reViews 30 - Noisy-neighbours.com
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<strong>30</strong><br />
<strong>reViews</strong><br />
AMPL:TUDE -<br />
DER IGEL AN DER ORGEL<br />
(Sinnbus/Alive)<br />
Ein Homerecording-Studio in<br />
Berlin-Neukölln, 2006: Vier jugendliche<br />
Tüftler-Nerds machen<br />
es sich vor dem Rechner gemütlich, drehen<br />
an Knöpfchen und hauen in die Tasten. Sie sind<br />
Teil einer Generation, die schon im Kindesalter<br />
ganz selbstverständlich mit Videospiel-Soundtracks<br />
aufwuchs und so schon früh mit Beats, Bits<br />
und Bytes Bekanntschaft machte. Hier hören wir<br />
das Resultat, quietschbunt wie sein Cover. Von jeglicher<br />
partieller Rockband-Vergangenheit hat sich<br />
das sinnbussche Eigengewächs Ampl:tude gemäß<br />
der Maxime „digital ist besser“ getrennt, nur selten<br />
verirrt sich noch eine Gitarre ins Klangbild. Nein,<br />
„Der Igel an der Orgel“ (sic!) ist der mittlerweile<br />
dritte Entwurf von C64-Elektrodance-Indietronics<br />
und dabei DIY in Reinkultur. Wenn andere Bands<br />
Soundtracks für Filme konzipieren, muss das verrückte<br />
Computerspiel, das „Der Igel an der Orgel“<br />
untermalen soll, noch erfunden werden. Abgedreht<br />
wäre es ganz sicher, quietschbunt und vergnüglich.<br />
Ein bonbonfarbenes Jump'n'Run in 4D, mit einem<br />
Protagonisten aus dem Tierreich - vielleicht ja<br />
„Die kleine Katze“? Mit Casio-Keys und Spielzeugklavier<br />
basteln sich Matti, Phil, Conrad & Jo eine<br />
Gameboy-Soundästhetik zusammen, die sehr eigen<br />
klingt und uns fern von hippen Dance-Trends<br />
und sterilen Elektro-Konventionen mit lässiger<br />
Gute Laune-Attitüde quirlig vergnügt. Putzig und<br />
naiv pluckert und fiept der Brotkasten, er funkt,<br />
zischt und steht ständig unter Strom - und spuckt<br />
dennoch immer wieder maximal poppige Melodie<br />
und schräge Tanzbeats aus. Computermusik mit<br />
warmem Herz und analoger Seele, eine „Revolution<br />
zum Selberkochen“, die kühler Kybernetik auf<br />
den elektrischen Synapsen ein Spiegelei brät. Vergleiche<br />
fallen schwer. Ein abwegiger: Man stelle<br />
sich vor, Horse The Band würden ihre Saiteninstrumente<br />
wegschmeißen, auf jegliche Metal-Hampeleien<br />
verzichten und ohne Machismo zu ihrem Nintendo-Nerdtum<br />
stehen. Und dann auch noch<br />
freundliche Tiere gut finden. Höchstens Console<br />
taugt vielleicht als entfernter Cousin im Geiste als<br />
Anhaltspunkt, zumindest ist Martin Gretschmann<br />
bekennender Hornbrillenträger. Vielleicht treffender<br />
ist das Bild, das der Plattentitel evoziert: Nicht<br />
selten klingt das tatsächlich so wuselig, als hätte<br />
sich der kleine Racker in der elektronischen Orgel<br />
verfangen und würde beim Fluchtversuch über die<br />
Tasten huschen und dabei sämtliche Knöpfe auf<br />
einmal drehen. Eine hohe Toleranzgrenze ist für<br />
derlei Eskapaden vonnöten, denn oftmals treibt es<br />
„Der Igel an der Orgel“ ziemlich bunt, sprich: nervenbelastend.<br />
Und für viele mag das gar schon von<br />
Anfang an nur ein Gedudel ersten Grades sein,<br />
kindlich und albern noch dazu. Aber trotz Stellen<br />
hoher nervlicher Belastung: diese Platte entschädigt<br />
mit vielen großartigen Momenten. Spätestens<br />
beim Hidden Track, der das alte „Ich packe meinen<br />
Koffer…“-Spiel reanimiert, ist man sich<br />
schließlich sicher: Das hier ist Musik von Nerds,<br />
für Nerds.<br />
9 Punkte<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
elektro-on.de<br />
Alles neu macht der Mai. Oder auch das neue Jahr. Zeit für Veränderung. Zeit, unsere <strong>reViews</strong>-Flut ein bisschen<br />
zu strukturieren. Und da in mancher Leben die Schulzeit noch sehr präsent ist („hach, damals, weißt Du noch?“),<br />
haben wir uns für ein 15-Punktesystem entschieden. Da gibt’s nicht viel mehr zu erklären... außer vielleicht noch:<br />
0-3 Punkte: irgendwo da unten. 4-6 Punkte: „Nicht Fisch, nicht Fleisch“, aber „essbar“. 7-9 Punkte: Mittelfeld.<br />
10-12 Punkte: gut! 13-15 Punkte: Supergutes Schätzchen!!!<br />
ANAJO -<br />
HALLO; WER KENNT HIER<br />
EIGENTLICH WEN?<br />
(Tapete/Indigo)<br />
Meine erste Begegnung mit<br />
dem Phänomen Anajo hatte ich, noch bevor ich<br />
auch nur eines ihrer Lieder gehört hatte - in einem<br />
Münchner Platten-Discounter tauchten während<br />
meines halbstündigen Stöberns nach interessanten<br />
Neuerscheinungen eine Dame mittleren Alters<br />
und ein Girlie auf. Sie erkundigten sich beide nach<br />
Platten einer Band, von denen es noch keine einzige<br />
Scheibe im Handel gab und die Tags zuvor einen<br />
ihrer allerersten Münchner Auftritte absolviert<br />
hatte: Sie sprachen von ganz niedlichen Jungs aus<br />
Augsburg und der tollen Partymusik. Es ging um<br />
Anajo - nach den im Möchtegern-Major-Rohr krepierten<br />
Nova International und Roman Fischer der<br />
nächsten großen Hoffnung der selbsternannten<br />
Popcity Augsburg. Und sie machten ja auch richtig<br />
Freude, die drei Jungs aus der knallbonbonbunten<br />
Tralala-Abteilung, in der scheinbar nur harmlos<br />
hübsche Unterhaltung ohne jegliches schlechtes<br />
Gewissen feilgeboten wurde. Doch das Witzige<br />
waren die stets präsente Selbstironie und eine nie<br />
zur Pose degenerierende Teenager-Frische, die<br />
Songs wie „Monika-Tanzband“ zu echten Kleinoden<br />
machten - und jedem, der es nicht hören wollte,<br />
raunte ich zu, dass ich auf den Erfolg dieser Jungs<br />
gerne Wetten anböte. Nur - niemand wettete dagegen.<br />
Nun also die Neue - erst Jahre später. „Wir lassen<br />
uns gehen und machen uns frei“ singen sie am Anfang,<br />
unsere drei Spaßpopper. „Alles, was da ist,<br />
und alles, was war: Wir werden es toppen, wir werden<br />
zum Star.“ Sie wären nicht die ersten Musiker,<br />
die in leicht schief liegender Grammatik den eigenen<br />
Aufstieg zutreffend besingen, auch, wenn der<br />
Gag einen weit in die Musikgeschichte zurück reichenden<br />
Bart hat. Es klingt ja so naiv, so - irgendwie<br />
- richtig, so schön leicht schräg und echt authentisch.<br />
Und von Anfang an entsteht das Bild<br />
weich gespülter Sportfreunde. (Doch, das geht!)<br />
Auch hier der Gesang, der sich nicht um seine Lehrer<br />
schert, die völlige Hinwendung zum Privaten<br />
und Unpolitischen. Eine fruchtgummi-süße Welt<br />
ohne Probleme. Da besingt man den Hotelboy, den<br />
mit Wasser in den Augen, weil man ihn halt gesehen<br />
hat, und vielleicht noch ein bisschen einen auf<br />
schwul macht, dann eine liebevolle Begegnung in<br />
Norddeutschland, das Mädchen im Fenster gegenüber<br />
- all die matt aufscheinenden, niemals ausgeleuchteten<br />
Projektionsflächen von Teenagerliebe<br />
und gymnasiastischen Allerwelts - Verblasenheiten.<br />
Und je länger das weiter dudelt, desto sicherer<br />
bin ich mir, dass das wirklich das nächste<br />
große Ding ist. Dass es mich immer mehr langweilt.<br />
Dass hier aus Ironie wirklich Pose wurde.<br />
Dass die Readers - Digest - Kopie harmloser<br />
Scherze flach werden muss. So flach, dass sich<br />
die Masse endlich davon träumen kann, in ein Zukkerwatte-Land<br />
ohne Alltagsdramen und existenzielle<br />
Unsicherheit. Dieser musikalische Lollipop<br />
ist eine Designer - Droge - auch, wenn Anajo ihr<br />
angebliches Indie - Bewusstsein so gerne betonen,<br />
dass sie wahrscheinlich selbst - noch! - dran glauben<br />
- independent ist hier nur die Freiheit zum Geld<br />
verdienen. Späßchen und Worte ohne Bedeutung<br />
gibt es ja auch in Zukunft ohne Ende. Also wird dieses<br />
Konzept fast ewig funktionieren - in all seiner<br />
kalkulierten Beliebigkeit. Und so mancher Intellektuelle<br />
mag dabei fröhlich und folgenlos mitwippen.<br />
So, wie in den Fünfziger - Jahren zu dümmlichen<br />
Schlagerliedchen in der Musiklandschaft das dösende<br />
Publikum auch um die Wette zum Verdrängen<br />
verführt wurde.<br />
Nette Liedchen also zwischen Schlager und Pop,<br />
zu denen Mutti mit ihrer Tochter tanzen kann. Mutti<br />
träumt von `nem jungen Lover und hofft, dass ihre<br />
Kleine mal so einen abkriegt, nicht so `nen Revoluzzer<br />
oder armen Arbeiter. Töchterchen möchte<br />
mit so `nem lieben Mittzwanziger schmusen, nachdem<br />
er von den Musikertantiemen die Champagnerrechnung<br />
gezahlt hat. Vorsicht, Mädel: Nicht<br />
jede nette Fassade bleibt beim besser Kennen lernen<br />
auch so nett. Von wegen: alles ist gut. Blablabla.<br />
Tralala.<br />
„Bunte Lichter, dunkle Wolken, ohne Bedeutung,<br />
denn dein Geheimnis liegt darin, dass Du keins<br />
hast.“ Das ist die ungewollte Selbstbeschreibung<br />
einer Erfolgsband von gleich morgen, die schon<br />
heute keine Eigenschaften mehr hat und hübsche<br />
Liedchen perfektioniert, die niemandem wehtun<br />
und völlig folgenlos bleiben. Opium fürs Volk? Aber<br />
sicher. Die (Platten-) Industrie freut das. Karl Marx<br />
hatte Recht. Ihrem häufig so mutigen, feinen Label<br />
gönne ich die garantiert fette Beute! Und die<br />
Jungs sollen von dem Geldregen, der jetzt auf sie<br />
niedergehen wird, das tun, was sie schon immer<br />
wollten, aber sich in ihren Liedern nicht auszusprechen<br />
trauen. Dann haben sie uns beim nächsten<br />
Mal vielleicht wieder Relevantes zu berichten.<br />
Die mir noch allzu gut erinnerliche Band Münchner<br />
Freiheit hat jedenfalls unerwartet Erben bekommen.<br />
Schlimm genug.<br />
5 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
anajo.de<br />
BEEHOOVER -<br />
THE SUN BEHIND THE DUSTBIN<br />
(Exile On Mainstream Rec / Soulfood)<br />
Mit Beehoover bekommt der derzeit so beliebte<br />
Club der trauten Zweisamkeit ein neues Mitglied.<br />
Diesmal aus Deutschland. Drums, Bass und Gesang<br />
sind die Mittel mit denen C.-P. Hamisch und<br />
I. Peterson ihre Version des Stoner-Doom-Metal<br />
zum Besten geben. Anfangs klingt „The Sun Behind...“<br />
dann auch ziemlich interessant, weil es<br />
schon überrascht, wie mächtig und druckvoll das<br />
Duo zu Werke geht. Aber jedes Mal, wenn das Album<br />
etwa zur Hälfte durchgelaufen ist - so etwa ab<br />
Break Nummero 1093 also - kann ich mir einen<br />
verstohlenen Blick auf das CD-Player-Zählwerk<br />
nicht mehr verkneifen. Irgendwie zieht sich das Album<br />
mit seinen gut 63 Minuten Gesamtspielzeit<br />
nämlich sehr in die Länge - obwohl Beehoover alles<br />
daran setzen, anders und „besonders“ zu klingen.<br />
Wahrscheinlich ist es aber genau dieser eigene,<br />
etwas zu verkopft wirkende Anspruch, der<br />
dem Album die Leichtigkeit nimmt und die Band<br />
letztendlich schlechter wegkommen lässt, als sie<br />
es eigentlich verdient hat. Live in einem kleinen,<br />
stinkenden Club oder auf EP-Länge sicherlich eine<br />
Macht. Abendfüllende Unterhaltung bieten Beehoover<br />
aber leider (noch) nicht.<br />
8 Punkte<br />
Jochen Wörsinger<br />
mainstreamrecords.de
BODI BILL - NO MORE WARS<br />
(Sinnbus/Alive)<br />
Es ist eine Krux mit dieser Platte! Die so gut und einzigartig<br />
hätte werden können und das nicht nur andeutet, sondern<br />
zeitweise auch konsequent in die Tat umsetzt, was<br />
man sich von ihr erwartet. Man muss nämlich wissen: Hinter<br />
Bodi Bill, diesem geheimnisvollen, körper- und gesichtslosen Konstrukt in<br />
50er-Jahre-Schwarzweiß-Ästhetik, verstecken sich Alex Amoon, vormals bei<br />
den Postrockern von Nonostar aktiv und der Elektronik/Laptop-Tüftler Pantasz<br />
alias Fabian Fenk. Auf dem Papier verspricht das eine Fusion aus verquerem<br />
Schöngeist und warmen Beats, auf dem Platz ist das zunächst sogar noch<br />
besser. Denn der Beginn von „No More Wars“ hat es in sich: Das ist smarter<br />
Indie-Elektro-Pop mit Köpfchen, leicht neben der Spur und im unterkühlt sterilen<br />
Gewand aus Querdenkerbeats stets aufgewärmt von einer unperfekten<br />
Stimme, der ganz viel Seele innewohnt - die Anglophilen unter euch könnten<br />
das auch beruhigt Soul nennen. Doch irgendwann passiert es dann unvermittelt:<br />
Die Stimmung kippt, kompakte Kleinode weichen ausufernden, monotonen<br />
Club-Beats und das intime Wohnzimmerkonzert wird in die anonyme,<br />
unpersönliche Großraumdisko verlegt. Dass Herr Pantasz mitten im Aufnahmeprozess<br />
seinen Kollegen kurzerhand aus dem Studio verbannte, ist höchst<br />
unwahrscheinlich, aber doch klingt es so. Der permanent uninspirierte Ausflug<br />
auf den instrumentalen Techno-Tanzflur langweilt jedenfalls zutiefst und will<br />
auch mal so gar nicht recht in den Kontext dieser so vielversprechend gestarteten<br />
Scheibe passen. Nichts gegen eine ordentliche Portion Bodi-Moving, in<br />
Trance verfallen will man bei dieser besseren Hintergrundbeschallung aber<br />
nicht. Nach quälend langem Ausharren auf Erlösung verpassen uns Bodi Bill<br />
dann mit dem finalen Track, der Single „Willem“, den finalen Schmerzenshieb.<br />
Denn dieser beste Song auf „No More Wars“ führt in knapp drei Minuten und<br />
mit charmanter Klavier-Begleitung nochmals deutlich vor Augen, was vorher<br />
in viel zu langen, abstrakten Dance-Exkursionen versäumt wurde: Wie ein guter<br />
Song auszusehen hat. Was hier hätte gehen können, wäre da nicht auf halber<br />
Strecke der böse Clubberwolf im Schafspelz aufgetaucht. Die Kriege können<br />
uns Bodi Bill zwar weiterhin gerne verbieten - aber nicht die Tränen für<br />
diese verpasste Chance.<br />
6 Punkte<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
bodibill.de<br />
BOMBEE+ - BEACHBOYS BACK FROM ANCHORAGE<br />
RADAR - ROLLSPLITT<br />
(beide Sweet Home Records/Poordog)<br />
Und wieder mal tritt ein neues, interessantes Label auf den Plan. Diesmal beheimatet<br />
in Sachsen, genauer Hohenstein-Ernstthal. Der Grundgedanke dahinter<br />
ist so einfach wie löblich: DIY, enge, auf Gleichberechtigung basierende<br />
Zusammenarbeit mit den Bands, eine eigenständige Plattform für Eigenständigkeit<br />
liebende Bands bieten, Netzwerke gründen und aufrecht erhalten und<br />
nicht zuletzt ein hohes Maß an Idealismus.<br />
Die beiden aktuellen Veröffentlichung des Labels spiegeln dann auch genau<br />
diese Haltung wieder. Da wären zunächst mal BOMBEE+ mit einem Album,<br />
das man schon alleine wegen des absolut genialen Titels „Beachboys Back<br />
From Anchorage“ mögen muss. Auf solche Ideen kommt man wohl nur, wenn<br />
man sich wie die Herren De Flander, Roeder und ein junger Mann, genannt<br />
der Kaiser, eine Woche einsperrt und zehn Songs wachsen lässt, wo vorher<br />
noch keine waren. So klingt alles auch sehr frisch und spontan und obwohl lediglich<br />
Stimme, Gitarre und Cajón (peruanisches/kubanisches Percussioninstrument)<br />
zum Einsatz kommen, lassen die rein akustisch gehaltenen Songs<br />
nichts vermisst. Im Gegenteil: Erst durch diese Freiraum lassende Instrumentierung<br />
entfalten sie eine angenehme Tiefe, und vor allem wenn das Trio in<br />
Richtung Blues und Country im Cash'esken Stil schielt, kann das Ganze auch<br />
latent ins Rocken kommen. Insgesamt also ein recht eigenständige, leicht verstrahlte<br />
Platte, die mit sehr viel liebe zum Detail daher kommt.<br />
Ein etwas anderes Feld beackern RADAR, die mit „Rollsplitt“ den zweiten aktuellen<br />
Sweet Home-Release liefern. Der Infoschreiber scheut sich ein wenig<br />
die Schublade Post-Rock aufzumachen und ich frage mich warum! Ist die denn<br />
mittlerweile denn auch schon wieder so uncool geworden? Klar. Klassischer<br />
Post-Rock geht schon ein wenig anders, als es Radar vormachen, aber eine<br />
gewisse Verwandtschaft lässt sich sicherlich nicht verleugnen. Und damit<br />
meine ich nicht nur den lediglich rudimentär eingesetzten Gesang, sonder vielmehr<br />
die verschachtelten, auf Repetition und geschickte Verzögerung basierenden<br />
Songstrukturen, die dem ganzen Album einen leicht psychedelische<br />
Anstrich verleihen. Am Besten lässt sich das hier wohl als (neuere) The Sea<br />
And Cake mit weniger Zuckerguss oder (ältere) Trans Am mit mehr Liebe zum<br />
Song beschreiben. Positiv fällt zudem auf, dass hier nicht nur auf das alte<br />
Laut/Leise/Steigerung/Eruption-Spiel vertraut wird, sondern vor allem im Bereich<br />
Rhythmus immer wieder Modernismen, sprich Club-Beats, eingestreut<br />
werden und auch die stets vorhandenen Keys und Orgeln für zusätzliche Abwechslung<br />
und einen leicht krautig-avantgardistischen Anstrich sorgen.<br />
Bombee+: 11 Punkte<br />
Radar: 10 Punkte<br />
Jochen Wörsinger<br />
sweethomerecords.<strong>com</strong><br />
BOUND STEMS - APPRECIATION NIGHT<br />
(Flameshovel/Alive)<br />
<strong>reViews</strong> 31<br />
Wie klingt es, wenn ein ehemaliger Geschichtslehrer, ein<br />
Comic Art-Director und ein Techniker eine Band gründen?<br />
Richtig: intellektuell, künstlerisch wertvoll und frickelig. Die<br />
Bound Stems knallen uns mit ihrem Debüt einen ganz schönen Brocken vor<br />
den Latz. Eine mit 15 Songs prall gefüllte Wundertüte, auf der musikalischen<br />
Landkarte irgendwo zu verorten zwischen pavementschem Indierock und dem<br />
Emo des amerikanischen Mittelwestens. „Appreciation Night“ ist schräg und<br />
neben der Spur, zerrissen, konfus und anstrengend, wirkt zerstreut und macht<br />
doch Sinn. Die Bound Stems sind stolz auf ihre chaotische Ader, die sich in<br />
collagenartigen, komplett zerwürfelt wirkenden Songstrukturen niederschlägt.<br />
An Conor Obersts Rockband Desaparecidos muss man da denken, an deren<br />
Saddle Creek-Labelmates von Cursive und vor allem an Modest Mouse. Frontmann<br />
Bobby Gallivans Stimme klingt wie ein Hybrid aus den Sängern dieses<br />
Band- Trios. Vor allem die stimmliche Ähnlichkeit zu Brock ist fast schon beängstigend<br />
- bei jedem Imitationswettbewerb würde Galligan die Konkurrenz<br />
gnadenlos in Grund und Boden singen. Und hier wie da denkt man, dass dem<br />
getriebenen Wahnsinnigen am Mikro eine Teufelsaustreibung nur helfen<br />
könnte, um von seinen Dämonen loszukommen. Für ein wenig liebliche Wärme<br />
sorgt sein charmanter weiblicher Counterpart Janie Porche, zum Beispiel im<br />
sich stellvertretend für die ganze Scheibe unberechenbar wandelnden „Excellent<br />
News, Colonel“, das sich von lieblichem, fröhlichem Indie-Pop über nachdenkliche<br />
Schwermut bis hin zum triumphierenden Gesangsduett im Wechselbad<br />
der Gefühle einer beachtlichen Transformation unterzieht. Thematisch<br />
befasst man sich auf der abenteuerlichen Reise durch „Appreciation Night“<br />
von Geschichten über die Namensgebung von Säuglingen bis hin zur Historie<br />
des amerikanischen Bürgerkriegs mit einem weiten Spektrum. Im Grunde<br />
genommen ist die geballte Lyrikansammlung eine Hommage an den Alltag in<br />
der Heimatstadt Chicago, Illinois, ergänzt durch Zitate aus der Literatur von<br />
James Joyce und Kurt Vonnegut Jr. Auch textlich also schwerer Stoff. „pretty<br />
/ <strong>com</strong>plex / music“ steht im Booklet dieser Scheibe geschrieben. Kann man<br />
unterm Strich so stehen lassen. Wenn man sich auch oft noch mehr Dominanz<br />
des Schönklangs gegenüber der oft übertriebenen Komplexität wünscht. Langweilig<br />
wird es in dieser langen Nacht jedenfalls so schnell nie. Allein das ist<br />
schon bemerkenswert.<br />
9 Punkte<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
boundstems.<strong>com</strong>
32<br />
<strong>reViews</strong><br />
BROMHEADS JACKET -<br />
DITS FROM THE COMMUTER BELT<br />
(Pias)<br />
Oh dear! This is very british! Wild, schnell, jung,<br />
nervös, ein wenig punky und - Achtung, jetzt kommt<br />
die einzige Überraschung der nächsten gut 20<br />
Textzeilen - NICHT durch das Internet bekannt und<br />
berühmt geworden. Zumindest steht davon nichts<br />
im Info. Vielmehr hat sich die Band wohl auf konventionellem<br />
Wege einen Plattenvertrag erspielt -<br />
sprich einfach Singles veröffentlicht und so viel wie<br />
möglich Live gespielt. Das macht sie sympathisch,<br />
scheint aber auch schon der einzige wirklich erwähnenswerte<br />
Unterschied zwischen den drei<br />
Jungs von Bromheads Jacket und den derzeitigen<br />
Platzhirschen des neuen Brit-Pops zu sein. Im Großen<br />
und Ganzen ist „Dits From The…“ nämlich lediglich<br />
ein lauwarmer Aufguss von „Whatever People<br />
Say I Am,....“ der Arctic Monkeys. Das fängt<br />
mit der ach so rebellisch-wilden Haltung an, zieht<br />
sich weiter zur stimmlichen Phrasierung und findet<br />
seine Vollendung in der exakten Kopie einzelner<br />
Gitarren- und Bass-Sounds. Der Gipfel des Plagiats<br />
ist jedoch „Fight Music For The Fight“, bei dem<br />
sich Sänger Tim Hampton wahrscheinlich regelmäßig<br />
auf der Bühne anstrengen muss, damit er<br />
nicht aus Versehen „I Bet You Look Good On The<br />
Dancefloor“ trällert. Komplett machen dieses Bild<br />
die zwei bis drei ruhigeren Songs, die - wer hätte<br />
es gedacht - natürlich nach B-Seiten der Kooks<br />
klingen.<br />
Insgesamt also eine Platte mit dem Coolnessfaktor<br />
eines Milhouse van Houten und eigentlich keiner<br />
Bewertung würdig. Die Punkte gibt es nur für<br />
den Mut der Band, die es sich wohl tatsächlich<br />
traut, diesen absolut überflüssigen Rip-Off zu veröffentlichen.<br />
Punkte: 3<br />
Jochen Wörsinger<br />
bromheadsjacket.<strong>com</strong><br />
CANCER BATS -<br />
BIRTHING THE GIANT<br />
(Hassle/Full Time Hobby/PIAS/<br />
Rough Trade)<br />
Gegen Ende des letzten Jahres<br />
konnte man die Cancer Bats aus Toronto noch im<br />
Vorprogramm ihrer kanadischen Landsmänner<br />
von Alexisonfire auf deutschen Bühnen wüten sehen;<br />
eine Paarung, die ganz offensichtlich eher aus<br />
freundschaftlichen Banden entstanden ist als<br />
durch gemeinsame musikalische Bezugspunkte.<br />
Denn „Birthing The Giant“ ist als Bastard aus Hardcore,<br />
Punk, Metal und Rock mit Betonung auf den<br />
ersteren Spielarten ein ganz schön fieses Ding. Die<br />
Rhythmussektion macht ordentlich Dampf und griffige<br />
Riffs werden reihenweise mit großem Knall<br />
vom Stapel gelassen. Nur selten schafft man es<br />
allerdings, diese vielversprechenden Ingredienzen<br />
zu einem ebenso griffigen und vor allem schlüssigen<br />
Song zu vermengen. „French Immersion“,<br />
„Grenades“ und „100 Grand Canyon“ schaffen es<br />
und paaren die straighte Punkrock-Energie von<br />
The Bronx mit der energischen Hardcore-Wut von<br />
Everytime I Die, brachialem Southern-Metal in<br />
Pantera-Manier und einem Quentchen Melodik -<br />
das den meisten anderen Stücken völlig abgeht -<br />
zu einer krachend explosiven Mischung. Doch sind<br />
das nur 3 von 11 Tracks - eine Quote, die in hohem<br />
Maße verbesserungswürdig ist. Genau so wie<br />
das scheinbar nur in einer Tonlage vorrätige, auf<br />
Dauer extrem monotone Gekeife von Sänger Liam.<br />
Gerade vom Gesang her hätte ein wenig mehr Melodie<br />
und Wiedererkennungswert dieser Scheibe<br />
sicherlich gut getan - und sei es nur zur besseren<br />
Unterscheidung der doch sehr ähnlich und stets<br />
ziemlich eindimensional gestrickten Songs. Es<br />
fehlt „Birthing The Giant“ einfach an Abwechslung<br />
und auch in Sachen Songwriting müssen die Cancer<br />
Bats nachsitzen, denn da bleibt „Birthing The<br />
Giant“ pures Stückwerk. Ein guter Song besteht<br />
nun mal aus mehr als einem feschen Riff. So ist<br />
hier entgegen des Albumtitels ganz und gar nichts<br />
Gigantisches entstanden, sondern eher eine kleinwüchsige<br />
Zwergengestalt geschlüpft.<br />
5 Punkte<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
cancerbats.<strong>com</strong><br />
Claudius - angel for us<br />
(Triple Eggs/RADAR Music)<br />
Ein relaxtes Stück Musik. Mit<br />
dem nötigen Drive an den nötigen<br />
Stellen. Nach den ersten<br />
Tönen wähne ich mich im<br />
elektrointelligentem Universum von Lali Puna, MS<br />
John Soda, Console und all den Verwandten. Die<br />
Clique um die Mannen von Notwist eben. Weilheim.<br />
Kollaps. Hausmusik. All diese mächtigen und<br />
so musikrelevanten Begriffe spielen auch hier eine<br />
Rolle. Claudius atmet diese Atmosphäre. Und<br />
schwitzt intelligenten modernen Pop aus. Schräge<br />
Arrangements. Wohlige zweistimmige Gesangsharmonien<br />
führen durch die Stücke, relaxtes Sich-<br />
Treibenlassen wechselt mit mehr oder minder derben<br />
Parts; die können durchaus auch mal das Nervenkostüm<br />
strapazieren. Da wird man schon mal<br />
von überraschendem Noise heimgesucht. Erwähnte<br />
ich schon Jazz? Jener schlägt sich nicht<br />
nur im schlagenden Besenrhythmus nieder, nein,<br />
mit „Tranquilidad“ stoßen wir auch auf ein Monster<br />
von Instrumental-Song, den Tied & Ms. Puna nie<br />
geschrieben haben. Aber hätten können. Dieser<br />
trifft uns auch im denkbar richtigsten Moment, genau<br />
dann, wenn wir eine kleine Auszeit von der melancholisch-hauchenden<br />
Doppelstimme brauchen.<br />
Da ist das Stichwort gefallen. Die Platte ist<br />
von einer höchstpräsenten Melancholie durchzogen.<br />
Kein Wunder, wenn man den Hintergrund der<br />
Entstehung kennt; dient sie doch als Verarbeitungshilfe<br />
und -ventil zum Tode des Vaters. Die<br />
Therapie zum Voranschreiten, zum Weitermachen.<br />
Melancholie ist die neue Hoffnung. Als leidenschaftlich<br />
agierende Shoegazer tragen wir dieses<br />
Wissen schon auf urnatürliche Weise in uns.<br />
Zurück zur Musik, zurück zum Endspurt. Naked<br />
Lunch wäre auch noch ein Name, der fallen müsste.<br />
Intelligenter melancholischer Pop in Schräglage.<br />
So wie Claudius. Mit dem Ideenreichtum,<br />
dem Experimentellen und der Gewitztheit der alten<br />
Soulwax. Huch, da war ja noch ein Name. Und<br />
selten habe ich so eine coole wenn auch ziemlich<br />
freche Hommage an „Plush“ von den Stone Temple<br />
Pilots gehört. Genau, Track 11: „Don't look<br />
around“. Die Gitarren. Cool. Und frech. Und cool.<br />
11 Punkte<br />
Matthias Horn<br />
CLOWN ALLEY -<br />
CIRCUS OF CHAOS<br />
(Southern Lord/Soulfood)<br />
Crossover hatte ganz früher,<br />
bevor es zu einem Schimpfwort<br />
für Funk-Metal und ähnliches wurde, einmal<br />
eine andere Bedeutung. Es war u. a. die Bezeichnung<br />
für die Verbindung zwischen Hardcore und<br />
Heavy/Thrash-Metal, seinerzeit zwei eher konträre<br />
Lager, nicht aber unbedingt auf musikalischer<br />
Ebene. Es wurden damit aber auch Bands etikettiert,<br />
die man nicht so recht einordnen konnte, da<br />
sie neben den härteren Rockeinflüssen auch mit<br />
Jazz oder Reggaekomponenten spielten. Minutemen<br />
oder Bad Brains seien hier stellvertretend genannt.<br />
Zur erstgenannten Hardcore/Thrash-Fusion<br />
kann man die ganz frühen Anthrax („Among<br />
The Living“), Nuclear Assault, SOD oder auch Sacred<br />
Reich nennen. Clown Alleys „Circus Of<br />
Chaos“ ist ein Re-Release von 1986, also der Kernzeit<br />
der „Bewegung“, und jetzt erstmals auf CD er-<br />
hältlich. Anfänglich gibt es auch recht guten Uptempo<br />
Hardcore/Thrash, der wirklich ein wenig an<br />
die sehr frühen Anthrax erinnert. Im Laufe der Zeit<br />
geht dem Album aber, gerade in den langsameren<br />
Tracks, die Energie verlustig. Überdies ist die Produktion<br />
nach heutigen Maßstäben nicht besonders<br />
(um das mal euphemestisch zu sagen), sie liefert<br />
aber ein authentisches Soundbild dieser Zeit. Wer<br />
Clown Alley nicht mitbekommen hat, der könnte<br />
zumindest ihren Track „Theme“ kennen, der von<br />
den Melvins öfter gecovert und aufgenommen<br />
wurde. Lori Black und Mark Deutrom waren<br />
zwischendurch übrigens auch bei den Melvins aktiv<br />
und letzterer tourt immer wieder mit SunnO))).<br />
Für Sammler sicherlich eine interessante Sache,<br />
da neben einem Radiopromotiontrack noch vier Livetracks<br />
zu hören sind.<br />
ohne Wertung<br />
Christian Eder<br />
CLUTCH - From Beale Street to Oblivion<br />
drt Entertainment / Soulfood<br />
Wer hätte gedacht, dass sich Clutch noch mal so<br />
kraftvoll zurückmelden? Ich persönlich war schon<br />
versucht, die Jungs unter „Früher wichtig - heute<br />
ein Schatten ihrer selbst“ abzulegen.<br />
Von Geniestreichen wie „Transnational Speedway<br />
League“ und „Elephant Riders“ angefixt, musste<br />
ich mir die letzten Veröffentlichungen erst schönhören.<br />
Ganz anders jetzt! „From Beale Street“ zündet<br />
sofort, groovt wie Hölle und die seit dem letzten<br />
Album fest integrierte Orgel klingt mittlerweile,<br />
als ob sie schon immer dabei gewesen wäre.<br />
Konnte man früher Stoner-Rock-Affinität bescheinigen,<br />
klingen Clutch 2007 nach klassischem<br />
Hard-Rock im besten Sinne des Wortes.<br />
Referenz für die alten Säcke: Deep Purple, Atomic<br />
Rooster, etc. / Referenz für die jungen Hüpfer: Spiritual<br />
Beggars, Wolfmother, etc.<br />
Um mal philosophisch zu enden: Vergänglichkeit<br />
ist, wenn man die Originale mit den Kopien erklären<br />
muss.<br />
12 Punkte<br />
Mike Maisack<br />
CONEY NOISE/AM YETO -<br />
THE BROTHER AND SISTER JAM III (Split)<br />
(12 Pylons)<br />
Die Geschwister-Session geht in die dritte Runde.<br />
Den Einstieg bilden CONEY NOISE - eine 12 Pylons-Band<br />
der ersten Stunde, die jedoch leider viel<br />
zu wenig von sich hören lässt. So ist das letzte Lebenszeichen<br />
nun schon gut vier Jahre her. Und<br />
auch jetzt beglücken sie uns gerade mal mit drei<br />
Songs. Die jedoch - und das lässt sich mit Fug und<br />
Recht behaupten - sind das Beste, was man je von<br />
Coney Noise gehört hat. Noch nie war die Band so<br />
nah an Nirvana's „Bleach“ und den frühen Sonic<br />
Youth. Noch nie hat sie es geschafft, diese Einflüsse<br />
so homogen in die eigene Klangvision, bestehend<br />
aus Noise und regelmäßig in Destruktion<br />
endenden Brachial-Parts, einzubauen. Im Vergleich<br />
dazu kommen AM YETO zwar etwas popiger,<br />
aber sicherlich nicht minder interessant daher.<br />
Auf fünf Songs zeigen sie, wie man Einflüsse aus<br />
fast allen Ecken und Dekaden des Indie-Rock in<br />
kompakte, nach vorne gehende Songs packt und<br />
dabei dennoch nicht plakativ klingt. Vielmehr verstehen<br />
es Am Yeto, allen Einflüssen neue Seiten<br />
abzugewinnen. Sie überraschen mit abrupt einsetzenden<br />
Dreampop-Parts, wo vorher noch ein nach<br />
vorne gehender, riffbasierter Rocksong war („Uniform“),<br />
oder sie legen die Stimme gleich ganz ad<br />
acta und wagen so einen Blick in Richtung Post-<br />
Rock („Trans RAF“).<br />
Insgesamt also eine Splitt-CD, die zwei Band vereinigt,<br />
die Unterhaltung auf allerhöchstem Niveau<br />
bieten.<br />
Punkte: 12<br />
Jochen Wörsinger
CORNUCOPIA - BREATH<br />
(12 Pylons)<br />
Rasend schnelle Recherchen<br />
im Google-Zeitalter ergeben:<br />
Das Füllhorn (lat.: cornu copiae)<br />
ist das in der griechischen<br />
Mythologie verwendete Symbol für Glück, Fruchtbarkeit,<br />
Reichtum und Überfluss. Unglaubliche<br />
sechs Jahre hat das gleichnamige Quartett aus dem<br />
Raum Rothenburg ob der Tauber benötigt, um sein<br />
zweites Album fertigzustellen, das nun aber mit<br />
mächtigem Heavy Rock im Überfluss zu beglücken<br />
und die lange Wartezeit durchaus zu rechtfertigen<br />
weiß. In bester Black Sabbath-Tradition animieren<br />
Cornucopia mit elektrisierenden Stromgitarren zum<br />
Schütteln des Haupthaars. Der ein oder andere<br />
Schlenker über die Landstraße wird dabei gerne in<br />
Kauf genommen, nur um dann doch wieder mit voller<br />
Wucht wie ein schwer beladener Monster-Truck<br />
über den Highway zu brettern. Cornucopia lieben<br />
das Spiel der Kontraste, ohne sich allzu sehr in psychedelischen<br />
Zwischenmomenten zu verlieren. In<br />
den meditativen Momenten der Ruhe wird zumeist<br />
nur kurz Atem geholt, bevor man abermals mit voller<br />
Kraft voraus weiterstürmt. Breitbeinig und majestätisch<br />
münden die Refrains mit zunehmender<br />
Spielzeit im Hymnischen. Ein wenig lang ist die<br />
Scheibe dann in Analogie zum nie versiegenden<br />
Füllhorn aber doch geraten, zum Ende hin franst<br />
„Breath“ aufgrund mangelnder Abwechslung ein<br />
wenig aus. Dennoch eignet sich diese hervorragend<br />
druckvoll inszenierte Ladung Heavy Rock dank der<br />
Betonung des Rock-Faktors mit derben Stoner-<br />
Grooves, eingängigen Leads und melodischem Gesang<br />
gerade für Genre-Neulinge ganz vorzüglich<br />
als Einstiegsdroge.<br />
11 Punkte<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
myspace.<strong>com</strong>/cornucopiarocks<br />
CULM -<br />
LIFE IN A STEEL CAGE<br />
IS NO LIFE AT ALL<br />
(Miyagi)<br />
Irgendetwas muss richtig gelaufen<br />
sein bei der musikalischen<br />
Sozialisation im Hause Schulte, gelegen in Rheine<br />
nahe Münster. Michael, der ältere beider Brüder,<br />
steht mit seiner Band A.M. Thawn schon seit gut 12<br />
Jahren für Experimente im Spannungsfeld zwischen<br />
Indierock und Postpunk. Und auch Christoph,<br />
der jüngere, hat seitens des Elternhauses vermutlich<br />
so einige Fugazi-Platten geerbt. „Life In A Steel<br />
Cage Is No Life At All“ heißt das zweite Album seiner<br />
Band Culm: 14 mal sperriger Postcore, der auf<br />
den ersten Blick mit Dynamik und Drive überzeugt,<br />
mit Melodien aber geizt. Diese erschließen sich erst,<br />
wenn man ihre spröde Außenschicht durchdringt.<br />
Bleiben anfangs nur markante Gitarrenläufe wie der<br />
aus dem tollen „Time And Thoughtless“ hängen, ergeben<br />
die Puzzlestücke mit wachsender Beschäftigung<br />
ein zusammenhängendes Bild aus schneidenden<br />
Gitarrenriffs und verspielter Rhythmik. In ihrer<br />
vertrackten, aber dennoch eruptiv Emotionen<br />
ausstoßenden Art erinnern Culm an die viel zu früh<br />
verschiedenen The Ghost aus Chicago, zumindest<br />
wenn man sich mal den ziemlich arg durchscheinenden<br />
deutschen Akzent wegdenkt. Trocken und<br />
authentisch in DIY-Manier im eigenen Tanztee-Studio<br />
produziert, lenken keine Effekte vom wahren<br />
Kern der knackig kompakt gehaltenen Songs ab.<br />
Christophs Gesang ist rau und ungekünstelt, hin<br />
und wieder klingt sein melancholisch ungeschliffenes<br />
Timbre tatsächlich wie zufällig nach dem jungen<br />
Robert Smith. An anderer Stelle wiederum werden<br />
die Parolen dringlich und atemlos wie ein Manifest<br />
hinausgeschleudert. Ein Manifest der personal<br />
politics, bestehend aus explizit hoffnungslosen,<br />
desillusionierten Phrasen über zwischenmenschliche<br />
Desaster, Sehnsucht, Selbstbild, Orientierungslosigkeit<br />
und unverortbare Zweifel. Selbst ein<br />
Abschiedsbrief wird vertont. Schwere Kost, aber gerade<br />
die macht bekanntlich satt und zufrieden. Das<br />
Album ist beim frisch gegründeten Label Miyagi Records<br />
übrigens als Vinyl-LP mit beiliegender CD-<br />
Fassung plus Aufnäher für einen glatten Zehner erhältlich.<br />
Das heimst zusätzliche Sympathiepunkte<br />
ein, die diese Platte aber gar nicht nötig hat, kann<br />
sie doch für sich allein bestehen.<br />
11 Punkte<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
culm.de<br />
DAATH - THE HINDERERS<br />
(Roadrunner/Universal)<br />
Schon seit Wochen, besser Monaten, wird über<br />
diese Band gemunkelt, die es da geschafft hat, als<br />
New<strong>com</strong>er beim nun nicht gerade kleinen Label Roadrunner<br />
unterzuschlüpfen. Erinnerungen werden<br />
da schnell wach an all jene Bands, die das Kultlabel<br />
einst bereits frühzeitig entdeckte und ganz nach<br />
vorne brachte, Machine Head beispielsweise, Fear<br />
Factory oder Life Of Agony. Nach zwischenzeitlicher<br />
kreativer Durststrecke der A&R-Abteilung zeigt sich<br />
das 1979 ins Leben gerufene Label in letzter Zeit<br />
mit Bands wie Trivium oder Killswitch Engage auf<br />
der Höhe der Zeit.<br />
Die Erwartungen, die an das Sextett aus Atlanta,<br />
Georgia geknüpft werden, sind damit, gefördert<br />
noch durch das massive Rühren der Werbetrommel,<br />
fast schon übermäßig groß - und werden dementsprechend<br />
enttäuscht. Entpuppt sich „The Hinderers“<br />
doch keineswegs als ein innovatives Album,<br />
das in der Lage wäre, Metal-Geschichte zu schreiben,<br />
sondern vielmehr als eine schlichte Mischung<br />
klassischen Death-, Black- und Thrash-Metals.<br />
Doch dieser erste Moment der Enttäuschung sollte<br />
keinesfalls dazu führen, Daath und „The Hinderers“<br />
zu unterschätzen. Denn dass mit Kevin Talley ein<br />
Mann in die Band eingestiegen ist, der schon für<br />
Chimaira und Dying Fetus am Schlagzeug saß,<br />
kommt nicht von ungefähr: das Talent, das in Daath<br />
schlummert, ist mehr als ausreichend, um die Band<br />
wahrhaftig weit nach vorne zu bringen. Was sich im<br />
ersten Augenblick nach einer wilden Mischung der<br />
weiter oben genannten Stile darstellt, offenbart sich<br />
nach ausführlicherer Auseinandersetzung mit dem<br />
Debütwerk als äußerst intelligent durchgeplante<br />
Kombination. Denn nicht nur, dass sich der Sechser<br />
musikalisch äußerst versiert zeigt, muss man<br />
sich, was das Songwriting anbelangt, kaum vor weitaus<br />
größeren Bands, die seit Uhrzeiten ihr Geschäft<br />
