nüchtern. Natürlich beflügelt uns<br />

das Medieninteresse sehr, aber es ist schon so, dass wir an der<br />

Platte über viele Jahre hinweg gearbeitet haben. Das war ein<br />

schleichender Prozess im stillen Kämmerlein und das jetzige<br />

mediale Drumherum ist von daher nun auch die logische Konsequenz,<br />

die wir uns erhofft hatten. Dass die Resonanz aber so<br />

positiv ausfällt, hätten wir nie gedacht."<br />

Auch dank ihrer ebenso perfektionistischen wie autonomen Haltung<br />

könnte man Polarkreis 18 gut und gerne für alte Hasen halten.<br />

Die Veröffentlichung des Albums etwa wurde um mehrere<br />

Monate verschoben, da die Band mit dem finalen Mix nicht<br />

zufrieden war. Dass sich für diesen mit Chris von Rautenkranz<br />

(Lado-Hausproduzent, u.a. Blumfeld, Franz Ferdinand) ein<br />

bekannter Name verantwortlich zeichnete, machte da keinen<br />

Unterschied. Schließlich nahm sich die Band selbst den Mix vor,<br />

genauso übrigens wie die Produktion an sich und die Gestaltung<br />

des Artworks. Selbst ein eigener Animationsfilm zur visuellen<br />

Untermalung der Liveshows wurde in mühevoller Kleinstarbeit<br />

entworfen: "Vor zwei Jahren hatten wir eine Phase, in der wir so<br />

etwas einfach mal ausprobieren wollten. Drei Monate lang<br />

haben wir ausschließlich Fotos geschossen, bis wir am Ende ca.<br />

80.000 Einzelfotos hatten, die wir dann alle zu einem Film<br />

zusammengefügt haben. Am Ende ist das allerdings gescheitert,<br />

weil wir noch viel mehr Arbeit hätten investieren müssen, damit<br />

das Ganze wirklich professionell und ausgereift ausgesehen<br />

hätte. Doch darüber hätten wir wohl zwangsweise die Musik vernachlässigt<br />

und das wollten wir vermeiden."<br />

So gibt man sich trotz hohem Selbstbewusstsein auch durchaus<br />

selbstkritisch: "Früher haben wir eher so in der Metal- und Punk-<br />

Richtung herumgeschrammelt, was ja fast jede Band am Anfang<br />

so macht. Im Grunde genommen hinterfragen wir aber alles,<br />

was wir machen. Total. Deshalb haben wir irgendwann auch<br />

unser damaliges Schaffen sehr kritisch gesehen und gemerkt,<br />

dass dieses ziellose Herumgeschrammel nie das war, was wir<br />

eigentlich gesucht haben. So haben wir halt über die Jahre hinweg<br />

versucht, unseren Horizont zu erweitern."<br />

Was als gelungen bezeichnet werden muss, denn viel weiter<br />

weg von Metal oder Punk könnte der ätherische Dreampop von<br />

Polarkreis 18 kaum sein. Doch die jahrelange Phase der musikalischen<br />

Selbstfindung hatte einen positiven Nebeneffekt:<br />

"Dadurch, dass wir in leicht wechselnder Besetzung mittlerweile<br />

schon neun Jahre lang existieren, konnten wir uns über diesen<br />

langen Zeitraum hinweg langsam aber stetig eine Fanbase aufbauen.<br />

Die ist ursprünglich aus unserem Freundeskreis entstanden<br />

und hat sich mittlerweile so weiterentwickelt, dass wir in<br />

Dresden mittlerweile wirklich Publikum ziehen."<br />

So eröffnete sich der Band auch die einmalige Möglichkeit, noch<br />

vor regulärer Veröffentlichung des Albums ein Konzert im Dresdner<br />

Schauspielhaus vor ca. 1000 Zuschauern zu spielen, kom-<br />

plett begleitet von Streichorchester und Bläsersektion. Auch für<br />

die Releaseparty zum Longplayer hat man sich eine ungewöhnliche<br />

Location ausgesucht: Das Dresdner Rundkino. "Das ist ein<br />

riesiger Kinosaal, der 900 Leute fasst, so etwas gibt es heutzutage<br />

eigentlich gar nicht mehr. Das ist so ein typisches Ostding,<br />

ein vollkommen übertriebener Bau, der aber gerade dadurch<br />

