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LOVE A - Noisy-neighbours.com

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das zine für musik, film, literatur und.<br />

www.noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong><br />

love a.<br />

matt pryor.<br />

juli kapelle.<br />

niels frevert.<br />

el bosso.<br />

affairs of the heart.<br />

excuse me fire.<br />

bonsai kitten.<br />

radiozeug.<br />

1,50<br />

Eur<br />

nO35<br />

2012


2<br />

vorWort I #35 I März 1/2012<br />

Jetzt ist es also fast soweit:<br />

Am 21.12. diesen Jahres geht die Welt unter. Das sagen zumindest<br />

die Mayas – und die müssen es wissen, die haben nämlich vor tausenden<br />

von Jahren einen Kalender entworfen, der dies’ Jahr, kurz vor<br />

dem Christfest, endet. Zu dumm. Aber mal ehrlich: So richtig schade<br />

ist es ja nun auch wieder nicht um uns, oder?! Haben wir nicht<br />

inzwischen unsere Erde ganz schön runtergewirtschaftet? Und alles,<br />

was da so „kreucht und fleucht“ - vor allem in den letzten 100 Jahren<br />

- ziemlich mies behandelt? Ok, der ein oder andere mag sagen: Das<br />

war ja wohl auch der Deal - hat uns der liebe Gott nicht gesagt „macht<br />

Euch die Erde untertan“? Und brav und folgsam wie wir nun mal<br />

sind haben wir einfach nur genau das gemacht? Wie dem auch sei: In<br />

diesem Jahr nicht in den Genuss des Festtagschmauses von Mama,<br />

Oma und Tante zu kommen, nur weil drei Tage vorher die apokalyptischen<br />

Reiter auf der Matte stehen und meinen, wir könnten uns den<br />

Weihnachtseinkauf sparen? Schöne Scheiße, das.<br />

Apropos. Das gilt auch für die „Kandidatenfindung Bundespräsident“;<br />

von der Leyen, Töpfer, Schwarzer, Netzer & Delling – erst will keiner<br />

oder wird nicht gewollt und am Ende ist die Liste derart ausgedünnt,<br />

dass ich schon Sorge hatte, die würden jetzt unseren Andrasch fragen<br />

– und gutmütig wie der Kerl ist, hätte er bestimmt zugesagt … und<br />

was wäre dann aus uns geworden? SO! weit geht die Vaterlandsliebe<br />

dann auch nicht. Jetzt wird’s der konservative Pfarrer Gauk, der<br />

die Ergüsse von Guido, dem alten Sar(r)azinen, schon mal ebenso<br />

„mutig“ findet wie die Diskussion um die Geldgeilheit der Banken<br />

„unsäglich naiv“. Da wäre mir Klarsfelds Bea doch lieber; klar, die hat<br />

zwar mal einem Bundeskanzler eine gescheuert - und so was tut<br />

man hierzulande einfach nicht! - aber zum einen ist das lange her und<br />

außerdem würde ihre Wahl doch beweisen, dass ein Volk, welches<br />

manchmal auf dem rechten Auge blind ist, mit dem linken umso<br />

schärfer sieht, oder?! Ha!<br />

Ach ja, apropos „Vaterlandsliebe“.<br />

Neulich hat’s da irgendwo eine interessante Umfrage<br />

gegeben, so unter Jugendlichen und nach dem Motto „Bist Du stolz<br />

darauf, ein Deutscher zu sein?“ … die Hälfte soll mit „ja“ geantwortet<br />

haben. Hey – ob diese Dumpfbacken mal irgendwer gefragt hat,<br />

was eigentlich IHR Beitrag dazu gewesen ist, HIER geboren worden<br />

zu sein und worin eigentlich die „Leistung“ ihres Heimatlandes besteht??<br />

Nee, mankannsichaberauchaufregen …<br />

Egal, zum Heft jetzt; ihr seid ja hoffentlich nicht nur deshalb hier,<br />

um Vorworte frustrierter Mittvierziger zu lesen. Neben den obligatorischen<br />

Rezis aus den Themenbereichen Buch, Musik und Film gibt<br />

es diesmal Interviews mit NILS FREVERT, <strong>LOVE</strong> A, den Münchner<br />

Alternativrockern EXCUSE ME FIRE, BONSAI KITTEN, der Ska-Ikone<br />

El Bosso & Die Ping Pongs, mit „The Get Up Kids“-Fronter MATT<br />

PRYOR, der auf Solopfaden unterwegs ist und Jan Schewe, dem<br />

Macher von AFFAIRS OF THE HEART; außerdem rücken wir dem<br />

Thema „Charts“ noch mal zu Leibe, indem wir mal schauen, ob es<br />

da nicht halbwegs vernünftige Alternativen gibt. Noch was vergessen?<br />

Und gebt die Hoffnung nicht auf, dass der alte Maya-Weise nur<br />

deshalb am 21.12.2012 mit dem Kalender Schluss gemacht hat, weil<br />

er uns entweder einfach mal richtig den Arsch auf Grundeis setzten<br />

wollte – oder weil seine Ölsche ihn noch kurz vor’m Feierabend zum<br />

Einkaufen geschickt hat. Ich schätze: genau so war’s.<br />

In diesem Sinne: Euer Keule für’s noisy-Team<br />

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –<br />

**Schickt uns Demos! Erwünscht und gerne gesehen bzw. gehört!<br />

noisyNeighbours * Landgrafenstr. 37–39 * 53842 Troisdorf<br />

**Anregungen, Kritik, Wünsche oder einfach nur Kontakt?<br />

leserbriefe@noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong>


4 ______________________Love A<br />

8 ____El Bosso<br />

10 ______________________Affairs Of The Heart<br />

12 ____literaTur ...Bücher, Tipps, Verrisse.<br />

17 ______________________Hörbücher<br />

18 ____Excuse Me Fire<br />

20 ______________________Radiozeug<br />

22 ____Highlights ...Schätzchen der Ausgabe.<br />

24 ______________________Niels Frevert<br />

26 ____ reViews ...wir wildern quer durch die Veröffentlichungslandschaft.<br />

42 ______________________Juli Kapelle<br />

46 ____<strong>com</strong>iCorner ...alles um die <strong>com</strong>iKunst.<br />

49 ______________________Matt Pryor<br />

50 ____gayGlotze ...von seicht bis leicht, zart bis hart.<br />

56 ______________________Bonsai Kitten<br />

58 ____Im Himmel, Unter Der Erde<br />

60 ______________________videoThek ...von seicht bis leicht, zart bis hart. Neue Filme. Auch alte.<br />

www.noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong><br />

Verlag und Redaktion<br />

noisyNeighbours<br />

TRTR GbR<br />

c/o Collenbusch<br />

Am Schloßplatz 23<br />

D-53125 Bonn<br />

Fon: 0171 8537103<br />

helloworld@noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong><br />

Herausgeber v.i.S.d.P.<br />

Carsten Collenbusch<br />

Redaktionelle Ansprechpartner<br />

Jochen Wörsinger (jochen@noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong>),<br />

Carsten Collenbusch (keule@noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong>)<br />

Redaktion & redaktionelle Mitarbeit<br />

Carsten Collenbusch, Christian Eder, Matthias Horn,<br />

Andrasch Neunert, Marcel von der Weiden,<br />

Arnulf Woock, Jochen Wörsinger, Joachim Brysch,<br />

Tom Gipfel, Mario Karl, Stephan Karsch, C. Klenk,<br />

Johannes Koch, Matthias Kuehn, Guido Lucas,<br />

Mike Maisack, Dávid Molnár, Christian Popp,<br />

Dr. Klaus Reckert, Kerstin Wahl, Simon Roehlen<br />

Fotoredaktion<br />

Matthias Horn, matze@noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong><br />

Fotografen/Bilder<br />

Matthias Horn, Kerstin Wahl, Jochen Wörsinger<br />

Zusätzliche Pix: sxc.hu & siehe Auszeichnung bzw.<br />

Pressebilder der jeweiligen Künstler<br />

Titelbild<br />

„Grünes Blut“<br />

Martina Marschall – marshisfotos.jimdo.<strong>com</strong><br />

marshi / photocase.<strong>com</strong><br />

noisyNeighbours-Logo<br />

Michael Wallenstätter<br />

Layout<br />

Matthias Horn, Kerstin Wahl<br />

matze@noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong><br />

sloe-design.de<br />

Lektorat<br />

Verena Schygulla – lektorin@urwerk.org<br />

Leserbriefe<br />

leserbriefe@noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong><br />

Adresse siehe „Verlag und Redaktion“<br />

Anzeigen<br />

Carsten Collenbusch<br />

anzeigen@noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong><br />

Bankverbindung<br />

Kennwort „noisy“<br />

VR-Bank Bonn<br />

BLZ: 381 60220<br />

Konto: 6104389030<br />

Druck Verkaufspreis<br />

Druckhaus Köthen 1,50 Euro<br />

koethen.de<br />

Versand Vertrieb<br />

noisyNeighbours Radar Music<br />

Landgrafenstraße 37-39 Eisenmarkt 4<br />

D-53842 Troisdorf 50667 Köln<br />

Fon: 0171 8537103<br />

Erscheinungsweise<br />

Vierteljährlich<br />

2012 I #35 I Inhalt<br />

Inhalt Ausgabe 35 * März * 2012<br />

noisy Neighbours<br />

copyright by Traurige Tropen GbR<br />

Alle Veranstaltungen sind ohne Gewähr. Nachdruck von<br />

Artikeln und Bildern nur mit schriftlicher Genehmigung<br />

der Redaktion. Sonderdrucke auf Anfrage. Für unverlangt<br />

eingesandtes Material wird keine Haftung übernommen.<br />

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben<br />

nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die<br />

Autoren sind für den Inhalt ihrer Beiträge selbst verantwortlich.<br />

AGBs unter http://www.noisy-<strong>neighbours</strong>.<strong>com</strong>/<br />

AGBs_noisyNeighbours.pdf<br />

3


4<br />

No Life Lost I #35 I 2012


<strong>LOVE</strong> A<br />

GESANGS-<br />

STUNDEN<br />

SIND WIE<br />

ZAHNARZT!<br />

nN: … ist das eigentlich, wenn man die<br />

Chance hat und sie nutzt, bei einem Fanzine<br />

über sich selbst zu schreiben und<br />

so Promo in eigener Sache zu machen.<br />

Überwiegen da rundherum die Bedenkenträger,<br />

oder findet man das um Dich<br />

rum, weil Du das offen spielst, eher cool?<br />

KK: Das war immer so, auch in jüngeren<br />

Jahren, wo man ja nicht nur über sich selbst,<br />

sondern über Freunde geschrieben hat.<br />

Oftmals war es doch so, dass man dadurch<br />

den Fanzine-Gedanken weitergetragen hat.<br />

Es geht ja da auch darum, das Lokale zu<br />

fördern, das, was man sieht und das ist ja<br />

nun oft das, was die Menschen machen, die<br />

einen umgeben, und so ist dieser Vorwurf<br />

einer Vetternwirtschaft eigentlich so ein<br />

bisschen ein Oxymoron (Tipp von Wikipedia:<br />

Ein Oxymoron ist eine rhetorische Figur, bei<br />

der eine Formulierung aus zwei gegensätzlichen,<br />

einander (scheinbar) widersprechenden<br />

oder sich gegenseitig ausschließenden<br />

Begriffen gebildet wird), weil so<br />

funktioniert ja Fanzine im Grundgedanken.<br />

Und so sollte der Text in dem Lied, auf das<br />

Du jetzt anspielst, auch klingen, dass man<br />

diese Strukturen auch mal offenlegt. Klarmacht,<br />

dass man sich eben besser kennt,<br />

dass das nicht läuft, wie Redakteur hier, und<br />

anonyme Redaktion dort, sondern man sich<br />

kennt, auseinandersetzt...<br />

Siehst Du Dich noch eher auf der Seite<br />

des jugendlichen, kompromisslosen<br />

Sturm und Drangs, so zum Beispiel<br />

in der Kritik, wenn Du den Reichen<br />

vorwirfst, dass sie nicht genug von<br />

ihren Kindern in ihren Swimmingpools<br />

versenken, und zwar so, dass sie nicht<br />

wieder auftauchen. Oder ob es doch<br />

eher schon das Relativierende ist, weil<br />

Du ja zwischen den beiden Polen mit<br />

Deinen Texten hängst. Auf der einen<br />

Seite die Wut, auf der anderen Seite aber<br />

auch Deine Skepsis gegenüber platter<br />

Schwarz-Weiß-Malerei!<br />

Als Berufsjugendlicher bin ich natürlich auf<br />

der Seite der Jugend, auch wenn ich sie<br />

oft scherzhaft verdamme. Aber: Sie sind ja<br />

wichtig und sie sind unser aller Fortkommen,<br />

in Zukunft! …<br />

...schaumamal...<br />

Ich bilde mir das immer noch ein. Ich bin<br />

nun mal ein hoffnungsloser Optimist. Das<br />

ist ja das Schöne. Man hat selbst ein bisschen<br />

ausgedient als Frontsoldat, aber kann<br />

sich für seine Männer (Anm.: und Frauen!),<br />

die vorne kämpfen, einsetzen...<br />

...das finde ich ja ganz klasse, hinter den<br />

Reihen stehen und brüllen, „Kämpft mal<br />

schön!“, das ist wie der, der im Mittelfeld<br />

einen weiten Pass spielt, selber<br />

stehenbleibt und ruft, „Gute Reise!“<br />

KK (lachend): Genau. In den Tod schicken.<br />

Ich fühl mich da eher wie der Ausbilder, der<br />

seine Ehre daraus bezieht, dass er versucht,<br />

seine Jungs (Anm.: und Mädels!) so gut wie<br />

möglich auf den Kampf vorzubereiten. Ich<br />

2012 I #35 I Love A<br />

Trier. Das hatten wir noch gar nicht, oder?<br />

Egal. Andrasch freute sich vor einem Dreiviertel-Jahr<br />

so sehr über die damalige EP<br />

von der Love Academy, die er wähnte, eine<br />

Berliner Band zu sein, dass er so lange rumtelefonierte<br />

und mailte, was mit der nun<br />

inzwischen passiert war, bis er sie gefunden<br />

hatte, unter verkürztem Namen, aber mit<br />

neuer Platte, nachzulesen bei unseren Reviews.<br />

Und weil er das Ganze so spannend<br />

fand, rief er Jörkk, den mit dem Doppel-K,<br />

Sänger und Texter im Büro an. Im Ox-Büro,<br />

da wirkt er nämlich. Womit wir schon beim<br />

Einstieg wären... Also, wie …<br />

erlaube mir das noch, weil ich eben auch<br />

weiß, wie man da dachte und denkt und<br />

versuche dann auch tatsächlich, ein wenig<br />

plakativ, übertrieben das Ganze darzustellen.<br />

Also, man kann uns jetzt kein stumpfes<br />

Parolengedresche vorwerfen, wobei ich ja<br />

dann doch manchmal mit solchen Dingen<br />

spiele. Ohne jetzt politisieren zu wollen:<br />

So ähnlich ist es ja.... Also, ich habe einen<br />

klaren politischen Standpunkt, will uns aber<br />

nicht als politische Band verstanden wissen.<br />

Nachdem ich den zweiten Song gehört<br />

hatte, hab ich mir hingeschrieben:<br />

Abgesang auf den ruhiggestellten<br />

Mittelstand, stand unterstrichen, denn<br />

deshalb heißt das so, weil sie eben<br />

ruhiggestellt sind, also Mittelstand, der<br />

sich die Chance auf Belohnung nur noch<br />

selbst vorlügt.<br />

Oh! (denkt nach) Ich glaub, das würde ich<br />

unterschreiben.<br />

Dieser Mittelstand, dem es eigentlich<br />

immer ganz gut ging, der franst ja aus,<br />

aber die Leute sind immer noch mit<br />

den alten Gewissheiten unterwegs und<br />

haben noch nicht kapiert, dass sie das<br />

Lumpenproletariat von morgen sind.<br />

ehe ich auch so.<br />

Dann kann man doch eigentlich, wenn<br />

man eh abstürzt, auch NEU anfangen!<br />

Ja, man soll ja auch aus Fehlern lernen.<br />

5


6 Love A I #35 I 2012<br />

Ist das die Traurigkeit, die Du beschreibst,<br />

„es macht mich traurig, was<br />

Ihr Leben nennt“?<br />

Das sind durchaus Beobachtungen von<br />

Menschen … also, man erwischt sich ja selber,<br />

wenn man Menschen diesen Vorwurf<br />

macht, z. B. Wegbegleitern von früher, die<br />

ein sogenanntes normales Leben führen,<br />

keinen Bezug mehr haben zur Subkultur,<br />

aber das muss man ja schon auch bei sich<br />

selbst erkennen, dass man da auch ein bisschen<br />

herausrutscht, man sich unweigerlich<br />

mehr zur Mitte hin bewegt. Das macht einen<br />

natürlich traurig, wenn man sieht, dass die<br />

Kampfeslust versiegt, persönlich ist man<br />

aber schon manchmal auch des Kämpfens<br />

müde.<br />

Diese „Normalität“, die da auf einmal<br />

entsteht als Bollwerk gegen die eigenen<br />

unerfüllten Wünsche, die wird ja dann<br />

von vielen später auf sehr aggressive<br />

Weise verteidigt: DAS ist dann die Aggression<br />

des Spießertums!<br />

Durchaus, die immer strampeln und dann<br />

treten, wenn sie Kritik erfahren in ihrem<br />

gesättigten Vor-Sich-Hin-Dümpeln.<br />

Wer sie dran erinnert, dass da noch ’ne<br />

Menge offene Rechnungen in Ihnen drin<br />

stecken, der ist gefährlich für sie.<br />

Mag ja sein. Aber: Es gibt auch Leute, die<br />

DIESES Leben ANDERS führen!!! Nur, in<br />

den Texten soll ja der Bilderbuchspießer<br />

beschrieben werden.<br />

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass<br />

die totalen Dogmatiker von früher auch<br />

die Spießerdogmatiker von heute sind.<br />

Das ist richtig: Die am lautesten schreien.<br />

Genau! Um mal ein Name-dropping anzubringen:<br />

Was mich oft gestört hat, bei der<br />

Wandlung von But Alive zu Kettcar...<br />

...Kettcar hast Du Dir auf dem Album ja<br />

gleich persönlich vorgeknöpft...<br />

Das war ein Beispiel, dass auch die Fans beschreiben<br />

sollte, oder die Fans, die sie dann<br />

im Endeffekt hatten, also, da lässt sich drüber<br />

streiten, ob die Band die Fans verdient<br />

hat, sprich, zu Recht damit gestraft war....<br />

Also, Kettcar seh’ ich ja völlig anders. Ich<br />

kenne kaum eine Band, die ihre eigene,<br />

persönliche Veränderung so genau, teils<br />

so unbarmherzig genau reflektiert und<br />

dargestellt hat, wie Kettcar.<br />

Ich weiß nicht, ich hab das ja als Konsument,<br />

als Verbraucher wahrgenommen.<br />

In den Texten... und Liedern selbst! Sie<br />

haben halt auch abgerechnet mit einem<br />

Teil der Fans, die ihnen wütend wegliefen,<br />

als sie Kettcar wurden. Und haben<br />

darunter viele dogmatische Linksspießer<br />

gesehen.<br />

… stimmt! …<br />

...das wurde Kettcar dann ausgelegt als<br />

der treulose Abschied von der eigenen<br />

Identität, war es aber nicht. Was sollen<br />

sie denn anders machen? Anderes Beispiel:<br />

Metallica! Würde es denn überzeugend<br />

wirken, wenn die Swimming-<br />

Pool-Besitzer noch immer einen auf<br />

Street-Fighting-Men machen würden?<br />

Über Metallica haben wir grad gestern noch<br />

in der Bandprobe gelacht, dieses „Tourverschieben<br />

wegen des Dollarkurses“... Wir<br />

wissen kollektiv nicht, was wir davon halten.<br />

Also, wenn man schon ein Arschloch ist, ist<br />

man doch sympathischer, wenn man der<br />

Welt auch erzählt, dass man ein Arschloch<br />

ist.<br />

Nur, wenn ich mir gerad den Euro<br />

angucke, dann weiß ich ja nicht, ob sie<br />

damit nicht ganz schön daneben...<br />

KK: (lacht schallend) … Aber die Idee war<br />

doch großartig, dass dann auch noch zu<br />

erzählen...!<br />

So ein klein wenig neidisch bist Du auf<br />

die Schwarz-Weiß-Maler mit den einfachen<br />

Feindbildern doch schon noch!<br />

Motto: Wenn ich daran noch glauben<br />

würde, wäre doch vieles einfacher.<br />

Ja, das ist richtig. Oft bin ich fasziniert<br />

davon – und schüttle oft den Kopf, wie man<br />

die Welt immer noch so wahrnehmen kann.<br />

Aber es ist doch tatsächlich dann viel, viel<br />

leichter.<br />

Vielleicht sind wir mit unseren ganzen<br />

Relativierungen nur schon den Feuilletonisten<br />

vom Spex, die sind ja auch<br />

nur Überbau, auf den Leim gegangen.<br />

Vielleicht leben wir längst schon wieder<br />

in einer Gesellschaft von Opfern, und<br />

Tätern, und sonst nix! Wenn ich sie mir<br />

angucke, die Favelas auf der einen Seite,<br />

die Elendsviertel in den ganzen Südmetropolen<br />

und mitten drin Stacheldraht<br />

und Selbstschussanlagen, und Mauern<br />

um die Siedlungen der Reichen. Die<br />

gesicherten Reichenbezirke mitten in<br />

der Armut (Anm.: Siehe Spielfilm „La<br />

Zona“!). Im Grunde steuern wir doch auf<br />

einen Bürgerkrieg Reich gegen Arm zu.<br />

Weltweit.<br />

Ja, absolut. Das ist so eine düstere Vision,<br />

die ich auch teile. Und das ist ja auch Grund<br />

für Verzweiflung und auch für den Wunsch,<br />

noch mal den Schritt zurück zu machen und<br />

sich in diese dogmatischen Strukturen noch<br />

mal reinzubewegen. Quasi der Wunsch,<br />

noch mal wenig überlegt genug zu handeln,<br />

einfach damit wenigstens irgendwas<br />

passiert.<br />

Schnitt. Und wer von Euch war früher<br />

immer der Freibadheld, oder ist es heute<br />

noch?<br />

Ich glaube, da haben wir keinen dabei!<br />

Ach komm, Dein Freibadsong, wenn der<br />

nicht selbst erlebt ist...<br />

Ja, klar! Aber das hat doch mit Helden nix zu<br />

tun. In meinem Fall geht es um den kleinen<br />

Dicken, der keine abbekommen hat...<br />

Was mir in Euren Songs gefällt, ist unter<br />

anderem auch, dass Du immer mit ganz<br />

konkreten Bildern und Geschichten<br />

arbeitest, zum Beispiel singst über Absurditäten<br />

des Alltags, wenn sich einem<br />

in der U-Bahn Jesus in den Weg stellt.<br />

Dieser Blick für den Alltagswahnsinn,<br />

auch Poesie, die sich in kleinen Gesten<br />

zeigen, gefällt mir gut bei Dir... Ist das<br />

so, dass Du beim Warten an der Haltestelle<br />

ganz bewusst noch wach bist?<br />

Viele sind das ja nicht.<br />

Durchaus, ja, da passieren ja die Geschichten<br />

und da schnappt man etwas auf,<br />

auf der Fünf-Minuten-Busfahrt zum Proberaum...<br />

Gerade auch die Geschichte mit dem<br />

Wal, da muss ich an den Marten denken von<br />

Turbostaat. Ich hab damals ja mein erstes<br />

Interview für’s Ox mit den Jungs machen<br />

dürfen und ich fragte ihn, wo hast Du<br />

eigentlich diese Texte her und er sagte so<br />

scherzhaft, „Aus der Zeitung!“. Und es ist<br />

ja tatsächlich so, ob es die Zeitung ist oder<br />

die Straße, das Eine ist ja ein Spiegel des<br />

Anderen, so dass man da schon sehr viel<br />

aufschnappen kann, wenn man beobachtet.<br />

Siehe Max Goldt & Co.


Du kannst Dich aber gleichzeitig<br />

ungeheuer freuen darüber, dass in all<br />

der Scheiße immer noch auch so viel<br />

Menschlichkeit existiert.<br />

Ja, absolut. Diese ganze Rumhackerei auf<br />

irgendwas ist ja einfach die Hilflosigkeit,<br />

dass ich es eigentlich nicht bringe, eigentlich<br />

ein Philanthrop und Optimist bin und mich<br />

halt tagein tagaus darüber ärgere. Weil ich<br />

glaube, dass die Welt um mich herum das<br />

einfach nicht verdient hat!<br />

Klar bist Du zu intelligent, um verlogene<br />

Scheinidyllen abzufeiern. Auf der<br />

anderen Seite: Schloss Neuschwanstein<br />

abzubrennen, macht die Landschaft<br />

dann auch nicht schöner.<br />

KK (lachend): Es gibt Hinweise! Das Bild<br />

im Anschluss ist wahrscheinlich nicht so<br />

schön zu betrachten, aber das Bild, das man<br />

mit der Tat zeichnet, es kann durchaus zum<br />

Nachdenken anregen.<br />

Du, übrigens, eines, was Ihr wirklich<br />

immer habt: Ihr habt immer den steady<br />

vorwärtstreibenden Beat. Ohne Uptemp<br />

macht Ihr’s nicht. Ist das nur auf der<br />

Platte so, oder ist das in Euren Genen<br />

eingemeißelt?<br />

Ich glaub, der Charly kann sonst nix.<br />

(lachend) Nee, der kann nur den Einen und<br />

dann ist man ganz schnell bei diesem treibenden<br />

Beat...<br />

… zu dem „kann sonst nix“ kommen wir<br />

noch, weil ich glaube, dass das bei Euch<br />

wirklich noch ein wenig zu einförmig ist.<br />

Obwohl’s mir ja gleichzeitig auch saugut<br />

gefällt.<br />

Wir witzeln da ja manchmal drüber, zum<br />

Beispiel so: `Komm, ich hab hier ’ne schöne<br />

Popbridge`, oder `wir machen jetzt mal ’ne<br />

schöne Midtemponummer!`<br />

Nein! Ich mein, wenn Ihr zwischendurch<br />

mal zwei Minuten ausbrechen würdet<br />

und reine Poplicks spieltet, um sie dann<br />

aber brutal zu brechen, fänd’ ich das ’ne<br />

spannende Variante, die von der Aussage<br />

kein bisschen wegnimmt!<br />

Ja, steh ich auch drauf! Das ist teilweise bei<br />

uns auch Thema, dass man mal sagt, lass<br />

uns da mal was Schrägeres machen, um<br />

dann wieder so ’nen verzuckerten Refrain<br />

hinterherzuschieben zur Entschädigung. Der<br />

Versuch ist schon da und da wird man auch<br />

mit Sicherheit noch dran wachsen! Das ist<br />

ja nun mal unser Debüt und dann möchte<br />

ich doch mal immer wieder auch die Presse<br />

daran erinnern, dass sie da vorsichtig mit<br />

uns umgehen sollen, mit dem zarten Pflänzchen...<br />

(lacht selber) …<br />

Entschuldige mal, ich messe Euch doch<br />

nur an der Champions League! Was<br />

willst Du denn?<br />

KK: (Gelächter) - Ist aber schon so, wenn es<br />

mal zu zuckerig wird, dann muss einer mit<br />

den Stiefeln reintreten.<br />

Ich weiß ja auch nicht, was mit Dir und<br />

Deiner Stimme passiert, wenn Du Dich<br />

außerhalb dieser einen Oktave begibst...<br />

Das ist durchaus schwierig. Ich bekomm ja<br />

immer vorgeworfen zu singen.<br />

Sing ruhig, aber atme richtig!<br />

Ja, der Charly meint immer, ich soll doch<br />

nicht so knödeln. Wobei: Ich schrei absichtlich,<br />

überfordere meine Stimme auch<br />

absichtlich!<br />

Schon klar, aber man kann das bewusst<br />

einsetzen, oder es passiert mit Einem.<br />

Und bei Dir bin ich mir nicht immer<br />

sicher, was von beidem der Fall ist.<br />

Also, das ist in dem Fall schon bewusst! Ich<br />

könnte auch sauberer!<br />

Das aggressiv Gellende, das drüberliegt,<br />

das ist Absicht, das ist schon klar. Ich<br />

mein da eher den unteren Bereich, dass<br />

Dir in den tieferen Lagen manchmal der<br />

Atem fehlt.<br />

Absolut. Was diese Techniken angeht, da<br />

bin ich Dilettant.<br />

2012 I #35 I Love A<br />

Dein Gestaltungsspielraum wär’ halt<br />

noch größer, wenn Du ein paar Gesangsstunden<br />

nehmen würdest...<br />

Das ist so eine Geschichte wie zum Zahnarzt<br />

gehen... da fällt einem immer noch<br />

etwas ein, was man vorschiebt....<br />

Aber jetzt ist es öffentlich. Du kommst<br />

nicht mehr raus aus der Nummer.<br />

Das ist richtig. Da hab ich mir auch schon<br />

Gedanken drüber gemacht. Mich würde das<br />

auch wirklich interessieren, selbst wenn es<br />

nur Atemtechniken, nur ganz einfache Dinge<br />

sind. Und man holt sich da ja auch immer<br />

wieder mal Rat bei erfahrenen Freunden<br />

und Kollegen, aber da gebe ich Dir absolut<br />

Recht.<br />

Was macht Ihr nun weiter, die ersten<br />

Reaktionen auf das Album sind ja gut...<br />

Absurd gut und wohlwollend, man kann das<br />

noch gar nicht glauben. Wir nehmen jetzt<br />

erst mal alles mit, freuen uns über jeglichen<br />

Zuspruch, und vor allem freuen wir uns,<br />

dass wir spielen können und dürfen.<br />

7<br />

Nik Freitas<br />

Wann tourt Ihr, mit wem tourt Ihr, wisst<br />

Ihr’s schon?<br />

Wir haben viele selbstorganisierte und viele<br />

mit Hilfe von Jürgen zustandegekommene<br />

kleine und Einzel-Gigs, oder Wochenenden,<br />

und haben im April ’ne Tour mit Frau Potz<br />

aus Hamburg, da singt der letzte Sänger<br />

von Escapado, um mal ’nen Namen fallen zu<br />

lassen.<br />

Wie genial, ich liebe Escapado.<br />

Die Frau Potz find ich jetzt wiederum NOCH<br />

besser! Die haben uns gefragt, ob wir bei<br />

ihrer Releaseparty mitspielen wollen, so fing<br />

das an.<br />

Ich hoffe für Dich, sie spielen demnächst in<br />

Deiner Nähe. ... Und warum steht noch kein<br />

Termin in München??? Muss ich etwa mit<br />

meiner Bahncard in der Gegend rumgurken?<br />

Fragt mal ganz egoman der<br />

Andrasch


8 No Life Lost I #35 I 2012<br />

nN: Nachdem ich zum ersten mal in Eure<br />

aktuelle Scheibe gehört habe, meine ich<br />

festgestellt zu haben, dass das gar nicht<br />

unbedingt nach „Ska“ klingt ... Irrtum<br />

meinerseits, oder bemüht Ihr Euch<br />

tatsächlich um größtmögliche „Vielseitigkeit“?<br />

Marcus: Richtig ist, dass einige Songs<br />

wirklich einen sehr „funky-“, rockigen- oder<br />

beatlastigen Einschlag haben und nur im<br />

weitesten Sinn etwas mit Ska zu tun haben.<br />

Nichtsdestotrotz war es uns schon wichtig,<br />

auch Songs auf der Platte zu haben, die<br />

schon „sehr Ska“ sind beziehungsweise die<br />

typischen Ska-Elemente enthalten. Insgesamt<br />

ist das Album musikalisch aber schon<br />

weit gefächert. Aber so haben wir uns als<br />

Band eigentlich schon immer verstanden:<br />

Durchaus mal andere Einflüsse mit aufnehmen.<br />

Roots-Rocksteady-Ska haben wir noch<br />

nie gemacht, das spannende für uns war<br />

es immer, zu schauen, wie man Off-Beat-<br />

Musik noch umsetzen, mit anderen Stilen<br />

vermischen kann. Die Musikwelt ist so bunt,<br />

warum nicht gut gelaunt mit allen Farben<br />

malen?<br />

Schönes Bild. Ein bisschen brennt mir<br />

die Frage unter den Nägeln. Die vorletzte<br />

Scheibe habt Ihr 1995 gemacht – was ist<br />

denn dazwischen passiert?<br />

Korrektur: Unsere vorletzte Platte ist von<br />

1991 „Ich bin Touri“. Zwei Jahre später<br />

haben wir uns aufgelöst und dann ein paar<br />

Jahre nix gemacht. 1995 wurden dann beide<br />

Alben noch mal über „Pork Pie“ neu veröffentlicht.<br />

Ein Jahr danach gab’s eine Revivalshow,<br />

und dann war wieder erstmal lange<br />

Pause. 2003 haben wir in Münster zwei<br />

Revivalshows gespielt, und weil es allen<br />

Beteiligten so viel Spaß gemacht hat, haben<br />

wir weitere Shows angehängt und seitdem<br />

immer mal wieder mit dem alten Programm<br />

und ein paar neuen Songs Konzerte gespielt.<br />

Unsere DVD kam dann 2007 - und kurz danach<br />

stand für uns fest: entweder gibt’s ein<br />

neues Album mit frischen neuen Songs oder<br />

wie lassen es ganz sein, bevor wir zu unserer<br />

eigenen „Top-40 Band“ mutieren. Nun<br />

ja, das hat dann noch mal knapp vier Jahre<br />

gedauert. Aber nun ist es so weit: „El Bosso<br />

& Die Ping Pongs“ are back in the ring!<br />

Zwischen 1996 und 2003 also erneut eine<br />

lange Pause, und während dessen lief<br />

nichts?<br />

So weit ich mich erinnern kann, war da<br />

Funkstille. Richie (aka „Dr. Ring-Ding“<br />

– Anm. d. Verf.) hatte genug mit seinen<br />

„Senior Allstars“ zu tun, Bosso absolvierte<br />

eine Schauspielausbildung und ich tobte<br />

mich an der Gitarre in diversen Grunge- und<br />

Stonerrockbands aus.<br />

Ich habe irgendwo mal gelesen, die<br />

„Hütten“ wären nach der „Reunion“<br />

gleich „wieder voll“ gewesen – erstaunlich<br />

– die Leute haben Euch die lange<br />

Pause in keiner Weise übel genommen,<br />

oder? … Etwas anderes - mir fällt der,<br />

sagen wir, „bruchstückhafte“ Titel Eures<br />

Albums auf, „Tag Vor Dem Abend“ …<br />

Richtig, irgendwie war es auf den Konzerten<br />

unverändert. Beziehungsweise interessant<br />

zu beobachten, dass wir scheinbar, während<br />

wir „live“ von der Bildfläche verschwunden<br />

waren, so eine Art „Kultstatus“ bekamen.<br />

Immer öfters las man von „El Bosso & Die<br />

Ping Pongs“ – die „Kultband“, die „erste<br />

Skaband mit deutschen Texten“ und so.<br />

Die Pause hat unserem Status beziehungsweise<br />

Standing wohl ganz gut getan. Zum<br />

Albumtitel … „Tag vor dem Abend“ ist aus<br />

dem gleichnamigen Song. Und da heißt<br />

es im Refrain „Wir loben den Tag vor dem<br />

Abend“ und ist die Umkehrung der bekannten<br />

Spruchs oder besser der typischen<br />

Mahnung aller Zögerer und Zauderer „Man<br />

soll den Tag NICHT vor dem Abend loben“.<br />

Doch genau dazu rufen wir in dem Song auf!<br />

Das Jetzt ist entscheidend! Genieße den<br />

Augenblick! Das Glas ist halbvoll! Duck Dich<br />

nicht verstohlen in der Ecke rum, nur weil<br />

Du nicht weißt, was später sein wird. Eigentlich<br />

kein neuer Gedanke, nur mit dieser<br />

Verkehrung des Spruchs noch mal anders<br />

auf den Punkt gebracht.<br />

Wobei ich jetzt irgendwie die Überleitung<br />

zu Euren Texten hinbekommen<br />

hätte … In „Metallica“ scheint ihr Euch<br />

darüber zu freuen, dass wenigstens


einiges so bleibt, wie es ist, und bei<br />

„Mann Von Nebenan“ beschwert ihr<br />

Euch allen ernstes über die zu lauten<br />

Nachbarn … interpretiere ich hier fehl?<br />

Nee, ist schon ganz richtig. Wobei „Mann<br />

von nebenan“ im weitesten Sinne einfach<br />

ins deutsche übersetzt und kein eigener<br />

Text ist. Aber Nachbarn die nur nerven sind<br />

ja auch wirklich schlimm. Und „Metallica“<br />

ist eine kleine Homage an Beständigkeit<br />

und Verlass. Wobei es unterm Strich egal<br />

ist, ob es die Platten von „Metallica“ oder<br />

„AC/DC“ sind, auf die „Verlass“ ist, die<br />

Glücklotterie, die jeden zweiten Mitwoch<br />

im Fernsehen ausgestrahlt wird oder das<br />

regelmäßige Tretbootfahren auf dem Münsteraner<br />

„Aasee“. Tradition und Beständigkeit<br />

sind nicht immer scheiße.<br />

Nicht unbedingt, da gebe ich Dir recht;<br />

„Mädchenmusik“ ist dann aber schon<br />

arg ironisch, oder?!<br />

Mmmh … der kleine, verschmitzte Seitenhieb<br />

auf die Armada von Singer/<br />

Songwritern, die uns mit Ihrem dauernden<br />

Herzschmerzgesäusel und selbstmitleidigen<br />

Tralalla tagtäglich weiß machen wollen, dass<br />

uns Ihr Leid oder die große Selbsterkenntnis<br />

brennend interessiert. Nix gegen die Vertextung<br />

tiefer Sehnsüchte, aber bitte doch<br />

nicht immer gleich sich selbst so fürchterlich<br />

ernst nehmen …<br />

Wenn Du jetzt gesagt hättest, dass Du<br />

„Mädchenmusik“ ganz erst meinst …<br />

dazu noch die Sache mit der Tradition<br />

und Beständigkeit“ – ich hätte mir ernsthaft<br />

Sorgen gemacht … Aber verglichen<br />

mit so manch schärferen Texten aus<br />

Eurer Vergangenheit – seid Ihr „altersmilde“<br />

geworden?<br />

Altersmilde? Vielleicht entspannter oder<br />

abgeklärter was die Sicht auf manche Dinge<br />

betrifft. Ich meine die großen Rockrebellen<br />

waren wir ja eh nie und den Revoluzzer hat<br />

man bei uns auch schon immer vergeblich<br />

gesucht. Mehr als mal auf einem „Ostermarsch“<br />

spielen gab es eigentlich nicht. In<br />

erster Linie standen wir schon immer für<br />

Spaß mit Augenzwinkern … und das hat<br />

sich nicht geändert.<br />

Wobei Du mir wieder einen Steilpass<br />

schlägst … Ihr seid ja nun auch nicht<br />

mehr 18 oder 20 … wie lange wollt Ihr<br />

das Ganze noch betreiben? Ist das nur<br />

eine Frage des „Bocks“?<br />

Gegenfrage, ist das eine Frage des Alters?<br />

Ich denke nicht. So lange es allen Beteiligten<br />

Spaß macht und es Menschen gibt, die sich<br />

für das alles interessieren, brauch man über<br />

einen musikalisch geruhsamen Lebensabend<br />

nicht nachdenken. Ich meine, keiner<br />

von uns möchte als Berufsjugendlicher<br />

rüberkommen. Und darum klingt die Platte<br />

wie sie klingt und darum sind die Texte<br />

ja auch, wie sie sind. Auch wenn einige<br />

sagen werden, dass sind gar nicht mehr<br />

EL BOSSO gelten als die erste<br />

deutschsprachige Ska-Band, und<br />

schon 1991 brachten die Band<br />

um Gitarrist Marcus „Skacus“<br />

Diekmann und Sänger Markus<br />

„El Bosso“ Seidensticker eine erste<br />

Scheibe heraus. Obwohl zwischen<br />

damals und heute gerade mal drei<br />

Longplayer erschienen sind, besitzt<br />

die Band aus Münster längst Kultstatus.<br />

„Skacus“ war so freundlich,<br />

uns ein paar Fragen zu beantworten<br />

…<br />

die „El Bosso“ von früher oder so. Richtig,<br />

die „Bossos“ von früher sind ja nun auch<br />

20 Jahre her. Und in 20 Jahren passiert ne<br />

Menge und wenn’s nur das Älterwerden ist.<br />

Naja, „Frage des Alters“ – im Grunde<br />

gebe ich Dir recht … und bei „Saitenschwingern“<br />

auch weitestgehend egal<br />

- aber wenn man singt?? … Bleiben wir<br />

aber in der Gegenwart – was geht „live“<br />

in naher Zukunft?<br />

Hier und da mal nen Ostermarsch … nee,<br />

Spaß …Wir gucken gerade, wie wir alle<br />

terminlich zusammenkommen - und das ist<br />

keine Frage des Spaß, sondern ein Frage der<br />

vielen anderweitigen Verpflichtungen, die jeder<br />

einzelne mehr oder weniger hat. Ist halt<br />

so in der „Ü 35“, da gibt’s Familie, Beruf,<br />

einige zocken auch noch in anderen Bands<br />

und und und … das will alles berücksichtigt<br />

werden. Wir haben aber schon den ein oder<br />

anderen Livetermin für 2012 „save“, auch<br />

das ein oder andere schöne Festival. Nur<br />

die fette Livepromopower können wir nicht<br />

fahren. Also drei Wochen am Stück touren<br />

und etliche dicke Sommerfestivals, das wird<br />

leider nicht gehen. Jeder, der uns live sehen<br />

will: Immer mal wieder über unsere Homepage<br />

oder „Facebook“ updaten.<br />

Keule<br />

9


10 Affairs Of The Heart I #35 I 2012<br />

Tim Kasher<br />

nN: Erst mal war’s doch nur ’ne Agentur,<br />

oder?<br />

JS: Angefangen hab ich als Promoagentur,<br />

2004. Und Saddle Creek war mein erster<br />

Kunde.<br />

Womit Du unzweifelhaft nicht nur Glück,<br />

sondern ’ne gute Nase hattest.<br />

Richtig, genau. (lacht) Nach einigen Jahren,<br />

2007 war das, hab ich dann das Label<br />

gegründet und meinen ersten Künstler unter<br />

Vertrag genommen, das war David Dondero.<br />

In der Anfangszeit, wo Du ein Einmann-<br />

Unternehmen warst, da warst Du doch<br />

auch mit den Saddle Creek–Musikern<br />

unterwegs.<br />

Nein, ganz so weit ging das nicht, aber bei<br />

Presseterminen, Interviews...<br />

Und wie oft war Conor Oberst in Deinem<br />

Beisein betrunken?<br />

JS (schallendes Gelächter): Ich schweige zu<br />

dem Thema.<br />

nN (schallendes Gelächter) …<br />

Ich glaub, wir waren BEIDE oft betrunken.<br />

Wie siehst Du die Entwicklung bei<br />

Saddle Creek? Dass das nicht ewig<br />

das kleine, süße, von purer Harmonie<br />

geprägte Label bleiben konnte, das war<br />

doch klar!<br />

Ja. Genau. Und die Karrieren haben sich<br />

unterschiedlich entwickelt. Da gibt es den<br />

Conor Oberst, The Saints, Tim Kasher,<br />

Cursive, The Good Life – klar hat sich das<br />

David Dondero<br />

Zwischen Folk, Postfolk, Indie, Avantgarde, Rock mit Fuzz-Gitarre und was Dir jetzt sonst<br />

noch einfällt in Sachen Americana mit eindeutigem Schwerpunkt, das „andere Amerika“,<br />

nix Bible Belt-Stumpfsinn und vergesst auch ganz schnell die in Nashville ansässige<br />

Country-Musikerpolizei, es geht um Freiheit, Weite in Hirnen und Herzen. Würde uns Labelmacher<br />

Jan Schewe garantiert bestätigen. Der darf nachher auch noch sagen, was seine<br />

persönliche amerikanische Eskapisten-Obsession ist. Doch gemach, erst mal die Geschichte<br />

in Stichworten...<br />

auch auseinandergelebt. Dann sind Leute<br />

auch weggezogen, nach New York, oder Tim<br />

wohnt jetzt in Atlanta...<br />

Und dann gibt’s noch meine Lieblingsjungs,<br />

die Two Gallants. Verrätst Du mir,<br />

was mit denen jetzt los ist?<br />

Kann ich Dir verraten, die sind im Studio und<br />

nehmen ihr neues Album auf!<br />

Diese zwei Jungs, die ewigen Tramps,<br />

die haben mit ihrer Schnoddrigkeit,<br />

dem Sowohl-Als-Auch zwischen weit<br />

ausgreifend elegischen Stücken, die<br />

diese Eisenbahnromantik des Tramps<br />

einbegreifen...<br />

...Richtig!...<br />

Unbunny<br />

...und gleichzeitig aber auch der gezielten<br />

Zertrümmerung der alten<br />

Country-Gewissheiten unheimlich vielen<br />

Kids, auch hierzulande, Mut gemacht,<br />

sich diese Americana-Geschichten anzueignen<br />

und da mehr Selbstbewusstsein<br />

zu entwickeln.<br />

Das hoffe ich sehr, denn es ist ein sehr<br />

interessantes Genre und wie Du sagst, die<br />

zerlegen das tatsächlich und das finde ich<br />

sehr, sehr spannend.<br />

Würdest Du vom Label leben wollen –<br />

würdest Du am Hungertuch nagen, oder<br />

wärst Du schon tot?<br />

Was heißt „wollen“ - Können ist doch die<br />

Frage...<br />

John Vanderslice<br />

Jan Schewe<br />

Es ist Nischenmusik!<br />

Richtig. Hinzu kommt, dass es nicht nur ’ne<br />

Nischenmusik ist, sondern dass es eine<br />

Nischenindustrie geworden ist. (lacht) Keine<br />

Ahnung, wie sich das weiter entwickeln<br />

wird, ich beobachte das.<br />

Ich hab ja mehr und mehr die Sorge,<br />

dass wir uns auf einen gesellschaftlichen<br />

Zustand zu entwickeln, wo Musik vor<br />

allem wieder im streng marxistischen<br />

Sinn Überbau wird, nämlich nach dem<br />

Motto, wenn die Wirklichkeit schon so<br />

ätzend und kompliziert und scheiße ist,<br />

dann will ich mich durch die Musik einfach<br />

nur noch komplett wegdröhnen.<br />

Ja, das macht auch mir Sorge. Wobei – ich<br />

flüchte schon auch gerne mal.<br />

In was flüchtest Du denn?<br />

JS (bockt)<br />

Sag’s mir!<br />

Serien.<br />

Lindenstraße guck ich auch.<br />

Nein, da bin ich wieder mehr amerikanisch<br />

geprägt. Die „Raising Hope“ finde ich ganz<br />

große Klasse.<br />

Wie eng ist die Bindung an die USA? Wie<br />

oft bist Du drüben?<br />

Ich war gerade erst vor ein paar Wochen in<br />

den Staaten, es war mein erster Urlaub drüben.<br />

Zwar war ich vorher schon mal dort in<br />

Omaha und Chicago, aber die zwei Wochen<br />

jetzt in New England, das war der erste<br />

Urlaub. Ich bin da zwei Wochen rumgereist.