betreiben, verstecken. Denn wenn auch der Vergleich<br />
ob der fehlenden symphonischen Momente<br />
fehlt, erweisen sich Daath Black Metal-Größen wie<br />
Dimmu Borgir oder Cradle Of Filth durchaus als<br />
ebenbürtig, wissen mit Thrash-Riffs mindestens<br />
ebenso gut umzugehen wie manche Legende der<br />
Bay Area und können auch als Death Metaller<br />
100%ig überzeugen. Dass ihr Label dafür gesorgt<br />
hat, dass dabei garantiert nichts schief geht, versteht<br />
sich von selbst: Mit James Murphy (Produktion,<br />
ex-Death, Testament, Obituary), Colin Richardson<br />
(Mix, Fear Factory, Bullet For My Valentine, Machine<br />
Head) und Andy Sneap (Technik, Soulfly, Nevermore,<br />
Opeth, Kreator) wurde Daath ein Produzententeam<br />
verpasst, wie es für den Old-School-<br />
Sound der Band, der natürlich perfekt in die aktuelle<br />
Retrowelle des Metal passt, wie es kein besseres<br />
geben kann. Trotz Anlaufschwierigkeiten: ein Debüt<br />
für die Ewigkeit.<br />
13 Punkte<br />
Arnulf Woock<br />
daathmusic.<strong>com</strong><br />
myspace.<strong>com</strong>/daath<br />
DAKOTA SUITE -<br />
WAITING FOR THE DAWN TO CRAWL<br />
THROUGH AND TAKE AWAY YOUR LIFE<br />
Glitterhouse / Indigo<br />
Jau, er hat's noch mal geschafft!! Der dauerdepressionsgeplagte<br />
Chris Hooson - besser bekannt unter<br />
dem Pseudonym Dakota Suite - hat entgegen<br />
aller selbst geäußerten Schwarzmalerei - von<br />
wegen, er würde es psychisch nicht mehr schaffen,<br />
weiterhin Musik zu veröffentlichen… - ein neues Album<br />
aufgenommen.<br />
Wäre auch zu schade gewesen, wenn dieser Ausnahmekünstler<br />
sich seinen Dämonen ergeben hätte<br />
und verstummt wäre.<br />
Das aktuelle Werk bringt kaum Überraschungen.<br />
Wieder werden traurige Melodien zart interpretiert,<br />
Schwermut vertont und Weltschmerz in Noten gegossen.<br />
Trotz der wehmütigen Grundstimmung der<br />
Platte könnte ich mich wegschmeißen vor Lachen,<br />
wenn ich dran denke, dass die Inspiration für diese<br />
frisch veröffentlichten Musik-Dramen nicht etwa aus<br />
dem Scheitern einer großen Liebe oder dem<br />
Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen,<br />
sondern aus den häufigen Niederlagen seiner<br />
Lieblings-Fußballmannschaft (dem FC Everton)<br />
entspringt. Da behaupte doch noch mal jemand,<br />
Fußball habe nichts mit Kunst zu tun. Komische<br />
Käuze, die Engländer.<br />
Im direkten Vergleich mit dem 2002 veröffentlichten<br />
Meilenstein „This River Only Brings Poison“ muss<br />
die aktuelle Scheibe sich zwar knapp geschlagen<br />
geben, wer aber schnell zugreift, kann in der Erstauflage<br />
neben der CD noch eine interessante Dokumentation<br />
zweier Schweizer Filmemacher über<br />
Hooson und seine Musik auf einer beigelegten DVD<br />
abgreifen. Und das ohne Aufpreis!<br />
Natürlich hat der sensible Künstler wiederum angekündigt,<br />
dies sei seine definitiv letzte Platte. Er habe<br />
nicht die Kraft, weiterhin Musik aufzunehmen.<br />
Hoffentlich täuscht er sich. Wenn es zum Wecken<br />
seiner Kreativität der Niederlagen des FC Everton<br />
bedarf, könnte man ja mal eine Sammlung unter den<br />
Dakota Suite - Fans veranstalten. Mit dem gespendeten<br />
Geld würden Schiedsrichter bestochen, die<br />
im entscheidenden Moment für den uns genehmen<br />
Ausgang der FC Everton - Spiele sorgten. Was tut<br />
man nicht alles für gute Musik? Ich würde spenden!<br />
12 Punkte<br />
Mike Maisack<br />
hooson.demon.co.uk<br />
DÄLEK -<br />
ABANDONED LANGUAGE<br />
(Ipecac/Soulfood)<br />
<strong>reViews</strong> 33<br />
Auf ihrem letzten vollwertigen Album<br />
„Absence“ hatten Dälek das<br />
mit seinem Vorgänger „From Filthy<br />
Tongue Of Gods And Griots“ aufgestellte Prinzip<br />
der Mischung aus HipHop und Noise - gerne im<br />
recht radikalen Sinne - konsolidiert und eventuell<br />
sogar auf die Spitze getrieben. Man ertappte sich<br />
dabei das Wort „krass“ plötzlich nicht mehr mit dem<br />
inflationären neudeutschen Klang zu denken, sondern<br />
wieder als das althergebrachte Adjektiv etwas<br />
wirklich Extremen. Eindeutig eine musikalische<br />
Ausnahmeerscheinung. Naturgemäss ist man mit<br />
einem wirklichen Extrem am Ende einer Ausdrukksform<br />
angekommen und so gibt es mit dem neuen<br />
Album Däleks eine Art Bruch, der nur in der Umsetzung<br />
des Prinzips nicht aber in seiner Wirkung einer<br />
ist. Deutet der Titel „Abandoned Language“ diesen<br />
Abschied eventuell sogar direkt an? Eine Sprache<br />
aufgeben heisst ja nicht, dass der Ausdruck an<br />
sich aufgegeben wird. Den Krach haben Dälek<br />
größtenteils abgeschaltet bzw. in ein durchbrochenes<br />
und variierendes Dröhnen hineinkomprimiert;<br />
mit dem Effekt, dass ihre Musik zwar „leichter“ hörbar,<br />
aber zu keiner Zeit weniger bedrohlich geworden<br />
ist. Im Gegenteil: eine sehr düstere Platte. Die
34<br />
<strong>reViews</strong><br />
Soundkollagen, die dieses Mal den Rap und die<br />
Beats begleiten, wirken aufgeräumter und (in der<br />
Regel) auf den ersten Blick friedlicher als die älteren.<br />
Man kann aber sicher sagen, dass die Kompositionen<br />
eigentlich komplexer sind als je zuvor,<br />
aber eben so subtil, dass sie dem Hörer eben nicht<br />
ins Gesicht schlagen, sondern langsam an der Gesichtshaut<br />
schaben. Schubladenmässig hat man<br />
es jetzt eher mit Avantgarde zu tun als mit Noise,<br />
was wie gesagt der Wirkung der Musik keinerlei<br />
Abbruch tut; es steht der Band sogar sehr gut zu<br />
Gesicht. Da Dälek auch bei den „Refrains“ weiterhin<br />
auf jede Eingängigkeit verzichten, wird die im<br />
Promoinfo erwähnte Mainstream HipHop-Audience<br />
auch weiterhin ausbleiben. Der in dieser<br />
Hinsicht stärkste Song ist ausgerechnet der letzte<br />
„(Subversive Script)“. Wohin die drei Finsterlinge<br />
gehen, bestimmen sie offensichtlich auf sehr geschmackssichere<br />
Weise selber. Mit diesem Album<br />
haben sie sich wahrscheinlich noch keine neue<br />
Türe geöffnet, aber sie haben die Klinke in der<br />
Hand - und es liegt bei ihnen, was sie damit machen.<br />
12 Punkte<br />
Marcel von der Weiden<br />
deadverse.<strong>com</strong><br />
ipecac.<strong>com</strong><br />
DAVID CELIA -<br />
THIS ISN'T HERE<br />
(Finest Noise/Radar)<br />
David Celia kommt aus Toronto, Canada und zeigt<br />
uns mit „This Isn't Here“ sein Herz. Dieses besteht<br />
größtenteils aus beschwingtem Singer/Songwriter-Pop-Folk,<br />
der mit eingängigen Hooks und Melodie<br />
nicht geizt und vom Leben, der Liebe und all<br />
den Sachen dazwischen erzählt. Was? Ihr habt das<br />
schon mal so oder so ähnlich gelesen? Das kann<br />
gut sein, denn David Celia hat mit „This Isn't Here“<br />
sicherlich das musikalische Rad nicht neu erfunden,<br />
sondern ganz einfach eine grundsolide Genreplatte<br />
abgeliefert, die - wenn - dann vor allem<br />
durch ihr vergleichsweise sonniges Gemüt auffällt.<br />
Genrefans werden hier also ein mollig warmes zu<br />
Hause und auch einige wirklich tolle Songs finden;<br />
alle anderen können natürlich auch mal anchecken,<br />
sind aber mit Genregrößen wie Howie Beck,<br />
Gus Black, Ben Folds, Ron Sexsmith oder auch<br />
Kristofer Aström auf jeden Fall auf der sichereren<br />
Seite.<br />
Punkte: 8<br />
Jochen Wörsinger<br />
davidcelia.<strong>com</strong><br />
DELILAH -<br />
SAME<br />
(Zach Records)<br />
In Österreich gärt schon seit<br />
längerer Zeit ein interessanter<br />
Noise(rock)-Subkultursumpf. Bul Bul, Bug, Sensual<br />
Love, Men Killing Men, Azeotrop und noch einige<br />
die mir gerade entfallen sind. Mit Deliahs<br />
selbstbetitelter Debüt-EP ranzt sich ein weiterer<br />
Release an die räudigen Kadaver des Undergrounds<br />
ran. Verkopft-verquerer Noiserock in permanenter<br />
Überlänge meuchelt hier kommerzstrangulierend<br />
vor sich hin. Atonalität und Distortion sind<br />
die Hormonbasis für diesen Bastard, der breaklastig<br />
vor sich hin taumelt. Manchmal ist der stumpfe<br />
Fuß wund und der Bastard jault in trockenschmerzhaften<br />
Gitarrentönen, um sich dann in<br />
weidwunden Noiseeruptionen am Boden zu wälzen.<br />
Immer wieder irrt er jedoch orientierungslos<br />
von schräg bis seltsam und verirrt sich im Versuch<br />
möglichst anders zu sein. Aber jetzt mal Klartext.<br />
Deliah schaffen es innerhalb ihrem komplexen Noisesound<br />
immer wieder, gute Gitarrenwände zu<br />
schaffen, wobei sie sich meiner Meinung nach ge-<br />
legentlich zu sehr auf die eruptive Energie konzentrieren<br />
und zu wenig auf den Aufbau des Stückes.<br />
Es gibt viele interessante schräge Noten und gute<br />
Einfälle, doch auf dieser EP - die immerhin knapp<br />
29 min. lang ist - wirkt einiges noch etwas zusammengewürfelt.<br />
Vor allem, wenn sie gute intensive<br />
Noiseparts, die durch den spärlichen Gesang<br />
noch an Intensität gewinnen, durch mühselige, polterhafte<br />
Breaks zerstören, möchte man sie gerne<br />
am Krawattl packen. Aber hey, das hier ist eine<br />
wirklich interessante EP für Noise Fans der komplexeren<br />
Schule. Und die ist hoffentlich erst der Anfang.<br />
Da steckt viel Potential drin! Man möge beim<br />
Folgerelease bitte unbedingt an mich denken.<br />
8 Punkte<br />
Christian Eder<br />
delilah.popfakes.<strong>com</strong><br />
zach-records.<strong>com</strong><br />
DO MAKE SAY THINK -<br />
YOU, YOU'RE A HISTORY IN RUST<br />
(Constellation/Southern/Alive)<br />
Do Make Say Think zählen bekanntlich zu den Wenigen<br />
ihres Labels, die sich zumindest ansatzweise<br />
von bewährten Constellation-Konzepten zu<br />
entfernen wissen.<br />
Dabei wirkt „You, you're a history in rust“ weder gestellt<br />
noch abgehoben, gibt sich durchweg natürlich,<br />
glaubwürdig und hält mit „A With Living“ ein<br />
wirklich schönes Stück bereit. Das Instrumentarium<br />
bleibt dabei wie immer breit gefächert. Die Eröffnung<br />
„Bound To Be That Way“ mit seinen von<br />
Trip Hop und Drum'n'Bass beeinflussten Schlagzeugeskapaden<br />
driftet über sieben Minuten vor<br />
sich hin, „The Universe!“ und „A Tender History In<br />
Rust“ schleppen sich noch über die Runden, bis<br />
spätestens nach halber Spielzeit Schluss ist, „You,<br />
You're A History In Rust“ sichtlich abflacht und Do<br />
Make Say Think in Belanglosigkeit verfallen. Was<br />
soll's…<br />
7 Punkte<br />
Torge Hüper<br />
southern.net<br />
DOMINICI -<br />
O3 A TRILOGY - PART 2<br />
(Inside Out/SPV)<br />
Spricht man von Dominici,<br />
kommt man an Dream Theater<br />
nicht vorbei: Deren Jahrhundert-Debüt „When<br />
Dream And Day Unite“ wurde 1989 von Charlie Dominici<br />
eingesungen. Was anschließend aus den<br />
New Yorker Ausnahmetalenten (und deren neuem<br />
Frontmann James LaBrie) wurde, ist jedem Prog<br />
Metal-Fan bekannt. Zu einer derartigen Weltkarriere<br />
wird Herrn Dominici allerdings „O3 A Trilogy<br />
- Part 2“ kaum verhelfen. Denn obwohl er sich mit<br />
seiner (ziemlich tighten) Band recht nah am „Großen<br />
Bruder“ bewegt - ganz so 'nen dicken Strahl,<br />
wie ihn die ehemaligen Kumpels pissen, bekommt<br />
der Ami hier nicht hin. Proggies und Metaller bekommen<br />
zwar reichlich Breaks und Riffs für's Geld<br />
- aber erst, wenn's beim abschließenden dritten<br />
Teil noch ein, zwei Killer-Refrains mehr sind, gibt's<br />
das Extralob.<br />
9 Punkte<br />
Heavy<br />
insideout.de<br />
DRAGONTEARS -<br />
2000 Micrograms From Home, CD<br />
(Bad Afro/Cargo)<br />
Die Tatsache, dass es - wie auf dem beiliegenden<br />
Info vermerkt - keine Bandfotos von „Dragontears“<br />
gibt, könnte darauf zurückzuführen sein, dass die<br />
Herren aus Kopenhagen ähnlich verkorkste Frisu-<br />
ren haben wie die Labelmacher. Wir wissen es<br />
nicht und wollen auch nicht rumunken. Gemessen<br />
an dem, was man auf „2000 Micrograms …“ hören<br />
kann, darf ein „Afro“ als bevorzugte Frisur jedoch<br />
ohnehin ausgeschlossen werden; bei den Dragontears<br />
ist die Matte eher lang, und vielleicht ist sogar<br />
die ein oder andere Blume ins Haupthaar geflochten;<br />
es kreist der Joint, die Zauberpilze (Psilocybe<br />
Cubensis) wachsen, die Duftkerzen glühen<br />
und Rosentee wird gereicht. Da passt es auch ins<br />
Bild, dass der Abstand von daheim in Gewichtseinheiten<br />
gemessen wird. Eine hypnotisch-postrokkige-Drone-Tripp-Reise,<br />
die den Hörer in einen<br />
„einzigartigen psychedelischen Kosmos entführt“.<br />
Wasserpfeifchen raus und zugelauscht! Große<br />
Platte!<br />
12 Punkte<br />
Kai<br />
Badafro.dk<br />
DORRN -<br />
Oversexed And Underfucked, CD<br />
(STF-Records/M-System)<br />
Auf dem Plattecover räkelt sich eine laszive Schönheit,<br />
blond natürlich, über und über mit Hautbildchen<br />
ausgestattet; und immer wenn die Weiblichkeit<br />
derart vorangestellt wird, drängt sich leicht der<br />
Eindruck auf, dass vom inhaltlichen Gehalt abgelenkt<br />
werden soll. Ich kann den Leser beruhigen,<br />
denn sobald der Abtaster die diversen Nullen und<br />
Einsen auf der Silberscheibe zu Musik umgeformt<br />
hat, macht sich Erleichterung breit; nein, derlei Ablenkungsmanöver<br />
haben „Dorrn“ definitiv nicht nötig;<br />
zum einen kann die blonde Dame, Jackie mit<br />
Namen, nicht nur hübsch dreinschauen, sie kann<br />
auch richtig! gut singen. Ohne Übertreibung darf<br />
festgestellt werden, dass derlei stimmliche Begabung<br />
in diesen Landen eher rar gesät ist. Und da<br />
auch der Rest der Truppe ein durch und durch stimmiges<br />
Bild abgibt, kann man hier, ohne gleich wieder<br />
einen Fünfer ans Phrasenschwein loszuwerden,<br />
von „Geheimtipp“ sprechen. Hut ab! „Dorrn“<br />
haben mit „Oversexed And Underfucked“ ein ganz<br />
feines Teil rausgehauen. Die Mischung aus Crossover<br />
und Rock, „die auch vor Sequenzerlinien“<br />
nicht halt macht“ (Bandinfo), hat extrem viel Potential<br />
und wird ihren Weg machen.<br />
11 Punkte<br />
Kai<br />
stf-records.de<br />
EARTHBEND -<br />
YOUNG MAN AFRAID<br />
(Rookie/Cargo)<br />
Verkneifen wir uns Witze über<br />
Manfred Mann und kommen direkt<br />
zur Sache: „Young Man Afraid“ ist nicht etwa<br />
der Ausdruck einer wie auch immer gearteten<br />
Teenage Angst, sondern vielmehr des ewig währenden<br />
Kampfes des ambitionierten Rockmusikers,<br />
sich aus der Liebe zur Musik knapp überm<br />
Existenzminimum durchs Leben zu schlagen. Ausgefochten<br />
wird dieser von drei gestandenen Männern<br />
aus dem beschaulichen Fleckchen mit dem<br />
düsteren Namen Finsterwalde, gelegen eine Autostunde<br />
von der hippen Großstadt Berlin. In dieser<br />
Abgeschiedenheit haben Earthbend ein Debütalbum<br />
aufgenommen, das man je nach Gusto für<br />
zeitlos oder für unzeitgemäß halten kann. In jedem<br />
Fall widmet man sich auf „Young Man Afraid“ Rokksongs<br />
gänzlich unmodernen Charakters, fern von<br />
jeglichem Spektakel, rockhistorisch einzusiedeln<br />
irgendwo zwischen 60s und 70s. Hans-Dampf-inallen-Gassen<br />
Kurt Ebelhäuser hat mal wieder<br />
seine Finger im Spiel bzw. am Produzentenpult gehabt<br />
und der Platte einen trockenen Sound verpasst,<br />
auf dass der Wüstenstaub auch so richtig<br />
zwischen den Zähnen knacke. Ohne Fehl und Ta-
del geraten eingängige, aber dennoch clever arrangierte,<br />
klassische Rocksongs Songs wie „Ready<br />
To Revolt“, „Hula Road“ oder auch „Traveller“,<br />
die mit straight bratenden Powerchords und Bilderbuch-Refrains<br />
hängen bleiben. Leider wird man<br />
nicht immer wird man auf der Suche nach dem großen<br />
Chorus fündig, denn der Rest fällt leider etwas<br />
ab. Egal, ob das Trio die Slide-Gitarre ansetzt oder<br />
das Klavier stimmt, die Abkehr vom Rock führt unweigerlich<br />
zu Einbrüchen in der werkimmanenten<br />
Spannungskurve. Ob das neben dem üblichen Gitarrenschwall<br />
von einer stets präsenten Fußorgel<br />
dominierte Klangbild mit einer Dosis getragener<br />
Psychedelik eingefärbt oder beschwingt countryfiziert<br />
wird - so lobenswert der Versuch, ein wenig<br />
Abwechslung hereinzubringen, auch sein mag, so<br />
durchwachsen fällt das Resultat bis auf wenige<br />
Ausnahmen aus. Letztlich kann „Young Man<br />
Afraid“ so wegen unbestreitbarer Längen nicht<br />
eben begeistern, geht aber als solides Debüt<br />
durchaus in Ordnung. Beim nächsten Anlauf gilt es<br />
dann, vorhandene Baustellen zu beseitigen.<br />
8 Punkte<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
earthbend.de<br />
EL*KE -<br />
WIR MÜSSEN HIER RAUS<br />
(EMI/it-sounds)<br />
Noch härter, schneller, weiter,<br />
heiserer. Rocken und rollen die<br />
Herren der EL*KE mit Stern in der Mitte auf ihrer<br />
neuen Platte. Am Anfang. So dahin.<br />
Was die Stärke ihres Erstlings ausmachte, war die<br />
Tiefe ihrer Empörung, eine Welt von Bedeutungen,<br />
Konnotationen hinter den scheinbar einfachen<br />
Chiffren. Chauvi-Musikanten mit Charme und Biss<br />
auf der Handwerkswalz. Arbeiter mit Stil und Tiefgang.<br />
Doch was leider immer wieder mit Überraschungsmannschaften<br />
nach der ersten Veröffentlichung<br />
geschieht, es passiert im verschärften Maß auch<br />
hier.<br />
Was da handwerklich ordentlich über den Rock`n<br />
Roll - Parcour rumpelt, erweist sich bei genauerem<br />
Hinhören als leere Pose. Ich skippe mich von Song<br />
zu Song und finde nur noch hohle Pseudo-Emotionen<br />
(„ Ich schau nach vorne, nie zurück. Warum<br />
kommst Du nicht mit? Es ist doch nie zu spät, du<br />
weißt schon lang, wie`s geht, es ist noch nie zu<br />
spät…“) und nach den ersten nett vorwärts peitschenden<br />
Premiumrockern bleiben auch musikalisch<br />
eine Menge Wünsche offen. Nein, dieses Gewäsch<br />
und Betroffenheitsgedusel im Fragen-Sie-<br />
Dr.-Sommer-Format, dass das Lied „Sonne“ nun<br />
wirklich ungenießbar macht („Ich muss, ich will Dir<br />
was sagen, ich lass alles stehn, ich schließ meine<br />
Augen, ich kann Dich immer noch sehn, an manchen<br />
ruhigen Tagen kann ich die Stille verstehn,<br />
und ich lass mich in die Wolken falln, bis die Sonne<br />
untergeht, und ich lass mich wieder auf dich ein,<br />
weil die Sonne dann aufgeht.“)<br />
DAS geht nun einfach nicht. Bei aller Liebe. Es ist<br />
okay, gegen Hamburger Schule und kompliziertes<br />
Abiturientengefasel anzurocken - doch das muss<br />
nicht enden in kalkulierter doofer, sinnentleerter<br />
Beliebigkeit.<br />
So lass ich die Berliner fürderhin von tollen Frauen<br />
und einer Welt ohne Geld und Angst träumen, lass<br />
sie ordentlich beliebig bedeutungslos vorwärts rokken<br />
und denk mir mal, dass denen eh bald das<br />
Benzin ausgeht.<br />
„Du bist die Traumfrau, der ich in die Augen schau.<br />
Du bist die Traumfrau, ich weiß es ganz genau.“<br />
Immer wieder. Hää?<br />
Überholspuren fühlen sich anders an. Und die hier<br />
müssen dringend an die Ideen-Tanke.<br />
4 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
alleselke.de<br />
EVILSONS - Cooking With … Evilsons, CD<br />
(Nordic Notes/Broken Silence)<br />
Die kommen aus Finnland? Der Name klingt aber<br />
schwedisch, was mir nun irgendwie wieder spanisch<br />
vorkommt ... Auf jeden Fall kenne wir uns ja<br />
nun wirklich mit finnischem Ska aus, inzwischen,<br />
und unser Urteil, dass hier die „Verschmelzung von<br />
Punk, Reggae und Ska zu einem kurzweiligen Vergnügen“<br />
wird, darf als „fundiert“ betrachtet werden<br />
- und ganz nebenbei steht das ja auch so im Info!<br />
Aber mal im Ernst: Ska geht mir immer dann irgendwie<br />
etwas auf den Zeiger, wenn die Reggae-Anteile<br />
überwiegen (und dies, man konnte es ahnen,<br />
weil mir Reggae halt irgendwie irgendwann mächtig<br />
auf den Wecker geht). Bei „Evilson“ ist der Anteil<br />
Reggae für meineneinen exakt richtig dosiert;<br />
es überwiegt der Punk und auch der Rock. Man<br />
kann sich jetzt natürlich die Frage stellen, ob es<br />
überhaupt „geht“, dass jemand, der Reggae nicht<br />
mag, Ska hören kann, und, ja, sogar richtig lieb hat;<br />
ist das nicht so, als wenn ein Vegetarier zwar kein<br />
Fleisch ist, aber auf Muttis Buletten einfach nicht<br />
verzichten mag? Mit diesen Zwiespalt muss ich leben<br />
und mit dieser Platte auch. Wobei letzteres<br />
kein Problem ist, denn neben den guten Songs hat<br />
es mir die mächtig fette Produktion dieser Scheibe<br />
angetan - was für ein Gitarrenbrett! Naja, und zuviel<br />
Reggae ist eben auch nicht drin …<br />
10 Punkte<br />
Leo<br />
nordic-notes.de<br />
EXPLOSIONS IN THE SKY -<br />
ALL OF A SUDDEN I MISS EVERYONE<br />
(Bella Union/Cooperative Music/Rough Trade)<br />
Explosions In The Sky haben ein einfaches Problem:<br />
Seit Jahren nehmen sie die gleichen Platten<br />
auf. Mal besser, mal schlechter, nie wirklich daneben.<br />
Kommentiert wird das Ganze dann meist mit<br />
einer Mischung aus Ungreifbarkeit, passionierter<br />
Selbstverwirklichung und magischem Soundwellen-Geschwafel.<br />
Nichtsdestotrotz: „All Of ASudden<br />
I Miss Everyone“ ist in der Tat ein dramatisches Album.<br />
Und nicht einmal ein Schlechtes. Schließlich<br />
bieten EITS wie immer einige nette, wenn auch<br />
nicht wirklich unbekannte Geräusche, eine Menge<br />
minimalistische Melodien zwischen leise und laut<br />
und den wohl ranzigsten Schlagzeugsound weit<br />
und breit. Hinzu kommt eines der ansehnlichsten<br />
Plattencover seit Jahren. Und zu guter Letzt die Erkenntnis,<br />
bei dieser Band wohl keine musikalische<br />
Revolution mehr erwarten zu dürfen.<br />
8 Punkte<br />
Torge Hüper<br />
bellaunion.<strong>com</strong><br />
FONODA - EVENTUALLY<br />
(Büro/Hausmusik)<br />
Fonoda müssen nette Jungs sein. Umso schwerer<br />
fällt es dabei, „Eventually“ als Mittelmaß abzutun.<br />
Abgesehen von einigen Gesängen, die letzten Endes<br />
deutlich an Jimmy Lavalles Ausflüge erinnern,<br />
bleiben sich Fonoda mit ihrer Post-Rock geprägten<br />
Interpretation in Manier der klassischen Mogwai<br />
trotzdem treu. Und doch funktioniert das Ganze<br />
auf „Eventually“ eben nicht in so eindringlicher und<br />
geschliffener Form, wie es noch beim Vorgänger<br />
„Blinker:Farben“ der Fall war. Bleibt das sich aufbäumende<br />
„Not Dead, Just Sleeping (They Are)“,<br />
das zweifelsohne als wunderbares Stück durchgeht,<br />
im Zusammenhang mit „Eventually“ jedoch<br />
nur ansatzweise zu seiner vollständigen Wirkung<br />
gelangt.<br />
Schwamm drüber, erinnern wir uns weiterhin an<br />
das großartige „Blinker:Farben“ von 2002. Und<br />
hoffen.<br />
7 Punkte<br />
Torge Hüper<br />
fonoda.de<br />
FROM A,UTUMN TO ASHES -<br />
HOLDING A WOLF BY THE<br />
EARS<br />
(VAGRANT)<br />
Urgewalt und Gebrüll vermitteln<br />
das Leid und den Aufschrei<br />
gequälter Kreaturen. Trommelwirbel, Gitarrensalven.<br />
Wir sind im Emocore. Hier wird das Metallgewitter<br />
zwischendurch durch poppige Vocallines für<br />
sensible Seelen aufgelockert. Die Zutaten sind seit<br />
Jahren bekannt und im Wesentlichen unverändert.<br />
Und From Autumn To Ashes machen da keine Ausnahme.<br />
Das Songwriting solide, die Technik überragend,<br />
sogar die Schreie sind korrekt intoniert -<br />
und selbst gramgebeugte Altmetaller können hier<br />
ihre Scheuklappen ablegen und nach Herzenslust<br />
mitmoshen. Eine Gratwanderung zwischen New<br />
Metal und Hardcore mit Popappeal in den Softie-<br />
Breaks. Eine Band, der offensichtlich auch Alkoholexzesse<br />
weniger ausgemacht haben, als ihren<br />
angeknockten Roadies. Ein Produzent (Brian<br />
McTernan), der auch bei Thrice seine Emoklasse<br />
(„fett“ !!!) unter Beweis gestellt hat. Ein Drummer,<br />
der zum Klasse-Frontmann wurde und dessen<br />
Nachfolger an den Schlegeln die anspruchsvollen<br />
Vorgaben mindestens erfüllt. Gute Chorgesänge,<br />
ein Gitarrero, der auch beim klassischen Gniedelmetall<br />
jede Chance hätte.<br />
Also alles da für unsere Hüftstretchhosen-<br />
Schwarzträger. Ab vor die Bühne. Der Rest darf<br />
gern auch mal seine Aggressionen in die Menge<br />
werfen. Fliegende Schweißströme in jedem Song.<br />
Das hat befreiende Wirkung. Egal, wie abgegriffen<br />
das Genre sonst so ist - und auch, wenn man die<br />
ohnehin nur in den seltensten Passagen verständlichen<br />
Lyrics als weitgehend uninteressant vernachlässigen<br />
kann - die New Yorker verstehen ihr<br />
Handwerk und liefern wirklich gute Arbeit ab. Respekt.<br />
11 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
fromautumntoashes.<strong>com</strong><br />
GODS OF BLITZ -<br />
REPORTING A MIRAGE<br />
(BPF1992/Sony/BMG)<br />
<strong>reViews</strong><br />
35<br />
Hätte man, ja hätte man in<br />
Deutschland die entsprechende<br />
Radiolandschaft, dann<br />
könnte „ALife Repilca“ vom neuen Album der Gods<br />
Of Blitz zum Hit, zum rauf und runter gespielten<br />
Dauerbrenner werden. Da sich hierzulande allerdings<br />
nur noch wenige Inseln mit hörbaren Radiosendern<br />
finden, werden wohl allenfalls Hörer von<br />
Freien Radios oder MotorFM in den Genuss dieses<br />
Songs kommen. Da wäre natürlich noch die<br />
Alternative, sich den zweiten Langspieler des Vierers<br />
von Kreuzberg einfach zuzulegen. Und das ist<br />
eine Lohnende, keine Frage, hat „Reporting A Mirage“<br />
vielleicht auch kein zweites Stück von der<br />
Großartigkeit des genannten im Programm, ist der<br />
Rest des Albums trotzdem angefüllt mit äußerst<br />
starken dreiminütigen Rockkrachern. Wer den Erfolg,<br />
den die Gods Of Blitz mit ihrem Debüt „Stolen<br />
Horse“ noch ein auf den ersten Blick für einen<br />
zufälligen, für manchen kaum fassbaren hielt, dem<br />
beweist die Band mit ihrem Zweitwerk, dass Ehren<br />
wie die Eröffnungsposition bei Touren von Maximo<br />
Park oder Wolfmother durchaus berechtig<br />
waren. „Reporting A Miracle“ jedenfalls ist von<br />
vorne bis hinten höchst unterhaltsam, abwechslungs-<br />
wie ideenreich und in keinem Moment berechenbar.<br />
11 Punkte<br />
Arnulf Woock<br />
godsofblitz.<strong>com</strong>
36<br />
<strong>reViews</strong><br />
GRAND ISLAND -<br />
SAY NO TO SIN<br />
(Haldern Pop/Cargo)<br />
„Say No To Sin“ raten uns die<br />
fünf Norweger, obwohl man<br />
beim Hören ihres Debüt Albums<br />
den Eindruck gewinnen will, dass die Buben nicht<br />
gerade die strengsten Neinsager, die man sich<br />
denken kann sind. Musikalisch schon gar nicht. Die<br />
Unbekümmertheit und Gedankenlosigkeit im positiven<br />
Sinne mit der hier mit Bluegrass, Rock mit einer<br />
punkigen Attitüde, einem Sprengsel Banjo und<br />
einem Sprengsel Wurlitzer jongliert wird, erinnert<br />
schon an gewisse Phasen von gewissen grossen<br />
amerikanischen Freaks, zumal man sich auch gesanglich<br />
Eskapaden leistet, die sich zum Beispiel<br />
auch auf Captain Beefheart And His Magic Bands<br />
„Safe As Milk“ sehr gut machen würden. Rock-Vocals<br />
unterbrochen von animalischem, (liebes-?)<br />
trunkenem Lallen, mal Mars Volta-hoch jauchzend,<br />
mal jammernd mit einer gehörigen Portion Selbstironie.<br />
Da trifft es sich natürlich nicht schlecht, dass<br />
sich diese Art Sound im Moment einer grossen Beliebtheit<br />
erfreut. Ein direkter musikalischer Vergleich<br />
mit den Kings of Leon oder dem Kaizers Orchestra<br />
wäre sicher unsinnig, da man Grand Island<br />
einen eigenen Stil bescheinigen kann - es ist eher<br />
diese allgemeine frische Energie und das musikalisch<br />
vom Neunziger-Schubladen-Trauma Befreite,<br />
was hier eine Gemeinsamkeit wäre. Gerne<br />
lehnt man sich beim Ausleben dieser neuen Freiheit<br />
an die Vorbilder der sechziger, siebziger Jahre<br />
an, die ja eh schon gemacht haben was sie wollten.<br />
Da es neben der aktuellen Single „US Annexed“<br />
noch mindestens eine weitere Single gibt (Wie<br />
wär's mit „Vanity“?) und es mit dem Teufel zugehen<br />
müsste, wenn das live nicht funktioniert, dürfte<br />
es ganz gut aussehen für Grand Island. Schade,<br />
dass es nicht so mein Ding ist. Darum „nur“<br />
9 Punkte<br />
Marcel von der Weiden<br />
grandisland.no<br />
haldern-pop.de<br />
Green Frog Feet - 11 Ways To Kill Your Idols<br />
(Modernnoise/Cargo)<br />
Wie? Wer wird denn gleich seine Idole umbringen?<br />
Die Herren mit den grünen Schenkeln gewiss nicht,<br />
denn dafür sind sie, mit Verlaub, zu brav - was nun<br />
wiederum mitnichten despektierlich gemeint ist.<br />
Denn mit nachgerade kalifornischem Sonnenscheingemüt<br />
knallen sie uns elf Emo-Punk-Kracher<br />
um die Ohren, die nicht nur in einem mehr als<br />
anständigen Soundgewand daherstolzieren, sondern<br />
auch so einige Ohrwurm-Hooks zu bieten haben.<br />
Ach jaaaa - ich höre sie schon wieder meckern,<br />
die Nörgler, die ewigen „da-fehlt-es-an-Eigenständigkeit“-<br />
oder „das-kennen-wir-alles-vonden-Ami-Bands-besser“-Meckerer.<br />
Es sei ihnen<br />
ein herzhaftes Schieß-Dir-Doch-Ins-Knie entgegengeschleudert,<br />
denn natürlich wollen<br />
Green.Frog.Feet (nur echt mit den drei Punkten!)<br />
nicht den tönenden Faustkeil neu schaffen - Spaß<br />
haben und Spaß machen wolln's, die Reg'nsburger,<br />
nicht mehr - und gewiss nicht weniger. Hört<br />
auf zu meckern und habt endlich Spaß!<br />
11 Punkte<br />
Leo<br />
HEIDEROOSJES -<br />
CHAPTER EIGHT: THE GOLDEN STATE<br />
(U Sonic/Cargo Records)<br />
Es scheint eine Ewigkeit, die die Heideroosjes in<br />
der Punk-Szene aktiv sind. Und tatsächlich, satte<br />
18 Jahre hat die Band aus Holland mittlerweile auf<br />
dem Buckel. In einem Land, in dem Punkrock an-<br />
sonsten nicht allzu viel zu melden hat, ist das an<br />
sich schon mal eine Besonderheit. Völlig aus der<br />
Masse der Allgemeinheit aber erhebt die Heideroosjes<br />
ein ganz anderer Umstand: Seit Anbeginn<br />
der Tage und über 1.500 Konzerten hat die<br />
Band nicht ein einziges Mal ihr Lineup verändert -<br />
Respekt. Hört man sich das achte Album der Band,<br />
die natürlich schon mit allen Punkgrößen der letzten<br />
Dekaden von Bad Religion über Pennywise bis<br />
The Offspring die Bühne geteilt hat, steigt dieser<br />
noch um eine gehörige Portion. „Chapter Eight:<br />
The Golden State“ nämlich klingt alles andere als<br />
nach einer Band, die schon seit annähernd zwei<br />
Dekaden den Proberaum teilt, sondern macht viel<br />
mehr den Eindruck, von einer Gruppe junger wie<br />
heißer Punkrocker eingespielt worden zu sein, die<br />
von der unbändigen Energie Pubertierender angetrieben<br />
werden. Lediglich beim Songwriting wird<br />
deutlich, dass man es hier mit einer Band zu tun<br />
hat, die durchaus ihre Erfahrungen gemacht hat<br />
und genau weiß, wo und wie welcher Effekt zu setzen<br />
ist - was „Chapter Eight: The Golden State“ natürlich<br />
nur zu Gute kommt. Wie gesagt: Respekt!<br />
12 Punkte<br />
Arnulf Woock<br />
HELLA - THERE'S NO 666 IN<br />
OUTER SPACE<br />
(Ipecac/Southern/Soulfood)<br />
Alles neu im Hause Hella: Nach<br />
sechs Jahren und über zehn<br />
Veröffentlichungen als multi-instrumentalistisches<br />
Duo sind die durchgeknallten Spackos plötzlich<br />
zum Quintett gewachsen, zu einer richtigen Band<br />
im klassischen Line-Up. Vor allem durch die Integration<br />
von Gesang öffnet man sich fortan die<br />
Pforte zu ein wenig mehr Eingängigkeit - so unpassend<br />
dieses Wörtchen im Kosmos dieser positiv<br />
Verrückten auch sein<br />
mag, die auch im neuen<br />
Gewand noch immer<br />
ziemlich weit entfernt von<br />
der Norm ihr alles andere<br />
als leicht verdauliches<br />
Süppchen kochen. Aaron<br />
Ross, der neue Mann<br />
am Mikro, klingt wie eine<br />
Kreuzung aus einem der<br />
Blood Brothers-Schreihälse<br />
und Cedric Bixler-<br />
Zavalas. Doch nicht nur<br />
aufgrund der stimmlichen<br />
Nähe fühlt man<br />
sich bei den neuen Hella<br />
öfters mal an The Mars<br />
Volta erinnert, auch in<br />
Punkto Haken schlagen<br />
und der Verweigerung<br />
von konventionellen<br />
Songstrukturen würden<br />
beide Bands vermutlich<br />
hervorragend im Proberaum<br />
miteinander harmonieren.<br />
Die oftmals<br />
unterkühlte Technikdemonstration<br />
der Kollegen<br />
aus El Paso geht den ansonsten<br />
ähnlich abgedreht<br />
zu Werke gehenden<br />
Hella allerdings ab.<br />
Spielfreudig gibt man<br />
sich auf „There's No 666<br />
In Outer Space“ und beweist<br />
nicht nur wegen<br />
blöden, aber trotzdem<br />
irgendwie coolen Songtiteln<br />
wie „The Ungrateful<br />
Dead“ oder „Anarchists<br />
Just Wanna Have Fun“<br />
Sinn für Humor. Der Einstieg in den undurchsichtig<br />
komplexen Soundkosmos wird mit ständiger<br />
Gesangsuntermalung als rotem Faden erleichtert.<br />
Die aber auch, und das ist vielleicht das größte<br />
Manko dieser Platte, gerade wegen ihrer penetranten,<br />
pausenlosen Dauerbeschallung auf die Nerven<br />
gehen kann. Und trotz der Hilfestellung des<br />
Gesangs bei der Orientierung bleibt die Musik im<br />
höchsten Maße zerfahren und schwer greifbar. Mit<br />
der Präzision einer für Normalsterbliche kaum<br />
nachvollziehbaren mathematischen Formel zerhackstückelt<br />
Drummer Zach Hill den Rhythmus<br />
stets bis zur Unkenntlichkeit und gibt mit ständigen<br />
rhythmischen Verschiebungen die Richtung für die<br />
restlichen Instrumente vor. Tempi wechseln Hella<br />
wie andere Bands Akkorde, Breaks erfolgen so regelmäßig<br />
wie bei anderen der Schlag auf die Bassdrum.<br />
Und dennoch: „Hand That Rocks The<br />
Cradle“ ist funky wie Prince in der imaginären<br />
Zwangsjacke. In „World Series“ brechen urplötzlich<br />
und nur für wenige Sekunden Jazz-Trompeter<br />
in den Raum. Dann taucht in all dem Chaos und<br />
hinter all den rhythmischen Verwirrungen eine saubere,<br />
klare Gitarrenmelodie auf („Dull Fangs“).<br />
Doch sind das nur kurze Strohfeuer, nicht mehr als<br />
falscher Alarm, bewusst ausgelöst von diesen<br />
hinterlistigen Muckibuden-Musikern. Denn natürlich<br />
ist das hier irgendwie auch musikalisches Muskelmessen,<br />
das auditive Äquivalent zum Fitnesstraining.<br />
Natürlich holen sich Hella hier öfters mal<br />
einen auf sich selbst runter. Das beruhigende<br />
daran: Diese Platte macht dennoch nicht nur den<br />
Musikern selbst Spaß, sondern auch dem offenen,<br />
nervlich belastbaren Hörer.<br />
9 Punkte<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
hellaband.<strong>com</strong>
HORE - CHEAP LUXURY BOMB<br />
(Swamp Room)<br />
Man könnte an dieser Stelle sehr gut einen Lückentext<br />
präsentieren, in dem die Querverweise selbst<br />
eingetragen werden können, so sehr drängen sie<br />
sich auf. Man kann auch einfach eine Liste mit sämtlichen<br />
guten Stoner-Bands, die einem gerade so einfallen<br />
anfertigen, und man bekommt brauchbare Anhaltspunkte<br />
für „Hangover Rock Explosion“. Ungewöhnlich<br />
ehrlich wird die Tatsache, das Hore (steht<br />
für Hangover Rock Explosion) nicht unbedingt das<br />
Stoner-Rad neu erfinden im Info thematisiert. Aber,<br />
und auch das ist Thema und Fakt, es ist in diesem<br />
Fall wirklich egal, dann Hore rocken einfach mit viel<br />
Energie und vor allem Leidenschaft, dass man eigentlich<br />
jedem Stoner Fan, der nicht auf Innovation<br />
insistiert, dieses Album empfehlen kann. Fu Manchu,<br />
QOTSA, Pothead, Colour Haze, Nixon Now…<br />
Bitte selbst vervollständigen. Was Hore dennoch in<br />
ihrem Stil auszeichnet ist der melancholische<br />
Grunge Einschlag, der in vielen Stücken mitschwingt<br />
und ihnen zu einer gewissen Eigenständigkeit<br />
verhilft. Wie gesagt, nichts wirklich neues,<br />
aber ein Album, das Spaß macht, abwechslungsreich<br />
ist und konventionelle Qualität im besten Sinne<br />
bietet.<br />
8 Punkte<br />
Christian Eder<br />
hore-rock.de<br />
swamp-room.de<br />
ICH JETZT TÄGLICH - ALLEE SORGENLOS<br />
(Popup Records/Cargo)<br />
Ich Jetzt Täglich haben einen wirklich guten Schlagzeuger.<br />
Und letztendlich war's das auch schon. Instrumental<br />
wäre „Allee Sorgenlos“ über weite Strekken<br />
zumindest besser zu ertragen. Dabei hatte der<br />
Vorgänger „Stilfragen“ mit einer zwar besorgenden<br />
Mischung aus wirklich guten Liedern wie „Mein Therapeut“<br />
oder „Januarsonne“ und allerlei Peinlichkeiten<br />
Anlass für berechtigte Hoffnung gegeben, mit<br />
gutem Willen irgendwann mit einem durchweg ordentlichen<br />
Album in voller Länge rechnen zu können.<br />
Davon scheinen sich Ich Jetzt Täglich mit „Allee<br />
Sorgenlos“ nun ein für allemal zu verabschieden.<br />
Und obwohl die Funktionsweise mit viel Liebe<br />
zum Detail und einer Menge an Einfällen wie beim<br />
Debüt „Stilfragen“ genauso sperrig wie filigran<br />
bleibt, ist „Allee Sorgenlos“ zu einem großen Teil<br />
einfach völlig bescheuert.<br />
6 Punkte<br />
Torge Hüper<br />
popup-records.de<br />
KARL SEGLEM - URBS<br />
JAKE PLAYMO FEAT. DAS BÖSE DING - MY FA-<br />
VOURITE TOYS<br />
(beide Ozella/In-Akustik)<br />
Sehr schönes und liebevoll gemachtes Digipack, in<br />
dem „Urbs“ daherkommt. Die Promo ist hier keine<br />
räudige CD-R mit kopiertem Cover, sondern ein<br />