ziemlich geil ist."<br />

Aber auch auf den üblichen Konzertbühnen wird man das Quintett<br />

ab Mitte März zu sehen kriegen - dort allerdings als Sextett.<br />

"Die Live-Umsetzung sieht so aus, dass wir einen Trompeter als<br />

ständigen Gastmusiker dabei haben und versuchen werden, die<br />

Streicher-Melodien mit anderen Instrumenten umzusetzen, entweder<br />

mit Gitarren oder mit dem Synthesizer. Die melodische<br />

Vielfalt soll auf jeden Fall erhalten bleiben." Mit dem aufregendsten<br />

Debüt seit langer Zeit in der Hinterhand sollten so auch die<br />

anstehenden Konzerte zum außergewöhnlichen Ereignis werden,<br />

bei dem sich für den Besucher das Tor zu einer surrealen<br />

Parallelwelt auftut. Ganz in weiß und ideal für Tagträumer und<br />

solche, die es werden wollen.<br />

Patrick Agis-Garcin<br />

polarkreis18.de<br />

motormusic.de<br />

Polarkreis 18 63


64<br />

videoThek<br />

ART BRUT - TALKING TO THE KIDS<br />

(Cargo)<br />

Mehr Phänomen als Band, so muss man den<br />

Erfolg von Art Brut wohl werten, der britischdeutschen<br />

Band, die nie in Anspruch nahm,<br />

künstlerisch innovativ zu sein - und es dennoch<br />

auf subtil-revolutionäre Weise ist, indem sie an<br />

die Stelle artifizieller Innovationen die unmittelbare<br />

Wucht der sich selbst feiernden Kopulation<br />

von Spaß<strong>com</strong>bo und Publikum zum Gesamtkunstwerk<br />

macht, das so manche Anforderungsprofile<br />

vermeintlich progressiver Poprezipienten<br />

mühelos zum Anachronismus macht. Junge,<br />

von sich selbst unaufgeregt überzeugte Musiker von beiden Seiten des<br />

Kanals, für die immer der Kontakt zu den Fans an erster Stelle steht, ob live<br />

oder nach den schwitzigen Auftritten. Art Brut arbeiten Musik - und sie tun dies<br />

mit dem knurrigen Charme englischer Arbeiter, die mit sich, nicht aber mit der<br />

Welt einverstanden sind.<br />

Selbstinszenierung ist das Stichwort, und wo dies mit derart gutem Gewissen<br />

passiert, mit solcher Dichte und so stimmig, wie hier, hat dies stilbildende Qualität.<br />

Das wird auch auf dieser DVD deutlich, in deren Zentrum der Liveauftritt<br />

der Jungs plus Mädel im Stollwerk auf ihrer letzten Tour steht, eine knappe<br />

Stunde bekommen wir in guter Sound- und Tonqualität geboten, die Kamera<br />

stets dicht an Musikern und Fans. Die Beschränkung auf nur einen Auftritt in<br />

einem Ambiente an einem Abend ist ja DVD-üblich, wenn auch nicht überzeugend<br />

- mehr Orte, unterschiedliche Stimmungen und Dokumente auch aus<br />

verschiedenen Zeiten wären entschieden mehr gewesen.<br />

Die Interviews sind teilweise arg berechenbar und ein wenig flach, die vier<br />

Videos sind natürlich auch dabei, dazu TV - Show - Auftritte (nett) und nach<br />

einem Konzert die Musiker im direkten, spassigen Fankontakt, offensichtlich<br />

alkoholtechnisch angeschickert und sausympathisch. Da kommen sie uns<br />

näher, sind nicht länger nur (immerhin !!!) Ikonen des fröhlichen Pop-Anarchismus,<br />

in dem alles geht. Das nämlich sind sie ohne Zweifel - und die gut<br />

eineinhalb Stunden auf dieser DVD lassen das jedenfalls erahnen. Aber: Was<br />

ist mit dem Bandumfeld? Wie werden sie dort wahrgenommen? Was ist mit<br />

befreundeten Musikern, Clubmachern, Wegbegleitern, anderen Aktivitäten?<br />

Wie werden diese lakonischen, genial simplen, wirkungsvollen Texten von<br />

anderen musizierenden Dichtern wahrgenommen? Es wäre viel mehr drin<br />

gewesen - und diese DVD ist eine mäßig liebevoll arrangierte Pflichtveranstaltung,<br />