Maria Taylor<br />

Und, klar, ich romantisiere das schon, sehe aber auch<br />

die Probleme, die die Staaten haben. Es ist ein Land, das<br />

mich sehr fasziniert. Das spielt schon eine sehr große<br />

Rolle, ganz klar.<br />

Gibt’s irgendjemanden, wo Du sagst, ich hätte den<br />

sooo gern, ich find den sooo toll, aber Scheiße,<br />

Wunschträume, no chance, den krieg ich einfach<br />

nicht?<br />

Ja, den gibt es, da wiederhole ich mich auch gern öffentlich,<br />

das ist Jeff Tweedy von Wilco. Den hätte ich gern,<br />

egal, ob Wilco, oder Tweedy solo, egal, wie auch immer,<br />

nur: Jeff Tweedy, bitte!<br />

Was wünscht Du Dir für die nächsten fünf Jahre?<br />

Dass ich weiter glücklich bin mit dem, was ich tue und<br />

ich damit über die Runden komme, das ist alles. Und<br />

weiter interessante Menschen kennenzulernen, Musik<br />

mit Menschen teilen zu dürfen. Denn das muss man<br />

wirklich sagen, so cheesy das auch klingt: DAS ist wirklich<br />

ein großes Privileg!<br />

Geht mir genau so. Ich find das Kennenlernen<br />

manchmal fast wichtiger als das Hören. Gab es<br />

Momente mit einem bestimmten Musiker, die Dir<br />

besonders nahe sind, wo Du sagst, das werde ich<br />

nie vergessen?<br />

Klar. Unbunny war so ’ne Sache. Es ging um die Tour<br />

zum Album. Was tun? Kommt er alleine rüber? Macht<br />

er es solo? Können wir es uns leisten, eine ganze Band<br />

einzufliegen? Da haben wir festgestellt, das können wir<br />

nicht. Und dann habe ich ihm eine Band zusammengestellt<br />

– und da war ich dann selbst der Gitarrist und durfte<br />

ihn da begleiten, auf zwei Touren durch Europa und<br />

das war natürlich ganz spannend! So sind wir auch enge<br />

Freunde geworden, ja, ist wirklich eine irre Geschichte!<br />

Wow, wie schön! Und nun touren sie also so als Familie,<br />

wo sich Maria Taylor, Unbunny und die Flare Acoustic<br />

Arts League gegenseitig instrumentell unterstützen,<br />

ganz familienlike, so wie in den Anfängen von Saddle<br />

Creek. Womit sich der Kreis schließt. Und dann sagte<br />

ich noch aus voller Inbrunst einen Satz zum Jan: „Schön,<br />

dass es Dich gibt.“<br />

Andrasch Neunert<br />

The Dead Trees<br />

Wye Oak<br />

Flare<br />

Acoustic<br />

Arts<br />

League<br />

11<br />

Nik Freitas


12 literaTur I #35 I 2012<br />

TOM ANGLEBERGER –<br />

DARTH PAPER<br />

SCHLÄGT ZURÜCK<br />

BASTEI LÜBBE/<br />

BAUMHAUS 2011<br />

169 Seiten<br />

ISBN:<br />

978-3-8339-0075-4<br />

Richtig, es handelt sich<br />

bei dieser Veröffentlichung<br />

um den Nachfolger<br />

des im letzten Heft besprochenen Buches<br />

„Yoda ich bin! Alles ich weiß!“. Im zweiten Teil<br />

der Origami-Reihe bekommen der kauzige<br />

Dwight und seine papierne, weise Yoda-Fingerpuppe<br />

ernsthafte Konkurrenz, denn sein<br />

größter Widersacher, der großmäulige Harvey,<br />

will den Erfolg des Origami-Yoda-Orakels<br />

im neuen, siebten Schuljahr stoppen, indem<br />

er sich kurzerhand einen Origami-Darth Vader<br />

auf den Finger steckt und die Mitschüler auf<br />

die dunkle Seite ziehen will. Intrigant, wie er<br />

ist, versucht er alles, um Dwight als Unruhestifter<br />

hinzustellen und den Schulausschuss<br />

so dazu zu bewegen, ihn von der Schule<br />

werfen zu lassen. Dwights Freunde allerdings<br />

wollen das nicht einfach so geschehen lassen.<br />

Und so machen Tommy, Kellen und Co. sich<br />

erneut an eine Akte mit neuen Fallstudien,<br />

denn sie sind sich sicher: Egal, wie seltsam<br />

Dwight sein mag – ein schlechter Kerl ist er<br />

mitnichten! Ihre Erfahrungen und Erlebnisse<br />

schildernd reden sie, wie ihnen der Schnabel<br />

gewachsen ist, und natürlich hat Harvey nichts<br />

Besseres zu tun, als diese Schilderungen mit<br />

seinem verbalen Senf zu beschmieren.<br />

Wie schon beim Vorgängerbuch lebt auch<br />

„Darth Paper schlägt zurück“ von einem lebendigen<br />

Layout mit vielen vom Autoren gezeichneten<br />

Illustrationen, ohne allerdings den<br />

Text in den Hintergrund zu schieben. Im Gegenteil,<br />

denn im Vergleich zu „Yoda ich bin!<br />

Alles ich weiß!“ ist dieses Schriftwerk um einiges<br />

textlastiger und auch komplexer ausgedrückt.<br />

Eine clevere Sache, denn schließlich<br />

wachsen die Kids, die in diesem ärgerlichspaßigen<br />

Gezanke mitwirken, ja nicht nur<br />

physisch, sondern auch, was ihre Ausdrucksweise<br />

und ihren Wortschatz angeht.<br />

Autor Tom Angleberger hat mit dieser neuen<br />

Episode einen würdigen Nachfolger zum Debüt<br />

der „Krieg der Sternchen“-Reihe erschaffen<br />

und verzichtet auf pädagogische Gehirnwäsche,<br />

wie sie in Kinder- und Jugendliteratur<br />

leider immer wieder in übertriebenem Maße<br />

zu finden ist. Der Spaß steht hier an erster<br />

Stelle, und dies hat der Erschaffer dieser<br />

oftmals verschrobenen Charaktere hervorra-<br />

gend gemeistert. Da darf man ja fast schon<br />

ungeduldig auf Nachschub warten...<br />

Chris P<br />

TOM ANGLEBERGER<br />

– HORTON HALFPOTT<br />

ODER DAS TEUF-<br />

LISCHE GEHEIMNIS<br />

VON SCHLOSS<br />

EIGENBRÖTL ODER<br />

WIE SICH LADY<br />

LUGGERTUCKS<br />

KORSETT LOCKERTE<br />

KNESEBECK VERLAG<br />

2011<br />

206 Seiten, ISBN: 9-783-868-73381-5<br />

Der US-amerikanische Autor ist nicht nur in der<br />

Lage, zeitgenössische Kinder- und Jugend-<br />

bücher über schrullige Schüler mit seltsamen<br />

Freunden und widerwärtigen Nichtfreunden<br />

zu schreiben. In diesem wie immer von Angleberger<br />

selbst äußerst geschmack- und<br />

liebevoll illustrierten, qualitativ hochwertig<br />

verarbeiteten 206-Seiter findet sich der Leser<br />

nämlich auf dem Anwesen der Luggertucks,<br />

dem Schloss Eigenbrötl (im Englischen<br />

„Smugwick Manor“) wieder, auf welchem die<br />

herrische Lady Luggertuck streng die Fäden<br />

zieht – wer nicht spurt, bekommt durchaus<br />

mal eins mit dem Kochlöffel auf die Rübe.<br />

Doch an einem bestimmten Tag bittet Mylady<br />

ihr ältestes Dienstmädchen Crottie, ihr<br />

das Korsett dieses Mal nicht ganz so eng zu<br />

schnüren – und es scheint ganz so, als stünden<br />

hierdurch auf dem Schloss die Sitten und<br />

das ganze Leben Kopf. Arbeiten werden nicht<br />

mehr ordentlich erledigt, Diener essen Kuchen,<br />

statt der ihr zustehenden Brotkruste,<br />

und die wunderschöne Celia wird zum Ball<br />

auf Eigenbrötl eingeladen. Zu allem Überfluss<br />

verschwindet dann auch noch der ach<br />

so wertvolle „Luggertuck’sche Klumpen“. Hat<br />

ihn etwa der Küchenjunge Horton gestohlen?<br />

Oder war es doch jemand anderes? Was hat<br />

es mit diesem hässlichen Ding auf sich?<br />

In einer herrlich antiquierten, geschwollenen<br />

Sprache geschrieben, wie man sie aus uralten<br />

britischen Kriminalgeschichten kennt, entsteht<br />

zusammen mit der zeichnerischen Komponente<br />

ein herzlicher, kindgerechter, aber<br />

auch für Erwachsene enorm unterhaltsamer<br />

Roman, in welchem man sich die reichlich<br />

vorhandenen Figuren anhand sehr bildhafter<br />

Beschreibungen lebhaft vorstellen kann – ein<br />

wenig überdreht, aber nie effekthaschend<br />

wird der Spannungsbogen bis zum Schluss<br />

straff gespannt. Und nicht nur die kriminologische<br />

Ader des Lesers wird angesprochen,<br />

nein, auch eine kleine Romanze findet in „Horton<br />

Halfpott“ ihren Platz. Schön an dieser Geschichte<br />

ist, dass sich der Autor immer wieder<br />

direkt an den Leser wendet, so als wäre dieser<br />

derjenige, dem er die Story brandheiß als Allererstem<br />

erzählen möchte, und so fühlt man<br />

sich als „Zuschauer“ richtiggehend involviert<br />

und ganz furchtbar wichtig. Und diese Wärme<br />

ist etwas, was vielen an junge Leser gerichteten<br />

Büchern fehlt. Sehr empfehlenswert.<br />

Chris P<br />

DOUGLAS COUPLAND<br />

– JPOD<br />

KLETT-COTTA/TROPEN<br />

2011<br />

520 Seiten<br />

ISBN: 978-3-608-50103-2<br />

Mit „jPod“, dem elften<br />

seiner insgesamt vierzehn<br />

Romane, entführt<br />

der in Deutschland auf einem NATO-Stützpunkt<br />

geborene, in Vancouver aufgewachsene<br />

Kanadier endlich auch die Leser des deutschsprachigen<br />

Raumes in eine Bürowabe einer<br />

riesigen Spieledesignfirma. Eine dieser Waben,<br />

„Pods“ genannt, wurde aufgrund eines<br />

Fehlers mit sechs jungen Geeks besetzt,<br />

deren Nachnamen allesamt mit dem Buchstaben<br />

J beginnen. Ständig werden von oben<br />

Änderungen delegiert, die Protagonist Ethan<br />

Jarlewski und seine KollegInnen Bree, Kaitlin,<br />

John, Mark und Cowboy bitteschön zu realisieren<br />

haben. Das treibt die sechs an den<br />

Rand ihres Verstandes, was zur Folge hat,<br />

dass sie – mit massiver Angenervtheit, die<br />

zu Kurzschlüssen in der biologischen Hauptplatine<br />

führen – so langsam eine Scheißegal-<br />

Einstellung entwickeln. Etwas Sabotage bei<br />

der Spieleentwicklung darf da natürlich nicht<br />

fehlen. Abseits dieses Höllenjobs plagt sich<br />

Ethan zudem mit menschlichen Katastrophen<br />

herum: Ein gescheiterter, dauerfremdkopulierender<br />

Schauspieler als Vater, der verzweifelt<br />

auf der Suche nach einer Rolle – wenigstens<br />

einer Sprechrolle – ist und sich von einer<br />

Peinlichkeit in die nächste reitet. Eine ähnlich<br />

promiske Mutter, die Cannabis anbaut und<br />

einen Rocker „aus Versehen“ tötet. Ein Vorgesetzter,<br />

der nach China entführt wird. Und<br />

dann taucht auch noch der Autor selbst in der<br />

Story auf.<br />

Optisch arbeitet der seit zwei Dekaden Romane<br />

verfassende Zeilenzauberer wie gewohnt<br />

eigenwillig. Ähnlich wie in „Generation A“ nutzt<br />

Coupland in diesem eigenwilligen, mit zackigen<br />

Dialogen und großartigen Gedanken-


spielen gespickten Roman internettypische<br />

Elemente wie etwa Spammails, Requester<br />

und dergleichen. Nach dem Lesen des über<br />

500-seitigen Schmökers, ja eigentlich schon<br />

währenddessen, kratzt man sich erst mal am<br />

Kopf, doch Stück für Stück fallen die Papiergroschen<br />

und man kommt so langsam hinter<br />

das, was der heute 50-jährige Schriftsteller<br />

mit diesem Werk sagen möchte. Interessant<br />

ist auch dieses Mal wieder das wechselhafte<br />

Tempo dieses vielschichtigen Buches, dessen<br />

Ereignisse mitkriegen zu wollen, ein wenig<br />

ist, wie das Schauen der DVD-Box einer<br />

Lieblingsserie: Man hat noch so viel anderen<br />

Kram zu tun, aber man möchte unbedingt wissen,<br />

was als nächstes passiert. Zack, hat man<br />

wieder vierzig Seiten weiter gelesen. Sicherlich<br />

kann man der Abgefahrenheit von „jPod“<br />

kritisch gegenüberstehen, doch Couplands<br />

schreiberisches und kreatives Agieren ist nie<br />

selbstzweckhaft oder selbstgefällig, sondern<br />

hat stets einen Hintergedanken, den es zu<br />

entschlüsseln gilt. Natürlich spielt der Nordamerikaner<br />

hierbei auch mit der Geduld und<br />

dem Verstand des den Wälzer blätternden<br />

Buchstaben-Pac-Mans und man muss durchaus<br />

eine Ader für progressive, unkonventionelle<br />

Schreibkunst haben. Bringt man diese<br />

mit, erntet man tütenweise geistiges Saatgut,<br />

das seine Triebe tief in die neuronale Masse<br />

hinein bohrt. Die Taktfrequenz des menschlichen<br />

Hauptprozessors wird praktisch auf natürliche<br />

Weise erhöht.<br />

Chris P<br />

CARIN GERHARDSEN<br />

– UND RAUS BIST DU<br />

BASTEI LÜBBE 2011<br />

350 Seiten<br />

ISBN: 978-3-404-16593-3<br />

Der dritte Kriminalroman<br />

der Hammarby-<br />

Serie – meine Erstkonfrontation<br />

mit<br />

Letzterer – beginnt wie<br />

ein typischer Schwedenkrimi: Catherine Larsson<br />

und ihre beiden Kinder liegen in Södermalm,<br />

Stockholm mit aufgeschlitzter Kehle<br />

im Bett, und anfangs deutet alles darauf hin,<br />

dass Christer, ihr nicht mehr bei der Familie<br />

lebender Noch-Ehemann, diese furchtbare<br />

Tat begangen hat. Doch innerhalb kurzer Zeit<br />

verlieren sich all die Gedankenpfade ins Leere<br />

und das Team um Kriminalkommissar Conny<br />

Sjöberg weiß kaum noch Rat. Kurz darauf verschwindet<br />

der Kollege Einar Eriksson spurlos<br />

und das führt das Ermittlerteam an das Limit<br />

seiner Fähigkeiten. Hängen diese beiden Fälle<br />

zusammen?<br />

Genau ab diesem Gabelungspunkt nimmt der<br />

Roman unerwartet Fahrt auf und signalisiert<br />

mit lauten Sirenen, dass wir es hier doch nicht<br />

mit einem Krimi auf „Tatort“-Niveau zu tun haben.<br />

Eine aufwühlende Reise in die Vergangenheit<br />

und in die Köpfe vieler beteiligter Personen<br />

beginnt und bringt einige „Leichen im<br />

Keller“ zutage. Neben den Ermittlungen kommen<br />

viele Wahrheiten ans Licht, die durch ihre<br />

Verborgenheit fast vergessen waren, jedoch<br />

die Leben vieler Einzelner in all den Jahren<br />

deformiert haben. Carin Gerhardsen versteht<br />

es hierbei brillant, den Leser in den Strudel<br />

des irrsinnig spannenden Geschehens hineinzuziehen,<br />

denn sie meistert es nicht nur, ein<br />

verworrenes, komplexes, clever verwobenes<br />

Drama zu stricken, das die Filmspulen des<br />

Kopfkinoprojektors zum Rattern bringt, sondern<br />

auch, ihren Roman mit sehr starken Persönlichkeiten<br />

zu besetzen, deren Gefühle präzise<br />

zu beschreiben, jedem ein glaubwürdiges<br />

Schicksal auf den Leib zu schneidern und in<br />

die tiefsten Winkel der Psyche der einzelnen<br />

Figuren hervorzudringen.<br />

Während viele etablierte genreverwandte<br />

Autoren sich noch von den Nachwirkungen<br />

der hohen Wellen ihrer Erfolge in Sicherheit<br />

wiegen und zum Teil ganz schön halbgare<br />

Kost abliefern, ist es an der Zeit, dass diese<br />

schwedische Autorin an ihnen vorbeizieht und<br />

ihnen so bald durch den Rückspiegel zuwinken<br />

kann.<br />

Chris P<br />

AGNES HAMMER –<br />

HERZ, KLOPF!<br />

SCRIPT5 2009<br />

275 Seiten<br />

ISBN: 978-3-839-00104-2<br />

Vom im letzten Heft<br />

besprochenen, edlen<br />

2010er Roman<br />

„Dorfbeben“ begeistert<br />

gewesen, galt es zu<br />

ergründen, ob die anderen beiden Bücher der<br />

Nordrhein-Westfälin genauso packend sind.<br />

Eines vorweg: Es ist so – da mag der etwas<br />

profan anmutende Buchtitel durchaus ein<br />

wenig täuschen und auf die falsche Fährte<br />

locken.<br />

Karneval in Düsseldorf. Eines Tages wird<br />

die literaturbesessene Außenseiterin Franka<br />

entführt und die Eltern sind in völliger Panik,<br />

aber auch Frankas Freundin Lissy ist kurz<br />

davor abzudrehen. Lissy selbst stammt aus<br />

Hartz IV-Verhältnissen, hat eine Mutter, die ihr<br />

ganzes Geld mit Internet- und Teleshopping-<br />

Bestellungen verpulvert und ihr Vater ist obdachloser<br />

Säufer. Während die Ermittlungen<br />

der Polizei ins Leere laufen, geht Lissy eigene<br />

investigative Wege und findet bald heraus,<br />

dass Franka einen gewissen „Erlkönig“ im<br />

Chat kennengelernt hat. Der bildet sich ein,<br />

dass das Gefangenhalten und Quälen doch<br />

nur das Beste für Franka sei. Für seinen Engel.<br />

Für Franka – ein Teil seiner sauberen,<br />

reinen Welt. Für sie, die nicht so dreckig, so<br />

widerlich, so verdorben ist wie dieser ganze<br />

Absud da draußen. Sowohl Lissy als auch<br />

Franka und der Erlkönig erleben ihre ureigenen<br />

Formen der Angst und dies sorgt dafür,<br />

dass sich die Situation dramatisch zuspitzt.<br />

Agnes Hammer erzählt in einer schonungslosen,<br />

realistischen Sprache, welche einem<br />

häufig ein Gefühl der Beklemmnis verleiht.<br />

Hierbei arbeitet sie oft mit Widersprüchen,<br />

beispielsweise: Als Lissy mit ihrer Freundin<br />

Milena erst eine junge Türkin an der Bushaltestelle<br />

verprügelt und hinterher im Kaufhaus<br />

mit den erbeuteten 50 Euro erst mal Engelsflügelchen<br />

einkauft, die ja „total süß“ sind – oder<br />

der Moment, in dem für den Besuch erst mal<br />

Fertigschnitzel aus dem Gefrierfach geholt<br />

werden. Das schicksalsschwangere Leben in<br />

sozialen Brennpunkten ist nicht einfach und<br />

der Autorin gelingt es fantastisch, dem Leser<br />

einen Einblick dorthin zu gewähren. Ein tolles<br />

Stilmittel ist hier, wie Hammer die Gefühlswelt<br />

Lissys mit einem „Tier“, welches in ihr lebt und<br />

sich den Situationen entsprechend verhält,<br />

widerspiegelt. Viele solcher Details sind edles<br />

Gut in „Herz, klopf!“.<br />

Chris P<br />

AGNES HAMMER –<br />

NACHT, KOMM!<br />

SCRIPT5 2011<br />

283 Seiten<br />

ISBN: 978-3-839-00125-7<br />

Wie man schon anhand<br />

des Titels vermuten<br />

kann, schließt Agnes<br />

Hammers dritter Roman<br />

an den Erstling „Herz,<br />

klopf!“ an. Es ist an der Zeit für Lissy, endlich<br />

ihre Sozialstunden abzuarbeiten und so wird<br />

sie dazu verdonnert, diese in einem städtischen<br />

Altenheim abzuleisten. Ihren Job erstaunlich<br />

gut meisternd, gerät sie mit einer<br />

Pflegerin, mit der sie sich im Grunde bestens<br />

versteht, in einen Streit, und kurz darauf wird<br />

Nele, so deren Name, tot aufgefunden. Dank<br />

Lissys Polizeiakte und mangels Alibi ist die<br />

Verdächtige schnell ausgemacht, und es war<br />

nicht schlau, sich in genau dieser Nacht mit<br />

Neles Immer-mal-wieder-Freund Daniel zu<br />

treffen. Die Gefühle für ihn sind in heftigem<br />

Zwist mit ihrem Misstrauen gegen ihn, so dass<br />

Lissy bald gar nichts mehr versteht. Doch<br />

wenngleich sie und ihr inneres Tier gepeinigt<br />

werden, da kein Mensch Lissy Glauben schenken<br />

mag, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die<br />

Sache selbst in die Hand zu nehmen, was sie<br />

nicht selten an den Rand der Selbstzerstörung<br />

bringt.<br />

Um es kurz zu machen: „Nacht, komm!“ ist<br />

ein mehr als ebenbürtiger „Herz, klopf!“-Nachfolger,<br />

der unverkrampft geschrieben wurde,<br />

ohne „heftiger, krasser, schlimmer“-Motiv, sondern<br />

genau so grundehrlich und ungeschönt,<br />

wie es in Hammers vorhergehenden Büchern<br />

bereits der Fall war. Absolute Empfehlung, am<br />

besten im Doppelpack mit dem 2009er Debüt.<br />

Chris P<br />

ALLGRÍMUR<br />

HELGASON –<br />

EINE FRAU BEI 1000°<br />

KLETT-COTTA/<br />

TROPEN 2011<br />

400 Seiten<br />

ISBN: 978-3-608-50112-4<br />

2012 I #35 I Literatur<br />

So skurril und lustig wie<br />

dieses Buch mancherorts<br />

angepriesen wird,<br />

ist es keinesfalls – und auch das Cover dieses<br />

400-Seiters mag irreführend sein, denn „Eine<br />

Frau bei 1000°“ ist nur oberflächlich mit Humor<br />

gespickt – der nämlich fußt auf der imposanten<br />

Lebenserfahrung der 80-jährigen<br />

isländischen Protagonistin Herbjörg María<br />

Björnsson, die völlig verkrebst auf ihre Einäscherung<br />

wartet. Nur noch via Laptop und<br />

Internet mit der Außenwelt verbunden und<br />

von zwei Pflegern versorgt, lebt sie in einer<br />

13


14<br />

literaTur I #35 I 2012<br />

Garage und hütet eine Handgranate wie ihren<br />

Augapfel, welche ihr Vater ihr als Kind gegeben<br />

hatte. Nun ist es an der Zeit, mit der<br />

Vergangenheit abzurechnen und hierbei lässt<br />

Herbjörg ihr Leben Revue passieren. Beinahe<br />

biographisch geht sie bis zu ihrer Kindheit in<br />

Island zurück, erzählt von ihrer Familie, von<br />

ihren Erlebnissen, ihren Erfahrungen, ihrem<br />

Erwachsenwerden. Vor allem aber schildert<br />

sie in unglaublich bewegenden und erschütternden<br />

Wortbildern, wie sie den II. Weltkrieg<br />

am eigenen Leib miterlebt hat und von Island<br />

nach Dänemark, Deutschland, Polen, Russland<br />

und weißgottwohin geschoben wurde.<br />

Wertverluste, Tode, Vergewaltigungen, Hunger<br />

und die Ungewissheit, was am nächsten<br />

Tag geschehen mag, pflasterten den harten<br />

Weg, den die damals Heranwachsende gehen<br />

musste – oft allein, verloren in der großen,<br />

weiten Welt, ganz auf sich gestellt. Und<br />

auch nach dem Krieg, in ihrer Zeit in Argentinien<br />

und der Rückkehr nach Island, hat es<br />

die Frau im weiteren Leben nicht einfach. Gesegnet<br />

mit einer scharfen Beobachtungsgabe,<br />

entgleitet der alten Dame oftmals derbster<br />

Galgenhumor und immer wieder finden sich<br />

in diesem Buch wertvolle, kleine große Weisheiten<br />

– hierbei verwundert es nicht selten,<br />

wie der Autor, der schon das legendäre „101<br />

Rejkjavík“ sowie „Zehn Tipps, das Morden zu<br />

beenden und mit dem Abwasch zu beginnen“<br />

geschrieben hat, zu so viel Weisheit und Lebenserfahrung<br />

gekommen ist – hier übertrifft<br />

er sich selbst und hat mal eben einen der<br />

aufrüttelndsten, zerwühlendsten, intensivsten<br />

Romane geschrieben, die in der zweiten Jahreshälfte<br />

2011 erschienen sind. Starker Tobak,<br />

an welchem man noch viele Tage später<br />

zu knabbern hat.<br />

Chris P<br />

WOLFGANG<br />

HERRNDORF – SAND<br />

ROWOHLT BERLIN<br />

475 Seiten<br />

ISBN: 978-3-871-34734-4<br />

Wenn es bei Herrndorfs<br />

Werken einen gemeinsamen<br />

Nenner gibt,<br />

dann ist es der der Unberechenbarkeit,<br />

denn<br />

einem Genre oder dergleichen lässt sich der<br />

gebürtige Hamburger absolut nicht zuordnen.<br />

Schrieb er mit „In Plüschgewittern“ noch eine<br />

Art popliterarischen Roman, war der darauf<br />

folgende Sammelband ein in Nihilismus mündendes<br />

Konvolut aus fünf Kurzgeschichten,<br />

die anfangs zusammenhanglos erscheinen<br />

und zu einem Mobile der Sinnfragen zusammenlaufen.<br />

In beiden dieser... Romane?...<br />

spielten teils sehr sonderbare Figuren die<br />

Hauptrollen, wobei man sich nach der Lektüre<br />

fragen musste: Sind sie eigentlich nicht völlig<br />

normal, gar ein wenig wie Du selbst? Und<br />

dann kam „Tschick“, ein Zwischending aus<br />

literarischem Roadmovie und Jugendroman,<br />

fast „easy reading“.<br />

Spulen wir vor ins Jahr 2011. „Sand“. Ein<br />

Roman, beinahe dicker als alle drei Vorgänger<br />

zusammen. Ein Buch mit Irrungen. Wirrungen.<br />

Enden und Wendungen. Ein Labyrinth,<br />

das gleichermaßen ein bis zum Horizont<br />

wand-, grenzen- und menschenloser Ort ist.<br />

Ein Werk, bestehend aus 69 von Zitaten flankierten<br />

Kapiteln voller bildhafter Wortgewalt,<br />

die einen auf überwältigende Art und Weise<br />

fast zu erdrücken droht. Mit entwaffnend<br />

niedergeschriebenen Gedankengängen, die<br />

einem anhand ihrer schonungslosen Wahrheit<br />

Tränen der Überraschtheit ob der fassungslosen<br />

Übereinstimmung in die Augen treiben.<br />

Messerscharfe Präzision und eine selbstverständliche,<br />

nie prätentiös demonstrierte Intelligenz<br />

als steter Begleiter. Und Feingeist als<br />

das Gewürz, welches für den zerebralen Gaumenorgasmus<br />

sorgt.<br />

Nordafrika, Sahara, wir schreiben 1972. Eine<br />

haarblonde Amerikanerin. Ein gehirnblonder<br />

Ermittler. Ein Atomspion, dessen Hirnwindungen<br />

wohl durch Strahlungen etwas zu<br />

sehr durcheinander geraten sind. Ein Mann,<br />

der nach einem gewaltsamen Überfall sein<br />

Gedächtnis verloren hat und auf der Suche<br />

nach seiner Identität ist. Ein Kriminalfall wartet<br />

auf seine Auflösung. Hippie-Kommunen<br />

im Sandmeer. Zur gleichen Zeit herrscht in<br />

München der „Schwarze September“, Palästinenser<br />

überfallen das olympische Dorf.<br />

Wie hängt das alles zusammen? Bestehen<br />

überhaupt Kohärenzen? Wenn ja: Wo? Wenn<br />

nein: Wo nicht? Was ist, was nicht? Und: Was<br />

ist überhaupt von Relevanz? Existiert eine<br />

solche denn überhaupt? „Protagon-“ oder<br />

„Stat-“ - wer ist welcher „-ist“? Herrndorf strickt<br />

mit „Sand“ eine Story, die einem undurchsichtigen,<br />

komplexen Irrgarten gleicht, durch welchen<br />

verschiedene Figuren wandeln, wobei<br />

man nicht weiß, welche Figuren nun von Bedeutung<br />

sind und welche nicht. Der Leser fühlt<br />

sich fast ein wenig wie der Mann, dessen Erinnerungen<br />

ausgelöscht sind – letzterer sucht<br />

in einem Kapitel mitten in der sengenden<br />

Wüste nach Gegenständen, die er verloren<br />

zu haben meint, und lässt Handvoll für Handvoll<br />

den Sand durch ein sehr grobes Sieb in<br />

Form seiner Finger rieseln, in der Hoffnung,<br />

ein Ergebnis zu erzielen. Jedes Sandkorn ein<br />

Unikat, jedes so einzigartig und doch bedeutungslos,<br />

und irgendwo zwischen all diesen<br />

Körnern muss doch etwas sein. Findet der<br />

Leser das Etwas? Findet es der Mann ohne<br />

Gedächtnis? Ist er nun der, der von einem<br />

Szenario ins nächste irrt, oder ist es der sich<br />

durch das Buch Grabende, der immer wieder<br />

lose Fäden findet, aufgreift, verknüpft, dabei<br />

verheerend-zwirnverheddernd kurz vor der<br />

Verzweiflung steht, einen Moment der Klarheit<br />

erlebt und doch wieder vom Alles ins Nichts,<br />

vom Nichts ins Alles taumelt? Von der Komik<br />

in das Lebensverneinende. Von Depression<br />

gen Sanguinismus. Von faszinierender Buntheit<br />

ins Dunkelgrau. Von - nach.<br />

„Sand“ ist beinahe wie ein Geheimnis, das es<br />

zu ergründen gilt, und es dürfte wohl kaum<br />

verwundern, dass der ein oder andere Leser –<br />

mich eingeschlossen – dieses Buch nochmals<br />

lesen müssen wird, um Schicht für Schicht<br />

hinter das zu kommen, was dort zu finden ist.<br />

Oder nicht zu finden ist. Ein Irrgang ohne oder<br />

mit Ziel. Einen, den man gerne geht, wenn<br />

man sich Herausforderungen gerne stellen<br />

möchte. „Sand“ ist ein Buch, das die Termini<br />

„Literatur“ und „Kunst“ ernsthaft verdient<br />

und für welches die Begriffe „Roman“ und<br />

„Belletristik“ beinahe schon eine Beleidigung<br />

darstellen. Die Antwort auf alle Lateralfragen,<br />

die sich zu diesem Werk stellen, lautet: Jein.<br />

Denn: Die Ratlosigkeit und die offenen Fra-<br />

gen tanzen einen wilden Tanz mit der Zufriedenheit<br />

und der Gewissheit. Verwirre nun ich<br />

Dich, den Leser dieses Magazins? Möglicherweise.<br />

Oder auch nicht. Lies und geh deinen<br />

eigenen Weg. Taste Dich selbst voran. Suche.<br />

Chris P<br />

RICK PARFITT, FRANCIS ROSSI,<br />

INHOFFEN, ANGELIKA –<br />

DIE STATUS QUO AUTOBIOGRAFIE<br />

HANNIBAL-VERLAG 2011<br />

384 Seiten, Broschur<br />

ISBN 978-3-85445-365-9<br />

Die Ü-40-Generation kennt Status Quo in<br />

erster Linie nur noch als mehr oder minder<br />

seichte Bierzelt-Rocker mit schunkeligen Hits<br />

wie “Rockin’ All Over The World“ oder „In The<br />

Army Now“. Dabei waren die Briten nicht nur<br />

musikalisch mal deutlich heftiger drauf, sondern<br />

auch außerhalb der Bühne. Diese offizielle<br />

Biographie der beiden Hauptakteure<br />

Francis Rossi (der mit dem Zopf) und Rick<br />

Parffit (die Löwenmähne) zeichnet davon ein<br />

gutes Bild: Sex, Drugs, zerstörte Hotelzimmer<br />

und Sportwagen – das ganze Rockstar-Programm<br />

gab es auch bei SQ, zumindest zirka<br />

drei Jahrzehnte in der bald 45 Jahre (!) dauernden<br />

Karriere. Eingefleischten Quo-Fans<br />

werden manche Anekdoten bekannt sein,<br />

interessant sind die Einblicke in das Innenleben<br />

dieser Band aber allemal. Und auch mal<br />

unfreiwillig komisch: Rossi behauptet etwa<br />

allen Ernstes, er habe Groupies eher aus<br />

einem Pflichtgefühl und „Höflichkeit“ gebumst.<br />

Parfitt hingegen hat in den Anfangstagen der<br />

Band rosa Lippenstift gekauft und Herzchen<br />

mit seinem eigenen Namen an die Scheiben<br />

des Tourbusses gemalt – weil sich bis dato<br />

schlicht kein Schwein, geschweige denn Mädel,<br />

für ihn interessierte.<br />

Weniger spaßig ist das Thema Drogen, insbesondere<br />

Kokain. Offenbar konsumierten<br />

die Herren zeitweilig tonnenweise. Eines Tages<br />

hatte Rossi dann beim Popeln unter der<br />

Dusche die Reste seiner Nasenscheidewand<br />

am Finger – hm, lecker. Er selbst sagt dazu:<br />

„Ich war wie ein Hund. Ein Straßenköter. Ich<br />

robbte auf allen Vieren durch die Gegend<br />

und bettelte mit heraushängender Zunge Tag<br />

und Nacht um Stoff.“ Die Schattenseite des<br />

Ruhmes, die sich auch auf die persönlichen<br />

Beziehungen der Musiker auswirkte. Auch<br />

zum Erfolgsgeheimnis der Band gibt es eine<br />

Erkenntnis: Die Gegensätzlichkeit von Rossi<br />

und Paffit: Rossi der ruhige und vorausschauend<br />

handelnde ergänzt sich musikalisch wie<br />

menschlich offenbar perfekt mit dem spontanen<br />

und stets im Hier und Jetzt lebenden<br />

Parfitt. Und da die Drogen aus dem Leben<br />

der beiden verschwunden sind, darf man gespannt<br />

sein, wie lange sie Quo-Geschichte<br />

fortschreiben.<br />

JOBRY


BIRGIT QUERENGÄSSER –<br />

DIE FEINE ART DES VÖGELNS<br />

(EIN HANDBUCH FÜR DEN<br />

MODERNEN BEISCHLAF)<br />

TROPEN SACHBUCH/KLETT-COTTA<br />

2011<br />

Zweihundertsex Seiten<br />

ISBN: 978-3-608-40304-3<br />

Die Ex- und Noch-Redakteurin solcher<br />

Zeitungen und Zeitschriften wie Maxim, Playboy, Jolie, Welt am<br />

Sonntag und FAZ versucht sich nun auch als Buchautorin, wobei<br />

dieses rosaseitige, stark chemisch duftende Buch natürlich nicht<br />

ornithologischen Themen gewidmet ist. Anstatt allerdings mit dem<br />

Zeigefinger eine Erektion zu simulieren und dem Leser zu demonstrieren,<br />

wie „es“ nun geht, packt Querengäßer das Thema<br />

auf satirisch-humorvolle Weise an und holt dafür gerne mal den<br />

Holzhammer raus.<br />

Klar, beim Thema Sex schaltet das Gehirn auf Minimalfunktion<br />

um, doch es wäre durchaus wünschenswert gewesen, wenn<br />

manches etwas feingeistiger formuliert worden wäre. Es ist nicht<br />

so, dass das Buch unlustig wäre, aber oftmals wird die Wirkung<br />

des Witzes verfehlt. Pointen werden häufig gesetzt wie vorzeitige<br />

Samenergüsse, oder der Text nimmt hin und wieder auch eine<br />

unerfreuliche Wendung ein – so wie ein Stellungswechsel des<br />

Partners, wo es sich doch gerade bis zu diesem Wechsel so fantastisch<br />

angefühlt hat. Das heißt beileibe nicht, dass „Die feine<br />

Art des Vögelns“ minderqualitativ ist, vielmehr fällt es unter die<br />

Kategorie „Ganz nett, aber die Autorin muss noch üben!“.<br />

Für zwischendurch ganz in Ordnung, aber nicht essenziell.<br />

Chris P<br />

BENEDICT WELLS – FAST GENIAL<br />

DIOGENES 2011<br />

322 Seiten<br />

ISBN: 978-3-257-06789-7<br />

New Jersey. Der etwa 18 Jahre alte Francis<br />

Dean lebt mit seiner Mutter unter finanziell<br />

schwierigen Bedingungen in einem abgeranzten<br />

Trailerpark und es scheint ganz so, als<br />

ob dieser Platz auf ewig für ihn, den Loser,<br />

bestimmt sei. Eines Tages erfährt er jedoch,<br />

dass er ein Retortenkind ist. Francis’ Mutter nahm zur „Zeugungszeit“<br />

an einem fragwürdigen Experiment teil, in welchem ausschließlich<br />

das Sperma von Genies schockgefrostet wurde, um<br />

auf diese Weise extrem intelligente Nachkommen zu züchten.<br />

Durch eine undichte Stelle im Netz der Verschwiegenheit kommt<br />

er Schritt für Schritt an die Information, dass sein Dad ein genialer<br />

Harvard-Wissenschaftler sei.<br />

Seine Mutter landet – wie schon so oft – in der Psychiatrie und<br />

unternimmt dort einen Selbstmordversuch. Die Katze beißt sich in<br />

den Schwanz, denn so bleibt Francis weiter in diesem Teufelskreis<br />

gefangen – just an diesem Tag lernt er die drei Zimmer weiter stationierte,<br />

schwer durchschaubare, labile, unstete Anne-May kennen,<br />

für die er mehr und mehr empfindet. Sie hält dieses Leben<br />

zwischen Psychiatrie und dem strengen Elternhaus nicht mehr<br />

aus und möchte einfach nur noch weg. Raus dort. Aus dem alten<br />

Leben ausbrechen. Schnell ist Francis klar, dass er zwei Fliegen<br />

mit einer Klappe schlagen kann: Wenn sein Vater kein Loser ist,<br />

kann er unmöglich selbst einer sein. Er muss ihn finden, und das<br />

so schnell wie möglich. Im selben Zug kann er auch Anne-May<br />

eine große Hilfe sein.<br />

Grover, ein leicht nerdiger, verschrobener, aber hochintelligenter<br />

Querkopf, unterstützt die beiden und so begeben sich die drei auf<br />

die Suche nach Francis’ Erzeuger – und nach ihrem eigenen Ich.<br />

Mit dramatischen Wendungen und emotionalen Achterbahnen<br />

gespickt, weiß der 1984 in München geborene Autor mit seinem<br />

dritten Roman unglaublich spannende Szenen zu schreiben, und<br />

dies tut er in einer dermaßen lebensnahen, ungeschönten, direkten<br />

Art, die unter die Haut geht. Kein unnötiges Geschwurbel,<br />

keine grammatischen Mäander, einfach nur klare Worte – diese<br />

allerdings werden so clever und geschickt miteinander verwoben,<br />

2012 I #35 I Literatur<br />

15


16 literaTur I #35 I 2012<br />

dass man zu dem Schluss kommen muss, dass Genialität nicht zwangsläufig mit<br />

einer gehobenen Ausdrucksweise zusammenhängen muss. Die Bilder, die Wells<br />

erschafft, nehmen dem Leser stellenweise regelrecht die Luft und man hat die<br />

ganze Zeit das Gefühl, man befände sich mitten in der Story – als unsichtbarer<br />

Begleiter. „Fast Genial“ ist auf anspruchsvolle Weise roh und unverfälscht, und<br />

das ist eine Begabung, mit der nur wenige Autoren gesegnet sind. Mir behagt<br />

es kaum, diesen Terminus zu benutzen, aber dieses Buch ist schlichtweg ein<br />

Must-have.<br />

Chris P<br />

BRENNA YOVANOFF – SCHWEIGT STILL DIE NACHT<br />

SCRIPT5 2011<br />

367 Seiten<br />

ISBN: 978-3-8390-0127-1<br />

Wer ist Mackie Doyle? Oder besser: Was ist er?<br />

In einer amerikanisch-provinziellen Kleinstadt namens<br />

Gentry wächst dieser junge Mann auf, und er war schon<br />

immer etwas anders. Seine schwarzen Augen.<br />

Seine körperlich extremen Reaktionen auf Metall und auf<br />

Blut. In seiner Schule hat er schon früh den Ruf eines<br />

Freaks und der verfolgt ihn auch weiterhin. Es dauert nicht lange und Mackie erfährt,<br />

dass er nicht aus dieser Welt stammt, sondern aus der Unterwelt, tief unter<br />

der Erde, wo wandelnde Tote, nach Verwesung stinkend, ihr „Leben“ leben. Diese<br />

Unterwelt wird von einer grausamen Herrscherin angeführt und diese ordnete<br />

an, in regelmäßigen, großen Abständen ein Baby zu opfern und dieses durch ein<br />

Kind aus der Unterwelt der bodenlosen Tümpel zu ersetzen.<br />

Angetrieben vom Drang, einfach nur ein normaler Mensch zu sein, muss sich<br />

Mackie dem Abenteuer unter der Erde stellen und erfährt Dinge, die so nicht<br />