schmuckes Original. Gefällt! Der norwegischeTenorsaxofonist<br />
und Ziegenhornbläser Karl Seglem<br />
nimmt uns auf „Urbs“ mit auf eine weltmusikalische<br />
Reise und bringt uns seine vertonten Landschaftsbeschreibungen<br />
näher. Norwegische Folklore trifft<br />
hier auf zeitgenössischen Jazz, die den Begriff<br />
Worldmusic im besten Sinne interpretieren. Kein<br />
New Age Lamento, sondern ausgetüftelte und sehr<br />
ideenreiche Songs, die von rhythmisch treibend<br />
(wie der Opener als bester Song) bis versunkenmeditativ<br />
reichen. Eine visionäre Klangreise zeitgenössischer<br />
Wordmusic norwegischer Prägung, für<br />
Leute mit einem sehr offenen Musikverständnis (8).<br />
Mit mit Jake Plymo (alis Jan Klare) habe ich dagegen<br />
ein grundlegendes Problem, beziehungsweise<br />
an dieser Stelle hat erstgenannter eines mit mir. Ich<br />
kann Synthpopelemente partout nicht ausstehen,<br />
noch nie und wahrscheinlich für immer. Von daher<br />
ist dieses Album einfach nicht beim richtigen Redakteur<br />
gelandet. Jake Playmo spielt eine Art Synthpopjazz,<br />
der musikalisch und kompositorisch gut<br />
gemacht und ideenreich arrangiert ist, nur sind mir<br />
diese Keyboards und sülzigen Melodien absolut unerträglich.<br />
Da hilft auch kein Auflockern durch Sampling<br />
oder quengelige Saxophone. Sorry.<br />
ohne Wertung<br />
norcd.no/seglem<br />
janklare.de<br />
ozellamusic.<strong>com</strong><br />
KOLPORTEURE -<br />
LEINEN LOS<br />
(Nix Gut Rec.)<br />
Christian Eder<br />
Ich erwartete Punkrock. Einen<br />
Start mit Rums und Humtata.<br />
Stattdessen überraschen die Berliner Urgesteine<br />
anfangs ihrer Leinen Los - CD mit einem etwas unsicher<br />
vor sich hin swingenden Titelsong, der sich<br />
in kryptischen Bildern den missglückten Versuch einer<br />
grundsätzlichen inhaltlichen Verortung vornimmt.<br />
Und dann doch noch losrumpelt. Geht so.<br />
Hatte mir mehr erwartet. Song zwo. „Häuser mussten<br />
wir besetzen, Schwarz-Rot wedeln, dabei<br />
brülln, ´Anarchie`, ´Gerechtigkeit`, und zeigen, wer<br />
sich Taschen füllt, weil's Land ja auch ein Feindbild<br />
braucht, gibt es zum Dank, ein bisschen Punk!“<br />
Das hat Stil. Die einstigen Schwarz-Weiss-Maler haben<br />
ihre Entschiedenheit<br />
nicht verloren,<br />
aber sie beherrschenmittlerweile<br />
die Kunst der<br />
ironischen<br />
Distanz, ohne die<br />
Selbsterkenntnis<br />
nur sehr selten anzutreffen<br />
ist.<br />
Auch, wenn die<br />
Kolporteure in so<br />
manchem Song<br />
als Referenz an<br />
alte Fans mit eingeschränktemHorizont<br />
zu den alten<br />
simplen Mitsing-<br />
Gewissheiten greifen,<br />
die so viele<br />
Punkrockbands so<br />
bedauerlich austauschbar<br />
machen<br />
in ihrer musikalisch<br />
begrenzten<br />
Uniformität, hier<br />
wird wirklich gekonnt<br />
Gas gegeben<br />
und die linke<br />
Faust gereckt, bis<br />
die Schweißtropfen<br />
fliegen. Natürlich<br />
eine selbstreferentielle<br />
Hymne<br />
an die Mithoppser<br />
(„Tanzen“), damit<br />
die scheintherapeutische<br />
Wirkung<br />
im Konzert im<br />
Massenerlebnis<br />
möglich bleibt. Mit<br />
„Heul nicht“ folgt<br />
eine der schwächsten<br />
Nummern der<br />
Platte, wenn zu All-<br />
<strong>reViews</strong> 37<br />
gemeinheiten über Generationskonflikte weder eine<br />
konkrete Geschichte, noch eine stimmige Atmosphäre<br />
entstehen und der schwach intonierte Refrain<br />
im Beliebigkeitssumpf versinkt. Es folgt eine<br />
echte Überraschung aus Wien. Georg Danzer<br />
grüsst - sein alter, schöner Gassenhauer „Freiheit“<br />
(„… denn nur in Freiheit kann die Freiheit Freiheit<br />
sein…“) wird von den Kolporteuren - tja, leider gnadenlos<br />
verhunzt. Ein schönes Stück Rock über unerwiderte<br />
Liebe („Muse“), ein guter Song zum Wochenende,<br />
der unter zuviel Pathos beim mäßigen<br />
Gesang leidet („Freitag Nacht“), undsoweiter undsofort.<br />
Die Platte ist grundsympathisch, pure Punk-<br />
Attitüde mit schönen Elementen von Volxmusik,<br />
handwerklich im Grossen und Ganzen okay - ein<br />
guter Tipp für Genrefans. Mehr aber nicht.<br />
7 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
kolporteure.de<br />
nix-gut.de<br />
LITTLE BARRIE -<br />
STAND YOUR GROUND<br />
(PIAS/Genuine)<br />
Woher kommen die? Mitten aus<br />
den Arbeitervierteln Birminghams?<br />
Und sind gerade mal zu dritt und - im Schnitt<br />
Anfang bis Mitte Zwanzig? Und hübsch? Und machen<br />
derart reifen puren Bluesrock mit Soul in der<br />
Stimme und den raffiniert treibenden Beats? Und<br />
dieser famose Sänger mit den exakt temperierten<br />
und korrekt intonierten kleinen sexy Screams spielt<br />
auch noch derart versiert Gitarre? Mit schönem<br />
Gruß von Jimi Hendrix… und dann noch dieser Bas-
38<br />
<strong>reViews</strong><br />
ser, woher nimmt der diese stoische elegante Ruhe<br />
her, diese seltene Tightness?<br />
Warum will ich gerade zu dieser Scheibe sofort aufstehen<br />
und lostanzen, warum macht mich das hier<br />
eigentlich so rallig?<br />
Keinen Bock mehr, weiter zu schreiben. Bock auf<br />
einen Abend mit Plänen zur Revolution, ein paar<br />
Biers zu Rock`n Roll, und wenn`s mit der Revolution<br />
nicht klappt, ersatzweise ein guter Fick und<br />
schöne gemeinsame Träume tuns auch schon. Die<br />
hier grooven dann garantiert wieder dazu, wenn`s<br />
bei mir zuhause sein sollte. Der Staub der englischen<br />
Arbeiterstrasse und der hart erkämpfte Optimismus,<br />
den Rockmusiker in ihren Songs nur abbilden<br />
können, wenn der Weg nach oben verdammt<br />
hart erkämpft war. Oder das Leben, die<br />
Kindheit. Weitgehend ein Scheiß. Der Übungsraum<br />
zur letzten Zuflucht wurde. Diese Bluesakkorde,<br />
dieses Bottleneckriff, hey, sagen sie mir, enjoy<br />
the moment, enjoy this night, just that.<br />
Was singt dieser abgefahrene junge Typ da?<br />
„Hit my bunk about my world past ten, felt like<br />
skunks until I don`t know when, got my bottle and<br />
I got my bags, so hit that throttle, so the road don`t<br />
drag...“<br />
Kleine Bilder mit großer Wirkung, rationelle Arrangements<br />
mit Blick auf das Wesentliche, eine feine,<br />
höchst unerwartete Platte einer sehr, sehr aussichtreichen<br />
Truppe - mit einem überragenden Talent<br />
an den Drums, der Ruhe selbst am Bass, und einem<br />
formidabel Gitarre spielenden Sänger, in dessen<br />
spitzen Shout-Outs so unglaublich viel Soul<br />
steckt.<br />
„…you wanna know the future, my answer wouldn`t<br />
suit ya, so, I`d better be a charmer, cause I didn`t<br />
mean to harm ya.“<br />
Okay, kleiner Gitarrero. But give me more of those<br />
shouts, please. Give me more, more, more!<br />
13 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
www.littlebarrie.<strong>com</strong><br />
LOCKJAW - LOCKJAW<br />
(Consolidate/Rough Trade)<br />
Nein, nicht die Hardcorebolzer-<br />
Schrägstrich-New Metaller aus<br />
den USA sind gemeint. Wir beschäftigen<br />
uns an dieser Stelle mit Lockjaw aus Solingen,<br />
deren Krawall-Attitüde nur eine Seite der<br />
Medaille darstellt. Auf der anderen Seite hätten wir<br />
die Lust am Gefrickel, an überraschenden Attacken,<br />
an hypnotischen Wiederholungen in den Gesangslines,<br />
an Stakkato-Geschrei, an merkwürdigen<br />
Breaks, die Lust daran, das Unerwartete genau<br />
dann zu tun, wenn man glaubt, den Song zu<br />
kennen. So sind wir also hier auf einmal bei Referenzbands<br />
wie Mars Volta angekommen - oder,<br />
besser gesagt, At The Drive-In - weil die Herren<br />
aus dem deutschen Westen nämlich auch im<br />
schrägsten Dornengestrüpp nie die Power und<br />
Catchyness der Grundidee liegen lassen, weil sie<br />
mit Vorliebe im High-Temp vorwärts heizen.<br />
Das ist gut gemacht und rockt auf spielerisch, wie<br />
kompositorisch verdammt hohem Niveau. Auch,<br />
wenn ich mir den Sänger zuweilen eine Oktave tiefer<br />
wünschen würde, weil sein permanent eher hoher<br />
Gesang auf die Dauer auf mich etwas eintönig<br />
wirkt und so mehr Dynamik in die Spannungsbögen<br />
kommen würde - auch, wenn sie sich bisweilen<br />
auch mal verzocken - und für mein Gefühl in<br />
Deutsch mehr drin wäre.<br />
Sie gehören in einem Atemzug mit Bands aus dem<br />
Neurot-Umfeld genannt und eine Tour mit Envy<br />
wäre musikalisch sicher nicht verkehrt, oder noch<br />
besser, mit Oxbow. Und wenn sie jetzt live noch<br />
mehr Mut zur Anarchie, zu lustvoller Selbstinszenierung<br />
und -entäußerung entwickeln, dann kann<br />
das Kult werden. Feinschmeckerkost ist es allemal.<br />
10 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
www.lockjaw.de<br />
THE LOCUST - NEW ERECTIONS<br />
(Epitaph)<br />
Es ist billig und es ist verlogen. Erst über die Verhältnisse<br />
hadern und dann doch irgendwie mitmachen.<br />
Mit „New Erections“ wiederholt sich das<br />
Stammtischplädoyer. Ambivalenztoleranz ist gefragt.<br />
Es gibt Geschäfts-/Promotaktiken von Plattenfirmen,<br />
die man eigentlich nicht hinnehmen<br />
sollte, einfach ignorieren. Also kein Review zu The<br />
Locust? Dazu ist dieses Album zu gut und darüber<br />
hinaus müht sich diese Band seit Jahren mit radikalem<br />
Außenseitersound in der Szene ab, was<br />
überaus sympathisch ist… Was ist eigentlich los?<br />
„New Erections“ gibt es - zumindest für uns - nicht<br />
als Promo-CD (die ja teils auch immer übler/billiger<br />
aussehen), sondern nur noch als Link und diesen<br />
auch noch mit wechselndem Passwortzugang.<br />
Das ist gelinde gesagt einfach Scheiße. Zumindest<br />
aber besser als bei den Beatsteaks, wo man nur<br />
vor dem Interview in das Album hätte reinhören<br />
können, sonst erstmal nicht. Und dann soll man<br />
gleich Fragen stellen. Von Epitaph - wir sind wieder<br />
bei Locust - hätte man solcherlei Praktiken eigentlich<br />
nicht erwartet. Und kurioserweise ist es<br />
auch nicht der Firmenpolitik geschuldet, sonder<br />
rein der Paranoia der Band. Konsequent gedacht<br />
hätte man nicht eine Leerzeile für eine Review darauf<br />
verschwenden sollen, wenn The Locust nicht<br />
ein wirklich interessantes Album eingespielt hätten.<br />
Sie klingen ein wenig gemäßigter als in ihren<br />
radikalsten Grindnoisetagen, ein wenig „songorientierter“.<br />
Sie knüppeln und schrägen zwischendurch<br />
immer noch wie in alten manischen Tagen,<br />
sind aber diesmal durchdachter im Sound. Das<br />
klingt immer noch wie eine sehr eigene Melange<br />
aus Mathcore, Dillinger Escape Plan, Industrialsprenkeln,<br />
Grind, Experimentalhardcore, sicken<br />
Soundscapes und Noise. Fans der „good old days“<br />
mögen die durchgängig extrem radikale Energie<br />
ein klein wenig vermissen, die hier zugunsten von<br />
mehr Struktur im Sound (und somit Nachvollziehbarkeit)<br />
eingetauscht wurde, was für Normalkonsumenten<br />
nicht weniger Wahnwitz bedeuten soll.<br />
Nichtsdestotrotz sind sie immer noch eine der besten<br />
und interessantesten Bands in diesem Sektor,<br />
die wirklich mehr Aufmerksamkeit verdient hat.<br />
Die Veröffentlichungspraktik der Band ist und bleibt<br />
dabei unwürdig übel. Kurve gekriegt? Der Ambivalenztoreranzkönig<br />
schmunzelt eineinhalb Lächeln.<br />
10 Punkte<br />
Christian Eder<br />
thelocust.<strong>com</strong><br />
LOGH - NORTH<br />
(Bad Taste/Soulfood)<br />
Nachdem die sympathischen<br />
Schweden zuletzt ihre Songs<br />
in einer Parforce-Tour in Nullkommanix<br />
einspielten, haben<br />
sie diesmal lange herumgetüftelt. Und der große<br />
Aufwand war nicht umsonst. In epischen Bögen<br />
beschreiben sie die Widrigkeiten des Lebens und<br />
in präzisen Bildern suchen sie nach Trost, angesichts<br />
bitterer Wahrheiten und kalter Wohlstandsfassaden<br />
und dem Spießertum der Provinz. Doch<br />
dort, wo einst noch Slowcore die passende Bezeichnung<br />
war, ist das neue Logh-Universum ein<br />
schwebendes, filigran irrlichterndes, Logh heute<br />
sind stilvoller Indiepop für Freunde progressiv spielerischer<br />
Elegien, die ansonsten Coldplay zu routiniert<br />
finden und Snowpatrol zu berechenbar.<br />
Einfach schön, was ich da höre. Musik, die zum<br />
Herbst und Winter besser gepasst hätte, als zum<br />
herandrängenden Frühling. Am Fenster stehen mit<br />
diesem Sound hinter Dir. Draußen Menschen, die<br />
von Stürmen getrieben vorwärts hasten, während<br />
wir die Authentizität unseres Ausgeschlossenseins<br />
von Ruhm und Ehre in einer Umarmung genießen.<br />
In einem Lächeln. In geteilter Trauer.<br />
Logh sind kunstvoll, dabei aber immer sehr nahe,<br />
warm, voller Liebe, auch, wenn sie ihrer Heimatstadt<br />
den Tod andichten.<br />
Sie brechen nicht mehr aus in das früher so große<br />
fragile Geschrei, das schon zu viel früheren Tagen<br />
dieser von manchem Popconnaisseur schier geliebten<br />
Band „The Raging Sun“ zu einem Song für<br />
die Ewigkeit machte. Logh sind nun bei sich selbst<br />
und in ihren Gewissheiten angekommen und zelebrieren<br />
diese Selbstsicherheit in ähnlicher Weise<br />
wie The Notwist an ihren besten Tagen. Und auch<br />
die stilistische Unsicherheit von „A Sunset Panorama“,<br />
die in nicht nur geglückten, aber charmanten<br />
Experimenten mündete, haben sie selbstbewusst<br />
ad acta gelegt.<br />
Grosse Popsongs, elegisch, schlicht, schön, tröstend,<br />
mitfühlend. Manchmal einfach nur Wohlklang.<br />
Manchmal vermisse ich ein ganz klein wenig<br />
die alten Widerhaken. Musik wie über Fjorde<br />
schweben, Wälder, ab und zu ein Windstoß. Pure<br />
Schönheit und Nähe, was will ich denn eigentlich<br />
mehr? Ich darf Logh weiter lieb haben, wie einen<br />
richtig guten Freund.<br />
13 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
logh.se<br />
P. W. LONG -<br />
GOD BLESS THE DRUNKARD'S DOG<br />
(Black Diamond/Cargo)<br />
Mule waren eine verschrobene Indie-Band, die ich<br />
seinerzeit etwas verpasst bzw. noch nicht ganz verstanden<br />
hatte. P. W. Long war seinerzeit bei diesen<br />
aktiv, kennen könnte man ihn auch noch von<br />
Wig, die mir allerdings unbekannt sind. Auf „God<br />
Bless The Drunkard´s Dog“ widmet sich P. W. Long<br />
seiner Version des Blues, die eine gute Portion<br />
Southern Einschlag hat. Dafür hat er sich noch Taylor<br />
Young (Polyphonic Spree, Young Heart Attack)<br />
in die Plantage geholt. Das Duo zelebriert raubeinigen<br />
Blues mit geschrabbter Southern Gitarre, die<br />
den Großteil des Albums ausmachen. Zwischendurch<br />
besinnen sie sich auch auf recht traditionelle<br />
Bluesformen bzw. Schemata. Für Bluesfans oder<br />
Leute die Sister Double Happiness mochten, ist die<br />
Scheibe sicherlich eine interessante Sache, mir<br />
allerdings ist das in vielen Fällen zu gewöhnlich,<br />
auch wenn Long eine coole Stimme hat. Da hat<br />
William Elliot Whitmore in diesem Metier vor einiger<br />
Zeit ein wesentlich spannenderes Werk abgeliefert.<br />
7 Punkte<br />
Christian Eder<br />
www.southern.net/southern/band<br />
MARYSLIM - A PERFECT MESS<br />
(Wild Kingdom)<br />
Normalerweise sind Peter Tägtgrens musikalische<br />
Vorlieben etwas anders gelagert: Seine Band Hypocrisy<br />
zählt zu den Urgesteinen des skandinavischen<br />
Death Metal-Lagers, mit Pain hat er sich einer<br />
Elektro-Metal-Melange verschrieben, die<br />
gleichermaßen auf hartes Riffing wie tanzbare Beats<br />
setzt. Als Produzent versorgte er schon die ungekrönten<br />
Fürsten des Black Metal, Dimmu Borgir,<br />
mit dem richtigen Sound, zählt Marduk zu den regelmäßigen<br />
Gästen seines in den tiefen Wäldern<br />
Schwedens gelegenen Studios The Abyss, wo er<br />
auch schon mit der deutschen Thrash Metal-Legende<br />
Destruction das eine oder andere Album<br />
eingespielt hat.<br />
So verwundert es denn im ersten Moment ein wenig,<br />
seinen und den Namen seines Studios auf dem<br />
aktuellen Album der Stockholmer Maryslim zu lesen.<br />
Tatsächlich aber zeichnete sich Tägtgren<br />
schon für das 2004 erschienene „Split Visions“ als<br />
Produzent verantwortlich - seinerzeit seine erste<br />
Begegnung mit dem Genre Rock'n'Roll.
Ob die Konstellation nun wirklich eine gute ist,<br />
stellte schon „Split Visions“ ein wenig in Frage - wie<br />
nun auch „A Perfect Mess“. Dass Tägtgren seinen<br />
Landsleuten einen perfekten Studiosound verpasst<br />
hat, steht zwar außer Frage, eine allzu glatte<br />
Behandlung tut dem Songmaterial der Band allerdings<br />
eigentlich gar nicht so gut. Um gegen einen<br />
perfekten Klang zu bestehen, haben die Songs der<br />
Schweden letztendlich zu wenig Potential und arten<br />
in manchen Fällen („Part Of Me“) durch diese<br />
Behandlung in äußerst radiotaugliche Mainstreamlangweiler<br />
aus. Das mag im Sinne aller Beteiligten<br />
sein, Fans der ersten Stunde werden sich trotzdem<br />
die etwas erdigeren, dreckigen und rotzigen Maryslim<br />
zurück wünschen. Mit „A Perfect Mess“ jedenfalls<br />
hat sich die Band eigentlich genau jenes<br />
geschaffen.<br />
7 Punkte<br />
Arnulf Woock<br />
maryslim.<strong>com</strong><br />
modernnoise.de<br />
MONKEY 3 - 39 LAPS<br />
(Buzzville/Soulfood)<br />
Bei Monkey 3 muss ich immer<br />
unwillkürlich an meine letzte<br />
Prag-Reise denken, da mir dort<br />
deren feines Debüt gestohlen wurde, inklusive dazugehörigem<br />
Auto meines Freundes. Auto gibt es<br />
jetzt ein besseres neues und auch die Schweizer<br />
legen mit „39 Laps“ gewaltig nach.<br />
Konnte man das Debüt noch in etwa in die Heavy-<br />
Stoner Ecke stellen und Vergleiche zu Sons Of Otis<br />
ziehen, tut man sich jetzt ungleich schwerer mit<br />
solch leidigen Kategorisierungen. Und genau das<br />
zeichnet gute, innovative Alben ja aus. Monkey 3<br />
haben sich selbst neu erfunden und spielen jetzt<br />
in einer anderen Soundliga. Weniger Stoner, mehr<br />
Psychedelic, Prog und Post-/Spacerock. Ergo,<br />
überlange Instrumentalsongs, die mit ausgefeilten<br />
epischen Arrangements glänzen, Gitarrenwände,<br />
die monohaft geschichtet werden, melancholischflirrende<br />
Keyboardteppiche. Manche Parts sind jedoch<br />
sehr zerdehnt, hier verliert sich die Idee gelegentlich<br />
im outta space. Vor allem gegen Ende<br />
des Albums scheinen ihnen etwas die Ideen ausgegangen<br />
zu sein. Am Ende steht auch das Ennio<br />
Morricone Cover „Once Upon ATime In The West“,<br />
das vielerorten hochgelobt wurde, mir persönlich<br />
aber nicht allzu zusagt. Trotz der Längen am Ende<br />
ein überaus empfehlenswertes Album, in das Stonerrockfans,<br />
die Loose (35007) schätzen, genauso<br />
reinhören sollten wie Fans von Tool oder den neueren<br />
Isis. Und wenn sie noch mehr so Wahnsinnssongs<br />
wie „Xub“ und „Last Moulinao“ schreiben, ist<br />
ihnen die Highlight Position beim nächsten Mal sicher.<br />
11 Punkte<br />
Christian Eder<br />
monkeythree.<strong>com</strong><br />
NEAL MORSE -<br />
SOLA SCRIPTURA<br />
(Inside Out/SPV)<br />
Es gibt nicht wenige Stimmen,<br />
denen die ewige Religions-<br />
Leier des Herrn Morse inzwischen einigermaßen<br />
auf den Zwirn geht. Zu den Texten (diesmal inspiriert<br />
durch Martin Luther) kann man stehen, wie<br />
man Kleingeld hat - Fakt ist, dass Neal Morse auch<br />
auf „Sola Scriptura“ musikalische Gourmetkost<br />
serviert. Zwar hätte ich mir hier und da ein, zwei<br />
Überraschungsmomente mehr gewünscht, aber<br />
auch so wuchtet der ehemalige Spock's Beard-<br />
Fronter seinen neuen Solo-Output wieder locker<br />
über Durchschnittsniveau. Unterstützung erfährt er<br />
dabei u.a. von Saitenhexer Paul Gilbert (Mr. Big)<br />
und Fellverdrescher Mike Portnoy (Dream Theater),<br />
denen es gelingt, feinsten Bombast-Prog<br />
Rock ohne den Hauch einer Staubschicht wuchtig<br />
und teils erstaunlich heavy in Szene zu setzen.<br />
Amen!<br />
12 Punkte<br />
Heavy<br />
insideout.de<br />
NORWAY -<br />
RISING UP FROM THE ASHES<br />
(MTM/SPV)<br />
Der mächtig mit Pathos belegte<br />
Titel lässt Gewaltiges erwarten -<br />
was dann aber aus den Boxen schallt, ist eher bieder.<br />
Nichts gegen AOR/Melodic Rock, aber etwas<br />
mehr Schmackes und weniger Vorhersehbarkeit<br />
darf das Ganze dann doch haben. Der Opener<br />
„Save Me“ wäre Ende der Achtziger mit einer fetteren<br />
Produktion wohl noch als recht amtlicher Stadionrocker<br />
durchgegangen. Wenn aber bereits der<br />
zweite und dritte Track beides Balladen sind, bleibt<br />
der Gewaltigkeits-Faktor irgendwie auf der<br />
Strecke... Wer auf die üblichen Verdächtigen aus<br />
dem Hause Def Leppard, Bon Jovi & Co. steht und<br />
kein Soundfetischist ist, kann hier mal reinhören.<br />
Unterm Strich aber ziemlich beliebiger Stoff aus<br />
New Jersey. Nicht Norwegen.<br />
6 Punkte<br />
Heavy<br />
mtm-music.<strong>com</strong><br />
OPHYDIAN - The Perfect Symbiosis, CD<br />
(Dioxzion Records/Twilight)<br />
Jaja, die Italiener! Den ganzen Tag in der Sonne<br />
liegen, Espresso saufen und den lieben Gott einen<br />
guten Mann sein lassen. Zu diesem Klischees<br />
passt irgendwie auch, dass man den Jungs „da unten“<br />
solche Mucke, mit der beispielsweise Bands<br />
wie „Ophydian“ aufwarten, schlechterdings nicht<br />
zutraut; die nämlich stimmen die Gitarren runter,<br />
hauen clever durchdachte Metal-Riffs raus und basteln<br />
einen Sound, den man irgendwie eher jenseits<br />
des Atlantiks als jenseits der Alpen vermuten<br />
würde. Die getriggerte Bassdrum nervt zwar ohne<br />
Ende, dennoch ist der Sound ein echter Schlag in<br />
die Fresse und Fundament eines überaus kreativen<br />
Outputs, der gerne für ein paar weitere Umdrehungen<br />
im Player verweilen darf. Ein weiteres<br />
Plus ist der abwechslungsreiche Gesang, der in<br />
seiner hart-zart-Dynamik eine - eben - perfekte<br />
Symbiose mit der Restruppe eingeht. Hinsichtlich<br />
des Songwritings gibt es natürlich beim ein oder<br />
anderen Track noch ein wenig Luft nach oben -<br />
aber wenn dieses Schiff hier Kurs hält, dann können<br />
wir uns zukünftig auf einiges gefasst machen.<br />
11 Punkte<br />
Leo<br />
PAIN OF SALVATION -<br />
SCARSICK<br />
(Inside Out/SPV)<br />
Pain Of Salvation waren noch<br />
nie Easy Listening. Dass sie im<br />
Vergleich zum doch leicht überladenen Vorgänger<br />
„Be“ etwas abgespeckt haben, steht den Jungs<br />
also gut zu Gesicht. „Scarsick“ benötigt zweifellos<br />
ein paar Durchläufe, dann aber zünden die zehn<br />
Tracks ohne Zweifel. Der moderne, nur vordergründig<br />
unzugängliche Metal der Schweden wirft<br />
zwischen den streckenweise strapaziösen Strophen<br />
stets rechtzeitig akustische Anker aus, an denen<br />
der Orientierungslose zurück zum Grundgerüst<br />
des jeweiligen Songs findet. Zusätzlich bieten<br />
Pain Of Salvation in regelmäßigen Abständen<br />
kleine Verschnaufpausen in Form von verhältnismäßig<br />
unkomplizierten Tracks an. So kann der geneigte<br />
Break-Aficionado z.B. nach dem anstrengenden<br />
Eröffnungsdoppel „Scarsick“ und „Spitfall“<br />
39<br />
beim anschließenden „Cribcaged“ durchatmen.<br />
Dieser Aufbau zieht sich sinnvollerweise komplett<br />
durch dieses empfehlenswerte Album, und so kann's<br />
weitergehen für die Männer um Daniel Gildenlöw.<br />
Pain Of Salvation are not easy, but worth listening<br />
to!<br />
12<br />
Punkte<br />
Heavy<br />
insideout.de<br />
PALEHORSE -<br />
AMONGST THE FLOCK<br />
(Bridge Nine Rec.)<br />
Dabei soll es in Connecticut<br />
eher beschaulich sein. Rums,<br />
Krach, Schepper, Empörung. Muss man zwischen<br />
bibelbewehrten Landkundschaftsspießern aufwachsen,<br />
um soviel Wut zu entwickeln, wie die<br />
hier? Doublebase, Gebrüll, die Welt eine Bedrohung<br />
im Allgemeinen und die Neue-Welt-Ordnung<br />
im Besonderen.<br />
Keine Gefangenen auf der schwarz-roten Lärminsel<br />
im Meer der ahnungslosen, betrogenen, saudummen<br />
Schaafe. Das ist der Kern der Botschaft.<br />
Ich will jetzt nicht diskutieren, ob die Herren da nicht<br />
doch ein wenig Recht haben. Hatte ja gerade den<br />
Emocore von From Autumn To Ashes gehört, der<br />
technisch etwas versierter war, aber in seinen<br />
Emotionen weniger ehrlich und authentisch wirkte.<br />
Die hier zelebrieren ihre echte Wut - vorzugsweise<br />
white-angry-young-men-on-the-highway-kompatibel.<br />
Für den Aufstand in den Vorstädten. Für den<br />
Bleifuss bei getunten 180, wenn die Frau vorher<br />
am Telefon Schluss gemacht hat. Solider Hightemp-Hardcore<br />
ohne größere Schwächen oder<br />
Höhepunkte. Keine Überraschungen, zu wenig Varianten.<br />
Echte Empörung und Gewalt in den Riffs.<br />
Sound gewordene Gegengewalt also. Die Fans<br />
wird's freuen.<br />
8 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
myspace.<strong>com</strong>/palehorse<br />
PERLE° KOMMT - s/t<br />
(Triple Eggs/Radar Music)<br />
<strong>reViews</strong><br />
Perle° kommt. Und wird spalten.<br />
Spaltet. Kanalisiert. Spaltet<br />
mich. Was soll ich da schreiben?<br />
Wenn ich Perle nicht ganz begreife? Ratlos.<br />
Hmmm. Erinnert mich ein bisschen an Blumfeld.<br />
Hasst ihr mich jetzt? Lieg ich völlig daneben? Ich<br />
weiß nicht. Perle° kommen aufjedenFall auf<br />
deutsch. Beispiel gefällig? „Ich küsse Dich wach<br />
mein Engel. Und schmiege mich an Dein Ohr. Die<br />
Sonne geht auf am Himmel. Ich hab heut viele<br />
schöne Dinge mit Dir vor...“.<br />
Psychopathisch? Unbedingt. Dazu ist das auch<br />
noch gehaucht. Oder bin ich versaut? Ist meine<br />
Gedankenwelt so neben der Spur? Das ist eine<br />
unterschwellig-bedrohliche Atmosphäre. Für mich<br />
zumindest. Hat irgendwas vom Schlaflied der<br />
Ärzte. Man wartet die gesamte Spielzeit des Songs<br />
auf eine eventuelle grausame Auflösung des ganzen.<br />
Aber. Man. Kriegt. Nichts. Und so fängt Perle°<br />
an. Ok, weiter im Text. Perle° sind Pop. Und sehr<br />
versierte Musiker. Ob Gitarre, Piano oder Stimme.<br />
Offener Pop. Spielfreudiger Pop. Offen für alles.<br />
Und das Bedrohliche sinkt so langsam mit Fortschreiten<br />
der Platte. Das ist alles sehr auf den<br />
Punkt gebracht. Die Sterne fallen mir auch ein, aber<br />
nur kurz. Aber Perle° sind eines. Eigenständig. Die<br />
Texte sind manchmal einen Tacken zu banal für<br />
mich, ein anderes Mal aber doch wieder hochkomplex<br />
miteinander verwebt. Lebenstexte, die<br />
manchmal aber ganz schön schmerzen. Ein Kandidat<br />
ist „ich möchte nur Freundschaft“, bei dem<br />
eine Frauenstimme duettmäßig aushilft. Der Text!<br />
Aua, schon erlebt. Hach, wir sind immer noch bei
40<br />
<strong>reViews</strong><br />
Perle°. Die Jungs sind im Booklet leicht überbelichtet<br />
verewigt. So ein bisschen Weichzeichnerweichspüler.<br />
Und manchmal plätschert die Musik<br />
auch so in etwa vor sich hin. Dann aber wieder<br />
doch nicht... Schöne Momente und Momente, bei<br />
denen ich mich fragen muss, ob das überhaupt<br />
geht. Dass die das einfach so machen. Und ob ich<br />
so etwas gut finden kann. Darf. Es aber auch tue.<br />
Whatever. Erwähnte ich schon, dass Perle° polarisieren?<br />
Zumindest geben sie viel Stoff für Partydiskussionen.<br />
Schon geschehen. Auf langen Autofahrten<br />
zu zweit. Schon geschehen. Nur hassen<br />
oder lieben. Es gibt kein Zwischendrin. Aber genau<br />
da stehe ich. Zwischendrin. Nochmal anhören?<br />
Hmmm. Perle° kommen spaltend. Ich bleib<br />
dabei.<br />
Mittendrin heißt wohl 8 Punkte oderso.<br />
Oder 9? Ach, ich weiß nicht.<br />
Matthias Horn<br />
Triple-eggs.de<br />
Perlekommt.de<br />
Pirate-smile.de<br />
REDHANDED - CLOSER<br />
Das ist gut. Fängt an an Tool<br />
erinnernd und steigert sich in<br />
ein Riffgewitter mit nettem<br />
kräftigem Shouten. Der zweite Song erinnert mich<br />
so was von an Slutgitarren. Und das dritte Stück<br />
reißt mit. Auch hier Slutgitarren im Spiel. Plus Redhanded<br />
stehen auf und streuen sozialkritische Lyrics<br />
unters Volk. Sind die gar politisch? Songtitel<br />
wie „scapegoat“, „freedom“, „world in your hand“<br />
und „army walk“ lassen die Vermutung aufkommen.<br />
Das find ich auch gut. Ein arges bisschen<br />
Crossover spielt hier keine minder Rolle. Tante<br />
Grunge schaut um die Ecke. Dann nette Hardcorelicks.<br />
Und ein Sänger, der das auch kann. Deftonesverwandt<br />
wechseln sich hier atmosphärische<br />
ruhigere schön gesungene Parts mit eben dem genauen<br />
Gegenteil ab. Alles im unteren bis oberen<br />
Midtempobereich gehalten. Geht ins Ohr. So. Melancholisch<br />
wachrüttelnd. Mit zwei Akustikschmankerln<br />
endet die Platte. Unplugged to an end. Ach,<br />
Redhanded sind schön. Und ich bin auf weiteres<br />
gespannt. Und raus.<br />
9,5 Punkte<br />
Matthias Horn<br />
redhanded.de<br />
insideout.de<br />
SLAVIOR - SLAVIOR<br />
(Inside Out/SPV)<br />
Es schwirren eine ganze Menge Vibes durch die<br />
verqualmte Restluft, wenn Slavior das heimische<br />
Wohnzimmer beschallen: Seien es u.a. alte Alice<br />
In Chains- immergrüne Faith No More- bzw. Living<br />
Colour- oder aktuellere Disturbed-Referenzen -<br />
egal, Slavior rocken das Eigenheim facettenreich<br />
und verdammt heavy. Dass sich dabei sogar ein<br />
gewagter Ausflug in ferne Reggae-Gefilde noch<br />
cool ins Gesamtbild fügt (der potentielle Single-Hit<br />
„Dove“), spricht für die drei beteiligten Musiker und<br />
ihr Können, wobei Fates Warning-Drummer Marc<br />
Zonder, MSG-Sechssaiter Wayne Findlay und ex<br />
Trybe Of Gypsies-Röhre Gregg Analla zu gleichen<br />
Teilen zum Gelingen dieses Debüts beitragen. Modern?<br />
Zeitgemäß? Cool!<br />
9 Punkte<br />
Heavy<br />
insideout.de<br />
SINNER - MASK OF SANITY<br />
(MTM/SPV)<br />
Es gibt in der Hartwurst-Szene<br />
genügend namhafte Beweise<br />
dafür, dass man im Alter nicht<br />
unbedingt einen Gang zurück<br />
schrauben muss. Das war also nicht der Grund,<br />
dessentwegen die neue Sinner-Scheibe weniger<br />
Ecken und Kanten aufweist, als ihr Vorgänger. Fest<br />
steht jedefalls, dass Mat Sinner und die Seinen mit<br />
„Mask Of Sanity“ einen über weite Strecken lupenreinen<br />
aber unspektakulären Hardrock-Silberteller<br />
zusammengeschraubt haben. Überraschend ist<br />
an diesem Album bis auf das verstärkte Auftreten<br />
einschmeichelnder Ohrwürmeleien nicht viel - bis<br />
hin zum mauen Cover (bei Sinner ja schon Tradition…).<br />
Die Songs gehen zwar zügig in die Hirse,<br />
nur hat man sie eben auch genau so schnell wieder<br />
vergessen. Solide, nicht mehr.<br />
8 Punkte<br />
Heavy<br />
mtm-music.<strong>com</strong><br />
SPLIT IMAGE -<br />
TOD UND TEUFEL<br />
(Broken Silence/Impact)<br />
Böser Sänger. Böse Motörhead-Riffs.<br />
„Ich glaub an Gott,<br />
glaubt er an mich? Verlorener Sohn, Engel des<br />
Lichts, Sehnsucht, Zweifel, Hass, so nennt Ihr<br />
mich!“<br />
Da ist sie, die von dieser wieder auferstandenen<br />
Band vor circa zehn Jahren - wenn auch auf musikalisch<br />
weniger entwickeltem Niveau - zu Schrott<br />
gerockte Attitüde des unverstandenen Cowboys,<br />
der die Realität sauber in schwarz und weiß aufteilt<br />
und diese einfachen Antworten auf schwierige<br />
Fragen seinen pogenden, meist männlichen Fans<br />
und ihren aufmunternd gereckten Fäusten entgegenbrüllt.<br />
Schwarz und weiß, gut und böse. Hier<br />
ist die Dualität noch in Ordnung. Und diese zur<br />
Pose geronnenen Gewissheitshymnen werden<br />
durch die grenzenlose Selbstgerechtigkeit zum<br />
schwer genießbaren Teutonen-Core: „Ihr habt es<br />
so gewollt“ (wirklich?), „Na gut, hier bitteschön,<br />
doch was Ihr davon habt, Ihr werdet es<br />
noch sehn.“ Ja, was haben wir also davon?<br />
Immerhin Zeilen, die dann doch ein<br />
wenig mehr in die Tiefe gehen: „Punk<br />
sein, das ist in, wird Teil der Spaßkultur,<br />
von Rebellion und Aufruhr seh` ich keine<br />
Spur.“<br />
Aha. Die rebellischen Helden von einst<br />
sind sauer. Nachdem ihre früheren musikalischen<br />
Taten weder zu nennenswerten<br />
Verkaufszahlen, noch zur Welt<br />
(respektive deutschen) -Revolution<br />
führten, haben die Nachwachsenden<br />
trotz fortwährender Unterdrückung die<br />
Freude am Leben entdeckt.<br />
Das ist für unsere teutschen Helden<br />
nicht denkbar. Mit heiligem Ernst politpoltern<br />
und rocken sie sich um den<br />
Rest ihres Verstands, wenn sie der<br />
muslimischen Hassprediger-Abteilung<br />
schon mal mitteilen, wo ihr Stern im eigenen<br />
Blut versinkt: „Ihr glaubt Euch<br />
gesegnet, doch Ihr seid gottverlassen,<br />
geheiligter Hass und Terrorkassen,<br />
bald ist es zu spät und Ihr seht, das<br />
Euer Mond im Westen untergeht.“ Na,<br />
das wird bei Bin Laden & Co. mächtig<br />
Eindruck machen.<br />
Wo einst Metallica & Co. rechtzeitig<br />
vermieden, am Rande ihrer Swimmingpools<br />
noch den Street-Fighting-<br />
Man zu mimen, gleitet diese Männermusik<br />
unfreiwillig ins Lächerliche ab,<br />
wenn sie zu - zugegebenermaßen handwerklich<br />
ordentlichem Hauruck-Rock ihre politische Nabelschau<br />
zum Ereignis erklärt: „Ich biete hier doch<br />
nicht Eure Parolen feil und zum Entsetzen aller ein<br />
freundliches Sieg Heil, in die andere Richtung, bevor<br />
der Jubel kommt, balle ich die Faust zum Gruß<br />
an die Rotfront“.<br />
Es folgt ein markiges Ostwestfalenlied für die Bierzelte<br />
ihrer Heimat - da habe ich schon kaum noch<br />
Lust, es ihnen zur Ehre gereichen zu lassen, dass<br />
sie im Lied „In Memoriam“ die trockene Skizze einer<br />
missglückten Alt68er-Vater-Sohn-Beziehung<br />
anlegen, in der zu mäßiger Intonation erfreulicherweise<br />
nicht nur Großbuchstaben und Ausrufezeichen<br />
gesungen werden. Stilistisch sowohl in den<br />
Arrangements, als auch im Textstil werden hier die<br />
Guten, Gerechten Onkelz gegeben - und genau<br />
deren Anhängern wird das wohl auch gefallen.<br />
Doch warum das dauernde allgemeine Gewäsch?<br />
Warum dieser Omnipotenzwahn? Warum nicht<br />
Selbstkritik versuchen, warum nicht ehrlich und ironisch<br />
Bilanz ziehen und nachprüfen, was aus den<br />
alten Schlachtruf-Gewissheiten wurde?<br />
Diese Herren haben noch immer die Weisheit in<br />
Hymnen gefressen: „Zweifel sind ein billiges, aber<br />
wirksames Gift, das sich langsam - unaufhaltsam<br />
- in unsere Herzen frisst.“ Schade, dass sie diese<br />
Zweifel demonstrativ verdrängen.<br />
Stattdessen wird es zum Schluss wirklich peinlich.<br />
„Sie erzählen Lügen über unseren Kult, an toten<br />
Asylanten gibt man uns die Schuld, die wichtigsten<br />
Maximen sind ´Ehre, Treue, Spaß`…“<br />
Zum Würgen: Diese Sandkastenkrieger biedern<br />
sich mit ihrem Midtemp-Gegröhl doch noch den<br />
Rechten an, nachdem sie sich vorher ausdrücklich<br />
von Nazis distanziert hatten. Und offensichtlich begreifen<br />
sie das nicht einmal selbst. Grenzen sie<br />
sich doch auf ihrer Homepage mit wohltuender<br />
Klarheit von Dogmatismus und totalitärem Denken<br />
jeglicher Art ab. Während sie es selbst, und das ist<br />
hier die Krux, in ihren Liedern auch nicht besser<br />
machen.<br />
Anschließend folgt ein Hasslied auf „Verräter“, die<br />
noch die Rache unserer tapferen Westfalen gewärtigen<br />
müssen und schließlich wird noch mal kurz<br />
Gott für die eigenen Allmachtsphantasien in Anspruch<br />
genommen: „Gott,<br />
lass mich<br />
KURZ & KNAPP mit Torge Hüper<br />
REEL BIG FISH dürften inzwischen die besten Jahre hinter<br />
sich haben und präsentieren mit OUR LIVE ALBUM IS<br />
BETTER THAN YOUR LIVE ALBUM (Rock Ridge Music)<br />
ein Doppelalbum inklusive DVD. Der Titel sagt dabei eigentlich<br />
schon alles. Urkomisch, die Jungs. Musikalisch hält sich<br />
das Ganze äußerst klassisch zwischen Rock und Ska (3).<br />
Nicht weniger klassisch gibt sich DAMIERAs Kopie aus At<br />
The Drive-In und allerlei Emo-Kollegen. Mit M(US)IC (Equal<br />
Vision Records) liefern Damiera zwar zehn wirklich ordentliche,<br />
durchweg vertrackte Stücke, denen trotz außergewöhnlicher<br />
instrumentaler Fähigkeiten letztendlich jedoch<br />
nicht ein einziger fortführender Gedanke anzumerken ist (6).<br />
THE BRANDOS aus New York melden sich nach ziemlich<br />
genau acht Jahren mit OVER THE BORDER (Blue<br />
Rose/Soulfood) zurück. Ihr staubiger, teils gar mittelalterlicher<br />
Mexiko-Rock mit Anleihen aus Monster Magnet und<br />
traditionellem 70er Jahre Rock in seiner deutlich schmierigsten,<br />
geschmacklosesten und gleichzeitig widerwärtigsten<br />
Form würde dabei in rauchigen Bluesrock-Absteigen sicherlich<br />
auf uneingeschränkte Begeisterung treffen (2). Und<br />
auch NAKED LUNCH haben es nach dem wundervollen<br />
„Songs For The Exhausted“ mit THIS ATOM HEART OF<br />
OURS (Louisville/Universal) sichtlich vergeigt. Nicht nur,<br />
dass sie inzwischen auf dem vielleicht unsympathischsten<br />
Label weit und breit gelandet sind, fehlt „This Atom Heart Of<br />
Ours“ eben die ungreifbare Besonderheit des Vorgängers<br />
auf ganzer Linie. Dabei zählt das langatmige „Military Of The<br />
Heart“ neben dem Titelstück sogar noch zu den besten (6).