die Kür findet nicht statt. Zu viele Fragen bleiben offen - aber Spaß,<br />

Spaß macht diese DVD allemal.<br />

Andrasch Neunert<br />

artbrut.org.uk<br />

SPECTRE<br />

SPANIEN 2006<br />

REGIE: MATEO GIL<br />

e-m-s.de<br />

Nach dem Selbstmord seiner Gattin<br />

hat sich Tomás in sein selbst gewähltes<br />

Exil zurückgezogen. Erstmals<br />

seit 40 Jahren kehrt er in sein Heimatdorf<br />

zurück. Eines Tages erhält<br />

er eine alte Tarot-Karte, die "Karte<br />

der Liebenden". Er ist beunruhigt,<br />

denn es handelt sich um eine Nachricht<br />

aus der Vergangenheit. Als<br />

Junge war er einst unsterblich in eine<br />

geheimnisvolle Frau verliebt, von der<br />

die Einwohner des Ortes glauben,<br />

sie stehe mit dem Teufel im Bunde.<br />

Nur von ihr konnte diese Karte stammen.<br />

Tomás macht sich auf in die<br />

Heimat, um sich seinem Dämon zu stellen. Mateo Gil, den aufmerksame<br />

Abspannverfolger schon als Drehbuchautor für<br />

"Open Your Eyes" und "Tesis" ausgemacht haben dürften,<br />

scheint sich zunächst nicht so ganz entscheiden zu können, ob<br />

er lieber einen "Liebes-" oder einen "Horrorfilm" drehen will. Gut,<br />

Filme wir "Frankenstein" oder auch das Genre des Vampirfilms<br />

legen nahe, dass beide Topoi ohnehin nicht wirklich ganz und<br />

gar voneinander getrennt werden können; bevor man dem Film<br />

aber seine "Horror-Seite" anmerken kann, ist Gil recht lange<br />

unterwegs. Sein Handwerk versteht er; wunderschöne Landschaftsbilder,<br />

erotische Akte und effektvolles Hell-Dunkel-Spiel -<br />

alles hübsch in Szene gesetzt; der "Grusel" indes macht sich nur<br />

ganz langsam breit, kommt dann eher gediegen daher und dürfte,<br />

mit Verlaub, keinem Kleinkind schlaflose Nächte bereiten.<br />

Und dennoch: SPECTRE ist ein schöner Film, ein Film über<br />

eine unerfüllte, romantischen Liebe - und eher etwas für's Herz<br />

als für den Adrenalinwert.<br />

Kai<br />

STRANGE CIRCUS<br />

JAPAN 2005<br />

REGIE: SION SONO<br />

Wwwrapideyemovies.de<br />

Die Story: Taeko (Masumi MIYAZAKI), eine erfolgreiche, aber an<br />

den Rollstuhl gefesselte Bestsellerautorin, arbeitet an einem<br />

Roman über den Leidensweg der 12-jährigen Mitsuko (Rie<br />

KUWANA), die in einer durch Inzest und Missbrauch zerstörten<br />

Familie aufwächst. Eingesperrt in einen Cellokasten muss Mitsuko<br />

ihre Eltern beim täglichen Akt beobachten. Bald werden<br />

gar die Rollen getauscht und nun ist es die Mutter, die aus dem<br />

Instrumentenkoffer heraus zusieht, wie Mitsuko von ihrem Vater<br />

vergewaltigt wird. Taekos Assistent Yuji (Issei ISHIDA) ahnt<br />

Schlimmes: Ist Mitsuko tatsächlich nur eine fiktive Figur oder<br />

beschreibt Taeko in ihrem Roman die eigene,<br />

entsetzliche Kindheit? Die Japaner sind<br />

schon ein skurriles Völkchen, mithin deren<br />

Filme; an das Thema "Inzest", hier noch<br />

dazu mit recht freizügigen Bildern unterlegt,<br />

würde sich hierzulande und in dieser Deutlichkeit<br />

keiner herantrauen - Tabuthema,<br />

halt. Und auch ich muss zugeben, dass ich<br />

nach der ersten halben Stunde nicht wirklich<br />

sicher bin, ob es nicht besser wäre, einfach<br />

den "Aus-Knopf" zu drücken - zu befremdlich


sind die Bilder, die der ehemalige Experimentalfilmer<br />

Sino da serviert.<br />

Um was geht es dem Regisseur? Um die "Darstellung<br />

von Kindesmissbrauch und die daraus resultierenden<br />

familiären Katastrophen"? Das mag sein,<br />

aber der Untertitel "Ein perverses Fest der Liebe",<br />

den der Verleiher, Rapid Eye Movies, dem Film auf<br />