zu erwarten gewesen wären. Zudem stellt sich bei dem Wandeln dieses neuen<br />

Pfades auch die Frage, wer nun Freund oder Verbündeter und wer das genaue<br />

Gegenteil ist.<br />

Nun mag der Leser denken, dass es sich bei „Schweigt<br />

still die Nacht“ um einen profanen Urban-Mystery/Fantasy-<br />

Roman für Jugendliche handelt, doch die Befürchtung zerschlägt<br />

sich. Klar, ein bisschen Romanze ist auch in diesem<br />

Buch zu finden, doch das war es dann auch schon mit Klischees,<br />

denn diese Story ist sehr häufig um einiges gruseliger,<br />

ekliger und blutiger als das Gros der derzeit beliebten<br />

Genrevertreter – und anstatt Hochglanz-Schlüpferstürmer-<br />

Bilder in den Kopf zu transportieren, arbeitet die junge<br />

Schriftstellerin mit deutlich anderen Stilmitteln. So sind die<br />

Charaktere um einiges merkwürdiger, cooler, sonderbarer;<br />

und das ist letztendlich authentischer und „glaubwürdiger“<br />

(ja, ich weiß, ein Widerspruch bei dieser Romansparte...)<br />

als so manches, was derzeit unter anderem auch das audiovisuelle<br />

Licht der Welt erblickt hat. Trotz aller Bildhaftigkeit<br />

und vieler Verflechtungen meistert Yovanoff es sehr gut,<br />

das Ganze flüssig lesbar zu halten. Und trotz aller Spannung<br />

lässt sich „Schweigt still die Nacht“ sehr entspannt<br />

lesen – immer mit kleinen Pausen zwischendrin, damit man<br />

das bisher Gelesene sich erst mal auf den Boden setzen<br />

lassen kann.<br />

Chris P<br />

JODI PICOULT –<br />

IN DEN AUGEN DER ANDEREN<br />

Diverse Sprecher (2011)<br />

(Lübbe Audio)<br />

Ein Autist unter Mordverdacht?<br />

Der hochintelligente Jacob Hunt, der<br />

ein Faible für Kriminaltechnik hat, leidet unter dem Asperger-Syndrom<br />

und seine Mutter Emma tut alles Erdenkliche<br />

für ihn, damit sein routinierter Tagesablauf nicht gestört wird<br />

und dass alles, was er hasst – wie zum Beispiel die Farbe<br />

orange – vermieden wird. Selbst die Speisen folgen einem<br />

Schema: Sie müssen montags grün sein, dienstags rot. Alle<br />

haben sich nach seinen „Macken“ zu richten, und das sorgt<br />

natürlich für einige Reibereien. Jacobs Sonderstellung ist<br />

besonders für seinen Bruder Theo kaum zu ertragen, da dieser<br />

hierdurch häufig in den Hintergrund gedrängt wird. Aber<br />

letztendlich akzeptiert sein Umfeld ihn, denn schließlich<br />

kann er ja nichts für seine Krankheit.<br />

Seine Erzieherin Jess wird eines Tages tot aufgefunden und<br />

Jacob gerät durch eine undurchsichtige und extrem schlechte<br />

Beweislage in das Visier der Ermittler. Mit Hilfe seiner<br />

Mutter kämpft er gegen die Mühlen der Justiz und für die<br />

Rechte andersartiger Menschen.<br />

Grundsätzlich ist dies nicht Picoult’s bester Roman und in<br />

Druckform mag er vielleicht gar nicht mal so prickelnd beim<br />

Leser ankommen. Aber das Entscheidende ist oftmals das<br />

„Wie“, und dieses wertet den Roman in Hörbuchform irrsinnig<br />

auf: Fünf verschiedene Sprecher (Nicolas Artajo als Jakob,<br />

Maximilian Artajo als Bruder Theo, Irina Scholz als Mutter<br />

Emma, Philipp Schepmann als Anwalt Oliver sowie Rolf<br />

Berg als Detective Rich) bringen die Ineinanderverzahntheit<br />

und den Multiperspektivismus der fünf Erzählebenen grandios<br />

zur Geltung, so dass man recht bald in den Bann der einzelnen<br />

Charaktere gezogen wird, zumal die Stimmen kaum<br />

besser hätten gewählt werden können. Eine imaginäre Visualisierung<br />

des Geschehens und der einzelnen Figuren wird<br />

hierdurch extrem vereinfacht, man ist sofort „drin“, und gerade<br />

das ist ja oftmals der Knackpunkt bei Hörbüchern. Der<br />

Erfolg, den das Hörbuch derzeit zu haben scheint, ist also –


zumindest aus subjektiv empfundener Position<br />

– gerechtfertigt.<br />

Chris P<br />

RALF SCHMITZ –<br />

SCHMITZ’ MAMA<br />

(ANDERE HABEN<br />

PROBLEME, ICH HAB’<br />

FAMILIE)<br />

Autorenlesung (2011)<br />

(Argon Hörbuch)<br />

Komiker und (Hör-)Bücher. Das geht oftmals<br />

gnadenlos in die Hose. Dass Ralf Schmitz diesbezüglich<br />

eine rühmliche Ausnahme ist, bewies<br />

er bereits mit „Schmitz’ Katze – Hunde haben<br />

Herrchen, Katzen haben Personal“ nachhaltig.<br />

In jenem Buchdebüt erzählte der offensichtlich<br />

dauergutgelaunte, 1,68 m große Turbo-Flummi<br />

herrlich unterhaltsam und beinahe in Form<br />

einer Biographie seines Lebens mit all seinen<br />

flauschigen, scharfkralligen Hausraubtierchen.<br />

Doch erst in Hörbuchform macht das Ganze so<br />

richtig Spaß, denn man merkt förmlich, wie der<br />

gebürtige Leverkusener voll in seinem Element<br />

ist und in seinen Erzählungen aufblüht. Man<br />

kann sich lebhaft vorstellen, wie er auf seinem<br />

Stuhl, auf und ab hüpfend, wild gestikulierend<br />

und grimassierend seine Erzählungen wiedergibt.<br />

Nun legt der umtriebige, auch als Schauspieler<br />

und Synchronsprecher aktive Sympath mit<br />

„Schmitz’ Mama“ eine weitere, 272 Minuten<br />

lange Semibiographie vor, in der er von sich<br />

und seiner Familie, besonders aber von Mutti<br />

erzählt. Es ist fast überflüssig zu erwähnen,<br />

dass dem Autor und Vorleser auch dieses Mal<br />

ein herrlich gefühlvoll vorgetragenes Werk gelungen<br />

ist, in dem sich ein Lacher an den nächsten<br />

reiht. Und man kann beinahe mitfühlen,<br />

wie Klein Ralfi, beziehungsweise der später<br />

(geringfügig) größere Ralf in sämtlichen Situationen<br />

unter seiner Familie „leidet“, inklusive<br />

Situationskomik und Peinlichkeiten. Denn<br />

sind wir mal ehrlich: Irgendwie hat man all diese<br />

Erfahrungen doch selbst auch machen dürfen.<br />

Nicht selten muss man augenrollend und<br />

grinsend energisch Luft einsaugen, langsam<br />

nicken und sich sagen: „Hach ja... genau so.<br />

Ge-nau so!“. Die streitenden Eltern im Auto,<br />

während man auf der Rückbank tausend Tode<br />

stirbt. Oder man war krank und Mama schaute<br />

alle zehn Minuten am Bett vorbei, ob denn<br />

wirklich alles in Ordnung sei. Oder: „Holst<br />

du mal eben bitte den Dingens aus der Dingens?“...<br />

Oder die hoffnungslosen Versuche,<br />

Muttern die moderne Technik zu erklären. Oder<br />

das erste Mal woanders schlafen. Oder Mamas<br />

sechster Sinn. Ihre Umräumaktionen. Ihre<br />

Lebenshilfe. Ihre kulinarischen Unfälle. Oder<br />

Weihnachten. Oder, oder, oder. Hierbei ist es<br />

einfach zu köstlich, wie Schmitz sich bei alledem<br />

aufregt, so dass man glauben könnte, der<br />

Arme sei im Tonstudio mehrmals dem Herzinfarkt<br />

nahe gewesen, und das setzt der ohnehin<br />

schon enorm spaßigen Angelegenheit das berühmte<br />

Sahnehäubchen auf. Besser geht audioliterarische<br />

Unterhaltung kaum noch.<br />

Chris P<br />

ANTHONY E. ZUIKER<br />

& D. SWIERCZYNSKI –<br />

LEVEL 26<br />

(DARK ORIGINS)<br />

Gelesen von<br />

Udo Schenk (2009)<br />

(Lübbe Audio)<br />

Serienfans und -junkies dürften beim Lesen<br />

des Namens des erstgenannten Autoren bereits<br />

interessiert die Stirn in Falten legen, wenn<br />

sie nicht eh schon vertraut mit seinen Kriminalromanen<br />

sind, denn der US-Amerikaner hat<br />

sich durch zahlreiche Drehbücher für sämtliche<br />

drei CSI-Ableger sowie als Produzent dieser<br />

Serien Kultstatus erarbeitet. Nun möchte Zuiker<br />

wohl auch den Literaturdschungel aufrütteln<br />

und präsentiert sein Romandebüt „Level<br />

26 – Dark Origins“:<br />

Seit fast zwei Dekaden treibt der brutale Serienmörder<br />

Sqweegel, dessen Name er dem<br />

Geräusch seines Ganzkörper-Latexanzugs<br />

verdankt, sein Unwesen. Die Art und Weise,<br />

wie der irre Psychopath seine Opfer hinrichtet,<br />

ist grausam und extrem blutig. In den USA<br />

werden Gewaltverbrecher und Mörder in 25<br />

verschiedene Level kategorisiert, wobei Level<br />

eins für Zufallstäter gilt, Level 25 für Schlächter<br />

und Folterer. Doch Sqweegel ist brutaler<br />

als alles Dagewesene – für ihn wird Level 26<br />

definiert. Lange wird erfolglos Jagd auf ihn gemacht,<br />

doch nachdem die Bestie einen Menschen<br />

zur Strecke bringt, der Geheim-Connections<br />

zum Oval Office hat, entscheidet<br />

der Verteidigungsminister der Staaten, den<br />

früheren Geheimagenten Steve Dark zu reaktivieren.<br />

Diesem nahm das Latexmonster<br />

vor vielen Jahren das Leben seiner Pflegeeltern,<br />

wodurch Darks Fall der wohl emotionalste<br />

seiner gesamten Karriere ist. Eine erbitterte<br />

Jagd – seine zweite auf Sqweegel – beginnt<br />

und selbst herbe Rückschläge und persönliche<br />

Verluste halten ihn nicht von seiner Mission ab,<br />

diesen kranken, hochcleveren und angstfreien<br />

Wahnsinnigen auszuschalten.<br />

Die beiden Autoren wortzeichnen die Figuren<br />

der Story sehr präzise und plastisch auf die<br />

innere Leinwand und lassen den Rezipienten<br />

nicht nur die blutigen Szenarien betrachten,<br />

sondern gewähren ihm auch Einblicke in die<br />

Gedankenwelt der verschiedenen Charaktere.<br />

Ergänzt wird diese Story durch sogenannte<br />

„Cyberbridges“, die das Werk noch einmal<br />

vertiefend beleuchten, wobei im Internet unter<br />

www.level26.<strong>com</strong> Kurzfilme, Audioclips oder<br />

interaktive Inhalte mittels Code freigeschaltet<br />

werden müssen.<br />

Die Idee ist große Klasse, nur gelingt es Zuiker<br />

nicht ganz, die Spannung so sehr aufrecht zu<br />

erhalten, wie es ihm in seinen CSI-Serien gelingt,<br />

und auch die Story ist weniger originell, als<br />

man es eigentlich erwarten würde. Wenngleich<br />

„Level 26 – Dark Origins“ solide Krimi-Kost<br />

ist, mag sich keine grenzenlose Begeisterung<br />

einstellen, da vieles trotz spürbar herzblutgetränkter<br />

Details und Mini-Cliffhanger ein wenig<br />

profan erscheint. Da auch die filmischen Internetbeiträge<br />

(unter anderem besetzt mit Daniel<br />

Buran, Michael Ironside, Ava Gaudet, Tauvia<br />

Dawn, Bill Duke und Daniel Browning Smith)<br />

bei weitem nicht die Qualität des „Originals“<br />

erreichen, bleibt ein wenig Enttäuschung zurück<br />

– was aber anhand der außerordentlich<br />

hohen CSI-Standards fast abzusehen war. So<br />

kann man dieses Hörbuch, das hervorragend<br />

von Synchronsprecher und Schauspieler Udo<br />

1717<br />

2010 I #31 2012 I Edition I #35 I PaperONE Hörbuch 17<br />

Schenk vorgetragen wird, nicht unbedingt im<br />

Hörkrimi-Olymp verorten. Da ein verständlicher<br />

Stil und eine überwiegend lineare Storyline<br />

vorliegen, verarbeitet sich das sechs CDs<br />

starke Konglomerat aus Gemetzel und Wahnsinn<br />

allerdings sehr leicht, wodurch der Hörer<br />

eher unterhalten als gefordert wird. Und letztendlich<br />

muss so etwas auch mal sein. Daumen<br />

zu 45° nach oben.<br />

Chris P<br />

ANTHONY E. ZUIKER<br />

& D. SWIERCZYNSKI –<br />

LEVEL 26 (DUNKLE<br />

PROPHEZEIUNG)<br />

Gelesen von<br />

Udo Schenk (2011)<br />

(Lübbe Audio)<br />

Es ist unschwer zu erkennen, dass dieses (Hör-)<br />

-Buch gewissermaßen die Fortsetzung von<br />

„Level 26 (Dark Origins)“ ist. Nachdem Ermittler<br />

Steve Dark den grausamen Killer Sqweegel<br />

stoppen konnte und ihn, nachdem ihm die<br />

Sicherungen durchgebrannt sind, aufs Grausamste<br />

hinrichtete, fällt er in ein psychisches<br />

Tief. Dark quittiert den Dienst. Doch es dauert<br />

nicht lange, und ein neuer Killer ist unterwegs.<br />

Einer, der seine Opfer nach Tarot-Motiven tötet.<br />

Der eigentlich darauf angesetzte Hüter des<br />

Gesetzes gerät schnell an seine Grenzen, und<br />

das bemerkt Steve Dark. So bleibt diesem gar<br />

nichts anderes übrig, als einmal mehr wieder<br />

selbst aktiv zu werden und den Serienmörder<br />

auszuschalten. Ihm fehlen allerdings die finanziellen<br />

Mittel. Eines Tages nimmt eine eigenartige<br />

Frau Kontakt zu ihm auf, die von ihm verlangt,<br />

exklusiv für sie Serienkiller zu jagen; und<br />

zwar ohne Budgetbegrenzung und ohne Respekt<br />

vor Moral und Justiz. Eine gefährliche,<br />

ereignisreiche Jagd beginnt und für Dark wird<br />

diese zu einem wahren Spießrutenlauf, während<br />

welchem auch er selbst in das Fadenkreuz<br />

der Ermittlungen gerät.<br />

Diejenigen, die erwarten, dass der zweite „Level<br />

26“-Teil noch brutaler, noch heftiger, noch<br />

höher/schneller/weiter als der erste ist, werden<br />

eventuell etwas enttäuscht sein. Denn es<br />

ist eher das Gegenteil der Fall – der Fokus ist<br />

nicht mehr ganz so sehr auf das Blutige gerichtet,<br />

bestimmten anderen Faktoren werden<br />

hingegen höhere Prioritäten zugeordnet. Stellenweise<br />

werden zum Beispiel die Psyche von<br />

Dark sowie die diverser anderer Charaktere intensiver<br />

beleuchtet. An sich haben wir es hier<br />

mit einem wirklich guten Hörbuch-Thriller zu<br />

tun, der schlichtweg einen anderen Weg einschlägt<br />

als man eventuell vermutet hätte. Doch<br />

während Sprecher Udo Schenk auf dem vorangegangenen<br />

Werk richtige Klasse abgeliefert<br />

hatte und seine Stimme wie ein Sog wirkte,<br />

scheint er bei „Dunkle Prophezeiung“ mit nicht<br />

ganz so viel Leidenschaft an die Arbeit gegangen<br />

zu sein, denn hin und wieder fällt das kontinuierliche<br />

Zuhören ein wenig schwer. Daher<br />

erschlafft der Daumen im Vergleich zum ersten<br />

„Level 26“-Roman ein wenig und neigt sich um<br />

5-10° nach unten. Was allerdings nicht heißen<br />

soll, dass Zuikers zweiter Roman, der ebenfalls<br />

durch Cyberbridges auf www.level26.<strong>com</strong><br />

ergänzt wird, nicht von überdurchschnittlicher<br />

Qualität ist. Da wäre schlichtweg mehr drin gewesen.<br />

Chris P


18 Excuse Me Fire I #35 I 2012<br />

EMF: „Wir hatten eigentlich entschieden, auf<br />

Wettbewerbe künftig zu verzichten, nachdem<br />

wir bei Emergenza mitgemacht haben...<br />

nN: ...pfui Deibel...!!!<br />

Leider wussten wir das erst danach, nachdem<br />

man Perlen vor die Säue geworfen<br />

hatte, dass das vielleicht nicht die richtige<br />

Entscheidung war. (Lachend) Laut Stimmenanzahl<br />

waren wir zweitschlechteste Band<br />

Münchens.<br />

Also habt Ihr Euch geweigert, als Versicherungs-<br />

bzw. Eintrittskartenvertreter in<br />

eigener Sache tätig zu werden. Ihr habt<br />

nicht in deren Sinn funktioniert!<br />

Ja, genau. Unser Schlagzeuger Julian ist dann<br />

drauf gekommen, dass es noch einen weit<br />

besseren Wettbewerb gab...<br />

Ich würde Euch ja zum Sprungbrett im Feierwerk<br />

raten, der von der Stadt München<br />

getragen wird, das ist dann auch seriös.<br />

Emergenza, das geht ja gar nicht.<br />

Ja, solche Überlegungen haben wir nun auch.<br />

Band des Jahres in München 2012 würde<br />

sich doch cool anhören. Und, also, wie lief<br />

das jetzt?<br />

Es waren drei Clubs, u. a. das Village in<br />

Habach...<br />

...der alte Blueserschuppen.<br />

EMF: Genau.<br />

Ach, und da habt Ihr dann als Sieger auch<br />

aufgenommen? Da haben doch bestimmt<br />

die Blueser um Euch rumgesessen und<br />

Euch erklärt, wie Musik geht.<br />

EMF: Ja, einer! Aber man hat sich da auch<br />

wirklich toll um uns gekümmert!<br />

Ganz ordentlich vorbereitet kamen sie zu den<br />

Takes, So nahmen sie nicht nur ’ne EP auf,<br />

wie eigentlich beabsichtigt, nein, sie haben in<br />

4 Tagen eine Full-Length-Scheibe reingeklopft.<br />

Auf den Punkt! Abweichungen vom Plan allerdings<br />

und so ganz grundsätzliche Entscheidungen,<br />

die brauchen bei den Indierockern.<br />

Man entscheidet nämlich streng basisdemokratisch,<br />

auch wenn das Zeit kostet. Die<br />

Macht des Vetos. Siehe EU. Und jeder soll<br />

sich auch in jedem Song wiederfinden, wobei<br />

inzwischen die verschiedenen Ansätze nicht<br />

mehr durch die unterschiedlichen Songs nur<br />

nebeneinander stehen, sondern – auch in<br />

längeren Kompositionen – die verschiedenen<br />

Pole aufeinander zu entwickelt werden. Die<br />

Experimentierfreude gehört hier zur Grund-


Excuse Me Fire I #35 I 2012 19<br />

EXCUSE ME FIRE –<br />

DIE ANGESCHRÄGT ROCKENDE BASIS-<br />

DEMOKRATIE<br />

Ich hab mich mal wieder in ‘ne Band verknallt.<br />

Und wenn das so ist, dann muss geredet werden. Vier Jungs aus<br />

dem Münchner Indie-Vorgarten, alle aus dem gleichen Kaff, in<br />

dem nach langem Kampf kein Platz für ein autonomes Jugendzentrum<br />

mehr war. Außer dem Drummer waren alle da.<br />

Vorgeschichte des Albums: Sie gewannen einen südbayerischen<br />

Bandwettbewerb und konnten es sich so leisten, einige Tage in<br />

einem professionellen Studio aufzunehmen...<br />

ausstattung. Und der Widerwillen gegenüber<br />

zu gerade-berechenbaren Songs... Aber,<br />

Hand aufs Herz...<br />

Wie viel Prozent der Schrägen klingen<br />

so, weil es gewollt war, und wie viel ist<br />

passiert?<br />

Das ist unglaublich schön, dass Dir das aufgefallen<br />

ist. Ich mach gerade das Info zur Platte<br />

und das hat vor allem auch mit Ecken und<br />

Kanten zu tun... Die schrägen Töne, Disharmonien,<br />

die brauchen wir!!! All die normalen,<br />

klaren, reinen Töne, wenn da nichts mehr<br />

hakt, knallt, das kennt man doch aus den<br />

ganzen 08/15-Radiosendern, die spielen doch<br />

diese ganze überproduzierte triviale Musik.<br />

Nönönö, trivial sind Excuse Me Fire nun wirklich<br />

nicht, Und so mutig es ist, die Abweichler<br />

zu geben und das auch noch neu zu definieren<br />

und das nicht kopfgesteuert zu machen,<br />

sondern garagendancegroovekompatibel,<br />

und das in dem zarten Twenty-and-a-bit-Alter,<br />

ja, ich komm wieder ins Schwärmen. Siehe<br />

oben. Wir verfolgen das für Euch weiter.<br />

Andrasch Neunert


20 Radiozeug I #35 I 2012<br />

Michael<br />

Klein<br />

Bojan<br />

Wilytsch<br />

DIE CHARTS -<br />

SELBSTGEMACHT<br />

In der letzten Ausgabe unseres Heftes hatten wir uns bereits mit dem Thema<br />

Charts beschäftigt, also mit den Charts, die man „so kennt“ und kamen zu der<br />

Erkenntnis, dass die eigentlich keiner braucht, weil die eh nicht die Realität<br />

im Sinne von „Beliebtheit“ abbilden. RADIOZEUG bietet nun „automatische<br />

Playlisten durch die Auswertung von im Radio gespielter Musik“ – guter Ansatz,<br />

die Charts zeigen hier schließlich genau das, was die Leute hören, respektive<br />

mögen, oder?! Wir haben mal bei Michael Klein, dem Initiator von RADIOZEUG,<br />

nachgefragt, was es mit der ganzen Sache denn auf sich hat …


nN: Was machst Du mit Deinen Charts,<br />

die ja zunächst mal reine Radiocharts<br />

sind, anders und warum macht das aus<br />

Deiner Sicht Sinn?<br />

Michael: Wir versuchen zunächst, durch<br />

die gezielte Auswahl von Radiosendern<br />

für junge Leute eben genau diese Klientel<br />

anzusprechen. In Zukunft erweitern wir auch<br />

die Anzahl der aufgenommenen Sender, also<br />

derjenigen Stationen, deren Airplays in unsere<br />

Charts mit einfließen sollen, sukzessive.<br />

Der Besucher kann mit ein paar Werkzeugen<br />

die Charts sogar weiter individualisieren. Ein<br />

paar dieser Funktionen gibt es bereits, so<br />

kann er „seine“ Charts in Bezug auf seinen<br />

Lieblingssender, Lieblingsinterpreten und<br />

Lieblingssongs einerseits, aber auch nach<br />

Genre und Musikrichtung auswählen.<br />

Wie muss man sich das technisch vorstellen,<br />

wie funktioniert das?<br />

Bei der Web-App, also der Software „Radiozeug“,<br />

laufen mehrere Prozesse gleichzeitig<br />

ab, die regelmäßig wiederholt werden.<br />

Einer der wichtigsten ist es, herauszufinden,<br />

welcher Track aktuell bei den Radiosendern<br />

läuft. Songname und Interpret werden dann<br />

gespeichert, mit Datum und Uhrzeit versteht<br />

sich. Dadurch können wir natürlich feststellen,<br />

wann welche Songs wie oft gespielt<br />

werden. Gleichzeitig versuchen wir, sinnvolle<br />

Informationen im Netz zu finden, wir schauen,<br />

was auf Musik-Plattformen wie „last.<br />

fm“, „Soundcloud“, „Youtube“, „Tape.tv“<br />

und ähnlichen Seiten so zu finden ist und verbinden<br />

diese Informationen mit dem Song.<br />

All das findet der Besucher dann gesammelt<br />

und ganz bequem auf unserer Plattform vor.<br />

Wenn die Software den Track selbst<br />

„entdeckt“, dann sollten zum Beispiel<br />

„Rechtschreibfehler“ ja unbedingt vermieden<br />

werden …<br />

Ja, das ist unter anderem ein wichtiger<br />

Punkt. Noch nicht alles funktioniert perfekt,<br />

alles befindet sich in einem ständigen<br />

Entwicklungsprozess. Man muss letztendlich<br />

sagen, dass sich die Web-App noch im<br />

Anfangsstadium der Entwicklung befindet,<br />

daher wird der Besucher auch hier und da<br />

noch ein paar Fehler bemerken. Hier haben<br />

wir ein eigenständiges Feedback-System<br />

entwickelt, dort können Besucher anonym,<br />

direkt und öffentlich Verbesserungsvorschläge<br />

einreichen und somit am Portal mitwirken.<br />

Bitte erkläre mal kurz „Web App“ ...<br />

Eine Web-App wird vom Benutzer mittels<br />

seines Browser aufgerufen und soll sich wie<br />

ein installiertes Programm beziehungsweise<br />

eine „App“ auf dem eigenen Gerät – dies<br />

kann zum Beispiel ein „Smartphone“ sein<br />

– bedienen und nutzen lassen. Diesen Weg<br />

wollen wir mit „Radiozeug“ gehen.<br />

Welche Radiostationen sollen denn letztlich<br />

in die Chart-Ermittlung einbezogen<br />

werden und welche nicht?<br />

Momentan sind es noch recht wenige Radiostationen.<br />

In Zukunft wird die Anzahl noch<br />

weiter wachsen. Die konkrete Auswahl hängt<br />

davon ab, ob sich hinter dem Radiosender<br />

eine weitgehend professionelle Redaktion<br />

befindet und ob diese mit ihrer Musikauswahl<br />

eine Zuhörerschaft gewinnen konnte.<br />

Dabei ist es dann auch fast unerheblich, ob<br />

es sich um ein Web-Radio, Podcast oder ein<br />

anderes Format handelt. „Radiozeug“ versteht<br />

sich als „Musikportal zum Entdecken<br />

und Hören“. Daher gehen wir bereits jetzt<br />

einen Schritt weiter und versuchen, andere<br />

Charts – wie solche von „Soundcloud“ oder<br />

die der „Itunes-Podcasts“ – mit einzubeziehen.<br />

Ich muss nochmal auf die Auswahl derjenigen<br />

Sender zurück kommen,<br />

die in die Ermittlung der Charts einfließen<br />

sollen? Kann sich beispielsweise ein<br />

Sender auch bei Dir „bewerben“?<br />

Momentan handelt es sich noch, wie gesagt,<br />

um eine Auswahl von Radios, welche weitgehend<br />

junge Leute anspricht. Natürlich kann<br />

jeder sein Lieblingsradio einreichen oder aber<br />

die Radios wenden sich direkt an uns. Doch<br />

versprechen können wir momentan nichts,<br />

da es noch ein paar technische Herausforderungen<br />

gibt, bevor wir eine größere Zahl an<br />

Sendern aufnehmen können.<br />

Was genau verstehst Du unter „weitgehend<br />

professionelle Redaktion“,<br />

diese Formulierung hattest Du gerade<br />

gewählt …?<br />

Damit meine ich eine ein- oder mehrköpfige<br />

Redaktion, welche sich ernsthafte Gedanken<br />

darüber macht, wann welche Musik gespielt<br />

wird, welche in das Programm aufgenommen<br />

und welche aussortiert wird. Es gibt<br />

ja viele Web-Radios, die einen Großteil der<br />

Sendezeit eine einzige Playlist immer wieder<br />

durchlaufen lassen.<br />

... was, zugegebenermaßen, das Bild<br />

nicht unerheblich verzerren würde.<br />

Denkst Du da eventuell auch an eine „Gewichtung“,<br />

also das Airplay im „öffentlich<br />

rechtlichen“ Radio wird beispielsweise<br />

höher bewertet als das irgendeines<br />

„Onliners“?<br />

Ich denke nicht, dass das genutzte „Sendemedium“,<br />

also Funk oder Internet, etwas<br />

über die Wertigkeit der von der Redaktion<br />

getroffenen Auswahl der Musik aussagt. Vielmehr<br />

ist es denkbar, die Radiostationen nach<br />

der Anzahl ihrer Zuhörer einzuordnen. Denn<br />

scheinbar findet ja ein populärer Sender mehr<br />

Anklang bei den Musikfans als ein anderer.<br />

Darin sehe ich aber auch eine gewisse<br />

Gefahr; so glaube ich, dass große „öffentlich-rechtliche“<br />

Sender über das normale<br />

„Ätherradio“ vor allem auch deshalb<br />

gehört werden, weil sie, je nach Sendegebiet,<br />

einfach besser zu empfangen sind.<br />

Ich höre beispielsweise lieber WDR 5 als<br />

Radiozeug I #35 I 2012<br />

WDR 2, bekomme letzteres aber einfach<br />

besser rein …<br />

Da stimme ich dir zu – der gefürchtete Mainstream,<br />

der auch dadurch zustande kommt,<br />

dass ihn die Masse hört, und dies wiederum<br />

oft nur deshalb, weil er auf gut empfangbaren<br />

Sendern läuft und daher ständig präsent<br />

ist. Das objektive Bewerten von Inhalten<br />

ist keine einfache Herausforderung. Genau<br />

da sollen unsere Werkzeuge greifen, das<br />

Individualisieren der Charts ist ein wichtiger<br />

Punkt. Denn durch das Auswählen eines bestimmten<br />

Interpreten oder Genres „taucht“<br />

man sozusagen in eine Unterkategorie ab<br />

und bekommt „seine“ Charts zu „seiner“<br />

persönlichen Auswahl.<br />

„Radiozeug“ könnte also durchaus auch<br />

den kleineren Indie-Bands die Chance<br />

bieten, ein Chart-Feedback zu bekommen.<br />

War das Dein Motiv für die Gründung<br />

von „Radiozeug“?<br />

Ich höre zu jeder Tages- und Nachtzeit<br />

Musik, und in jedem Zimmer meiner Wohnung<br />

habe ich Lautsprecher meiner Anlage<br />

hängen. Ich hörte im Laufe einiger Tage<br />

immer wieder die gleichen, neuen und interessanten<br />

Sachen, hatte aber mein Handy<br />

mit „Shazam“ (ein Musik-Erkennungsdienst<br />

für „Smartphones“, die Red.) nicht immer zur<br />

Hand. Da wurde die Idee geboren – und heute<br />

haben wir bereits mehr als nur die „Top-<br />

Neueinsteiger der Woche je“ Radiosender.<br />

Gibt es die Idee, die Sache so zu „professionalisieren“,<br />

so, dass Du auf Dauer<br />

selbst davon leben kannst?<br />

Ich gehe nicht unbedingt davon aus, dass<br />

auf Anhieb bei uns so alles klappt. Vielmehr<br />

betrachten wir das Ganze zunächst als ambitioniertes<br />

Projekt, welches weiter verfeinert<br />

werden und reifen muss. Mit ausreichend<br />

Geschick wird es dann sicher auch finanziell<br />

Früchte tragen.<br />

Keule<br />

www.radiozeug.de<br />

21


22<br />

Highlights I #35 I 2012<br />

ARARAT - II<br />

(Elektrohasch)<br />

Sergio Chotsourian, Alfredo<br />

Felitte, Santiago Chotsourian<br />

und Haien Qiu sind anders.<br />

Ein Nebenprojekt zu Los<br />

Natas: Die waren ja schon bekannt in der Elektrohasch-Stonerfamilie,<br />

die sich zum internationalen<br />

Netzwerk entwickelt hat. Und das hier ist nun eine<br />

wirklich allertiefste Psychedelic-Sause für Fortgeschrittene,<br />

für die man keine Drogen braucht, weil<br />

sie die Droge ist. Verrätselt, lakonisch, in Zeitlupe<br />

implodierende Klangkörper, und doch noch<br />

Rock. Aus Granit. Dazu muss als Bild Gebirge<br />

her, ganz kitschig, mit Hilfe vom alten Carlos Casteneda.<br />

Die Musiker, die im strömenden Regen<br />

El Ninos auf den Bergen stehend die Arme ausbreiten,<br />

sich verwandeln und talwärts fliegen, sich<br />

in den Sturmwolken treiben lassen, sich mit ruhig<br />

schwingenden Bewegungen dem Wind anpassen,<br />

mit ihm zu fließen scheinen.<br />

Oder wir da unten, die wir im Regen den Adler<br />

doch zu spüren glauben, da ganz oben, die wir<br />

unsere Hände in der Quelle waschen, zueinander<br />

finden ohne Hintergedanken in kühlen Nächten.<br />

Wie viel Verzweiflung steckt in dieser Raum<br />

schaffenden Musik? Wie viel Eskapismus? Oder<br />

geht es darum, auch musikalisch Orte der Kraft<br />

zu erschaffen, wenn sie den Indios schon in den<br />

Regenwäldern die heiligen Orte nehmen? Quellen<br />

der Kraft, Spaceclouds der Unangreifbarkeit?<br />

Ist das, was so eskapistisch daherkommt, also alles<br />

andere als das? Ist es die nötige Verortung widerständiger<br />

Identität, ein musikalisch definierter<br />

Kraftraum, ein Mysterium, ein Talisman aus Tönen,<br />

ist es zu Klang verdichtete Hoffnung?<br />

Klagelieder, Lowtemp-Härteriffs, Rückkopplungen,<br />

verhallte Pianoschönheiten und drohende<br />

Geräusche als Antithese zu purer Schönheit als<br />

Möglichkeit von Wahrheit. Kontrapunkte und doch<br />

die Chance zur Poesie – nie mehr störungsfrei<br />

denkbar, im Angesicht der weltweit täglichen Toten<br />

auf unserer Rechnung.<br />

Diese Musik ist tief, schön, sperrig, eine Zumutung.<br />

Und doch wirkt sie auf mich heute Abend<br />

wie die Einladung zu einem universal gestrickten<br />

Netzwerk gegen die Vereinsamung derer, die die<br />

Zeichen an den Wänden zu deuten verstehen.<br />

Für mich die wichtigste Platte des noch jungen<br />

Jahres. Für die ich dankbar bin.<br />

Andrasch Neunert<br />

BOY ANDROID –<br />

WALK / RUN / FLEE<br />

(Stickman Records/ Indigo<br />

Ach, ist das verdient. Haben die<br />

liebevollen Münchner das genau<br />

richtige Label gefunden, die gern<br />

mal klingen wie die selige dem Mond zugewandte<br />

Seite der Smashing Pumpkins an den sanfteren<br />

Tagen, wenn sie Gas geben - inzwischen. Gefühlvoll,<br />

aber nie pathetisch. Intim, aber nie privatistisch.<br />

Mit dem alten Mut zu großen Spannungsbögen,<br />

aber neuer kluger Selbstbeschränkung<br />

in der Ausformulierung. Kraftvoll und zugleich filigran.<br />

Jetzt noch ein bisschen Glück und einen<br />

fetten Promo-Etat und aufmerksame Hörer unter<br />

den Multiplikatoren, die die witzig versteckten<br />

Stolpersteine in Uptemp-Schlagzeugparts als<br />

schrullig-pfiffige Eigenheit deuten, denen musikalische<br />

Umarmungen mit Widerhaken mehr bedeu-<br />

ten, als hohle Emo-Popbehauptungen von Gefühlen,<br />

die doch nur aus Schminke bestehen und<br />

mehr und mehr die Regale füllen. Ach Leute, was<br />

soll ich da sagen, das hier ist einfach scheißeschön<br />

und ich hör das noch x-mal und das solltet<br />

Ihr eigentlich auch tun, es macht Tage und Nächte<br />

fast aller Art ein bisschen besser. Und jetzt will<br />

ich in Ruhe dahinschmelzen. Nein, dieser Anschluss<br />

ist vorübergehend nicht erreichbar.<br />

Andrasch Neunert<br />

THE BUYABLE<br />

SLUTS WANTED<br />

FOR STEALING<br />

VIRGINITY –<br />

ANTACIDS<br />

(Sweet Home Records/<br />

Brokensilence)<br />

Es ist schon erstaunlich mit welcher traumwandlerischen<br />

Sicherheit es das Chemnitzer Label<br />

Sweet Home Records von Ausgabe zu Ausgabe<br />

schafft, mit immer neuen, jungen Bands zu überzeugen.<br />

Diesmal sind es drei Herren aus Zwickau,<br />

die mit einem Bandnamen zum Auswendiglernen<br />

und großen Indierockmelodien die große Sause<br />

machen. Alles fußt in den Neunzigern - der Dekade<br />

also, in der die Gitarren noch quietschen durften,<br />

das Experimentieren mit Stimmungen und<br />

Sounds noch nicht zu einem blindwütigen Plug In-<br />

Massaker verkommen war und Vieles noch aus<br />

dem Bauch heraus passierte. Die Dekade also, in<br />

der wir (mehr oder weniger) alle unsere musikalische<br />

Sozialisation erfahren durften. Vielleicht ist<br />

es gerade deshalb so erfrischend, den käuflichen<br />

Schlampen dabei zuzuhören, wie sie all das, was<br />

eigentlich von gestern ist, wieder neu beleben<br />

und mit einer provokanten Note aus Garage und<br />

Noise aufhübschen. Heraus gekommen ist ein<br />

Debüt, das – wie es bei käuflicher Liebe schließlich<br />

auch sein sollte - keine Wünsche offen lässt<br />

und das bedient, was der „Kunde“ wünscht. Seien<br />

es nun die abseitigen Vorlieben von Sonic Youth<br />

oder die derben Liebkosungen von Bands wie Dinosaur<br />

Jr., Sebadoh, Nirvana, Guided By Voices<br />

oder Pavement – all‘ die alten Helden haben hier<br />

ihren Platz in der Schlange und geben brav ihren<br />

Obolus ab. Bitte mehr davon. Bald!<br />

Jochen Wörsinger<br />

DEL MOE –<br />

DIE HIGH BUTTERFLY<br />

(Kahunah)<br />

Was da so klingt wie der<br />

nächste Hype von der Insel<br />

oder dem Land der tausend<br />

Unmöglichkeiten, wurde überraschenderweise von<br />

drei Südhessen fabriziert. Und selten gab es ein<br />

Album, das gleichzeitig so voller Hits und so voller<br />

Sperrigkeit ist. Beginnt der Langspieler noch<br />

mit einem widerlich-eingängig-schweinegeilen<br />

Sing-a-long-Song wie „Yeah“, tönt das folgende<br />

„Knew your Name“ erst wie<br />

Motörhead auf rückwärts gebürstet<br />

plus Stoner, um dann, nach kurzer<br />

Disco-Einlage wüstenkompatibel<br />

weiterzurocken. „Soju“ nach Pop<br />

und Groove, dann wieder Dreck unter<br />

den Nägeln. „Carousel“ erfindet<br />

den fröhlichen Grunge, bei „Without<br />

Guns“ mutiert Ozzy zum totalen Hippie,<br />

so richtig mit Blümchen im Haar,<br />

„Hancock“ hingegen ist dann wieder<br />

Lynyrd Skynyrd mit Eiern und<br />

die Überraschungskiste ist auch<br />

erst mit dem letzten Song vollständig<br />

geplündert. Aber nun<br />

alles zu verraten, wäre ja<br />

auch doof... Chris P<br />

KEVIN DEVINE<br />

– BETWEEN THE<br />

CONCRETE AND<br />

CLOUDS<br />

(Arctic Rodeo<br />

Recordings/Alive!)<br />

S<br />

Kevin Devine ist zurück! Und er hat<br />

uns eine Riesenwundertüte Musik<br />

mitgebracht! Mit neuem Ansatz,<br />

bei dem seine Begleitband auch im<br />

Songwriting eine größere Rolle spielt,<br />

weg vom lone wolf und „Band-Diktator“,<br />

wandelt er hier auf definitiv pompöseren<br />

Pfaden und räubert zudem<br />

auch mal unverblümt in Indie-Gefilden<br />

auf der guten Seite der Macht; darf er<br />

auch. Gehört da ja ebenso hin. Kostprobe?<br />

„The First Hit“, vor allem „Between<br />

The Concrete And Clouds“ oder<br />

„Wait Out The Wreck“ hätten auch<br />

wunderbar auf eine Nada Surf-Platte<br />

gepasst, „Awake In The Dirt“ schielt<br />

sogar nostalgisch gen selige Pavement,<br />

die sich ja jüngst zu einzwei<br />

Reunionskonzerten (ohne erneute gemeinsame<br />

Bandzukunft?) zusammenfanden...<br />

Das mit Nada Surf ist schnell<br />

erklärt, war Kevin doch mit den Jungs<br />

auf Tour und guckte sich sicher das<br />

eine oder andere Riff und die eine<br />

oder andere Melodieführung ab. Dazu<br />

äußert er sich selbst, dass er aufgehört<br />

hat, krampfhaft anders zu sein<br />

und auch Songs zulässt, die an andere<br />

erinnern – denn seine persönliche<br />

Note kommt so oder so durch, findet<br />

man so oder so in jedem Song.<br />

Gut, namedropping erledigt, zurück<br />

zum Wesentlichen. Herr Göttlich (mit<br />

Schreibfehler) ist nun mal mit einem<br />

ausgesprochen treffsicheren Händchen<br />

gesegnet, was hymnenhafte<br />

Melodien mit ganz großem Gefühl<br />

angeht. Dazu versteht er es vortrefflich,<br />

nach einem Midtempo-Rocker eine<br />

eher ruhigere Nummer oder ein 60s-<br />

Stück zu bringen, um die


Spannungskurve des gesamten Werkes zum<br />

einen ausgeglichen, zum anderen auf Anschlag<br />

zu halten.<br />

Am Anfang war ich eher skeptisch ob des<br />

ganzen Pomps und der Klang-Dichte – schielt<br />

er doch in ein paar Passagen definitiv gen<br />

Stadion-Rock – jetzt kann ich gar nicht genug<br />

davon kriegen. Mehr davon!<br />

Matthias Horn<br />

FLARE ACOUSTIC ARTS<br />

LEAGUE - BIG TOP /<br />

ENCORE (Doppel-EP)<br />

(Affairs Of The Heart/Indigo)<br />

Wieder so ein schwieriges<br />

Thema, für das unser Label-Geburtstagskind<br />

(es sind nun 5 Jahre, siehe Artikel) nun<br />

mal ein besonderes Herz hat. Mr. LD Beghtol<br />

eignet sich nun mal nicht fürs große Medienspiel,<br />

für grellbunte Überschriften. Er schreibt<br />

einfach gute, unspektakulär schöne Songs<br />

mit Hirn, die sich auf sehr ähnliche Form in<br />

die Gehirnwindungen einnisten, wie kompliziertere<br />

Beatles-Songs. Und - besonders<br />

schön - Dana Kletters glockenhelle Stimme<br />

(einst sang sie für Hole die Parts, die für<br />

Courtney Love zu hoch waren, nur kriegte sie<br />

bis heute leider nichts von den Tantiemen ab,<br />

da konnte die verliehene Schallplatte für Hole<br />

noch so Gold sein..., pfui Spinne!) erklingt<br />

hier gern auch mal, schließlich ist die Arts<br />

League hier keine Konkurrenzveranstaltung,<br />

sonder ein kunterbuntes Künstlerkollektiv.<br />

Und so viele KollegInnen wissen auch, was<br />

gut ist und machen hier mit, von der Cellistin<br />

Julia Kent (Anthony & The Johnsons & Devendra<br />

Banhart) über Jon DeRosa von Aarktika<br />

bis hin zum Spanier Remate und die von<br />

Sparklehorse und Mascott bekannte Kendall<br />

Jane Meade. Auch textlich ist das hier Referenzmaterial,<br />

entdeckt Beghtol doch immer<br />

wieder das Politische (die Morbidität scheinbar<br />

wohlanständiger bürgerlicher Fassaden)<br />

im Privaten und, seltener, das Private im Politischen.<br />

Wenn er halt ein bisschen eitler<br />

NEUES VON NOISOLUTION<br />

ANTLERED MAN – GIFTES 1 AND 2<br />

THIS <strong>LOVE</strong> IS DEADLY - SAME<br />

(beide Noisolution/Indigo)<br />

Was ist denn das? Gefährlich schlängelt sich<br />

eine Gitarre heran, der Bass schüttet Sandberge<br />

auf, dann bricht der Donner los, fast<br />

schon orientalische Rhythmen hüpfen irrlichternd<br />

durch die Luft und plötzlich wieder<br />

Stille. Der Break, der retardierende Moment,<br />

der alles auflöst, wieder auf Anfang setzt und<br />

den Wahnsinn anschließend erst so richtig<br />

freien Lauf lässt. Alles das kann man hören.<br />

Auf einer Länge von genau fünf Minuten<br />

und sechsundvierzig Sekunden. Wo? Beim<br />

Opener des Debütalbums von ANTLERED<br />

MAN – gegründet anno 2009, jedoch schon<br />

zuvor seit Ewigkeiten unter anderem Namen<br />

gemeinsam musikalisch unterwegs. Wer<br />

sich auf dieses Quartett aus London einlässt,<br />

wird sein wahres Wunder aus wilden Breaks,<br />

wär’. Mehr Gedöns um sich machen würde.<br />

Will er aber nicht. Noch ein Album mehr mit<br />

Geheimtippstatus? Er hätte doch mehr verdient...<br />

Die Welt ist ungerecht. Ein bisschen<br />

eitler nur. Ein bisschen sexier. Ja, ja, ich hör<br />

schon den Einwand, von wegen, auf Kosten<br />

der authentischen Vielgestaltigkeit, der Variabilität,<br />

und gerade das Uneitle und Markenzeichen<br />

und überhaupt, gut, ja, und das man<br />

schon zuhören muss, um die Tiefe erkennen<br />

zu können und im Autoradio wären das Perle<br />

vor die Säue. Und wenn schon: Einen vordergründigen<br />

Sergeant Pepper-Hit. Einen nur,<br />

damit der Rest mehr Aufmerksamkeit erfährt.<br />

Nur einen. Er kann es doch. Wie, den gibt es<br />

schon mit „Hideous Ethnic Stereotype“? Ach,<br />

ja. Ach, hör’s Dir doch selbst an, wie rätselhaft<br />

ungerecht die Welt ist.<br />

Andrasch Neunert<br />

MATT PRYOR – MAY DAY<br />

(Arctic Rodeo Recordings/<br />

Alive!)<br />

Wieder Arctic Rodeo Recordings!<br />

Und wieder ein Kandidat<br />

für die Highlights-Ecke. Kaum ein Label<br />

steht für einen treffsichereren Output, kaum<br />

ein Label hält das Qualitätsversprechen so<br />

konsequent ein, kaum ein Label hat in den<br />

den letzten Jahren die Nachfrage nach Singer/Songwriter<br />

und alten DIY-Helden in solch<br />

hohem Maße bedient.<br />

Jetzt also Matt Pryor - seines Zeichens Frontmann<br />

von The Get Up Kids. Die Platte weiß<br />

am besten in den ruhigen brüchigen Momenten<br />

zu gefallen, Anchecktipps hier: der<br />

Opener „Don‘t Let The Bastards Get You<br />

Down“ setzt gleich mal Maßstäbe deluxe –<br />

oder „Like A Professional“, wenn es sich so<br />

anfühlt, als ob Herr Pryor des Nächtens alleine<br />

in seinem Kämmerchen saß und sein Begleiter,<br />

eine volle Flasche Rotwein, gerade<br />

eben erst gegangen ist. Das Diktiergerät ruht<br />

auf einem Tisch im Kerzenschein und läuft<br />

einfach mal so in Aufnahme vor sich hin. Die-<br />

derben Rhythmuswechseln, noisigen Achterbahnfahrten<br />

und abgefahrenen Sounds erleben.<br />

Sie klingen nach Progressive Metal ohne<br />

wirklich Progressive Metal zu sein, sie klingen<br />

nach Industrial ohne wirklich Industrial zu sein,<br />

sie klingen nach Punk ohne wirklich Punk zu<br />

sein, sie klingen nach Psychedelic Rock ohne<br />

wirklich Psychedelic Rock zu sein. Ein Band<br />

zwischen allen Stühlen und dort fühlt sie sich<br />

sichtlich wohl; kann machen was sie will und<br />

jeder Hörerwartung genüsslich vor den Kopf<br />

stoßen. Die Band selbst spricht von einem<br />

Aufbrechen stilistischer Grenzen, die man sich<br />

einst selbst auferlegt hatte. Und so nahm man<br />

nach und nach verschiedene, selbstveröffentlichte<br />

Singles auf, die nun auf „Giftes 1 and 2“<br />

zusammen mit einigen zusätzlichen Tracks via<br />

Noisolution geballt auf uns losgelassen werden.<br />

Eine Songsammlung also, entstanden<br />

über mehrere Jahre. Vielleicht auch deshalb<br />

diese Vielfalt, dieses Sammelsurium an Ideen<br />

und Stilen. Man darf also gespannt sein, wie<br />

sich Antlered Man anhören, wenn sie mal „ge-<br />

2012 I #35 I Highlights 23<br />

se Purheit, das Rohe an für sich, bezeugt das<br />

große Talent, alleine schon mit dem Klang der<br />

Stimme ausschweifende Geschichten erzählen<br />

zu können, die so voller Emotionen sind,<br />

dass man aufpassen muss, bei sich zu bleiben<br />

und nicht in ferne entrückte Klanggebilde<br />

abzutauchen.<br />

Mit „Band“ im Rücken und Klavier im Kreuz<br />

klingt er teilweise wie eine verschollene „I am<br />

Kloot“-Session („Polish The Broken Glass“),<br />

und wenn er dazu noch die 60s/70s-Keule<br />

auspackt („Where Do We Go From Here“),<br />

erinnert er auf ganzer Linie an den genialen<br />

Brendan Benson zu dessen bester Zeit. Auch<br />

hier musste kurz das Namenwerfen stattfinden!<br />

Mit seinen Nebenprojekten (u.a.<br />

„The New Amsterdams“) wollte sich<br />

Matt schon immer mal vom Austoben<br />

seiner Hauptband austoben.<br />

In ruhigeren Klanggefilden. Mission<br />

succeeded! Als Randschlussnotiz<br />

sei noch darauf verwiesen, dass<br />

die gesamte Platte durch dieses<br />

moderne Crowdfunding finanziert<br />

wurde – komplett von Fans übernommen!<br />

Und dass Matt ein Mann<br />

der Fans ist, das ist hinlänglich bekannt!<br />

Jetzt bleibt nur noch, auf den Artikel<br />

über Matt in diesem noisy zu verweisen<br />

und das Fazit wirken zu lassen: Toll toll toll!<br />

Matthias Horn<br />

zielt“ (sic!) an einem Album arbeiten. Aber bis<br />

dahin bietet „Giftes 1 and 2“ noch genug Stoff<br />

für wirre Träume.<br />

Etwas getragener kommen da THIS <strong>LOVE</strong> IS<br />

DEADLY aus Berlin – die zweite Noisolution-<br />

Veröffentlichung des noch jungen Jahres – daher.<br />

Elegische Gitarrenteppiche, kleine elektronische<br />

Pinselstriche, wechselnder weiblich/<br />

männlicher Gesang, eine gehörige Portion<br />

Distortion-Rock mit einem Schlag Pop („Everything,<br />

Everything“) und fertig ist der Shoegazer-Traum<br />

aus Melodie und<br />

Krach, aus Dreampop-Passagen und rotziger<br />

Gitarrenverzerrung. Hier wird der Zwiespalt<br />

zur Eintracht, der Gegensatz zum Einklang gebracht<br />

und in Stahlwatte gepackt. Wie schon<br />

Herr von Lowtzow singt: Im Zweifel für den<br />

Zweifel, das Zaudern und den Zorn. So zerrissen<br />

das klingen mag. THIS <strong>LOVE</strong> IS DEADLY<br />

bringen es zusammen und binden eine dicke,<br />

rosa Schleife drum.<br />

Jochen Wörsinger


24<br />

Niels Frevert I #35 I 2012<br />

NIElS FREvERT: lIEDER, DIE BEGlEITEN<br />

Ach, der einstige Frontvorsteher der Nationalgalerie, der Prince Charming des Hamburger Schule-Chanson-<br />

traktes, guter Freund von Koppruch und Knyphausen, hat wieder eine neue Platte rausgebracht, die im Blätterwald<br />

mit bemerkenswerter Einigkeit über den vierblättrigen Klee gelobt wurde, da war das Lob vom Andrasch,<br />

nach zu lesen bei den Reviews, nur eines von vielen, aber dass er mit ihm sprechen wollte, als sich die Gelegenheit<br />