Dein Schwert sein, lass mich Deine Klinge führen,<br />
bestimme ihre…“ (gemeint ist die Amtskirche)<br />
„…Schuld, lass sie Dein Urteil spüren.“ Prost und<br />
Ende der Durchsage.<br />
Hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem, das<br />
immer wieder sowohl im faschistischen - oder wie<br />
hier, selbstverliebt wertkonservativen, als aber<br />
auch im linken Oi-Punk-Rock feststellbar ist: Statt<br />
präziser Bilder und sorgfältiger Beobachtung findet<br />
man auch bei diesen selbsternannten Freibeutern<br />
der Töne nur Omnipotenzgegröhl und verworrene<br />
Allgemeinheiten. Hoch die Tassen! Ist Westfalen<br />
wirklich so trostlos?<br />
2 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
splitimage.de<br />
STEAKKNIFE -<br />
Parallel Universe Of The Dead<br />
(RookieRecords/Cargo)<br />
Seit der letzten LP, der „Plugged Into The Amp Of<br />
God“, sind sage und schreibe sechseinhalb Jahre<br />
ins Land gegangen; gut: es gab ein paar Seveninches<br />
und die „Stuff“-Compilation - mehr aber nicht.<br />
Vielleicht ließen die diversen Side-Projekte - allen<br />
voran die „Spermbirds“ um Sänger Lee Hollis und<br />
dessen diverse Spoken Word Performances - einfach<br />
keine Zeit; vielleicht war es aber auch eine gewisse<br />
Perspektivlosigkeit, entstanden durch Kritik<br />
am letzten Album, die auf durch „musikalische Einbrüche<br />
entstehende Unentschlossenheiten“ (Plattentests)<br />
abzielten und die letztlich die Kreativität<br />
der Truppe hemmten. Nun ist Gitarrist L. Demon<br />
wieder zurückgekehrt, und vielleicht ist er dafür<br />
verantwortlich, dass „das neue Album wieder ganz<br />
nah an den Wurzeln der Band“ (Label-Info) ist. Und<br />
diese Rückkehr zu den Wurzeln, zum Punk, tut Steakknife<br />
hörbar gut; nix „Perspektivlosigkeit“ - mit<br />
Leidenschaft, die an die guten alten „Black Flag“<br />
erinnern, mit Spielfreude wie bei den „Dead Kennedys“<br />
und einer enormen Portion Coolness haben<br />
sie diese Platte eingeprügelt. Vielleicht ist es<br />
im späten März 2007 noch zu früh, das zu sagen<br />
- aber „Parallel Universe Of The Dead“ könnte eine<br />
der Punkrock-Alben des Jahres werden.<br />
12 Punkte<br />
Kai<br />
steakknife.de<br />
SURROUNDED - THE NAUTILUS YEARS<br />
(Make My Day/Alive)<br />
Hört man diese Platte, meint man, die vier Schweden<br />
von Surrounded hätten sich während der Aufnahmen<br />
ihres zweiten Albums wirklich irgendwo<br />
20.000 Meilen unter dem Meer befunden - sich ungehemmt<br />
und frei in den endlosen Weiten des Ozeans<br />
verlierend. Eine gefühlte Ewigkeit ohne Kontakt<br />
zu dem, was sich da oben abspielt; völlig entrückt<br />
und auf sich selbst konzentriert. Und dann<br />
tauchen sie auf. Mit einem Album im Schlepptau,<br />
das mit ausladenden Popsongs aufwartet, die trotz<br />
opulenter Instrumentierung mit allerlei Samples,<br />
Streichern und Keys doch so zerbrechlich und feingliedrig<br />
wirken, wie frisch geschlüpfte Jungspinnen.<br />
Elf Songs, die ein stetiger Fluss an nachdenklichen<br />
Gefühlen und bittersüßer Traurigkeit durchzieht.<br />
Darüber schwebend eine stets verzerrte,<br />
mehr gehaucht als gesungene Stimme und die<br />
oben angesprochene, in warmen Tönen gehaltene<br />
Instrumentierung, die alles zusammenhält.<br />
Aber halt! Der aufmerksame Leser wird merken:<br />
All das kennt man doch schon seit Jahren von einem<br />
gewissen Mark Linkous, dessen Selbsthilfegruppe<br />
für akut Suizidgefährdete - auch Sparklehorse<br />
genannt - einem natürlich sofort in den Sinn<br />
kommt, wenn die ersten Töne von „The Nautilus<br />
Years“ ertönen. Und im direkten Vergleich können<br />
Surrounded dann leider auch nicht ganz bestehen,<br />
denn irgendwie fehlt da etwas. Ich kann nicht ge-<br />
nau beschreiben, was es ist, aber irgendetwas<br />
sträubt sich in mir, irgendetwas bäumt sich auf und<br />
verhindert, dass ich diese Platte hier hemmungslos<br />
über den Klee lobe. Obwohl sie so toll ist. Obwohl<br />
ich mich gerade in jeden Song verlieben<br />
möchte. Ist es die bei Sparklehorse einfach authentischer<br />
und konsequenter erscheinende Darstellung<br />
von schwer tragender Traurigkeit und Melancholie?<br />
Ist es die bloße Kenntnis, dass es da eben<br />
auch noch eine andere Band gibt, die genau so wie<br />
Surrounded klingt, aber halt schon sehr viel früher<br />
da war? Ich weiß es nicht und bin überfragt. Deshalb<br />
schnell zum Fazit: Tolle Platte für Leute, die<br />
Sparklehorse nicht kennen. Alle anderen müssen<br />
selbst entscheiden.<br />
9 Punkte<br />
Jochen Wörsinger<br />
MARIA TAYLOR -<br />
LYNN TEETER FLOWER<br />
(Saddle Creek/Indigo)<br />
Als ich Maria Taylor das letzte<br />
Mal traf zu einem Interview,<br />
sagte sie überraschend sofort ja: Zu der Frage, ob<br />
sie nicht eigentlich statt der Singer & Songwriter-<br />
Attitüde Musik mit `ner Big Band oder einem kompletten<br />
Symphonieorchester mit reserviertem rotem<br />
Teppich am Broadway machen würde, ihr<br />
Songwriting nicht eigentlich doch was für`s große<br />
Musikeraufgebot sei. Dann schwindelte sie mir<br />
noch vor, als erstes würde sie zuhause den TV einschalten<br />
und sich ne große Pizza bestellen, wenn<br />
sie nach einer Tour nachhause komme. Ausgerechnet<br />
sie, die Lofi-Diva. Mit einem irritierenden<br />
Maß an Kühle und geschäftsmäßiger Unnahbarkeit.<br />
Hier nun auf ihrer zweiten Solo-Scheibe fährt sie<br />
ganz, ganz vorsichtig größeres Geschütz auf, die<br />
Arrangements werden opulenter, und aus dem<br />
Freundeskreis und dem Saddle Creek-Umfeld darf<br />
alles mithelfen, was Rang, Namen oder den gleichen<br />
Nachnamen hat. Doch diesmal - stimmen die<br />
Songs teilweise nicht. Während ausgerechnet das<br />
Songwriterinnen-Kleinod „Clean Getaway“ noch<br />
so was wie zerbrechliche Nähe entwickelt, bleiben<br />
die meisten Tracks doch trotz aller handwerklichen<br />
Präzision - leblos, kühl, gesichtslos.<br />
Natürlich ist das gut gemacht und schön und liebevoll<br />
und alles…doch es bleiben letztlich Mitteilungen<br />
über behauptete Emotionen, die sich auf<br />
den Informationsgehalt der Botschaft selbst beschränken,<br />
ohne die Gefühle wirklich zu vermitteln.<br />
Hatte ich ihr auf dem ersten Album noch den Mut<br />
zum Orchester gewünscht, weil die Songs so<br />
schön und echt waren und mehr Ballaststoffe vertrugen<br />
- diesmal wünsche ich ihr weniger unbeschwerte<br />
Zeiten und weniger wohltemperiertes<br />
Geschwätz auf Cocktailparties, weniger Komplimente<br />
von allen Seiten - aus der Musikerfamilie,<br />
aus dem wunderbar gut situierten anerkannt tollen<br />
Indie-Label mit all den großartigen Kollegen, all<br />
den Journalisten, all jenen, die an der wohlbehüteten<br />
Dame aus New York abprallen. Die in weniger<br />
guten Zeiten gelernt haben mag, niemand zu<br />
nahe an sich ran zu lassen. Leider halten auch ihre<br />
neuen, sicherlich gut gemachten Songs keine<br />
Spannung aufrecht. Bis auf drei schöne, leise Nummern<br />
perlen sie hübsch und durchaus liebevoll gemacht<br />
aus meinen Boxen und halten mich - auf<br />
Distanz.<br />
8 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
saddle-creek.<strong>com</strong><br />
TELE -<br />
WIR BRAUCHEN NICHTS<br />
(Vertigo/Universal)<br />
Es kommt, wie es zur Zeit bei<br />
Deutsch-Pop-Fröhlichkeiten<br />
41<br />
wohl kommen muss - da ist ein fröhlich quäkender<br />
Sänger und ne nette Hymne zu Beginn - da sind<br />
demonstrative Selbstironie, da wird niemandem<br />
weh getan, da dreht sich eine weitere Band ohne<br />
erkennbar schlechtes Gewissen um sich selbst,<br />
sympathisch und handwerklich auf hohem Niveau.<br />
„… Es geht ein Rest um die Welt und die Sonne<br />
scheint rein, es geht ein Lied um die Welt, und wir<br />
tanzen im Kreis,…“<br />
Schon im zweiten Track, „Fieber“, liefern Tele einen<br />
fröhlichen Abgesang auf eine egozentrische<br />
Popwelt, die auf der Titanic dem eigenen Untergang<br />
entgegen feiert. Hier ist mehr zu finden, als<br />
das in der deutschsprachigen Schlager-Zu-E-Gitarren-Gilde<br />
verbreitete Kopulieren mit dem eigenen<br />
Spiegelbild. Dann wieder ein Song, der mich<br />
nicht im Mindesten berührt: Voll gepackt mit Referenzen<br />
an den Deutsch-Poprock der Achtzigerjahre<br />
lassen sie uns mit blass-sentimentalem Gestus<br />
an den genreüblichen Sehnsüchteleien unglücklich<br />
Verliebter teilhaben, recht schöne Zeilen<br />
und platten Refrain inklusive.<br />
Wie das also beschreiben? Als schlagerkompatible<br />
Refrains auf der Suche nach dem Evergreen?<br />
Angejazzte Chansons von ex-ewig Jugendlichen<br />
mit Angst vorm folgenlosen Älterwerden? In „Rio<br />
de Janeiro“ gehen Tele mit Swing einen Schritt weiter<br />
und beginnen, einen neuen musikalischen Horizont<br />
zu beschreiben - ein witziger, ironischer Text<br />
zum gekonnten Hüftwackel-Gebläse, Bigband-Referenzen<br />
mit Stil. Schluss mit Indie-Weinerlichkeit,<br />
keine Spur von Emo. Mal wird hier lasziv gerockt,<br />
mal melodramatisch mit der inzestuösen Selbstbeweihräucherung<br />
der angeblichen Popavantgarde<br />
- beispielsweise in Berlin -abgerechnet,<br />
während man sich von der Hauptstadt und ihrem<br />
selbstgerechten Lärm Um Nichts bis auf Weiteres<br />
verabschiedet. Doch all dies passiert gefällig, ohne<br />
Ausrufezeichen, Tele verweigern einen roten Faden<br />
und machen eine Platte ohne Plan. Auf dem<br />
Cover halten sie Nadeln in der Hand, um bunte<br />
Luftballons platzen zu lassen. Die bunten Versprechungen<br />
für das unkritische Funktionieren? Die<br />
selbstgerechten Gewissheiten derer, die sich für<br />
verkörperte Zukunft halten?<br />
Da geht ein Hans in die Welt, der Text bleibt beliebig<br />
und ersetzt Inhalt durch dramatisch anmutende<br />
Banalität. Der Song dudelt ebenso beliebig. Und<br />
die Waage meiner Rezeption neigt sich ins Soll, je<br />
länger ich dieser Scheibe zuhöre. Eine seichte<br />
Nummer ist „So Weit Weg“ - ohne jegliche Relevanz.<br />
„Wo Soll Das Hinführen?“, fragt ein Titel und<br />
führt nirgendwo hin. Tele beweisen noch mal<br />
schnell, dass sie auch rocken können und beim abschließenden,<br />
überlangen Titelsong fällt das Fazit<br />
auch eher bedauerlich aus: Das Cover hat nämlich<br />
Recht. Tele beschreiben Leere - und bringen<br />
die bunten Luftballons selbst nicht zum Platzen.<br />
Sie deuten an, dass sie könnten. Wenn sie wollten.<br />
Sie könnten bunt sein - und nicht folgenlos.<br />
Sie könnten lasziv sein - und glamourös swingend<br />
Gemeinheiten verbreiten. Diese Scheibe tut das<br />
noch nicht. Sie ist sympathisch, gut gemacht und<br />
entbehrbar. Wo Superpunk Mut bewiesen, bleiben<br />
Tele auf halbem Wege stehen. Schade.<br />
7 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
telemusic.de<br />
The Callahan - Hardpop<br />
(Modernnoise/Cargo)<br />
<strong>reViews</strong><br />
Zugegeben: Der Begriff „Hardpop“ erweckt bei mir<br />
nicht gerade positive Assoziationen. Ist hier der Album-Name,<br />
respektive der -Titel, Programm? Bin<br />
ich dann nicht der falsche Mann, um das aktuelle<br />
Album von „The Callahan“ zu beurteilen? Derlei<br />
Zweifel verfliegen beim Hören schnell. Zunächst<br />
erinnert Sänger Andy ein klein wenig an David Bowie,<br />
was meinereiner mit Sympathiepunkten vergütet.<br />
Der Sound, der durchaus als „Partyrock“ zu<br />
bezeichnenden Tracks, ist eher „Hard“ als „Pop“,
42<br />
<strong>reViews</strong><br />
was zusätzlich erfreut; und wenn dann noch zwölf mit reichlich Melodie<br />
und Abwechslung ausgestattete Songs aus den Boxen strömen, dann ist<br />
das Bild eines rundherum gelungenen Debuts vollkommen. Die schwedische<br />
Presse soll „The Callahan“ mit schwedischen 90s-Band wie „Wannadies“<br />
oder „The Sounds“ verglichen haben. Und das ist durchaus zutreffend.<br />
Zwar wird „The Callahan“ mit seiner deutlichen Populärmusik-Attitüde<br />
nicht jeden „Indie“-Fan begeistern können, bei mir und anderen „für<br />
alles offene“ Wesen sind sie herzlich willkommen und müssen die garantiert<br />
offene Türen nicht einrennen.<br />
11 Punkte<br />
Leo<br />
modernnoise.de<br />
THE FLAMING SIDEBURNS -<br />
Keys To The Highway<br />
(Bitzcore/Ranch)<br />
„Hallelujah Rock`n`Rollah“ hieß vor acht Jahren die erste<br />
Hymne der finnischen Asphaltcowboys mit eingebauter<br />
Überholgarantie beim kracherten Vorwärtsgerumpel für alle Männer,<br />
die in jedem Riff und Chorgesang den Schweißgeruch echter Männer<br />
spüren wollen.<br />
Sie haben sich nicht verändert. Mit fröhlichem Krakeele zu purem dreckigem<br />
Rock`n Roll liefern sie ihren Fans, was sie wollen. Bevor sie mit dem<br />
Mädel auf der Rückbank auf den Highways dahin düsen. Oder davon träumen,<br />
vorzugsweise.<br />
Sogar für den Zwischenstopp an der Tankstelle gibt es hier was zu hören<br />
(„Slow Down“), die Rocker mit neuem, gutem Gitarristen (der alte ist Jungpapa<br />
und macht Vaterschaftsurlaub) spielen also nicht nur im Full-Speed-<br />
Format. Ist auch besser so, denn ob „Keys To The Highway“, „Cut The<br />
Crap“, hier wird Autobahnrock ohne Überraschungen genau innerhalb der<br />
sattsam bekannten Genregrenzen und Stereotypen zelebriert. „Keine Experimente“<br />
- aber das immerhin mit Liebe zum dreckigen Detail. Für jeden<br />
Motorradfahrer und Hard-Rocker, der Zodiac Mindwarp verehrt eine gute<br />
Platte und die richtige Zutat zum nächsten Bikertreffen. Die anderen werden<br />
das reichlich berechenbar finden. Voll mit Klischees. Gibt es noch die<br />
Welt der Rock´n Roll-Krieger, der heißblütigen Machos mit den vollbusigen<br />
Miezen, die die Welt dieser Herren ausmachen, wenn man ihrer Musik<br />
glauben soll?<br />
Die Erfahrung lehrt, dass die meisten dieser Herren schon bald zu tumben<br />
Spießern werden, deren Lebensinhalt sich außer der geheiligten<br />
Plattensammlung auf Big Macs, die sonntägliche Ausfahrt mit dem blank<br />
gewienerten Hobel und den Bausparvertrag beschränkt.<br />
Dagegen glauben die hier wenigstens an den Lärm und klingen immer<br />
noch ziemlich frisch in ihrer Stereotypenwelt. Wird Zeit, dass diese<br />
Sparte auch von ein paar Jungs aus `ner Garage aufgemischt wird. Warum<br />
nicht von den deutlich jüngeren deutschen Boozed, mit denen sie<br />
im gerade erwachenden Frühling durch unsere Lande touren werden?<br />
Aber was soll´s, die Rocker freut auch diese Scheibe und dem Rest<br />
kann´s furzegal sein.<br />
8 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
theflamingsideburns.<strong>com</strong><br />
THE HIDDEN HAND -<br />
THE RESURRECTION OF WHISKEY FOOTE<br />
(Southern/Soulfood)<br />
Keine Frage, dieser Mann ist sowas wie unantastbar.<br />
Mit The Obsessed, Spirit Caravan und natürlich<br />
St. Vitus jedenfalls hat Scott „Wino“ Weinrich, nebenbei bemerkt einer<br />
der symphatischsten Musikerpersönlichkeiten, die man sich vorstellen<br />
kann, fraglos Musikgeschichte geschrieben. Sein aktuelles Projekt The<br />
Hidden Hand aber hinterließ von der ersten Veröffentlichung, dem 2003<br />
erschienenen „Divine Propaganda“, mindestens zwiespältige Gefühle.<br />
Denn bei aller Wertschätzung, die man dem großen alten Mann des<br />
Doom-Metals auch entgegenbringen musste und muss, waren „Divine<br />
Propaganda“ wie auch das folgende „Mother, Teacher, Destroyer“ und<br />
die Split-CD mit Wooly Mammoth nicht unbedingt dazu angetan, für Begeisterungsstürme<br />
zu sorgen. Daran ändert sich auch bedauerlicherweise<br />
mit „The Resurrection of Whiskey Foote“ nichts. Wie gehabt ist<br />
dieses weit entfernt davon, ein schlechtes Album zu sein, professionell<br />
umgesetzt und mit lässigem Können in Szene gesetzt. Das gewisse<br />
Extra, das für wirklich mitreißende Momente sorgen könnte aber geht<br />
auch dem dritten Album von The Hidden Hand ab. Ein wenig zu abgeklärt<br />
wirkt das Ganze, zu locker und leicht aus dem Ärmel geschüttelt,<br />
als dass man eine tatsächlich 100%ige Überzeugung hinter dem Tun<br />
der Band vermuten könnte.<br />
9 Punkte<br />
Arnulf Woock<br />
THE HOLD STEADY -<br />
BOYS AND GIRLS IN AMERICA<br />
(PIAS/Vagrant/Full Time Hobby)<br />
Was für ein großartiger Einstieg in eine Platte...<br />
„…boys and girls in America have such a sad time together, sucking off each<br />
other at demonstrations, making sure their makeup straight, crushing one another<br />
with colossal expectations, dependent, undisciplined, sleeping late...“<br />
Die berühmte Zeile aus Jack Kerouacs Novelle „On The Road“ wird hier aufgegriffen,<br />
zeitadäquat weiter verarbeitet, und die Jungs aus Brooklyn und Minneapolis<br />
tun gut daran, gleich ganz oben bei den Zitaten einzusteigen.<br />
Wow! In jedem Song ein magnetisierender Gitarrenakkord zu Beginn, der Sänger<br />
mit Charisma als fröhlicher Verkünder bitterer Wahrheiten, kein Bagatellisieren<br />
oder Sich Wegducken kritischer Geister vor der scheußlichen nicht nur<br />
amerikanischen Wirklichkeit, aber auch kein demonstrativ depressives Betroffenheitsgewinsel.<br />
Kleine große Geschichten über Menschen werden zu allgemeingültigen Wahrheiten<br />
über uns, bei denen wir uns von fröhlich drängenden Songs blendend<br />
unterhalten fühlen. „How can any band be this good?“, fragte Rob Sheffield<br />
vom englischen Rolling Stone. Jetzt weiß ich, woher er diese großen Worte<br />
nahm. Solange Rock`n Roll pur derart phantasievoll und mit Lust am eigenen<br />
reflektierten Frohsinn lärmt, sich dann auch mal zwischen Dylan und Curry angesiedelte,<br />
countryeske Balladen mit pur gefühltem Weltschmerz erlaubt, ohne<br />
je dabei eine Spur Ehrlichkeit einzubüssen, - solange eben Rock`n Roll pur alles<br />
andere ist, als der eifersüchtig gehütete Spießertummelplatz verlogener<br />
Lederhosenträger, solange kann auch für die Tight-Jeans-Fraktion in verräucherten<br />
Kneipen der Sonnenaufgang noch gut werden. Solange gibt es für den<br />
Americano-Rock jenseits von Nashville noch Hoffnung. Große Orgel, großes<br />
Piano. Tolle Gastmusiker. Keine Einwände.<br />
Wie meinen? Die sind doch ein bisschen zu dick und tragen zum Teil Brille und<br />
sind unerotisch? Auch darin mag Hoffnung liegen. Wurden sie mit ihrem frischfröhlich-freien<br />
Retro-Rock doch in allen möglichen us-amerikanischen Jahrespolls<br />
zur Number One gewählt, obwohl sie nur von ´nem kleinen Label stammten.<br />
Nun sind sie ´ne Nummer höher eingestiegen, haben mit John Agnello<br />
(Sonic Youth, Dinosaur Jr., Drive By Truckers) den richtigen Produzenten an<br />
Bord gehabt. Wir erleben den Unterschied zum tumben Highway Rock: keine<br />
Pose, pure Wahrheit. Und die demonstrative Lust am Zelebrieren der eigenen<br />
Intelligenz. Fein, dass es solche Musiker gibt…
„…meet me right in the party city, that two sided<br />
tape, it gets way too sticky, I got a bad case of noisemaker<br />
blues.“<br />
Wer immer diese Einladung nicht annimmt, ist<br />
selbst schuld.<br />
13 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
theholdsteady.<strong>com</strong><br />
boysandgirlsinamerica.<strong>com</strong><br />
THEE MERRY WIDOWS -<br />
Revenge Served Cold, CD<br />
(PeopleLikeYou/SPV)<br />
Dass Rache ein Gericht ist, das am besten kalt serviert<br />
wird, wissen wir nicht erst seit „Star Treck 2“.<br />
Die fünf Mädels behaupten von sich, die erste „all-<br />
Girl-Psychobilly/Horror/Surf-Punk-Band zu sein,<br />
was hier nicht wirklich überprüft werden kann; auf<br />
alle Fälle treffen die Begriffe Surf, Punk und<br />
„Psychobilly“ die Sache schon mal ganz gut. Die<br />
fünf mehr oder weniger durchgängig tätowierten<br />
Flintenweiber erfinden dabei das Genre nicht neu,<br />
setzen eher auf Altbewährtes und kommen dabei<br />
mitunter etwas arg betulich rüber. Auch erinnert die<br />
Stimme von Frontwitwe Miss Eva von Slut - ich<br />
vermute jetzt mal, dass das ein Künstlername ist -<br />
eher an Pop als Psychobilly. Sei's drum, vielleicht<br />
ist es ja gerade diese Mischung aus Surf- und Pop,<br />
die diese Scheibe interessant macht - von mir gibt<br />
es auf alle Fälle ein Küsschen. Das trau ich mich<br />
jetzt mal, denn ich glaube kaum, dass mir einer der<br />
Damen dafür aufs Maul haut.<br />
8 Punkte<br />
Leo<br />
merrywidowsmusic.<strong>com</strong><br />
THUNDERBIRDS ARE NOW!<br />
- MAKE HISTORY<br />
(French Kiss/Alive)<br />
Ein Ausrufezeichen steht für<br />
Dringlichkeit. Wenn dieses<br />
dann auch nicht nur in vergänglichen Songtiteln,<br />
sondern im Bandnamen selbst fest verankert ist,<br />
scheint die Sache noch klarer zu sein: Die wollen<br />
was, die haben ein Anliegen. Thunderbirds Are<br />
Now! wollen in deine Gehörgänge fliegen. Jetzt!<br />
Nur ein Jahr nach „Justamustache“ wenden sich<br />
die Donnervögel auf ihrem neuen Album im Sturzflug<br />
mehr Geradlinigkeit zu und nähern sich dem<br />
Pop. Power-Pop wie Motion City Soundtrack, denen<br />
man die übertrieben kindischen Keyboard-<br />
Flausen ausgetrieben hat. Was nicht etwa heißen<br />
soll, dass Thunderbirds Are Now! auf Synthies verzichten,<br />
im Gegenteil: Im Klangbild stets präsent<br />
sorgen diese für die Extraportion Flippigkeit, durch<br />
die diese Art von Pop im günstigsten Fall zum rhythmischen<br />
Arschwackeln verleitet. Power-Pop ist<br />
das auch im Sinne der Brüder im Geiste von Piebald,<br />
die gleichermaßen den Schalk im Nacken mit<br />
einer ordentlichen Portion gewitzter Musikalität<br />
verbinden. „Make History“ ist eingängig und tanzbar<br />
genug, um selbst unbedarfte Party-Animals<br />
oberflächlich zu begeistern, fällt aber auch desöfteren<br />
in die Schräglage, um eine längere Halbwertszeit<br />
zu garantieren. Oft genug scheinen die<br />
Postpunk-Wurzeln durch, um die Veröffentlichung<br />
auf dem Les Savy Fav-Label French Kiss einleuchtend<br />
zu machen. Tiefgang braucht man hier aber<br />
dennoch erst gar nicht zu suchen, die Vorzeichen<br />
stehen ganz klar auf unbeschwertem Tanzspaß.<br />
Die dafür benötigten offensichtlichen Hits sind am<br />
Start: „The Veil Comes Down“ etwa, mit Kindergeburtstags-Strophe,<br />
lässigem Refrain und obligatorischem<br />
Breakdown-Part. Auch die elegante Dancefloor-Durchgeknalltheit<br />
von „Sound<br />
Issues/Smart Ideas“ nimmt einen im Sturm ein.<br />
Nicht alle Songs reichen an dieses äußerst kurzweilige<br />
Level heran. Die Geschichtsschreibung<br />
werden Thunderbirds Are Now! erst recht nicht be<br />
einflussen können. Aber ein in Akkorde gegossener<br />
Aufruf zur Lebensfreude wie „Shake Them<br />
Awake“ kann einem zumindest schon mal einen<br />
ganzen Tag retten. Ist ja auch schon mal was! Mit<br />
Ausrufezeichen!<br />
10 Punkte<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
thunderbirdsarenow.<strong>com</strong><br />
TRANSMISSION -<br />
BEYOND LIGHT<br />
(Malicious Damage Rec/Cargo)<br />
Ex-Killing Joke Bassist, Labelmacher<br />
und Produzent Martin<br />
„Youth“ Glover hörte auch nach Abschluss der „Urban<br />
Hymns“ Produktion von The Verve, für die er<br />
den Brit Award als bester Produzent des Jahres<br />
1998 verliehen bekam, nicht auf, mit deren Gitarrist<br />
Simon Tong, der zur Zeit wegen seiner Teilnahme<br />
bei Damon Albarns Projekt The Good, The<br />
Bad And The Queen in den Medien stark präsent<br />
ist, Musik zu machen. 2006 schien Land in Sicht<br />
zu kommen, und die beiden schnappten sich den<br />
Keyboarder Tim Bran (Dreadzone) sowie den<br />
Schlagzeuger und Mitbegründer von Killing Joke<br />
„Big“ Paul Ferguson, um ihre 75 Minuten an Musik<br />
an einem Wochenende einzuspielen. Diese Minuten<br />
vergehen wie im Fluge, obwohl es sich bei<br />
„Beyond Light“ um ein reines Instrumental-Album<br />
handelt. Umschreiben kann man die fliegenden<br />
Sound-Teppiche als durch die Achtziger geprägten,<br />
psychedelischen Post-Rock. Oder als Dance<br />
- bzw. forsche Chill out-Musik für Rockmusikhörer.<br />
Keine große Überraschung, hat Youth doch in seinen<br />
Killing Joke-Phasen stets für ein wuchtiges,<br />
monoton-hypnotisierendes Groove-Gerüst garantieren<br />
können. Seine diversen Trance und Dub Label<br />
kann man wohl als zweiten klanglichen Einfluss<br />
nennen. Die Kompositionen auf „Beyond light“, die<br />
auch Sessions sein könnten - es aber angeblich<br />
nicht sind - bieten sich mit ihrem mal euphorisch<br />
strahlenden, mal mondsüchtig schimmernden<br />
Charakter als Soundtracks für ekstatisches Tanzen<br />
inklusive dem sogenannten „Chillen“ ebenso an<br />
wie für eine Wanderung durch die Natur - mal ohne<br />
Vogelgesang. Ein sporadischer Gesang würde das<br />
Ganze sicher noch mal aufwerten.<br />
11 Punkte<br />
Marcel von der Weiden<br />
myspace.<strong>com</strong>/transmissionofficial<br />
maliciousdamage.co.uk<br />
TRENCHER - LIPS<br />
(Southern/Soulfood)<br />
Casio-Grind, wird Trencher gelablet. Das weckt Assoziationen<br />
zu den seligen Lawnmower Deth, die<br />
ich früher sehr „verehrt“ habe. Mit Grind hatten sie<br />
zwar nichts zu tun, aber Keyboardkindermelodien<br />
gehörten zu ihrem Repertoire genauso wie rude<br />
Hardcore-Punksounds. Diese kuriose Verbindung<br />
hatte großen Charme. Trencher sind im Vergleich<br />
dazu einige Stufen hochgetaktet und bringen Death/Thrash/Grind,<br />
der immer wieder mit billigen<br />
Casiomelodien versehen sind. Inwieweit das jetzt<br />
ironisch zu verstehen ist, bleibt unklar. „Hung,<br />
Drawn Yet Shorter“ ist beispielsweise keine clowneske<br />
Reverenz zu Deicides „Hung, Drawn, Quartered“.<br />
Irgendwie ironisch klingt das aber allemal.<br />
Kaufhauskeyboardsounds jaulen zwischen brachialem<br />
Deathgrind, was dem Geist der Platte in etwa<br />
entspricht. Der Sound ist recht klassisch, den Genres<br />
entsprechend, birgt gute Ideen. Sie transportieren<br />
auch die nötige Wut und Aggression. Immer<br />
wieder wird das aber mittels der kruden Casiosounds<br />
konterkariert. Vielleicht die Lawnmower<br />
Deth des 21. Jahrhunderts.<br />
8 Punkte<br />
Christian Eder<br />
trencher.tk<br />
TYPE O NEGATIVE -<br />
DEAD AGAIN<br />
(Steamhammer/SPV)<br />
<strong>reViews</strong><br />
Schon der Opener und Titelsong<br />
„Dead Again“ stellt das<br />
Meiste dessen, was ich von<br />
Type O Negative in den letzten Jahren gehört habe,<br />
in einen tiefschwarzen Schatten - endlich rocken<br />
und grabschänden die Brooklyn-Diplom-Asis wieder<br />
schaurig schön über den städtischen Friedhof.<br />
Auch das anschließende „Tripping A Blind Man“<br />
lässt die Tendenz der Amis erkennen, anno 2007<br />
wieder verstärkt auf Nachvollziehbarkeit und<br />
Songstruktur statt ewig waberndes Slomo-Gedröhne<br />
zu setzen - und warum auch nicht, sie können's<br />
schließlich. Alleine wegen des frechen Voice-Overs<br />
der Promo könnte ich zwar ausrasten,<br />
die konstant aufblitzenden Highlights dieser zehn<br />
Grusel-Garstigkeiten stimmen mich allerdings<br />
schnell wieder versöhnlich. Fieser Goth-Rock-Metal<br />
auf Referenz-Klasse-Niveau.<br />
anonymus<br />
V.A. - BATSCHKAPP -<br />
76-06, <strong>30</strong> Jahre Hörgenuss<br />
(EMI)<br />
V.A. - POP OFF THE TOPS<br />
(Little Teddy Recordings)<br />
V.A. - THE DEAD PILOTS<br />
(Daredevilrecords/Heckspoilermusic)<br />
V.A. - FRISCH GEPRESST 2<br />
(Redwinetunes/PIAS/Rough Trade<br />
43<br />
Die Sampler im Schnelldurchlauf - und einen Glükkwunsch<br />
zu dreißig Jahren Batschkapp in Frankfurt<br />
vorneweg. In einer kunterbunten Zusammenstellung<br />
auf zwei CDs werden drei Jahrzehnte Popund<br />
Rock-Geschichte lebendig und damit Bands,<br />
die sich im Frankfurter Popular-Musikschuppen ein<br />
Stelldichein gaben - von Faith No More bis Fehlfarben,<br />
von Moby über Nightwish bis The Kooks.<br />
Längst den Anfangstagen der „Bier und Hanf gehört<br />
zum Kampf“ - Streetfighter-Cliquen entwachsen,<br />
hätte ich mir zum Geburtstag eine DVD mit alten<br />
Bild- und Tondokumenten gewünscht, oder<br />
auch Live-Mitschnitte aus der alten Clubtante am<br />
Eschersheimer Bahnhof. Oder junge Bands im<br />
Wechsel mit den Erfolgreichen, denen nach Meinung<br />
der Clubmacher die Zukunft gehört. Die mittlerweile<br />
mainstreamige Auswahl entspricht leider<br />
der Clubpolitik neuerer Tage. Doch auch so - macht<br />
die Doppelscheibe Spaß und die Gratulation<br />
kommt von Herzen. Schließlich ist wenigstens die<br />
Hausband mit von der Partie… (8 Punkte).<br />
Schon sehr viel eher genreimmanent kommt „Pop<br />
Off The Tops“ als Compilation daher, die eine vor<br />
allem noch im deutlich jüngeren Münchner Club<br />
„Prager Frühling“ stattfindende Reihe mit international<br />
(noch) weniger bekannten Garagen- und Indiepop-Bands<br />
illustriert. Das poltert fröhlich und<br />
geht in die jungen Tanzbeine. Und es sind ungeschliffene<br />
Edelsteine dabei: Fury Of The Headteachers<br />
(!!!), The Hells (!!), The Movements (!), This<br />
Et Al, Kill The Young, The Homewreckers Club,<br />
Gem, Them Nudes, Cazals, Humanzi, The Voom<br />
Blooms, Linear… Das macht uneingeschränkt<br />
Spaß und bietet guten Partysound für alle, die gern<br />
auf britisch/skandinavisch geprägten Power-Indie-<br />
Garagen-Pop abgehen. Fein! (11 Punkte)<br />
Eher für Hartgesottene empfehlenswert ist die<br />
„The Dead Pilots“ - Compilation aus den Häusern<br />
Daredevil Records und Heckspoliermusic - Hardcore<br />
pur - für Genrefans sicher eine Alternative auf<br />
der Suche nach neuem Namen im lärmenden<br />
Untergrund, mit massiven Qualitätsschwankungen<br />
allerdings (7 Punkte).