seiner Homepage verpasst, lässt da ganz andere<br />

Assoziationen aufkommen … Ist "Strange Circus",<br />

ein handwerklich perfekter, bildgewaltiger<br />

Film, tatsächlich ein "spannender und<br />

schockierender Film über Kindesmissbrauch<br />

und Inzest, der allein wegen der<br />

Bearbeitung des Themas Aufmerksamkeit<br />

verdient" (Filmstarts.de) -<br />

oder bietet er einfach nur eine heftige<br />

Portion Voyeurismus - ich bin mir<br />

da bei aller Offenheit gegenüber<br />

dem "asiatisches Extremkino"<br />

nicht sicher - da bleibt ein etwas<br />

fader Beigschmack.<br />

Keule<br />

WITHNAIL AND I<br />

GB 2005<br />

REGIE: BRUCE ROBINSON<br />

sunfilm.de<br />

"Genie und Wahnsinn liegen nah beieinander.<br />

Manchmal fahren sie auch gemeinsam in Urlaub....<br />

London 1969: Der manische Withnail und der<br />

ängstliche Marwood hausen zusammen in einer<br />

versifften Wohnung und kennen nur ein Rezept<br />

gegen den drögen Alltag - ausgiebigen Drogen- und<br />

Alkoholkonsum. Den Nerven der beiden Schauspieler<br />

bekommt das auf Dauer nicht und so beschließen<br />

sie, dass man auch als verkanntes Genie einen<br />

Anspruch auf Urlaub hat. Sie machen sich auf den<br />

Weg zum Landhaus von Withnails Onkel, wo das<br />

Landleben mit ungeahnten Gefahren auf sie wartet..."<br />

(Sunfilm). "British Kult Commedy" steht auf<br />

dem Umschlag; und es mag sogar sein, dass dies<br />

1987, als der Film in England erschien, der Fall war.<br />

Verglichen mit Filmen wie "Trainspotting" oder<br />

"Snatch" ist "Withnail And I" aber viel zu behäbig<br />

inszeniert; noch dazu leidet der Film unter seiner<br />

schlechten Synchronisation, und wer der englischen<br />

Sprache mächtig ist, der sollte sich den Film<br />

besser gleich im Original anschauen. Aber egal in<br />

welcher Sprache: zündende Gags sind eher rar<br />

gesät, und wirklich<br />

schotig ist<br />

n u r<br />

Withnails<br />

schwuler Onkel<br />

Monty, der den beiden Jungs in sein Landhaus folgt<br />

und nicht aufhört, Marwood massiv anzubaggern;<br />

Fazit: Die englische Fassung ist durchaus passabel,<br />

insgesamt ist das hier vom "Kult" aber ungefähr so<br />

weit entfernt wie Dieter Bohlen vom "Wort zum<br />

Sonntag".<br />

Keule<br />

videoThek<br />

65


66<br />

Lude2 (Director’s Cut)<br />

JOE BOYD: "White<br />

Bicycles. Making<br />

music in the 1960s"<br />

Gleich zu Anfang: Nick Drake und Guido Lucas. Was<br />

für ein Impact. Natürlich nicht für Nick Drake, wohl<br />

aber für Vorletztgenannten, also für mich. Nachzulesen<br />

lustigerweise auch bei Wolf Kampmann und seinem<br />

Poplexikon, der mich doch tatsächlich in seinem<br />

Nick-Drake-Artikel zitiert (S. 170) - als wäre ich schon<br />

damals dabei gewesen - when the day is done, jump<br />

the gun...<br />

Mir war es ja seinerzeit vergönnt, Nick Drake einzuführen<br />

in die geheime Gesellschaft meiner Musikfreunde,<br />

die ihn allesamt noch nicht kannten. Ganz<br />

normale Audiokassetten musste ich damals mit der<br />

Post verschicken (die Älteren unter Euch werden es<br />

noch wissen: Es war einmal ein analoges Zeitalter,<br />

ohne Internet, ohne CDs, ohne MP3 und ohne DFÜ.<br />

Es war die Zeit der analogen Mixtapes:<br />

"Sorry, ich hab nicht alles auf eine C90 Chromdioxid<br />

bekommen, dafür aber per Hand ausgefadet und auf<br />

der anderen Seite den Song dann wieder kurz vorher<br />

eingefadet...".<br />

Ich hatte zu der Zeit, Mitte der 80iger Jahre des letzten<br />

Jahrhunderts, meinen bevorzugten New-Wave-<br />