bot, na klar...<br />

nN: Du hattest ja einst in „Gemeinsame<br />

Sache“ die Chance, das Suchen miteinander<br />

zu teilen, als einen Sinn von Beziehung<br />

beschrieben. Inzwischen versprichst<br />

Du sogar, die Leichen gemeinsam zu<br />

verscharren. Solang’s nicht Deine ist, klar.<br />

Geht’s da um ’ne konkrete Beziehung, die<br />

es schon gibt, oder um eine, die Du Dir<br />

wünschst?<br />

NF: Weder noch. Du, das ist natürlich nur so<br />

halb aus dem eigenen Leben gegriffen. Klar<br />

spielen Themen, mit denen ich persönlich in<br />

Berührung komme, auch eine Rolle, aber 1:1<br />

könnte ich die niemals darstellen in meinen<br />

Texten. Da würde ich verkrampfen, da wäre<br />

ich ja befangen. Und zu der Zeile „Ich würde<br />

Dir helfen, eine Leiche zu verscharren...“, das<br />

hat Udo Lindenberg mal früher so formuliert:<br />

„Ich geh mit Dir durch dick und dünn, aber<br />

nicht durch dick und doof!“<br />

Ich hatte mir da noch dazu geschrieben:<br />

Wieso verscharren, nichts schweißt ’ne<br />

Beziehung so zusammen, wie gemeinsame<br />

Leichen im Keller. Und sei es nur das<br />

gemeinsame Bewusstsein, dass von der<br />

einstigen revolutionären Attitüde nichts<br />

übrig geblieben ist.<br />

(lacht): Das lass ich mal so stehen.<br />

Du warst aber auch schon mal ein<br />

bisschen kämpferischer, als Du es heute<br />

bist, auch wenn Du nie den Revoluzzer<br />

gegeben hast.<br />

Ich bin kein politischer Künstler, ich bin ein<br />

politisch denkender Mensch. Ich denke, dass<br />

man schon immer sehen konnte, dass ich<br />

vielen Dingen kritisch gegenüber stehe. Ich<br />

würd’ sogar eher sagen, dass ich mit der Zeit<br />

etwas kritischer geworden bin!<br />

Ich hab eher das Gefühl, dass so ’ne leise,<br />

ironische Wut immer mehr bei Dir hochkocht.<br />

Ich beschreibe Situationen, bin aber nicht der,<br />

der dann noch die Moralkeule rausholt.<br />

Und deckst den Mantel des Schweigens<br />

nicht mehr über das, was Du siehst!<br />

Nein, das seh’ ich ganz genauso, das ist das<br />

Album mit den Geschichten! Das hab ich<br />

auch gemerkt, nachdem ich so die ersten<br />

fünf, sechs Lieder für das Album geschrieben<br />

hatte... ‚Moment mal, die sind ja alle adressiert!’<br />

Dadurch bin ich auch auf den Titel des<br />

Albums gekommen, Zettel Auf Dem Boden<br />

– eben diese Nachrichten. Die man so hinterlässt.<br />

Wo so kleine, kurze Sätze drauf stehen,<br />

die manchmal lebensverändernd sind.<br />

Und dann wär’ da noch die Kiste Mineralwasser,<br />

die angeblich einen Quadratmeter<br />

Regenwald rettet. Deine Distanz zum ökologisch<br />

korrekten Gutmenschentum, oder?<br />

Du sprichst das Lied „1 qm Regenwald“ an,<br />

da geht es aber tatsächlich um den Besuch<br />

bei einem, fiktiven, Freund, der in die Hartz<br />

IV-Falle reingeraten ist, aber auch da gibt es<br />

nicht die Moral von der Geschichte, sondern<br />

es soll durch die Beschreibung der Situation<br />

rüberkommen, Mensch, Hartz IV ist kein<br />

Netz, das ist ’ne verdammte Falle.<br />

Die Menschen, die Du beschreibst,<br />

kämpfen fast immer darum, ihre Würde zu<br />

bewahren...<br />

Das ist ganz wichtig, heutzutage. Ob wirklich<br />

so viele Lieder von mir davon handeln, weiß<br />

ich nicht. Aber es geht im Leben wirklich<br />

in vielen Bereichen darum, seinen Stolz zu<br />

bewahren, Stolz nicht auf etwas Bestimmtes,<br />

sondern Stolz darauf, das eigene Selbstwertgefühl<br />

zu behalten. Das ist auch ein wichtiger<br />

Punkt in meinem Leben.<br />

Du hast ja auch nicht so ein starkes Sendungsbewusstsein,<br />

wie zum Beispiel ein<br />

Konstantin Wecker, der dann nach dem<br />

Motto von Günter Eich vorgeht, „Seid<br />

Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!“<br />

Du, Konstantin Wecker ist natürlich ’ne ganz<br />

andere Generation als ich. Ich denke ja, dass<br />

man beim modernen Liedermacher, den<br />

nenne ich mal so, dass man bei dem auch<br />

neben den Liedern sehr gut ablesen kann,<br />

wo steht der, wie kritisch ist der. Was für<br />

Ansichten hat der. Ich weiß nicht, ob man das<br />

dann auch noch 1:1 in den Liedern singen<br />

muss, mir wäre das zu klar, zu eindeutig. Wobei,<br />

ich hab jetzt aber mit den letzten beiden<br />

Platten gemerkt, dass ich wohl auch auf dem<br />

richtigen Weg bin. Die letzten beiden Platten<br />

sind einfach sehr gut gelaufen...<br />

Ist da der Weg das Ziel, oder hat der Horizont,<br />

auf den Du da zugehst, schon ’ne<br />

Überschrift?<br />

Es ist nicht nur der Weg, es geht auch darum,<br />

wie man ihn beschreitet. Dass man am Ende<br />

des Tages auch noch in den Spiegel gucken<br />

kann. Ich bin natürlich nicht der, der jetzt Platz<br />

1 in den Charts will<br />

Ich fühl mich ja immer, wenn ich Deine<br />

Lieder hör, ein bisschen angekuschelt....<br />

Ich hätte jetzt umarmt besser gefunden. Aber<br />

wenn ich ein Ziel benennen kann, dann dass<br />

meine Lieder begleiten.<br />

Wie kam es eigentlich zu dem Herman van<br />

Veen-Cover auf der Platte?<br />

Das war so eine Art Mutprobe. Mich hat interessiert,<br />

wie klingt ein Lied von Herman van<br />

Veen, wenn man das rollende R weglässt.<br />

Ich hab mehrere Songs von ihm durchgehört<br />

und bin dann bei dem Lied „Bis jemand mich<br />

hört“ hängengeblieben. Das Lied hat immer<br />

noch so eine Relevanz zu heute. Man kann<br />

es fast so ein bisschen übertragen. Wobei,<br />

als Heranwachsender … Leute, die damals<br />

Herman van Veen hörten, die waren mir nicht<br />

so grün, muss ich sagen …<br />

Und ich fand ihn immer toll und die Leute<br />

um mich rum meinten, „Sonst hast aber<br />

einen guten Geschmack!“<br />

Ich fand’s ja interessant, aber seine spezielle<br />

Art zu singen, hat mich ein bisschen abgehalten.<br />

Den Meisten damals war es zu pathetisch.<br />

Ja, eben, und dieser Bildungsauftrag schimmerte<br />

immer durch.<br />

Hattest Du Kontakt zu ihm, bevor Du das<br />

Cover gemacht hast?<br />

Nein, gar nicht, wir haben nur einfach beim<br />

Verlag nachgefragt.<br />

Und dann ratschten wir noch über die anstehende<br />

Tour, über leicht angejazzte Arrangements,<br />

die Gäste auf der Platte... nur, so ganz<br />

in die Karten gucken lässt unser Hamburger<br />

Chansonnier sich ja nicht... Sei’s drum, das<br />

ist ja sein gutes Recht. In diesem Sinne:<br />

Dank für das Interview!<br />

Andrasch Neunert


Niels Frevert I #35 I 2012<br />

25


26<br />

reViews I #35 I 2012<br />

THE 4 EVAS – BREAK OUT<br />

(FinestNoiseReleases/Radar)<br />

Uninteressant ist das, was die<br />

vom Kalifornier Austin Angels<br />

gefrontete Ösi-Ami-Band so<br />

verbricht, nämlich einen<br />

Bastard aus Alternative, Glam, Sleaze, Wave,<br />

Pop und Hard Rock, mitnichten, zumal sich Eingängigkeit<br />

und Innovation auf „Break Out“ nicht<br />

den Platz streitig machen wollen. Eine recht entrückte<br />

Note lässt das Ganze dann mitunter noch<br />

etwas psychedelisch durch das Kopfkino kaleidoskopieren,<br />

und das macht Freude. Internationales<br />

Format hat die Kapelle zwar noch nicht so<br />

ganz, aber das liegt eher an der manchmal noch<br />

etwas unrunden Produktion, der hin und wieder<br />

déjà-vu-artigen Momente oder manchen instrumentalen<br />

Stolperern, aber da schlummert ein<br />

kleines Tier, das vielleicht schon bald aus seinem<br />

Käfig springt. Starke...<br />

9 Punkte<br />

Chris P<br />

5 POUNDS A HEAD –<br />

MAXIMUM CREDIBLE<br />

ACCIDENT<br />

(District 763 Records/<br />

New Music)<br />

Hektischer Hardcore aus<br />

Thüringen: 5 Pounds A Head existieren seit<br />

2005, stehen aber auf old school-Hardcore anno<br />

1985 folgend. Das wäre auch okay, wenn die<br />

Kerle a) nicht immer hart am Durchschnitt langkomponieren<br />

würden, b) die Produktion nicht so<br />

dumpf wie meine Waschmaschine klänge und c)<br />

einer der beiden (?) Sänger nicht so schrill bellen<br />

würde, wie Omas Asthma-Pudel Pfiffi. Wie ich<br />

es drehe und wende: Das ist trotz brauchbarer<br />

Ansätze ein Minuspunkt zu viel. Eine Empfehlung<br />

für die knapp 32 Minuten kann ich daher<br />

auch nur für Hardcore-Allessammler aussprechen.<br />

Der Rest lässt sich lieber von Discolate<br />

(Review siehe diese Ausgabe) verkloppen.<br />

5 Punkte<br />

JOBRY<br />

ADOLESCENTS –<br />

THE FASTEST KID ALIVE<br />

(Concrete Jungle/Edel)<br />

Die “Heranwachsenden” sind<br />

inzwischen alte Männer:<br />

1979 vom ursprünglichen<br />

Agent-Orange-Bassisten Steve Soto und dem<br />

Sänger Tony Cadena gegründet, veröffentlichten<br />

sie 1981 ihr selbstbetiteltes Debüt-Album. Es<br />

avancierte zu einem der wichtigsten Punkrock-<br />

Alben aus Kalifornien. Lange ist es her, aber<br />

musikalisch haben sich die Kerle ein bisschen<br />

von ihrer Jugend bewahrt – nicht nur im CD-Titel:<br />

Die 15 Stücke kommen im klassischen 80er-<br />

0–3 Punkte: Irgendwo da unten<br />

4–6 Punkte: „Nicht Fisch, nicht Fleisch“,<br />

aber essbar<br />

Stil daher und textlich geht es meist gehaltvoll<br />

sozialkritisch zu. Die 40 Minuten bestehen aus<br />

melodisch-treibenden Nummern irgendwo zwischen<br />

frühen Bad Religion, den Stadtnachbarn<br />

Social Distortion und gebremsten Dead Kennedys.<br />

Das ist ’ne kurzweilige Angelegenheit, allerdings<br />

fehlen dem Album die drei, vier richtigen<br />

Killersongs. Am ehesten kommen an diesem Anspruch<br />

noch „Serf City“ und „No Child Left Behind“<br />

heran. In Summe aber eine ordentliche Sache<br />

und der Beweis, dass Punkrocker auch in<br />

Würde altern können.<br />

9 Punkte<br />

JOBRY<br />

DIE AERONAUTEN –<br />

TOO BIG TO FAIL<br />

(Rookie Records/<br />

Ritchie Records/Cargo)<br />

Einst als Punkkapelle mit<br />

einem Hauch Mittsiebziger<br />

Londoner Luft gestartet, war die musikalische<br />

Evolution der größtenteils in deutscher Sprache<br />

textenden Aeronauten mehr als nur interessant.<br />

Jetzt, nach zwei Dekaden, ist man stilistisch im<br />

Alles-ist-möglich-Genre angelangt. Da ist von<br />

Pop, Rock, Swing und Country über Wave, Jazz,<br />

offbeatfreiem Ska, Blues, Dixieland, Folk und<br />

Beat bis hin zu fast progressiven Ausflügen so<br />

ziemlich alles gegeben, sodass man glaubt, man<br />

hätte einen Karton voller Ü-Eier vor sich, von denen<br />

jeder ein Song mit ungewissem Inhalt ist.<br />

Und natürlich möchte man dann auch gleich wissen,<br />

was in der nächsten gelben Kapsel ist. Gewürzt<br />

mit intelligentem Humor und der lässigen<br />

Stimme Olifrs, die gelegentlich an einen jungen,<br />

einst unpeinlichen Prä-Sonderzug-Lindenberg<br />

erinnert, wird auf der Haupt-CD entspannt<br />

eingängige und doch kunstvolle Musik mit Grips<br />

dargeboten. Auf der zweiten Scheibe dieses<br />

minimalistisch layouteten Digipaks gehen die<br />

sechs Schweizer allerdings deutlich weiter und<br />

loten die Genregrenzen konsequent aus – doch<br />

damit nicht genug, denn diese Scheibe soll gewissermßen<br />

einen Quasi-Soundtrack zu einem<br />

(noch?) nicht existenten Film darstellen, obendrein<br />

garniert mit interessanten Samples und viel<br />

Sonderbarem. Experiment gelungen.<br />

11 Punkte<br />

Chris P<br />

ALCATRAZ –<br />

SMILE NOW CRY LATER<br />

(Demons Run Amok/Soulfood)<br />

Hierzulande ist Bay Area um<br />

San Francisco ja als Wiege<br />

des Thrash Metals um Bands<br />

wie Metallica, Testament, Exodus oder Death<br />

Angel bekannt. Alcatraz hingegen zocken Hardcore<br />

– und der klingt zudem nach Ost- und nicht<br />

nach Westküste. Also: Schnell, rabiat und me-<br />

7–9 Punkte: Mittelfeld<br />

10–12 Punkte: Gut!<br />

13–15 Punkte: Das so richtig toll!!!<br />

tallisch sind sie. Das Debüt der Amis fällt mit 20<br />

Stücken üppig aus, Quantität ist aber bekanntlich<br />

nicht alles. Handwerklich ist alles im grünen<br />

Bereich, in puncto Eigenständigkeit hapert es allerdings.<br />

Da schimmern immer wieder Terror und<br />

ganz besonders Madball durch. Das ist natürlich<br />

keine Schande, dürfte es Alcatraz aber nicht unbedingt<br />

leichter machen, eine eigene Duftmarke<br />

zu setzten. Zudem mangelt es der Band an Variabilität.<br />

Spätestens nach zehn Stücken ist die<br />

Sau durchs Hardcore-Dorf getrieben und man<br />

weiß, was kommt. Und da kommen weder potenzielle<br />

Szene-Hits, noch überdurchschnittliche<br />

Riffs. Durch und durch solide – nicht mehr, nicht<br />

weniger.<br />

7 Punkte<br />

JOBRY<br />

ALLTAGSDASEIN –<br />

TRASHGOURMET<br />

(Setalight/Rough Trade)<br />

Sie wollen alles auf einmal.<br />

Sie wollen Lebendige<br />

Hosen sein und Emopunker,<br />

sie wollen dreckigen Anarchorock verkörpern<br />

und schnittige Popchöre trällern, wollen mächtig<br />

rough klingen und doch nicht anecken, wollen<br />

krass Metalgekreisch und gaaanz gefühlvollen<br />

Sprechgesang kombinieren, sie wollen massenkompatiblen<br />

Stadionrock machen, aber ganz doll<br />

individuell authentisch.<br />

Sie sind drei Musiker mit mächtig viel vor. Sie<br />

versuchen, überall anzukommen und bleiben<br />

auf der Strecke hängen. Sie entscheiden sich für<br />

und gegen nichts, sie wollen eben alles. Und erreichen<br />

nix.<br />

Zurück auf Los. Macht Euch mal klar, was Ihr eigentlich<br />

wollt und macht nicht Musik, um Anderen<br />

zu gefallen, sondern das, was Ihr selbst zum<br />

Atmen braucht. Wenn’s das gibt.<br />

Handwerklich ist es ganz gut, klar. Aber es<br />

rauscht identitätslos in den Äther. Und wenn Ihr<br />

mir jetzt zuruft, Alter, fick dich! – dann ist das der<br />

erste Schritt zur Besserung!<br />

5 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

ANGELIC UPSTARTS/<br />

CRASHED OUT –<br />

THE DIRTY DOZEN SPLIT-CD<br />

(I Hate People Records/Edel)<br />

Zwei Bands, zwölf Stücke und<br />

’ne gute Zeit für Freunde des<br />

britischen Punk/Oi! Die Urgesteine der Angelic<br />

Upstarts aus South Shields melden sich neun<br />

Jahre nach „Sons Of Spartacus“ mit geschmeidig-melodischem<br />

Oi! zurück. Die Kerle sind ja<br />

bereits seit 1977 aktiv und lassen nix anbrennen,<br />

ohne deshalb zu routiniert oder lieblos zu<br />

klingen – besonders schick: „King Of The Rats“.<br />

Teil zwei übernehmen die ebenfalls aus Nord-<br />

England stammenden Crashed Out. Die gehören<br />

mit dem Baujahr 1995 zu einer deutlich jüngeren<br />

Punk-Generation und gehen etwas streetpunkiger<br />

zu Werke. Dabei wildern sie reichlich ungeniert<br />

im Revier von The Anti-Nowhere League,


The Last Resort und Co. Machen sie aber so clever,<br />

dass es nicht nach reiner Kopie klingt. Mit<br />

„Get A Life“ gibt es auch hier ein Stück, das etwas<br />

mehr hervorsticht als der Rest. Rohrkrepierer<br />

liefert das Quartet um die Brüder Chris und<br />

Lee Wright aber auch nicht ab. Von daher, eine<br />

runde Sache.<br />

10 Punkte<br />

JOBRY<br />

ARMS LIKE SNAKES –<br />

WE HAVE MET THE ENEMY<br />

AND HE IS US<br />

(Rookie/Toxic Toast)<br />

Stuttgart und Punk ist ja ein<br />

Widerspruch in sich (never<br />

fucking ever!!! – Anm. d. Layouters)<br />

– Arms Like Snakes machen ihre Sache<br />

dennoch anständig. Spaß beiseite: Die Schwaben<br />

präsentieren auf dieser 20-minütigen EP<br />

sieben Mal eine Mischung aus (Post-)Punk und<br />

’ner Prise Hardcore, irgendwo zwischen Anti-<br />

Flag, Rise Against und AFI. Das geht zumeist ordentlich<br />

ins Ohr – das Trio bewegt sich mit den<br />

genannten Platzhirschen zuweilen auf Augenhöhe,<br />

in Bedrängnis bringt man sie nicht. Wer auf<br />

die erwähnten Bands steht, kann ALS jedoch bedenkenlos<br />

anchecken. Aber der Soundtrack zur<br />

Kehrwoche sind sie nun auch nicht…<br />

Keine Wertung<br />

JOBRY<br />

ATOM NOTES –<br />

SPARE PARTS<br />

(Combat Rock Industry/<br />

Flight 13)<br />

Da versuchen sie fast alle,<br />

einen auf Rock ’n’ Roll zu<br />

machen, dann kommt die aus den Ruinen von<br />

Manifesto Jukebox und Endstand auferstandene<br />

finnische Kapelle Atom Notes daher und IST<br />

Rock ’n’ Roll. Frechheit! Diese Halunken! Im Infoschreiben<br />

wird von den Hot Snakes, FRTC und<br />

den Wipers schwadroniert, was ja nicht ganz unwahr<br />

ist. Aber die Jungs um Sänger Antti sollte<br />

man nicht unter der Kategorie „Sound-a-likes“<br />

ablegen, denn inmitten all der Retrobands verfügt<br />

dieser Fünfer über einen sehr hohen Individualitätsfaktor.<br />

Ach so, das sagen die Promoter<br />

ja ebenso. Wofür red’ ich denn dann, ’zefix?<br />

Jedenfalls macht das Teil richtig Bock, zumal die<br />

Schnuckis uns auch noch die „Hockey Champ“-<br />

Single und ihre erste 7“ hintendran gepappt haben.<br />

Ich schenk’ euch ein Ü-Ei, wenn ich euch<br />

mal seh’.<br />

11 Punkte<br />

Chris P<br />

THE BABOON SHOW –<br />

PUNKROCK HARBOUR<br />

(Kidnap Music/Cargo)<br />

Dass Punk nicht immer testosteronhaltige<br />

Rüpelei, Singsang<br />

mit Zuckerguss und<br />

Chucks oder Huldigungen der 77er bedeuten<br />

muss, beweist das von Cecilia Boström gefrontete<br />

XX-XX-XY-XY-Gespann aus Schweden, das<br />

auf seinem vierten Langdrehdingsbums eine<br />

starke Affinität zu Wave demonstriert. Auch mit<br />

nicht ganz so aufgerissenen Verstärkern kann<br />

man nämlich wunderbar druckvolle, rotzige, An-<br />

archie-bejahende Songs fabrizieren, die mächtig<br />

schieben. Und wenn dann auch noch das lecker<br />

schmackofatz dirty sexy Organ von Frau Boström<br />

über allem thront und für eine zusätzliche<br />

Schippe wütender Energie sorgt, lässt der Pogo-<br />

Impuls nicht lange auf sich warten. Innovation, ja<br />

scheiß doch der Hund drauf, dann treten wir mit<br />

den Doc Martens noch mal rein, dass es schön<br />

schmatzt!<br />

11 Punkte<br />

Chris P<br />

BEEN OBSCENE –<br />

NIGHT O’MINE<br />

(Elektrohasch)<br />

Tja. Österreichischer Stonerrock<br />

wiederholt sich endlos<br />

selbst. Das rumpelt und pumpelt<br />

mal recht, mal eher berechenbar<br />

dahin und verursacht bei mir gerad<br />

innerlich ein immer größerwerdendes Fragezeichen<br />

mit anschließender Leerstelle. Vielversprechend<br />

sind einige Passagen, aber unter dem<br />

Strich gebricht es den Vocals an Schärfe und<br />

Akzentuierung, und vor allem gebricht es dem<br />

Album an zündenden Ideen. Wiederholungen<br />

können ja gerade im Stonerrock magische Qualität<br />

haben, ja, Ekstase erzeugen. Hier dominiert<br />

eher mäßig temperierte Bravheit und die Gitarrenausbrüche<br />

wirken auch eher ratlos, weil einfach<br />

die Grundspannung fehlt. Schade. Aber das<br />

ist überwiegend Gedudel.<br />

4 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

BLACKUP –<br />

EASE & DELIGHT<br />

(Screaming Mimi/Cargo)<br />

Egal, ob man die Chose nun<br />

Postpunk oder Indie-Rock<br />

nennt – sie nervt. Die Belgier<br />

haben wirklich einen Mix aus gezielten Disharmonien<br />

und unmotiviertem Geschrei drauf, dass<br />

mir jedes der neun Stücke spätestens nach zwei<br />

Minuten verleidet. Die 35 Minuten von „Ease &<br />

Delight“ werden so ganz schön lang. Blackup erinnert<br />

an ein hyperaktives Kind, das seine Energie<br />

einfach nicht in die richtigen Bahnen lenken<br />

kann. Zwischendurch schimmern zwar immer<br />

mal wieder brauchbare Ansätze durch, scheinbar<br />

aber nur, um wieder von der nächsten Disharmonie<br />

in Grund und Boden getrümmert zu werden.<br />

Es soll Leute geben, die das cool finden. Cool<br />

finde ich in diesem Fall nur die Stop-Taste.<br />

3 Punkte<br />

JOBRY<br />

BUNGALOW 7 –<br />

WE ARE HERE<br />

(Rookie Records/Cargo)<br />

Welch Düfte. Staubiges<br />

Beatles-, Blondie-, Doors-,<br />

Stooges- und Suzy Quattro-<br />

Vinyl inklusive Kellermuff. Schmutzige Polyester-<br />

Strick-Streifenpullis. Aroma frisch praktizierter<br />

freier Liebe. Feuchte Backenbärte. Speckige<br />

Schlaghosen. Bac-Deo. Ein nach Hundespeichel<br />

riechendes, angeknabbertes Monchichi.<br />

Ja, das Debüt der Band um den Ex-Spermavogel<br />

und Jones-Kicker Frank Rahm und Goldkehlchen<br />

Katrin Bärmann macht Spaß mit sei-<br />

nem cool-schrulligen Wirrwarr aus 80er-Indie,<br />

70er-Rock und 60er-Beat, aus Pop, Psychedelic,<br />

Folk, Rock ’n’ Roll und Punk, zumal Bungalow 7<br />

ihre Songs dermaßen charming darbieten, dass<br />

Mundwinkel und Krähenfüße unübersehbar Gefühle<br />

der Sympathie signalisieren. Tanz!<br />

12 Punkte<br />

Chris P<br />

BUSINESS AS USUAL –<br />

SAME<br />

(Demons Runamok<br />

Entertainment/Soulfood)<br />

Hardcore aus Hessen.<br />

Die vier Kerle und eine Frau<br />

machen es einem stilistisch leicht: Wer an Hardcore<br />

mit leichtem Post hängt, kann die Band<br />

aus Wetzlar antesten. Die Vorbilder jedenfalls<br />

lassen sich glasklar heraushören: Bane, Have<br />

Heart, Comeback Kid und Ruiner. Folgerichtig<br />

gibbet „echte“ Hardcore-Riffs, aber auch melancholisch<br />

anmutende Melodien und angezogene<br />

Handbremse. Zehn Stücke in 22 Minuten<br />

sprechen dafür, dass die Truppe auf den Punkt<br />

kommt. Der ist zwar nicht unbedingt ein Unikat –<br />

wie der Querverweis zu den genannten Einflüssen<br />

belegt – man kann diese Art von Hardcore<br />

aber ganz sicher auch schlechter spielen als<br />

BAU. Unter dem Strich also kein übermäßig originelles,<br />

aber dennoch gefälliges Debüt.<br />

8 Punkte<br />

JOBRY<br />

CATHEDRAL –<br />

ANNIVERSARY<br />

(Rise Above/Soulfood)<br />

Sag zum Abschied lange<br />

Servus: Die englischen<br />

Doomster nehmen sich zwei<br />

CDs und fast 140 Minuten Zeit. Mitgeschnitten<br />

wurde dafür das Londoner Konzert zum 20.<br />

Bandjubiläum im Dezember 2010. CD 1 liefert<br />

das “Forest of Equilibrium”-Album in voller Länge<br />

und das Original-Line-up. CD 2 bietet insgesamt<br />

zwölf weitere Stücke aus den restlichen<br />

Schaffensphasen der Band. Dazu gehören Szene-Hits<br />

wie „Midnight Mountain“, „Vampire Sun“<br />

oder „Hopkins“. Solche Stücke haben nichts von<br />

ihrem Reiz verloren – anderes Liedgut, vor allem<br />

das über zehn bis zwölf Minuten gestreckte,<br />

wirkt da zuweilen schon etwas …äh zäher und<br />

nicht ganz so zwingend. Fans – und vor allem<br />

für die dürfte der Doppeldecker interessant sein<br />

– ist das vermutlich schnuppe. Sie kriegen zum<br />

Abschied noch einmal ganz viel Cathedral – im<br />

authentisch rohen Klanggewand.<br />

Keine Wertung<br />

JOBRY<br />

CLOSE YOUR EYES –<br />

EMPTY HANDS AND<br />

HEAVY HEARTS<br />

(Victory/Soulfood)<br />

2012 I #35 I reViews<br />

Die Texaner zocken auch auf<br />

Album Nummer zwei so eine<br />

Art Handbremsen-Hardcore.<br />

Wie das geht? Man nehme die wütenden Genre-<br />

Bestandteile (Gangshouts, Beatdowns) und addiere<br />

zuweilen fast schon zuckersüße Refrains<br />

und Clean-Voclas hinzu. Hmmm, durchwachsene<br />

Geschichte, im Prinzip ein Widerspruch in<br />

27


28 reViews I #35 I 2012<br />

sich. CYE klingen dann auch wie ein wütender<br />

Typ, der anstatt die Tür einzutreten, höflich anklopft<br />

und fragt, ob er reinkommen darf. Würden<br />

sie besser öfter treten – denn die teilweise rasanten<br />

Passen in den 43 Minuten zeigen, dass<br />

die Kerle das im Prinzip können. Klar ist es legitim,<br />

seine Wut in Zuckerwatte zu packen, aber<br />

diese Zuckerwatte sollte dann auch richtig gut<br />

schmecken. Daran hapert es, denn die Melodien<br />

sind einfach nicht eingängig genug, um gänzlich<br />

zu überzeugen und harmonieren überdies nur<br />

bedingt mit der harten Seite der Band. Mehr was<br />

für Freunde von Rise Against, A Day To Remember<br />

oder Comeback-Kid, als für Fans ”echter”<br />

HC-Bands wie Terror und Co. Dessen Fronter<br />

lobt das Quintett zwar als potente Live-Band, für<br />

die Konserve teile ich dieses Urteil aber nicht.<br />

7 Punkte<br />

JOBRY<br />

CIGARETTE CROSSFIRE –<br />

IN BETWEEN THE CURE<br />

AND THE DISEASE<br />

(Combat Rock Industry/<br />

Flight13)<br />

Würden Smokeblow auf intellektuell<br />

machen, klängen sie vielleicht wie Cigarette<br />

Crossfire. Die Finnen, u. a. mit Ex-Musikern<br />

von Endstand und Life Giving Waters, haben vor<br />

allem dank Sänger Jere Lehmus einen gewissen<br />

Dreck im Sound, gehen aber deutlich verkopfter<br />

und gebremster zu Werke, als die norddeutschen<br />

Vollassis. Wer jetzt in Richtung Leatherface<br />

oder Hot Water Music denkt, denkt richtig:<br />

Postpunk mit einem Schuss Melancholie. Nicht<br />

übel, aber auch nicht mehr als Szene-Nische,<br />

zumal man die großen Melodien auf „IBTCATD“<br />

vergeblich sucht.<br />

7 Punkte<br />

JOBRY<br />

COUNTERPARTS –<br />

THE CURRENT WILL<br />

CARRY US<br />

(Victory/Soulfood)<br />

So, so – “es gibt sie noch: Die<br />

“richtigen” Hardcorebands”,<br />

behauptet der Waschzettel. Counterparts gehören<br />

entgegen dieser Ankündigung nicht dazu:<br />

Die Kerle stehen sich und ihrer grundsätzlich<br />

vorhandenen Energie auf Album Nummer zwei<br />

dermaßen selbst im Weg, dass es fast weh tut.<br />

Die gerade mal 34 Minuten ziehen sich wie Kaugummi<br />

und das liegt 1. am total durchschnittlichen<br />

Liedgut, 2. an den absolut nervtötenden<br />

Disharmonien und 3. am gnadenlos monotonen<br />

Geschrei von Fronter Brendan Murphy. Beschönigend<br />

spricht man in dieser Kombination gerne<br />

von Post-Hardcore, am besten noch mit Metalcore-Riffs.<br />

Auch Bands wie Bane oder Defeater<br />

spielen in ähnlicher Liga. Aber hier gilt: Nö,<br />

die elf Stücke haben wirklich nicht viel mit „richtigem“<br />

Hardcore zu tun, sondern eher mit Rohstoffverschwendung.<br />

2 Punkte<br />

JOBRY<br />

THE DANGEROUS<br />

SUMMER – WAR PAINT<br />

(Hopeless Records/Soulfood)<br />

Band-Name und das Frisurenproblem<br />

der Herren lassen<br />

mühelos auf eine Emo-Alternative-Kapelle<br />

schließen. Bingo: Das Quartett aus<br />

Maryland (USA) findet die Blink 41s und weltfressenden<br />

Jimmys dieser Welt gut, wäre zugleich<br />

aber auch gerne U2. Hm, schwieriges Unter-<br />

fangen. Die Mischung aus fröhlichem Pop-Punk<br />

und eher depressiv-disharmonisch angehauchten<br />

Gitarrenharmonien führt zu einer fast neutralen<br />

Schnittmenge. Sprich: Die 44 Minuten plätschern<br />

höhepunktlos vor sich hin, sind weder Fisch noch<br />

Fleisch. Dabei glaube ich den Kerlen ja sogar,<br />

dass sie mehr können, als sie in den elf Stücken<br />

zeigen. Aber zumindest im Punk-Bereich kommen<br />

Song-Längen von 3:30 bis 5 Minuten gar<br />

nicht gut. Und der U2-Fraktion braucht man mit<br />

Pop-Punk-Quatsch wohl gar nicht erst zu kommen.<br />

Insofern sollten sich TDS erstmal klar darüber<br />

werden, wohin die Reise gehen soll und sich<br />

dann auch darauf konzentrieren, anstatt sich in<br />

(zu) verschiedenen Stilrichtungen zu verzetteln.<br />

Muss ja nicht zwingend Fisch oder Fleisch herauskommen,<br />

kann ja auch mal ein leckerer Gemüseeintopf<br />

werden…<br />

4 Punkte<br />

JOBRY<br />

DANNY AND THE<br />

WONDERBRAS –<br />

ROCKABILLY PARTY<br />

(DMG/Broken Silence)<br />

Danny und seine zwei Kumpels<br />

spielen klassischen Rockabilly.<br />

Und wenn ich klassisch meine, dann reden wir<br />

vor allem von den 50er Jahren und Künstlern wie<br />

Buddy Holly, Pat Boone, Bill Haley, Elvis Presley<br />

oder Jerry Lee Lewis. Das ist dermaßen oldschool,<br />

dass es schon wieder mehr rockt, als so<br />

manche digital hochgezüchtete „moderne“ Rockplatte<br />

dieser Tage. Die Karlsruher bedienen sich<br />

am reichen Fundus jener Zeit gütlich, packen<br />

aber hörbar viel Spaß und Spielfreude in die<br />

gut 50 Minuten. Unter den 15 Stücken befinden<br />

sich auch diverse Coversongs, etwa „You Made<br />

A Boo Boo“, das berühmte „Runaway“ oder der<br />

Tanzflächenfeger „Bird Dog“. Kurzum: Wer auf<br />

Pomade und Petticoats steht, wird Danny and<br />

the Wonderbras lieben<br />

10 Punkte<br />

JOBRY<br />

THE DEAD HANDS – S/T<br />

(Eigenverlag)<br />

Aus Balingen kommen die<br />

Dead Hands, zwei Überlebende<br />

der Stereo Satanics, nun<br />

aber nicht mehr im Punkgenre<br />

unterwegs, sondern, Überraschung,<br />

mit schönen, mystisch verhallten Wave-<br />

Postfolkrock-Spielereien beschäftigt, die allemal<br />

eine tolle Athmo ausstrahlen und ein gutes Setting<br />

für durchquatschte Nächte und träge Liebesspiele<br />

garantieren. Nicht alle eingestreuten<br />

kleinen Disharmonien klingen dabei folgerichtig,<br />

manche lakonische Gesangsline könnte doch<br />

mehr Variationen vertragen und eine ausgeklügeltere<br />

Technik wär’ manchmal auch schön.<br />

Doch andererseits atmet das ruhige Versenkung,<br />

ist echt, liebevoll, nah und wirklich tief empfunden.<br />

Nicht das Schlechteste, was man über einen<br />

Neubeginn sagen kann. Und für die nächste<br />

Scheibe wünsch ich mir einen fragil und leise<br />

beginnenden, mindestens zwölf Minuten kunstvoll<br />

sich steigernden epischen Kracher. Wetten,<br />

die können das? Die emotionale Kraft ritualisierter<br />

Wiederholungen haben sie ja eh schon<br />

längst kapiert. Sie dürfen sich auf der Erkenntnis<br />

nur nicht ausruhen. Jedenfalls mag ich das,<br />

eindeutig!<br />

10 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

THE DEAD NOTES –<br />

ENTERTAINMENT IS<br />

THE PURPOSE<br />

(My Redemption Records/<br />

Cargo)<br />

Ganz schön großspurig werden<br />

die fünf Bayern als potenzielle Erben des<br />

echten Rock angepriesen, und des weiteren darf<br />

man von Vergleichen mit The Darkness, Gluecifer<br />

und Airbourne lesen. Doch blicken wir der<br />

Wahrheit ins Auge: Das Zweitwerk bietet eine<br />

profane Mische aus Punk Rock, Hard Rock und<br />

Rock‘n‘Roll, nach Schema F gestrickt, getöpfert<br />

und geklöppelt, mit teils holprigen Übergängen,<br />

banalen Texten und einem Tobias Wieser am<br />

Gesangsplugin, der dringendst einen Englisch-<br />

Phonetikkurs besuchen sollte. Klar, die Nummern<br />

sind recht catchy, man kann sofort mitwippen,<br />

und live knallt das bestimmt, wenn man als<br />

lokaler Support unterwegs ist oder die Arnstorfer<br />

Kirmes beschallen möchte. Das Kapitel Professionalität<br />

gehört allerdings schlichtweg noch einmal<br />

überarbeitet.<br />

7 Punkte<br />

Chris P<br />

ANI DI FRANCO –<br />

WHICH SIDE ARE YOU ON<br />

(Righteos Babe/Tonpool)<br />

Es ist inzwischen über drei<br />

Jahre her, dass die Grammy-<br />

Gewinnerin und Singer/Songwriterin<br />

Ani Di Franco uns mit einem neuen Album<br />

erfreute. Und nun also wieder, mit prominenter<br />

Unterstützung von A wie Anais Mitchell<br />

und Gitarrist Adam Levy (Tracy Chapman u. a.)<br />

über die Neville Brothers bis hin zu einer ganzen<br />

Armada von Hornisten aus New Orleans bis S<br />

wie Skerik, dem Saxophonisten, der u. a. Pearl<br />

Jam und R.E.M. unterstützte, wenn er nicht gerade<br />

komplett avantgardistisch unterwegs war.<br />

Hat irgendwie abgefärbt. Nein, immer noch sie,<br />

aber vielgestaltiger, mutiger. Noch immer perlt<br />

das wie ’ne Glaskette aus ’ner Boutique für den<br />

gehobenen Anspruch, aber das verhallt düstere<br />

Schlagwerk setzt Kontrapunkte und pfiffige<br />

Breaks zerlegen den Flow, wo wir es eher<br />

nicht erwarten, um ihn dann lässig perlend, siehe<br />

oben, wieder aufzunehmen. Elegant und raffiniert.<br />

Di Franco muss sich niemandem mehr<br />

anpassen und wenn ich sage, dass Devandra<br />

Banhart diese Platte lieben muss, dann ist es<br />

die pure Wahrheit. Allein schon das formidabel<br />

um eigene Textpassagen erweiterte Pete Seegers-Cover.<br />

Klasse. Im Wechsel in ihrer Heimat<br />

New Orleans und in New York eingespielt, besticht<br />

die Platte durch ihre Buntheit. Die Widerhaken.<br />

Den nun offen vorgetragenen Ärger über<br />

die Dummheit der herrschenden Klasse. Lassen


wir die Dame doch selbst zu Wort kommen: „I’m testing<br />

deeper waters with the political songs on this album.<br />

I feel a little bit frustrated, politically desperate.<br />

After havin’ written hundreds of songs over decades,<br />

I think, now what? How far can I go with this? Can<br />

you sing the word ‘abortion’, can you sing the word<br />

‘patriarchy’ – what can you sing and get away with?“<br />

Ein bisschen fremdelt sie in diesen politischen Liedern<br />

noch mit sich selbst, ungläubig die neuen spitzen<br />

Spielzeuge anfassend. Aber das wird auch noch,<br />

keine Angst. Zieht Euch warm an, wenn die Lady<br />

konsequent weitermacht, in der Richtung.<br />

12 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

DIRETONE – DIRETONE<br />

(Gateways)<br />

Die Dänen sind verliebt –<br />

schwer verliebt in Metallica’s<br />

“Black Album“. Dazu flirten sie<br />

heiß und innig mit Down und<br />

eine frühere Liaison mit Pantera ist den 42 Minuten<br />

auch zu entnehmen. Aber Liebe macht bekanntlich<br />

blind. Daher merken Diretone offenbar nicht, dass es<br />

nicht reicht, exakt so zu klingen wie James Hetfield<br />

und den wuchtigen Sound besagter Metallica-CD zu<br />

imitieren (Diretone’s Bob Rock heißt allerdings Jacob<br />

Hansen). Und auch die allzu offensichtliche Abkupferei<br />

bei den anderen Bands führt nicht zu einer knistervollen<br />

Atmosphäre. Ganz im Gegenteil. Das alles<br />

klingt beeindruckend, aber eben auch komplett<br />

einfallslos nach Kopie. Zumal Diretone die zeitweise<br />

kompositorische Brillanz mancher Vorbilder nicht<br />

ansatzweise erreichen. Daher sind die zehn Stücke<br />

letztlich kalter Kaffee – und den soll man bekanntlich<br />

nicht wieder aufwärmen – schon gar nicht, wenn es<br />

um Liebe und Herzblut geht.<br />

5 Punkte<br />

JOBRY<br />

DISLOCATE –<br />

STOP THIS TRADITION<br />

(District 763/New Music)<br />

Year, so geht Hardcore.<br />

Discolate aus dem Saarland verpassen<br />

dir ’ne richtig schöne Abreibung.<br />

34 Minuten gibt es schnell und aggressiv<br />

auf die Zwölf. Kein Schnickschnack, kein Emo, kein<br />

Gedöns. Gleich der Opener „Game of Dice” funktioniert<br />

wie eine gerade Rechte direkt ins Gesicht. Die<br />

fünf Kerle pöbeln, spucken und kratzen zwölf Stücke<br />

lang schlicht, derb und vor allem angepisst, aber<br />

eben auch extrem zielsicher. Stilistisch bewegt sich<br />

die Chose irgendwo zwischen Pro-Pain, den sträflich<br />

unterbewerteten Barcode und Bonehouse. Die Riffs<br />

sitzen wie eine Eins und die metallische Produktion<br />

drückt und schiebt. Kurzum: Discolate machen nicht<br />

nur auf dicke Hose, „Stop this Tradition“ hat auch<br />

mächtig dicke Eier.<br />

11 Punkte<br />

JOBRY<br />

DIXIE WITCH – LET IT ROLL<br />

(Small Stone Recordings)<br />

Das Texas-Trio existiert seit zehn<br />

Jahren und liefert hier bereits sein<br />

viertes Album ab. Das bietet eine<br />

gute Mischung aus (Southern-)<br />

Hardrock, Blues, Country und Boogie.<br />

Die zehn Stücke bieten kraftvolle Gitarrenarbeit, ein<br />

angenehm raues Organ und jede Menge whiskey-<br />

getränkte Atmosphäre. Stilistisch pendeln die Kerle<br />

knapp 38 Minuten recht geschickt zwischen klassischen<br />

Bands wie Blackfoot, ZZ-Top oder Lynyrd<br />

Skynyrd, aber auch „modernem“ Kram wie Monster<br />

Magnet oder Nickelback. Damit sollte sich nicht nur<br />

in ihrem Heimatland etwas reißen lassen, sondern<br />

auch in der alten Welt. So wie „Let It roll“ klingt, wären<br />

Dixie Witch hierzulande in kleinen Clubs perfekt<br />

aufgehoben, um die bereits auf Konserve spürbare<br />

Energie ihrer Musik schön authentisch mit viel<br />

Schweiß und Whiskey darzubieten.<br />

9 Punkte<br />

JOBRY<br />

DO OR DIE –<br />

THE DOWNFALL OF THE<br />

HUMAN RACE<br />

(Demons Run Amok<br />

Entertainment)<br />

Die Belgier knüppeln sich bereits<br />

seit 1999 durch die Hardcore-Szene. Sonderlich unterscheiden<br />

sie sich dabei nicht von diversen US-Vorbildern<br />

wie Hatebreed oder Sworn Enemy. Soll heißen:<br />

Die Kerle zocken aggressiven, metallischen<br />

Boller-Hardcore, der eher das Testosteron, als die<br />

grauen Zellen in Wallung bringt. Ist ja auch mal okay,<br />

zumal das Sextett in den 13 Stücken das ein oder<br />

andere überdurchschnittliche Riff verbrät. Auch zwei<br />

Sänger, ein Instrumental und weibliche Backvocals<br />

gehören zu den Besonderheiten dieses Albums. Allerdings<br />

reichen die Zutaten nur bedingt, um einen<br />

Originalitätszuschlag zu erhalten, denn vieles auf<br />

„TDOTHR“ ist (solider) Szenestandard. Dieser Eindruck<br />

entsteht sicher auch deshalb, weil DOD den<br />

Bogen mit 52 Minuten schlicht überspannen und<br />

sich die Chose über eine solche Spieldauer einfach<br />

zu sehr abnutzt. Auch die Produktion hätte mehr<br />

Wumms vertragen. Wieder einmal zeigt sich: Weniger<br />

wäre mehr gewesen – für einen Platz im sicheren<br />

Mittelfeld reicht die Leistung jedoch.<br />

8 Punkte<br />

JOBRY<br />

EMANUEL AND THE FEAR –<br />

HANDS (5-Track-EP)<br />

(Haldern Pop/Cargo)<br />

Emanuel And The Fear kommen<br />

aus New York, spielen eine Art<br />

Folkrock mit teils irischen, teils<br />

amerikanischen Einschlag und präsentieren mit dieser<br />

EP einen kleinen Vorgeschmack auf eine LP, die<br />

Mitte des Jahres erscheinen soll. Soweit wäre alles<br />

gesagt. Oder eben nicht. In der Info liest man vielsagend,<br />

dass die Band schon mal 200 Bandmitglieder<br />

auf die Bühne bringt und auch sonst mit allerlei illustren<br />

Bands und Künstlern der Szene (The National,<br />

From Autumn To Ashes, Sufjan Stevens etc.) verbandelt<br />

ist. In der Tat ist die Herangehensweise auf<br />

„Hands“ recht unkonventionell. So sind die Songs<br />

oberflächlich gesehen genreüblich und eingängig,<br />

unter dieser Schale erschließt sich jedoch nach und<br />

nach eine Vielschichtigkeit, die nicht zuletzt dem Einsatz<br />

zahlreicher Streich- und Blasinstrumente geschuldet<br />

ist. Und obwohl es sich hier nur um knapp<br />

25 Minuten Musik handelt, erzeugen Emanuel And<br />

The Fear einen stimmungsvollen Spannungsbogen,<br />

den manch andere Band nicht mal mit einer Doppel-<br />

LP zustande brächte. Ich bin gespannt, ob die New<br />

Yorker diesen guten Eindruck auch auf voller Länge<br />

bestätigen können.<br />

11 Punkte<br />

Jochen Wörsinger<br />

2012 I #35 I reViews<br />

29


30<br />

reViews I #35 I 2012<br />

EMSCHERKURVE 77 – DAT<br />

SOLL PUNKROCK SEIN?!<br />

Sunny Bastards/Broken Silence<br />

Punkrock aus dem Ruhrpott,<br />

Klischee hin oder her, ist<br />

ehrlich und direkt. Mach ja auch nix, wenn man<br />

dazu steht, so wie die Emscherkurve 77. Die<br />

Songs halten sich im simplen Drei-Akkorde-Ramones-Schema,<br />

dem zumindest optisch nicht<br />

wirklich schönen Ruhrgebiet wird gehuldigt und<br />

die Texte pendeln zwischen plattem Humor und<br />

durchaus hintersinniger Ironie. Dabei geht es<br />

textlich neben lokalen Standards wie der A40<br />

oder RW Oberhausen auch durchaus mal humoristisch-exotisch<br />

zu. Ein Song wie „Sarrazin vs.<br />

Guttenberg“ gehört genauso dazu wie „Louis De<br />

Funès“, im dem der kleine Franzose kurzerhand<br />

in den Rockerstand erhoben wird („Du warst<br />

Rock ’n’ Roll auf Zelluloid“). Dazu gesellen sich<br />

mitgröhlkompatible Refrains und meist einprägsame<br />

Gitarrenarbeit. Stilistisch liegt das Quintett<br />

zwischen Lokalmatadoren und Supernichts, lediglich<br />

beim Abgang „Alles Gute und viel Glück“<br />

geht es etwas zu Toten-Hosen-mäßig zu. Mit<br />

„Zeit bleib stehen“ ist übrigens auch ein Cover<br />

von Dritte Wahl am Start. In Summe ein schönes<br />

deutsches Punkrock-Kleinod, das humoristisch<br />

sicher nicht überall verstanden wird. Aber dann<br />

wäre es wohl auch kein Punkrock – und den haben<br />

EK 77 nach eigener Aussage nun mal verstanden.<br />

11 Punkte<br />

JOBRY<br />

EXCUSE ME FIRE –<br />

GLOW AND FLUTTER<br />

(BSC-Music/Rough Trade)<br />

Und noch eine ungewöhnliche<br />

neue Attacke aus München,<br />

die übliche Kompositionsprinzipien<br />

und musikalische vermeintliche<br />

Gewissheiten auf charmant rockende<br />

Weise in Frage stellt...<br />

Man nehme: Einen mit allen Jazzrock-Wassern<br />

gewaschenen irrwitzig guten Schlagzeuger und<br />

einen stoischen Basser mit sehr viel Funky Flow<br />

im Arsch, die zusammen fast schon der Rhythmussektion<br />

der Red Hot Chili Peppers das Wasser<br />

reichen können, während ein zorniger Gitarrist<br />

mit konternden fiesen Schrägen jeden Anflug<br />

von zu viel Harmonie zerstört, dann noch ein<br />

Sänger, der sich akustisch ebenso lasziv um seinen<br />

Mikroständer wickelt, wie er bei Bedarf auch<br />

Streetboy-Prollcharme versprühen kann, das ist<br />

nun wirklich keine Mischung von der Stange.<br />

Was ist bloß los in der einst eher glätteversiegelten<br />

Münchner Soundwolke?<br />

Ein Debüt jedenfalls, das noch einen Riesenspace<br />

nach oben aufmacht, Indierock mit Schrägen<br />

und Flow, ein Stück Wiedergeburt von Genres,<br />

die einst im Crossovergenre auch nicht<br />

überzeugender zusammengedacht wurden als<br />

hier. Wenn jetzt auch noch alle Schrägen gewollt<br />

klingen und die grundverschiedenen Pole des<br />

Sounds noch selbstverständlicher zusammenwachsen<br />

– wobei an der Stelle diese CD schon<br />

ein Riesensatz im Vergleich zum ersten Demo<br />

darstellt, wenn die in dem Tempo weiter wachsen,<br />

dann macht schon mal die großen Hallen<br />

frei – nun, dann reicht es auch für die Best Of-<br />

Abteilung, noch sind sie nur ganz nah dran. Feines<br />

Fulltime-Debut, Respekt!!!<br />

12 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

FALLEN CROWNED –<br />

VERSUS TERMINUS<br />

(Eigenverlag)<br />

Langes Foreplay, Piano,<br />

klassisches Spiel, wie früher,<br />

wo dann die Metalbands<br />

irgendwann mitten rein brachen, ohne die Harmonien<br />

in irgendeiner Weise aufzugreifen. Zum<br />

Glück machen unsere jungen Metaller aus Fürstenfeldbruck<br />

bei München das etwas anders,<br />

wenn auch nicht ganz überzeugend. Sie zitieren<br />

zumindest die Harmonien im Ansatz. Ansonsten<br />

– schwierig, Emocore meets Melodic Deathmetal<br />

mit den üblichen Zutaten, furchtbar klinisch <strong>com</strong>puterisiert<br />