44<br />
<strong>reViews</strong><br />
Der zweite vom Münchner Veranstaltungsmagazinin-muenchen<br />
herausgegebene „Frisch<br />
Gepresst“ - Sampler schließlich<br />
vereinigt 40 Bands aus völlig<br />
gemischten Genres, die deutlich<br />
machen, dass die Qualität<br />
der Münchner Bands jener anderer deutscher Großstädte<br />
in Nichts nachsteht. Für Nicht- und Neumünchner<br />
ein Pflichtkauf, für andere aus der Region<br />
in schöner Überblick, bei dem allerdings Augsburg<br />
mal frech eingemeindet wird und Schwachheiten<br />
a la Tip Top leider nicht ausbleiben, an deren<br />
Stelle es genügend interessanten Nachwuchs aus<br />
den Münchner Übungskellern gegeben hätte<br />
(9 Punkte).<br />
Bliebe noch „Genug Gelabert“ - der Punkboard-<br />
Benefiz-Sampler zugunsten eines privaten Waisenhauses<br />
auf Sri Lanka. Wir erleben von Punkrock a<br />
la „Wir sind der Asoziale Widerstand“ bis hin zu<br />
Punkcore - eine eher eindimensionale Veranstaltung,<br />
die mich leider zu der Anmerkung zwingt, dass<br />
auch die gute Absicht keine musikalische Qualität<br />
ersetzen kann. Und an der gebricht es hier ganz<br />
entschieden. Die einzigen positiven Ausnahmen:<br />
Gottkaiser sowie Verlorene Jungs. Wer gerne<br />
Schunkelrock hört, bei dem er bierselig mitgröhlen<br />
kann und bei dem die Guten noch eindeutig die Guten<br />
und die Bösen noch die Bösen sind, der mag<br />
ein Ohr riskieren. Doch mit den Samplern der gängigen<br />
Punkrockmagazine ist man entschieden besser<br />
bedient (3 Punkte).<br />
Andrasch Neunert<br />
batschkapp.de<br />
myspace.<strong>com</strong>/topoffthepops<br />
daredevilrecords.de<br />
in-muenchen.de<br />
punkboard.de<br />
V./A. - BOUND FOR THE BAR<br />
(People Like You/SPV)<br />
Natürlich, die Verbindung der mittlerweile zum Kult<br />
erwachsenen Plattenfirma und Spezialisten für Rokk'n'Roll<br />
People Like You und der Klamottenfirma<br />
Lucky Thirteen ist eine durchaus konsequente. Ob<br />
das wirklich Anlass gibt, ein Zusammengehen<br />
mittels einer Compilation zu feiern, sei dahin gestellt<br />
- dass es in der Vergangenheit schon schlimmere<br />
Aufhänger gegeben hat, um schnell einen Sampler<br />
zusammen zu stellen, ist jedenfalls nicht zu leugnen.<br />
Um es kurz zu machen: „Bound For The Bar“, so<br />
der Name des Projektes, versammelt mit The Bones,<br />
The Generators, The Disasters oder The Stone<br />
Cutters nicht nur die etwas andere Variante der<br />
‚The'-Bands, sondern mit 2nd District, US Bombs,<br />
Demented Are Go oder Born To Lose sicherlich die<br />
feinsten Bands, die das Label aus Dortmund zu bieten<br />
hat. Die Songauswahl lässt zudem keinerlei<br />
Wünsche offen, so dass das 13 Stücke umfassende<br />
„Bound For The Bar“ der ideale Partysampler einerseits<br />
und die ideale Möglichkeit, sich eine Überblick<br />
über das Wirken des Labels zu verschaffen andererseits<br />
ist.<br />
ohne Wertung<br />
Arnulf Woock<br />
peoplelikeyourecords.<strong>com</strong><br />
VOODOSHOCK - MARIE SISTER'S GARDEN<br />
(Exile On Mainstream)<br />
Neben Shepherd sind Voodooshock die einzige<br />
Doom Band aus Deutschland, die mir bekannt ist.<br />
Bereits 1998 gegründet, haben sie diverse Besetzungswechsel<br />
verkraften müssen, von denen nur<br />
noch Uwe Gröbel (Ex-Naevus) im jetzigen Line Up<br />
verblieben ist. Nach einem Album auf Lee Dorians<br />
Label Rise Above hier also das zweite Album innerhalb<br />
von neun Jahren. „Marie´s Sister´s Garden“ ist<br />
sehr klassischer Doom im Sinne von Count Raven,<br />
Candlemass, Pentagramm oder Saint Vitus. Die<br />
Produktion könnte etwas mehr Fette und Dichte vertragen,<br />
wird dem Sound im Großen und Ganzen<br />
aber qualitativ gut gerecht.<br />
Gegenüber den Vorbildern vermisst man bei Voodooshock<br />
allerdings etwas das eigene Profil, den<br />
Mut mehr zu wagen und den Doom etwas weiter zu<br />
denken. Aber das wollen sie vielleicht auch gar nicht<br />
und das ist völlig in Ordnung. Genrefans bekommen<br />
hier alles, was man am Doom liebt. Voodooshock<br />
setzen das mit gutem Händchen für klassische<br />
Strukturen und Gespür für den Song ohne größere<br />
Durststrecken um.<br />
8 Punkte<br />
Christian Eder<br />
WELCOME - SIRS<br />
(Fat Cat/Namskeio)<br />
Nochmal von vorne starten. Ich<br />
wollte mir alle Überraschungen<br />
en passant einprägen. Sind<br />
aber zu viele. Die Nummer vier,<br />
„First“, habe ich mir immerhin als Anspieltipp gemerkt.<br />
Ansonsten: eine Platte, definitiv nicht !!! für<br />
alle Gelegenheiten, aber eine, bei der ich jedes Mal<br />
was Anderes neu entdecke. Anfangs waren sie mir<br />
eher zu chaotisch verworren: die Verschrobenheiten,<br />
die kleinen Nischen und großen Schrägen (insbesondere<br />
von der großartigen Basserin und Sängerin<br />
Jo Claxton), die liebevollen Männchen-Weibchen-Chorgesänge<br />
zu Gitarrenausbrüchen im angejazzten<br />
Freestyle-Pop-Format. 60ies-Revival in<br />
der musikalischen Anarchie-Werkstatt. Was weiß<br />
ich wieviel merkwürdige Gitarreneffekte. Eine feine<br />
kunterbunte Platte. Indie pur. Und kaum verlangt der<br />
Wohlklang eine Popklassifizierung, schon hauen<br />
Sie mir schon wieder flatternde Free-Jazz-Noise-<br />
Einbauteile um die Ohren. Also gut, komm ich dann<br />
zum Leisermachen der Fernbedienung näher:<br />
freundliches Mädelgesäusel. Leg sie wieder weg.<br />
Krach. Aber mit Stil. Ist irgendwo in der Nähe ein<br />
Freibeuter-des-Pops-Treffen? Oder eine anarchistische<br />
Zukunftswerkstatt? Nimm diese tolle mutige<br />
Platte mit und Du wirst zu ihren Klängen<br />
nachts der freien Liebe frönen. Oder einfach<br />
der Star der Abschlussparty sein. Unangefochten.<br />
Nie das erwartete. Und nie<br />
ist das nur Pose. Nie ein Effekt als Selbst-<br />
zweck. Und eine Menge davon.<br />
Wirklich abgefahren. Man nehme North<br />
Of America und kreuze sie mit den Beatles.<br />
Die Blumenkinder der 60ies sind<br />
per Zeitreise in einem amerikanischen<br />
Undergroundkeller aufgewacht und<br />
bringen auf die Noiseparties lauter<br />
bunte Blumen und ein hintergründigseliges<br />
Grinsen mit. Sind die auf<br />
Droge? Ist doch so was von egal.<br />
Hauptsache, sie sind.<br />
12 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
yrwel<strong>com</strong>e.<strong>com</strong><br />
WOO - MOBI ROCK<br />
(rx-tx/A-Musik)<br />
WoO ist einer der Begründer der<br />
Belgrad Noise Society, entstammt<br />
der dortigen Szene und<br />
betreibt Herbarium Records. In<br />
früheren Tage war er Mitglied<br />
der Noise-Rock Band Off, jetzt<br />
konzentriert er sich nach diversen<br />
CD-Rs auf freie, psychedelischeGitarren-Improvisationen.<br />
Neben zwei Gitarren<br />
und diversen, wahrscheinlich<br />
unüberschaubaren Effektpedalen,<br />
nutzt WoO die<br />
Klänge von Mobiltelefonen, Magneten, Fernbedienungen,<br />
Radio, TV und elektrischen Gitarrensignalen<br />
für seine psychotronische Soundforschung. Auf<br />
„Mobi Rock“ finden sich entgegen der semantischen<br />
Erwartungshaltung eher flächige Sounds ohne<br />
Drums und mit nur sehr wenigen perkussiven Elementen,<br />
die aber durchaus rhythmisch durchgestaltet<br />
sind. Feinsinnige Soundstapeleien, die sich<br />
manchmal sanft und warm mäandernd verlieren, immer<br />
wieder pulsieren und auf eine etwas abstrakte<br />
Weise psychedelisch sind. Ein Rauschen, Flirren,<br />
Fiepen, alles hat hier seinen besonderen Klanplatz<br />
und füllt ihn aus. Dabei verliert sich WoO nie in<br />
avantgardistische Experimente, sondern gibt den<br />
Klängen den Raum, den sie brauchen. Er schafft es<br />
auf eine sehr eigensinnige Art, einen äußerst interessanten<br />
flirrenden Soundteppich zu weben, der<br />
warme Sounds und Melodien nicht missen lässt. Abstrakt<br />
schön!<br />
9 Punkte<br />
Christian Eder<br />
belgradnoise.<strong>com</strong><br />
VOLT - RÖRHAT<br />
Exile On Mainstream / Soulfood<br />
Da haben die Jungs in der BluBox mal wieder ein<br />
grooviges Noise-Süppchen zusammengebraut.<br />
Trockene Drums und schön sumpfige Saiten, wobei<br />
sumpfig nicht matschig heißen darf. Die Musik<br />
erinnert an Vorbilder wie die alten Harmful oder Unsane,<br />
manchmal blitzt auch die Brutalität der alten<br />
Ulme auf.<br />
Melodien sind rar gesät, Volt beeindrucken mit Stakkatoriffs<br />
und Dampfwalze. Die Laufzeit ist mit 35 Minuten<br />
zwar etwas knapp bemessen, dafür gibt es<br />
aber auch ein wirklich schickes Digipack zu bestaunen.<br />
Fans des Genres sollten mal ein Ohr riskieren,<br />
man könnte neue Helden entdecken. Wer die „Romeo<br />
K.O.“ Mini-LP kennt und schätzt, darf bedenkenlos<br />
zugreifen.<br />
10 Punkte<br />
Mike Maisack<br />
volt-music.de<br />
KURZ & KNAPP mitt Jochen Wörsinggerner<br />
DUSTER 69 - ANGEL KING (DecibellRecords/Radar): Das<br />
nenne ich mal puren Rock! Duster 69 hämmern immer mitten<br />
auf die Zwölf und das so straight und erfrischend, dass<br />
es eine wahre Freude ist. Riff-Rock, Metal, HC und eine kleine<br />
Portion Stoner - da bleibt keine Zeit für Geplänkel oder ausschweifende<br />
Gesten. Und all das braucht es auch nicht, denn<br />
den Lederjacken wird's gefallen. Und von mir gibt es den Purismuspreis.(9)<br />
DUSTIN KENSRUE - PLEASE COME HOME<br />
(Cargo Records): Waren wir eben noch beim Rock, heißt die<br />
Schublade nun Pop. Diesmal von Dustin Kensrue, von Beruf<br />
Singer/Songwriter. Der hat eine nette, leicht nörgelnde<br />
Stimme mit der er nette Pop-Songs singt. Aber leider klingt<br />
dabei vieles etwas zu brav, radiotauglich und konventionell.<br />
Schade eigentlich, denn mit etwas mehr Mut hätte daraus<br />
durchaus mehr werden können. (8) MADELEINE - THE CITY<br />
IS A STORYABOUT PEOPLE (www.madeleine-music.<strong>com</strong>):<br />
Leute, lasst die Geldbörsen stecken! Das hier gibt es für lau<br />
als freien Download unter der oben genannten Adresse. Und<br />
das Anwerfen der Kiste lohnt wirklich, denn Madeleine aus<br />
Bonn liefern astreinen Indie-Pop, der produktionstechnisch<br />
absolut dem kommerziellen Standard entspricht und in Sachen<br />
Melodie und Songwriting so manch andere Band gleichen<br />
Schnittmusters alt aussehen lässt. Der Platte merkt man<br />
zu jedem Zeitpunkt an, dass hier Leute am Werke sind, die<br />
einfach nur Spaß am Musikmachen haben. Als einziges<br />
Manko könnte man vielleicht anführen, dass der Platte die<br />
wirklichen Hits fehlen und alles auf etwa gleichem Level abläuft.<br />
Aber warum immer das Haar in der Suppe suchen!? (10)
Balzac - Deep Blue/Chaos FromDarkism II (GForce/BrokenSilence) Bei denen wusste ich<br />
nie so recht, was die Band wirklich ausmacht - ist es die Musik oder ist es ihr Image als Horror-Punker?<br />
So konnten mich die bisherigen Veröffentlichungen nie so wirklich überzeugen.<br />
Vielleicht liegt es schon am falschen Etikett, denn zumindest die aktuelle Scheibe hat mit Punk<br />
in den seltensten Fällen zu tun. Das ist schlicht schnell gespielter Hardrock, mit passablen<br />
Hooks und vielen neckischen Riff-Ideen. Und wenn der Sänger nicht immer so klingen tät, als<br />
hätte er die Vocals in einer Großraumtoilette eingesungen, dann wäre meine Freude noch ungetrübter.<br />
So gibt es leider ein paar Abzüge in der B-Note (08).Creeks - s/t (Dirty Faces) Von<br />
den 15 Songs, die die „Creeks“ auf ihrem aktuellen Album zum besten geben, fällt besonders<br />
„Freiheit Der Wahl“ ins Auge - respektive: ins Ohr: die Jungs aus Dresden offenbaren hier ihren<br />
Hang zum Wave und zum Powerpop, der sich als roter Faden durch die komplette Platte<br />
zieht. Dennoch bleibt das ganze sehr rotzig und Garagen-punkig. (08) Dallax - Core Color +<br />
Bonus, CD (Pork Pie/Broken SiIence) Ska-aaa Banzai! Der Ska hat nun also auch die ferne<br />
Insel im Pazifik erobert. Und die Jungs aus Tokyo „knallen“ mal eben „alles nieder“ - so steht<br />
es im Info, auch wenn es als Motto alter Eastwood-Filme durchgehen könnte. Feuerpausen<br />
gibt es ab und an in Form hübscher Melodien. Die elf besten Songs der Truppe sind als Bonus<br />
gleich mit auf dem Scheibchen. Besonders gelungen ist eine Cover-Version des Billy Joel-<br />
Klassikers „Honesty“. (10)Disconvenience - Umea Punk City (Dirty Faces) klingen ein bisschen<br />
wie die guten alten „Partisans“ - schneller Insel-Punk mit Hardcore-Einflüssen von jenseits<br />
des großen Flusses. Interessanterweise bekommen die Stockholmer bei all dem Getöse<br />
immer wieder die Kurve und ballern nicht nur, sondern (er)finden auch die ein oder andere hübsche<br />
Melodei. (09) Fedchenka - Mary & Other Assorted Lovesongs (Pitar/CMS SONY) Klingt<br />
russisch, sind aber Niederländer, vier an der Zahl, rocken munter und soundtechnisch fit drauflos.<br />
Nicht viel zu meckern, wenn auch anzumerken bleibt, dass „Fedchenka“ ihre ganz großen<br />
Momente eher dann haben, wenn das Tempo deutlich zurückgenommen wird („Two People“,<br />
„Hard Times“). Ich würde das gerne mal live sehen! (09).Front - Bitte Recht Freundlich (Dirty<br />
Faces) machen recht wave-lastigen Punkrock, der vor 25 Jahren gewiss auch als Beitrag zur<br />
Neuen Deutschen Welle durchgegangen wäre - die Humpe-Schwestern lassen grüßen, und<br />
auch „Fehlfarben“ haben die Wiesbadener schonmal gehört; runde Sache, nicht zuletzt wegen<br />
der sehr guten Texte (09). Handsome Hank & His Lonesome Boys - Live At Murmansk<br />
(RookieRec/Cargo) Dass man Klassiker wie „Back In The USSR“ oder „Ra-Ra-Rasputin“ in<br />
Country-Kleider stecken kann, hätte ich vielleicht noch für möglich gehalten; dass HH & HLB<br />
das auch mit Popschleudern wie „Thriller“ und Metalsägen wie „Highway Star“ und - sic! - „Ace<br />
Of Spades“ hinbekommen, nötigt mir eine gehörige Portion Respekt ab; so stelle ich denn fest,<br />
dass mir mein „das-kenn-ich-doch“-Grinsen über knapp fünfzig Minuten nicht mehr aus dem<br />
Gesicht weichen will; das Ganze ist in eine wunderbar ge-fake-te live-Atmo getaucht. Leute -<br />
Das hier ist DAS Teil für die nächste Fete, wenn es nach vier Kisten Bier mal wieder heißt: „Erkennen<br />
Sie die Meldodie?“ (12) Kuersche - Oxygene Overdose, CD (NTL Records/CMS<br />
Sony) Zwei Mann Band, die sich dem Singer/Songwriter-Genre verschrieben hat; die 14 Tracks<br />
schwanken zwischen wunderschön (Love Is A River, Room With A View) und belanglos, wobei<br />
glücklicherweise diejenigen Tracks überwiegen, die ersterer Kategorie zuzuordnen sind.<br />
Die Produktion ist leider etwas steril geraten; überdies wird Kuersche Mühe haben, sich als<br />
Deutscher in einem Genre durchzusetzen, in den Amis und Kanadier die Majorität stellen. Ungerecht?<br />
Schon.(9)<br />
Mainline - From Oblivion To Salvation (Dioxzion Records/Twilight) Die Mannen um Sänger<br />
Stinking Lizaveta -<br />
Scream Of The Iron Iconoclast<br />
(Monotreme/Cargo) Nach drei Alben<br />
in zehn Jahren kehrt einer der „Institutionen<br />
des US-Underground“ (Cargo) mit neuem Album zurück. Metal<br />
meets Prog meets Post. Cooler, bisweilen etwas dumpfeliger Sound (vor allem die Snare tönt<br />
geil, der etwas näselige Gitarrensound nervt bisweilen) - na ja, es kann ja auch nicht immer<br />
Herr Albini hinter den Reglern sitzen. Nette Platte, etwas kopflastig, vielleicht (09) The Cretins<br />
- s/t (Dambuster/Cargo) „Gimme, Gimme“ - da hüpfen sie wieder und powerpop-punken<br />
sich den Arsch ab. Die vier Jungs sind halt ausgezogen um zu schauen, ob „mit echtem,<br />
straighten Punk“ noch eine Nietenmaus hinter dem Ofen hervorzulocken ist. Und selbst, wenn<br />
das hier vom Urpunk soweit entfernt ist, wie der FC von der Bundesliga - den Cretins ist eine<br />
frischfreche Homage an den Funpunk der Ramones gelungen, der viele Fans finden soll und<br />
- definitiv - wird (11). The Defectors - Bruised And Satisfied (BadAfro) „Dänen lügen nicht“<br />
- zugegeben abgeschmackt, der Spruch. Aber es stimmt, weitestgehend: eine „Unmenge morbide<br />
Riffs, bluttriefende Hooklines“ von mächtiger Farfisa-Schweineorgel getragen - „nie war<br />
greifbarer, was Horror-Psychobilly ausmacht“, aber - ein bisschen flunkern tun sie dann doch,<br />
die Nordmänner: „Punkrock“, wie sie das selbst nennen, ist das nicht wirklich, auch wenn<br />
Songs wie „Lose It“ den Eindruck erwecken mögen. Aber egal, und ich sachma: Fuck You‚<br />
Cause You Looking Good (10). The Grit - Shall We Dine? (PeopleLikeYou/SPV) Blick ich<br />
aufs Cover, dann ist die Sache klar: Rockablly-Tolle, Kontabass und Halbakustische - so klingt<br />
es dann auch, und dennoch (?) bin ich positiv überrascht: Punk- und Rockabilly, eine Prise<br />
Surf und natürlich Rock'n'Roll - geht fröhlich ab wie das viel zitierte Zäpfchen. Herausragend<br />
in einer ohnehin guten Truppe ist übrigens Little Man Kurt am Upright. Ja, ok, mit Euch würd'<br />
ich gerne mal essen gehen! (11) Yellow Umbrella - Little Planet, CD (Rain Records/Broken<br />
Silence) Viel gelernt, in den letzten drei Monaten, zum Beispiel dass der Ska im Prinzip irgendwie<br />
aus dem Reggae kommt oder so … Wenn es eines Beweises hierfür bedurfte - Yellow<br />
Umbrella treten ihn an: herzerfrischende Synthese aus beidem, groovig, schweißtreibend, rasend.<br />
Das hier habe ich schnell ins Herz geschlossen. (11)<br />
<strong>reViews</strong><br />
Maurizio Lazzaroni wandeln auf den Spuren von „Opeth“ und „A Perfect<br />
Circle“ und damit auf eingeschlagenen Pfaden; „nicht viel Neues“<br />
kann man meckern, „Altbewährtes“ kann man loben; keine Offenbarung,<br />
aber solide gemachter Crossover, sage ich (08).<br />
Mary-Jane - What I Came Here For (Chocolate Fireguard/Our)<br />
Bei der Band aus dem englischen Huddersfield trifft Punk auf Rokk'n'Roll,<br />
und Sängerin Rachel Goulding sorgt dafür, dass sich die<br />
Truppe deutlich von der Masse der vielen Gleichgesinnten abhebt.<br />
Produziert wurde das Ganze von keinem geringeren als<br />
Geordie Walker (Killing Joke), der meines Erachtens jedoch<br />
eine etwas eigensinnige Auffassung von „Sound“ hat. Sei's<br />
drum - geschadet hat er der Band, die es leider nur ganze siebenmal<br />
kräftig krachen lässt, nun auch wieder nicht (10).<br />
Perfect Daze - Five Years Scratch (RookieRec/Cargo) Boss<br />
Tuneage goes Retro - und Rookie geht mit. Diesmal haut man<br />
eine inzwischen gut 20 Jahre alte Platte raus, die seinerzeit<br />
auf dem legendären Vinyl-Solution-Label rausgekommen ist;<br />
sagt mir gerade nüscht, aber - hey! Kids! - wenn Ihr wissen<br />
wollt, was Mutti und Vati in den 80ern gehört haben, und<br />
wenn Ihr schon eine Gitarre halten könnt und wissen wollt,<br />
wie man einen ordentlichen Punksong komponiert, ohne<br />
eben diese Eltern aus dem Haus zu treiben, dann könnt Ihr<br />
hier was lernen (09) Second Monday - Imagery (Lockjaw<br />
Records) Die Herren kommen aus Winchester, USA, und<br />
irgendwelche Kalauer, die einen Zusammenhang zwischen<br />
der Herkunft und dem präzisen, durchschlagskräftigen<br />
Sound herstellen, sind bei Strafe verboten. „Quicksand“<br />
oder „Waterdown“ sei demjenigen an den Kopf geworfen,<br />
der wissen will, wie es klingt. Ist ok, reißt mich<br />
aber nicht vom Sitzmöbel (09) Spontane - Good Is Dead<br />
In Good Luck City (Dad Records/Our) - sind eine französisch-amerikanische<br />
Formation, die sich an der<br />
Schnittstelle von HipHop, Electronic und Rock'n'Roll bewegen;<br />
selbst wer jetzt meint, mit „sowas eigentlich we-<br />
nig am Hut“ zu haben, wird zugeben müssen, dass sich „Spontane“<br />
fernab vom Klischee bewegen und mit ihrer Bereitschaft, immer über den Tellerrand<br />
zu schauen, viel Spaß machen. Kein Wunder also, dass so unterschiedliche<br />
Künstler und Bands wie „V2“ und „Buena Vista Social Club“ die Truppe gerne mit auf Tour<br />
nehmen (10).<br />
45
46<br />
<strong>reViews</strong><br />
13 SANE -<br />
DER ANFANG VOM BEGINN<br />
Fürther Alternative Rock-Combo, die<br />
sich mit schweren Metalriffs, Pop-<br />
Parts, exaltiertem Gesang und Hardcore-Einsprengseln<br />
mutig und experimentell<br />
zeigt. Technisch versiert versucht<br />
man sich am künstlerischen<br />
Overdrive - und manches Mal wäre weniger<br />
mehr gewesen. Nicht jedes Break<br />
ist nachvollziehbar, die überwiegend<br />
deutschen Texte sind reichlich pathetisch<br />
und unkonkret, teilweise bleibt der<br />
Spannungsbogen auf der Strecke.<br />
Trotzdem sehr achtbar und insbesondere<br />
in der Gitarrenarbeit hoch veranlagt.<br />
8 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
myspace.<strong>com</strong>/13sane<br />
Acoustic Club - s/t<br />
Ziemlich abgehangener Akustik-Rock<br />
der Marke 90er schallt mir da aus meinen<br />
Autoboxen entgegen. Yeah, fahr mit<br />
mir, Baby! Und alles so luftig, locker und<br />
mit ausgeprägtem Hang zu perkussivem<br />
Schlagwerk, erinnert mich an Calypso,<br />
an karibische Klänge. Soweit zur Rhythmusfraktion,<br />
wobei Latin auch immer<br />
mal wieder im Rest wiederzufinden ist.<br />
Junge Männer sind hier am Werk. Und<br />
haben jeglichen „elektronischen“ Instrumenten<br />
abgeschworen, der Name ist<br />
Programm... Die können spielen. Jeder<br />
Ton sitzt hier an der richtigen Stelle. Zwei<br />
Sänger sind Mitglied der Akustischen.<br />
Die eine Stimme eher ein bisschen college-rockig,<br />
die andere erdiger-grungig<br />
orientiert. Und wohl auch zwei Hauptsongwriter.<br />
Somit gehen die Songs in<br />
zwei verschiedene Richtungen, Hauptnenner<br />
bleibt aber derselbe, der Akustik-<br />
Rock. Bei der „Grungefraktion“ z.B. klingen<br />
für mich da ab und an die Steintempelpiloten<br />
durch. Stimmt das? Helden<br />
der Jugend?<br />
Aber zurück zu den Songs: die sind nämlich<br />
ziemlich komplex und dürfen auch<br />
mal verkopft sein; dazu kaum welche unter<br />
der 4-Minuten-Marke. Bis Song vier<br />
reißt die Platte was und mit. Zu erwähnen<br />
ist auch, dass die Hauptvokalisten<br />
durch einen netten Männerchor im<br />
Hintergrund Unterstützung finden. Dann<br />
wird's aber ein bisschen beliebig, man<br />
möge mir verzeihen. Aber mit Stück 6<br />
(„coral reef“) schleicht sich wiederum ein<br />
kleiner Hit in die Hörgänge und weckt<br />
auf... Mit dem Rest der Spielzeit dünnt<br />
sich bei mir jedoch wieder die Aufmerksamkeitsspanne<br />
aus, ab und an wird<br />
dennoch verharrt und aufgehorcht. Auch<br />
nach dem dritten und vierten Mal lässt<br />
sich jener eben geschilderte Ablauf nicht<br />
abschütteln. Was jedoch unweigerlich<br />
passiert: man wird immer mehr der Professionalität<br />
gewahr, die mit im Spiel ist;<br />
hier haben wir dann auch die Crux am<br />
Club: Jeder Ton sitzt. Das eine oder auch<br />
öftere Mal ein bisschen „zu“ perfekt. Da<br />
passt alles. Rund. Harmonisch. Dann<br />
aber plätschert es. Ich vermisse ein bisschen<br />
rauen Wind. Hier und da mal eine<br />
Kante. Eine ungeschliffene Ecke. Ein Atmen.<br />
Aufatmen. Aus- und Aufbrechen.<br />
DEMO's<br />
Acoustic-club.de<br />
Die Grenzen sprengen.<br />
Den cleanen<br />
Moment vertreiben.<br />
Die Ketten ablegen.<br />
Das ist gut, ohne<br />
Frage. Und der Club<br />
wird seine Zuhörer<br />
finden. Idealerweise<br />
an einer Strandbar,<br />
mit Sonnenuntergang<br />
im Rücken und<br />
Cocktail in der<br />
Flosse. Ich für meinen<br />
Teil wünsche<br />
mir für die nächste<br />
Platte all die aufgezählten<br />
missing<br />
parts und das für<br />
mich so essentielle<br />
more storm - less<br />
breeze. Oderso. Bis<br />
dahin verbleibe ich<br />
mit 8 Punkten.<br />
Matthias Horn<br />
KAELTELOESUNG -<br />
BY ACCIDENT AND SURPRISE<br />
Der Münchner Soundtüftler legt hier<br />
schon den zweiten, witzigen und gekonnt<br />
gemachten Output seiner experimentellen<br />
Elektropop-Spielereien vor,<br />
bei dem man sich fragt, warum das noch<br />
kein Label entdeckt hat. Hübsch arrangierte<br />
Schrägen zu quirligen Beats, die<br />
Vocals dazu manchmal eher unfreiwillig<br />
knapp neben der Spur, was aber zumeist<br />
auf charmante Weise gewollt klingt. Es<br />
knarzt, rummst und fiept ebenso vergnügt,<br />
wie raffiniert - der Herr von der<br />
Seifenblasen-Tankstelle nimmt<br />
sich ne Menge vor - und meist<br />
löst er ein, was er verspricht. Hat<br />
was.<br />
10 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
kaelteloesung.de<br />
MISSENT TO DENMARK -<br />
A CLUE, A HINT, A LOVE<br />
Aus dem Umfeld der Indie-Poprocker<br />
Conic kommt dieses<br />
neue Bandprojekt, das den<br />
Fokus deutlicher auf den Pop<br />
legt und gerne auch mal<br />
sphärisch dahinschwebt,<br />
bevor Druck gegeben wird.<br />
Toller, charismatischer Gesang<br />
zu britisch geprägtem<br />
Pop mit Radiohead meets<br />
Oasis-Appeal. Einige auffallend<br />
hypnotische Gitarrenriffs,<br />
stoisch treibende<br />
Beats, stilsichere Melodien,<br />
die hängen bleiben,<br />
kalkulierte kleine Disharmonien<br />
zwischen Gesangslinie<br />
und Gitarren.<br />
Ein schwärmerisches Intro<br />
scheint grundsätzlich<br />
dazu zu gehören, man<br />
bedient sich auch mal<br />
der Streicher-Abteilung<br />
und scheut sich zum<br />
Glück nicht vor großen<br />
ausholenden Popgesten. Die Songs entwickeln sich ruhig und<br />
selbstverständlich, das Songwriting wirkt souverän, die Arrangements<br />
dienen dem Song und überfrachten die kleinen, hübschen<br />
Melodien nicht. Die Balladen wirken nah, liebevoll, authentisch,<br />
nie gestelzt. Ziemlich reif und ein guter Tipp für den Indiepop-<br />
Connaisseur in eher anspruchsvoll signenden Häusern. Fehlt nur<br />
noch ein Kick Hysterie und eine Portion gelebter Optimismus.<br />
Die deutet sich aber immer wieder bereits an. Ein Touch Fröhlichkeit.<br />
Ist allemal drin. Das wird. Ein ernsthafter Anwärter auf<br />
die deutsche Pop-Bundesliga.<br />
11 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
missenttodenmark.de<br />
Nichts - Nichts<br />
„Grüß Gott und herzlich Willkommen bei N I C H T S“, steht auf<br />
der Homepage, auf der man irgendwie - aber doch nahe liegend<br />
- nichts findet, und wenn man auf eines der Bilder klickt, zum Beispiel<br />
auf das vom Gitarristen mit der Schweinemaske, dann passiert<br />
- natürlich - nichts. Würde es sehr überraschen, wenn auf<br />
dem aktuellen Demo der Band - Achtung! Kalauer! - NICHTS<br />
drauf ist? Schon, oder? Also: Kein Thema. Vier Songs haben uns<br />
David, Jonas, Toni und Schweinekopfmann Mobertsen eingespielt,<br />
und DIE sind wirklich alles andere als NICHTS! Feine Indiepop-Perlen,<br />
mit viel Postpunk und viel NDW drin; man greift<br />
auf altbewährte Musikalien wie Gitarre, Bass und Drumset zurück<br />
und garniert die Songs mit ein paar kleinen elektronischen<br />
Spielereien. Und die Texte! Wie wohltuend für denjenigen, der<br />
der Gemanistik-Student-im-dritten-Semester-Lyrik á la Kante<br />
und Hamburger Schule überdrüssig ist. Freilich: Oberflächlich<br />
betrachtet könnte man „Nichts“ verdächtigen, heftig in den Revieren<br />
von „Trio“ und „Hubert K“ gewildert zu haben, lauscht man<br />
aber genauer hin, dann erkennt man ein mächtig eigenes Profil!<br />
Gut so, weiter so! Ich drücke Euch die Daumen, dass es bald mit<br />
dem Deal klappt; ich muss jetzt aber los, ich muss „zum ich bin<br />
doch nicht blöd Markt mir einen Farbfernseher kaufen, denn um<br />
20:15 beginnt meine Wirklichkeit“.<br />
Keule<br />
nichtsfuereuch.de<br />
KURZ & KNAAPP mit AAndrasch NNeunert<br />
CHAPEAU CLAQUE - HAND AUF`S HERZ (1STDECADERECORDS)<br />
- Thüringer Sängerin, die Northern Lite in deren Vorprogramm so sehr<br />
überzeugte, dass sie in deren Company landete. Hübsche Songs mit<br />
annehmbaren Lyrics, für Freunde der besonders in Berlin gehypten<br />
Elektropop-Tänzerei zu netten Liedern mit lasziven Weibchen-Vocals<br />
inklusive kleinen kalkulierten Text-Frechheiten eine echte Alternative.<br />
Hübsch und reichlich kalkuliert, besonders, wenn es auf einmal mit Blick<br />
auf Björk in völliger Selbstüberschätzung um Reykjavik geht. Für diesen<br />
Fehlgriff Punktabzug (6). PHIL VETTER - SAY GOODBYE TO THE<br />
MOMENT (Redwine/PIAS) - Aus München kommt Phil Vetter, inzwischen<br />
nicht mehr ganz so junger Singer, Songwriter, der sich schon an<br />
diversen Bandprojekten versuchte, von denen Big Jim das Bekannteste<br />
war. All seinen Projekten gebrach es jedoch an Charisma, so hübsch<br />
und absolut sympathisch das auch immer war. Leider gilt das auch für<br />
seine Singer & Songwriterplatte. Sie ist schön, abwechslungsreich, doch<br />
bleibt letztlich blass in den Vocals. Tolle Songs, leider ohne große Ausstrahlung<br />
(8). ALUMINIUM BABE - SMOKE IN CHINATOWN (Netmusiczone/<br />
Rough Trade) - New Yorker Uptemp-Beat-Garagen-Band mit<br />
schnellen, knurrigen Beats des Bassers, mit unterdimensioniertem Gitarreneinsatz<br />
und Piepsstimmen-Vocals. Klingt sehr modern und ist bei<br />
genauerem Hinhören ebenso beliebig, wie überflüssig. Ein Fake (4).<br />
MSTRKRFT - THE LOOKS (Different/PIAS) - Die Torontoer Dance-<br />
Groove-Beatniks Jesse F. und AI-P bitten streng elektronisch zum euphorisierenden<br />
Tanztee, das tun sie mit Stil, Frische, Klasse - wer sich<br />
so richtig durchschütteln will, kann dies hier ohne schlechtes Gewissen<br />
tun. Musik, die trotz der Kühle des Sounds Lust und Wärme transportiert,<br />
die ass-kickin ist und sexy, so bunt wie das wunderhübsche Coverinnenleben.<br />
Dem Lieblings-DJ in der E-Disko mitbringen, er wird Euch<br />
dafür lieben. Oder selbst auflegen (11).