Plattenladen, in dem abwechselnd zwei schwule Verkäufer<br />

tätig waren, die in meiner Erinnerung mehr und<br />

mehr verschmelzen mit Grant Hart und Bob Mould,<br />

vielleicht weil ich in diesem Plattenladen meine erste<br />

Hüsker-Dü-Platte gekauft habe, was für mich einen<br />

lang anhaltenden und heilsamen Kulturschock darstellen<br />

sollte.<br />

Aber das ist eine andere Geschichte.<br />

In diesem New-Wave-Plattenladen also hatte ich nun,<br />

entweder von Grant Hart oder Bob Mould, ich weiß es<br />

nicht mehr so genau, eine 4-LP-Vinylbox mit den<br />

gesammelten Werken Nick Drakes ergattert, nachdem<br />

ich bei John Peel (oder war's Alan Bangs?!?) in<br />

einer nachmitternächtlichen Radiosendung zum<br />

ersten Mal Musik von Nick Drake gehört hatte. Üblich<br />

war es damals, nächtelang mit Kopfhörer in stockdunklen<br />

Kinderzimmern unter der Decke heimlich Radio<br />

zu hören - heute vollkommen lächerlich und unvorstellbar;<br />

damals ein Abenteuer auf fernen Kontinenten:<br />

eine Reise ins Herz der Finsternis. Die einzige<br />

Möglichkeit, neue Musik zu entdecken.<br />

Der Welten Schmerz gehörte damals einzig und allein<br />

mir, und ich bestand darauf, mich in ihm zu suhlen.<br />

Das Universum war noch grenzenlos, ich von aller<br />

Schuld bar und nahezu unsterblich. Ich kannte zwar<br />

schon Bob Dylan, aber ich hatte noch keine Drogen<br />

genommen und so blieb er mir fern, schillernd, letztendlich<br />

unbekannt; mein musikalisches Australien,<br />

terra incognita, meine Berge des Wahnsinns - zu weit<br />

entfernt und auch erst viel später unter großen Gefahren<br />

zu entdecken...<br />

Natürlich erzähle ich dies alles, wie der geneigte<br />

Leser sicherlich ahnt, nicht, um über meine eigene<br />

Jugend zu schwadronieren oder meine musikalische<br />

Stilsicherheit hervorzuheben - zumindest nicht ausschließlich.<br />

Sondern um Euch den Yankee vorzustellen,<br />

der Nick Drake damals für die Welt entdeckt hat.<br />

Von ihm soll hier die Rede sein.<br />

Nick Drake, wir bleiben noch etwas bei ihm, um die<br />

Spannung zu steigern, war auf der Rückseite des<br />

Cover meiner LP "Five Leaves Left" der Typ, der so<br />

unglaublich relaaaaaaxed vor einer typisch britischen,<br />

arbeiterstädtischen Ziegelwand steht, das linke Bein<br />

gaaaaaanz locker um das rechte gewunden, beide<br />

Daumen lässig hinter die Gürtelschnalle geklemmt.<br />

Zufälligerweise vorbeigeeilt kommt, ich habe es<br />

schon in Dutzenden Prosaversuchen zu beschreiben<br />

versucht, ein ebenfalls typisch britischer, herausgeputzter<br />

Sesselfurzer (wie wir uns so jemanden halt<br />

denken), mutmaßlich auf dem Weg zur Arbeit. Natürlich,<br />

technisch auf der Höhe der Zeit, (wir schreiben<br />

das Jahr 1970), ist der Sesselfurzer sehr, sehr verschwommen<br />

fotografiert (Fußnote: sehr eilig, hohe<br />

Belichtungszeit, ohne eigene Identität, sehr starkes<br />

Klischee). Daneben steht, quasi besides, Nick Drake,<br />

wie gesagt, gaaaanz lässig an die Mauer gelehnt<br />

(Fußnote: sehr scharf belichtet, klare Identität), und<br />

beobachtet die Szenerie ganz entrückt quasi als<br />

Unbeteiligter, als allwissender Boheme, der er doch<br />

niemals war. Perfekte Imageinszenierung einer großen<br />

Plattenfirma - Platten hat Nick Drake damals übrigens<br />

so gut wie keine verkauft...<br />

Fame is but a fruit tree, so very unsound.<br />

It can never flourish, till its stalk is in the ground.<br />

Don't you Worry.<br />

Es geht mir gut. So gut es halt geht.<br />

Saturday Sun. Came without warning…<br />