klingendes Schlagzeug (und der Kerl<br />

kann was, das hört man ja und live ist‘s Bombe,<br />

wie ich schon miterlebte), starke Vocals und<br />

Shouts, gute Gitarren und Bassarbeit, trotzdem,<br />

die Produktion klingt klinisch und dünnbrüstig.<br />

Immerhin ist das ein echter Talentnachweis. Aber<br />

für die nächste CD sparen wir für ’ne amtlichere<br />

Produktion und ein geschmackvolleres Cover,<br />

versprochen? Oder sollte jemand von ’ner Härte<strong>com</strong>pany<br />

Lust auf ’ne sehr talentierte, fett abgehende,<br />

variantenreiche, experimentierfreudige<br />

junge südbayrische Band zwischen Emocore<br />

und Death Metal haben, die schon über ein bemerkenswert<br />

solides Handwerkszeug verfügt?<br />

Hier würde sich ’ne Investition lohnen. Wetten?<br />

9 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

FIGHTBALL –<br />

THE HYPERBOLE<br />

OF A DEAD MAN<br />

Wolverine Records/Soulfood<br />

Schwere Bürde seitens des<br />

Labels: Vom “Punkrock-Album<br />

des Jahres” ist da die Rede<br />

und von Vergleichen mit Pennywise oder Social<br />

Distortion. Das schürt eine Erwartungshaltung,<br />

die sich fast unmöglich einlösen lässt. Und wenn<br />

man es denn mal nüchtern betrachtet, verhält es<br />

sich eher so: Die Berliner haben sich mit neuem<br />

Sänger zusammengerauft und liefern auf ihrem<br />

zweiten Album gefälligen melodischen Punkrock<br />

ab, dem aber ganz sicher die „Eier“ von Social<br />

Distortion und die metallische Energie von Pennywise<br />

fehlen. Auf der einen Seite führt das dennoch<br />

zu einer Reihe eingängiger Refrains und<br />

Melodien, auf der anderen Seite befinden sich<br />

aber auch eine handvoll Durchschnittsnummern<br />

unter den 14 Stücken, die so unauffällig und nett<br />

sind, dass sie auch im Kaufhof-Fahrstuhl dudeln<br />

könnten. Nicht missverstehen: „THOADM“ ist ein<br />

nettes Scheibchen und hat mit „Jukebox“ auch<br />

einen unglaublich hartnäckigen Ohrwurm am<br />

Start, aber die Eintrittskarte für den Punkrock-<br />

Olymp sind diese gut 40 Minuten mitnichten.<br />

Kann ja noch werden…<br />

9 Punkt<br />

JOBRY<br />

NIELS FREVERT –<br />

ZETTEL AUF DEM BODEN<br />

(Tapete Records/Indigo)<br />

Manchmal passiert das, dass<br />

Du ’ne Platte hörst und sofort<br />

weißt, die wird Dich begleiten,<br />

an guten wie an schlechten<br />

Tagen, wie ein guter Freund. Hier ist das so.<br />

Niels Frevert, einstiger Frontvorsteher der Band<br />

Nationalgalerie, hat nun nach drei Jahren seit<br />

seiner Letzten die bislang reifste Scheibe aufgenommen.<br />

Und er singt gerade, er würde mir helfen, eine<br />

Leiche zu verscharren, wenn’s nicht seine ist.<br />

Geht mehr Freundschaft? Und ich sag Euch, der<br />

meint das so... Und dass ich mich angesprochen<br />

fühle, hat Gründe. Sie ist mir nah, die uneitle,<br />

aber selbstbewusste Art Freverts, Geschichten<br />

zu erzählen, die sich nun nicht mehr primär um<br />

ihn selbst drehen müssen. Er hat seinen Kosmos<br />

deutlich erweitert, inhaltlich, wie musikalisch. Frischer<br />

Wind bläst uns hier sanft ins Gesicht, wird<br />

auf die Dauer dann doch eine liebevoll formulierte<br />

Herausforderung, das eigene Fenster zu<br />

öffnen, den frischen Wind reinzulassen in all unsere<br />

Riten und Rituale gegen die Erkenntnis unserer<br />

Verstrickungen, verfrühten Kapitulationen,<br />

gegen den inneren Schweinehund, den Anpassungsdruck.<br />

Dabei ist so viel drin. Frevert spürt<br />

die Chance zum Neubeginn, er wirkt als Tonikum<br />

gegen Panikattacken ebenso, wie als kleiner<br />

Stachel gegen zu viel Bequemlichkeit, scheint<br />

grinsend dazustehen, wenn ich ihn morgens<br />

höre, und vor dem Rausgehen noch zu sagen,<br />

„Hey, komm ruhig mal hoch, lohnt sich!“ (Und sei<br />

es nur, um Track 5 zu skippen, der grad ein wenig<br />

abfällt in meinen Ohren).<br />

So wirkt bei mir diese feine Platte, klingendes<br />

Kompendium des tollen freundschaftlichen<br />

Netzwerkes eines Poeten, der sich nie anbiederte<br />

und gerade deshalb so stimmig rüberkommt,<br />

so selbstverständlich und unaufgeregt.<br />

Tolle Gäste hat er im Gepäck, wie Gisbert<br />

zu Knyphausen, Nils Koppruch, die Brüder im<br />

Geiste, und Martin Wenk von Calexico. Ein wenig<br />

Herb Alpert – Gitarrenharmonien, ein wenig<br />

chansoneske Pianoeskapaden, leicht ist das,<br />

swingend, wenn er davon singt, dass jeder seinen<br />

Untergrund hat, „Frustrationstoleranz, Herr<br />

Frevert!“ So viel charmante Selbstironie ist ein<br />

allzu seltenes Juwel. Und dann covert er auch<br />

noch Herman van Veen, den mit dem zärtlichen<br />

Gefühl, mit den großen epischen Betroffenheitsbögen,<br />

der gleichzeitig immer so ein wunderbarer<br />

Poet war und ist, ein Mutmacher, Kinderfreund,<br />

Spaßvogel und einer, der in seinen leisen<br />

Momenten am stärksten war, ich vergess’ es nie:<br />

„Die echten Zeugen sind selten Helden...“ Frevert<br />

schnappt sich das ebenso schöne „Bis jemand<br />

mich hört“, nimmt es uptemp, nimmt ihm<br />

mit dem flotten Tempo ein wenig Erdenschwere<br />

und bleibt auch und gerade hier als Interpret hinter<br />

dem Song, schaut höchstens verschmitzt um<br />

die Ecke, guckt mal nach, ob ich jetzt aufgestanden<br />

bin... Ich konnte nicht widerstehen. Auch<br />

ohne zu skippen. Ich könnte ja was überhört haben.<br />

Die Platte hier wächst nämlich stets ein wenig<br />

weiter. In offene Räume.<br />

13 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

THE GENERATORS –<br />

LAST OF THE PARIAHS<br />

(I Hate People/Edel)<br />

Keine andere Band platziert<br />

sich so stilvoll und exakt in die<br />

Schnittmenge aus Bad Religion<br />

und Social Distortion wie die<br />

kalifornischen Straßen-Punkrocker der Generators.<br />

Das mag in puncto Kreativität mäßig wertvoll<br />

sein, in Sachen Spaß funktioniert diese Mischung<br />

auch auf dem achten Album der Mannen<br />

um Melo-Kehlchen Doug Dagger ausgezeichnet.<br />

Gleich der Opener „Angels looking down“ startet<br />

mit beeindruckender Energie und festbeißenden<br />

Gitarrenharmonien. So soll es in den insgesamt


34 Minuten, bzw. elf Stücken auch weitgehend<br />

bleiben, einzig „Condition red“ scheitert ob des<br />

etwas arg plumpen Refrains an der Qualitätshürde.<br />

Insgesamt kokettieren die Herren zudem<br />

stärker mit ihren 77er-Helden wie The Clash<br />

oder Stiff Little Fingers. Kommt auch ganz gut.<br />

Fazit: Für Fans des melodischen Punkrocks bleiben<br />

die Generators weiterhin eine Pflichtadresse.<br />

12 Punkte<br />

JOBRY<br />

GLAZED FINISH –<br />

MANY FACES<br />

(Antstreet/New Music)<br />

„Many Faces“.<br />

Aber kein eigenes, könnte ich<br />

sagen, wenn ich böse wäre.<br />

Okay, ich bin böse. Glazed Finish machen nämlich<br />

alles richtig und doch alles falsch, denn sie<br />

versuchen mit ihrem offen angelegten Alternative-Indie-Rock<br />

das Beste vom Besten aus ihren<br />

Plattenschränken miteinander zu verschmelzen.<br />

Das mundet durchaus in eingängige, schmackhafte,<br />

erstklassige Songs, doch so leicht sie ins<br />

Ohr gehen, flutschen sie auch wieder heraus.<br />

Die Saarländer „klingen nach“, vergessen sich<br />

dabei aber selbst, so dass der Eindruck entsteht,<br />

die Band wolle auf Teufel-komm-raus gefallen.<br />

Meine Abwehr steht wie ’ne Eins.<br />

7 Punkte<br />

Chris P<br />

GRAVEYARD JOHNNYS –<br />

SONGS FROM BETTER<br />

DAYS<br />

(Wolverine Records/Soulfood)<br />

Das Trio mit dem lustigen<br />

Namen kommt aus South<br />

Wales und spielt 50er-Rockabilly<br />

mit einer ordentlichen Portion Punkrock garniert.<br />

Das ist nicht unbedingt neu, aber auf jeden<br />

Fall unterhaltsam. Stilistisch hängen die britischen<br />

Burschen irgendwo zwischen den coolen<br />

The Peacocks und The Living End. Die 32 Minuten<br />

glänzen dementsprechend durch eine ausgewogene<br />

Mischung aus Melodie und Tempo. Der<br />

Großteil der elf Stücke kommt schön treibend<br />

daher und lässt eher früher als später Beine<br />

und/oder Nacken zucken. Dazu passt auch das<br />

gelungene Cover von Golden Earing’s „Radar<br />

Love“. Das macht sich im Rockabilly-Gewand erstaunlich<br />

gut und ist der würdige Abschluss einer<br />

durch und durch vitalen Vorstellung. Eine besondere<br />

Qualität scheint der Band bei Live-Konzerten<br />

innezuwohnen. Der Waschzettel jedenfalls<br />

behauptet: „Die Graveyard Johnnys bringen<br />

euren Club zum Bersten. Kein Loch bleibt unerforscht!“<br />

10 Punkte<br />

JOBRY<br />

H20 –<br />

DON’T FORGET YOUR<br />

ROOTS<br />

Bridge Nine Records<br />

Cover-Alben gibt es wie<br />

Sand am Meer – jetzt also<br />

auch eines von den New<br />

Yorker Hardcorelern H20. Die haben 15 Stücke<br />

ihrer musikalischen Helden und größten Einflüsse<br />

vertont und geizen dabei nicht mit groß-<br />

en Namen und/oder echten Szeneschwergewichten,<br />

wie etwa Ramones, Social Distortion,<br />

7 Seconds, Sick Of It All, Gorilla Biscuits, The<br />

Clash oder Warzone. Dass dabei keine wirklich<br />

schlechte CD herauskommen kann, ist eigentlich<br />

klar. Zumal es der Band gelingt, die Vorlagen<br />

39 Minuten lang in ihren typisch positiven<br />

Youthcrew-Sound zu packen. Andererseits ist es<br />

gewagt, sich an zum Teil ausgesprochene Klassiker<br />

heranzutrauen und diese mehr oder weniger<br />

neu zu interpretieren. Bei manchen Stücken<br />

kann man als Band nur verlieren. Von daher<br />

bleibt zumindest bei einigen Neuinterpretationen<br />

ein fader Beigeschmack und zudem der Eindruck,<br />

dass sich H20 hier in erster Linie selbst<br />

seinen Wunsch erfüllt haben. Als auflockernder<br />

Einschub im eigenen Live-Set mögen manche<br />

der hier servierten Nummern der Band überdies<br />

noch gute Dienste leisten.<br />

8 Punkte<br />

JOBRY<br />

HATESPHERE –<br />

THE GREAT BLUDGEONING<br />

(Napalm/Edel)<br />

Erstaunlich: Obwohl es bei<br />

Hatesphere in den letzten<br />

Jahren gefühlt mehr Line-up-<br />

Wechsel gab, als Spielerwechsel bei Schalke 04,<br />

bleibt die Band ihrem Sound auf Album Nummer<br />

sieben uneingeschränkt treu. Muss wohl an Gitarrist<br />

Pepe Hansen liegen, der einzigen Konstante<br />

und zugleich dem Hauptsongwriter der<br />

Dänen. Wie auch immer: Die 37 Minuten, bzw.<br />

neun Stücke bollern mal wieder mächtig aggro<br />

und angepisst aus den Boxen. Klassischer Thrash<br />

à la Slayer, Testament oder Pantera trifft auf neuere<br />

Schule. Dazu gibt es die gewohnte Mischung<br />

aus Gitarren-Keule, Grooves und Midtempo. So<br />

ein bisschen avancieren Hatesphere damit zu<br />

den AC/DC des Thrash-Death, aber vermutlich<br />

gibt es auch und gerade im Knüppel-Genre weniger<br />

ehrenvolle Vergleiche…<br />

9 Punkte<br />

JOBRY<br />

HAVOK – TIME IS UP<br />

(Candlelight/Soulfood)<br />

Das Quartett aus Colorado<br />

feuert auf seinem zweiten<br />

Album zehn amtliche Thrash-<br />

Songs ab. Roh und energisch<br />

einerseits, ordentlich strukturiert<br />

und mit einem ordentlichen Maß an Abwechslung<br />

andererseits. Die Chose klingt wie<br />

junge Exodus, Slayer zu Show-No-Mercy- und<br />

Hell-Awaits-Zeiten plus ’ner Prise Demolition<br />

Hammer. Oha, Szene-Fans wissen spätestens<br />

jetzt: Reinhören ist Pflicht. Klar sollte allerdings<br />

sein, dass die Amis das Rad in den 42 Minuten<br />

nicht neu erfinden (können), aber die Unbekümmertheit<br />

und Leidenschaft gleichen die zuweilen<br />

mangelnde Originalität adäquat aus. Wüsste ich<br />

es nicht besser, würde ich die Kerle direkt in die<br />

Bay Area verorten. Abzug in der B-Note gibbet<br />

einzig für das etwas zuuu thrashige Cover, ansonsten<br />

sehr ordentlich.<br />

11 Punkte<br />

JOBRY<br />

HEMENDEX – RESET 2<br />

(Geenger Records)<br />

2012 I #35 I reViews 31<br />

Mit ihrer zweiten Studio-EP<br />

wandeln die Kroaten unbeirrt<br />

den seit der 2008er Gründung<br />

gestarteten Trip weiter<br />

und präsentieren eine neckische Mischung aus<br />

Ladytron, Pouppée Fabrikk, frühen Young Gods<br />

und gitarrenfreien Ur-Ministry, nehmen sich dabei<br />

aber nicht allzu ernst. Der völlig unverkrampfte<br />

Bastard aus Indie, New Wave, Post<br />

Punk und analoger EBM erfrischt mit Nostalgie-Feeling.<br />

Oft wohnt den Stücken eine Amiga<br />

500-Atmosphäre inne, wie zum Beispiel in „Have<br />

a nice Weekend“, und diese minimalistische Haltung<br />

in Verbindung mit exzellentem Songwriting<br />

tut gut im Mehrmehrmehr-Dschungel. A propos<br />

mehr: Wenn man die CD in den Schacht des PC-<br />

Laufwerks einlegt, darf man feststellen, dass die<br />

gesamte EP sowie der Vorgänger „Reset 1“, die<br />

Live-EP „Life is not a Soundcheck“ und so einige<br />

visuelle Schmankerl aller Art auf ihr enthalten<br />

sind. Ja sind die nicht lieb zu uns?<br />

10 Punkte<br />

Chris P<br />

HERZPARASIT –<br />

FROMME LÄMMER<br />

(Echozone/Bobmedia/Sony)<br />

Aus einem Text der Homepage:<br />

„Zeige auch Du, wie<br />

vergiftet Du bist und gewinne<br />

ein exklusives Fanpaket + ein<br />

einzigartiges Online-Liveinterview, bei dem Du<br />

HERZPARASIT all Deine Fragen...“, und so weiter.<br />

Schon klar. Mach Disch nackisch. Hast Du<br />

Brustimplantate? Zeig mir, wie vergiftet Du...<br />

Stopp, Herr Neunert. Das geht doch nicht.<br />

Und ob, Klappe. Buuuuh, wie böse ist das<br />

denn? Mädchen Angst machen, hab ja auch was<br />

Schwarzes an, damit man mich satanisch –<br />

Schluss! Aus! Es reicht völlig aus festzustellen,<br />

dass dieses Machwerk aus brunftigem Schlagergewinsel<br />

und schwachbrüstigen Hardrockvocals,<br />

Electrogezicke von der Stange und maximalbanalen<br />

Midtempheavygitarren in etwa so<br />

spannend ist, wie eine Readers Digest-Ausgabe,<br />

Gott oder wem immer sei Dank, nie veröffentlichter<br />

Rammstein-Songs. „Ich bin das Alpha-<br />

Tier!“, versucht der Herr hier gerade, böse zu<br />

klingen. Selten so gelacht. Dieser böse Wolf ist<br />

ein verkleidetes Schaf und wurde während Ihrer<br />

Abwesenheit softlanweich gewaschen. Und jetzt<br />

ab unter die Schermaschine, Böckchen.<br />

2 Punkte für den Drummer.<br />

Andrasch Neunert<br />

HI-LO & INBETWEEN –<br />

WE ARE NOT THE WIND<br />

(Beste! Unterhaltung/<br />

Broken Silence)<br />

Was wäre der wilde Westen<br />

wohl friedlich gewesen, wenn<br />

die finnischen Hi-Lo & Inbetween damals existiert<br />

hätten. Rauchende Kräuterzigaretten statt<br />

Pistolen. Gespräche bei einem Tee zu zweit statt<br />

Duelle. Gerechtes Teilen statt egoistischer Zockerei.<br />

Große rosa Wattebäusche statt Tumbleweed.<br />

Lieblich, heimelig und entspannt schmeichelt<br />

das dritte Album der Nordeuropäer den<br />

Ohren und dieser charmante Mix aus Folk, Americana,<br />

Country und dem drolligen Akzent Juha<br />

Mäki-Patola’s, der hier und dort auch von Liina


32 reViews I #35 I 2012<br />

Mäki-Patola unterstützt wird, hat schon etwas.<br />

Schade nur, dass der Band im letzten Albumdrittel<br />

ein klein wenig die schöpferische Puste ausgeht.<br />

10 Punkte<br />

Chris P<br />

HORDE OF HELL – LIKDAGG<br />

(Blooddawn/Regain Records)<br />

Klar, wer sich Höllenhorde<br />

nennt, muss infernalischen<br />

Krach machen. Black Metal<br />

also. Na ja, ein bisschen mehr<br />

Struktur und Originalität<br />

würden aber auch diesen Höllenhunden aus<br />

Schweden gut tun. Dahinter steckt übrigens Eigenbrötler<br />

Odhinn (u. a. In Battle) und eine Schar<br />

anonymer Musiker. Die 58 Minuten bestehen<br />

meist aus Marduk-Midtempo und Satyricon-Lava-Sound,<br />

zwischendurch gibt es Höllen-Hörspiele<br />

und das ein oder andere Bathory-Riff recyceln<br />

die Kerle gleich mit. Abgesehen davon,<br />

dass diese Mischung nicht gerade neu ist, stört<br />

der massiv übersteuerte Sound. Der soll wohl<br />

böse klingen, kommt aber ziemlich anstrengend.<br />

Er führt auch nicht gerade dazu, dass die zwölf<br />

Stücke des zweiten Schwedenhappens hängen<br />

bleiben. Im Laufe der Spielzeit verkommt „Likdagg“<br />

mehr und mehr zu einem Grundrauschen<br />

zwischen Staubsauger und Wasserkocher. Vielleicht<br />

ein Album für Menschen mit Haushaltsgerätegeräusch-Fetisch?<br />

3 Punkte<br />

JOBRY<br />

ISOLATED – ANTISTYLE<br />

(District 763 Records<br />

/New Music)<br />

„Die Musik ist beeinflusst von<br />

Hardcore, Punk und ganz viel<br />

Spaß“, heißt es schlicht im<br />

Waschzettel zu dieser CD. Den Spaß nehme ich<br />

den Kerlen aus Quedlinburg schon ab, allerdings<br />

klingen die 15 Stücke auch ganz schön wütend.<br />

Im Prinzip pendelt „Antistyle“ zwischen Agnostic<br />

Front und Rawside. Passend dazu gibbet aggressiven<br />

englisch- und deutschsprachigen<br />

Hardcore zu Gehör. Der lässt sich bekanntlich<br />

nicht neu erfinden, jedoch durchaus mal besser,<br />

mal schlechter wiederkäuen. Isolated verrichten<br />

hier absolut solide Arbeit und es verwundert wenig,<br />

dass man sich seit der Gründung 1993 u.<br />

a. im Vorprogramm von Sick Of It All, Agnostic<br />

Front oder Madball verdingen durfte. Textlich gibt<br />

es ’ne klare Position gegen Kommerz und Szenetrends<br />

und für Offenheit und Toleranz. Ebenfalls<br />

positiv: Trotz harter Töne lachen einen die<br />

Musiker auf den Fotos entspannt an, zudem gibt<br />

es mit „Where Eagles dare“ eine Misfits-Cover-<br />

Version, die nicht ganz in die stilistische Ausrichtung<br />

der Band passt, aber dennoch als gelungen<br />

bezeichnet werden darf.<br />

9 Punkte<br />

JOBRY<br />

JEALOUSY MOUNTAIN<br />

DUO – NO. 1<br />

(bluNoise/Alive)<br />

Kurz vor Deadline rutscht mir<br />

hier noch Neues vom Berufsverrückten<br />

und Tausendsassa<br />

Jörg A. Schneider rein. Nach Fischessen und<br />

Tarngo wird nun also unter dem Namen Jealousy<br />

Mountain Duo der Projektgedanke weitergelebt.<br />

Diesmal mit dabei: Gitarrist Jens Berger.<br />

Zu zweit werden Improvisationen geboten, die<br />

ihre Wurzeln im Jazz haben und recht frickelig<br />

daherkommen. Das große Plus der Platte ist dabei<br />

ihre Unmittelbarkeit. Als würde man neben<br />

den beiden Freigeistern im Aufnahmeraum sitzen,<br />

meint man quasi live mitzuerleben, wie sich<br />

die Songs aus dem Nichts aufbauen, die Musiker<br />

die Improvisationen fließen lassen und sich<br />

alles letztendlich immer wieder neu zusammenfügt.<br />

Das muss man hören, um es zu verstehen.<br />

entzieht sich jedweder Wertung<br />

Jochen Wörsinger<br />

JIM JEFFRIES –<br />

COMING TO GET YOU<br />

(I Sold My Soul/Edel)<br />

Nimmt man nur die Bilder der<br />

CD zum Maßstab, scheint Jim<br />

Jeffries ein ganz schön eitler<br />

Poser zu sein. Aber der 40jährige<br />

Engländer kann mehr, als nur wichtig in<br />

die Kamera zu glotzen: Nämlich Gitarre spielen<br />

und singen. Und da JJ den Rockabilly quasi<br />

mit der Muttermilch aufgesogen hat, gibt es<br />

hier 43 Minuten lang 14 Stücke zwischen angecashter<br />

Slideguitar-Wild-West-Romantik, klassischem<br />

Rock ’n’ Roll im Elvis-Stil und eben treibendem<br />

Rockabilly. Eine hübsche Mischung,<br />

die Jeffries und seine Mannen mit viel Herzblut<br />

und Liebe zum Detail vortragen. Klingt zudem<br />

kein bisschen angestaubt, weil die Band nicht<br />

mit der Brechstange dem Retro-Sound hinterher<br />

hechelt. Und eine Rockabilly-Coverversion von<br />

„Don’t Go“ (Vince Clarke, bzw. Yazoo) ist mir bislang<br />

auch noch nicht zu Ohren kommen. Funktioniert<br />

aber das Teil – genau wie das komplette<br />

Album.<br />

10 Punkte<br />

JOBRY<br />

KADAVRIK – N.O.A.H<br />

(Sonic Attack/Soulfood)<br />

Melodic-Death-Metal<br />

aus Westfalen: Das Quartett<br />

liefert sauber produzierte 45<br />

Minuten zwischen Dark<br />

Tranquility-Melodik, Sample-Teppichen, Cradle-<br />

Of-Filth-Black-Metal und minimalen Morbid-Angel-Technikanleihen.<br />

Zwischendurch recyceln die<br />

Kerle auch mal ein Bathory-Gedächtnis-Riff. Es<br />

steckt also relativ viel drin in den elf Stücken von<br />

Kadavrik, übrigens vier Mal auch deutsche Texte.<br />

Die sind aber bei der Art von Musik naturgemäß<br />

nur bei konzentriertem Hören als solche zu verstehen.<br />

Sänger Niklas Preach bezeichnet das<br />

dritte Werk der Band als ein „vertontes, antiutopisches<br />

Endzeitszenario“. Na ja, ganz so düster<br />

geht es nun auch nicht zu, vielmehr ist N.O.A.H.<br />

ein unterhaltsames Potpourri aus verschiedenen<br />

etablierten Stileinflüssen harter Musik. Neu erfunden<br />

wir das Rad in Westfalen nicht, aber es<br />

rollt durchaus passabel und weitgehend rund.<br />

9 Punkte<br />

JOBRY<br />

KIESGROUP –<br />

SHANTYCHRIST<br />

(Tumbleweed/Brokensilence)<br />

Manchmal zählt ja der<br />

Gesamteindruck. Da wäre<br />

zunächst das absolut als<br />

geschmacklos einzustufende Cover. Dann ein<br />

Begleitschreiben, das auf einer Länge von gefühlt<br />

1000 Wörtern (mir war’s ehrlich gesagt zu<br />

blöd, genau zu zählen) nichts anderes ist, als<br />

sinnentleerter, pseudointellektueller Dünnschiss.<br />

Okay alles nur Oberflächlichkeit, lediglich Paratext<br />

– es geht hier ja schließlich um die Musik!<br />

Und naja, was soll ich sagen? Die kann sich<br />

auch nicht wirklich entscheiden, ob sie nun Fahrstuhlpop<br />

im Stile eines Peter Licht sein will oder<br />

doch lieber die dunklen, düsteren und teils auch<br />

absichtlich nervenden Elektroexperimente eines<br />

Hans Platzgumer nachahmen möchte. Und zwischendrin<br />

auch noch der ein oder andere Punk-<br />

bzw. Hardcore-Song. Schingeling, schalala. Fertig<br />

ist etwas, das manche sicherlich als Kunst<br />

bezeichnen. Leider finde ich zu dieser persönlich<br />

aber keinen Zugang. Ach, ist das herrlich, etwas<br />

mal so richtig subjektiv scheiße zu finden.<br />

1 Punkt (weil’s ja immerhin Musik ist)<br />

Jochen Wörsinger<br />

KOFFIN KATS –<br />

OUR WAY AND THE<br />

HIGHWAY<br />

(I Hate People/Edel)<br />

Gibt es so etwas wie<br />

positiven Rockabilly?<br />

Wenn ja, dann spielen ihn die seit 2003 aktiven<br />

Koffin Kats aus Detroit. Das Ami-Trio überzeugt<br />

auf seinem vierten Album mit einer tollen Mischung<br />

aus Melodie und Energie. Die 36 Minuten<br />

kommen mit Viel Schmackes, „“Ohhs und<br />

„Ahhs“ sowie – der Abwechslung zuliebe – auch<br />

zwei, drei gebremsten Nummern daher. Stilistisch<br />

erinnert die Chose mehr als einmal an Rezurex.<br />

Stimmlich erinnert Fronter und Upright-<br />

Bassist Vic Victor ein wenig an Blitzkid. Letztlich<br />

aber sind die Koffin Kats die Koffin Kats und die<br />

leben ziemlich gut von der gleichermaßen melodischen<br />

wie klaren Stimme Victors. Fast ebenso<br />

wichtig: Der zumeist treibende, popotretende<br />

Grundrhythmus der KK-Kompositionen. Die führen<br />

dann zu Hits wie „Severing Ties“, Keep It Coming“<br />

oder „Choke“. Kurzum: Ein ganz starkes<br />

Album. Zu diesem rassigen Rockabilly-Rennpferd<br />

kann man Andre von IHP wirklich nur gratulieren.<br />

13 Punkte<br />

JOBRY<br />

LOADED –<br />

BLOODSHOT FORGET-<br />

ME-NOTS<br />

(Rookie/Cargo)<br />

Gute-Laune-Punkrock<br />

mit Ska-Einflüssen.<br />

Auf ihrem fünften Album zocken die Mannheimer<br />

um Exil-Amerikaner Nick melodisch-schwungvollen<br />

Punkrock im Stile von NUFAN, ein bisschen<br />

The Clash und einem ordentlichen Schuss<br />

Operation Ivy. Auch das The-Alarm-Cover „68<br />

Guns“ kommt nicht von ungefähr. Hinzu gesellen<br />

sich in den 36 Minuten neuerdings auch einmal<br />

Western-, bzw. Rockabilly-Anleihen („Sons<br />

of Lee Marvin“). Das verleiht dem Trio stilistisch


einen noch bunteren Anstrich und sorgt durchaus<br />

für Kurzweil. Zuweilen driften die Dame<br />

am Schlagzeug und die zwei Kerle zwar einen<br />

Tick zu sehr ins Cheesige ab, andererseits bietet<br />

„BFMN“ einen ganzen Sack voll eingängiger<br />

Melodien, ganz vorneweg „Wel<strong>com</strong>e To Calgary<br />

Manor“ und „Rebel Romance“. Positiv ansteckend.<br />

11 Punkte<br />

JOBRY<br />

LOS BASTARDOS<br />

FINLANDESES –<br />

SAVED BY ROCK N ROLL<br />

(100% Record Company)<br />

Ähnlich wie ihre Landsleute<br />

von Lordi setzen die Helsinki<br />

Headbanger auf einen bunten Rock-Cocktail mit<br />

allerlei bekannten Zutaten, allerdings ohne Maskerade.<br />

Die 39 Minuten bieten reichlich Déjàvus:<br />

Bands wie Kiss, Twisted Sister, Van Halen,<br />

ZZ Top, Lynyrd Skynyrd und Slade schimmern<br />

in den elf Songs an allen Ecken und Enden<br />

durch. Aber die Finnen sind pfiffig genug, dieser<br />

Rock-Melange zumindest einen kleinen Eigenanteil<br />

beizumischen, etwa durch das angenehme<br />

kratzige Organ von Fronter El Taff. Das<br />

Ergebnis pendelt irgendwo zwischen Party-Metal<br />

und leichter Hardrock-Kost. Nicht ohne Charme,<br />

wenngleich nicht jedes Stück so zielsicher den<br />

Puls in die Höhe treibt wie etwa „Twin Sister“.<br />

Sympathisch aber, dass die Band sich selbst<br />

nicht allzu ernst nimmt und vor allem eines vermitteln<br />

will: Den Spaß am (Hard)Rock. Mission<br />

erfüllt, liebe Bastarde.<br />

9 Punkte<br />

JOBRY<br />

<strong>LOVE</strong> A –<br />

EIGENTLICH<br />

(Rookie/Cargo)<br />

Muss eine Oktave<br />

reichen? Darf sie?<br />

Wenn das einfach so<br />

geil vorwärts rockt,<br />

wie Dackelblut zu<br />

seinen besten Tagen?<br />

Wie die wüste<br />

Anarchoversion der<br />

Schneller Autos<br />

Organisation, wie die<br />

Indiepop-Variante der<br />

Ton Steine Scherben<br />

...<br />

? Viel Sprachgesang,<br />

viel gut temperierter<br />

Ärger, nein, Traurigkeit<br />

über das, was<br />

manche Leben nennen,<br />

viel Hoffnung<br />

auf neue Perspektiven<br />

und „alles, was<br />

Ihr heute sagt, war<br />

gestern schon gelogen...“.<br />

„Was denkt<br />

Ihr Euch?<br />

Denkt Ihr denn überhaupt?“<br />

Tja, gute Frage. Der nicht zu smart hervorsprudelnde<br />

Ekel an der Realität der „Vegetables“<br />

(Danke, Bernhard Vesper!), der spätkapitalistischen<br />

Massenverblödung ist subjektiv und<br />

selbstkritisch genug formuliert, um zu sitzen.<br />

Und das, was Love A, die frühere Trierer Love<br />

Academy, hier formulieren, ist natürlich mit der<br />

Hamburger Schule verbunden, wenn man nicht<br />

primär an Kettcar denkt, die hier ausdrücklich<br />

gedisst werden, sondern eher Marr oder Escapado.<br />

Das hat Haltung, ist echt und warm und<br />

biestig und nett gemeint und doch kompromisslos<br />

und immer gespannt auf die Story hinter der<br />

nächsten Ecke, egal, ob in der U-Bahn oder an<br />

der Supermarktkasse. Das ist wach und macht<br />

wach. Und wenn jetzt, siehe oben, noch ein wenig<br />

mehr Formenreichtum dazukommt, ohne von<br />

einem Mehr an Möglichkeiten sich zu L’art pour<br />

l’art verführen zu lassen – Jungs, da hab ich bei<br />

Euch so gar keine Angst vor – wenn also das<br />

Ganze noch’n Tick bunter wird, dann ist es Referenz<br />

für mindestens eine Musikergeneration.<br />

Oder wollt Ihr etwa Geld verdienen damit? Echt?<br />

Kicher. Dabei hättet Ihr das echt verdient. Aber<br />

welche Industrie lässt sich zu fröhlichem Garagenpoprock-Uptemp<br />

den Ast absägen, auf dem<br />

sie selber... Ach, das kommt erst noch? Und die<br />

sollen es auch noch selbst... Hab ich jetzt zu viel<br />

verraten? Macht Ihr jetzt auch noch ’nen Song<br />

über uns, die Nachbarn auf der anderen Seite?<br />

Wir legen auch kein Kettcar auf, bei der Hinterhofparty,<br />

wenn Ihr vorbeikommt, obwohl wir die<br />

mögen. Versprochen.<br />

12 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

MARVPAUL –<br />

ES GIBT HIER NICHTS<br />

ZU TUN, ABER ETWAS<br />

ANDERES GIBT ES<br />

AUCH NICHT<br />

(Eigenverlag)<br />

2012 I #35 I reViews<br />

Sie sind ja noch so jung, und schon so gut. Im<br />

Spannungsfeld zwischen Pianolyrik wechselweise<br />

Keyboard-Retrospace mit kracherten Indierockgitarren<br />

und Drums, die tendenziell immer<br />

ein wenig schneller wollen als sie dürfen,<br />

mäandert die ein wenig, aber nicht zu weinerlichwütende<br />

Stimme eines früh Desillusionierten aus<br />

meinen Boxen. Und hat offensichtlich zwischen<br />

Sven Regeners balladesker Poesie und den ärgerlichen<br />

Selbstbehauptungsattacken eines Rio<br />

Reiser mit ’nem gehörigen Touch Kompromisslosigkeit<br />

und selbstreferentieller Verliebtheit in epische<br />

Verrätselungen ein sehr eigenes Plätzchen<br />

entdeckt, in dem sich wiedererkennbar deutschsprachig<br />

rocken lässt. Das ist ganz schön neu<br />

und verträgt auch kleinere Stolpereien blendend,<br />

stehen doch Echtheit und rotziger Charme<br />

über allem. Ich empfehle, einfach weiter zu machen<br />

und sich keinesfalls die Kanten abschleifen<br />

zu lassen, nur halt durch technischen Fortschritt<br />

die schon bemerkenswerte Flexibilität und<br />

Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern.<br />

Sehr aussichtsreich sind die Jungs. Partyrock<br />

mit Hirn. Selten. Nicht nur in dem Alter.<br />

Sind ja noch so jung. Ganz schön frech. In der<br />

Münchner Schule ist das Direktorat gefallen. Es<br />

herrscht schwitzige Anarchie. Das sollte sich bis<br />

nach Hamburg ’rumsprechen.<br />

12 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

33


34<br />

reViews I #35 I 2012<br />

MAUD – S/T<br />

(Ampire/New Music)<br />

Kennt Ihr noch North Of<br />

America, die Indierocker, die<br />

einst wüsten Stonerrock mit<br />

Indieschrägen und bewusst<br />

unperfekt gehaltenen Gesangslines zum Gegenentwurf<br />

der gelackten Normierung austauschbarer<br />

Massenprodukte entwickelten, die bei jedem<br />

Song die Instrumente durchwechselten, um<br />

jeglicher Entfremdung vorzubeugen, spontan und<br />

unberechenbar zu bleiben, auch für sich selbst?<br />

Und kennt Ihr noch den wüsten Noiserock von<br />

Mars, die einst Versammlungen von Langhaarigen<br />

in wilde Tanzsäle verwandelten, die hemmungslos<br />

von einer krachigen Überraschung zur<br />

nächsten getrieben wurden?<br />

Verbindet das mal, von den Instrumentenwechseln<br />

abgesehen. Maud sind eine angejazzte,<br />

wütend gegen den Mainstream rockende Neuentdeckung<br />

aus Bavaria, sind ein brachialer<br />

und zugleich filigraner Angriff auf tradierte Hörgewohnheiten,<br />

sind biestig und majestätisch zugleich.<br />

Wie geil ist das denn. Sollte je ein Spielfilm<br />

über einen liebevollen Kampfhund gedreht<br />

werden, der ein ganzes Dorf aufmischt, ohne<br />

dass Blut fließt, dann ist das hier dazu der passende<br />

Soundtrack. Einfacher gesagt: Das atmet<br />

Größe! Und, mal so am Rande bemerkt: Die Blu-<br />

Noise-Abteilung sollte das mögen... Herr Lucas:<br />

Übernehmen Sie!<br />

13 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

ANAЇS MITCHELL –<br />

YOUNG MAN IN AMERICA<br />

(Wilderland Records/Soulfood)<br />

Wenn Dir für ’ne Folkoper im<br />

Guardian, der Sunday Times<br />

und im Observer gleichzeitig<br />

die Ehre zuteil wurde, in den Jahresbestenlisten<br />

Preise abzuräumen, was dann? Dich neu erfinden?<br />

Kommt bei unserer Weltenbummlerin nicht<br />

in Frage. Sie ist, wie sie ist, bringt Geschichten<br />

mit nach Hause und erzählt. Nein, diesmal geht<br />

es eher um „Back to the roots“, verzichtet Mitchell<br />

zunächst auf die große Oper, geht mit kleinerem<br />

Gerät zu Werke und – singt in einem kleinen,<br />

feinen Epos alle Rollen selbst. Es geht diesmal<br />

um einen jungen Mann, der, angeekelt vom Erfolg,<br />

letztlich vergeblich nach Erfüllung sucht, den<br />

nichts mehr wirklich kickt oder gar erfüllt... Anais<br />

Mitchell über ihren tragischen Helden: „Alcohol,<br />

fame, money, sex, – nothing satisfies him. He’s<br />

desirous and very sad.“ Und mit all den Gastmusikern,<br />

die auch dem Di Franco/Mitchell-Kosmos<br />

entstammen, wird es dann doch recht bunt und<br />

ein bisschen viel Geflirre macht sich breit, nur<br />

wenige Minuten lang. Tolle Geschichte ist das,<br />

was sie erzählt, und sie umschifft dann doch wieder<br />

genial die Gefahr, durch zu viel Chichi ihrer<br />

eigenen schönen Geschichte die Aufmerksamkeit<br />

zu nehmen. Das hat dann wirklich Größe.<br />

Wie schön das Banjo von Brandon Seabrook.<br />

Und Todd Sickafoose, ihr treuer Produzent und<br />

Pianist, er ist ihr mindestens ebenbürtig, ihm gehört<br />

die Hälfte des Ruhms, wieder einmal. Nur<br />

die Uptemp-Abteilung, da überfährt sie sich wieder<br />

mal ein wenig selbst. Eine Rockerin muss ja<br />

auch nicht mehr aus ihr werden. Sie hat andere<br />

Stärken.<br />

11 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

MOSFET –<br />

DEATHLIKE THRASH’N’ROLL<br />

(Refused Records)<br />

Diese Ösis aus Marchtrenk<br />

wandeln schwer auf den<br />

Spuren von The Crown, heißt:<br />

Sie reichern zumeist schnellen Thrash mit Death<br />

und Roll an – so gesehen trifft der Albumtitel<br />

zu. Zwischendurch holen die Alpenstaatler mit<br />

diversen Riffs und Soli auch Freunde älterer Slayer<br />

und The Haunted ab. Ist nicht ohne Charme<br />

diese Mischung, landet auf der Originalitätsskala<br />

allerdings eher auf den hinteren Plätzen, auch<br />

in puncto Langzeitgedächtnis. Daher sind diese<br />

knapp 42 Minuten, bzw. 13 Stücke eine Frage<br />

der Priorität: Wer sich bekannte Zutaten gerne<br />

(mehr oder weniger) neu abschmecken lässt,<br />

sollte „DTR“ mal auf dem Speisezettel notieren.<br />

Für Freunde gehobener Gourmet-Küche mit innovativen<br />

Ansprüchen dürfte das Album eher<br />

Fastfood-Charakter besitzen.<br />

7 Punkte<br />

JOBRY<br />

MOST WANTED<br />

MONSTER – BIPOLAR<br />

(District 763/Cargo)<br />

Ich hab es ja schon nicht mehr<br />

für möglich gehalten, dass da<br />

Jungs daher kommen, die es<br />

schaffen, dem guten alten<br />

melodischen Powerheavy neues Leben einzuhauchen<br />

und mal wirklich eine neue, innovative<br />

Mischung zusammenzukomponieren. And here,<br />

ein neues Label aus dem Südwesten der Republic<br />

proudly presents: Feinen vorwärtstreibenden<br />

Emo mit Powergeschrei, Hardrockrums in der<br />

Rhythmik plus Hardcoregitarre (SEHR geil!),<br />

Postrockteppiche, Popchoräle, Electro – und ein<br />

gern mal kurz trillerndes Piano, das bisweilen ein<br />

bisschen viel will, aber in den traurigen Passagen<br />

wirklich schön ist, just that. Guter Gesang,<br />

wichtig in dem Genre. Sehr gutes Handwerk,<br />

und wenn das alles in seiner raffinierten Vielschichtigkeit<br />

live genauso klappt, dann hat das<br />

den Hard ’n’ Heavy-Innovationspreis verdient<br />

und man könnte ähnlich Lustiges erleben, wie<br />

einst bei Waltari-Konzerten: Indie- und Postcorefreunde,<br />

die sich im Metalpublikum nicht unwohl<br />

fühlen. Bei solchen Shouts, solchen pfiffigen<br />

Klangüberraschungen in Serie, die nie Selbstzweck<br />

sind, sondern ein berechtigtes ganz klein<br />

wenig selbstverliebt und ganz schön soundsexy<br />

ein Fest der Variabilität feiern, ohne je den<br />

Grundrumms und vorwärtsweisenden Beat zu<br />

verlieren, wenn man mal von ein, zwei etwas<br />

holprigen Digital-Analog-Flows absieht. Tja, wären<br />

auf der Meckerseite nur die reichlich ausbaufähigen<br />

Englischkenntnisse. Falsche Lehrer?<br />

Urlaub in den Staaten, Bay Area!!! Aber das<br />

führt beim Erstling nicht zur Abwertung, ihr seid<br />

in Karlsruhe ja schon gestraft genug mit dem<br />

KSC...<br />

Also, Freunde der Tonkunst: Das rockt fett, hat<br />

Stil, ist Klasse und ich empfehle die Band mit<br />

Entschiedenheit für höhere Aufgaben. Chapeau,<br />

Jungs!<br />

12 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

MOTÖRHEAD –<br />

THE WÖRLD IS OURS VOL.<br />

1 – EVERYTHING FURTHER<br />

THAN EVERYPLACE ELSE<br />

DVD/2 CD<br />

(Motörhead Music/UDR/EMI)<br />

Dass Lemmy (66 Jahre…) und Co. unkaputtbar<br />

sind, haben sie oft genug bewiesen. Und<br />

wer es immer noch nicht glaubt, möge sich diese<br />

Dreifach-Ladung zu Gemüte führen: Die DVD<br />

dokumentiert das 35-jährige Jubiläum – aufgenommen<br />

von Banger Films und Sam Dunn (Iron<br />

Maiden, Flight 666, Rush, Beyond The Lighted<br />

Stage) und gemixt vom langjährigen Motörhead-Produzenten<br />

Cameron Webb. Es handelt<br />

sich um ein komplettes, 90-minütiges Konzert<br />

aus Santiago de Chile vom April 2011 – 17<br />

Stücke, übrigens gefilmt in Schwarz-Weiß. Das<br />

gibt der Sache eine gewisse Aura der Zeitlosigkeit<br />

– der passende Rahmen für diese Rock ’n’<br />

Roll-Urviecher. Dazu gibbet noch je etwa 25-minütige<br />

Mitschnitte von Konzerten aus New York<br />

und Manchester. Bei „Killed by Death“ taucht<br />

Doro Pesch auf, die ja schon seit Jahren dicke<br />

mit Lemmy ist. Neben Band-Klassikern wie<br />

„Ace Of Spades“, „Overkill“ oder „Over The Top“<br />

kommen auch Stücke vom letzten Album „The<br />

Wörld is Yours“ und eher selten zu Gehör gebrachtes<br />

wie „In the Name of Tragedy“ oder „Just<br />

‚cos You got the Power“ zum Zuge. Die beiden<br />

CDs bringen es jeweils auf eine knappe Stunde<br />

Spielzeit und runden damit den ersten Teil des<br />

Motörhead-wunschlos-glücklich-Pakets gewohnt<br />

knarzig ab. Oder um es wie Lemmy zu sagen:<br />

„We are Motörhead and we play Rock ’n’ Roll!“<br />

Keine Wertung<br />

JOBRY<br />

NEMHAIN – THE MURDER MILE-EP<br />

Download<br />

Starke Zwischenmeldung der Rocker um Paradise-Lost-Drummer<br />

Adrian Erlandsson und seiner<br />

Amber: Als Vorgeschmack auf das nächste Album<br />

funktioniert die 16-minütige EP vorzüglich.<br />

Den Anfang macht eine kaputte Slidegitarrenversion<br />

von „Bad Moon Rising“ – könnte auch von<br />

Marilyn Manson stammen. Danach gibbet zwei<br />

tighte Punkrocker um die Ohren und ein zäher<br />

Bastard in bester Danzig-/Black Sabbath-Tradition<br />

beschließt den Kurztrip düster. Eigentliches<br />

Highlight ist aber das Rotzorgan von Amber, die<br />

positiv an Nina von Skew Siskin erinnert. Das<br />

Beste kommt wie immer zum Schluss. Das Teil<br />

könnt ihr kostenlos unter www.tiefdruck-musik.<br />

de herunterladen.<br />

Keine Wertung<br />

JOBRY<br />

NITROGODS – NITROGODS<br />

(Steamhammer/SPV)<br />

Leute, was soll ich schreiben.<br />

Das ist keine Motörhead--<br />

Scheibe, auch wenn das an<br />

manchen Stellen durchkommt.<br />

Das sind NITROGODS – und die brauchen sich<br />

vor niemandem zu verstecken. Gestandene Musiker<br />

mit langjähriger Erfahrung lassen ein Teil<br />

auf uns los, bei dem Schmidt‘s Katze sich aber<br />

einen Düsenjet unter die vier Pfoten klemmen<br />

müsste, um mithalten zu können. Zwölf Songs,<br />

die dich an die intimste Zone packen und einen<br />

Rock-Adrenalinschub nach dem anderen entfa


chen. Ob midtempomäßig wie bei „At Least I‘m Drunk“, wenn die<br />

Slide-Gitarre ausgepackt („Lipsynch Stars“) oder man eine 3-Minuten-it‘s-only-rock-n-roll-Nummer<br />

(„Gasonline“) zum Besten gibt<br />

– hier wird klar: Das ist THE NEXT BIG THING! Und die kommen<br />

aus good old Germany! Mehr gibt es nicht zu schreiben, das Teil<br />

rockt die Sau in den Kuhstall!<br />

14 Punkte<br />

Carsten Klenke<br />

NITROVOLT – ROCK ’N’ ROLL COMMANDO<br />

(I Hate People/Edel)<br />

Sie sind jung und brauchen den Rock ’n’ Roll:<br />

Die Kölner Nitrovolt galoppieren in knapp<br />

33 Minuten durch zwölf High-Energy-Songs.<br />

Die Paten sind offensichtlich:<br />

Peter Pan Speedrock, The Carburetors und The Chuck Norris<br />

Experiment – Hauptsache flott also. Verschnaufpausen gibbet<br />

auf „Rock ’n’ Roll Commando” folglich nicht, stattdessen regiert<br />

chronisches Popo-Treten. Im Detail mangelt es den Rheinländern<br />

allerdings (noch) an musikalischer Variabilität und den großen Mitgröhl-Refrains.<br />

Fans genannter Bands dürfte die Mischung aus<br />

treibendem Punk ’n’ Roll und Speedrock dennoch so gut einlaufen,<br />

wie ein kühles Blondes an einem heißen Sommertag.<br />

8 Punkte<br />

JOBRY<br />

PENCILCASE –<br />

KANSAS CITY SHUFFLE<br />

(Xochipilli/New Music Distribution)<br />

Diese singenden Federmäppchen fühlen sich<br />

von US-Melodic-Rockern wie den Foo Fighters,<br />

Audioslave oder Puddle Of Mudd angespitzt,<br />

öhm, angestiftet. Die Inspiration hat so gut geklappt, dass die Aachener<br />

meist authentisch US-amerikanisch klingen, teils gar wie<br />

eine unpeinliche Nickelback-Ausgabe. Man benannte sich nach<br />

einem Zitat von Mr. Goodkat aus dem Gangsterthriller „Lucky #<br />

Slevin“: „Ein Kansas City Shuffle ist, wenn alle Welt nach rechts<br />

guckt, während du links rum gehst.“ Seither sind an die 400 Live-Auftritte<br />

(z. B. bei Rock am Turm, eine Rockpalast Show oder<br />

Support für Samiam) sowie aktuell das bereits zweite Album im<br />

Kasten. Und Letztgenanntes macht rundum Laune: „Freaks“<br />

ist ein punkig loslegender Kick-Starter, „Dig“ eine twangige Mischung<br />

aus Radiorock und Hüpfcore mit tollem Intro und das Titelstück<br />

„KCS“ hat „Rollin’“-Qualitäten, die selbst aus meinem<br />

Daihatsu Curare fast eine V8-Stretch-Limo machen. „Memory<br />

Milestones“ hat ein Southern Rock-Flair (doch keine Sorge: Wer<br />

die Beatsteaks coverd, kann eigentlich kein Redneck sein), bei<br />

„Faultline Stories“ kriegen 3DD die Tür nicht zu und „Say Goodbye“<br />

schließlich erinnert sogar ein wenig an die sehr großen Tragically<br />

Hip. Dazu kommt noch Lebenshilfe wie „How To Shit In<br />

The Woods“, ein abgedrehtes Wald-Cover mit einem lang entbehrten<br />

„Parental Advisory“-Sticker – Herz, was willst du mehr?!<br />

11 Punkte<br />

Klaus Reckert<br />

THE PORTERS –<br />

RUM, BUM & VIOLINA<br />

(Cargo Records)<br />

Wenn sich deutsche Bands an Folkrock/-punk<br />

versuchen, geht das meistens ganz schön in<br />

die Bux, aber, lieber Leser, sei beruhigt.<br />

Diese Düsseldorfer Band zieht sich gar nicht mal so schlecht aus<br />

der Affäre. Im Vergleich zu den beiden Vorgängerscheiben bewegen<br />

sich die vier Herren und die Dame allerdings musikgeographisch<br />

noch ein ganzes Stück weiter weg von Irland, stattdessen<br />

werden die Country- und Rock-Territorien intensiver<br />

beackert, gerne aber auch der des Punk. Gerade dann erinnern<br />

The Porters nicht zuletzt auch wegen Volkers Stimme ein wenig<br />

an eine Lightversion der Dreadnoughts. Doch „Rum, Bum & Violina“<br />

ist nicht zum Dauerpogo und -schwof gedacht, denn es<br />

finden sich viele entspannte Momente auf dem Album. Hat man<br />

2012 I #35 I reViews<br />

sich an ein paar marginale Unzulänglichkeiten hinsichtlich Timing, Tightness, Tuning<br />

und Englischaussprache gewöhnt, wird dieses akustische Rund zu einem gern gesehenen<br />

Gast im CD-Schacht.<br />

10 Punkte<br />

Chris P<br />

PSYCHO<strong>LOVE</strong> –<br />

HARDCORE ROCK N ROLL<br />

(Idle Star Records/SecretHell)<br />

Harrharr … ein musikakustisches Werk aus meiner alten Heimatstadt<br />

Oberhausen. PSYCHO<strong>LOVE</strong>! Es muss mächtig was hergeben, das<br />

Geschehen in der Ruhrpottstadt, um solche Song saus dem Ärmel<br />

zu schütteln. Sänger Mirk und sein musikalischer Bruder Jimmy verdeutlichen schon<br />

mit dem Albumtitel “Hardcore Rock’n‘Roll” worum es geht. Die zehn Songs strotzen<br />

nur so vor Energie und Kick-Ass-Rock’n‘Roll. Begrüßt wird man mit einem deftigen<br />

“Fuck”! Hey … was haut ihr uns da um die Ohren!? Puren Rock’n’Roll mir der obligatorischen<br />

schnulzigen Ballade. Also für Euch da draußen sollte klar sein: PSYCHO<strong>LOVE</strong><br />

sind schon zu Lebzeiten Kult! Wer seinen Rockohren eine Menge spaßigen und erdigen<br />