AEREOGRAMME - MY HEART HAS A WISH<br />
THAT YOU WOULD NOT GO<br />
Chemical U / Rough Trade<br />
Musikalische Großtaten sind wir von den fünf<br />
Schotten ja gewohnt, dass sich Aereogramme aber<br />
dermaßen weiter entwickeln - fast neu erfinden -<br />
hätte ich nicht erwartet.<br />
Mittlerweile spielt man in einer eigenen Post-Rock-<br />
Liga, in der von arabischen Rhythmen über fetten<br />
Streicherschmonz bis hin zum Walzertakt alles<br />
möglich ist. Was sich zunächst nach heillosem<br />
Durcheinander und nervigem Chaos anhört, wird<br />
geschickt mit großartigen Melodien und dem sensiblen<br />
Gesang von Craig B. vermengt.<br />
Die Glasgower schaffen den Spagat zwischen Pop<br />
und Relevanz mit diesem Meisterwerk in wirklich<br />
beeindruckender Weise. Aereogramme lassen das<br />
von den bisherigen Alben bekannte Dynamikpendel<br />
in Ruhestellung und konzentrieren sich auf den<br />
Song und seine Melodie. Sie schwanken nicht<br />
mehr zwischen laut und leise, Wimmern und Brüllen,<br />
spielen stattdessen lieber mit breiten Soundflächen,<br />
in die sich der Hörer entspannt fallen lassen<br />
kann.<br />
Nie waren Aereogramme so zugänglich wie heute.<br />
Dass sie dabei vollkommen unpeinlich geblieben<br />
sind, rechne ich dieser Band hoch an.<br />
Mike Maisack<br />
aereogramme.co.uk<br />
LOCAS IN LOVE - SAURUS<br />
(Sitzer/Virgin/EMI)<br />
Was ist in der Flut der in unserer<br />
Mütter- und Vätersprache<br />
poppenden und rockenden Veröffentlichungen das<br />
besondere Etwas, das diese wunderbare Platte<br />
von der blubbernden Masse so sehr unterscheidet?<br />
Ist es die Selbstverständlichkeit und Präzision<br />
der Bilder? Der Mut zum musikalisch Unerwarteten?<br />
Die Konsequenz der Nabelschau bis hin zur<br />
demonstrativen Selbstschädigung? Die Relevanz<br />
der Beobachtungen? Die Lust an kurzzeitigen,<br />
ganz und gar nicht verschämten Lärmeuphorien?<br />
Die Wärme des Gesangs und die stets spürbare<br />
liebevolle Nähe zu Fans und Musikkollegen? Die<br />
skandinavisch anmutende Frische ohne erkennbares<br />
Verfallsdatum? Die Stilsicherheit der Folkund<br />
Countryanleihen? Die Atemlosigkeit des<br />
ebenso charismatischen wie lakonischen großen<br />
Jungens am Mikro?<br />
Von all dem etwas. Hier ist eine weitere wirklich<br />
wichtige deutschsprachige Veröffentlichung nach<br />
Pendikel im letzten Jahr. Locas In Love rocken und<br />
schrubben ebenso gut, wie sie reimen. Sie schmeicheln<br />
uns mit Widerhaken, wenn sie uns leise kommen.<br />
Sie pfeifen auf das sonst stets so gleiche Verhältnis<br />
zwischen Silben- und Taktzahl, indem sie<br />
hier mühelos berechtigt Rekorde aufstellen. Sind<br />
dabei stets selbstverständlich ungekünstelt lieb im<br />
allerbesten Sinn, gerade dann, wenn sie im amerikanischen<br />
Folk-Wald Setzlinge klauen und sie als<br />
große kleine Gesten in ihren Indie-Schönheiten so<br />
stimmig einpflanzen, wie es sonst hierzulande nur<br />
Fink je hinbekamen. Was singt da die Co-Sängerin<br />
Stefanie? „Ich war es nicht, es war Mabuse. Er<br />
benutzte mein Gehirn.“ Im Wechsel mit „Das verdammte<br />
Deutschland hat mich dazu getrieben!“ im<br />
Hintergrund. Toller Kanon. Auch hier offenbart sich<br />
das Geheimnis dieser über viele Jahre harmonisch<br />
s<br />
gewachsenen und immer wieder von Kollegen liebevoll<br />
ergänzten Gruppe: in der Einfachheit guter<br />
Ideen und der Gewissheit ihrer Weiterentwicklung.<br />
In der kompromisslosen Subjektivität. In der rationellen<br />
Selbstbeschränkung bei den phantasievollen<br />
Arrangements. Nie wird die Idee hier zum<br />
Selbstzweck. Diese Lieder sind unaufdringlich und<br />
intensiv. Fordernd und beschützend. Zweifelnd<br />
und motivierend. Was singt er da gerade nach dem<br />
Nachhausekommen und meint es tatsächlich genau<br />
so? „Wir fragen uns, ob wir was machen aus<br />
der Zeit, die uns bleibt.“ Nur keine Angst, Freunde.<br />
Ihr habt doch schon so viel geschafft. Eine Platte<br />
für alle unsere Tage. Viel mehr geht nicht.<br />
Andrasch Neunert<br />
locasinlove.<strong>com</strong><br />
FISCHESSEN - SUICIDE IS MUCH TO BLONDE<br />
(bluNoise/Alive)<br />
Fischessen ist ein offenes Band-Projekt, das Jörg<br />
A. Schneider - eigentlich Drummer von LHQWE -<br />
ins Leben gerufen hat, um in ständig wechselnder<br />
Besetzung seine eigenen musikalischen Visionen<br />
umsetzen zu können - und das genau zwei Jahre<br />
nachdem die Hommes eine Pause auf unbestimmte<br />
Zeit eingelegt haben. Soweit so gut. Das<br />
Verwunderliche daran ist aber, dass sich Schneider<br />
- neben wenigen anderen Gastmusikern - mit<br />
Yvonne Nussbaum und Mark Kreutzer ausgerechnet<br />
die alte LHQWE-Mannschaft an Bord geholt<br />
hat, um das Debut „Suicide Is...“ aufzunehmen. Ist<br />
das hier also eine Espandrillo-Platte unter dem<br />
Deckmantel eines anderen Bandnamens? Mitnichten,<br />
denn schon nach den ersten Tönen wird<br />
klar, dass bei Fischessen eine ganz andere Herangehensweise<br />
zu erkennen ist: Weniger Struktur,<br />
dafür mehr Improvisation, weniger Interesse an<br />
gängigen Songformaten, dafür viel Freiraum, in<br />
dem sich die Songs entfalten können. Diese taumeln<br />
zwischen zwei Extremen: Meandernde, fast<br />
meditative Ruhe einerseits; andererseits laute,<br />
wilde, grenzauslotende Ausbrüche, bei denen sich<br />
Soundschicht auf Soundschicht türmt und die regelmäßig<br />
sehenden Auges in die unausweichliche<br />
Explosion rasen. Gesang bleibt da gleich (fast)<br />
ganz außen vor. Diesen vermisst man auch nicht,<br />
denn auf musikalisch-instrumentaler Ebene passiert<br />
so vieles, werden so zahlreiche Ideen verarbeitet<br />
und Nuancen eingestreut, dass man sich<br />
irgendwann in der Musik verliert, sich treiben lässt<br />
vom ständigen Wechselspiel zwischen melodiöser,<br />
fast schmeichelnder Eingängigkeit und rohen,<br />
nervenzerrenden Noise-Attacken. Angetrieben<br />
und zusammengehalten wird das Ganze vom gewohnt<br />
einzigartig dynamischen Drumspiel Schneiders',<br />
der hier auch erstmals selbst produzierte und<br />
dabei auch immer wieder elektronische Elemente<br />
Einfluss nehmen ließ. Das größte Plus der Platte<br />
ist jedoch sicherlich, dass sie - obwohl vor allem<br />
auf dem Mist des Individualisten Schneider gewachsen<br />
- nie zur Nabelschau verkommt und somit<br />
stets für den Hörer nachvollziehbar bleibt. Ein<br />
Punkt, der bei Projekten mit ähnlichem Ansatz ja<br />
oftmals aus den Augen verloren wird...<br />
Jochen Wörsinger<br />
fischessen.net<br />
IAN LOVE - s/t<br />
(arcticrodeorecordings/AL!VE)<br />
Kurzer Blick ins Info - und schon<br />
bereut. Zwei Seiten mit gefühlter<br />
Schriftgröße von 5 Punkten! Und es geht um<br />
ein Leben. Um Ian Love's Leben. Da steht viel.<br />
Über Drogensucht, ehemalige Bands wie Rival<br />
Schools und dementsprechend dicke Kumpels wie<br />
Walter Schreifels, von Erfolgen und immer wieder<br />
Scheitern, von erfreulichen wie auch sehr unerfreulichen<br />
Dingen. Und wieder von Drogensucht.<br />
Eigentlich too much. Für ein Info. Eine komplette<br />
<strong>reViews</strong><br />
Biografie? Vielleicht aber auch traurig, dass jene<br />
„nur“ zwei Seiten füllt. Wobei, was mir unters Auge<br />
gerät, könnte auch locker mal ein mehrhundertseitiges<br />
Buch in Beschlag nehmen. Also nur mal eben<br />
die Essenz hier und jetzt... Rival Schools, cool...<br />
Dann aber die Überraschung. Klingt ja gar nicht so<br />
danach. Eher sehr reduziert. Akustisch.<br />
Singer/Songwriter. Einzuordnen zwischen Denison<br />
Witmer, Sufjan Stevens, Eliott Smith, die reduzierteren<br />
Grandaddy-Songs und José Gonzalez.<br />
Vor allem José Gonzalez. Da Herr Love das perkussive<br />
Moment liebt. Ob mit der Gitarre erarbeitet<br />
oder auch wirklich mit Schlagwerk veredelt.<br />
Treibend. Immer nach vorn. Und teilweise mal so<br />
wirklich noisig, wenn auch „noisig-unplugged“. So<br />
geschehen bei „black diamonds“ oder „turn off“ (so<br />
Sparklehorse. So was von Sparklehorse!!)... Gut!<br />
Sehr gut! Dann wieder ruhige Momente. Innehaltende<br />
Momente. Und wieder Ausbrechen. Wir blikken<br />
tief. Nicht nur anhand des Infos, auch musikalischer<br />
Art vollführt Ian Love ein Offenbaren, Blankliegen,<br />
Bloßstellen und einen Seelenstriptease,<br />
der manchesmal fast einen Tacken zu viel ist. Aber<br />
nur fast. Jener kommt mit allerhand Akzenten im<br />
Schlepptau: mehrstimmiger Gesang, allerlei Geräusche,<br />
auch mal gerne schräger Natur, Piano,<br />
Mundharmonika, Pedal Steel undsoweiterundsofort.<br />
Dazu noch ein schön designter Pappschuber.<br />
Herz, was brauchst Du mehr? Genau. Liebe. Noch<br />
genauer: Ian Liebe. Schön! Wie auch der unbedingte<br />
Anspieltipp „Don't let go“!<br />
Matthias Horn<br />
Ianlove.<strong>com</strong><br />
Arcticrodeorecordings.<strong>com</strong><br />
MAGICRAYS - OFF THE MAP<br />
(Gentlemen/Alive)<br />
47<br />
Da meint man alles zu kennen und dann flattert eines<br />
schönen Tages das Album einer Band ins<br />
Haus, das anscheinend schon deren viertes ist.<br />
Man ist hin und weg und stellt sich die Frage, wie<br />
es sein kann, dass man von dieser Band bisher<br />
noch nie etwas gehört hat. Aber einfach mal von<br />
Anfang an: Magicrays kommen aus der Schweiz,<br />
sind - wie es sich für eine anständige Gitarren-Band<br />
von dort gehört - bei Gentlemen-Records und machen<br />
Musik, die schlichtweg unter die Haut geht.<br />
Dabei ist „Off The Map“ eines der wenige Alben,<br />
das das Feld von hinten aufräumt. Denn anstatt<br />
dass es - wie bei einzigartigen Platten eigentlich<br />
üblich - anfangs sperrig und undurchdringlich erscheint<br />
und sich erst von Hördurchgang zu Hördurchgang<br />
mehr und mehr erschließt, wird hier der<br />
umgekehrte Weg gegangen. Der Einstieg in „Off<br />
The Map“ fällt nämlich relativ leicht und man meint<br />
schon nach kurzer Zeit die Marschrichtung zu erkennen:<br />
Nachdenkliche, verzaubernde Popmusik,<br />
die Tiefgang hat, an vielen Stellen ausbricht und<br />
immer wieder ausufernde Gitarrenintermezzi einstreut.<br />
Man kennt das ja von Bands wie Grandaddy,<br />
Flaming Lips oder auch den Decemberists, die allesamt<br />
in ähnlichen Fahrwassern umherschiffen.<br />
Jetzt aber, nach zwei Wochen, in denen ich diese<br />
Platte unentwegt gehört habe, erscheint sie mir<br />
seltsam verschlossen, irgendwie unergründlich.<br />
Immer wenn ich den Startknopf drücke, bin ich<br />
überrascht, meine diesen oder jenen Song gar<br />
nicht zu kennen, frage mich, welcher Song das nun<br />
schon wieder ist. Der Vierte? Der Achte? Der Erste?<br />
Habe ich diesen Song überhaupt schon mal<br />
gehört? Das sind dann die Momente, in denen ich<br />
mich verliere, eintauche in die Gitarrenwände und<br />
Melodien, die fein gewoben ihr Netz über mich fallen<br />
lassen. Die Stimme von Raphael Enard liegt<br />
irgendwo zwischen Thom York und Tim Smith von<br />
Midlake, die mit ihrem zweiten Album „The Trails<br />
Of Van Occupanther“ einen ähnlichen Effekt auf<br />
mich hatten, wie nun die Magicrays. Aber „Off The<br />
Map“ wäre nur halb so gut, wäre da nicht dieser<br />
warme und intime Sound, für den sich John Parish<br />
(u.a. Eels, Sparklehorse) verantwortlich zeichnet,
48<br />
<strong>reViews</strong><br />
der die Band in seinen Toy Box Studios der Legende<br />
nach mit allerlei angestaubtem Equipment<br />
bekannt machte. Aber was soll ich hier noch weiter<br />
über etwas schreiben, was eigentlich unbeschreib-bar<br />
ist!? Einfach anhören!!<br />
Jochen Wörsinger<br />
magicrays.<strong>com</strong><br />
MANATEES - UNTITLED<br />
MT. - LETHOLOGICA<br />
(beide Motivesounds Recordings/Indigo)<br />
Dieses Promo-Paket ist kurz nach Redaktionsschluss<br />
reingehuscht und eigentlich heißt das<br />
dann „ab in die nächste Ausgabe.“ Aber was uns<br />
hier das kleine und mir bisher völlig unbekannte<br />
englische Zwei-Mann-Indielabel Motivesounds<br />
kredenzt, ist so besonders, dass man es niemanden<br />
vorenthalten sollte.<br />
Die Einzigartigkeit fängt schon bei dem wunderbaren<br />
Artworks an. So kommt das Debut-Album der<br />
MANATEES im Digi-Pack mit mantra'esk-komplexen<br />
Design, das mehrere Lackschichten mit einer<br />
metallischen Kupfer-Folie kombiniert. Wunderschön<br />
und so bisher höchst selten gesehen. Aber<br />
nicht nur die Verpackung überzeugt. Manatees<br />
sind gewaltig, walzend, düster und hell, noisy und<br />
brachial und an anderer Stelle wiederum so fragil<br />
und melodiös. Stark perkussive Soundwände, Trible-Parts,<br />
eindringliche Vocals und ausbrechende<br />
Gitarren lösen sich kurz vor Überschreitung des<br />
„point of no return“ in zarte, fast dahingehauchte<br />
Bitterkeit auf. Eine Bitterkeit, die mich irgendwie einen<br />
leicht lakonischen Blick auf das Morgen werfen<br />
lässt. Das Info nennt unter anderem Neurosis,<br />
Pink Floyd und King Crimson als Vergleich. Das<br />
stimmt ohne Zweifel, aber das hier geht noch viel,<br />
viel weiter. Diese Platte ist so vielschichtig, so reich<br />
an Entdeckenswertem, aber gleichzeitig auch so<br />
kryptisch und verschlossen, dass man sie wohl nie<br />
in ihrer ganzen Pracht erschließen wird. Leute, allein<br />
das wuchtige Finale sucht seinesgleichen!<br />
Der vom Label eingeschlagene Weg, Musik und<br />
Design zu kombinieren und in künstlerischen Einklang<br />
zu bringen, wird auch mit dem zweiten vorliegenden<br />
Motivsounds-Release von MT. weiter<br />
verfolgt. Zwar etwas weniger aufwendig in punkto<br />
Verpackung aber dennoch sehr schön aufgemacht,<br />
entführt „Lethologica“ im Vergleich zu „Untitled“<br />
von den Manatees in etwas ruhigere, aber<br />
nicht minder aufwühlende Gefilde. Man ist versucht,<br />
den Begriff Post-Rock in die Runde zu verwerfen<br />
- und irgendwie liegt man damit auch nicht<br />
ganz falsch. Denn hier wird das Beste von Giardini<br />
di Miro, Mono, Ostinato, Trans Am, Mogwai, Aerogramme<br />
und auch ein wenig von Sigur Rós zu einem<br />
Extrakt aus Ruhe und Sturm, aus Innehalten<br />
und Ausbrechen vermengt. Vor allem aber die<br />
Dream-Pop-Anleihen sowie die teils messerscharf<br />
gesetzten Breaks, die ab und an zwischen dem<br />
wogenden Auf und Ab hervorblitzen, machen „Lethologica“<br />
zu einer musikalischen Reise, die sehr<br />
viel Interessantes und Neues entdecken lässt. Einfach<br />
Fahrkarte lösen, noch mal tief Luft holen, fallen<br />
lassen und eintauchen!<br />
Jochen Wörsinger<br />
motivesounds.<strong>com</strong><br />
Ox - Dust Bowl Revival<br />
(arcticrodeorecordings/AL!VE)<br />
Heyhey, wieder Arcticrodeorecordings!<br />
Die ersten Töne von<br />
dem Kollektiv Ox und gleich ein Zuhausewohlfühlen.<br />
Countryesk does nunmal fu**in' rule! Ältere<br />
Calexico. OP8. Mazzy Star. Iron&Wine. My Morning<br />
Jacket. Mehr Namen gefällig? Irgendwo dazwischen,<br />
ganz vorne mit dabei! Teilweise ziemlich<br />
traditionell. Wie die genialen Soggy Bottom<br />
Boys (you remember? Das unwiderstehliche Stück<br />
bei O Brother, Where Art Thou?) und vor allem auch<br />
jenes coole „Örrr“ - slangbedingt - ist vorhanden.<br />
Alternative Country at its best. Americana. LoFi.<br />
Whatever. Passt alles. Hier gilt ein Auf und Ab auf<br />
und ab der Gefühlsskala. Ruhigere Stücke vertreiben<br />
treibende Songs. Treibende Songs lassen sich<br />
ruhigere Töne durch den Kopf gehen. Und natürlich<br />
sind Ox auch offen für allerlei anderes Instrumentarium.<br />
Auch hier Piano, Steel, Viola undundund.<br />
Geht ja auch nicht anders. Für mich ein wunderschönes<br />
und warmes Album. Dazu ein Glas<br />
Wein oder von mir aus auch 'n Whiskey, und das<br />
Schicksal im Lehnstuhl ist für erst mal besänftigt.<br />
Es zieht sich den Hut zurecht, fixiert mich mit einem<br />
Zwinkern durch weise ältere Augen, sieht zufrieden<br />
in das eben von mir eingeschenkte Glas<br />
edlen Rachenputzer, und tönt unter seinem weißem<br />
Schnauzer - jener muss schon viele Schimpfwörter<br />
umrandet haben - hervor: „Siehste. Geht<br />
doch.“ Morgens von der Sonne wachgeküsst werden,<br />
in den warmen Tag blinzeln, barfuss über kühles<br />
Parkett Richtung helle großzügige Wohnküche,<br />
den Kaffee aufsetzen, sich am Tisch niederlassen<br />
und erst mal eine Kippe. Und im Hintergrund läuft<br />
sich Ox warm für den Vordergrund. Mit „Carolinah“<br />
und allem, was da noch so folgt. Wie z.B. gleich<br />
darauf „weaving“. Der erste Kaffeeschluck lässt<br />
aufblühen. Hinreißend.<br />
Matthias Horn<br />
Oxmusic.ws<br />
Arcticrodeorecordings.<strong>com</strong><br />
POLARKREIS 18 - S/T<br />
(Motor/Edel)<br />
Es ist die Ausnahme, dass ein<br />
New<strong>com</strong>er wie Polarkreis 18<br />
schon jetzt so viel richtig macht.<br />
Dass ein Debüt so überwältigend schön und einzigartig<br />
gerät wie dieser entrückte, mystische Ort.<br />
Der unendliche Weiten ausstrahlt, unberührte, in<br />
gleißend hellweißes Licht getauchte Winterlandschaften,<br />
wie sie es nur im Kopf(-kino) geben kann.<br />
Ein klirrend kalter Wind bläst über diese Eiswüste,<br />
die jegliche Form von Vegetation umhüllt wie ein<br />
frostiger Schutzmantel. Als Soundtrack dazu spielen<br />
Polarkreis 18 ihre Version schlafwandlerischer<br />
Popmusik für Tagträumer, mit tanzbaren Beats,<br />
klassischen Symphonie-Streichern und flächigen<br />
Synthies. Doch ist es vor allem der unnachahmliche<br />
Gesang Felix Räubers, der diese Platte in einem<br />
anderen Licht dastehen lässt - diese androgyne<br />
Kopfstimme, dieses himmelsstürmende Falsett<br />
voll überschäumender, exaltierter Emotion.<br />
Sein Organ entführt uns in eine andere Welt, deren<br />
Tor mit einem Rausch in hellen Farbtönen geöffnet<br />
wird: Hyperventilierend tänzelt der „Dreamdancer“,<br />
als wäre er von Sinnen. Zur Erholung wird<br />
in den sanften Gleitflug geschaltet, gemächlich<br />
schwebt man erhaben in ungeahnten Sphären,<br />
dem Wolkenbett so nah, allem irdischen so fern.<br />
Im intensiven „Look“ pulsieren flirrende Elektro-Beats<br />
wie ein rasender Herzschlag, während sich<br />
Räuber hysterisch in ungeahnte Höhen schraubt.<br />
„Stellaris“ lebt vom stets präsenten, aber nie aufdringlichen<br />
Streichorchester, „Somedays Sundays“<br />
vom überraschenden Jazzbass. Eine surreale<br />
Traumskizze wird abrupt durch den Verzerrer<br />
gejagt und mutiert zum rhythmusbetont pumpenden<br />
Drum'n'Bass-Entwurf, plötzlich marschiert ein<br />
vielstimmiger Männerchor im Gleichschritt ins<br />
Rampenlicht. All das gilt es zu entdecken. Jetzt.<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
polarkreis18.de<br />
UNSANE - VISQUEEN<br />
(Ipecac/Southern/ Soulfood)<br />
Auf dem Cover sieht man eine<br />
Leiche fein säuberlich in Plastikfolie<br />
eingepackt auf einem<br />
Feld liegen. Was vorher geschah, bleibt mysteriös.<br />
Wurde sie plattgewalzt von der unsaneschen Noiserock-Dampfwalze?<br />
Nur der Soundtrack zur mörderischen<br />
Tat ist bekannt: Auf dem mittlerweile<br />
sechsten Unsane-Album „Visqueen“ fegt ein tonaler<br />
Orkan über einen hinweg, der ein solches Feld<br />
innerhalb von Sekunden umpflügen kann. Unsane<br />
hatten schon immer ein Faible für gewalttätige Cover-Artworks<br />
und auch „Visqueen“ ist pure Gewalt:<br />
Der Bass ist heavy as fuck, die Gitarre wird gewetzt<br />
wie ein übergroßes Küchenmesser und jeder<br />
Schlag auf die Drumfelle ist auch einer in die Magengrube.<br />
Dabei fungiert der Opener „Against The<br />
Grain“ noch als geschicktes Täuschungsmanöver,<br />
denn selten hörte man bei dieser Band derart melodische<br />
Gitarren, eingängiges Liedgut gar. Das<br />
geht dieses Mal seltener rasant auf die Zwölf, sondern<br />
entwickelt meist einen schwer schleppenden<br />
Kopfnicker-Groove, ist aber in jedem Fall immer<br />
eins: unbarmherzig und brutal. Der Mördergroove<br />
von „Last Man Standing“ erinnert an Helmet in ihrer<br />
„Meantime“-Bestform, im Gegensatz zu alten<br />
Weggefährten wie eben Page Hamilton haben Unsane<br />
aber über die Jahre nicht an kompromissloser<br />
Härte eingebüßt. Selbstredend wird die berühmt-berüchtigte<br />
Wall Of Sound von ihren Mitbegründern<br />
in selten erreichter Perfektion aufgefahren:<br />
Tight wie eh und je, dreckig, böse und lauter<br />
als laut hämmern, lärmen, dröhnen und kratzen die<br />
Instrumente, immer wieder kurz unterbrochen von<br />
abgefahrenen Soli von Meister Chris Spence, dessen<br />
fatalistisch aggressives, schmerzverzerrtes<br />
Gebrüll zur verstörenden Intensität nur weiter beiträgt.<br />
Und als man ohnehin schon völlig abgekämpft<br />
zu Boden geht, gibt einem der abschließende<br />
Neunminüter „East Broadway“ als Abfahrt<br />
in die dissonante Störgeräusch-Liga endgültig den<br />
Rest. Im nächsten Jahr feiert das Powerhouse-Trio<br />
aus New York City sein 20-jähriges Bestehen,<br />
Grund zur Gratulation besteht allerdings schon<br />
jetzt: Unsane verteidigen ihre Vormachtstellung<br />
eindrucksvoll und sind auf diesem Sektor noch immer<br />
die unangefochtene Nummer eins. Schön<br />
auch, dass sich mit den ungekrönten Königen des<br />
Noiserock-Genres und dem seit jeher für extreme<br />
Sounds bekannten Ipecac-Label ein perfektes<br />
Paar gefunden hat. Von dem wünschen wir uns<br />
schon jetzt weiteren Nachwuchs.<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
theunsane.<strong>com</strong><br />
SHINING - GRINDSTONE<br />
(Rune Grammofon/Cargo)<br />
Kaum ist Prog wieder en vogue, tauchen auch<br />
schon die musikalischen Halbirren aus dem Sumpf<br />
auf. Meshuggah meets Jethro Tull? Progjazz im<br />
Acidwirbel? Mars Volta auf Elektrotrip? Neue Musik<br />
meets Weltraumsoundtrack? Captain Future dirigiert<br />
ein Orchester? Jazz Version 3.0? Surrealistischer<br />
Hoppy Kamiyama? Zappa im digitalen<br />
Avantgardegewand? Hilflose Assoziationsketten<br />
um diesen unglaublichen Hybrid an faszinierender<br />
Musik. Und wer jetzt noch nicht aufgehört hat zu<br />
lesen, der wird diesen famos-genialen Bastard lieben,<br />
der von durchgeknallten, aber äußerst versierten<br />
Musikern geschaffen wurde. Auch wenn<br />
hier Prog, neben Metal, Experimental zwischen<br />
Jazz und Bossa Nova steht, Klavier auf Elektronik<br />
trifft, Saxophon auf Tribalrhythmik, Soundtracks<br />
neben noisigen Bassläufen koexistieren müssen,<br />
schräge Avantgarde Nachbar von Synthpopmelodien<br />
ist. Auch wenn hier die Soundebenen öfter bis<br />
zum Kulminationspunk dicht geschichtet werden,
nur um sie wieder in einem einzigen Ton zusammenfallen<br />
zu lassen. Es ist das kompositorische<br />
Genie, das „Grindstone“ zusammenhält<br />
und es nie willkürlich oder gar eklektizistisch<br />
wirken lässt. Dieses Genie hört auf den<br />
Namen JØrgen Munkeby, der ein äußerst gutes<br />
Gespür für Dynamiken und Stilkonglomerate<br />
hat. Er gönnt uns nach gut der Hälfte musikgeschichtlicher<br />
Komprimierung innerhalb<br />
des Albums eine kurze Ruhepause, nur um auf<br />
der anfänglichen Stille Stück für Stück und<br />
Schicht für Schicht einen dichten, fast noisigen<br />
Soundtrack aufzubauen. Unglaublich geniale<br />
Musik, die sprachlos macht.<br />
Christian Eder<br />
shining.no<br />
SCRAPS OF TAPE<br />
THIS IS A COPY IS THIS<br />
A COPY<br />
(Tender Version/ Hausmusik)<br />
Meine Güte, ist das gut. Hatte gerade die neue<br />
Logh gehört und höchstens ein wenig die alten<br />
Widerhaken und Ausbrüche vermisst. Und<br />
jetzt das. Songs, die scheinbar ziellos um sich<br />
selbst perlen, und dann werden wir aus unserem<br />
lethargisch besänftigten Mitwippen gerissen,<br />
wenn wir eben nicht mehr damit rechnen.<br />
Oder auch nicht. Es passiert das Unerwartete,<br />
die Musik ist im stetigen Fluss, nie berechenbar,<br />
immer wieder entdecke ich neue kleine<br />
Überraschungen. Längst nicht alles mag da<br />
folgerichtig sein, und ab und zu landet ein<br />
Song auch mal in einer Sackgasse. Um sich<br />
dann frech grinsend zu mir hin zu<br />
drehen und mich mit lustvollem<br />
Lärm doch noch zu überrollen.<br />
Oder auch nicht. Die Lust an der<br />
musikalischen Freiheit ist diesen<br />
Schweden ein offensichtlicher<br />
Selbstzweck und dadurch sind<br />
sie an Bands wie Godspeed You<br />
Black Emperor oder den Liars näher<br />
dran als an Bands des Indiepopgenres,<br />
die sich stets bereitwillig<br />
an die ungeschriebenen<br />
Gesetze des Songwritings halten.<br />
Pure Ironie, soviel Originalität<br />
auf einer Platte auch noch<br />
„This Is A Copy Is This A Copy“<br />
zu nennen. Ach ja, das sind fast<br />
Instrumentals. Der Gesang ist<br />
nur eine spärlich eingesetzte<br />
Klangfarbe. Aber wenn, dann<br />
lohnt die Beschäftigung mit tollen,<br />
lakonischen Lyrics.<br />
Dann wieder leise, aber kraftvoll<br />
kontrastierende Disharmonien,<br />
Instrumente übereinander geschichtet,<br />
Instrument für Instrument,<br />
jedoch nicht grundsätzlich<br />
final zur lauten Apotheose getürmt,<br />
sondern auch mal lustvoll<br />
sich verlaufend frei variiert. Wer<br />
macht so was, macht diese<br />
enorme innere Freiheit derart<br />
hörbar, ohne sie je eitel zur Schau<br />
zu stellen? Zum poppolitischen<br />
Statement zu<br />
degradieren? In den lauten Entladungen,<br />
aber auch in der<br />
Grundstruktur einiger Songs<br />
Mono aus Japan als Anhaltspunkt.<br />
Bei aller Lust am laufenden Experiment:<br />
It`s still only the song.<br />
Sie klingen jung, suchend, dabei<br />
sehr viel ahnend. Sie sind jung.<br />
Pendeln zwischen großen elegischen<br />
Bay-Area-Türmen und<br />
Free-Jazz-Indie-Pop-Gefrickel.<br />
Kennen weder Limits, noch Tabus.<br />
Klingen wie der anarchistische<br />
kleine Bruder von Logh. Ich<br />
freu mich, diese Band weiterempfehlen<br />
zu dürfen.<br />
PS: Mein Gott, die machen mich<br />
wirklich fertig. Jetzt blasen und<br />
fiepen sie auch noch rum und<br />
kommen mir im Ausklang einer<br />
angejazzten Freecore-Attacke<br />
kammermusikalisch orientalisch.<br />
Und dann wieder implodieren sie<br />
in leiser Wehmut. Was um alles<br />
in der Welt werden uns diese jungen<br />
schwedischen Genies erst<br />
mal dann einschenken, wenn sie<br />
wissen, was sie tun?<br />
Andrasch Neunert<br />
scrapsoftape.<strong>com</strong><br />
KURZ & KNAPP mit Patrick Agis-Garcin THE DOPE - TIME TO. EP<br />
(Pretty Pink): Schon im zarten Alter<br />
von 13 Jahren fanden sich Gitarrist/Sänger Rudi und Drummer Klaus in einem niederbayerischen Gymnasium<br />
zum Duo The Dope zusammen. Drei Jahre später hat man sich vom pubertären Punkrock der Anfänge<br />
emanzipiert: In der Minimalbesetzung aus Gitarre & Drums bemüht man sich um Abwechslung und pendelt zwischen<br />
neugewonnener Indierock-Attitüde, wütender Teenage Angst und alter Punk-Leichtigkeit. Nett, aber noch<br />
nicht wirklich ausgereift. Aber das kann ja noch werden, schließlich sind The Dope noch jung, sehr jung sogar.<br />
Und dafür schon jetzt durchaus talentierte Songwriter. Dranbleiben! (6) V/A - 8 YEARS OF 12 PYLONS RE-<br />
CORDS (12 Pylons): Seit acht Jahren steht das Winz-Label und über die gesamte Landkarte der Nation verstreute<br />
Freunde-Kollektiv 12 Pylons nun schon für zumeist roh tönenden, komplexen Sound im Spannungsfeld<br />
von brachialem Noise- und kaputtem Indie-Rock. Zeit und Anlass für einen Querschnitt des sowohl aktuellen als<br />
auch die letzten vier Jahre umfassenden Geschehens. Der erfolgt hier über 16 Tracks, sowohl mit bereits veröffentlichtem<br />
als auch exklusivem Material. Sicherlich nicht essentiell, aber Highlights wie der Party-Postrock von<br />
Am Yeto oder die entspannten, unerwartet poppigen Beiträge von Laszlo Juri oder Useless Wooden Toys lassen<br />
das Fazit „entdeckenswert“ allemal zu. (8) TARENTATEC - BARACKE 5 EP (12 Pylons): Und noch einmal 12<br />
Pylons: Die „Baracke 5“-EP zeigt die Thüringer Tarentatec beim Siebenkampf live aus dem Proberaum. Und so<br />
klingt's dann auch: wie eine Freistil-Übung mit interdisziplinärem Schwerpunkt. Zwischen (gerne auch mal instrumentaler)<br />
krachiger Noise-Vertracktheit, minutenlang regungslosen Ambient-Passagen, Gitarrensoli aus dem<br />
Classic Rock-Katalog und räudiger Punk-Rasanz mit Anti-Gesang ist alles drin. Ebenso vielfältig fällt allerdings<br />
auch das Ergebnis aus: Zwischen dem herausragenden, dynamischen Opener und einem zwar enorm wuchtigen,<br />
letztlich aber richtungslosen Ausbruch wie „The Queen“ herrscht ein großer Graben. Da wünscht man sich<br />
fürs nächste Mal einen eindeutigeren Fokus. (7) FRANKY LEE - CUTTING EDGE (Burning Heart/SPV): Nach<br />
den folkigen Singer/Songwriter-Soloausflügen von Millencollin-Frontmann Nikola Sarcevic tobt sich nun auch deren<br />
Gitarrist Mathias Färm auf einem Nebenschauplatz aus. Dem Vernehmen nach aus einer Trinklaune heraus<br />
gründete er mit dem Drummer von Randy und dem ehemaligen Gitarristen der Peepshows eine kleine schwedische<br />
Allstar-Group, bleibt aber dem Sound seiner Hauptband im Großen und Ganzen treu. „Cutting Edge“ ist<br />
oft schneller, stets eingängiger Punkrock mit Punch; melodieselig, aber nicht zu glatt. Ein Projekt, das Spaß<br />
macht, aber kein Spaßprojekt. Natürlich wird hier nicht auch nur der geringste Aufwand betrieben, um sich von<br />
längst gesetzten Genre-Standards abzusetzen, aber weil hier dennoch mit genug frischer Power und stellenweise<br />
gar euphorisch gezockt wird: ein netter Zeitvertreib. (8) NERVOUS CABARET - S/T (Naive/Indigo): Ein<br />
schauerhaftes Kammerspiel vom jämmerlich gescheiterten Künstler, ganz ohne Publikum. Ein düsteres Bild ist<br />
es, das vom Sextett Nervous Cabaret aus Brooklyn gezeichnet wird - keine göttliche Komödie, sondern ein Trauerspiel<br />
mit Pauken und Trompeten, das auf Dauer schwer zu ertragen bleibt. Eine große Mitschuld daran trägt<br />
die an den Nerven zehrende, heisere Stimme von Sänger Elyas Khan, der wie ein Hund zum obskur-verqueren<br />
Indie-Theater-Entwurf seiner Backingband leidet. Die Mischung aus geballtem Seelenschmerz-Blues und Big-<br />
Band-Sound hat tatsächlich etwas kabarett-haftes an sich. Nun ersetze man das“nervous“ im Bandnamen noch<br />
durch „nervig“ und man kommt der Sache schon ziemlich nah. Da helfen auch gleich zwei Drummer nicht. (3)<br />
<strong>reViews</strong><br />
49
50<br />
Anna Ternheim<br />
Von Fledermausflügeln davongetragene P0esie<br />
Anna Ternheim -Hmmm, wie zu erklären? Sie ist aus Schweden. Hat gerade ihre neue<br />
Platte „Separation Road“ veröffentlicht. Und trifft einfach. Mitten ins Herz durch den<br />
Kopf durch den Gehörgang -mit verstörenden Lyriks über die Liebe, sich finden, verlieren,<br />
für einen Tag, eine Nacht, das ganze Leben. Hinreißende Songs. Einst folkiger und<br />
reduzierter unterwegs (auf ihrer letzten Platte „Somebody outside“ von 2004), jetzt orchestraler,<br />
pompöser, soundtrack'esker. Sie ist Pop. Indie-Pop. Singer/Songwriter-Pop. Folk-<br />
Pop. Großer Pop eben. Mit unglaublich klarer Stimme und Poesie in ihren Geschichten.<br />
Nah dran an uns allen. Der Soundtrack zum Leben. Vorhang auf.<br />
Wir befinden uns in der schönen Daimlerstadt Schorndorf<br />
bei Stuttgart, in unserem Lieblingsclub „Manufaktur“, meist<br />
fünfte und letzte Station hochkarätiger Bands auf ihrer<br />
Deutschlandtour - nach Hamburg, München, Köln, Berlin.<br />
Namen gefällig? Yo La Tengo, Low, Kings of Convenience,<br />
G!YBE, Feist, Mogwai, I am Kloot, Soulwax….im April<br />
gastieren die Melvins und Built to Spill schaut auch mal<br />
eben vorbei. Und heute Abend die von uns herbeigesehnte<br />
Anna Ternheim. Wir treffen sie im Hinterhof neben einem<br />
riesigen Ungetüm von Tourbus und machen es uns auf<br />
einer Gittertreppe bequem; drinnen werden geschäftige<br />
Vorkehrungen zum Soundcheck<br />
getroffen, draußen begrüßen<br />
die Vögel zwitschernd den<br />
Frühling. Wir bitten<br />
Anna, sich so uns vorzustellen,<br />
als ob wir uns<br />
eben zufällig ohne Vorwissen<br />
getroffen hätten.<br />
A: „My name is Anna, and I'm<br />
just as old as I look, 28 years. I'm<br />
a fanatic when it <strong>com</strong>es to my work,<br />
right now I think my life is not that interesting,<br />
I play a lot of music, basically the<br />
whole time, I'm on tour, for 2 weeks in Germany,<br />
the future is like a white sheet of paper,<br />
what else should I say?“<br />
nN: White sheet of paper?<br />
A: Ja... ich arbeite jetzt sehr viel, werde<br />
im Sommer viel spielen und vermutlich<br />
in Schweden auf Festivals auftreten,<br />
hoffentlich auch auf einigen in<br />
Deutschland, aber danach -<br />
... ich weiß es noch nicht haargenau,<br />
aber sicherlich werde ich an etwas<br />
arbeiten...<br />
nN: ...z.B. am 3. Album...?<br />
A: (lacht) Ja, genau, aber ich weiß noch nicht wo, möglicherweise<br />
gehe ich woanders hin, einfach um aus einem anderen Fenster herauszuschauen,<br />
ich fühle mich sehr inspiriert weiterzugehen. Dieses<br />
Album war wirklich sehr schwierig in seiner Entstehung, ich musste<br />
hart arbeiten, jedoch standen gefühlsmäßig viel mehr Türen offen als<br />
bei der letzten Platte, bei der habe ich mich sehr eingepfercht gefühlt.<br />
Sie wurde zu einer Art Baby, das man 10 Jahre lang umsorgt hat und<br />
dann verlässt man es, damit die<br />
Welt es sehen kann.