(Wie sehr mich dieser englische Jüngling in Strumpfhosen<br />

beeinflußt hat, merke ich gerade wieder, während<br />

ich seine Platten NOCH EINMAL höre, nach so<br />

vielen Jahren. Ohnehin konnte ich seine Platten nur<br />

sehr selten hören: nur in Momenten vollkommener<br />

Selbstsicherheit oder totaler Verzweiflung. Beide<br />

Zustände sind natürlich sehr selten, dafür um so willkommener<br />

in ihrer unschlagbaren Kombination.)<br />

Jedenfalls, weiter im Text:<br />

Eigentlich.<br />

Eigentlich wollte ich ja über diesen Yankee schreiben,<br />

der nicht nur Nick Drake, sondern auch The Incredible<br />

String Band, John Martyn, Fairport Convention,<br />

Richard Thompson, Sandy Denny, The Move, Vashti<br />

Bunyan und, ja unglaublich aber wahr, Pink Floyd<br />

wenn nicht entdeckt, so auf jeden Fall gefördert und<br />

produziert hat.<br />

Joe Boyd hat seine Geschichte nun aufgeschrieben,<br />

die zugleich auch eine Geschichte der 60iger und<br />

deren Musik ist: "White Bicycles" heißt das Buch,<br />

erschienen schon 2005 bei Serpant's Tail in London.<br />

"White Bicycles" war aber auch ein Song von Tomorrow,<br />

jener Hausband des legendären Londoner<br />

Psych-Clubs UFO, den Boyd zusammen mit seinem<br />

Kumpel Hoppy Mitte der 60iger gestartet hatte. Dort<br />

spielten außer Tomorrow eben auch noch Pink Floyd<br />

oder Soft Machine, als die wirklich außerhalb von<br />

London noch kein Schwanz kannte. "White Bicycles"<br />

nannte man übrigens noch die für alle zur freien Verfügung<br />

stehenden Fahrräder der revolutionären Provos<br />

in Amsterdam (diese weißen Fahrräder gibt es<br />

übrigens schon lange nicht mehr, die wurden natürlich<br />

sofort von irgendwelchen Asseln entweder geklaut<br />

oder zerstört…). Parallel zum Buch gibt es einen gut<br />

aufgemachten CD-Sampler gleichen Namens bei<br />

Fledg'ling Records, London.<br />

ACHTUNG: Anekdote!<br />

Überschrift: "Joe Boyds erste Begegnung mit Bob<br />

Dylan, lange bevor Bobby die Popikone des 20. Jahrhunderts<br />

wurde."<br />

Untertitel: „Wie die Rockmusik ihre Unschuld verlor,<br />

noch bevor sie geboren wurde.“<br />

Als Boyd eines Abends als mittelloser naiver Folknick<br />

eine Studentin aufreißt (ich weiß es natürlich nicht,<br />

Boyd hat es nicht erwähnt, aber sie hieß bestimmt<br />

Johanna, es muss so gewesen sein!!!) und ihr für die<br />

Nacht das Sofa abschwatzt, steht er später doch vor<br />

verschlossener Tür. Sofa und Studentin waren schon<br />

besetzt. Am nächsten Morgen beim gemeinsamen<br />

Frühstück lernt Boyd seinen Nebenbuhler kennen: es<br />

ist Bob Dylan.<br />

In dieser kleinen Anekdote wird das Phänomen Dylan<br />

wie in einer Epiphanie schlagartig klar: mit welcher<br />

Arroganz, Strebsamkeit, aber auch Unschuld sich<br />

Dylan später unaufhaltsam in unser kollektives<br />

Bewußtsein eingeschrieben hat, ohne dass er oder<br />

wir eine Wahl gehabt hätten. Und dann, die Geburtsstunde<br />

der Rockmusik. Datum: 25.7.1965. Uhrzeit:<br />

21:<strong>30</strong>. Ort: Newport Folk Festival. Protagonist: Bob<br />

Dylan. Augen- und Ohrenzeuge: Joe Boyd:<br />

„It was like being in the eye of a hurricane. All around<br />

us, people were standing up, waving their arms.<br />

Some were cheering, some booing, some arguing,<br />

some grinning like madman. A Bloomfield guitar solo<br />

screamed through the night air. Dylan's voice took up<br />

the last verse, hurling the words out into the night air:<br />

'Now the wintertime is <strong>com</strong>ing, the windows are filled<br />

with frost.' (…) There are many accounts of what happened<br />