Rock’n‘Roll bieten möchte, sollte sich diese Scheibe besorgen. Den Rest erledigen<br />

dann PSYCHO<strong>LOVE</strong>.<br />

12 Punkte<br />

Carsten Klenke<br />

ROTOR –<br />

FESTSAAL KREUZBERG<br />

(Elektrohasch)<br />

Das war ja mal fällig, Rotor live. Und in der Homebase fehlte es<br />

weder an Tagesform, noch an der nötigen Stimmung. Also, fetter<br />

Stonerrock mit Indiecore- und sogar Metaleskapaden und det<br />

35


36 reViews I #35 I 2012<br />

Janze auf damned hohem Niveau. Man könnte<br />

die Berliner ja fast beneiden, die dabei waren,<br />

aber ein wenig dürfen wir nun wenigstens posthum<br />

mitfeiern, Haare schütteln, abfahren, uns<br />

immer schneller um uns selbst drehen, in den<br />

raffinierten Varianten der Themen versinken und<br />

kein bisschen irgendwelche Vocals vermissen<br />

und die tonangebende Präsenz des Bassers bewundern<br />

und - laut machen. Jetzt. Muss ja nicht<br />

gleich schade finden, dass sie nicht noch ein,<br />

zwei unbekannte Stücke lebendig gemacht oder<br />

alte Bringer in neues Gewand gepackt haben,<br />

wär’ nur schön gewesen, für die Fans, die die<br />

Studioalben schon haben. So, jetzt halt ich aber<br />

mal die Klappe und hör zu. Lohnt sich.<br />

11 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

ROTZKOTZ – MUCH FUNNY<br />

(Sireena Records/<br />

Brokensilence)<br />

Meistens sind Re-Releases ja<br />

der Teufel, doch ab und zu gibt<br />

es doch sinnvolle solche.<br />

Zum Beispiel dieses kleine<br />

Juwel aus dem Jahre 1979. Was duftet es hier<br />

nach ollen Ramones, den Sex Pistols, den<br />

Kinks, den Stooges und The Clash, jaaa, es ist<br />

einfach ein Fest. Noch mal eine dicke Nase einatmen,<br />

aaah! An der Vier-Spur-Eigenproduktion,<br />

die seinerzeit gerade mal 300,- DM gekostet<br />

hat und der Band den Ruf der ersten deutschen<br />

Punkband, die eine selbstproduzierte Scheibe<br />

auf den Markt gebracht hat, einbrachte, wurde<br />

nix geschraubt, und doch schiebt das um drei<br />

Live-Bonustracks erweiterte Kultdebüt der 1976<br />

gegründeten Hannoveraner Wave-Punk-Legende<br />

so manch aktuelle, sich „punk“ schimpfende<br />

Hightech-Veröffentlichung mühelos gegen die<br />

Wand. Es ist ja schon ein wenig ein Fluch, wenn<br />

man wie ich zu spät geboren wurde, denn mit<br />

damals fünf Jahren auf dem schmächtigen Buckel<br />

und eher geschmacksverwirrten Geschwistern<br />

gab es seinerzeit keine Gelegenheit, das<br />

frische Vinyl mit der Nadel des Plattenspielers zu<br />

entjungfern. Doch der Fluch ist nun gebrochen,<br />

wenn auch „nur“ in digitaler Form.<br />

12 Punkte<br />

Chris P<br />

CLAUDIA RUDEK – S/T<br />

(Finest Noise/Radar Music)<br />

Claudia wer? Frau Rudek<br />

markiert mit ihrem Debüt am<br />

Singer-Songwriter-Baum und<br />

gibt dabei eine durchaus<br />

passable Figur ab: Stimmlich an Suzanne Vega<br />

erinnernd liefert Rudek zehn folkig angehauchte<br />

Nummern ab, die sich grob zwischen Bob Dylan<br />

und Joan Baez verorten lassen. Dabei pendelt<br />

Rudek zwischen Pop, ein bisschen Kitsch, Melancholie<br />

und zuweilen interessanter Rhythmik.<br />

In Summe fallen die zehn Stücke recht unterschiedlich<br />

aus. Dieses relativ großzügige Spektrum<br />

macht in Verbindung mit den vielen kleinen<br />

Details innerhalb der einzelnen Stücke den<br />

Reiz der 37 Minuten aus. Auf jeden Fall ein Album,<br />

das an kalten Winterabenden durchaus ein<br />

bisschen gefühlte Wärme in die heimische Stube<br />

bringt.<br />

9 Punkte<br />

JOBRY<br />

THE SAINT<br />

JAMES SOCIETY –<br />

PRAY FOR US<br />

(Tee Pee/Ada Global)<br />

Die Hippies sind wieder da:<br />

Die MusikerInnen von TSJS<br />

glotzen einen nicht nur durch Puck-die-Stubenfliege-Gedächtnis-Sonnenbrillen<br />

an, sondern<br />

liebäugeln auch musikalisch den späten 60ern<br />

folgend. Die vier Stücke, bzw. 17 Minuten lassen<br />

gefühlt so manche Dope-Fahne durch die Boxen<br />

wabern. Ist mir eine Spur zu retro aber Dauer-Hippies,<br />

die sich musikalisch zwischen Doors<br />

und Led Zeppelin wohlfühlen, dürfen sich das<br />

Teil auf den Einkaufszettel notieren.<br />

Keine Wertung<br />

JOBRY<br />

SAMIAM – TRIPS<br />

„I’ve been awake so long“,<br />

diese Zeile (s)kandiert Jason<br />

Beebout im herrlich noisigen<br />

Aufmacher „80 West“ so<br />

lange, bis das Mantra tatsächlich<br />

so eine Art Überklarheit erzeugt, wie sie<br />

Übernächtigung (oder Plattenrezensionsmarathons)<br />

manchmal mit sich bringen kann. Gut so,<br />

denn für diese Scheibe können wir jedes bisschen<br />

Aufmerksamkeit brauchen. Beispielsweise<br />

für endgültige Hymnen wie „Demon“, „How<br />

Would You Know“ oder das Liedgold „El Dorado“.<br />

Hiermit geht Ihr auf einen 40-minütigen Trip<br />

von Punk über Pop bis zu Emo, der übrigens mit<br />

Billie Joe Armstrong im Green Day-Studio eingefangen<br />

wurde. Samian rule. Alle anderen tun nur<br />

so.<br />

13 Punkte<br />

Klaus Reckert<br />

SATURNIA –<br />

ALPHA-OMEGA-ALPHA<br />

(2CD)<br />

(Elektrohasch)<br />

Krautrocker. Brain-Jünger.<br />

Sinnsucher. Legale Drogen-<br />

FreundInnen, Verschwörungstheoretiker ohne<br />

Verfolgungswahn. LSD-Hängengebliebene mit<br />

Angst vor zu bösen Tönen. Indienfahrer ohne<br />

feste Hotelbuchung und Nepalreisende ohne<br />

Rückfahrtticket. Freunde des Kosmos und des<br />

Majakalenders in der alten Ausgabe. Philosophen<br />

aus Atlantis. Ätherische Spinnenmädchen vom<br />

Planeten Betageuze. Langhaar-Fetisch-Schwule<br />

mit Sinn für Stromgitarren und flirrendes Gefiepe<br />

aus Eurer Drogenexperimentalphase. Klaus<br />

Schulze und der Rest von Tangerine Dream.<br />

Eberhard Schoener. Mani Neumeier und die ganze<br />

Guru Guru – Blase. Blumenmädchen aller Länder.<br />

Rick van der Linden und Jon Lord, wenn Ihr<br />

Euch mal kurz wiederbeleben würdet. Modedesigner<br />

für Außerirdische Besucher ohne Bewaffnung.<br />

Alle mal herkommen. Und hören.<br />

P.S.: Wen wir morgen wieder aufwecken aus der<br />

unweigerlichen Trance, das darf unser portugiesischer<br />

Ausnahmekünstler Luis Simões dann<br />

ganz frei selbst entscheiden. Bin dann auch mal<br />

weit weg.<br />

13 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

SCHWARZ –<br />

ESPIRITUS DEL DESIERTO,<br />

YO OS INVOCO<br />

(bluNoise/Alive)<br />

Schwarz ist ein vom Spanier<br />

Alfonso Alfonso (sic!) im<br />

Jahre 1997 ins Leben gerufenes Projekt, das<br />

seinen Namen seinerzeit per Zufallsgenerator<br />

aus einer Krautrock-Enzyklopädie entnahm.<br />

Nicht nur das, sondern auch die Tatsache, dass<br />

das hier vorliegende siebte Album der Band Vinyl<br />

only (weißes Vinyl!!) veröffentlicht wird, offenbart<br />

einen gewissen Charme und zeugt von der Liebe<br />

zu dem, was man macht. Mit dem Signing von<br />

Schwarz geht bluNoise unterdessen entschlossen<br />

den Weg weiter, der schon mit der Veröffentlichung<br />

von Tomzack beschritten wurde. Wie diese<br />

loten sich auch Schwarz im Spannungsfeld<br />

zwischen Krautrock, Drone und experimenteller<br />

Improvisation ein. In diesem Sinne eine echte<br />

Genre-Platte für Liebhaber und Sammler.<br />

13 Punkte<br />

Jochen Wörsinger<br />

SHIRLEY HOLMES –<br />

HEAVY CHANSONS<br />

(Setalight/Rough Trade)<br />

Uptemp, Mädels am Rocken<br />

und Reimen. Plus ein Männeken.<br />

Fett forward. A weng auffällig<br />

krawallig bunt, der flotte<br />

Dreier betreibt Crying for Compliments, aber egal,<br />

das ist ganz schön frech und sexy, hat hohen<br />

Partyunterhaltungsfaktor, ist allemal selbstironisch<br />

genug, um nicht zu selbstgerecht zu wirken,<br />

alles andere als doof, die Sprachwechsel erhöhen<br />

Hype- und Partyfaktor gleichermaßen – und<br />

also ist das zwar nicht eben die Neuerfindung<br />

des Garagenmädelsrrrrocks und irgendwie gibt’s<br />

das alles schon, aber es macht halt god damned<br />

fun, and that’s the point, so lange es noch ein<br />

paar Widerhäkchen gibt. Sonst wär’s ja doch nur<br />

Überbauscheiße. Passt da ein bisschen auf, Mädels.<br />

Wenn Springer Euch liebt, ist der Krawall<br />

Modekacke, ist die Rrrriot nur der Name eines<br />

Parfums und die Veranstaltung bedarf der Redefinition.<br />

Einstweilen geht’s noch.<br />

10 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

SICK OF IT ALL – NONSTOP<br />

(Century Media/EMI)<br />

Der Album-Titel passt:<br />

Die NewYorker Hardcore-Posse<br />

existiert seit mittlerweile<br />

25 Jahren und hat sich in<br />

ihrer Karriere durch nichts<br />

aufhalten lassen. Das nötigt Respekt ab, zumal<br />

die Band bis heute durch absolute Bodenständigkeit<br />

glänzt. Zum Jubiläum belohnt sich das<br />

Quartett mit einer Neueinspielung seiner 20 besten<br />

Stücke – zumindest nach dem Geschmack<br />

der Musiker. Klar ist, dass SOIA tatsächlich eine<br />

ganze Reihe Szene-Hits zustande gebracht haben,<br />

stellvertretend genannt seien hier „Injustice<br />

System!“, „Scratch The Surface“, „Just Look<br />

Around“ und „Lo<strong>com</strong>otive“. Die 35 Minuten zu<br />

füllen, gehörte damit zu der leichtesten Übung.<br />

Fast mehr überrascht, dass der nicht gerade als<br />

szeneaffin geltende Tue Madsen den vier Unkaputtbaren<br />

tatsächlichen einen räudigen und doch<br />

transparenten Sound gezimmert hat. Der verleiht


einem das Gefühl, dass die Kerle gerade im heimischen<br />

Wohnzimmer aufspielen. Bleibt einzig<br />

ein winziger Schönheitsfehler: Ihren vermeintlich<br />

größten Hit „Step down“ haben sich die Geburtstagskinder<br />

tatsächlich geknickt…<br />

12 Punkte<br />

JOBRY<br />

SISTER SIN –<br />

ROCK ’N’ ROLL (Single)<br />

(Victory/Digital Release)<br />

Year, die GöteborgerInnen<br />

werden ihrem Ruf als R ’n’ R-<br />

Säue gerecht und nehmen<br />

sich stilecht ’ne Motörhead-Nummer vor. Die gilt<br />

zwar nicht unbedingt als der große Band-Hit,<br />

aber in diesem Fall entscheiden Botschaft und<br />

Attitüde. Und die stimmen: Liv röhrt herrlich rockig<br />

und ihre männlichen Sidekicks an den Instrumenten<br />

lassen auch nix anbrennen. Dass<br />

Lemmys Kumpeline Doro auftaucht, also zwei<br />

Damen eine Motörhead-Nummer interpretieren,<br />

verleiht der Chose einen zusätzlichen Reiz.<br />

Mr. Killmister jedenfalls wird das gefallen. Noch<br />

was? Höchstens das: “I am in love with Rock ’n’<br />

Roll, it satisfies my soul, if that’s how it has to be,<br />

it ain’t so bad!”<br />

Keine Wertung<br />

JOBRY<br />

SKELETAL DAMAGE –<br />

FIRE AND FORGET<br />

(Rising Records/Cargo)<br />

Bis jetzt hielt ich Reinkarnation<br />

ja für Hokuspokus. Nach der<br />

Einfuhr von „Fire and Forget“<br />

komme ich allerdings ins Grübeln. Skeletal Damage<br />

aus England? Nee, das sind doch die eigentlich<br />

längst aufgelösten Sacred Reich, die<br />

sich ein paar Slayer-Riffs ausgeliehen haben.<br />

Exakt so nämlich klingen diese 49 Minuten. Erstaunlich,<br />

verblüffend, unglaublich – zumindest<br />

für mich als bekennenden Sacred-Reich-Fan.<br />

Wer also auf Innovationen in Sachen Thrash Metal<br />

aus ist, kann sich wieder schlafen legen – damit<br />

kann das junge Quartett nicht dienen. Dafür<br />

aber mit neun Mal klassischen Kompositionen,<br />

die vor allem durch markanten Gesang und gekonnte<br />

Midtempo-Passagen überzeugen. Zwar<br />

ziehen die Kerle ihre Stücke mit 6 bis 8 Minuten<br />

zuweilen etwas zu sehr in die Länge, grundsätzlich<br />

jedoch beweisen sie ein gutes Händchen<br />

beim Song-Aufbau und der Riff-Auswahl. Ein<br />

tendenziell zeitloses Album, das vor allem Traditionalisten<br />

und old-school-Verfechtern Freude<br />

bereiten dürfte.<br />

11 Punkte<br />

JOBRY<br />

SARAH SOPHIE –<br />

LOOKING FOR<br />

PERCEPTION<br />

(Flowerstreet/Alive)<br />

Eine der Stärken der Flowerstreet-Popblase<br />

in München<br />

besteht darin, frühzeitig zwischen Pop, Folk und<br />

Retro jungen Talenten eine Plattform zu geben<br />

und sie familiär zu binden. Da muss nicht immer<br />

alles perfekt sein, wichtig ist Authentizität und Talent.<br />

Sarah Sophie ist eine jener jungen Singer/Song-<br />

writerinnen, die dadurch früh eine Chance bekommen.<br />

Ihre Songs sind hübscher, spärlich arrangierter<br />

Folkpop, teils ein wenig austauschbar<br />

und „schon gehört“ wirkend, teils aber auch fragile<br />

Schönheiten, vor allem im zweiten Teil der<br />

Platte.<br />

Da ist nach oben noch eine Menge Raum offen,<br />

aber auch schon eine Menge Talent erkennbar.<br />

Weitermachen!<br />

8 Punkte<br />

Andrasch Neunert<br />

SOLITUDE –<br />

BRAVE THE STORM<br />

(Fastball Music/Megaphon)<br />

Retrosounds sind im<br />

Metalbereich ja gera<br />

de wieder schwer in.<br />

Fast könnte man die Japaner Solitude auch in diese<br />

Schublade stecken. Doch hier haben wir es<br />

mit ein paar alten Hasen zu tun. Die Hälfte des<br />

Quartetts war in den 80ern in Sacrifice (den japanischen<br />

natürlich) zu Gange. So weit, so gut.<br />

Nach zwei Jahren hat ihr zweites Album „Brave<br />

the Storm“ nun auch den Weg vom Morgen- ins<br />

Abendland gefunden. Zu hören gibt es kraftvollen<br />

und traditionellen Heavy Metal mit eindeutigen<br />

Wurzeln in der New Wave of British Heavy<br />

Metal – typische Riffs und Hoppel-Bass inklusive.<br />

Dabei geht die Band nicht den einfachsten<br />

Weg und breitet ihre Songs gerne etwas weiter<br />

aus. Am packendsten ist es dann, wenn der<br />

Härtezeiger Richtung Thrash ausschlägt, oder<br />

man auch Tribal-artige Sounds im Intro verarbeitet<br />

oder zeitgemäß groovt. Leider klingt alles<br />

ein wenig austauschbar und kommt nicht immer<br />

so richtig auf den Punkt. Für den Wiedererkennungswert<br />

sorgt dafür der kräftig kratzende und<br />

gar „unjapanische“ Gesang. Gut zu hören, aber<br />

insgesamt nicht ganz so zwingend. Für Genrefans<br />

trotzdem interessant.<br />

9 Punkte<br />

Mario Karl<br />

STONECREEP –<br />

THE DEATHMARCH<br />

CRUSHES ON<br />

(Old School Metal/H’art)<br />

Ursprünglich in 2009 in den<br />

USA als EP erschienen,<br />

pimpen Stonecreep diesen Rundling für Europa<br />

mit zwei weiteren Stücken zu ihrem zweiten<br />

Album auf. Der martialische Albumtitel führt in<br />

die Irre – hier gibt es weder Death- noch Black<br />

Metal, sondern kraftvollen Power-Metal. Dabei<br />

haben die vier Amis aus Portland, Oregon,<br />

vor allem Iced Earth verinnerlicht. Aber auch<br />

eine Truppe wie Brainstorm kommt einem bei<br />

den knapp 40 Minuten in den Sinn. Meist geht<br />

es flott zur Sache, die Gitarrensoli sind ausladend<br />

und vom Einsatz der Doublebass macht<br />

das Quintett reichlich Gebrauch. Die Gitarrenarbeit<br />

erinnert in den melodischeren Momenten<br />

an Iron Maiden, in den weniger melodischen Momenten<br />

an Children Of Bodom. Der im Waschzettel<br />

gezogene Vergleich zu Motörhead und Accept<br />

ist hingegen Humbug. Für Fans genannter<br />

Bands solides Nackenmuskel-Trainingsfutter.<br />

8 Punkte<br />

JOBRY<br />

EINAR STRAY –<br />

CHIAROSCURO<br />

(Sinnbus/Rough Trade)<br />

2012 I #35 I reViews 37<br />

Gibt es das heute noch?<br />

Könnt ihr euch an die Zeit erinnern,<br />

als die größte Freude<br />

war, mit dem selbstgebastelten Schiffchen den<br />

nächsten Bach aufzusuchen und fasziniert zu<br />

beobachten, wie sich das Gefährt – falls nicht<br />

sofort untergegangen – seinen Weg durch die<br />

ruhig dahinperlenden Gewässer suchte – und<br />

teilweise mit „gefährlichen Riffen“ und „Stromschnellen“<br />

zurechtkommen musste?<br />

Was nebst Konstruktionsleidenschaft noch benötigt<br />

wurde, waren die kostbaren Güter Ruhe und<br />

Zeit. Am besten ging das natürlich im Kindesalter,<br />

in dem der Faszinationspegel dementsprechend<br />

meist noch auf Anschlag stand. Hachja.<br />

Gute alte Zeit. Oder einfach nur verklärte Erinnerung<br />

...<br />

Kennt ihr noch? Einar Stray sicher auch, trotz<br />

seiner erst 21 Lenze. Hört man ihm keine Sekunde<br />

an. Ebenso wenig seiner Begleitband, niemand<br />

hat die 21 überschritten. Die Mädels und<br />

Jungs liefern Indie-Folk-Epen der fortgeschrittenen<br />

Art ab – im Fahrwasser Post-Rock mit Hang<br />

zur orchestralen Opulenz. Ihr Debutalbum „Chiaroscuro“<br />

ist die perfekte Vertonung zu den mitreißenden<br />

Bacherlebnissen der Kindheit. Perlendes<br />

Piano, Songs, die sich langsam aufbauen,<br />

unglaublich angenehme Stimmen, alleine, im<br />

Duo oder auch im Chor, tolle Arrangements, Instrumentierung<br />

ohne Scheuklappen und ebensolche<br />

Melodien. Dazu Texte voller Natur, Leidenschaft<br />

und reflektiertem Aufbegehren. Und<br />

vier von sieben Songs, die die 7-Minuten-Marke<br />

durchbrechen. Was will man mehr?<br />

Und wie es sich für gestandenen – wenn auch<br />

junge - Norweger gehört, gehört natürlich eine<br />

straffe Brise von hoffnungsgebender Melancholie<br />

dazu. Einfach nur magisch. Auf Anschlag.<br />

Es gilt jedoch: Man braucht Ruhe und Zeit – Chiaroscuro<br />

ist definitiv keine Platte für zwischendurch<br />

oder den kleinen Hunger. Eher für eine<br />

größere nachhaltigere Sättigung!<br />

14 Punkte<br />

Matthias Horn<br />

SUBVASION –<br />

LOST AT FUNFAIR<br />

(Major Label/Broken Silence)<br />

Was dabei herauskommen<br />

kann, wenn zwei sich zuvor<br />

kaum, beziehungsweise ganz<br />

unbekannte Kapellen – hier die beiden Guts<br />

Pie Earshot’ler Rizio (Cello) und Scheng-Fou<br />

(Drums) und L.N/A, die man als Arapiatas Elena<br />

kennt und die mit einem sogenannten ‚Electribe‘<br />

werkelt – aufeinander treffen, kann oft spannend<br />

sein. Ist es im Falle dieser Kollaboration<br />

auch ansatzweise, denn die Mische aus Ambient,<br />

Electro, Techno, Drum ’n’ Bass, Punkflair<br />

und experimentellen Cello-Klängen ist eine coole,<br />

atmosphärische Angelegenheit; ebenso sind<br />

die Drei bemüht, die acht Stücke ereignisreich zu<br />

gestalten. Vieles aber ist fast schon zu vorhersehbar,<br />

gerade auch, weil alles eine Ecke zu logisch<br />

komponiert wurde und das nimmt dem eigentlich<br />

nicht uninnovativen 48-Minüter etwas<br />

den Glanz und die Spannung.<br />

8 Punkte<br />

Chris P


38 reViews I #35 I 2012<br />

SUN GODS IN EXILE –<br />

THANKS FOR THE SILVER<br />

(Small Stone Records/Cargo)<br />

Drei Jahre nach dem Debüt<br />

„Black Light, White Lines“,<br />

welches von der Fachpresse<br />

mit Wohlwollen aufgenommen wurde, kommen<br />

die 2008 gegründeten Sonnengötter aus ihrem<br />

Exil zurück in den Fokus der Anbetenden. Geboten<br />

wird klassischer Rock‘n‘Roll ohne Schnörkel,<br />

dafür mit sehr viel ins Blut gehenden Gitarrenriffs<br />

und zehn Songs voller Spielfreude. Keine Kompromisse<br />

in Anbetracht dessen, was sie können.<br />

Eingängige Melodien mit seelebehafteten Soli.<br />

Schon der Opener „Hammer Down“ lässt das<br />

Rockerherz der Lynyrd Skynyrd-, Molly Hatchet-,<br />

The Cult- oder Black Crowes-Fans heftig schlagen<br />

– und auch danach ebbt die Darbietung<br />

nicht ab. Das Teil läuft und läuft ... Herrlich erfrischender,<br />

typischer Staaten-Classic Rock mit<br />

Suchtfaktor 1 plus!<br />

12 Punkte<br />

Carsten Klenke<br />

TEODOR TUFF –<br />

SOLILOQUY<br />

(Fireball/Edel)<br />

Progrocker mit Hang zum<br />

Bombast – das ist euer Album.<br />

Die Norweger mit dem<br />

komischen Namen brennen auf Album Nummer<br />

zwo jedenfalls ein ziemliches Feuerwerk aus<br />

70er Progrock, Power Metal, Klassik, Rock-Oper<br />

und Musical(-Anleihen) ab. Der opernhafte, disharmonische<br />

Opener „Godagar” ist erst mal ein<br />

ziemlicher Schock, aber im Laufe der 50 Minuten<br />

(plus 28 Minuten Leerlauf) besinnen sich<br />

die Herren dann doch auf nachvollziehbarere<br />

Strukturen und nicht allzu komplizierte Musikmathematik.<br />

Hinzu kommen diverse sinfonische<br />

Elemente, die die durchaus vorhandenen Metal-Gene<br />

meist dominieren und dem Ganzen ein<br />

bisschen mehr Drama geben. Wer auf Künstler<br />

wie Jorn, Kiske oder Avantasia steht, dürfte mit<br />

den elf Stücken gut leben können. Wer zudem<br />

noch eine Schwäche für Namedropping besitzt,<br />

sollte spätestens jetzt wunschlos glücklich sein:<br />

Neben Jeff Waters (Annihilator), Mattias IA Eklundh<br />

(Freak Kitchen), Martin Buus (Mercenary)<br />

und Eskild Kløften (Divided Multitude) lässt sich<br />

Produzent Jacob Hansen (Volbeat, Mercenary,<br />

Pestilence) als beteiligter Szene-Promi ins Feld<br />

führen.<br />

9 Punkte<br />

JOBRY<br />

THOUGHTS PAINT THE<br />

SKY – NICHT MAL MEHR<br />

WIR SELBST<br />

(Midsummer Records/Cargo)<br />

Die Überraschung vor etwas<br />

mehr als sechs Jahren war<br />

groß, als eine unbekannte deutsche Band die<br />

elektrische Gitarre außen vor ließ und ihren eigenwilligen<br />

Screamo quasi unplugged auf Konserve<br />

transportierte. Das war neu, das war aufregend,<br />

das war anders – doch heuer, auf dem<br />

dritten Album und nach vielen Line-up-Wechseln<br />

ist die Magie ein ganzes Stück weit verlorengegangen.<br />

Einerseits liegt das wohl daran,<br />

dass Thoughts Paint The Sky anno 2011 deutlich<br />

routinierter zu Werke gehen, besonders aber<br />

hat sich die Band ihrer Ecken und Kanten leider<br />

selbst beraubt und sich so von einer unangepassten,<br />

innovativen Truppe in eine angepasste<br />

und bequemer zu konsumierende verwandelt –<br />

und sich so Stück für Stück gen, nun ja, Albumtitel<br />

bewegt. Schade.<br />

7 Punkte<br />

Chris P<br />

THROWOUTS –<br />

WORKING CLASS<br />

TRADITION<br />

(District 763 Records/<br />

New Music)<br />

Kurz und schmerzlos:<br />

Diese Fünf-Track-EP dauert gerade einmal 13<br />

Minuten und hängt stilistisch zwischen Punkrock<br />

und Streetpunk. Gleich das erste Stück „interpretiert“<br />

kackfrech den Refrain von Pennywise’s<br />

“Bro Hym“ und das nachfolgende Titelstück<br />

könnte glatt von Roger Miret & The Disasters<br />

stammen. Alles nur geklaut? Na ja, zumindest<br />

so einiges, auch bei den Dropkick Murphys und<br />

Sick Of Society. Und doch wissen die Kerle aus<br />

Saarlouis zu gefallen, weil sie – abgesehen vom<br />

etwas zu starken deutschen Akzent und den etwas<br />

zu schwachen Stimmchen – einen lockerleichten<br />

Punkrock-Hardcore-Oi!-Cocktail mit melodischen<br />

Gitarren zustande gebracht haben.<br />

Darauf lässt sich aufbauen.<br />

Keine Wertung<br />

JOBRY<br />

TOTAL CHAOS –<br />

BATTERED AND SMASHED<br />

(Conrete Jungle/Edel)<br />

TC sind mittlerweile seit 22<br />

Jahren im Geschäft – ihre<br />

Helden sind aber noch älter:<br />

UK-Punk anno 1982 heißt die Lösung. Diesen<br />

Zeiten frönen die Kalifornier nicht nur optisch (Iro<br />

und gaaaanz viele Nieten), sondern auch 33 Minuten<br />

lang akustisch. Im Vergleich zu manchem<br />

Vorgängeralbum gehen die Herren etwas melodischer<br />

zu Werke, was ihnen erstaunlich gut bekommt.<br />

Damit wandeln TC auf den Spuren ihres<br />

bislang wohl besten Albums „Anthems from the<br />

Alleyway“. Letztlich geben sich bei dem Oi!-<br />

Streetpunk-Gebräu Sing-A-Longs, simple Hooks<br />

und räudige Riffs die Klinke in die Hand. Auch<br />

verbal ist auf TC Verlass: Titel wie „Hooligans<br />

Holiday“, „Total Massacre“ oder „Political Repression“<br />

wandeln auf dem schmalen Grad zwischen<br />

platten Klischees und Szene-Authentizität.<br />

Passend dazu auch das Cover: Es zeigt<br />

Lead-Gitarristen Shawn Smash, der sich als junger<br />

Kerl eine Abreibung von der kalifornischen<br />

Polizei einfängt. Überraschung unter den zwölf<br />

Stücken dürfte das plakative „Du siehst scheiße<br />

aus“ sein. Englischer Text, deutscher Refrain<br />

und dann auch noch eingängig…<br />

11 Punkte<br />

JOBRY<br />

TOXPACK –<br />

BASTARDE VON MORGEN<br />

(Sunny Bastards/<br />

Broken Silence)<br />

Ja klar, deutscher Straßenköter-Rock<br />

müffelt fast immer<br />

noch zwangsläufig nach Böhsen Onkelz.<br />

Gerecht, geschweige denn gerechtfertig ist das<br />

nicht, denn die besagten Herren hatten vielleicht<br />

ein Monopol auf zuweilen dümmliche Texte<br />

und Attitüde, ganz sicher aber nicht auf deutsche<br />

Texte in Verbindung mit harter Rockmusik.<br />

Dass es auch besser geht, zeigen z. B. Toxpack,<br />

die stilistisch ähnlich agieren wie etwa Kärbholz<br />

oder die Troopers. Harter, zuweilen metallischer<br />

Sound trifft auf deutsche Texte, die ab<br />

und zu vielleicht etwas zu sehr das Underdog-<br />

Motiv strapazieren, in Gänze aber weitaus weniger<br />

dumpf daherkommen als „Onkelz wie wir,<br />

die fantastischen Vier“. Die Berliner verbinden<br />

schlicht eine gewisse Popo-Treter-Energie mit<br />

verdammt eingängigen und mitgröhltauglichen<br />

Refrains. Ein, zwei Nummern hängen zwar im<br />

Durchschnitt und ein Intro hätte es auch nicht<br />

wirklich gebraucht, der Rest der insgesamt 44<br />

Minuten hat aber das Zeug zum Szene-Highlight.<br />

Fürs Namedropping sorgen als Gäste Roi<br />

Pearce (Last Resort) und Paul Bearer (Sheer<br />

Terror).<br />

11 Punkte<br />

JOBRY<br />

TRI STATE CORNER –<br />

HISTORIA<br />

(Fastball Music/Sony Music)<br />

Bei all den neuzeitlichen austauschbar<br />

klingenden und<br />

nicht selten mit Pathos überladenen<br />

Rockbands ist man mit Recht froh, wenn<br />

mal eine dabei ist, die so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal<br />