Man erkennt, dass man niemals etwas Vergleichbares wieder<br />
tun kann und dann muss man neue Sachen finden; was Spaß<br />
macht! Aber es ist immer etwas komplett anderes, bei meinem<br />
neuen Album ist das genau so. Es findet sein eigenes Leben<br />
und versucht nicht, irgendetwas zu wiederholen - ich wollte<br />
das auch auf jeden Fall anders machen.<br />
nN: Was sind die größten Veränderungen<br />
zur alten Platte?<br />
A: Vor allem eben gerade nicht<br />
zurück zu der alten Bar (dort<br />
wurde die erste Platte aufgenommen<br />
- Anm. d. Verf. ) und versuchen, dieselben Stimmungen<br />
und Atmosphäre aufzugreifen. Im Gegenteil: ich war in<br />
sehr guten Studios, habe mit anderen Musikern zusammen<br />
gearbeitet und immer eine genaue Vorstellung davon, was ich<br />
machen wollte.<br />
Das Album wurde größer, manchmal „more popy“, gleichzeitig<br />
aber sehr nackt und bloß. Ich musste nicht diese Richtung<br />
einschlagen, aber ich wollte es! Vielleicht gehe ich demnächst<br />
wieder zurück zu etwas Akustischem oder ich finde eine Art<br />
Mischung aus beiden Alben... vielleicht aber auch etwas völlig<br />
anderes. Bei dieser Platte hatte ich alles um mich herum verändert,<br />
das war etwas ganz Neues für mich, ähnlich wie neue<br />
Songs zu schreiben, alleine der Fakt, 4 Jahre älter zu sein. Die<br />
Stimme ist ein klein bisschen tiefer (lacht) wirklich, es fühlt sich<br />
für mich wie ein sehr großer Schritt an, ich weiß nicht, ob das<br />
jeder hören kann.<br />
„...sometimes you’re lucky /<br />
sometimes you’re not...“<br />
Anna Ternheim 51<br />
nN: Die Platte ist ein wenig düsterer...<br />
A: Ja, vielleicht, nicht mehr so naiv und vielleicht auch nicht<br />
mehr so „girl-like“, ich denke, man kann dieses Mal hören, dass<br />
ich vorher genaue Vorstellungen davon hatte, wie alles werden<br />
sollte. Ich hab es gemacht. Entweder man mag es oder eben<br />
nicht. Gerade kann ich aber die Songs nicht mehr hören, bin<br />
ihnen ein bisschen überdrüssig...(lacht über sich selber).<br />
nN: Ist es dann schwer für dich, diese jeden<br />
Abend zu singen?<br />
A: Nein, überhaupt nicht! (sehr begeistert und nachhaltig)<br />
Denn das ist was total anderes! Schreiben ist<br />
die eine Sache, Aufnehmen eine andere... und Performen ist<br />
dann die dritte Art, Musik zu erleben! Ich liebe es rauszugehen<br />
und aufzutreten, denn es ist so direkt und hat soviel mit der<br />
Band zu tun; alles klingt so anderes als auf Platte. Diese nehmen<br />
wir als eine Art Start-Plattform, von der wir dann ausgehen.<br />
Auftreten ist eine explosive Energie, ich mag das Publikum da<br />
draußen, beim Auftreten kann man kleine neue Dinge entdecken,<br />
andere Menschen, andere Länder, einfach alles ist unterschiedlich.<br />
Nach ein paar Wochen braucht man aber eine Auszeit,<br />
um sich anderen kreativen Dingen zu widmen.<br />
nN: Hast Du eine bestimmte Mission?<br />
A: In Kontakt kommen mit den Menschen da draußen. Sie<br />
bewegen! Wenn man nur in emotionslose fahlglatte Gesichter<br />
schauen würde, dazu ohne Inspiration spielen...?<br />
Ich meine, man nimmt einen so langen Weg auf sich, man fährt
52<br />
Anna Ternheim<br />
viele Stunden irgendwo hin, man plant das ganze über Wochen<br />
und Monate hinweg, die Crew arbeiten einen halben Tag hinter<br />
der Bühne und dann hat man 1 ½ Stunden auf der Bühne... Da<br />
muss dass dann einfach gut werden! Und das ist der springende<br />
Punkt. Das ist der Höhepunkt vom Tag!<br />
Und beim Tourleben geht es aber unter anderem auch darum,<br />
Stunden verstreichen zu lassen, denn man hat sehr viel Zeit.<br />
Für einige Leute ist es der blanke Horror, denn wenn man nichts<br />
zu tun hat, kann man müder und müder werden, sehr destruktiv<br />
für manche...Ich denke aber, ich habe für mich einen Rhythmus<br />
gefunden: ich bin hier heute herumgeschlendert, habe die Kühe<br />
gerochen (alle lachen), ein nettes Omelett heut in der Stadt<br />
gegessen (von glücklichen Hühnern - Anm. d. Verf.), in Berlin<br />
hatten wir z.B. einen fetten dekadenten Sonntagsbrunch, sind<br />
nur relaxt in der Sonne herumgesessen... es ist manchmal so<br />
wie auf einem Schulausflug! Wir sind 14 Jahre alt, weit weg von<br />
Zuhause und man muss sich für nichts verantwortlich fühlen...<br />
ich kann Leute verstehen, die ihr ganzes Leben auf Tour sind,<br />
weil es eine ganz spezielle Art zu leben ist.<br />
nN: Du musst auf Tour also nichts arbeiten oder managen?<br />
Du kannst dich ganz neuen Songs widmen?<br />
A: Nein, überhaupt nicht, wir leben<br />
gerade so eng zusammen... da<br />
kann ich keine Songs schreiben.<br />
Ich bin niemand, der 360 Tage im<br />
Jahr auf Tour sein kann, das<br />
würde ich nicht aushalten. Wobei ich<br />
das Auftreten mag. Für eine Weile ist<br />
Touren gut, aber dann... Irgendwann<br />
ist die Energie aufgebraucht. Auf der<br />
einen Seite verlängern viele Ortwechsel<br />
und Veränderungen das<br />
Leben irgendwie. Wenn man 10<br />
Jahre am selben Fleck wohnt, geht<br />
alles irgendwie ineinander über.<br />
Wenn man z.B. einfach mal sein<br />
Bett woanders hinstellt, kann man<br />
die Zeit etwas verlangsamen, vielleicht<br />
lieg ich auch falsch (lacht).<br />
Songwriting<br />
Halfwway to fivepointss<br />
How to get to fivepoints<br />
Make the wrong turn you know<br />
If you're thinking of going<br />
Think no more<br />
Who's taking you down there<br />
What's his name<br />
Let me know<br />
The price he offers<br />
Round the corner of love<br />
Halfway to fivepoints<br />
Is as far as you <strong>com</strong>e<br />
Halfway with high hopes<br />
Of love<br />
(...)<br />
(...) who could possibly save / Save us from<br />
madness / Love is the <strong>com</strong>mon name / Again, we<br />
depend / On the one to blame (...)<br />
nN: Was ist zuerst da? Musik oder Text?<br />
A: Ziemlich oft zuerst die Musik mit ein paar wenigen Worten<br />
und dann ein Gefühl oder eine Idee, irgendwo versteckt. Ich<br />
liebe Melodien und Musik, ich habe Millionen von Ideen, könnte<br />
den ganzen Tag dasitzen und einfach nur spielen, ohne zu<br />
wissen, was ich sagen möchte. Aber wenn es dann zum Songwriting<br />
kommt, sind die Wörter meist ziemlich schnell da, ebenso<br />
die Melodie dazu. Aber es gibt keine konkrete Methode oder<br />
Regel... jedes Mal anders.<br />
nN: Welche Rolle spielt die Band?<br />
A: Es waren schon immer meine Songs, ich schreibe sie und<br />
präsentiere sie dann der Band. Aber das bedeutet nicht, dass<br />
sie nicht wichtig für mich wäre...<br />
Kerstin's Lieblingsstück von Anna Ternheim<br />
nN: ...Du bist kein Diktator...<br />
A: Doch genau, das bin ich! Und<br />
das ist vielleicht ein Problem für<br />
mich, denn ich bin kein Bandmitglied,<br />
bin es auch nie gewesen und<br />
wenn ich es doch mal gewesen bin,<br />
wurde es zum Problem, denn ich<br />
bin der Diktator...<br />
nN: ...Du bist der Bandleader.<br />
A: Genau! Eine Band ist eine besondere<br />
Art von Chemie; wenn jeder<br />
seine Rolle findet, ist es das allerschönste<br />
auf der Welt. Ich bin sehr<br />
abhängig von meinen Musikern,<br />
denn wenn ich mit den falschen Leuten<br />
spiele, die die falschen Sachen<br />
mit einbringen, wäre das ein Desaster.
Mentor<br />
nN: Hast du einen Mentor, der dich weiterbringt?<br />
A: Mein Produzent Andreas Dahlbäck, der heute Abend Schlagzeug<br />
spielen wird. Das passt einfach mit ihm auf eine ganz besondere<br />
Weise. Wir pushen uns gegenseitig, ein wenig weiter zu<br />
gehen: niemand weiß, wie lange so etwas funktioniert oder was<br />
dabei herauskommt. Vielleicht wird er mein neues Album gar nicht<br />
produzieren... aber ich hoffe wirklich, dass es jemand sein wird, den<br />
man einfach anrufen kann, wenn man ihn braucht. Komplett isoliert<br />
zu sein, das kann nicht gut sein.<br />
Anna Ternheim 53<br />
Das große Ding an dieser Produktion war eigentlich nicht die<br />
Produktion selber, sonder viel mehr die Musiker. Das letzte<br />
Album war komplett anders, mehr „Indie“, wir haben in dieser<br />
alten Bar aufgenommen ohne ein fettes Label im Rücken,<br />
aber unsere eigenen Sachen reingestellt, soviel Zeit investiert,<br />
es war eigentlich eine Riesen-Produktion!<br />
Dieses Mal wurde einfach nur gespielt, die Musiker haben<br />
ihre Melodien eingebracht, es ging alles viel schneller. Ich<br />
mag beide Arten! Die langsame und die schnelle.<br />
Coversongs<br />
nN: Wie findest du deine Coversongs, oder finden sie<br />
dich?<br />
A: Ich finde die Songs und anschließend finde ich eine Art,<br />
sie zu spielen. Es gibt ein Haufen guter Stücken, die ich niemals<br />
machen könnte, die einfach schon komplett magic sind<br />
wie z.B. der „Hallelujah Song“ von Jeff Buckley, oh wow! Es<br />
hat mit „shoreline“ angefangen (auf dem 1. Album - Anm. d.<br />
Verf.) , ich habe schon immer Broder Daniel gemocht und bin<br />
von seiner Art, wie er mit Melodie und Texten umgeht, sehr<br />
angetan. Die Songs auf der Cover EP sind allesamt große<br />
80er Jahre Produktionen, wirklich gute Popsong, Songs, mit<br />
denen ich arbeiten wollte. Ich liebe es, sie sehr einfach zu<br />
halten. Wenn man keine eigenen Idee zu einem Coversong<br />
hat, macht das keinen Sinn.<br />
Anna findet es sehr spannend, wie z.B. auch beim Cover<br />
„China girl“ ein von einem Mann gespieltes Stück aus der<br />
Sicht einer Frau zu singen, was dem ganzen eine ganz neue<br />
Bedeutungsebene hinzufügt. Gleichzeitig betont sie auch,<br />
dass sie es jedem offen halten möchte ihre Songs zu<br />
deuten, damit sich jeder seine eigenen Geschichten<br />
dazu interpretieren kann.<br />
Artikulation<br />
nN: Was mich bei deinem Gesang sehr<br />
angezogen hat, war die Tatsache,<br />
dass du jeden Laut, jede Silbe so<br />
deutlich bringst.<br />
A: Meinst du meinen Akzent?<br />
nN: Nein, du sprichst sehr klar und direkt.<br />
A: Ich glaube, wir Schweden sprechen alles<br />
sehr deutlich aus. Ich bin eigentlich kein<br />
Sänger, ich singe einfach. Es gibt Sänger<br />
wie Mariah Carey, die packen all diese<br />
Sachen rein (macht Schnörkelbewegungen<br />
mit der Hand), aber ich halte es sehr klar und<br />
straight. Es funktioniert für mich; ist irgendwie<br />
mehr wie Geschichtenerzählen, ich bin mehr<br />
ein Geschichtenerzähler denn Sänger.
54<br />
Artwork<br />
Anna Ternheim<br />
nN: Erzähl uns was zu deinem Artwork.<br />
A: Unser Studio war sehr nahe am abgebildeten Ort. Das Bild<br />
kann eigentlich gar nicht die Landschaft zeigen, wie sie wirklich<br />
ist, es ist unglaublich riesig<br />
dort! Das lässt sich mit<br />
nichts vergleichen, das ich<br />
kenne. Deswegen kommt<br />
das alles ein wenig surreal<br />
rüber, es könnte die<br />
Zukunft und die Vergangenheit<br />
sein. Diese Jungen,<br />
die Jungen-Armee<br />
schaut auch furchterregend<br />
aus. Sie ist beides:<br />
unschuldig und gefährlich.<br />
nN: Ich muss da an David<br />
Lynch denken...die Atmosphäre.<br />
A: Ich liebe seine Filme, sie können genau so eine Atmosphäre<br />
an sich haben. Was macht sie aus? Die Bilder? Die Musik?<br />
...Schwer herauszufinden, was es ist. Und schwierig, genau dort<br />
hin zu kommen. Es ist zumindest aufregend, sich darauf einzulassen.<br />
Jeder kann sich was dazu ausdenken.<br />
nN: ...Eine Spezialität in Schweden?<br />
A: Ich denke der Rollenunterschied zwischen Mann und<br />
Frau besteht in Schweden kaum mehr, je weiter man<br />
aber in Europa nach Süden kommt, desto größer wird er.<br />
Was folgt, ist ein aufregendes Gespräch zwischen Frauen:<br />
über Gesellschaftssysteme, Kinder, Beruf, Rollen,<br />
Unterschiede.<br />
nN: Jetzt zum Schluss: Dein Motto oder eine Weisheit<br />
an unsere Leser!<br />
A: „No, maybe in 20 years, I made mistakes all the<br />
time… maybe, „don't be too hard to yourself.“?<br />
Zum Schluss gibt es 5 kleine Schokohäschen für Anna<br />
und Band, wir bedanken uns für das nette Gespräch und<br />
freuen uns auf die Show, die wie erwartet voll und vor<br />
allem wundervoll<br />
war! In einigen<br />
Publikationen<br />
konnte man etwas<br />
von einem „Nonnenkostüm“,<br />
in das<br />
Frau Ternheim auf<br />
der Bühne angeblich<br />
gehüllt war, lesen.<br />
Mitnichten! Der<br />
Kapuzenumhang,<br />
den Anna während<br />
ihrer Show trug,<br />
war eher eine Anspielung<br />
auf das<br />
Matthias' Lieblingsstück von Anna Ternheim<br />
Feeellss lliikee ssaannd<br />
I know you have no place left to go<br />
I'm your last escape<br />
So I've been told<br />
You get paranoid<br />
Drinking on your own<br />
I've been replaced by you before<br />
I'm just another corpse along your road<br />
No regretful eyes<br />
Can win my sympathy this time<br />
Halo, halo<br />
Above your head today<br />
Saying you're a changed man now<br />
(...)<br />
dunkle Genre der alten Grusel- und Horrorklassiker, der ihrer<br />
Leidenschaft hierzu programmatisch Rechnung trägt. Vielleicht<br />
waren jene Schreiberlinge besagter Zeitungen enttäuscht<br />
gewesen ob dem Mangel an brachialem Männerklischee bedienendem<br />
Sexappeal auf der Bühne... Vielleicht aber auch nicht.<br />
Eines steht für uns jedenfalls fest: Ihre Musik wirkt! Und ist ohne<br />
tiefen Ausschnitt sehr sehr sexy!<br />
Text/Fotos<br />
Kerstin Wahl und Matthias Horn<br />
annaternheim.de
JOHNOSSI -s/t<br />
(V2 Music Scandinavia)<br />
War ich doch letztens aufm Mando Diao Konzert, nä?<br />
War ganz schön voll. Und wie standen wir da noch im Vorraum<br />
rum, tranken Bier, schäkerten und beobachteten die<br />
ganzen vielen jungen hübschen Menschen. Wobei, auch<br />
ich war ja mit ein paar jungen hinreißenden Menschen vor<br />
Ort. Nehmen wir z.B. Uwe, meinen Mitbewohner: Knapp 18<br />
Lenze und denkt, er sei'n ganz großer... Auf jeden Fall<br />
ertönte plötzlich ein Grummeln aus dem Inneren des Veranstaltungsortes<br />
und es kam Bewegung in die junge große<br />
(Einheits-)Masse. Die Vorbands mussten begonnen haben,<br />
die Spiele waren eröffnet. Das Grummeln stieb zu einem<br />
Grollen heran und dann war da ein Mann mit einer Gitarre,<br />
der nach einem kurzen ruhigen Part und unglaublich genialem<br />
Gesang seiner Band für ein fettes Rockgewitter Platz<br />
machte - zumindest kam es mir so vor. Bis ich bemerkte,<br />
dass die Band nur aus zwei Menschen bestand. John und<br />
Ossi. Ganz einfach Johnossi. Unglaublich. Purer reduzierter<br />
Rock, so emotional zum besten gegeben, als würde am Tag<br />
danach die Welt untergehen. So präsent, dass es schmerzt.<br />
So vom Leben erzählend. Und sofort in einem drin. Unter<br />
dem Herzen, im Magen, im Kopf. Vor allem im Kopf. Elf<br />
Songs, 35 Minuten. Keine Zeit für unwesentliche Dinge verschwendet.<br />
Alles sagen, was gesagt werden muss. Keine<br />
Zeit verschwenden. Purismus. Reduziertheit. Wesentlich.<br />
Auf den Punkt gebracht. Und schmerzhaft. Unbedingt nachvollziehbar,<br />
textlich wie musikalisch. Johnossi kommen aus<br />
Schweden und sind das unglaublichste Duo seit den Two<br />
Gallants und den Black Keys (und weil's ja fallen muss:<br />
auch seit den White Stripes... zufrieden?). So energisch und<br />
energetisch wie auf der Bühne kommen Johnossi auch in<br />
Dein Zimmer; da wird gesäuselt, musiziert und geschrieen,<br />
als wenn es das letzte wäre, das man je machen könnte.<br />
Als würde es kein Morgen geben. Dazu ist die Platte heftig<br />
nah und präsent produziert! So retro im positiven Sinn, so<br />
emotional weit vorne, wohin das Gros der doch zahlreich<br />
vorhandenen Emo-Bands nie nie nie kommen wird. Ein<br />
unglaubliches Rock-Singer/Songwritertum voller Überraschungen.<br />
Und unglaublich muss nochmals fallen. Eine<br />
unglaubliche Platte. Meine des Jahres. Und "Press Hold" ist<br />
mein neuer Lieblingssong auf Lebenszeit.<br />
Matthias Horn<br />
Johnossi.<strong>com</strong><br />
Ride - Going Blank Again<br />
auchSchoen 55<br />
Manchmal wird man ja ganz unverhofft auf alte Lieblingsscheiben<br />
gestoßen. Eine Situation, die einen an eine alte Schlüsselszene<br />
erinnert, beim Kramen in alten Zeit- oder Tagebuchschriften,<br />
beim Gedankensortieren. Es bleibt dann oft ein Gedankensplitter<br />
der sich festsetzt, der musikalisch absolutiert werden will.<br />
Diesmal war es eine einfache, nichtsdestoweniger sehr schöne<br />
und vor allem unerwartete SMS eines alten Freundes, die mich<br />
wieder auf ein langjähriges Lieblingsalbum hingewiesen hat.<br />
"Tut echt gut diese Platte", stand an deren Ende und schon ging<br />
an einem trüben Montagvormittagscheißverregnettag die Assoziationskette<br />
los und ließ mich lächelnd im Arbeitschaos stehen.<br />
Sämtliche Erinnerungen zu dieser Platte im Sekundenszenario<br />
abgerufen. Für kurze Zeit haben wieder alle Ausblendungsmechanismen<br />
wunderbar funktioniert. "Never been so far away".<br />
Genauso wie damals am Sonnenbalkon - mann, das war wirklich<br />
1992, also vor knapp 15 Jahren - als wir zwei schweigend,<br />
fast weltentrückt nebeneinander liegend dieses Album gehört<br />
haben. Im Hintergrund "Leave Them All Behind". Verträumte<br />
Indiegitarren mit einem unglaublich vielseitigen Schlagzeugfundament<br />
und einem drückend-melodiösen Bass, die Musik trotz<br />
aller mehrstimmigen Vocalmelancholie nach vorne treibend.<br />
Immer wieder chantend "Leave Them All Behind". Ride sind in<br />
erster Linie Melodie, in zweiter Stimme. Akustik- und Distortion-<br />
Gitarre jagen sich dann gegenseitig in den Melodienhimmel und<br />
heruntergetunte Mollsounds bringen sie manchmal wieder down<br />
to earth. Orgel und Echos weben ein leicht psychedelisches<br />
Fundament. Mit Britpop hat das alles überhaupt nichts zu tun,<br />
dafür ist es zu fein. Es ist auch nicht einfach nur ein schönes<br />
Indiealbum. Diese Platte atmet und lebt so viel unglaubliche<br />
juvenile Energie, Melancholie und Kreativität. "Going Blank<br />
Again" ist immer noch ein sich fallen lassen und fortgespült werden.<br />
Die Realität ausspielen, ihr mehr als nur zwei, drei kurze<br />
Schnippchen schlagen, aber trotzdem Pläne schmieden.1992,<br />
da waren wir teils noch ganz schön naiv, irgendwie war das aber<br />
auch schön. Und manchmal kann es einem das Gemüt falten,<br />
wenn man merkt, wie begeisterungsfähig man damals war. Wie<br />
lange man sich wegträumen konnte. Einfach so am Nachmittag,<br />
in der Sonne. Womit man jetzt gelinde Probleme hat, über die<br />
man nicht so viel nachdenken möchte. Ride haben nie wieder<br />
ein annähernd so gutes Album herausgebracht. Das ist auch<br />
egal, denn dieses hier ist eines für die Ewigkeit. Auch die grandiosen<br />
Momente lassen sich nicht mehr wiederholen. Aber vielleicht<br />
können wir uns ab und an wieder etwas auf diese träumerische<br />
Naivität konzentrieren, ihr mehr Nischen bieten, mehr<br />
Leichtigkeit zulassen.<br />
Christian Eder
B Fuoco<br />
56<br />
ericht aus Feuerland<br />
nN: Flo, auf eurer Homepage fuoco-noise.<strong>com</strong> ist ein „Travelogue“<br />
- also ein Reisebericht - zu finden, der die<br />
Songs und vor allem die Songtexte auf der Platte in<br />
einen prosaischen Kontext einbettet....<br />
Flo: Ja, der Travelogue ist quasi die Geschichte zum Album, in<br />
dem die Songs und ihre Texte in einen unmittelbaren<br />
Zusammenhang gestellt werden. Die Songs hängen nicht nur<br />
akustisch aneinander, sondern ergeben auch zusammen eine<br />
Geschichte, einen Inhalt, die der Travelogue auf unserer Website<br />
erzählt. Ich denke durch diesen Bericht erhält die Platte für<br />
den Hörer einen Rundum-Zusammenhang und ist nicht nur ein<br />
Mobile aus einzelnen Fragmenten.<br />
Viele Bands separieren ihr Album in verschiedene Moment - beispielsweise<br />
bezüglich Textinhalt, musikalische<br />
Umsetzung und optische Gestaltung. Das<br />
sind dann alles in sich stimmige Fragmente,<br />
aber ich möchte mit dem<br />
Album „A Travelogue“ eine ganze,<br />
aufeinander aufbauende Geschichte<br />
erzählen, die beim<br />
ersten Song beginnt und<br />
beim Letzten endet. Ich<br />
habe über 60 Minuten Zeit<br />
so ein Album mit Inhalt zu<br />
füllen, alles reinzupacken.<br />
Eine einsame Akustikgitarrenmelodie,<br />
gepickt, gezogen, leicht<br />
mit Hall unterlegt; dann ein tiefes, bassreiches Grollen und eine Stimme, die im Nirgendwo zu schweben<br />
scheint. „Spaceship On The Back Of My Acoustic Guitar“ - das Intro von „A Travelogue“ zeigt<br />
schon an, wohin uns das zweite Album der Frankfurt/Mannheim/Wien-Connection FUOCO (dt.: Feuer)<br />
entführen will: in vernebelt-psychedelische Gefilde, angereichert mit alten Analogsynthesizern, ebensolchen<br />
Orgeln und unbedingt locker aus dem Handgelenk gespielten Gitarren. Die Band selbst nennt<br />
das Space-Vintage-Rock, der die „Klangkultur der 70er-Jahre“ neu belebt. Das würde ich auch so unterschreiben.<br />
Das wirklich tolle an „The Travelogue“ ist aber, dass wir es hier nicht nur mit einem wirklich<br />
erstklassigen Stück Musik zu tun haben - Flo Baum, Songschreiber, Produzent und Mastermind von<br />
Fuoco, hat zusammen mit seinen vier Mitstreitern vielmehr versucht, eine Art „Gesamtwerk“ aus Musik,<br />
Text und Prosa zu schaffen.<br />
Man kann so viel mehr erzählen, so viel transportieren, anstelle<br />
der allgemeinen 3:<strong>30</strong> Minuten-Weisheiten. Wie spannend ist es,<br />
permanent Neues an einem Album zu entdecken, Zusammenhänge<br />
und Geschichten zu begreifen!? Zu bemerken, dass sich<br />
da jemand viele Gedanken gemacht hat, viel Zeit und Liebe investiert<br />
hat, um nicht einfach ‚nur' nett Musik auf CD zu pressen!?<br />
Ich persönlich habe diesen Anspruch und es war mein Ziel, mit<br />
„A Travelogue“ ein so rundes „Gesamtwerk“ zu erschaffen, wie<br />
nur möglich.<br />
nN: Als ich „A Travelogue“ das erste Mal hörte, war ich mir<br />
sicher, dass da eine Band am Werke ist, deren Mitglieder<br />
schon das ein oder andere Jahr über die <strong>30</strong> hinausgeschritten<br />
sind und die vielleicht auch schon einige<br />
Jahre in anderen Bands Erfahrungen<br />
sammelten. Ihr seid nun aber alle<br />
Mitte 20.
Wie kommt es, dass man sich in diesem Alter ausgerechnet<br />
psychedelisch-epischen Prog-Kraut-Rock mit klaren 70er-<br />
Reminiszenzen verschreibt?<br />
Flo: Ich liebe einfach die Musik, den Zeitgeist, und das Musikverständnis,<br />
wie es sich in den 70er Jahren entwickelte. Für mich ist<br />
das der Zenit der „Popmusikgeschichte“ und verkörpert eine Leidenschaft<br />
und Ambition, die heute nicht mehr existiert. Leider.<br />
Die 70er sind vor allem in Soundkultur und Songwriting meine<br />
großen Vorbilder und transportieren den ehrlichen, menschlichen<br />
Musikcharakter.<br />
Für mich ist dies das Ideal, und aus diesem Grund erkennt man<br />
in unserer Musik gewisse Formen und Silhouetten, die der Musik<br />
aus den 70ern ähneln.<br />
Die gegenwärtige Musiklandschaft langweilt mich zunehmend.<br />
Zu vieles dreht sich in meinen Augen um die „fette Produktion“,<br />
die Marktfähigkeit der Songs und um glamouröse Verpackung.<br />
Leider dominiert aufgrund dieser Kriterienverschiebung zu viel<br />
Scheiße die derzeitige Musiklandschaft...<br />
nN: Dennoch ist eine gewisse Rückbesinnung auf diese,<br />
von dir angesprochenen ‚alten Ideale' in der gegenwärtigen<br />
Musiklandschaft nicht zu überhören. Was hältst du<br />
generell von diesem Retro-Trend?<br />
Flo: Ich habe das Gefühl, dass der Retro-Trend schon wieder<br />
abklingt. Das Ganze fing in meinen Augen 2001 mit dem ersten<br />
Album der Strokes an, das auch medial ein riesiges ‚Hurra Hurra'<br />
entfachte. Secondhand-Läden wurden (und sind bis heute) unverschämt<br />
teuer und einschlägige Konsum-Klamottenhäuser<br />
machten mit ausgewaschenen Shirts von den Ramones oder<br />
Iron Maiden bei den Kids Furore. Allerdings meine ich zu beobachten,<br />
dass diese mittlerweile auch aus<br />
den Re-galen wandern, um am<br />
nächsten Tag auf der<br />
Schnäppchen-Stange<br />
zu landen.<br />
Mittlerweile ist<br />
der Trend<br />
Fuoco 57<br />
eher auf ‚Jeder-kann-Popstar-sein' gekippt. Das wird uns ja auch<br />
ständig durch all die beknackten Privatsender dieses Landes eingeimpft.<br />
nN: Hast du nicht Angst, dass Fuoco auch in diese kommerziell<br />
ausgeschlachtete ‚Retro-Ecke' gestellt wird?<br />
Flo: Angst vor der Retro-Ecke? Beziehungsweise Angst als<br />
„Trend-Band“ abgestempelt zu werden? Habe ich absolut nicht.<br />
Aus dem einfachen Grund, weil unsere Band sich nicht bemüht<br />
so zu klingen, weil's gerade hip ist. Das ist nicht unser Antrieb.<br />
Für mich kommt Musik aus dem Bauch und „A Travelogue“ ist<br />
genau so entstanden. Mein Ziel war es, die Songs so zu gestalten<br />
und zu bearbeiten, dass sie sich für MICH richtig anhören<br />
und das Maximum an Gefühl in mir wecken. Ziemlich egoistisch<br />
also, und so gar nicht die Art einer Band, die krampfhaft einem<br />
Trend nacheifert!<br />
nN: Fuoco steht musikalisch in der Tradition von Bands, die<br />
sehr viel experimentierten - mit Sounds, Instrumenten<br />
und nicht zuletzt Drogen. Wie wichtig ist dir dieser experimentelle,<br />
bewusstseinserweiternde Ansatz beim Musik<br />
machen und im Leben generell?<br />
Flo: Du meinst konkret in Bezug auf Drogen? Obwohl wir -<br />
anscheinend - so klingen, sind wir alle fünf völlig drogenfrei!<br />
Ohne Quatsch. Bene und Oli rauchen sogar beide nicht und trinken<br />
selten Alkohol.<br />
Ich persönlich habe ziemlichen Respekt vor Drogen und kann es<br />
mittlerweile überhaupt nicht mehr leiden, nach Alkoholkonsum<br />
nicht mehr Herr meiner Sinne zu sein. Von daher kommen andere<br />
‚Mittelchen' bei mir gar nicht erst in Frage. Ich persönlich<br />
bastele an der Rezeptur, wie meine Musik zu meiner Droge wird<br />
und mich gnadenlos in den Orbit jagt. Und zum Entwickeln dieser<br />
Rezeptur brauche ich einen klaren Kopf. Anders kann ich<br />
nicht arbeiten. Ich möchte permanent durch Musik mein<br />
Bewusstsein erweitern<br />
und mich berauschen<br />
lassen.