next. Dylan left the stage with a shrug as the<br />

crowd roared. Having heard only three songs, they<br />

wanted 'mooooooooooore', and some, certainly, were<br />

booing. They had been taken by surprise by the volume<br />

and aggression of the music. Some loved it, some<br />

hated it, most were amazed, astonished and energized<br />

by it. It was something we take for granted now,<br />

but utterly novel then: non-linear lyrics, an attitude of<br />

total contempt for expectations and established<br />

values, ac<strong>com</strong>panied by screaming blues guitar and a<br />

powerful rhythm section, played at ear-splitting volume<br />

by young kids. The Beatles were still singing love<br />

songs in 1965 while the Stones played a sexy brand<br />

of blues-rooted pop. This was different. This was the<br />

Birth of Rock. So many taste crimes have been <strong>com</strong>mitted<br />

in rock's name since then that it might be questionable<br />

to count this moment as a triumph, but it certainly<br />

felt like one in July 1965. (…) Dylan had left the<br />

didactic world of political song behind. He was singing<br />

now about his decadent, self-absorbed, brilliant internal<br />

life. Anyone wishing to portray the history of the<br />

sixties as a journey from idealism to hedonism could<br />

place the hinge at around 9.<strong>30</strong> on the night of 25 July,<br />

1965.“<br />

Das hat jetzt aber mal gesessen: die Geburtsstunde<br />

des Rock auf die Minute genau benannt und zugleich<br />

mal als Anfang vom Ende prophezeit; vom Idealismus<br />

zum Hedonismus am Beispiel Bob Dylans, der Ikone<br />

der intellektuellen Popwelt schlechthin. Da sollten<br />

sich ein paar Poser mal so ihre Gedanken machen,<br />

wenn es denn noch geht. Von nun an heißt es nicht<br />

mehr, we shall over<strong>com</strong>e - es geht jetzt viel tiefer und<br />

diesmal tut es richtig weh; nichts ist mehr wie es vorher<br />

war und keiner bringt es dir zurück:<br />

The fiddler, he now steps to the road<br />

He writes everything's been returned which was owed<br />

On the back of the fish truck that loads<br />

While my conscience explodes<br />

The harmonicas play the skeleton keys and the rain<br />

And the visions of Johanna are now all that remain<br />

Das konnte dann nur noch Bob Dylan singen, in aller<br />

Unschuld, und es zeigt auch den Vorsprung, den<br />

Dylan gegenüber Nick Drake schon hatte, bevor dieser<br />

überhaupt eine Platte aufnehmen konnte. Nick<br />

Drake - ein weiteres Opfer der unaufhaltsamen, blinden<br />

Rockwalze, wie auch Jimi, Janis, Jim und all die<br />

anderen. Das Wunderbare an Joe Boyds Buch ist<br />

aber, dass er niemandem eine Schuld daran geben<br />

mag - die Unschuld haben wir damals spätestens am<br />

25. Juli 1965 alle kollektiv verloren. Boyds Buch ist<br />

weder konservativ noch nostalgisch. Es ist durchdrungen<br />

von einer großen Menschlichkeit, Würde und<br />

Respekt gegenüber den Künstlern und dem festen<br />

Glauben an die spirituellen Kraft der Musik. So.<br />

Joe Boyd war bei all dem dabei. Und er kann sich<br />

noch dran erinnern. Wie schön für uns.<br />

Guido Lucas 2/2007<br />

JOE BOYD: „White Bicycle. Making music in the 1960s“<br />

Taschenbuch: <strong>30</strong>4 Seiten<br />

Verlag: Serpent's Tail (April 2007)<br />

Sprache: Englisch<br />

ISBN-13: 978-1852429102<br />

und:<br />

CD (Various Artists):<br />

„White Bicycles - Making Music In The 1960s -<br />

The Joe Boyd Story“<br />

Proper Rec (Rough Trade)

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