besitzt. Tri State Corner sind<br />

eine dieser positiven Ausnahmen. Die Band steht<br />

klanglich zu ihren griechischen Wurzeln, was<br />

sich in der Melodieführung (ein wenig) und dem<br />

Einbinden einer Bouzouki (sehr viel), anstatt<br />

der handelsüblichen E-Leadgitarre, bemerkbar<br />

macht. Dabei schafft man auch auf dem zweiten<br />

Album das Kunststück, dass es nicht wie eine<br />

übers Knie gebrochene Ethnokiste, sondern richtig<br />

natürlich und sinnig klingt. Das Grundgerüst<br />

bleibt dabei immer noch zeitgemäßer Hard Rock<br />

mit Wumms und kräftigen, unkitschigen Melodien.<br />

Der Fünfer hat ein gutes Händchen für feine<br />

Hooks, die von packenden Riffs umgarnt werden.<br />

Der originell klingende Parforceritt über die<br />

Saiten der Langhalslaute ist am Ende bei Songs<br />

wie „Historia“, „Katastrophy“ oder „Sleepless“<br />

nur das Tüpfelchen auf dem I. Das Debüt „El Na<br />

This“ war ja schon nicht von schlechten Eltern,<br />

doch mit „Historia“ (übrigens ein Konzeptalbum<br />

mit einem wieder recht aktuellen Thema) legt<br />

man noch mal was oben drauf. Sollte man mal<br />

reinhören!<br />

12 Punkte<br />

Mario Karl<br />

THE TURBO A.C.’s –<br />

KILL EVERYONE<br />

(Concrete Jungle Records/<br />

Edel)<br />

Rückmeldung nach fünf<br />

Jahren Pause. Die Punk ’n’<br />

Roller haben sich Zeit gelassen für Studio Album<br />

Nummer sieben. Dafür gibbet gleich 17 Kompositionen.<br />

Zieht man Intro und Zwischengeplänkel<br />

ab, bleiben 13 vollwertige Songs. Die bieten<br />

einerseits zwar die gewohnte Rotzig- und Speckigkeit<br />

des Quintetts, lassen echte Widerharken-Qualitäten<br />

allerdings vermissen. Zudem haben<br />

die Kerle um Frontsau KC die Surfgitarren


dieses Mal fast gänzlich außen vor gelassen.<br />

Warum bloß? Nach dem fünften Durchgang beschleicht<br />

mich langsam aber sicher das Gefühl,<br />

dass der Knoten hier nicht mehr platzt. Live funktionieren<br />

die neuen Stücke wahrscheinlich ganz<br />

gut, auf Konserve fehlen den 39 Minuten in Summe<br />

trotz langer Anlaufzeit die besonderen Momente<br />

und hartnäckigen Melodien. Das können<br />

die Kerle besser.<br />

7 Punkte<br />

JOBRY<br />

VA – AGGROPUNK VOL. 2<br />

(Aggressive/Edel)<br />

29 Deutschpunk-Bands in fast 80 Minuten zum<br />

kleinen Preis. Das ist definitiv ein fairer Gegenwert,<br />

zumal sich unter den 29 Stücken ein paar<br />

unveröffentlichte, bzw. zum Erscheinungszeitpunkt<br />

des Samplers neue Tracks befinden. Mit<br />

an Bord sind u. a. namhafte Szenevertreter wie<br />

Dritte Wahl, Kotzreiz, Fahnenflucht, Pestpocken,<br />

Hass, Knochenfabrik, Lokalmatadore, Troopers,<br />

Rawside, Supernichts oder Popperklopper. Ob<br />

„Aggropunk Vol. 2“ damit, wie vom Label behauptet,<br />

die derzeit härteste Deutschpunk-Compilation<br />

auf dem Markt ist, sei mal dahingestellt.<br />

Fakt ist, dass sich vom klassischen Sauf-Punk-<br />

Stück über Stücke mit 80er-NDW-Einschlag bis<br />

hin zum fett produzierten Metal-Punk alle derzeit<br />

gängigen Stoßrichtungen finden. Zusätzlich gibt<br />

es zehn weitere Bonus-Songs als kostenlosen<br />

Download sowie eine limitierte Auflage mit Sticker.<br />

Reicht also locker für ein bis zwei Paletten<br />

Hansa-Pils, das Teil…<br />

Keine Wertung<br />

JOBRY<br />

VA – FREE ROCKSTAR COMPILATION<br />

(Rockstar Records/Download)<br />

Das Aachener Label Rockstar Records hat<br />

aus seinem Programm einen 14-Song-Label-<br />

Sampler zusammengestellt, den es gratis zum<br />

Download anbietet. Stilistisch reicht die Chose<br />

von Integrity-ähnlichem Krach (Trainwreck)<br />

über 77er-Schule (Bad Luck Charms) bis hin zu<br />

Country-Punk (Chip Hanna, Crosstops). Angenehm<br />

fallen u. a. Sommerset und The Pricks auf.<br />

Feine Sache, nicht nur, weil es für lau ist: www.<br />

rockstarrecords.de/<strong>com</strong>pilation.<br />

Keine Wertung<br />

JOBRY<br />

VOLBEAT –<br />

LIVE FROM BEYOND HELL/ABOVE HEAVEN<br />

(Universal/Vertigo)<br />

Wie man’s dreht und wendet – Volbeat sind ein<br />

Phänomen. In welch relativ kurzer Zeit die Band<br />

relativ groß geworden ist – erstaunlich. Diesen<br />

Eindruck bestätig auch die erste Live-CD, die<br />

parallel zur Live-DVD erscheint. Hier ist so ziemlich<br />

alles perfekt: Der Sound, die Aufmachung,<br />

die Stimmung. Ein Mega-Konzert vor 10.000 begeisterten<br />

Landsleuten im Kopenhagener Forum.<br />

Aber halt: Zumindest Fans der ersten Stunde<br />

wird das vermutlich zu viel des Guten sein.<br />

So enthält die 18 Stücke umfassende Playlist mit<br />

„Pool Of Booze“ z. B. gerade einmal ein Stück<br />

vom guten Debüt. Andererseits sind Live-Alben<br />

stets eine Momentaufnahme. Daher stehen in<br />

den knapp 79 Minuten vor allem Stücke des letzten<br />

Albums und damit auch kommerzielle Zugeständnisse<br />

wie „Heaven Nor Hell“ oder das unsägliche<br />

„Fallen“ im Vordergrund. Andererseits<br />

präsentieren sich die Dänen nach wie vor absolut<br />

sympathisch. Dazu gehört auch, dass sie ein<br />

latentes Knüppelstück wie „Evelyn“ und das Misfits-Cover<br />

„Angelfuck“ im Set haben, oder mal<br />

gepflegt Slayers’ „Raining Blood“ in „The Human<br />

Instrument“ einbauen. Und eines bleibt, wie es<br />

ist: „Sad Man’s Tongue“ oder „Still Counting“ sind<br />

Hits für die Ewigkeit und bleiben das Bindeglied<br />

für alte und neue Fans des Quartetts.<br />

Keine Wertung<br />

JOBRY<br />

WALKING WITH<br />

STRANGERS – HARDSHIPS<br />

(Panic & Action/Soulfood)<br />

Beruhigend zu hören, dass<br />

selbst in Schweden –<br />

in Sachen harter Musik oft weit<br />

vorne – manche Band hinterm Mond lebt. Dieser<br />

Fünfer aus Trollhättan hat wohl noch nicht<br />

mitbekommen, dass eine Mischung aus Metalcore,<br />

Mathcore, Breakdowns und melodischen<br />

Refrains längst zum musikalischen Auslaufmodell<br />

verkommen ist. Erst recht, wenn man, so wie<br />

WWS, Genrevorreiter wie As I Lay Dying, Bring<br />

Me The Horizon, Architects oder Meshuggah in<br />

einen Topf schmeißt, umrührt und das Ergebnis<br />

als Eigenleistung ausgibt. Die 33 Minuten bieten<br />

– denn auch handwerkliche, okay – Langeweile<br />

ohne nennenswerte Impulse. Die im schicken<br />

Digipak mitgelieferte 2010er-Bonus-EP „Buries,<br />

Dead And Alone“ kann den gnadenlos überproduzierten<br />

Karren auch nicht aus dem Dreck ziehen.<br />

3 Punkte<br />

JOBRY<br />

WARBRINGER – WORLDS TORN ASUNDER<br />

(Century Media/EMI)<br />

Year, Warbringer sind und bleiben auch mit Album<br />

Nummer drei die legitimen Nachfolger der<br />

leider viel zu früh verblichenen kultigen Demolition<br />

Hammer. Wie einstweilen die Amis Anfang<br />

der 90er-Jahre zelebrieren auch deren<br />

Landsleute Warbringer simplen, aber effektiven<br />

Thrash-Metal, der sich insbesondere durch zwei<br />

Details vom Gros der Szene unterscheidet: 1.<br />

durch geil groovende Midtempo-Passagen und<br />

2. durch gute (!) melodische Gitarrensoli. Die<br />

stehen in angenehmem Kontrast zu der ansonsten<br />

recht derben Mucke, die aber bei aller Energie<br />

stets gut nachvollziehbar bleibt und auch<br />

nie zum Egotrip eines einzelnen Musikers verkommt.<br />

Die zehn Stücke bewegen sich auf konstantem<br />

Niveau – einzig das Instrumental „Behind<br />

The Veils Of Night“ wirkt etwas deplatziert.<br />

Ansonsten aber gilt: Warbringer sind eine New-<br />

School-Thrash-Metal-Band, die den Old-School-<br />

Sound verdammt gut drauf hat.<br />

12 Punkte<br />

JOBRY<br />

WASTED – OUTSIDER BY CHOICE<br />

(Combat Rock Industries/Flight 13)<br />

Die Finnen krebsen seit 15 Jahren in der D.I.Y.-<br />

Punkrock-Szene herum. Das wird wohl auch mit<br />

dem aktuellen Album so bleiben. Das passend<br />

betitelte „Outsider By Choice“ bietet treibenden,<br />

melodischen und zugleich leicht melancholischen<br />

Punkrock. Die 13 Stücke gehen zeitweilig<br />

gut und simpel nach vorne, wirken zuweilen<br />

aber auch ein bisschen ungehobelt und unzureichend<br />

kanalisiert. Stilistisch geht’s in Richtung<br />

2012 I #35 I reViews 39<br />

Descendents, Dead Boys und Spermbirds, die<br />

ja auch immer einen Hauch von Hektik verbreiten.<br />

Dazu kommt ein guter Schuss 77er-Schule.<br />

Alles okaye Zutaten, allerdings machen Wasted<br />

daraus eine gut hörbare, in Summe jedoch auch<br />

recht durchschnittliche 37-minütige Mixtur, deren<br />

Wiedererkennungswert zu gering sein dürfte, um<br />

das selbstgewählte Außenseiter-Dasein zu beenden.<br />

7 Punkte<br />

JOBRY<br />

WILDFYRE –<br />

... REVISIT SPIKE’S ROCKIN 4<br />

(I Hate People Records/Edel)<br />

Lutz Vegas ist ja bislang eher als Frontsau der<br />

Schweinerocker V8 Wankers in Erscheinung getreten.<br />

Erstaunlicherweise füllt den Kerl das nicht<br />

aus. Bei Wyldfyre lässt er die Petticoats fliegen<br />

– es geht um Neo Rockabilly – und der kommt<br />

erstaunlich überzeugend daher. Hintergrund: Bei<br />

SPIKE’S ROCKIN 4 war Vegas Ende der 80er<br />

in einer Rockabilly-Band aktiv. 1991, zwei Jahre<br />

nach ihrer Auflösung, fand sich die Band noch<br />

einmal im Studio zusammen, um sieben ihrer<br />

Kompositionen aufzunehmen. Vier dieser sieben<br />

Stücke wurden noch im selben Jahr auf Crawfishin<br />

Records als „Finally EP“ veröffentlicht. Und<br />

jetzt juckt’s Vegas wieder in den Fingern: Gemeinsam<br />

mit Gitarrist Sudi (Sixes And Sevens),<br />

Kontrabasser Marco (Rampires) und Drummer<br />

Rockin’ Reject (Frantic Flintstones) reanimiert er<br />

im Sommer 2011 die ursprünglich 2006 gegründeten<br />

Wyldfyre. Das Album enthält daher sieben<br />

neue und sieben alte Stücke: Die erstmals remasterten<br />

Stücke von 1991 sowie neue Songs von<br />

Wyldfyre. Obwohl zwischen den Songs kompositorisch<br />

zwei Jahrzehnte liegen, weisen die gut<br />

40 Minuten keinen immensen stilistischen Bruch<br />

auf. Der Neobilly kommt melodisch und angenehm<br />

treibend daher. Wyldfyre werden ganz sicher<br />

nicht die Szene revolutionieren, aber Spaß<br />

macht die Chose allemal. Von daher sollten auch<br />

skeptische Fans dem Quer-, bzw. Wiedereinsteiger<br />

Vegas ruhig eine Chance geben.<br />

10 Punkte<br />

JOBRY<br />

XCLAYM –<br />

PREMIUM ASSKICKING SPEEDROCK<br />

(Fastball Music/Megaphone)<br />

Zumindest die Schreibweise des Bandnamens<br />

ist mal ein klassisches Eigentor, ansonsten aber<br />

stellen sich die Ingolstädter auf ihrem Debüt<br />

recht geschickt an – sehr sogar: Wer sein Album<br />

selbstbewusst „Premium Asskicking Speedrock“<br />

nennt, muss dann aber auch einige Popo-Treter-Riffs<br />

raushauen und ordentlich Tempo machen.<br />

Machen die vier Kerle in den gut 30 Minuten:<br />

Stücke wie „Attention“, „Ink And Blood“ oder<br />

„Ride The Bullet“ finden den direkten Weg ins<br />

Großhirn und stimulieren umgehend Bein- und<br />

Nackenmuskulatur. Hinzu kommt eine leicht dreckige,<br />

aber dennoch druckvolle Produktion, die<br />

den zwölf kurzen Stücken das passende knackige<br />

Gewand verleiht. Der vielleicht größte Pluspunkt:<br />

Obwohl das Genre ja nun weiß Gott keine Neuerfindung<br />

ist, klingen Xclaym erstaunlich frisch und<br />

unverbraucht. Sollten sich die Ingolstädter diese<br />

Fähigkeit bewahren, steht der internationalen<br />

Wettbewerbsfähigkeit nichts im Wege.<br />

12 Punkte<br />

JOBRY


ZIS<br />

40 reViews I #35 I 2012<br />

KURZREZIS – KURZREZIS<br />

Von A WHISPER IN THE NOISE – TO FORGET<br />

(Exile On Mainstream/Soulfood) hat man schon seit<br />

einiger Zeit nichts mehr gehört, 2007 kam die „Dry<br />

Land“, schön, dass die Jungs um West Thordson<br />

mal wieder was von sich hören lassen. Und gut für<br />

das Label, entpuppte sich das letzte Album der Band<br />

doch als absoluter Verkaufsschlager. Musikalisch gibt<br />

es „schöne, melancholische Tunes“ (Waschzettel),<br />

die der ein oder andere Zeitgenosse gewiss als „langweilig“<br />

abtun wird; für den aufmerksamen Zuhörer erschließt<br />

sich aber eine äußerst interessante Klangwelt,<br />

und man könnte sich vorstellen, dass das hier<br />

die Musik ist, die wir Menschen im nächsten Jahrtausend<br />

hören werden, wenn „Hooks“ oder „Strophe-Refrain-Strophe“-Muster<br />

ausgestorben sind (11).<br />

ARSTIDIR – SVENFS OG VÖKU SKILL (BesteUnterhaltung/Broken<br />

Silence) singen in einer Sprache,<br />

der sicherlich nicht jedermann mächtig ist, isländisch<br />

nämlich. Umso erstaunlicher, dass die Sprachbarriere<br />

(es gibt nur zwei Tracks in englischer Sprache) keinesfalls<br />

hinderlich zu sein scheint; man hat das Gefühl,<br />

alles bestens zu verstehen. Wie die Band aus<br />

Reykjavik das schafft? Vielleicht dadurch, dass diese<br />

Musik Gefühle und Stimmungen erzeugt, die universell<br />

sind, da ist Sprachverständnis unnötig, stört<br />

vielleicht sogar. Arstidir, was wohl soviel wie „Jahreszeiten“<br />

bedeutet, machen einfach wunderbare Musik,<br />

zum Heulen schön (12).<br />

So eine Kneipenschlägerei kann mächtig daneben<br />

gehen – das wissen BARFIGHT – BARFIGHT MU-<br />

SIC (AntstreetRecords/NewMusic) ziemlich gut, und<br />

so klingen sie auch ein bisschen, als hätte es neulich<br />

nach ein paar Drinks zuviel mächtig auf die Fresse<br />

gegeben. Ich würde das Ganze als Hardcore mit<br />

ein paar Metal-Einflüssen bezeichnen, die Songs<br />

kommen – gewohntermaßen – nach stets ähnlichem<br />

Schema beim Hörer an, aber der geneigte solche will<br />

natürlich auch genau das, da will ich mal nicht meckern;<br />

außerdem klingt die Schoße ziemlich amtlich,<br />

und wenn nun Sänger Ralle noch ab und an die Tonlage<br />

wechseln würde, könnte das die Band über den<br />

Genredurchschnitt heben (9).<br />

BURNING JACKS – GENERATOR PARTY kommen<br />

aus Dortmund und machen, so sagen sie, schlicht<br />

und einfach, „Rock’n’Roll“, was es tatsächlich ganz<br />

gut trifft. Dabei entwickeln die Jungs ein gutes Gespür<br />

für Melodie und Drive; ok – wer meckern will, der moniert<br />

wahrscheinlich, dass die „Jacks“ das Rad nicht<br />

erfunden haben - aber das dürfte den Burschen herzlich<br />

egal sein, zeigen sie doch auf „Generator Party“,<br />

dass es einzig und allein darauf ankommt, Spaß an<br />

der Sache zu haben – und eben der wird sich, da bin<br />

ich sicher, auf ihr Publikum übertragen. (9)<br />

Die „Provinz“ lebt; dass nicht nur Berlin, Köln, Hamburg<br />

und München musikalisch angesagt sind – oder<br />

sagen wir: sein sollten - zeigen BURN PILOT – BO-<br />

HEMIAN TRAUMA (Setalight). Eine solche Entdeckung<br />

hätte ich, man verzeihe mir meine Worte, in<br />

Bielefeld nun wirklich nicht erwartet. Irgendwo zwischen<br />

„Stoner“ und „Hard Rock“ würde ich den Dreier<br />

einordnen, es grooved und rockt „like hell“, besonders<br />

Sänger und (!) Drummer Sidney, dessen Organ<br />

an keinen geringeren als Robert Plant erinnert, hat es<br />

mir angetan; dazu gesellen sich Basser Joel, der –<br />

im positiven Sinne – die Finger einfach nicht stillhalten<br />

kann und ein großartiger Gitarrist namens Jonas<br />

– und jetzt muss mir bitte mal einer erklären, warum<br />

kein Arsch diese Jungs kennt – ändern wir das! (12)<br />

Besonders Fans von David Bowie und Ray Davies<br />

werden bei JAMES COOK – ART & SCIENCES (Deepsee<br />

Records/ough Trade) auf ihre Kosten kommen,<br />

dies weniger, weil er seinen Altvorderen stimmlich<br />

nahe stünde, sondern vielmehr deshalb, weil es<br />

vor allem kompositorische Ähnlichkeiten gibt. Gitarren,<br />

Synthesizer und Streicher stehen im Mittelpunkt<br />

der musikalischen Ergüsse, die allesamt von einer<br />

ausgeprägten musikalischen Reife zeugen. Fazit: Immer<br />

überzeugend, mitunter gar beeindruckend (11).<br />

Mit der Besprechung von CHRYSAL PASTURE –<br />

GESCHICHTEN VON HABICHT & HOLUNDER<br />

gehen wir mal „back to the roots“, denn das hier ist<br />

KURZREZIS – KURZREZIS<br />

KURZREZIS – KURZREZIS<br />

eigentlich genau das, dem wir uns immer sehr verpflichtet<br />

fühlen. Liebevoll gemachte, handwerklich<br />

mehr als nur solide Musik, „auf dem Kornboden in<br />

Bardüttingdorf“ aufgenommen von einer Band, die<br />

sich selbst, etwas uncharmant, als „Dorfkapelle“ bezeichnet.<br />

Aber genau das, mit Verlaub, ist sie - und<br />

das im allerbesten Sinne: Vor Jahren als ein-Mann-<br />

Projekt gestartet, scheint heute die komplette Dorfjugend<br />

(ich zähle dreizehn Personen auf dem Bandfoto!)<br />

involviert. Dargeboten wird Musik „zwischen<br />

Polka, Kirmessounds, Ska, Indiefolk, Dorfmusik &<br />

Rock“ und das in erstaunlicher Qualität – von denen<br />

werden wir noch hören! (10)<br />

DIGGER BARNES – EVERY STORY TRUE (Hometown<br />

Caravan/Cargo)? War das nicht dieser sympatische<br />

Looser aus “Dallas”? Aber nicht alle Digger<br />

Barnes sind Verlieren, dieser hier ist richtig gut, ganz<br />

wohlfeil kommt das zunächst rüber, lullt den Hörer ein<br />

und entpuppt sich als wesentlich vielschichtiger als<br />

man zunächst annehmen durfte; Digger scheint Spaß<br />

daran zu haben, sein Publikum in die Irre zu führen,<br />

dekonstruiert auch gerne mal den eigenen Wohlklang<br />

durch a-rhythmische Handclaps oder sinistre<br />

Lyrics, bei denen es nicht selten um Mörder, Verbrecher<br />

und gesellschaftliche Außenseiter geht. Erinnert<br />

an die großartigen „Hemlock Smith“ und muss dem<br />

geneigten Musikkonsumenten nicht nur deshalb an’s<br />

Herz gelegt werden (12).<br />

Interessante Idee: Warum nicht mal eine Compilation<br />

mit den musikalischen Einflüssen der „Ramones“<br />

zusammenstellen, wie bei DEEP ROOTS - OF<br />

THE RAMONES (Sireena/Broken Silence) geschehen.<br />

Gene Vincent wird hier musikalisch erwähnt,<br />

die „Stooges“, natürlich, auch Roy Orbison und Link<br />

Wray. Spannend also allemal – wenn man nicht übel<br />

nimmt, dass die „Beach Boys“ fehlen, also ein rundum<br />

gelungener Blick auf diejenigen Großen, die den<br />

Großen ein Vorbild waren (ohne Wertung).<br />

Kurz vor Toresschluss erreicht uns das Vinyl von DER<br />

HERR POLARIS – DREHEN UND WENDEN (Schaf<br />

Records), ein mit viel Liebe gemachtes, wunderschönes<br />

„Singer/Songwriter“-Album, auf dem man den<br />

einzelnen Instrumenten noch Raum zum atmen lässt.<br />

Dabei versteht es der Vierer aus Augsburg ganz ausgezeichnet,<br />

Stimmungen in Musik umzusetzen und<br />

entfacht dabei, auch mit Hilfe der schönen Texte, genau<br />

das, was man wohl mit dem neudeutschen Wort<br />

„Vibes“ bezeichnet. Ganz feine Teil, das! (12)<br />

EHRENMORD – WOLFSCHNAUZE (Millionaires<br />

Club/Cobayn) – klingt hart, ist hart! Deutsche Texte,<br />

ultrabrutale Riffs, mitunter trashig– „Ich hab’ keine<br />

Freunde – ich wohn’ noch bei Mama“ (Textauszug)<br />

meets überraschende Breaks – puuh, nix für Hörer,<br />

die auf eher Radiokompatibles stehen, und das, obwohl<br />

sich das Duo aus Frankfurt das Statement abringen<br />

lässt, man wolle „eine Brücke zwischen Subkultur<br />

und Radiotauglichkeit schlagen“. Aber die<br />

beiden hauen nicht nur auf die Fresse, sondern beweisen<br />

auch, dass sie anders können: „Hey“ ist ein<br />

gutes Beispiel und auch eher punkig ist drin („Stolpern“).<br />

Vielseitigkeit ist also angesagt, und insgesamt<br />

haben die Frankfurter eine hoch-interessante Scheibe<br />

am Start, die massig Fans finden sollte. Aber: Es<br />

wäre schön, mal in die Texte schauen zu können,<br />

denn der Gesang ist oft hart am Rande der „Hörbarkeit“<br />

(11).<br />

Düster ist die Grundstimmung auf der aktuellen CD<br />

von ELECTRIC MOON (NasoniRecords/Nasoni/<br />

ClearSpot), was beim Titel THE DOOMSDAY MA-<br />

CHINE, die auch als doppel-Vinyl erhältlich zu sein<br />

scheint, auch kein Wunder ist. „Musik und Bilder“ sollen<br />

hier „verschmelzen“, mit geschlossenen Augen<br />

kann der Hörer seinen eigenen kleinen Film drehen.<br />

Ob dabei am Ende albtraumhafte Szenarien oder<br />

himmlische Engelscharen zu sehen sind, liegt wohl<br />

nicht zuletzt im Wesen des Konsumenten. Schön laut<br />

aufgedreht könnte sich „Doomsday Machine“ aber<br />

vor allem für diejenigen als echtes Hörerlebnis entpuppen,<br />

die sich furchtlos musikalischen Randgebieten<br />

nähern und auch sonst für alles offen sind. Für<br />

diese könnte das alles sogar ein ganz besonderes<br />

Erlebnis werden (10).<br />

KURZREZIS – KURZREZIS<br />

EMERGE – PERCEPTION ONE (ASR/Soulfood)<br />

machen straighten Hard Rock, den wir so aus den<br />

späten Achtzigern kennen und sicher schon öfter so<br />

oder ähnlich gehört haben. Vor allem Sänger Thomas<br />

Darscheidt, der offenkundig bei den „Regensburger<br />

Domspatzen“ in Ausbildung war (keine Sorge, davon<br />

hört man nichts) vermag der ganzen Sache jedoch<br />

einen guten Funken Individualmerkmal einzuimpfen,<br />

was die Band deutlich über die im Genre so weit verbreitete<br />

Durchschnittlichkeit hebt. Hier darf man gespannt<br />

sein, was da noch so kommt (10).<br />

FRAU POTZ – LEHNT DANKEND AB (Delikatess<br />

Tonträger/BrokenSilence) machen sowas wie Punkrock<br />

mit deutschen Texten, und es ist es ist ein bisschen<br />

schade, dass man, die wirklich guten Texte, nur<br />

zum Teil versteht – ein vollständiges Cover – und ich<br />

gehe mal davon aus, dass hier die Texte abgelichtet<br />

gewesen sind – wäre schon schön gewesen …<br />

Dennoch hat das kleine Hamburger Label hier einen<br />

noch nicht ganz fertig geschliffenes Edelsteinchen<br />

am Start, das man im Auge behalten sollte. Erinnert<br />

in seiner Kompromisslosigkeit übrigens an die Würzburger<br />

Band „Malm“ (10).<br />

MONT GO – ODYSSEE (ES&L/ÜBER) sind wohl<br />

das „next big thing“, zumindest kann man auf der<br />

Label-(?)/Vertriebs-(?) Homepage das Statement<br />

„Man spricht jetzt schon von dem besten Debüt Album<br />

des Nordens“ vernehmen. Zunächst fühlt man<br />

sich aber eher an einen Wolle-Petry-Klon erinnert,<br />

ein Eindruck, der sich dann aber – gottseidank – bald<br />

verflüchtigt. Sauber und glasklar produziert, setzten<br />

die Jungs auch textlich ein Ausrufezeichen - schön<br />

wäre in diesem Zusammenhang übrigens ein Booklet,<br />

in welchem man eben diese Texte auch wirklich<br />

LESEN! könnte. Ansonsten aber eine Band, die irgendwo<br />

zwischen „Madsen“ und „Selig“ anzusiedeln<br />

ist und mit der man definitiv eine „Odyssee“ wagen<br />

kann (11).<br />

Ist es nicht merkwürdig, eine Besprechung zu einer<br />

Platte zu schreiben, die MR. REVIEW heißt. “So<br />

ist das Leben, da musst Du durch“, hätte Oma gesagt.<br />

„XXV“ (PorkPie/Broken Silence) heißt das neue<br />

Werk, und auch jemandem, der sich nicht alltäglich<br />

im Ska-Revier tummelt, dürfte der Name bekannt vorkommen,<br />

sind die Jungs um Sänger Dr. Rude und Gitarrist<br />

Arne Visser doch schon seid - na eben: 25 Jahren<br />

im Geschäft! Wer wird sich da wundern, dass der<br />

Neuner aus dem Land an der Nordsee seinem Sound<br />

treu geblieben ist: Ohrwurmhafter „2Tone Ska“ mit<br />

krachigen Bläsersätzen – das funktioniert heute noch<br />

genauso gut wie 1985. (11)<br />

NAPE – SYNTHETIC UNITY (Setalight/RoughTrade)<br />

erinnern zunächst mal an die guten alten „Nirvana“.<br />

Die Cottbuser machen also „Grunge“, und da<br />

dieses Genre ja eigentlich schon längst tot ist, heißt<br />

das jetzt „Post-Grunge“. Und auch der Genre-Nachzügler<br />

funktioniert noch ganz hervorragend, was das<br />

Trio beweißt – ob’s daran liegt, dass das Teil in Brasilien<br />

gemastert wurde? Gewiss nicht – ich weiß auch<br />

nicht, warum das im Info so hervorgehoben wird –<br />

vielleicht schon eher an der Leidenschaft, mit welcher<br />

die Band an den Schrauben dreht. Obwohl mir<br />

persönlich die Vocs von Sänger und Gitarrist Steve<br />

Gerisch nicht immer zusagen und der Platte gerade<br />

zum Ende hin mitunter zu deutlich anzuhören ist, wer<br />

die Vorbilder sind, haben die Burschen hier ein richtig<br />

gutes Album an den Start gebracht, welches nicht nur<br />

Grunger-Herzen höher schlagen lassen dürfte (10).<br />

Bei O EMPEROR – HITHER THITHER (K&FRecords/<br />

BrokenSilence) gibt es irgendwas zwischen Folkrock,<br />

Pop und Rock zu hören, sehr angenehm und äußerst<br />

atmosphärisch. Und dabei wäre die Platte fast an uns<br />

vorüber gegangen, denn nur dem kleinen, aber umtriebigen<br />

Dresdner Label „Kumpels And Friends“ ist<br />

es zu verdanken, dass man die Scheibe auch hierzulande<br />

hören kann. Well done und Lob dafür, dass<br />

man uns diese schöne Scheibe zur Ohren gereicht<br />

hat. Bei den fünf Iren wechseln sich die Songwriter<br />

gerne mal ab, vielleicht ist dies das Geheimnis ihrer<br />

Vielseitigkeit. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die<br />

Jungs aus Waterford eine große Karriere vor sich haben<br />

(12)<br />

KURZREZIS


– KURZREZIS<br />

KURZREZIS – KURZR<br />

Nein, das Rad haben die POOBALLS – STILL BUR-<br />

NING (FNR/Radar) nicht neu erfunden, das wollen<br />

sie auch ganz gewiss nicht; sie wollen es krachen<br />

lassen, Spaß haben und eben den an ihr Publikum<br />

weitergeben. Ihre Vorbilder sind die „Pixies“ und „Sonic<br />

Youth“ und vor allem ihre Live-Darbietungen haben<br />

ihnen eine stetig wachsende Fanbase eingebracht.<br />

Warum sie ihre CD im Info „Demo“ nennen,<br />

wird ihr Geheimnis bleiben, wertet es die Darbietung<br />

auf „Still Burning“ doch letztlich etwas ab, aber egal:<br />

Hier gibt es mächtigen Alternative Rock mit einer Prise<br />

Punk – die nächste Uni-Party ist gerettet (10).<br />

Schon erstaunlich, aber SAMAVAYO – COSMIC<br />

KNOCKOUT (Setalight/RoughTrade) klingen zunächst<br />

wie eine dieser guten, alten „AOR“-Bands á<br />

la „Toto“ oder „Foreigner“, um dann doch plötzlich die<br />

Kurve in die frühen Siebziger zu kriegen und nach<br />

amtlichem „Alternative-Rock“ zu klingen. Coole Sache,<br />

wusste gar nicht, dass es derlei überhaupt noch<br />

gibt. Auch im Metal ist man daheim, sogar – Achtung<br />

Wortwitz! – die FUNKen fliegen ab und an, bin erstaunt<br />

ob der diversen und gut heraushörbaren Einflüsse<br />

– und dass so was aus Deutschland kommt?!<br />

Und als wäre das noch alles nix, kommt das Teil auch<br />

noch im schicken Pappschuber. Meine vorzügliche<br />

Hochachtung, die Herren! (11)<br />

Eher schwer zugänglich scheint SAM GRAY SING-<br />

ING – SONGS ABOUT HUMANS (FürRecords/Soulfood).<br />

Das ist allerdings noch lange kein Grund, sich<br />

naserümpfend abzuwenden, denn wenn man sich<br />

ein bisschen Zeit nimmt und dem Neuseeländer mit<br />

Ruhe zuhört, entdeckt man eine ungeheure Intensität<br />

und ein „Feuerwerk an Sounds“ (Beipackzettel). Seine<br />

Stimme ist und bleibt gewöhnungsbedürftig, aber<br />

auch sein sehr „eigenes“ Stimmchen darf in Zeiten<br />

immer gleichen und wohl kalkulierten Songwritertums<br />

durchaus als Bereicherung verstanden werden. Mehr<br />

davon! (11)<br />

SCHLAGWERK – s/t (Golden Core RecordsZyx) machen<br />

Metal mit tiefer gestimmten Gitarren, singen<br />

deutsch und klingen dabei irgendwie nach „Oomph“<br />

und/oder „Rammstein“. Dabei machen sie ihre Sache<br />

ganz ordentlich, das Ganze ist mit fettem Sound ausgerüstet,<br />

die Musiker, immerhin Ex- „Ufo“, - „Annihilator“<br />

und „Helloween“-Mitstreiter, machen ihre Sache<br />

ordentlich. Das Ganze hat man dann nur doch schon<br />

ein bisschen zu oft gehört, als dass mehr als zustimmendes<br />

Kopfnicken und Tanzbein-Wippen ausgelöst<br />

werden könnte (8).<br />

SEID – AMONG THE FLOWERS AGAIN (Sulatron/Cargo)<br />

müssten inzwischen auch schon deutlich<br />

zehn Jahre auf dem Buckel haben, die Norweger<br />

sind einfach nicht totzukriegen. Und auch auf<br />

dem aktuellen Longplayer zeigt man, dass man musikalisch<br />

tief in den Siebzigern steckt, die „Beatles“<br />

ebenso kennt, wie David Bowie“, „Led Zepplin“, Marc<br />

Bolan und ähnliche. Mit dem, was da am Ende rauskommt<br />

und die Trondheimer selbst „multi-layered<br />

psychedelic-Rock“ nennen, kann man ganz prima leben,<br />

weil sie die vielen Komponenten eines im Grunde<br />

abgelutschten Genres geschickt neu stylen und<br />

ihm so überaus geschickt neuen Wert verleihen (11).<br />

Und noch so ein „Frickelbruder“. SPARKY QUA-<br />

NO – JENGA (FNR/Zimbalam) spielt die Gitarre selten<br />

auf „normale“ Art, er klopft auf Ihr herum, tappt,<br />

schlägt, wütet, streichelt, zitiert dabei sowohl „ZZ Top“<br />

also auch klassische Komponisten, nutzt Unmengen<br />

von Effekten, um seiner siebensaitige „Fender“-Bariton-Gitarre<br />

die merkwürdigsten Sounds abzujagen –<br />

vorsicht Avantgarde, also?! Ganz so arg ist es dann<br />

doch nicht, denn der Mann aus der Nähe von Tokyo<br />

kriegt immer wieder die Kurve und sorgt durch<br />

eine stets durchdachte Vorgehensweise immer dafür,<br />

dass die Sache nicht in wilde Soundorgien ausufert.<br />

Für manch einen schlicht zu „strange“, für die<br />

offeneren Zeitgenossen eine hochinteressante Geschichte,<br />

die man sich unbedingt mal live geben<br />

IS – KURZREZIS<br />

sollte. Auf was man sich bei Sparky einlässt? Watch:<br />

http://www.youtube.<strong>com</strong>/watch?v=k_k5LF0IEh0 (10).<br />

TALKING PETS – CITIES (Redwinetunes/PIAS) zeigen<br />

sich “vom Westcoastsound inspiriert” (Bio), und<br />

tatsächlich findet man hier und da Anleihen an die<br />

“Beach Boys” und entdeckt die ein oder andere Blume<br />

im Haar; richtig schöne Hooks sind dabei, und so<br />

richtig gibt es nichts zu meckern, vielleicht mal abgesehen<br />

davon, dass das Ganze ab und an ein bisschen<br />

kalkuliert und etwas glatt rüberkommt – ein paar<br />

Ecken und Kanten darf es dann schon noch haben.<br />

Ansonsten aber: Well done, erste Erfolge in Form von<br />

TV-Auftritten und Besprechungen in Gazetten, die<br />

sich ansonsten dem Indie-Bereich eher verschließen,<br />

können als Indiz dafür gewertet werden, dass diese<br />

Band es weit bringen könnte (10).<br />

Für eine Band wie THE AGGROLITES – UNLEAS-<br />

HED LIVE (Brixton/Cargo) scheint eine live-Scheibe<br />

nach acht Jahren und fünf Studioalben ein logischer<br />

Schritt, gilt die Band aus L. A. doch als einer der Top-<br />

Bühnen-Acts des Genres. Aufnahmetechnisch gelingt<br />

es ganz prima, Atmosphäre rüberzubringen, und mit<br />

Tracks wie „Funky Fire“, „Banana“ und einem coolen<br />

„Beatles“-Cover von „Don’t Let Me Down“ bieten „The<br />

Aggrolites“ nicht nur dem eingefleischten Fan was<br />

das Herz begehrt – „Dirty Reggae“ at its best! (11).<br />

THE COLORADAS – s/t (Hometown Caravan/Cargo)<br />

sind äußerst fleißige Musiker, haben dem Publikum<br />

drei Alben in fünf Jahren und jede Menge Gigs<br />

zwischen San Francisco und New York beschert. Stilistisch<br />

darf man das Ganze als „Country“ mit einem<br />

Spritzer Bluegrass bezeichnen, schön, dass es auch<br />

hierzulande noch Labels gibt, die sich dieser nordamerikanischen<br />

Tradition widmen. Macht Spaß, wer<br />

allerdings teilhaben möchte, muss schnell zugreifen,<br />

die Auflage dieses schnörkellosen akustischen Kleinods<br />

ist auf 300 Silberlinge begrenzt (11).<br />

THE CONVOIS – OCEAN’S TALES (AntstreetRecords/NewMusic)<br />

– das ist amtlicher “Emo“ mit Metal-<br />

Einschlägen oder anders “einmalig eingängige Melodien<br />

mit einem Hauch von Brutalität“, um mal aus<br />

dem Info zu zitieren. Die Konzer Band macht ihren<br />

Job ausgesprochen gut, kein Wunder stand sie bei<br />

über 70 Shows mit Szenegrößen wie „NUFAN“ oder<br />

„Lagwagon“ auf der Bühne. Bleibt den vier Herren<br />

zu wünschen, dass sie nunmehr zu ihrem wohl verdienten<br />

Siegeszug antreten – und beim nächsten mal<br />

ein Booklet konzipieren, auf dem man auch etwas lesen<br />

kann (11).<br />

THE SPIRIT OF SIREENA – VOL. 6 (Sireena/Shack-<br />

Media), nagelneuer Samper aus dem Hause des beliebten<br />

Hamburger Labels. Mit von der Party – nein,<br />

kein Rechtschreibfehler - sind „Atomic Rooster“, Octopus“,<br />

„Grobschnitt“, „Frank K.“, „Kraan“ und viele<br />

andere. Hier zeigen die Elbestädter, wie variantenreich<br />

ihr Label-Oevre ist. Fazit: Besonders gelungen<br />

(keine Wertung).<br />

DIE TÜREN – ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVW-<br />

XYZ (Staatsakt/RTD) machen es mir mit dem Titel<br />

ihrer aktuellen CD recht schwierig, hier die gebotene<br />

Kürze walten zu lassen und die „zulässige Zeichenzahl“<br />

nicht zu überschreiten. Da kommt der Inhalt,<br />

drei CD-große Papierchen mit coolen Stickern, schon<br />

besser, und - schließlich und endlich – ist ja auch die<br />

Mucke nicht schlecht. Denn die münsterländischen<br />

Wahl-Berliner befinden sich, nach den eigenen Worten<br />

ihrer offenbar liebevoll gefälschten Bio in einer<br />

„Überbegabungshölle“, die immerhin dazu führt, dass<br />

sie ihre Hörer mit wohlfeil abgestimmter Musik und<br />

Texten, die irgendwo zwischen „Dada“ und tieferer<br />

Sinnhaftigkeit chargieren, verzücken. Musik kann<br />

auch heutzutage noch überraschen. (12).<br />

Das letzte, was ich von TOMMY TORNADO – COOL<br />

DOWN (PorkPie/Broken Silence) gehört habe, war<br />

sein inzwischen drei Jahre altes Album “Sunrise”,<br />

was ich seinerzeit zur Besprechung vorliegen hatte.<br />

KURZREZIS – KURZREZIS<br />

Geändert hat sich seither nicht viel: Der coole Tommy<br />

macht da weiter, wo er seinerzeit aufgehört hat:<br />

Er vermischt coole Ska-Roots mit Rocksteady und jeder<br />

Menge modernem Reggae; noch öfter als früher<br />

ist er hier allerdings rein instrumental unterwegs, was<br />

der Sache durchaus zuträglich ist und nicht nur sein<br />

Saxophon sondern auch die großartige Trompete von<br />

Ruud „Trompie“ Kleiss noch mehr in den Vorgrund<br />

schiebt. Fazit: Cooooool! (11)<br />

Dass VIBRAVOID – GRAVITY ZERO (Sulatron/Cargo)<br />

ihre großen Vorbilder im „Psychedelic Rock“ der<br />

ausgehenden Sechziger haben, weiß man schon<br />

nach dem ersten Track der aktuellen CD der Düsseldorfer;<br />

aber nicht nur hier fühlen sich die drei Rheinländer<br />

daheim, auch Acid- und Spacerock ist ihnen<br />

geläufig, wobei sie es verstehen, die Mixtur mit einer<br />

guten Portion eigener Note zu versehen, das Ganze<br />

mithin geschickt modernisieren – die Geschichte wiederholt<br />

sich eben doch, aber wenn sie das so tut wie<br />

bei „Vibravoid“, dann darf man rundum zufrieden sein<br />

(11).<br />

WINO AND CONNY OCHS – HEAVY KINGDOM<br />

(Exile On Mailstream) ist, das schon mal vorab, ein<br />

ziemlich geiles Teil geworden. Labelmacher Andreas<br />

Kohl schätzt sich glücklich, Musiker zusammengebracht<br />

zu haben, die sich „ohne diese Label niemals<br />

getroffen hätten“ – und wir erst! Robert Scott<br />

Weinrich („Saint Vitus“, „The Obsessed“) meets Conny<br />

Ochs, da trifft Topf auf Deckel, Arsch auf Eimer!<br />

Ochs, der wahrscheinlich eher den eingefleischten<br />

Nerds bekannt ist, dürfte mit dieser Scheibe dort hin<br />

treten, wo Kollege Weinrich schon lage ist: in’s Rampenlicht!<br />

WOW! Hammerscheibe, irgendwo zwischen<br />

Folk, Americana und Blue und vielleicht das Beste,<br />

was ich dieses Jahr bis dato gehört habe (13).<br />

Bei ZOSCH – Birds Don’t Lie (Contraszt!Records/Diyordie)<br />

trifft „New Wave“ auf „Guts Pie Earshot“ und<br />

„Bikini Kill“. Der hohe Widererkennungswert kommt<br />

nicht zuletzt durch die eindringliche Stimme von Sängerin<br />

Martina (den Nachnamen erfährt man nicht) zustande.<br />

Schön auch, dass die drei Mädels und die<br />

beiden Jungs nicht nur elektropunkig unterwegs sind,<br />

sondern ab und an auch die Gitarren auspacken.<br />

Und mindestens genauso schön: Das Ganze kommt<br />

auf fette, 180-Gramm-Vinyl UND CD im Digipack! Zugreifen!<br />

(11)<br />

KURZREZIS – KURZREZIS<br />

41<br />

KURZREZIS – KURZREZIS


42<br />

Von rechts unten nach oben auf der Treppe: Stefan David Wehner (Wena), Olly Opitz, Achim Sauer (Kapellmeister). Foto: HERZSCHWESTER<br />

Psalter und Harfe wacht auf !<br />

Noch jeder Tonträger der Juli Kapelle überraschte,<br />

widerborstete und faszinierte letztlich<br />

wie sonst kaum eine neu einlaufende<br />

CD. Auch jetzt war das tatsächlich wieder so.<br />

Diesmal wählte die Formation um Kapellmeister<br />

Achim Sauer („as“) einen „Unplugged“-<br />

Ansatz. Sie tat dies mit besonderem Erfolg,<br />

denn das suchtbildende Gift steckte wohl<br />

Die neue Scheibe heißt „Alchemie“ – was wird hier in was verwandelt?<br />

Und handelt es sich dabei um „weiße“ oder um „schwarze“<br />

Künste?<br />

Im Grunde werden Erfahrungen und helle Momente im Leben, die ja<br />

zuweilen in düsteren Augenblicken aufblitzen, in Musik verwandelt.<br />

Der Strom des Unterbewusstseins zum Klingen gebracht. Die Künste<br />

flippern dabei immer so zwischen „schwarz“ und „weiß“ herum...<br />

Das Artwork Eurer Veröffentlichungen ist ja stets ein echtes zusätzliches<br />

Kaufargument. Diesmal hat V.B. Kühl (vgl. http://www.<br />

myspace.<strong>com</strong>/vonkbee, d. Red.) Besonderes geleistet, finde ich.<br />

Was siehst Du in diesem Lichterspiel – das Entstehen von Gold?<br />

Eine andere (chemische oder emotionale) Reaktion?<br />

V.B. KÜHL ist ein fantastischer Grafiker! Fürs Julikapelle Artwork ist er<br />

beratend tätig und macht den Endschliff. Heisst, er sorgt dafür dass<br />

das, was man ihm vorlegt, gescheit zusammengefügt wird. Tatsächlich<br />

stammt die Grundlage für das aktuelle Artwork, also die Bilder von<br />

Cover und Booklet, von der Fotokünstlerin HERZSCHWESTER (siehe<br />

immer schon primär in den mit der Präzision<br />

eines meisterlichen Kurzgeschichtenerzählers<br />

aufgespießten Texten und der schamanischen<br />

Rhythmik. Und just diese beiden Stärken kommen<br />

in diesen Akustik-Arrangements mit u. a.<br />

Dobro, Mandoline, herrlich singendem Fretless<br />

Bass, „Fiddel“, Cello u. a. womöglich noch<br />

besser über den Kapellengraben. Drum nichts<br />

wie hin, als der Maestro eine seiner seltenen<br />

Audienzen gab…<br />

auch Fotocredits; vgl. https://www.facebook.<strong>com</strong>/pages/Herzschwester/152300808183203,<br />

d Red.). Seltenes Glück, denn sie macht nicht<br />

allzu oft Auftragsarbeiten. Aber auf diese hat sie sich eingelassen da sie<br />

die Musik liebt und einen unlösbaren Pakt mit mir geschlossen hat.<br />

Wie jetzt das Bild auf dem Cover entstanden ist, das ist geheim. Man<br />

kann aber sagen dass es definitiv eine Mischung aus chemischer und<br />

emotionaler Reaktion ist. Und dass es gut ist, dass keiner weiss, was<br />

das ist. Für mich jedenfalls ists die treffendste Interpretation von Alchemie<br />

in Bezug Mensch/Seele überhaupt.<br />

„In Klammern“ klinge so, als hätte Morricone einen Endzeit-Fantasy-Film<br />

vertont, hatte ich andernorts behauptet – nachvollziehbar?<br />

Magst Du Filmmusiken? Welche?<br />

Hast Du die Raben im Text je wirklich gesehen (habt Ihr noch<br />

Kolkraben in Hildesheim?!?), oder gaben die Galgenvögel halt ein<br />

stärkeres Bild ab als beispielsweise schnöde Krähen?<br />

Ich habe Filmmusik immer sehr geliebt, schon als ich klein war. Ich hatte<br />

nen Umhängekassettenrekorder, in Mono, und mir auf Kassette die<br />

komplette Musik von „Jäger des verlorenen Schatzes“ draufgespielt,


die ich voll aufgedreht laufen ließ während ich samstags den<br />

Hof und die Gasse kehrte. John Carpenter, Bernard Herrmann,<br />

Morricone, Henry Mancini, Lalo Schifrin, John Williams<br />

usw., ja, Filmmusik mag ich.<br />

Die Raben sind klaro Krähen. Ertappt. Ich wohne im Industriegebiet<br />

eines kleinen Städtchens, und im Herbst kommt<br />

zuverlässig ein Riesenschwarm dieser Wesen pünktlich<br />

zwischen 17.00 und 17.30 Uhr und besetzt das Hausdach des<br />

Hotels gegenüber. Ich mag dieses Volk. Aber das gilt auch für<br />

andere Vögel. Für Vögel generell, eigentlich. Erst lange, nachdem<br />

ich das Stück fertig hatte, wurde mir bewusst dass die<br />

„Raben“ ja eigentlich Krähen sind. Das Wort Krähen jedoch<br />

ist in meinem Sprachgebrauch nie wirklich regulär geworden.<br />

Rabe klingt besser und krähen tut der Hahn.<br />

Das Gitarren-Instrumental „Feuerstelle“ hat zwar nichts<br />

vom Marlboro-Mann, aber doch definitiv Lagerfeuer-<br />

Romantik – was steckt dahinter?<br />

Dahinter steckt ne traurige Geschichte von einer Feuerstelle<br />

im Garten die nie so recht gezündet hat ... ich saß nen<br />

sommerlang immer wieder auf einer Holzbank an dieser<br />

Feuerstelle und spielte mir auf der Gitarre den Kopf leer. So<br />

entstand dies Instrumental.<br />

„Vampirella“ – was sind die „Welten, in die wir nicht gehörn“,<br />

in denen wir uns aber dennoch bewegen?<br />

Du erkennst den Schatten der Angesungenen, „auch dann<br />

wenn du keinen hast“ – Hast Du denn Blutsaugerinnen in<br />

Deiner Bekanntschaft?<br />

Das Lied schrieb ich –wie alle diese Lieder- zu Beginn der<br />

00er Jahre. Damals, als dieses Casting-Ding grad aufkam.<br />

Heute muss ich nur durch ne samstägliche Innenstadt gehen<br />

um das Gefühl zu haben, mich in einer Welt zu bewegen, in<br />

die ich nicht gehör‘ ... Aber das Stück bezieht sich ursprünglich<br />

auf die Medien und die Bilder/Welten, die sie kreieren.<br />

Und mit denen sie gerne diktieren wollen, wem oder was wir<br />

entsprechen müssen. Während sie uns gleichzeitig um die<br />

Ohren hauen, dass wir diesen Bildern niemals entsprechen<br />

können. Und so ein Verlangen hervorrufen, das unstillbar<br />

ist. Sie installieren in den Köpfen und Herzen grade junger<br />

Menschen eine Sehnsucht danach, etwas anderes zu sein,<br />

als sie selbst. Und bereichern sich daran, sie brauchen ja das<br />

Publikum. Es sind Vampire, die uns aussaugen. Und wir sind<br />

Vampire, die ebenfalls Durst haben nach etwas von Wert.<br />

Etwas, das unser Herz erfüllt. Oder schlicht Beachtung. Die<br />

haben keinen sichtbaren Schatten, und trotzdem liegt er auf<br />

der Straße, in der Stadt, im Büro, im Jugendhaus oder im<br />

Kinderzimmer... Vampire, die Vampire jagen, quasi. Vampirella<br />

spielen.<br />

Wie schon berichtet: der u.a. aufgrund von Teufelsgeiger<br />

Manfred Pietrzok enorm abgehende „Krebstanz“ begeistert<br />

ausgerechnet unser mit weitem Abstand jüngstes<br />

Familienmitglied am meisten. Was bedeutet Rhythmus<br />

für die Juli Kapelle? Hast Du andere Rückmeldungen<br />

dazu, wie Kinder Eure Musik finden?<br />

Eine der wichtigsten Lektionen die ich lernte – ganz vorzüglich<br />

lernte durch V.B. KÜHL und nochmal bestätigt bekam von<br />

einem Mann der ein ganz anderes Genre reitet, nämlich besagtem<br />

Manfred Pietrzok, ist: Das wichtigste ist der Groove.<br />

2012 I #35 I Juli Kapelle 43<br />

Es gibt ja viele solche Musikerweisheiten. Und alle stimmen.<br />

Z.B. „Das wichtigste sind die Pausen“. Aber der Groove, der<br />

Rhythmus, ist eben auch das Wichtigste. Egal ob du Glitchhop<br />

machst oder im Mandolinenorchester Hösbach spielst.<br />

Wenn‘s nicht groovt, ist‘s scheiße. Kinder sind an diesen<br />

ursprünglichen Wahrheiten viel näher dran als „Erwachsene“.<br />

Sie müssen sich das nicht erst bewusst machen oder so.<br />

Jedenfalls bekomme ich oft rückgemeldet dass meine Musik<br />

von Kindern sehr positiv aufgenommen wird.<br />

Warum ist „Dezembernacht“ so leise?<br />

Damit man den Schnee rieseln hört.<br />

„Geisterzähler“ ist in diesen Post-Fukushima-Tagen ja<br />

ein sehr spezielles Wortspiel. Ich hab in dem starken,<br />

poetischen Text keine Geister entdeckt, jedenfalls nicht an<br />

der Oberfläche?<br />

Die Geister sind die der Jugend. Und es ist ja eine Eigenart<br />

von Geistern, sich nicht entdecken zu lassen.<br />

Toll, dass „die gms“ wieder dabei ist! Mein persönlicher<br />

Favorit „Gefährten“ bringt ihr Klavier an den Start, das<br />

klingt, als ob es mit einem darin stehenden Grundig-<br />

Cassenrecorder aufgenommen worden wäre. Dazu noch<br />

Deine melancholische Steel Drums-Begleitung! Die<br />

geheimnisvolle Dame hat hier auch Songwriter Credits<br />

– wenn sie schon keine eigenen Platten macht, vielleicht<br />

könntet Ihr ja irgendwann mal auf voller Albumlänge<br />

kooperieren?<br />

Das ist ein sehr schönes Bild, mit dem Grundig-Kassettenrekorder.<br />

Viel von dem Sound liegt am Klavier selbst, es ist ja<br />

fast 100 Jahre alt und hat nicht diese kristallene Brillanz neuer<br />

oder künstlicher Klaviere.<br />

Die gms, diese vorzügliche Person, ist schrullig und wunderlich.<br />

Sie zu solcherlei Projekten zu bewegen ist uneinfach.<br />

Aber ich werde ihr diese exquisite Idee mal auf die Tapete<br />

schreiben, an mir soll‘s nich liegen…<br />

Die Aufzählung der in der Juli Kapelle gespielten Instrumente<br />

gerät leicht abweichend von anderen Bands… Die<br />

„Udu“ hab ich ja noch gefunden. Und sehr schön, dass<br />

man hier die so gern gehaltene Standpauke endlich mal<br />

in ihrer wahren Bestimmung belauschen kann. Auch der<br />

Lachsack oder das Harmonium sind zwar exotische, aber<br />

nicht völlig unbekannte Tonquellen. Doch was bittschön<br />

sind, nur als Beispiele, „Herr Im Frack“, „Topfgitarre“ - und<br />

besitzt jemand von Euch wirklich einen „Psalter“?<br />

Ich besitze einen Psalter! Einen Streichpsalter. Auf nem<br />

Mittelaltermarkt gekauft, einem beruflichen Psalterbauer<br />

persönlich abgehandelt. Ist ne Art Geige für nicht-Geiger. Die<br />

Topfgitarre heisst so, weil mir der afrikanische Originalname<br />

entfallen ist und ich ihn auch nirgends auftreiben konnte.<br />

Und der „Herr im Frack“ ist die Gitarre, die meinem Vater<br />

gehörte. Lag jahrelang auf dem Dachboden rum, war nahezu<br />

unspielbar. Ich hab sie wiederbelebt. Es ist der Nachbau einer<br />

Hoyer „Herr im Frack“. Einer Jazz- bzw. Schlaggitarre aus den<br />

50/60er Jahren. Das Modell heisst wirklich so. Ich glaub die<br />

werden auch wieder gebaut. Damals hatten Gitarren halt noch<br />

wirklich abgefahrene Namen. Und so treffend. Sie schaut ja<br />

auch ein bisschen aus wie ein Herr im Frack.


44<br />

Juli Kapelle I #35 I 2012<br />

„ich mach jeden fehler nochmal | solang bis er perfekt ist“<br />

behauptest Du im letzten Lied. Ist das mehr lebensführungstechnisch<br />

gemeint? Oder auch musikalisch?<br />

Ist so ne Art Haltung die in vielerlei Hinsicht in allen möglichen<br />

Bereichen nützlich sein kann. Vielleicht nicht unbedingt im Krankenhaus...<br />

aber ich schätze das kreative Potential, das in Fehlern<br />

steckt. Der Titel kommt übrigens daher: In der Grundschule,<br />

im Deutschunterricht, stand regelmäßig in rot am Rand meiner<br />

Schreibübungen: „Fehler, nochmal!“<br />

Ich kenne nicht viele deutschsprachig singende Bands bzw.<br />

Projekte, deren Texten man mit so viel Lustgewinn und so<br />

wenig Peinlichkeiten lauschen kann wie bei Juli Kapelle oder<br />

kühl&sauer. Hast Du immer schon deutsch gesungen oder gab<br />

es Versuche mit englischen oder noch anderssprachigen Texten?<br />

Ich wuchs auf mit der ausklingenden NDW, die hinterließ zwar<br />

Spuren aber es kam zunächst eine lange Zeit nix Deutschsprachiges<br />

mehr in mein kleines Universum. Ich schrieb, wie jene,<br />

die ich bewunderte, in Englisch. Mit Mitte 20 –ich brauch oft ein<br />

bissel länger- machte es zong (nicht zoom) und mir wurde klar:<br />

All diese Songwriter, die ich gut finde, schreiben in ihrer Muttersprache.<br />

Ich beschloß, das von nun an auch zu tun und schrieb<br />

von da an nix Englisches mehr. Und andere Sprachen kann ich<br />

blöderweise nicht.<br />

Du hast mit dem 7V-Studio ein eigenes Musiklabor.<br />

Wird das auch vermietet? Würdest Du auch andere Bands<br />

produzieren? Wovon lebst Du eigentlich?<br />

Das Studio vermiete ich auch, klar. Es hat inzwischen Ausmaße<br />

angenommen, die erfordern, dass ich regelmäßig auch Geld<br />

reinhole um die Wartung des ganzen alten Gerümpels zu finanzieren.<br />

Ich bin ja kein Musikelektroniker. Oder Instrumentenbauer.<br />

Ich lebe davon, dass ich an der A7 Zimmer an Reisende<br />

vermiete. Bands produzieren – hmm. Käm‘ auf die Chemie an.<br />

Wenn ich produziere, bin ich nicht unbedingt der Typ, der Bock<br />

auf Kompromisse oder „lass ma´ ausdiskutieren“ hat. Das saugt<br />

mir zu sehr Energie. Die Juli Kapelle ist ja nicht umsonst ne<br />

1-Mann-Band ... insofern sollte das „chemisch“ und geschmacklich<br />

schon passen. Aber das ist ja eh klar.<br />

Du hast mir schon in anderem Zusammenhang von Deiner<br />

Freude berichtet, bei Live-Auftritten auch Menschen im<br />

Publikum vorzufinden, die wegen der Musik da sind. Gleichzeitig<br />

gab es grad die Premiere von Solo-Auftritten. Wie<br />

klappt das überhaupt mit dem Live-Spielen: Wer bucht die,<br />

auf welches Publikum und welche Clubs zielt Ihr und wie<br />

sind die Erfahrungen? Für wen würdest Du am liebsten mal<br />

die Vorgruppe geben?<br />

Gebucht werden wir durch Vermittlung von Freunden oder durch<br />

Individualisten, denen die Musik gefällt und die drauf scheissen,<br />

wenn´s sonst keiner kennt. Aber das passiert selten, es ist<br />

schon ein Kampf, an Gigs zu kommen. „Kennt keiner, kommt<br />

keiner“ ist so der Tenor. Als deutschsprachige Truppe mit nem


eigenen Stil, noch dazu unbekannt, sind wir halt nicht grade ne<br />

Garantie für nen vollen Laden. Ich hoffe immer auf Publikum, das<br />

musikinteressiert ist, unvoreingenommen und nicht festgefahren<br />

in den Hörgewohnheiten. Die auch kein Vorurteil gegen deutschsprachigen<br />

Kram haben.<br />

Am liebsten spielen wir in kleinen Clubs oder schrulligen Läden,<br />

wie in der Braunschweiger Kaufbar. Da hatten wir zusammen mit<br />

dem Hamburger Jürgen Ufer ein wundervolles Konzert. Das Publikum<br />

war zwischen 19 und 69 Jahre alt, lauschte andächtig und<br />

ich verkaufte mehr CDs als bei sämtlichen bisherigen Konzerten<br />

überhaupt. Ich war ziemlich baff. Warum das so war, weiss ich<br />

nicht. Vermutlich war das eben genau jenes Publikum, das ich mir<br />

wünsche. Mein Vorgruppentraum... Würd gern mal auf dem OBS<br />

in Beverungen spielen. Egal vor wem. Ansonsten hätt ich nichts<br />

dagegen, mal für Bob Dylan zu eröffnen. Harrr. Oder fürs Kammerflimmer<br />

Kollektief.<br />

Ihr habt schon so viel gemacht: Experimente mit tanzbaren<br />

„Beatz“, psychedelischen Stoner Rock („Brandung“), Monsters<br />

Of Stimmensampling (für das Du vermutlich leider<br />

Deine Quellen immer noch nicht offenzulegen bereit bist?),<br />

Kollaborationen mit remixenden Muckerkollegen, Lautstärkeschablonen,<br />

Branded Brustbeutel (bildhübsch), jetzt das<br />

Unplugged-Album. Und noch vieles mehr. Was kann da noch<br />

kommen? Welche Pläne wurde noch nicht realisiert?<br />

2012 I #35 I Juli Kapelle45<br />

Seit 2005 arbeite ich mit dem Dichter und Filmwissenschaftler<br />

Roman Mauer an einem Album dass Musik und Hörspiel<br />

vermischt. So grob gesagt. Das wird nächstes Jahr fertig, mit<br />

nem Haufen Gastmusikern wie Katharina Franck (ehem. Rainbirds),<br />

Bobo (in white wooden Houses), Textor (ehem. Kinderzimmer<br />

Productions) und vielen mehr.<br />

Ein weiteres musikalisches Projekt steht mit der vorhin schon<br />

erwähnten HERZSCHWESTER an, besagter Pakt... das wird recht<br />

elektronisch. Und die neue kühl & sauer atmet den Geist des<br />

Postrock und dürfte kommendes Frühjahr gemastert sein. In einer<br />

nie dagewesenen Verpackungsform welche Kunst und Protest<br />

vereint!<br />

Darüber hinaus gibt´s noch Stoff für mehrere Ewigkeiten in den<br />

Schubladen... Ach, hätt ich doch 1.000 Jahre!<br />

Möge er die bekommen. Wir jedenfalls wollen dem Kapellmeister<br />

nicht noch mehr Zeit rauben und empfehlen uns jetzt.<br />

Fotos auf der linken Seite:<br />

Dorit Schulze * livegesehen.de<br />

Black border: sxc.hu<br />

Klaus Reckert


46 <strong>com</strong>iCorner I #35 I 2012<br />

<strong>com</strong>iCorner<br />

<strong>com</strong>iKunst im ComiCorner.<br />

Männerehre, eine Beziehung über alle Grenzen<br />

hinaus, die lieben Kleinen, Kleidungsstücke und<br />

Nahrungsmittel in einer WG zusammen und der<br />

neue Leowald! Viel Spaß!<br />

Und wie immer nicht vergessen: reprodukt.<strong>com</strong>,<br />

avant-verlag.de, editionmoderne.de – da Pflichtlektüre!<br />

MERVAN & VIVÉS – FÜR DAS IMPERIUM<br />

Band I: Ehre & Band II: Frauen<br />

Reprodukt<br />

Man stelle sich vor: Eine Spezialeinheit von Römern,<br />

die in geheimer Mission über die Grenzen<br />

des Reiches in unbekanntes Land vordringt, um<br />

zu kartographieren und auf einer Art Vorhut-<br />

Himmelfahrtskommando herauszufinden, was in<br />

diesen vorher nie betretenen Gebieten alles so<br />

kreucht und fleucht, dazu, welch glorreiche Taten<br />

oder todbringendes Getier auf den Kaiser und<br />

sein Heer warten mögen.<br />

Quasi die Inglorious Basterds zur Blütezeit des<br />

Römischen Reichs. Bastarde stimmt dann auch<br />

wieder. Harte Gesellen, jeder Meister seines<br />

Metiers, sei es als Späher, Kämpfer (auch gerne<br />

mal mit einem „Berserker-“ vorne dran), Pfeilschütze<br />

oder Führer. Ein kleiner zusammengerotteter<br />

Haufen, der nicht gerade sehr zimperlich<br />

ist, geht es um Gewalt, Feinde, Tatendrang,<br />

Furchtlosigkeit, Beutegut, um zu nehmende<br />

Jungfrauen, oder um ein Gelage generell. Wo<br />

gehobelt wird, fallen eben Späne. Und vor allem<br />

geht es bei den rauen Burschen um eines:<br />

Ehre. In männlicher Reinform. Allseits beliebt,<br />

unbedingt ein zu erreichendes Gut – gerne auch<br />

durch absoluten Gehorsam gegenüber seinen<br />

Befehlshabern in die Tat umgesetzt. Man wird<br />

eingangs sehr stimmig und schnell mit den<br />

Charakteren vertraut gemacht, taucht ebenso<br />

schnell in die fesselnde Story ein. Die Auserwählten<br />

nehmen den Auftrag von ganz oben<br />

dankbar an und brechen in die große Unbekannte<br />

auf; im Kopf Schwindel voller Ruhm und Ehre,<br />

im Nacken anfangs noch uneingeschränkter<br />

Gehorsam. Band 1 handelt von eben diesem<br />

großen Aufbruch.<br />

Die Farbgebung ist schmutzig – jedoch wunderschön,<br />

der Zeichenstil erinnert an sanft<br />

dahingeworfene Striche zum Zwecke einer<br />

Studie. Diese sind jedoch viel zu präzise und definiert,<br />

um „nur“ als Fingerübung durchzugehen.<br />

Teilweise erinnern die Panels an Szenen aus<br />

einem düsteren und gleichermaßen kunstvollen<br />

Sandalen-Animationsfilm voller Gewalt und<br />

Schlachtengemetzel. Klar definierte Linie trifft<br />

auf vermischt verschwommene Farbe.<br />

Bastien Vivès hat auch schon in seinen anderen<br />

Werken gekonnt aufgezeigt, wie er mit Strichen<br />

und Farbgebung umzugehen weiß, vor allem<br />

auch, dass er ein Meister der Beobachtung und<br />

Darstellung von Körperhaltungen sowie auch<br />

vor allem -bewegungen ist; man denke nur an<br />

das mit Wort sparende „In meinen Augen“ oder<br />

„Der Geschmack von Chlor“ - beide ebenso<br />

bei Reprodukt erschienen. Hier stellt er erneut<br />

unter Beweis, dass er zu den ganz großen der<br />

Comicszene gehört – und das mit seinen 28<br />

Lenzen. Auch sein vielseitiges Oeuvre weiß<br />

einfach nur zu verblüffen. Von seinem Mitstreiter<br />

Merwan (Designer für Storyboard/Videospiele<br />

und eher im Trickfilm-Metier unterwegs – das<br />

erklärt einiges!) gab es bis dato in den hiesigen<br />

Gefilden noch nicht zu bewundern. Da sich die<br />

beiden Szenario, Story und Zeichnungen via<br />

kongenialer Kollaboration teilen, bleibt doch sehr<br />

zu hoffen, dass es auch von Herrn Merwan in<br />

Zukunft mehr zu sehen gibt.<br />

In Band 2 gelangt unser „Helden“-Trupp in<br />

eine Art Garten Eden, um dort u. a. auf ein Volk<br />

von Amazonen zu stoßen, das es – sehr zum<br />

Leidwesen und absoluten Verwirrung der harten<br />

Burschen – mehr als nur ganz schön in sich hat.<br />

Somit haben unsere Legionäre alle Hände voll<br />

zu tun, um ihre Haut zu retten. Abschließender<br />

Teil 3 der Mini-Serie müsste jetzt im Moment<br />

bei Reprodukt erschienen sein. Er soll nochmals<br />

einen zusätzlichen Paukenschlag oben drauf<br />

geben. Ich bin gespannt!


MIKE VAN<br />

AUDENHOVE – KIDS<br />

Edition Moderne<br />

Ein geniales Buch<br />

vom leider viel zu früh<br />

von uns gegangenen<br />

Schweizer Illustrations-<br />

und Comic-Künstler<br />

Mike van Audenhove.<br />

Am besten für Menschen,<br />

die a) Eltern sind, b) sich ernsthaft aktuell<br />

mit dem Gedanken an Kinder auseinandersetzen,<br />

c) die sich in irgendeiner Zukunft mit einem<br />

Kinderwunsch auseinandersetzen wollen, d) die<br />

einfach nur die lieben Kleinen mögen oder auch<br />

misstrauisch beäugen, was in Kinderköpfen so<br />

vor sich geht, und e) alle restlichen Großeltern,<br />

Tanten, Onkel, Urgroßeltern und der sonstiger<br />

Rest vom Fest.<br />

Im schönen geskribbelten und farbenfroh<br />

colorierten Stil setzt sich van Audenhove mit<br />

den Logiken, alltäglichen großen und kleinen<br />

Aufgaben, Streichen, Sorgen, Problemen und<br />

dem Ticken der lieben „kleinen“ Menschheit<br />

auseinander – ebenso mit denen der Eltern<br />

und anderen Menschen in deren Umfeld. Und<br />

es ist einfach nur so witzig witzig witzig. So<br />

echt. So voller Wahrheit und Erfahrung! Kriegt<br />

man ja täglich mit, wenn man mit offenen<br />

Augen durch‘s Leben generell oder auch eigene<br />

Familienleben tappt. Diese grundunschuldige<br />

Ehrlichkeit, das verschwurbelte Denken und<br />

die absurden – oft entlarvenden - Kausalzusammenhänge,<br />

die in solch kleinen Köpfchen ticken<br />

… einfach nur herrlich, einfach zu köstlich!<br />

Dazu der ganze Sinn, Unsinn und die grandiose<br />

Verspieltheit... hachja!<br />

Ein ideales Geschenk für alle Vertreter der<br />

oben aufgeführten Zielgruppen-Liste. Und tolle<br />

Leistung, Herr van Audhoven! Diese Beobachtungsgabe.<br />

Und vor allem auch das Talent, diese<br />

Beobachtungen auch noch so brillant und nachvollziehbar<br />

zu Papier zu bringen und somit zu<br />

verewigen! Und das ist dann auch schon wieder<br />

ein bisschen traurig... Denn viel mehr wird es<br />

wohl nicht mehr von ihm geben. Ist „Kids“ sein<br />

Vermächtnis? Wenn ja, dann ist jenes ein<br />

wunderbar leises, subtiles, feinhumoriges<br />

und grenzschönes. Danke.<br />

JUDITH<br />

VANISTENDAEL –<br />

KAFKA FÜR AFRIKA-<br />

NER – Sofie und der<br />

schwarze Mann.<br />

Reprodukt<br />

„Diese Geschichte<br />

ist eine Geschichte<br />

über Liebe.<br />

Ich widme sie Kerim.<br />

Und allen Flüchtlingen auf dieser Welt, die auf<br />

der Suche nach einem menschlichen Dasein<br />

sind.“<br />

Judith Vanistendael hat sich in ihrer semiautobiographischen<br />

Premiere die Liebe als<br />

Hauptthema auserkoren. Nur eben nicht die<br />

unkomplizierteste Liebe, zumindest wenn<br />

man ihre Familie fragen sollte. Oder die Behörden.<br />

Oder die Öffentlichkeit generell. 1994<br />

verliebt sich die 19-jährige Belgierin Sofie in<br />

Abou – einen Flüchtling aus Togo, der illegal<br />

ins Land kam und in dem bekannten Asylzentrum<br />

Klein Kasteeltje untergebracht wurde.<br />

Damit konfrontiert reagieren die Eltern<br />

erst einmal nicht ganz so locker und lässig,<br />

ihre Tochter lässt sich aber definitiv nicht<br />

von ihrem Vorhaben abbringen, mit Abou<br />

zusammen sein und auch mit ihm zusammen<br />

ziehen zu wollen; so fügen sie sich und überlassen<br />

den zwei Liebenden den ungenutzten<br />

Dachboden. Natürlich auch, um ein Auge auf<br />

die noch zarte Beziehung zu werfen.<br />

Ab jetzt gilt es natürlich, einige Vorurteile und<br />

kulturelle Hürden zu überwinden und sich<br />

mit außer-belgischen Bräuchen, Geschichten,<br />

der Politik und Gepflogenheiten auseinanderzusetzen.<br />

Ebenso mit der bürokratischen<br />

Willkür, die zu dieser Zeit noch um einiges<br />

willkürlicher in belgischen Ämtern gewütet<br />

haben dürfte (wobei uns die letzten Seiten des<br />

2012 I #35 I <strong>com</strong>iCorner 47<br />

Buches darüber aufklären, wie die Asylverfahren<br />

auch aktuell in Belgien und Deutschland<br />

aussehen, sogar eine Verschlechterung der<br />

Lage der Asylanträger blieb leider nicht aus …<br />

permanentes Kopfschütteln ist die Folge bei<br />

Lektüre der Infoseiten.). Dazu noch die unerfahrenen<br />

und vorsichtig ausgeführten ersten<br />

Schritte der beiden, verknüpft mir Verlustängste<br />

und all den Gedanken, Konflikten und<br />

Sorgen, die im Fahrwasser einer Beziehung<br />

mitkommen könnten.<br />

Alles gipfelt in einer gemeinsamen Hochzeit,<br />

damit Abou nicht abgeschoben werden<br />

kann. Es folgt ein Zeitsprung und Kapitel<br />

2, in dem wir erfahren, wie es bis zur und<br />

nach der Hochzeit weiterging und warum<br />

die Beziehung scheiterte – kongenial in der<br />

Rahmenhandlung und im Dialog zwischen<br />

der jetzt sehr erwachsenen Sophie und ihrer<br />

kleinen Tochter eingebettet. Judith Vanistendael<br />

hat ein enormes Gespür für Storytelling,<br />

die Geschichte vorantreibende und Spannung<br />

erzeugende Zeitsprünge und Szenarien.<br />

Der geskribbelte Stil ihrer Zeichnungen<br />

verstärkt den autobiographischen Charakter;<br />

ebenso die via Freihand erstellten Panels und<br />

das eigens in geschwungener Schreibschrift<br />

ausgeführte Lettering. Intensiv, tiefgehend,<br />

sozialkritisch, mitreißend, ganz nahe.<br />

LEOWALD – STOPPTANZ<br />

Reprodukt<br />

Der sagenhafte Leo<br />

Leowald ist zurück!<br />

Und hat mal wieder einige<br />

Alltagsabsurditäten,<br />

Verschwörungstheorien<br />

und Lebensratgeber auf Tasche. Allesamt in<br />

Strips verpackt. Dazu einzwei ganzseitige<br />

Cartoons und fertig ist das geschmackvolle<br />

und überaus wichtige „A Teenage Guide To<br />

Surviving Life – Adults Wel<strong>com</strong>e, Too“. 192<br />

Seiten. Schickes fast quadratisches Format.<br />

Heißt jedoch jetzt „Stopptanz“. Geht trotzdem<br />

klar. Natürlich. Und natürlich hat er auch


48 <strong>com</strong>iCorner I #35 I 2012<br />

wiederum von seinem überaus empfehlenswerten Webblog zwarwald.de geklaut, ist ja<br />

auch einfach. Und dann noch in Guttenberg-Manier einzwei Sachen ergänzt, neu dazugepinselt.<br />

Um zu vertuschen, eben. Auch bekannt. Wäre er nicht so subtil, leisetreterisch<br />

und feinhumorig, er würde im großen Presserampenlicht gnadenlos zerfetzt werden.<br />

Dazu gibt sich Leowald bewusst als Meister der Reduktion, schon fast zu gewollt abgebrüht<br />

und auch berechnend. Nicht nur in den Zeichnungen. Er fordert den Leser dazu auf<br />

– nein, er zwingt ihn sogar, durch wegrationalisierte Auflösungs-Bilder oder gar dazwischen<br />

eingestreute Nachdenk-Panels in seine höchst verschwurbelt-philosophische Gehirnwindungen<br />

einzutauchen, um diesen die Essenz heraus zu pressen. Nebenwirkungen:<br />

regelmäßig auftretendes unkontrolliertes Kichern, Lachen und Sabbern. Schmunzeln ist<br />

natürlich erlaubt.<br />

Er lässt Undinge einfach auch mal so stehen. Mittendrin. Bricht ab. Lässt uns alleine.<br />

Mit der Pointe. Oder mit etwas ähnlichem.<br />

Genauso ähnlich habe ich letztens eine Rezi über Nicolas Mahler‘s aktuelles Werk<br />

eingeleitet... Ähnlichkeiten sind bewusst platziert und auf jeden Fall gewollt. Die beiden<br />

könnten ruhig mal zusammen auf Lesereise gehen. Haben sie doch die eine oder auch<br />

andere Gemeinsamkeit. Unter anderem eine nicht zu unterschätzende Genialität. In Tun,<br />

Humor, Zeichnung und Reduktion. So, den Rest lass ich auch mal weg.<br />

AUSSERDEM<br />

Matthias Horn<br />

HANNES NEUBAUER - DAS KLEINE SCHWARZE<br />

Edition Moderne<br />

Eine Stripsammlung in Buchform mit guter Hintergrundidee: ein kleines Schwarzes,<br />

eine Krawatte und eine Couch-Kartoffel plus Katze teilen sich eine Wohnung und<br />

erleben absurde Alltäglichkeiten einer Kleidung-Nahrungsmittel-WG.<br />

Schön im reduzierten Pop-Art-Stil und Duplexton umgesetzt, voller Wortspielereien<br />

und Reminiszenzen an bekannte Motive der politischen, sozialen und kulturellen<br />

Geschichte. Einseitige Cartoons wechseln sich mit mehrbildrigen Stories ab, manche<br />

zum Schreien komisch, andere zum Schmunzeln, dritte wiederum, um müde<br />

zu lächeln. Alles in allem jedoch kurzweilig und witzig; das Gute daran überwiegt.<br />

Lustich!