58<br />
Fuoco<br />
Auf der Bühne klappt letzteres mittlerweile schon ganz gut. Beim<br />
Musikrausch bin ich dann jederzeit in der Lage meinen Rausch<br />
zu steuern, kann mich entscheiden, wo der Trip hingehen soll,<br />
oder lasse mich von der Band mitnehmen. Und ich kann auch<br />
runterkommen, wenn ich das möchte. Der Drogenrausch birgt<br />
immer die Gefahr, dass die Droge komplett das Steuer übernimmt.<br />
Diese Vorstellung mag ich nicht. Ich<br />
bin gerne in der Lage zu entscheiden,<br />
ob ich hoch oder runter schalten will.<br />
nN: Die Bandmitglieder von Fuoco<br />
leben sehr weit voneinander<br />
entfernt - genauer gesagt<br />
in Wien, Frankfurt und<br />
Mannheim. Wie kam<br />
es eigentlich überhaupt<br />
zu dieser<br />
Konstellation?<br />
Flo: Ich bin gebürtig<br />
aus dem Frankfurter<br />
Raum - genauso<br />
wie mein Bruder<br />
Bene (Bassist) und<br />
Oli (Orgel-und<br />
Synthiespieler). Ich<br />
habe zwei Jahre in<br />
Wien gelebt und<br />
gearbeitet. Dort lernte<br />
ich Alex und Ludwig<br />
(Drummer und<br />
Gitarrist) kennen. Seit<br />
2005 lebe und studiere ich<br />
in Mannheim...Und das ist<br />
auch schon die ganze Geschichte!<br />
nN: Wie „funktioniert“ die Band angesichts dieser großen<br />
räumlichen Distanz?<br />
Flo: Ich schreibe die Songs alle selber. Ich habe ein kleines Studio,<br />
wo ich die Songs dann aufnehme, alles selber einspiele und<br />
an die Jungs schicke - meistens per e-Mail. In gemein- samen<br />
Proben tüfteln wir noch ein wenig an den Songs rum und spielen<br />
sie dann live.<br />
nN: Was sind Vor- aber auch Nachteile dieser Vorgehensweise?<br />
Flo: Für mich ist klar der Vorteil, dass ich den Song nach meinen<br />
Vorstellungen ‚erstellen' kann und quasi fertiges Material weitergebe.<br />
Jeder Musiker verleiht dem Song durch seine Eigenart<br />
wiederum eine gewisse Note, die aus dem Song dann einen<br />
Fuoco-Song macht. Eiserne Regel ist dabei natürlich: Jeder<br />
neue Song muss auch der ganzen Band gefallen!!<br />
Nachteile hatten wir bisher noch nicht wirklich. Dass die Jungs<br />
einen Song zum Beispiel gar nicht mochten oder abgelehnt<br />
haben, kam Gott sei Dank noch nicht vor.<br />
nN: Wünschst du dir trotzdem nicht ab und an eine Band<br />
„vor Ort“? Hierdurch ließen sich Ideen und Ansätze<br />
eventuell spontaner und dynamischer umsetzen...<br />
Flo: Eine Band lebt davon, letztendlich gemeinsam zu musizieren.<br />
So gesehen wäre es natürlich klasse, Leute vor Ort zu<br />
haben, mit denen man regelmäßig proben kann. Mittlerweile<br />
habe ich mich aber so daran gewöhnt, selten zu proben, dass<br />
mir regelmäßige Proben auf den Sack gehen würden. Zu oft<br />
werden die Songs wieder und wieder gespielt, man doktert<br />
eventuell endlos dran rum und verliert natürlich<br />
seine Objektivität.<br />
Für uns funktioniert unserer Arbeitsweise sehr gut,<br />
und wir laufen durch seltenes Proben auch nicht<br />
Gefahr, unsere Songs tot zu spielen bis sie uns langweilen.<br />
Voraussetzung ist natürlich immer, dass sich<br />
jeder selbständig vorbereitet und für die Probe die<br />
Songs auf dem Kasten hat. In der gemeinsamen<br />
Probe müssen die einzelnen Fragmente dann nur<br />
noch zusammengesetzt werden. Wenn wir uns<br />
sehen, ist alles auf die Probe und den bevorstehenden<br />
Gig konzentriert - das ist auch ein Vorteil.<br />
Außerdem sehen wir uns selten und dadurch wird<br />
jeder gemeinsame Gig in seiner Art zelebriert. Wir<br />
genießen es in dem Moment miteinander Musik zu<br />
machen.<br />
Andererseits liegen 780 Kilometer zwischen uns<br />
und wir mussten aus diesem Grund schon den ein<br />
oder anderen Gig ablehnen - natürlich ein großer<br />
Nachteil!!<br />
nN: Zum Schluss: wieso eigentlich ein italienischer Bandname...?<br />
Flo: Ich mag die italienische Sprache und ihren Klang sehr gerne.<br />
Daher habe ich mich auch gezielt nach etwas Italienischem<br />
umgeschaut. Ich war nicht wirklich scharf auf einen englischen<br />
Namen. Ich stehe dann doch eher auf etwas unkonventionellere<br />
Bandnamen...<br />
nN: Vielen Dank!<br />
Flo: Wir haben zu danken!<br />
fuoco-noise.<strong>com</strong> * Fotos: Fuoco<br />
Jochen Wörsinger
60<br />
Dälek<br />
Düsterer ist eine HipHop-Platte wohl seltener ausgefallen:<br />
Mit "Abscence" sorgten DÄLEK vor knapp zwei Jahren für<br />
einen der wohl schwärzesten Momente in der Geschichte<br />
des Sprechgesangs. Mit dem aktuellen Album "Abandoned<br />
Languages" arbeitet sich das Projekt um MC Will Brooks aka<br />
Dälek zwar wieder ein wenig aus den ganz morbiden Tiefen der<br />
drückenden Bässe heraus, um dabei sogar so etwas wie ein paar<br />
positive Momente zu schaffen, fröhlich aber, und damit können<br />
"Abscence"-Fans beruhigt werden, ist das vierte Studiowerk Däleks<br />
garantiert nicht geworden.<br />
"Wir haben einfach einen Abschnitt hinter<br />
uns gelassen und uns neu orientiert",<br />
erklärt Haven die nicht mehr ganz so<br />
schwermütige Prägung der neuen Veröffentlichung:<br />
"Das letzte Album ist ein in<br />
sich abgeschlossenes, das einfach für<br />
eine gewisse Phase in der Band steht,<br />
die aber mittlerweile beendet ist. Das<br />
heißt mitnichten, dass ich nicht mehr<br />
stolz auf "Absence" wäre. Aber zu versuchen,<br />
ähnlich klingende Stücke einzuspielen,<br />
wäre einfach sinnlos gewesen -<br />
unkreativ und langweilig." So spielt denn<br />
"Abandoned Languages" mit weitaus<br />
wärmeren Sounds, ist eingängiger ausgefallen<br />
und bietet damit fast schon<br />
Hörern gewöhnlichen HipHops eine Einstiegsmöglichkeit,<br />
ohne die eingeschworene<br />
Anhängerschaft vor den Kopf gestoßen.<br />
Überraschenderweise handelt es<br />
sich bei den darauf zu findenden<br />
Songs nicht<br />
direkt um brandneues<br />
Material,<br />
sondern um Stükke,<br />
die zu einem<br />
Großteil während<br />
der Aufnahmen<br />
von<br />
"Abscence"<br />
entstanden.<br />
"Man kann nicht einfach nur einen Zyklus<br />
düsterer Songs schreiben - da ist<br />
immer wieder etwas dabei, das aus<br />
dem Rahmen fällt. So war es in<br />
dem Moment, als wir vor zwei<br />
Jahren am letzten Album gearbeitet<br />
haben. Eine Menge der<br />
dabei entstandenen Stücke<br />
haben einfach von ihrer Grundausrichtung<br />
nicht zusammen<br />
gepasst, so dass wir schließlich<br />
entschieden haben, den<br />
eher schweren Teil auf einer<br />
Platte zusammen zu fassen<br />
und bei der kommenden auf<br />
das andere Material zurück<br />
zu greifen."<br />
Live werden Dälek daher<br />
verstärkt auf die gerade veröffentlichten<br />
Stücke zurückgreifen:<br />
"Wahrscheinlich werden<br />
wir sogar das komplette<br />
Album vorstellen, allerdings natürlich<br />
nicht in der Reihenfolge<br />
der Stücke, wie sie auf "Abandoned<br />
Languages" zu finden ist. Das wäre dann<br />
doch etwas sehr langweilig. Daran<br />
anschließend wird es wohl so etwas wie<br />
einen ‚Best Of'-Block geben, der dann<br />
auch älteres Material enthält. Wenn man<br />
Stücke jahrelang live gespielt hat, ist es<br />
manchmal etwas schwierig, die dafür<br />
nötige Energie noch aufzubringen. Daher<br />
ist es auch für uns ganz spannend, uns<br />
größtenteils auf Neue zu konzentrieren."<br />
Elf Monate werden MC Dälek, The Okto-<br />
pus und wechselnde Gäste auf Tour sein<br />
- mindestens: "Das ist eine lange Zeit,<br />
keine Frage. Aber ich bin jetzt Anfang<br />
Dreißig, da stellt sich die Frage, wie<br />
lange man das überhaupt noch machen<br />
kann. Und da es mir unheimlich Spaß<br />
macht, unterwegs zu sein, möchte ich<br />
das noch so lange wie möglich genießen.<br />
Dazu kommt, dass wir mit einem wech-
selnden Line-Up unterwegs sein werden,<br />
und je nachdem, wo wir gerade sind, mit<br />
unterschiedlichen Musikern touren werden.<br />
So werden wir bei einer Reihe Termine<br />
mit größerer Besetzung unterwegs<br />
sein, unterstützt beispielsweise von<br />
einem Saxophonspieler, während bei<br />
anderen auch mal nur drei Leute auf der<br />
Bühne stehen werden. Das bringt eine<br />
Menge Abwechslung<br />
mit sich, kaum eines der<br />
Konzerte wird daher wie<br />
das andere sein."<br />
Anders als in früheren<br />
Tagen können sich<br />
Dälek mit steigendem<br />
Bekanntheitsgrad auf<br />
einen vollen Tourkalender<br />
verlassen. Bei ihren<br />
ersten Touren in Europa<br />
sah das noch ganz<br />
anders aus. "Das war<br />
fast schon ein Desaster,<br />
die Agentur, die die Tour<br />
gebucht hat praktisch völlig unfähig. Sie<br />
waren nicht in der Lage, zusammenhängende<br />
Termine zu buchen. So ist es<br />
immer wieder vorgekommen, dass wir bis<br />
zu sechs Tage Pause zwischen zwei<br />
Shows hatten. Da wir dabei auch noch<br />
kaum Geld verdient haben, sind wir teilweise<br />
tagelang irgendwo rumgehangen<br />
und waren froh, wenn wir uns überhaupt<br />
etwas zu Essen kaufen konnten. Am liebsten<br />
hätten wir irgendwann die ganze<br />
Tour abgebrochen - aber wir konnten uns<br />
ja nicht mal die Flüge zurück leisten!" Für<br />
einen bleibenden Eindruck hat diese Tour<br />
aber nicht nur aus genannten Umständen<br />
heraus gewonnen, sondern auch durch<br />
eine ganz besondere Konstellation, die<br />
sich in ihrem Verlaufe ergab. So ist ihr<br />
letztendlich die EP "Faust vs. Dälek" zu<br />
verdanken, eine Kooperation, die man<br />
sich so wohl kaum ausgemalt hätte. "Das<br />
war wirklich eine interessante Geschichte.<br />
Ich war schon seit früheren Tagen ein<br />
großer Anhänger der Band, und in einem<br />
Song auf "Negro, Necro, Nekros" beziehen<br />
wir uns sogar auf Faust. Keine<br />
Ahnung, wie sie letztendlich auf uns<br />
gekommen sind (von dem Track jedenfalls<br />
wussten sie nichts), aber irgendwann<br />
kam die Anfrage, ob wir nicht etwas<br />
zusammen machen können. Wow, eine<br />
Band, die du schon immer bewundert<br />
hast, von der du dir aber nicht mal vorstellen<br />
kannst, dass sie deinen Namen<br />
kennt, kontaktiert dich plötzlich und will<br />
etwas mit dir zusammen machen. Das<br />
war schon ein toller Moment. Nun ja, und<br />
da wir ja in dem Moment etwas mehr Zeit<br />
hatten, sind wir einfach zwischen zwei<br />
Konzerten für ein paar Tage zu ihnen ins<br />
Studio, um die Songs einzuspielen. Es<br />
gibt sogar noch ein paar mehr, als dann<br />
letztendlich veröffentlicht worden sind.<br />
Vielleicht bringen wir die zu einem späteren<br />
Zeitpunkt auch noch mal raus."<br />
Abgesehen von der Grundkonstellation<br />
Dälek und Oktopus erlebt das Projekt<br />
Dälek beständige Besetzungswechsel,<br />
die auf das Arbeiten der Band allerdings<br />
offensichtlich relativ wenig Einfluss<br />
haben. "Schon klar, worauf Du hinaus<br />
willst: auf unsere Trennung von DJ Still.<br />
Ja, das war schon eine etwas schwierige<br />
Entscheidung und ein harte Phase. Der<br />
Mann ist wirklich gut, ein Künstler am<br />
Plattenteller und es war wirklich großartig,<br />
mit ihm zusammen zu arbeiten. Von<br />
irgendeinem Moment an aber hat seine<br />
Begeisterung beständig nachgelassen.<br />
Zum Schluss hatte er kaum noch Lust,<br />
auf der Bühne zu stehen, und auch wenn<br />
er dabei meistens noch seinen Job<br />
gemacht hat, hat sich das einfach<br />
bemerkbar gemacht. Zudem hat er nicht<br />
immer alles so wirklich im Griff und<br />
irgendwann allzu häufig zu Sachen<br />
gegriffen, die seiner Leistungsfähigkeit<br />
nicht gerade zuträglich waren. Es kam so<br />
weit, dass wir uns ernsthaft fragen mussten,<br />
ob unsere Liveshows durch seine<br />
Anwesenheit jetzt eigentlich an Qualität<br />
gewinnen oder nicht. Immerhin haben wir<br />
ja zu früheren Zeiten auch immer wieder<br />
zu Zweit gearbeitet bzw. wechselnde<br />
Gäste mit dabei gehabt. Wir haben uns<br />
dann entschieden, es einfach mal zu probieren,<br />
und siehe da, die Shows wurden<br />
wirklich wieder besser. Natürlich lag das<br />
einfach daran, dass wir wieder mehr<br />
Spaß daran hatten, auf der Bühne zu stehen,<br />
die Lust wieder richtig da war. Wenn<br />
du jemanden im Hintergrund hast, der<br />
dich runterzieht, leidet auch deine Sache<br />
Dälek<br />
61<br />
darunter. Und letztendlich ist das auch<br />
mein Job, den ich gut machen will. Auch<br />
die Arbeiten am neuen Album liefen<br />
plötzlich wieder so locker, problemlos<br />
und mit soviel Spaß, dass wir es keinen<br />
Moment bereut haben, diese Entscheidung<br />
zu treffen."<br />
Im Gegensatz zum letzten Album wird<br />
"Abandoned Languages" den Ankündi-<br />
gungen zufolge nicht in einer Vinyl-Version<br />
erscheinen. Ein Sakrileg für eine<br />
Band, die sich dem klassischen HipHop<br />
verschrieben hat? "Wäre es, ganz klar.<br />
Aber zur Beruhigung aller: Wir haben mit<br />
einem kleinen Label aus New York, das<br />
sich auf solche Sachen spezialisiert hat,<br />
einen Vinyl-Deal abgeschlossen. Soweit<br />
ich weiß, haben sie auch ganz gute Verbindungen<br />
nach Europa, so dass das<br />
Album auch dort als LP problemlos<br />
erhältlich sein sollte!"<br />
Arnulf Woock<br />
Bilder (in Reihenfolge):<br />
Cindy Frey, Paul Romano, Herve Baudat<br />
www.deadverse.<strong>com</strong><br />
www.ipecac.<strong>com</strong>
62<br />
Polarkreis 18 ..<br />
Klang Uber Inhalt<br />
ostdeutsche Sozialisation und ihre Folgen<br />
Auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum verzaubern fünf Jungs<br />
aus Dresden mit traumhaft schönem Pop mit isländischem<br />
Gestus. Ein musikalisch mehr als interessanter Nebenschauplatz,<br />
zu dessen Entstehung wir Frontmann Felix Räuber<br />
befragt haben.<br />
Sprechstimme ist nicht gleich Singstimme.<br />
Eine These, die durch ein<br />
Gespräch mit Felix Räuber, seines<br />
Zeichens Sänger und Gitarrist bei<br />
Polarkreis 18, untermauert wird. Denn<br />
statt einem androgynen, körperlosen<br />
Elfenwesen spricht da ein ganz normaler<br />
junger Mann mit minimal sächselndem<br />
Dialekt aus der Leitung. Für<br />
die ziemlich einzigartige Klangästhetik<br />
seiner Band eignen sich als Referenzen<br />
allenfalls Ausnahmekünstler wie<br />
wahlweise Sigur Rós (im druckvollen<br />
Rockformat) oder Radiohead (mit<br />
jugendlichem Ungestüm). Dass dafür<br />
letzten Endes die ostdeutsche Sozialisation<br />
eine gewisse Mitschuld trägt,<br />
überrascht dann doch: "Zu unserer Schulzeit haben wir Musik immer<br />
nur nach ihrem Klang geordnet, Texte sind nie wirklich wichtig für uns<br />
gewesen. Das liegt vermutlich daran, dass in Ostdeutschland ein ganz<br />
anderer Umgang mit einer ausländischen Sprache herrscht als beispielsweise<br />
in Dänemark, wo viele Filme im O-Ton gezeigt werden<br />
und man so schon im Kindesalter mit der englischen Sprache vertraut<br />
gemacht wird. Das war im Osten einfach nicht so gegeben und deshalb<br />
war der Klang für uns schon immer wichtiger als die Vermittlung<br />
von irgendwelchen politischen Botschaften."<br />
Klang über Inhalt lautet also die Maxime, die die ungewöhnliche Reife<br />
des Polarkreis 18-Debüts im Ansatz erklärt. Die Konzentration auf ein<br />
unbestimmtes Gefühl zählt im Polarkreis mehr als die Vermittlung<br />
eines konkret fassbaren Inhalts. So paart sich nun zu tanzbaren<br />
Elektrobeats, aufwändigem Symphonie-Orchester und flächigen Synthies<br />
eine Form lautmalerischen Gesangs, der in seiner extravaganten<br />
Andersartigkeit keine uns bekannte Sprache zu sprechen und<br />
nicht von dieser Welt zu stammen scheint. Über Jahre hinweg reiften<br />
am Rechner aus skizzenhaften Ideen klammheimlich Songperlen von<br />
unwirklicher Brillanz. Derer elf gibt es nun auf dem gleichnamigen<br />
Debüt zu hören. Auch deshalb, weil die Band trotz gewisser Bedenken<br />
bei einem New<strong>com</strong>er-Wettbewerb antrat und in Folge dessen die<br />
Aufmerksamkeit des renommierten Indie-Labels Motor Music auf sich<br />
zog: "Wir haben ziemlich lange diskutiert, ob wir das überhaupt<br />
machen wollen, ob so ein Bandwettbewerb überhaupt zu uns passt.<br />
Letztlich haben wir's dann einfach als einmalige Auftrittsmöglichkeit<br />
wahrgenommen, bei der wir aufgrund der professionellen Rahmenbedingungen<br />
auch erstmals live mit einem Streichorchester zusammen<br />
auf der Bühne stehen konnten. Das war schon ein riesen Moment für<br />
" Im Grunde genommen<br />
hinterfragen wir alles,<br />
was wir machen. Total."<br />
uns, noch dazu in dieser riesigen Halle vor soviel Publikum.<br />
Große Chancen haben wir uns aber nie ausgerechnet,<br />
da solch experimentelle Randgruppenmusik, wie wir<br />
sie spielen, bei einem Bandwettbewerb ohnehin selten<br />
bestehen kann."<br />
Von wegen. Polarkreis 18 landen auf dem zweiten Platz,<br />
bald darauf klopft Motor Music unter der Führung von<br />
Indie-Guru Tim Renner an und zeigt fortan großes Interesse<br />
an der Band. "Irgendwann kam dann sogar die<br />
Ansage von Motor, dass sie uns gerne in Dresden besuchen<br />
würden. Das war völlig überraschend für uns, gerade<br />
wo normalerweise immer wir den Weg von Dresden<br />
nach Berlin antreten mussten, um musikalische Kontakte<br />
zu knüpfen. Nun war es umgekehrt. In dem Moment realisierten<br />
wir, dass sich das Label wirklich sehr um uns<br />
bemühte."
" "Ein Klang war fur uns schon<br />
..<br />
immer wichtiger als die Vermittlung<br />
von irgendwelchen<br />
politischen Botschaften."l."<br />
Doch immer wieder<br />
scheint auch im<br />
Gespräch durch: Die<br />
wissen schon ganz<br />
genau, worauf sie sich<br />
eingelassen haben.<br />
Trotz eines blutjungen Altersdurchschnitts - keiner in der Band<br />
ist älter als 21 Jahre - sind Polarkreis 18 keine Anfänger, die<br />
Gefahr laufen, vom urplötzlich erwachten öffentlichen Interesse<br />
an ihrer Band übermannt zu werden oder gar abzuheben. "Wir<br />
sehen das eigentlich ziemlich nüchtern. Natürlich beflügelt uns<br />
das Medieninteresse sehr, aber es ist schon so, dass wir an der<br />
Platte über viele Jahre hinweg gearbeitet haben. Das war ein<br />
schleichender Prozess im stillen Kämmerlein und das jetzige<br />
mediale Drumherum ist von daher nun auch die logische Konsequenz,<br />
die wir uns erhofft hatten. Dass die Resonanz aber so<br />
positiv ausfällt, hätten wir nie gedacht."<br />
Auch dank ihrer ebenso perfektionistischen wie autonomen Haltung<br />
könnte man Polarkreis 18 gut und gerne für alte Hasen halten.<br />
Die Veröffentlichung des Albums etwa wurde um mehrere<br />
Monate verschoben, da die Band mit dem finalen Mix nicht<br />
zufrieden war. Dass sich für diesen mit Chris von Rautenkranz<br />
(Lado-Hausproduzent, u.a. Blumfeld, Franz Ferdinand) ein<br />
bekannter Name verantwortlich zeichnete, machte da keinen<br />
Unterschied. Schließlich nahm sich die Band selbst den Mix vor,<br />
genauso übrigens wie die Produktion an sich und die Gestaltung<br />
des Artworks. Selbst ein eigener Animationsfilm zur visuellen<br />
Untermalung der Liveshows wurde in mühevoller Kleinstarbeit<br />
entworfen: "Vor zwei Jahren hatten wir eine Phase, in der wir so<br />
etwas einfach mal ausprobieren wollten. Drei Monate lang<br />
haben wir ausschließlich Fotos geschossen, bis wir am Ende ca.<br />
80.000 Einzelfotos hatten, die wir dann alle zu einem Film<br />
zusammengefügt haben. Am Ende ist das allerdings gescheitert,<br />
weil wir noch viel mehr Arbeit hätten investieren müssen, damit<br />
das Ganze wirklich professionell und ausgereift ausgesehen<br />
hätte. Doch darüber hätten wir wohl zwangsweise die Musik vernachlässigt<br />
und das wollten wir vermeiden."<br />
So gibt man sich trotz hohem Selbstbewusstsein auch durchaus<br />
selbstkritisch: "Früher haben wir eher so in der Metal- und Punk-<br />
Richtung herumgeschrammelt, was ja fast jede Band am Anfang<br />
so macht. Im Grunde genommen hinterfragen wir aber alles,<br />
was wir machen. Total. Deshalb haben wir irgendwann auch<br />
unser damaliges Schaffen sehr kritisch gesehen und gemerkt,<br />
dass dieses ziellose Herumgeschrammel nie das war, was wir<br />
eigentlich gesucht haben. So haben wir halt über die Jahre hinweg<br />
versucht, unseren Horizont zu erweitern."<br />
Was als gelungen bezeichnet werden muss, denn viel weiter<br />
weg von Metal oder Punk könnte der ätherische Dreampop von<br />
Polarkreis 18 kaum sein. Doch die jahrelange Phase der musikalischen<br />
Selbstfindung hatte einen positiven Nebeneffekt:<br />
"Dadurch, dass wir in leicht wechselnder Besetzung mittlerweile<br />
schon neun Jahre lang existieren, konnten wir uns über diesen<br />
langen Zeitraum hinweg langsam aber stetig eine Fanbase aufbauen.<br />
Die ist ursprünglich aus unserem Freundeskreis entstanden<br />
und hat sich mittlerweile so weiterentwickelt, dass wir in<br />
Dresden mittlerweile wirklich Publikum ziehen."<br />
So eröffnete sich der Band auch die einmalige Möglichkeit, noch<br />
vor regulärer Veröffentlichung des Albums ein Konzert im Dresdner<br />
Schauspielhaus vor ca. 1000 Zuschauern zu spielen, kom-<br />
plett begleitet von Streichorchester und Bläsersektion. Auch für<br />
die Releaseparty zum Longplayer hat man sich eine ungewöhnliche<br />
Location ausgesucht: Das Dresdner Rundkino. "Das ist ein<br />
riesiger Kinosaal, der 900 Leute fasst, so etwas gibt es heutzutage<br />
eigentlich gar nicht mehr. Das ist so ein typisches Ostding,<br />
ein vollkommen übertriebener Bau, der aber gerade dadurch<br />
ziemlich geil ist."<br />
Aber auch auf den üblichen Konzertbühnen wird man das Quintett<br />
ab Mitte März zu sehen kriegen - dort allerdings als Sextett.<br />
"Die Live-Umsetzung sieht so aus, dass wir einen Trompeter als<br />
ständigen Gastmusiker dabei haben und versuchen werden, die<br />
Streicher-Melodien mit anderen Instrumenten umzusetzen, entweder<br />
mit Gitarren oder mit dem Synthesizer. Die melodische<br />
Vielfalt soll auf jeden Fall erhalten bleiben." Mit dem aufregendsten<br />
Debüt seit langer Zeit in der Hinterhand sollten so auch die<br />
anstehenden Konzerte zum außergewöhnlichen Ereignis werden,<br />
bei dem sich für den Besucher das Tor zu einer surrealen<br />
Parallelwelt auftut. Ganz in weiß und ideal für Tagträumer und<br />
solche, die es werden wollen.<br />
Patrick Agis-Garcin<br />
polarkreis18.de<br />
motormusic.de<br />
Polarkreis 18 63
64<br />
videoThek<br />
ART BRUT - TALKING TO THE KIDS<br />
(Cargo)<br />
Mehr Phänomen als Band, so muss man den<br />
Erfolg von Art Brut wohl werten, der britischdeutschen<br />
Band, die nie in Anspruch nahm,<br />
künstlerisch innovativ zu sein - und es dennoch<br />
auf subtil-revolutionäre Weise ist, indem sie an<br />
die Stelle artifizieller Innovationen die unmittelbare<br />
Wucht der sich selbst feiernden Kopulation<br />
von Spaß<strong>com</strong>bo und Publikum zum Gesamtkunstwerk<br />
macht, das so manche Anforderungsprofile<br />
vermeintlich progressiver Poprezipienten<br />
mühelos zum Anachronismus macht. Junge,<br />
von sich selbst unaufgeregt überzeugte Musiker von beiden Seiten des<br />
Kanals, für die immer der Kontakt zu den Fans an erster Stelle steht, ob live<br />
oder nach den schwitzigen Auftritten. Art Brut arbeiten Musik - und sie tun dies<br />
mit dem knurrigen Charme englischer Arbeiter, die mit sich, nicht aber mit der<br />
Welt einverstanden sind.<br />
Selbstinszenierung ist das Stichwort, und wo dies mit derart gutem Gewissen<br />
passiert, mit solcher Dichte und so stimmig, wie hier, hat dies stilbildende Qualität.<br />
Das wird auch auf dieser DVD deutlich, in deren Zentrum der Liveauftritt<br />
der Jungs plus Mädel im Stollwerk auf ihrer letzten Tour steht, eine knappe<br />
Stunde bekommen wir in guter Sound- und Tonqualität geboten, die Kamera<br />
stets dicht an Musikern und Fans. Die Beschränkung auf nur einen Auftritt in<br />
einem Ambiente an einem Abend ist ja DVD-üblich, wenn auch nicht überzeugend<br />
- mehr Orte, unterschiedliche Stimmungen und Dokumente auch aus<br />
verschiedenen Zeiten wären entschieden mehr gewesen.<br />
Die Interviews sind teilweise arg berechenbar und ein wenig flach, die vier<br />
Videos sind natürlich auch dabei, dazu TV - Show - Auftritte (nett) und nach<br />
einem Konzert die Musiker im direkten, spassigen Fankontakt, offensichtlich<br />
alkoholtechnisch angeschickert und sausympathisch. Da kommen sie uns<br />
näher, sind nicht länger nur (immerhin !!!) Ikonen des fröhlichen Pop-Anarchismus,<br />
in dem alles geht. Das nämlich sind sie ohne Zweifel - und die gut<br />
eineinhalb Stunden auf dieser DVD lassen das jedenfalls erahnen. Aber: Was<br />
ist mit dem Bandumfeld? Wie werden sie dort wahrgenommen? Was ist mit<br />
befreundeten Musikern, Clubmachern, Wegbegleitern, anderen Aktivitäten?<br />
Wie werden diese lakonischen, genial simplen, wirkungsvollen Texten von<br />
anderen musizierenden Dichtern wahrgenommen? Es wäre viel mehr drin<br />
gewesen - und diese DVD ist eine mäßig liebevoll arrangierte Pflichtveranstaltung,<br />
die Kür findet nicht statt. Zu viele Fragen bleiben offen - aber Spaß,<br />
Spaß macht diese DVD allemal.<br />
Andrasch Neunert<br />
artbrut.org.uk<br />
SPECTRE<br />
SPANIEN 2006<br />
REGIE: MATEO GIL<br />
e-m-s.de<br />
Nach dem Selbstmord seiner Gattin<br />
hat sich Tomás in sein selbst gewähltes<br />
Exil zurückgezogen. Erstmals<br />
seit 40 Jahren kehrt er in sein Heimatdorf<br />
zurück. Eines Tages erhält<br />
er eine alte Tarot-Karte, die "Karte<br />
der Liebenden". Er ist beunruhigt,<br />
denn es handelt sich um eine Nachricht<br />
aus der Vergangenheit. Als<br />
Junge war er einst unsterblich in eine<br />
geheimnisvolle Frau verliebt, von der<br />
die Einwohner des Ortes glauben,<br />
sie stehe mit dem Teufel im Bunde.<br />
Nur von ihr konnte diese Karte stammen.<br />
Tomás macht sich auf in die<br />
Heimat, um sich seinem Dämon zu stellen. Mateo Gil, den aufmerksame<br />
Abspannverfolger schon als Drehbuchautor für<br />
"Open Your Eyes" und "Tesis" ausgemacht haben dürften,<br />
scheint sich zunächst nicht so ganz entscheiden zu können, ob<br />
er lieber einen "Liebes-" oder einen "Horrorfilm" drehen will. Gut,<br />
Filme wir "Frankenstein" oder auch das Genre des Vampirfilms<br />
legen nahe, dass beide Topoi ohnehin nicht wirklich ganz und<br />
gar voneinander getrennt werden können; bevor man dem Film<br />
aber seine "Horror-Seite" anmerken kann, ist Gil recht lange<br />
unterwegs. Sein Handwerk versteht er; wunderschöne Landschaftsbilder,<br />
erotische Akte und effektvolles Hell-Dunkel-Spiel -<br />
alles hübsch in Szene gesetzt; der "Grusel" indes macht sich nur<br />
ganz langsam breit, kommt dann eher gediegen daher und dürfte,<br />
mit Verlaub, keinem Kleinkind schlaflose Nächte bereiten.<br />
Und dennoch: SPECTRE ist ein schöner Film, ein Film über<br />
eine unerfüllte, romantischen Liebe - und eher etwas für's Herz<br />
als für den Adrenalinwert.<br />
Kai<br />
STRANGE CIRCUS<br />
JAPAN 2005<br />
REGIE: SION SONO<br />
Wwwrapideyemovies.de<br />
Die Story: Taeko (Masumi MIYAZAKI), eine erfolgreiche, aber an<br />
den Rollstuhl gefesselte Bestsellerautorin, arbeitet an einem<br />
Roman über den Leidensweg der 12-jährigen Mitsuko (Rie<br />
KUWANA), die in einer durch Inzest und Missbrauch zerstörten<br />
Familie aufwächst. Eingesperrt in einen Cellokasten muss Mitsuko<br />
ihre Eltern beim täglichen Akt beobachten. Bald werden<br />
gar die Rollen getauscht und nun ist es die Mutter, die aus dem<br />
Instrumentenkoffer heraus zusieht, wie Mitsuko von ihrem Vater<br />
vergewaltigt wird. Taekos Assistent Yuji (Issei ISHIDA) ahnt<br />
Schlimmes: Ist Mitsuko tatsächlich nur eine fiktive Figur oder<br />
beschreibt Taeko in ihrem Roman die eigene,<br />
entsetzliche Kindheit? Die Japaner sind<br />
schon ein skurriles Völkchen, mithin deren<br />
Filme; an das Thema "Inzest", hier noch<br />
dazu mit recht freizügigen Bildern unterlegt,<br />
würde sich hierzulande und in dieser Deutlichkeit<br />
keiner herantrauen - Tabuthema,<br />
halt. Und auch ich muss zugeben, dass ich<br />
nach der ersten halben Stunde nicht wirklich<br />
sicher bin, ob es nicht besser wäre, einfach<br />
den "Aus-Knopf" zu drücken - zu befremdlich
sind die Bilder, die der ehemalige Experimentalfilmer<br />
Sino da serviert.<br />
Um was geht es dem Regisseur? Um die "Darstellung<br />
von Kindesmissbrauch und die daraus resultierenden<br />
familiären Katastrophen"? Das mag sein,<br />
aber der Untertitel "Ein perverses Fest der Liebe",<br />
den der Verleiher, Rapid Eye Movies, dem Film auf<br />
seiner Homepage verpasst, lässt da ganz andere<br />
Assoziationen aufkommen … Ist "Strange Circus",<br />
ein handwerklich perfekter, bildgewaltiger<br />
Film, tatsächlich ein "spannender und<br />
schockierender Film über Kindesmissbrauch<br />
und Inzest, der allein wegen der<br />
Bearbeitung des Themas Aufmerksamkeit<br />
verdient" (Filmstarts.de) -<br />
oder bietet er einfach nur eine heftige<br />
Portion Voyeurismus - ich bin mir<br />
da bei aller Offenheit gegenüber<br />
dem "asiatisches Extremkino"<br />
nicht sicher - da bleibt ein etwas<br />
fader Beigschmack.<br />
Keule<br />
WITHNAIL AND I<br />
GB 2005<br />
REGIE: BRUCE ROBINSON<br />
sunfilm.de<br />
"Genie und Wahnsinn liegen nah beieinander.<br />
Manchmal fahren sie auch gemeinsam in Urlaub....<br />
London 1969: Der manische Withnail und der<br />
ängstliche Marwood hausen zusammen in einer<br />
versifften Wohnung und kennen nur ein Rezept<br />
gegen den drögen Alltag - ausgiebigen Drogen- und<br />
Alkoholkonsum. Den Nerven der beiden Schauspieler<br />
bekommt das auf Dauer nicht und so beschließen<br />
sie, dass man auch als verkanntes Genie einen<br />
Anspruch auf Urlaub hat. Sie machen sich auf den<br />
Weg zum Landhaus von Withnails Onkel, wo das<br />
Landleben mit ungeahnten Gefahren auf sie wartet..."<br />
(Sunfilm). "British Kult Commedy" steht auf<br />
dem Umschlag; und es mag sogar sein, dass dies<br />
1987, als der Film in England erschien, der Fall war.<br />
Verglichen mit Filmen wie "Trainspotting" oder<br />
"Snatch" ist "Withnail And I" aber viel zu behäbig<br />
inszeniert; noch dazu leidet der Film unter seiner<br />
schlechten Synchronisation, und wer der englischen<br />
Sprache mächtig ist, der sollte sich den Film<br />
besser gleich im Original anschauen. Aber egal in<br />
welcher Sprache: zündende Gags sind eher rar<br />
gesät, und wirklich<br />
schotig ist<br />
n u r<br />
Withnails<br />
schwuler Onkel<br />
Monty, der den beiden Jungs in sein Landhaus folgt<br />
und nicht aufhört, Marwood massiv anzubaggern;<br />
Fazit: Die englische Fassung ist durchaus passabel,<br />
insgesamt ist das hier vom "Kult" aber ungefähr so<br />
weit entfernt wie Dieter Bohlen vom "Wort zum<br />
Sonntag".<br />
Keule<br />
videoThek<br />
65
66<br />
Lude2 (Director’s Cut)<br />
JOE BOYD: "White<br />
Bicycles. Making<br />
music in the 1960s"<br />
Gleich zu Anfang: Nick Drake und Guido Lucas. Was<br />
für ein Impact. Natürlich nicht für Nick Drake, wohl<br />
aber für Vorletztgenannten, also für mich. Nachzulesen<br />
lustigerweise auch bei Wolf Kampmann und seinem<br />
Poplexikon, der mich doch tatsächlich in seinem<br />
Nick-Drake-Artikel zitiert (S. 170) - als wäre ich schon<br />
damals dabei gewesen - when the day is done, jump<br />
the gun...<br />
Mir war es ja seinerzeit vergönnt, Nick Drake einzuführen<br />
in die geheime Gesellschaft meiner Musikfreunde,<br />
die ihn allesamt noch nicht kannten. Ganz<br />
normale Audiokassetten musste ich damals mit der<br />
Post verschicken (die Älteren unter Euch werden es<br />
noch wissen: Es war einmal ein analoges Zeitalter,<br />
ohne Internet, ohne CDs, ohne MP3 und ohne DFÜ.<br />
Es war die Zeit der analogen Mixtapes:<br />
"Sorry, ich hab nicht alles auf eine C90 Chromdioxid<br />
bekommen, dafür aber per Hand ausgefadet und auf<br />
der anderen Seite den Song dann wieder kurz vorher<br />
eingefadet...".<br />
Ich hatte zu der Zeit, Mitte der 80iger Jahre des letzten<br />
Jahrhunderts, meinen bevorzugten New-Wave-<br />
Plattenladen, in dem abwechselnd zwei schwule Verkäufer<br />
tätig waren, die in meiner Erinnerung mehr und<br />
mehr verschmelzen mit Grant Hart und Bob Mould,<br />
vielleicht weil ich in diesem Plattenladen meine erste<br />
Hüsker-Dü-Platte gekauft habe, was für mich einen<br />
lang anhaltenden und heilsamen Kulturschock darstellen<br />
sollte.<br />
Aber das ist eine andere Geschichte.<br />
In diesem New-Wave-Plattenladen also hatte ich nun,<br />
entweder von Grant Hart oder Bob Mould, ich weiß es<br />
nicht mehr so genau, eine 4-LP-Vinylbox mit den<br />
gesammelten Werken Nick Drakes ergattert, nachdem<br />
ich bei John Peel (oder war's Alan Bangs?!?) in<br />
einer nachmitternächtlichen Radiosendung zum<br />
ersten Mal Musik von Nick Drake gehört hatte. Üblich<br />
war es damals, nächtelang mit Kopfhörer in stockdunklen<br />
Kinderzimmern unter der Decke heimlich Radio<br />
zu hören - heute vollkommen lächerlich und unvorstellbar;<br />
damals ein Abenteuer auf fernen Kontinenten:<br />
eine Reise ins Herz der Finsternis. Die einzige<br />
Möglichkeit, neue Musik zu entdecken.<br />
Der Welten Schmerz gehörte damals einzig und allein<br />
mir, und ich bestand darauf, mich in ihm zu suhlen.<br />
Das Universum war noch grenzenlos, ich von aller<br />
Schuld bar und nahezu unsterblich. Ich kannte zwar<br />
schon Bob Dylan, aber ich hatte noch keine Drogen<br />
genommen und so blieb er mir fern, schillernd, letztendlich<br />
unbekannt; mein musikalisches Australien,<br />
terra incognita, meine Berge des Wahnsinns - zu weit<br />
entfernt und auch erst viel später unter großen Gefahren<br />
zu entdecken...<br />
Natürlich erzähle ich dies alles, wie der geneigte<br />
Leser sicherlich ahnt, nicht, um über meine eigene<br />
Jugend zu schwadronieren oder meine musikalische<br />
Stilsicherheit hervorzuheben - zumindest nicht ausschließlich.<br />
Sondern um Euch den Yankee vorzustellen,<br />
der Nick Drake damals für die Welt entdeckt hat.<br />
Von ihm soll hier die Rede sein.<br />
Nick Drake, wir bleiben noch etwas bei ihm, um die<br />
Spannung zu steigern, war auf der Rückseite des<br />
Cover meiner LP "Five Leaves Left" der Typ, der so<br />
unglaublich relaaaaaaxed vor einer typisch britischen,<br />
arbeiterstädtischen Ziegelwand steht, das linke Bein<br />
gaaaaaanz locker um das rechte gewunden, beide<br />
Daumen lässig hinter die Gürtelschnalle geklemmt.<br />
Zufälligerweise vorbeigeeilt kommt, ich habe es<br />
schon in Dutzenden Prosaversuchen zu beschreiben<br />
versucht, ein ebenfalls typisch britischer, herausgeputzter<br />
Sesselfurzer (wie wir uns so jemanden halt<br />
denken), mutmaßlich auf dem Weg zur Arbeit. Natürlich,<br />
technisch auf der Höhe der Zeit, (wir schreiben<br />
das Jahr 1970), ist der Sesselfurzer sehr, sehr verschwommen<br />
fotografiert (Fußnote: sehr eilig, hohe<br />
Belichtungszeit, ohne eigene Identität, sehr starkes<br />
Klischee). Daneben steht, quasi besides, Nick Drake,<br />
wie gesagt, gaaaanz lässig an die Mauer gelehnt<br />
(Fußnote: sehr scharf belichtet, klare Identität), und<br />
beobachtet die Szenerie ganz entrückt quasi als<br />
Unbeteiligter, als allwissender Boheme, der er doch<br />
niemals war. Perfekte Imageinszenierung einer großen<br />
Plattenfirma - Platten hat Nick Drake damals übrigens<br />
so gut wie keine verkauft...<br />
Fame is but a fruit tree, so very unsound.<br />
It can never flourish, till its stalk is in the ground.<br />
Don't you Worry.<br />
Es geht mir gut. So gut es halt geht.<br />
Saturday Sun. Came without warning…<br />
(Wie sehr mich dieser englische Jüngling in Strumpfhosen<br />
beeinflußt hat, merke ich gerade wieder, während<br />
ich seine Platten NOCH EINMAL höre, nach so<br />
vielen Jahren. Ohnehin konnte ich seine Platten nur<br />
sehr selten hören: nur in Momenten vollkommener<br />
Selbstsicherheit oder totaler Verzweiflung. Beide<br />
Zustände sind natürlich sehr selten, dafür um so willkommener<br />
in ihrer unschlagbaren Kombination.)<br />
Jedenfalls, weiter im Text:<br />
Eigentlich.<br />
Eigentlich wollte ich ja über diesen Yankee schreiben,<br />
der nicht nur Nick Drake, sondern auch The Incredible<br />
String Band, John Martyn, Fairport Convention,<br />
Richard Thompson, Sandy Denny, The Move, Vashti<br />
Bunyan und, ja unglaublich aber wahr, Pink Floyd<br />
wenn nicht entdeckt, so auf jeden Fall gefördert und<br />
produziert hat.<br />
Joe Boyd hat seine Geschichte nun aufgeschrieben,<br />
die zugleich auch eine Geschichte der 60iger und<br />
deren Musik ist: "White Bicycles" heißt das Buch,<br />
erschienen schon 2005 bei Serpant's Tail in London.<br />
"White Bicycles" war aber auch ein Song von Tomorrow,<br />
jener Hausband des legendären Londoner<br />
Psych-Clubs UFO, den Boyd zusammen mit seinem<br />
Kumpel Hoppy Mitte der 60iger gestartet hatte. Dort<br />
spielten außer Tomorrow eben auch noch Pink Floyd<br />
oder Soft Machine, als die wirklich außerhalb von<br />
London noch kein Schwanz kannte. "White Bicycles"<br />
nannte man übrigens noch die für alle zur freien Verfügung<br />
stehenden Fahrräder der revolutionären Provos<br />
in Amsterdam (diese weißen Fahrräder gibt es<br />
übrigens schon lange nicht mehr, die wurden natürlich<br />
sofort von irgendwelchen Asseln entweder geklaut<br />
oder zerstört…). Parallel zum Buch gibt es einen gut<br />
aufgemachten CD-Sampler gleichen Namens bei<br />
Fledg'ling Records, London.<br />
ACHTUNG: Anekdote!<br />
Überschrift: "Joe Boyds erste Begegnung mit Bob<br />
Dylan, lange bevor Bobby die Popikone des 20. Jahrhunderts<br />
wurde."<br />
Untertitel: „Wie die Rockmusik ihre Unschuld verlor,<br />
noch bevor sie geboren wurde.“<br />
Als Boyd eines Abends als mittelloser naiver Folknick<br />
eine Studentin aufreißt (ich weiß es natürlich nicht,<br />
Boyd hat es nicht erwähnt, aber sie hieß bestimmt<br />
Johanna, es muss so gewesen sein!!!) und ihr für die<br />
Nacht das Sofa abschwatzt, steht er später doch vor<br />
verschlossener Tür. Sofa und Studentin waren schon<br />
besetzt. Am nächsten Morgen beim gemeinsamen<br />
Frühstück lernt Boyd seinen Nebenbuhler kennen: es<br />
ist Bob Dylan.<br />
In dieser kleinen Anekdote wird das Phänomen Dylan<br />
wie in einer Epiphanie schlagartig klar: mit welcher<br />
Arroganz, Strebsamkeit, aber auch Unschuld sich<br />
Dylan später unaufhaltsam in unser kollektives<br />
Bewußtsein eingeschrieben hat, ohne dass er oder<br />
wir eine Wahl gehabt hätten. Und dann, die Geburtsstunde<br />
der Rockmusik. Datum: 25.7.1965. Uhrzeit:<br />
21:<strong>30</strong>. Ort: Newport Folk Festival. Protagonist: Bob<br />
Dylan. Augen- und Ohrenzeuge: Joe Boyd:<br />
„It was like being in the eye of a hurricane. All around<br />
us, people were standing up, waving their arms.<br />
Some were cheering, some booing, some arguing,<br />
some grinning like madman. A Bloomfield guitar solo<br />
screamed through the night air. Dylan's voice took up<br />
the last verse, hurling the words out into the night air:<br />
'Now the wintertime is <strong>com</strong>ing, the windows are filled<br />
with frost.' (…) There are many accounts of what happened<br />
next. Dylan left the stage with a shrug as the<br />
crowd roared. Having heard only three songs, they<br />
wanted 'mooooooooooore', and some, certainly, were<br />
booing. They had been taken by surprise by the volume<br />
and aggression of the music. Some loved it, some<br />
hated it, most were amazed, astonished and energized<br />
by it. It was something we take for granted now,<br />
but utterly novel then: non-linear lyrics, an attitude of<br />
total contempt for expectations and established<br />
values, ac<strong>com</strong>panied by screaming blues guitar and a<br />
powerful rhythm section, played at ear-splitting volume<br />
by young kids. The Beatles were still singing love<br />
songs in 1965 while the Stones played a sexy brand<br />
of blues-rooted pop. This was different. This was the<br />
Birth of Rock. So many taste crimes have been <strong>com</strong>mitted<br />
in rock's name since then that it might be questionable<br />
to count this moment as a triumph, but it certainly<br />
felt like one in July 1965. (…) Dylan had left the<br />
didactic world of political song behind. He was singing<br />
now about his decadent, self-absorbed, brilliant internal<br />
life. Anyone wishing to portray the history of the<br />
sixties as a journey from idealism to hedonism could<br />
place the hinge at around 9.<strong>30</strong> on the night of 25 July,<br />
1965.“<br />
Das hat jetzt aber mal gesessen: die Geburtsstunde<br />
des Rock auf die Minute genau benannt und zugleich<br />
mal als Anfang vom Ende prophezeit; vom Idealismus<br />
zum Hedonismus am Beispiel Bob Dylans, der Ikone<br />
der intellektuellen Popwelt schlechthin. Da sollten<br />
sich ein paar Poser mal so ihre Gedanken machen,<br />
wenn es denn noch geht. Von nun an heißt es nicht<br />
mehr, we shall over<strong>com</strong>e - es geht jetzt viel tiefer und<br />
diesmal tut es richtig weh; nichts ist mehr wie es vorher<br />
war und keiner bringt es dir zurück:<br />
The fiddler, he now steps to the road<br />
He writes everything's been returned which was owed<br />
On the back of the fish truck that loads<br />
While my conscience explodes<br />
The harmonicas play the skeleton keys and the rain<br />
And the visions of Johanna are now all that remain<br />
Das konnte dann nur noch Bob Dylan singen, in aller<br />
Unschuld, und es zeigt auch den Vorsprung, den<br />
Dylan gegenüber Nick Drake schon hatte, bevor dieser<br />
überhaupt eine Platte aufnehmen konnte. Nick<br />
Drake - ein weiteres Opfer der unaufhaltsamen, blinden<br />
Rockwalze, wie auch Jimi, Janis, Jim und all die<br />
anderen. Das Wunderbare an Joe Boyds Buch ist<br />
aber, dass er niemandem eine Schuld daran geben<br />
mag - die Unschuld haben wir damals spätestens am<br />
25. Juli 1965 alle kollektiv verloren. Boyds Buch ist<br />
weder konservativ noch nostalgisch. Es ist durchdrungen<br />
von einer großen Menschlichkeit, Würde und<br />
Respekt gegenüber den Künstlern und dem festen<br />
Glauben an die spirituellen Kraft der Musik. So.<br />
Joe Boyd war bei all dem dabei. Und er kann sich<br />
noch dran erinnern. Wie schön für uns.<br />
Guido Lucas 2/2007<br />
JOE BOYD: „White Bicycle. Making music in the 1960s“<br />
Taschenbuch: <strong>30</strong>4 Seiten<br />
Verlag: Serpent's Tail (April 2007)<br />
Sprache: Englisch<br />
ISBN-13: 978-1852429102<br />
und:<br />
CD (Various Artists):<br />
„White Bicycles - Making Music In The 1960s -<br />
The Joe Boyd Story“<br />
Proper Rec (Rough Trade)