Matt Pryor, seines Zeichens Frontmann<br />

der GET UP KIDS, macht<br />

schon merkwürdige Sachen; bis<br />

vor kurzem sammelte er Spenden<br />

für sein neues Solo-Album und bot<br />

demjenigen, der die Spendierhosen<br />

besonders weit trägt, auch schon<br />

mal an, gleich einen Song für ihn<br />

zu schreiben. Das mag in Zeiten<br />

sinkender Absatzzahlen ein probates<br />

Mittel sein, die Kohle für seine<br />

Produktion zusammenzubekommen,<br />

löst aber bei Musikliebhabern<br />

beiderseits des großen Teichs auch<br />

gerne mal Kopfschütteln aus. Ob<br />

nun, wie bei Matt, das Fanportal<br />

„Kickstarter“ hilft oder das Geld<br />

durch harte Arbeit auf den Bühnen<br />

oder an den Fließbändern dieser<br />

Welt zusammenkommt – letztlich<br />

zählt doch die Mucke. Und die auf<br />

„May Day“ ist wieder so richtig<br />

schön amtlich geworden, die Texte<br />

scheinen allerdings sehr nachdenklich,<br />

beinahe pessimistisch,<br />

besonders wenn man sich Tracks<br />

wie „Don‘t Let The Bastards Get You<br />

Down” oder “The Lies Are Keeping<br />

Me Here” anhört. „In er Tat - zu<br />

der Zeit, zu der ich diese Songs geschrieben<br />

habe, war ich besonders<br />

pessimistisch, man kann sagen:<br />

zynisch“. Hat sich das inzwischen<br />

geändert? „Tatsächlich ist das alles<br />

seitdem schon etwas besser geworden,<br />

aber seinerzeit hat es hat mir<br />

geholfen, die Songs zu schreiben.<br />

Ein paar der Dämonen, die mich<br />

damals gequält haben, bin ich seitdem<br />

losgeworden“. Beim Lesen der<br />

Texte begegnet mir immer wieder<br />

das Wort „Lüge“ oder „lügen“, ist<br />

ihm das irgendwie wichtig? „Nein,<br />

ist mir eigentlich egal, Lügner sind<br />

mir wurscht – das gilt auch für mich“,<br />

sagt er verschmitzt. Scherzkeks.<br />

Manche Dinge sind, was auch immer<br />

man in sie hineininterpretieren<br />

möchte, genau das, was sie sind:<br />

bedeutungslos. Ich möchte wissen,<br />

wie genau die Songs auf „May Day“<br />

entstanden sind. „Ich habe daheim<br />

in meiner Garage aufgenommen, da<br />

habe ich ein komplettes Studio. Viele<br />

Instrumente gibt es dort nicht, und<br />

so wurden ein Karton zur Bassdrum<br />

und meine Schreibtischplatte zur<br />

Snare“, erzählt er. „Die Songs hatte<br />

ich weitestgehend schon während<br />

der „The Get Up Kids“-Tour 2010<br />

geschrieben, aber es war schwierig,<br />

sie fertig zu bekommen. Ich habe<br />

mir dann selbst ein Limit gesetzt<br />

und einfach für mich festgelegt,<br />

dass die Sache bis Mai 2011 stehen<br />

muss.“ Ohne ein bisschen Druck<br />

geht es also auch bei den talentiertesten<br />

Musikern nicht. „Daher<br />

auch der Titel „May Day“ führt er<br />

fort. Was, so möchte ich wissen, hat<br />

einen Typ wie Matt Pryor, Sänger<br />

eine ausgesprochen erfolgreichen<br />

Band wie „The Get Up Kids“, überhaupt<br />

dazu bewogen, Solopfade zu<br />

betreten? „Naja, ich habe eigentlich<br />

nebenbei immer schon akustische<br />

Musik gemacht, und 2000 habe ich<br />

mein Side-Project „The New Amsterdam“<br />

aus der Taufe gehoben. Ich<br />

habe mich seinerzeit auch sehr mit<br />

Musikern wie Steve Earle beschäftigt,<br />

ich wollte irgendetwas machen,<br />

das etwas „ruhiger“ ist, als das<br />

was ich mit „The Get Up Kids“ am<br />

Start hatte …“. Earle, fällt mir dabei<br />

ein, hatte damals gerade das Album<br />

„Transcendental Blues“ herausgebracht,<br />

seinerzeit vom US-amerikanischen<br />

„Magnets“-Magazin zu<br />

den Top 20-Alben des Jahres 2000<br />

gekührt; als „Alternative Country“<br />

wurde das Album bezeichnet, und<br />

diese Bezeichnung passt irgendwie<br />

auch auf das, was Matt musikalisch<br />

so macht. Auffällig ist eine gewisse<br />

Nähe zu Nick Drake, ok, ich als<br />

2012 I #35 I Matt Pyor 49<br />

LASST EUCH<br />

NICHT UNTERKRIEGEN!<br />

„Die-Hard“-Drake-Fan neige vielleicht dazu, hier gerne<br />

mal die „Flöhe husten“ zu hören, aber vor allem das<br />

Picking … „Ja, vielen Dank für den Vergleich, ich mag<br />

Nick Drake tatsächlich sehr, das ehrt mich“. Aber auch<br />

darüber hinaus wird es gewiss Einflüsse geben, oder?!<br />

„Da sind bestimmt Bon Iver und die Avett Brothers zu<br />

nennen.“ Und was bewegt ihn inhaltlich? „Die Familie,<br />

Bücher, das Leben, die Amerikaner, ihre Ignoranz“. Natürlich<br />

hat nicht jeder seine aktuelle Platte, ich empfehle<br />

aber, das Teil unbedingt man anzutesten. Und obendrein<br />

gibt’s ein extra-Schmankerl für Vinyl-Fetischisten:<br />

rot, 180 Gramm! Soviel Schleichwerbung darf,<br />

muss sein. Ach ja, „antesten“ … am besten hier:<br />

http://soundcloud.<strong>com</strong>/matt-pryor<br />

Keule<br />

Bild gesehen auf planetlyrics.co


50 gayGlotze I #35 I 2012<br />

•<br />

ANARCHIE GIRLS<br />

Pro Fun Media<br />

R: Saullus Drunga<br />

LIT 2010, 90 Min., FSK 12<br />

Lit. OF mit dt. UT<br />

Gleich der Beginn dieses kompromisslosen Beispiels<br />

für baltisches Autorenkino zeigt, wo es lang<br />

geht. Da treibt eine junge,<br />

burschikose Vermieterin mit<br />

Hilfe ihres geschwungenen<br />

Nietengürtels bei ihrer Mieterin<br />

die überfälligen Zahlungen<br />

ein. Anarchie in Vilnius?<br />

Schnitt. Im Zug sitzt ein vergleichsweise<br />

biederes Mädel<br />

aus der Provinz. Sie<br />

fährt in die Hauptstadt, während<br />

man um sie herum davon<br />

spricht, dort herrsche -<br />

na? - richtig: Anarchie!<br />

Ein bisschen dick aufgetragen dieser Beginn,<br />

und das ist die einzige Schwäche des sympathischen<br />

Films, der nicht immer den eigenen Bildern<br />

so ganz trauen mag. Nun, was bringt das<br />

Blondchen, sie will in Vilnius Pädagogik studieren,<br />

außer Träumen, Naivität und selbstgekochter<br />

Marmelade in rauen Mengen schon mit? Jedenfalls<br />

bleibt sie nicht wie vorgesehen bei ihrer<br />

biestig kontrollsüchtigen Geizkragentante, sondern<br />

bezieht in einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung<br />

eine kleine Wohnung, mit oben<br />

erwähnter Krawalllady als Vermieterin, die einen<br />

Schlüssel zur Wohnung hat und den auch<br />

exzessiv benutzt, auch um ihre Mieterin zu verführen<br />

und sie in ihre täglichen kleinkriminellen<br />

Machenschaften und Besorgungsgänge einzubeziehen.<br />

Dass dieser Film trotz des doofen, plakativen<br />

Titels nicht misslingt, liegt nicht an der reichlich<br />

spekulativen Story, die immerhin mit einer<br />

sehr pfiffigen Pointe überrascht. Faszinierend<br />

ist vor allem das Setting, die Schilderung der<br />

Umgebung, der Nebenfiguren, der schonungs-<br />

lose Blick auf die Nachwende-Realität der litauischen<br />

Metropole. Aufeinanderkrachende Milieus<br />

und Lebensentwürfe, der krasse Gegensatz der<br />

Generationen, von Vergangenheit und Moderne,<br />

Land und Stadt, wird ebenso knapp und kühl wie<br />

überzeugend auf den Punkt gebracht. Faszinierend,<br />

an welchem Punkt sich fast alle hier einig<br />

zu sein scheinen: Sie wollen einfach nur weg.<br />

Gerade in der beengten Wohnung der Studentin<br />

wird das klaustrophobisch eingeengte Lebensgefühl<br />

der alten Plattenbaurealität durch anarchistische<br />

Vorstellungen und Wut gesprengt,<br />

verdichtet sich gewalttätiges Aufbegehren zum<br />

logischen Destillat paranoider Spießbürgerlichkeit.<br />

Doch was steckt wirklich hinter dem aggressiven<br />

Auftreten der scheinbar autonomen Vermieterinnen-Kampflesbe?<br />

Und ist unsere Pädagogikstudentin<br />

so naiv, wie es anfangs scheint?<br />

Am Ende des Films wirken auch die anarchistischen<br />

Punkparolen seltsam schal, nur ein<br />

Spiegelbild des Spießertums, eine Art pseudorevolutionärer<br />

Trachtenverein. Auch nur Losungen<br />

und Parolen. Und die wahre Autonomie<br />

finden wir am Ende dieses Films da, wo<br />

wir sie lange Zeit am wenigsten vermutet hätten.<br />

Ein starkes Stück.<br />

AUGUST<br />

Pro Fun Media<br />

USA 2011, 100 Min.,<br />

FSK 12<br />

OF mit dt. UT<br />

Der Stoff, aus dem das<br />

Drama ist: Junger, exzentrischer,<br />

muskulöser<br />

Karrierist, schwul, kehrt<br />

zurück aus Madrid an<br />

den Ort seiner letzten<br />

Beziehung und seine alte Heimat im sonnigen<br />

amerikanischen Süden. Dorthin, wo er reichlich<br />

Porzellan zerschlagen und ein zerbrochenes<br />

Herz zurückgelassen hatte, das er nun prompt<br />

wieder mit Beschlag belegt. Obwohl sein Ex gerade<br />

kurz davor steht, mit seinem neuen Freund<br />

(sexy und nuanciert: Adrian Gonzalez) zusammenzuziehen,<br />

einem Latino-Bartender, der lange<br />

versucht, im Angesicht des Ex seines Freundes<br />

das eigene Vertrauen aufrecht zu erhalten, während<br />

Troy seinen Ex Jonathan ins Bett zerrt und<br />

sich halt nimmt, was er zu brauchen glaubt, ein<br />

im Grunde beziehungsunfähiger Jäger, den die<br />

Beute primär nur interessiert, so lange sie sich<br />

entzieht. Doch was wird bei dieser bitteren Gemengelage<br />

aus der Beziehung von Jonathan<br />

und Raul? Bricht die hinter der verständnisvollliebevollen<br />

Fassade lauernde Wut Rauls noch<br />

hervor? Oder schlägt er den Eindringling mit<br />

dessen eigenen Mitteln? Hat die Beziehung der<br />

beiden jungen Männer unter diesen Umständen<br />

überhaupt eine Chance?<br />

Intelligentes Dreiecksdrama mit überraschender<br />

Auflösung, konventionell erzählt und bei allem<br />

Pathos doch sehr lohnenswert.<br />

BREAK MY FALL<br />

Pro Fun Media<br />

R: Kanchi Wichmann<br />

GB 2010, 105 Min.,<br />

FSK 16, dt. UT<br />

Zwei Band-Mädels aus<br />

London im Beziehungsclinch.<br />

Lesbische Liebe<br />

im Endstadium, drei<br />

Tage und Nächte stehen<br />

ihre Beziehung und ihre<br />

Freundschaften auf einem dramatischen Prüfstand.<br />

Das auch. Indieszene, Intimität, Irrsinn.<br />

Doch eigentlich geht es hier um Grundsätzliches:<br />

Die Regisseurin und Drehbuchautorin zeigt, wie<br />

Abhängigkeit Liebe zerstört, Gewalt erzeugt, Sadomasochistische<br />

Psychospiele, Kontrollzwang<br />

und -verlust, bis hin zur Existenzbedrohung. Das<br />

gegenseitige Wissen um Schwachstellen und<br />

Narben des anderen macht verletzbar, das Wissen<br />

darum erzeugt ängstliche Vorwärtsverteidigung,<br />

wüste Angriffe, wo Hinhören und Innehalten<br />

nötig wäre.<br />

Als Spiegel des wachsenden Wahnsinns zwischen<br />

den zwei Mädels fungieren hier zwei ihrer<br />

Freunde, einer davon zwar Stricher, jung und<br />

asiatischer Immigrant, aber wenn er nicht gerade<br />

eine Koksline zieht, noch der Rationalste der<br />

Clique, während der Vierte im Bunde, proletarisch<br />

geprägt, aus Sicherheitsgründen gelernt<br />

hat, etwas mehr Distanz zum Geschehen rundum<br />

zu halten. Doch der Dreh- und Angelpunkt<br />

ist die berstende Abhängigkeit der Frauen voneinander,<br />

sind die bitteren Dialoge, das blitzartige<br />

Wechseln in den Kampfzustand. Kanchi Wichmann<br />

zeigt dies geradezu in Zeitlupe, seziert die<br />

lauernde Gewalt in der engen Chaosbude der<br />

Musikerinnen wie in einem Chemiebaukasten,<br />

klaustrophobisch und furchteinflößend. Doch es<br />

sind doch nur Liebe suchende, die Mädels, keine<br />

Monster... Sie machen sich gegenseitig dazu,<br />

das ist die bittere Wahrheit. Liebende wie Du und<br />

Ich, die sich verirrt zu haben scheinen in ihren<br />

Verlustängsten und Vernarbungen, vielleicht rettungslos<br />

verirrt.<br />

Die authentischen tollen Dialoge, das genaue<br />

körperliche Spiel bis über die Grenzen der Zumutung<br />

hinaus, der Film Wichmanns ist radikal,<br />

weil er nichts ausspart, nichts überhöht, einfach<br />

nur draufhält und dabeibleibt, immer noch verzweifelt<br />

bemüht, einen Rest an Hoffnung für seine<br />

ProtagonistInnen aufzuspüren. Die zwei jungen<br />

Männer kommentieren das Ganze auf dem<br />

Dach eines Wohnhauses... „Hältst Du uns für<br />

normal, Vin? Die Welt da draußen ist ganz anders.<br />

Eine Welt mit Leuten, die nachts schlafen<br />

und morgens zur Arbeit gehen.“ Von der sind unsere<br />

jungen, gar nicht so Erwachsenen weit entfernt.<br />

Und die Mädels? Das Ende einer Beziehung<br />

kann auch eine Erlösung sein. Immerhin.<br />

Toller Soundtrack!


BRUDERSCHAFT<br />

Pro Fun Media<br />

R: Nicolo Donato<br />

DEN 2009, 97 Min., FSK 16<br />

Dän. OF mit dt. UT<br />

Warum wird einer Nazi... Gibt es dafür eine<br />

spezielle Disposition? Muss man dafür besonders<br />

dämlich sein? Besonders unsensibel? Und<br />

wenn einer gleichzeitig schwul ist,<br />

braucht es da zur Naziwerdung einen<br />

Uniformfetisch? Die Geilheit darauf,<br />

dominiert zu werden?<br />

All diese Fragen beantwortet dieser<br />

verstörende, mutige Film des dänischen<br />

Regisseurs Nicolo Donato<br />

über schwule Liebe in einer Neonazibande<br />

mit - Nein.<br />

Doch von vorne: Ein blonder junger<br />

Mann fliegt aus dem Militär, weil er<br />

sich einem Kameraden zu sehr genähert<br />

hatte. Rumschwulen in der<br />

Armee, geht gar nicht. Wenn es auffliegt.<br />

Zuhause gibt es keine Unterstützung,<br />

sondern nur Sinnsprüche satt und Angebote<br />

aus dem Fertigbaukasten bürgerlicher Karriereplanung,<br />

die mit seinen eigenen Wünschen<br />

rein gar nichts zu tun haben. Angewidert von<br />

der häuslich vermeintlichen Sinnentleertheit füllt<br />

er den Mangel an Thrill, Identität und Anerkennung,<br />

indem er bei der lokalen Naziclique andockt,<br />

die vorzugsweise säuft oder Schwule<br />

verprügelt. Und nach anfänglichem Widerstand<br />

feuert er als Mutprobe einen Molotovcocktail auf<br />

ein Immigrantenheim und entwirft erste Propagandatexte,<br />

wobei er das Ganze immer noch<br />

als Spiel betrachtet. Doch der Anführer sieht in<br />

ihm ein schlaues Kerlchen mit Potential und so<br />

wird er zum ersten Anwärter auf eine Karriere in<br />

der Nazipartei und tauscht die Existenz zu Hause<br />

endgültig gegen eine Koje im Haus des lokalen<br />

Führers, das er mit einem Kameraden renoviert.<br />

Und die beiden jungen Männer entdecken<br />

nach erster Antipathie nach und nach ihre Liebe<br />

zueinander. Bis das heimliche Verhältnis durch<br />

den eifer- und drogensüchtigen Bruder des Geliebten<br />

enttarnt wird, da ist Schluss mit lustig<br />

und es fließt reichlich Blut.<br />

Dieser Film ist mutig, echt, riskant. Er zeigt,<br />

dass Nazis als Gruppe widerwärtige Monster<br />

sind, die man nur mit den nötigen Gewaltmitteln<br />

stoppen kann und muss. Doch auch diese Menschen<br />

sind, so weit sie sich noch nicht schuldig<br />

gemacht haben, als Individuen auch Verführte,<br />

fehlgeleitete Männer und Frauen, von denen<br />

einzelne sogar, so schmerzhaft das auch sein<br />

mag, sympathisch sein können, fast schon zufällig<br />

durch das jeweilige Umfeld braun geprägt.<br />

Denn auch das gehört zur braunen Wahrheit:<br />

Da zogen Punks in Magdeburg von der Alt- in<br />

die naziverseuchte Neustadt, schnitten sich die<br />

Haare ab und wurden zu Nazimitläufern, an-<br />

satzlos. Hauptsache, die Welt ist einfach erklärt,<br />

die Schwarz-Weiß-Bilder stimmen, eine Welt<br />

aus Freunden und Feinden und sonst nichts ist<br />

nämlich bequem. Solange die Feindbilder klar<br />

sind, ist die eigene mickrige Identität nicht im<br />

Fokus. So funktioniert das, von eiskalt kalkulierenden<br />

machtgeilen Opportunisten an der Spitze<br />

mal abgesehen, die die Parteileitung eher<br />

als Karrierechance betrachten und sich selbst<br />

die Finger nicht schmutzig machen. Nicht morden,<br />

höchstens morden lassen,<br />

um die Jungs, die das gemacht<br />

haben, im Knast verrecken zu<br />

lassen, so lange das politisch<br />

opportun ist.<br />

Solche Innenverhältnisse zeigt<br />

dieser Film, Prekariatsopfer<br />

und gelangweilte Bürgerkinder<br />

ohne Perspektiven, die aus der<br />

Sucht nach Anerkennung, dem<br />

Wunsch nach Gruppensolidarität<br />

und der männerbündlerischen<br />

Wärme zu leichten Opfern<br />

der Verführer werden.<br />

Es ist schlicht sensationell, dass Donato das<br />

zeigt, damit die übliche Braun-Weiß-Malerei<br />

verlässt, ohne dabei zu vergessen, wer die Täter<br />

und wer die Opfer sind. Eine Meisterleistung<br />

ist das ohnehin, hier nur noch getoppt durch<br />

zwei Hauptdarsteller, die eine wirklich überragende<br />

Leistung abliefern: Thure Lindhardt und<br />

David Denck.<br />

Die schmerzhaften Fragen, die dieser Film<br />

stellt, die gehen uns alle an. Sind Sie, Sie ganz<br />

persönlich! Sind Sie sich denn sicher, mal angenommen,<br />

Sie sind Mann, stehen auf Männer,<br />

verknallen sich in einen und erfahren erst später,<br />

der ist Nazi. Würden Sie ihn nicht zu verstehen<br />

suchen? Würden Sie nicht bei ihm bleiben,<br />

wenn er Ihnen Ihre Sicherheit garantieren<br />

würde? Was er eigentlich gar nicht könnte? Und<br />

wären Sie nicht auch für ihn ein Risiko? Würde<br />

er also zu Ihnen stehen? Und würden Sie einen<br />

Moment lang auch daran denken? Und was würden<br />

Sie sagen, davor und danach? Schatz, sag<br />

Deinen Jungs nie wieder, dass man Schwulen<br />

den Schwanz abhacken sollte. Sag das nie wieder!<br />

Und jetzt, lass es uns noch mal genießen?<br />

Was würden Sie sagen?<br />

EATING OUT 4 – DRAMA CAMP<br />

Pro Fun Media<br />

R: Allen Brocka<br />

USA 2010, FSK 16, 90 Min.<br />

dt. synchronisierte Fassung<br />

Drama-Camp? Die rosarote Disney-Variante?<br />

Die Jonas Brothers in schwul? Leider nicht.<br />

Aber gemach, wer die ersten drei Folgen mochte,<br />

wird hier keinesfalls enttäuscht: Die Teilnahme<br />

am ersehnten Schauspielercamp, in dem<br />

die leitende Drama-Queen jeglichen Sex ver-<br />

2012 I #35 I gayGlotze<br />

bietet, weil sie in ihrer Unerfülltheit den Anblick<br />

nicht ertragen könnte, ist immer noch besser, als<br />

die Home-Video-Versuche an schwulen Splattermovies.<br />

Da haben unsere jungschwulen Filmer und<br />

Schauspieler ja völlig Recht, die sich mit unverbesserlichem<br />

Optimismus die Professionalisierung ihrer<br />

Fertigkeiten erhoffen. Und geilen Spaß, na klar,<br />

den haben sie dann auch, viel nackte Haut inklusive,<br />

und nach einem Beginn voller Drive und guter<br />

Gags werden letztere erst im zweiten Teil ein wenig<br />

berechenbar und fad. Doch auch das kannten<br />

wir ja schon von den ersten drei Folgen. Hübsch,<br />

nett, unterhaltsam ist das hier, nicht mehr und nicht<br />

weniger.<br />

FJELLET - DER BERG<br />

Edition Salzgeber<br />

Regie: Ole Glaever<br />

NOR 2011, 70 Min.,<br />

FSK 0<br />

norweg. OF mit dt. UT<br />

Zwei Bergwanderinnen<br />

machen sich<br />

auf zu einer Bergtour<br />

in arktischer Kälte.<br />

Diese Tour ist das Ergebnis<br />

einer Erpressung. „Wenn<br />

Du nicht mitkommst, ist es zu<br />

Ende.“ Die beiden haben ein<br />

gemeinsames Trauma: Bei der<br />

gleichen Tour, zwei Jahre vorher,<br />

starb ihr Sohn bei einem<br />

Sturz am Berg. Er war fünf Jahre<br />

alt. „Weißt Du, was Dein Problem ist? Du kannst<br />

nicht offen über Valle sprechen!“ „Dieser Trip bringt<br />

ihn uns nicht zurück.“ „Bald wird es schneien.“<br />

In der winterlichen Kälte wird jede Frage zum<br />

schneidenden Angriff, die erstarren lässt, was so<br />

lange Liebe war. Zwei lesbische junge Frauen mit<br />

gemeinsamem Kinderwunsch, nur noch nachts im<br />

Zelt aneinandergekuschelt unbewusst die einstige<br />

Nähe findend, kämpfen um - ihre Liebe? Oder doch<br />

zu aller erst um sich selbst? Und - ist das vielleicht<br />

doch noch das Selbe? Da sind ja Momente von<br />

Zärtlichkeit, gemeinsamer Freude und Trauer.<br />

„Wovor hast Du so große Angst? Er war Dein<br />

Sohn!“ „Er war auch Dein Sohn!“ „Wie meinst Du<br />

das?“ „Es war so steil. Ich versteh’s nicht!“<br />

Lakonische, bittere Dialoge in einer archaischen<br />

Landschaft. In eisiger Kälte suchen zwei mit aller<br />

Konsequenz eine Klärung, um neu beginnen zu<br />

können. Ob miteinander, gegeneinander, oder für<br />

sich. Ob durch Rache oder Vergebung, das erzählt<br />

der von zwei großen Schauspielerinnen getragene<br />

Film genau, nah, zutiefst berührend.<br />

Fjellet ist nicht in erster Linie ein Film über eine lesbische<br />

Beziehung, sondern ein phänotypisches<br />

Drama um Trauer, Rache und Vergebung.<br />

Als ob das die DVD nicht schon lohnen würde, gibt<br />

es als Extra noch einen tollen Bonusfilm: „Kurzatmig“<br />

erzählt von der Annäherung zweier sehr unterschiedlicher<br />

Frauen, die sich als Nachbarinnen auf<br />

dem Lande nur für einige Wochen begegnen. Mystisch,<br />

lakonisch, schön.<br />

51


52 gayGlotze I #35 I 2012<br />

THE FOUR-FACED-LIAR –<br />

LIEBE FINDET IHREN WEG<br />

Edition Salzgeber<br />

R: Jakob Chase<br />

USA 2010, 87 Min., dt. UT, FSK 12<br />

West Village, New York. Eine lesbisch - heteromännliche<br />

Zweier-WG und ein frisch aus der<br />

Provinz nach New York gekommenes Stino-Pärchen<br />

mischen sich gegenseitig und ihre Umgebung<br />

ganz schön auf. Jeder ist dabei irgendwie<br />

bewusst oder unbewusst damit beschäftigt, alle<br />

gefestigten Beziehungsstrukturen in der Umgebung<br />

möglichst ins Wanken zu bringen. Die<br />

Kneipe „Four-Faced Liar“ wird dabei zum Dreh-<br />

und Angelpunkt der amourösen Verstrickungen<br />

und Wirren, einem tragikomischen Bäumchenwechsle-dich-Spiel,<br />

das teils slightly overplayed<br />

und reichlich melodramatisch, aber durchweg<br />

sympathisch sämtliche Weltbilder ringsherum<br />

atomisiert. Das hat Charme und Witz, auch<br />

wenn dieses Twenty-something-auf-und-ab dem<br />

„Liebeswirren in Invierteln westlicher Großstädte“<br />

-Genre letztlich nichts Neues hinzuzufügen vermag<br />

und vor allem deshalb verpufft, weil es sich<br />

bis zum Schluss zwischen Romantikklamotte<br />

und Persiflage nicht entscheiden will.<br />

IN THEIR ROOMS (San Francisco/Berlin)<br />

Edition Salzgeber<br />

Bonus-Kurzfilm: I Want Your Love<br />

R: Travis Mathews<br />

USA 2009, ca. 100 Min., FSK 18, dt. UT<br />

Das sitzt. Verdichtet auf gerade mal 20 Minuten<br />

Länge reflektieren völlig unterschiedliche schwule<br />

Kerle und Kerlchen über die intimsten Details<br />

ihrer Obsessionen, spielen auch mal an sich rum,<br />

in Berlin bis hin zum Wichsen und offenem Sex.<br />

Doch die in San Francisco klare Struktur wird im<br />

weitaus längeren und expliziteren Berlinabschnitt<br />

unverständlicherweise aufgeweicht. Warum auf<br />

einmal Kamerafahrten durch Straßen und Untergrund<br />

Berlins? Warum Pärchen und nicht nur,<br />

wie ursprünglich, einzelne Männer, ihre Beziehung<br />

zu Körper und Raum und Sinnlichkeit?<br />

Stark ist das, neu und so was wie Indieporno,<br />

klar. Gerade auch im Bonusfilm „I Want You“, der<br />

klarer die Begegnung im Fokus hat und deshalb<br />

auch wieder mehr überzeugt.<br />

Mathews ist einer, der versucht, Porno jenseits<br />

vom oft peinlichen Zentimeterfetisch und den<br />

ewig gleichen Traumtyp-Fixierungen neu zu<br />

denken, und das allein ist schon mal verdienst-<br />

voll. Seine Männer müssten noch ein wenig<br />

verschiedener sein. Man denke an die porträtierten<br />

Männer bei Herlinde Koelbl. Seine Vorgaben<br />

müssten klarer umgesetzt werden, formal<br />

strenger. Doch er ist auf diesem Weg in eine<br />

lustvoll-bunte Körperbezogenheit ohne Konsumentia-geprägte<br />

Normierungen weiter als viele<br />

andere, die sich hoffentlich der Abteilung „Indie-<br />

Porno“ noch anschließen werden...<br />

JUDAS KISS<br />

Pro Fun Media<br />

R: J. T. Tepnapa<br />

USA 2011, 91 Min., FSK 16<br />

OF/ dt. UT<br />

Schwule Time-Traveller-Variante mit verworren<br />

konstruierter, abstruser Geschichte, die nur als<br />

Vorwand dient, erotische Verwirrungen von Film-<br />

Highschool-Eleven als nicht enden wollende Parade<br />

charakterlos verzeichneter Schönlinge zu<br />

inszenieren, glatt und ohne jede Tiefe, kitschig<br />

und ohne Glaubwürdigkeit, mit gestelzten Dialogen,<br />

die schon am Anfang klarmachen, worum es<br />

eigentlich gehen soll: „Das sind hautenge Jeans<br />

tragende Burschen, die denken, dass die Welt ihnen<br />

was schuldet.“ Genau das ist das Problem.<br />

LIEB MICH! GAY SHORTS VOL. 3<br />

Pro Fun Media<br />

USA/DEN/BRD 2008-10, 138 Min., FSK 16<br />

Orig. mit dt. UT, außer dt. OF<br />

Zwei der insgesamt acht Kurzfilme handle ich<br />

erst mal kurz ab. In „CURIOUS THINGS“ und<br />

THE IN-BETWEEN quatschen junge schwule<br />

Männer über diverse Varianten des Sehnens<br />

und Begehrens, Treffens, Verliebens und Verlassens,<br />

aus dem Off über schnell geschnittene Alltagsbilder.<br />

Ich würde mir den Cut Up-Style riskanter,<br />

provokativer und frecher wünschen, so<br />

ist das eher eine halbe Sache.<br />

Ansonsten aber herrscht sehr hohes Niveau vor.<br />

Im beeindruckenden Kurzdrama „HINTERBLIE-<br />

BENE“ trifft ein junger Mann nach dem Tod des<br />

Vaters an der Haltestelle einen älteren schwulen<br />

Mann, eine Begegnung mit Zunder, die ihm<br />

zu wertvollen Einsichten verhilft und durch die<br />

er auch der kleinen Schwester gegenüber eine<br />

neue, angemessenere und liebevollere Rolle findet.<br />

Ein von einem Topcast souverän gestaltetes<br />

Glanzstück von Alexander Peufer.<br />

„WE ONCE WERE TIDE“ zeigt dann eine psychisch<br />

kranke Mutter, ihren ratlosen schwulen<br />

Sohn und dessen Freund - und eigentlich die<br />

bittersüß verrätselte Chronologie eines erzwungenen<br />

Abschieds, der neues Verstehen gebiert.<br />

Stark! Sexy und genau zeigt dann „EL RELOJ“<br />

zwei Jungs, einen brunftigen Bruder, eine verhinderte<br />

Übernachtung, eine missglückte Annäherung.<br />

Und Blicke. Solche Blicke... Dann wird<br />

es lustig und boshaft: „SMALL TIME REVOLUTI-<br />

ONARY“ porträtiert einen jungschwulen queeren<br />

Politkämpfer im Spannungsfeld zwischen der<br />

Queer-Clique und den von ihm gestalteten Flugblättern<br />

– und seiner eigenen ahnungslosen Familie.<br />

Denn hinter der biederen Fassade gibt’s<br />

nur den Papa-Whimp, der sich hinter seiner<br />

Briefmarkensammlung vor dem Leben versteckt<br />

und die kontrollsüchtig-dominante Mutterfurie,<br />

deren Autorität vom Vater nur in winzigen Momenten<br />

hinterfragt wird, der kurz vor einem<br />

Amoklauf zu stehen scheint. Da gibt es doch nur<br />

Eines: Come Out, Boy! Oder?<br />

Ein ganzes Stück weiter sind die sechs dänischen<br />

Jungs, die in „XY ANATOMY OF A BOY“ unter der<br />

Dusche, der Umkleidekabine<br />

und in der Wanne<br />

von sich und ihren Erfahrungen<br />

erzählen, unaufgeregt,<br />

selbstverständ-<br />

lich authentisch, natürlich<br />

sexy, toll. Und mit einem<br />

Lehrstück in Sachen Body<br />

wahn und Muckifetisch<br />

geht die Sammlung zu<br />

Ende, witzig und auf den<br />

Punkt gebracht: Boy, der<br />

gern Gogo-Dancer wäre,<br />

hat dafür leider nicht die<br />

angeblich genremäßig<br />

unabdingbaren Muckis, und entdeckt so in „GOGO<br />

REJECT“ eine Marktlücke. Nachahmenswert!<br />

MARY LOU<br />

Pro Fun Media<br />

R: Eytan Fox<br />

ISR 2009, 90 Min., FSK 12<br />

Isr. OF mit dt. UT<br />

Mama schwärmt für Schlagerstar, prägt damit<br />

Sohnemann zur Dramaqueen. Und verschwindet<br />

spurlos, Tränen und Traumata zurücklassend.<br />

Sohn flieht vor manisch-depressivem alleinerziehenden<br />

Papa nach Tel Aviv und macht<br />

dort Karriere als Travestiestar in einer bunt-sympathisch-schrägen<br />

Truppe. Während er einen armen<br />

jungen Kollegen und dessen Leidenschaft<br />

für ihn leider gänzlich übersieht, überlebt dieser<br />

das nicht. Am Ende wird sogar die verschwundene<br />

Mama nach einer Odyssee des Suchens<br />

wieder entdeckt, womit sich all die erfundenen<br />

Geschichten des jungen Mannes komplett erledigen,<br />

der nun den Mut fasst, eigene Lieder zu<br />

singen. Hach, wie romantisch. Und sogar Papa<br />

kommt wieder auf die Reihe. Alles wird gut.


Das Ganze passiert wie schon früher<br />

(„The Bubble“) bei Eytan Fox mit reichlich<br />

pfiffiger Situationskomik - die Tiefe<br />

früherer Arbeiten allerdings vermisse<br />

ich hier schmerzlich, bade stattdessen in<br />

überbordender Pathetik, von der es deutlich<br />

weniger auch getan hätte. Und der<br />

Kunstgriff, unsere Hauptfigur als Erzähler<br />

einzusetzen, der uns auf einem Stuhl<br />

im Düstern hockend von Kapitel zu Kapitel<br />

geleitet, bricht den fragilen Drive der<br />

Komödie vollends. Da retten die schönen<br />

Showeinlagen und Lieder die Chose<br />

auch nicht mehr. Zu viel Glitter und Dramatik<br />

verderben einen im Ansatz netten<br />

Filmplot, weil Zwischentönen kaum<br />

eine Chance gegeben wird und der Zwitter<br />

aus Komödie und Melodram einfach<br />

nicht funktioniert. Nur wer auf Travestie-<br />

Schmonzetten grundsätzlich steht, könnte<br />

das mögen, ich schau mir lieber die gute<br />

alte Priscilla an.<br />

SASCHA<br />

Edition Salzgeber<br />

Regie: Dennis Todorovic<br />

D 2010, FSK 12, 101 Min., dt. OF<br />

Man nehme:<br />

Eine aus Monte-<br />

negro (nicht: Mazedonien,<br />

da legt<br />

Mutti Wert drauf)<br />

stammende Immigrantensippe,<br />

wohnhaft in Köln,<br />

deren versteckt<br />

schwuler Sohn<br />

(hinreißend zerbrechlich<br />

und tap-<br />

sig: Saša Kekoz)<br />

von der überfürsorglichen<br />

Mutter<br />

und Heimarbeiterin für eine Karriere als<br />

Starpianist fest eingeplant ist, während<br />

der Kneipier und Papa (großartig in seiner<br />

Kauzigkeit und Vielschichtigkeit: Pedja<br />

Bjelac!) ihn lieber in der alten Heimat verheiraten<br />

würde. Dazu nicht zu vergessen<br />

der Bruder, der die chinesische Immigrantentochter<br />

= Violinistin aus der Nachbarschaft<br />

anschmachtet, die aber gleichzeitig<br />

dem Jungschwulen als Alibifreundin dient,<br />

nachdem sie dessen Geheimnis mühsam<br />

verkraftet hat, weil sie ja selbst in ihn verschossen<br />

war. Ich beginne abzuschweifen,<br />

back zur Sippe: Also, der Bruder, der<br />

was ahnt und noch ein komplett unnützer<br />

Bruder oder Cousin des Papas, der die<br />

Renovierung eines Bades herauszögert,<br />

um länger Speis, Trank und Unterkunft<br />

zu genießen. Und dann wäre da noch das<br />

Ziel der Begierde, der von Tim Bergmann<br />

ebenso arrogant, wie muskelbepackt gegebene<br />

Klavierlehrer-Schönling, der sich<br />

im Wesentlichen für sich selbst und angesagte<br />

Parties interessiert. So, all die netten<br />

schrägen Vögel, mehr oder weniger<br />

friedlich eingebettet ins Leben der Kölner<br />

Multi-Kulti-Straßenrealität. Hach, was ein<br />

schönes Setting für ’ne geile Komödie, die<br />

sich aber so was von gewaschen hat. All<br />

die kleinen Bosheiten und Gags, die schon<br />

gleich beginnen mit der Familientragödie<br />

am Grenzzaun, bzw. am Zollhäuschen.<br />

Einfach treffend und komisch ist das und<br />

das Beste: Keine billigen Gags, niemand<br />

wird vorgeführt. Nein, voller Sympathie für<br />

alle Protagonisten reiht sich ein blendend<br />

getimeter Gag an den anderen, leichtfüßig<br />

und genau bastelt der hochtalentierte<br />

Regisseur an pfiffigen Überraschungen in<br />

Folge, jagt die bunte Mischpoke durch ein<br />

sehr spezielles Wechselbad an Herausforderungen<br />

und erzwungenen Einsichten.<br />

Wer nicht hören will, muss fühlen. Und<br />

gefühlt wird hier reichlich. Reichlich komisch.<br />

Wir erleben Dramen menschlicher<br />

Leidenschaft und montenegrinischer Passion,<br />

und eigentlich schlicht und einfach<br />

die beste deutsche Coming-Out-Komödie<br />

ever. Und für das Genre der Multi-Kulti-<br />

Comedy auch einen Film für ganz oben<br />

auf der ewigen Bestenliste, vergleichbar<br />

allenfalls mit den ebenso frischen Pakis/<br />

Inder-In-London Komödien eines Damien<br />

O’Donnell („East Is East“) oder von Kurinder<br />

Chadha („Kick It Like Beckham“). Tiefe<br />

Verbeugung und jetzt seh’ ich ihn mir ein<br />

drittes Mal an.<br />

SEA PURPLE<br />

Pro Fun Media<br />

R: Donatella Maiorca<br />

ITA 2009, 105 Min., FSK 12<br />

Ital. OF mit dt. UT<br />

Während das Leben von heutigen Schwulen<br />

und Lesben im queeren Film schon<br />

lange von diversen Seiten ausgeleuchtet<br />

ist - und doch auch hier noch viele Wege<br />

ungegangen sind - ist die Vergangenheit<br />

schwulen und vor allem lesbischen Lebens<br />

in früheren Jahrhunderten ein weitgehend<br />

unbesprochenes, erst recht unbespieltes<br />

Thema. Erfreulicherweise rückt<br />

dieses Melodram<br />

2012 I #35 I gayGlotze 53<br />

nach einer wahren Geschichte das harte, kaum glaubliche<br />

Los zweier lesbischer Frauen im ländlichen Italien Mitte des<br />

19. Jahrhunderts in den Fokus.<br />

Eine der beiden Frauen wird von ihrem brutalen Gutsverwalter-Vater<br />

quasi von Beginn an permanent misshandelt, sogar<br />

eine eigentlich tödliche Zeit lang in einem kleinen Kellerverließ<br />

eingesperrt. Ein Sohn hätte sie sein sollen, das ist<br />

ihr Vergehen.<br />

Ihre Freundin Sara ahnt nichts von ihrer Marter im Kellerloch,<br />

wähnt sich im Stich gelassen und lässt sich einem<br />

Nachbarssohn versprechen. Doch die Eingesperrte wird befreit<br />

- und schließlich zum Sohn und Nachfolger des Gutsbesitzers<br />

umgestaltet. Aus Angela wird Angelo. Zwar weiß<br />

das Jeder im Dorf, aber der Gutsverwalter hat die Autorität,<br />

die Spötter zum Schweigen zu bringen. Angelo-la und Sara<br />

heiraten, später kommt ein Kind zur Welt, der Skandal ist<br />

perfekt.<br />

Mit sprichwörtlicher italienischer Dramatik<br />

wird dieser atemberaubende Plot<br />

umgesetzt - archaisch und romantisch<br />

- doch diese wahre Begebenheit<br />

verträgt alles Pathos und ist<br />

auf ergreifende Art konsequenter<br />

Ausdruck jener barbarischen Unmenschlichkeit,<br />

mit der gerade im<br />

Wirkungsfeld des organisierten<br />

Katholizismus mindestens in der<br />

Vergangenheit Minderheiten und<br />

Normabweichler durch die Dörfer<br />

getrieben wurden. Für Individualität<br />

und Selbstverwirklichung<br />

war da kein Platz und die Saat, die<br />

von den vatikanischen Pfaffen gesät<br />

wurde, ging auf in der sadistischen Gewalt jener, die den<br />

Verrat an ihren eigenen Schattenseiten und Begierden als<br />

Teil eines gewalttätigen Mobs wegzuprügeln suchten, die<br />

für ihre eigenen unterdrückten Zweifel und erlebte Gewalt<br />

an solchen Abweichlern tödliche Rache nahmen. So wurden<br />

sexuelle Abweichler und sogenannte Ketzer zu Opfern faschistischer<br />

Raserei. Die Erinnerung an solch unchristliche<br />

Gnadenlosigkeit im Namen des Herrn in Rom wachzuhalten,<br />

ist alle Mal verdienstvoll, erst recht wenn dies filmisch auf so<br />

überzeugende Weise geschieht, wie in diesem Drama, das<br />

einen Ehrenplatz nicht nur in queeren Filmarchiven verdient.<br />

EIN SOMMER DER LIEBE<br />

Edition Salzgeber<br />

Drehbuch, Regie: Edwin Oyarce<br />

CL 2010, 107 Min., FSK 12<br />

Orig. mit dt. UT<br />

Ein junger, hübscher Latino, der den Sommer beim Vater<br />

verbringt, Scheidungskind, sammelt Sperrmüll, um damit<br />

sein kleines Zimmer etwas persönlicher gestalten zu können<br />

und begegnet dabei seinem alten Kumpel, Sohn einer<br />

alleinerziehenden Alkoholikerin, der für sein Leben gern filmt<br />

- bald auch ihn, scheinbar spaßeshalber gerne mal in sexy-


54 gayGlotze I #35 I 2012<br />

anzüglichen Posen. Dessen schwules Begehren<br />

nimmt er nicht wirklich wahr, während sich beim<br />

Gegenüber zwischen Indierock, Joints, Suff und<br />

gemeinsamem Träumen Schritt für Schritt das<br />

dramatische innere Coming Out seinen Weg ins<br />

Bewusstsein bahnt...<br />

Dass dieser Film dabei die meisten Coming Out<br />

& Of Age-Filme weit überragt, liegt am brillanten<br />

Spiel der gesamten Darstellerschar, an der wunderbar<br />

genauen, nahen Kamera, an den behutsam<br />

und genau geschilderten Randgeschichten.<br />

Da wäre die Freundin, die zunächst im Koma<br />

liegt und nach Kameraexperimenten unserer<br />

zwei Halodris auf wundersame Weise erwacht.<br />

Da wäre die fast ständig alkoholisierte Mutter,<br />

die den Freund des Sohnes ob seiner Sexiness<br />

hemmungslos angräbt. Und da wäre die Dreier-Bettszene,<br />

die dann doch eine völlig andere<br />

Richtung nimmt, als wir vermuten mögen, und<br />

einen dramatischen Bruch bedeutet. Da wären<br />

die scheuen, heimlichen Berührungen in heißen<br />

Nächten, da ist ein geheimnisvoller Schöner am<br />

Strand. Da sind die authentischen, frischen Dialoge,<br />

das spontane, völlig natürliche Spiel, echt,<br />

unverfälscht, ohne jedes Pathos, weitab von jeglichen<br />

Klischees. Und ein ebenso beiläufig wie<br />

logisch konstruiertes Ende. Ein rundum gelungener,<br />

toller Ausnahmefilm, den man so manchem<br />

jungen queeren Filmer<br />

hierzulande zu Lernzwecken<br />

empfehlen kann - und der<br />

nicht nur für schwules Publikum<br />

ein echter Volltreffer ist.<br />

VAMPIRE BOYS<br />

Queer Films<br />

R: Charlie Vaughn<br />

USA 2011, 70 Min., FSK 16<br />

OF/ dt. UT<br />

Caleb, jung, schwul, sehr unsicher<br />

und naiv, zieht zu Paul,<br />

jung, schwul, hübsch, in dessen schönes Häuschen.<br />

Doch statt sich dem in Leidenschaft für<br />

ihn, warum auch immer, Entflammten hinzugeben,<br />

wird er zum Toyboy der in der Stadt tätigen<br />

Vampir-Viererbande, die auch einen schwulen<br />

Blut- und was-auch-immer-noch-Sauger in ihren<br />

Reihen hat. Leider wird Paul, für mich der ein-<br />

zige Protagonist mit<br />

echtem Sexappeal,<br />

von den Vampirmuckiträgern<br />

als potentieller<br />

Störfaktor früh<br />

dahingemeuchelt, damit<br />

Caleb, unser blonder<br />

Azubi, Zeit für die<br />

dramatische Entscheidung<br />

hat, ob er auch<br />

ein Vampir werden<br />

und mit dem Anführer<br />

der Bluttrinker für immer<br />

und ewig verbandelt<br />

sein will.<br />

Gnadenlos hölzerne<br />

Dialoge, schauspielerischer<br />

Dilettantismus,<br />

eine grausige Filmmusik<br />

und die amateurhafte,<br />

schlampige<br />

Regie qualifizieren dieses furchtbare Machwerk<br />

zum ersten Anwärter für die peinlichste cineastische<br />

queere Posse seit Jahren. Das Gute daran:<br />

Schlechte Filme sind nicht ansteckend und<br />

wer den Kontakt vermeidet, lebt völlig safe.<br />

VIOLET ... SUCHT MR. RIGHT<br />

Pro Fun Media<br />

R: Casper Andreas<br />

USA 2010, 105 Min., FSK 16, dt. UT<br />

Es ist toll, Fag Hag zu sein. Will heißen: Die<br />

Lieblingsmutti einer lokal ansässigen Clique von<br />

Schwulen, genauer: Eines Gay-Hofstaats. Star<br />

zu sein im Schwulenclub, wandelnder Kummerkasten,<br />

bei dem sich die Boys ausheulen können...<br />

Toll!? Eine Weile lang schon. Nur. Solcherart<br />

geliebt, aber eigentlich komplett alleine<br />

zu sein, verführt nämlich dazu, das eigene innere<br />

schwarze Loch, die Einsamkeit nicht mehr<br />

wahrnehmen zu wollen, dieses Manko zu ignorieren<br />

und darob auch Möglichkeiten zu affektiven<br />

Bindungen nicht mehr an sich heran zu lassen.<br />

Wer so unterwegs ist, bleibt chronisch solo. Violet<br />

ist genau so drauf, sagt dem glamourösen Leben<br />

als Schwulenmama „Good-Bye“ und landet<br />

- leider nicht bei demjenigen, der sie tatsächlich<br />

anschmachtet und der wohl auch der Richtige<br />

wäre, sondern ausgerechnet bei einem engstirnigen<br />

Pedanten, dessen persönlicher Horizont<br />

reichlich überschaubar und berechenbar ist. Stoff<br />

genug für eine leichtfüßige, witzige Komödie, die<br />

blendend unterhält, quietschbunt zutreffend die<br />

Szene karikiert und dabei doch nicht im Klischee<br />

steckenbleibt, eine reife Leistung. Für das queere<br />

Partyevent ein cineastischer Burner. Und nicht<br />

nur für Marianne Sägebrecht ein queeres Geschenk,<br />

mit dem man nichts falsch machen kann.<br />

VORSTADTGEHEIMNISSE<br />

Queer Films<br />

R: Cheetah Gonzalez<br />

USA 2010, 70 Min., FSK 16<br />

Original mit dt. UT<br />

Einer der most sexy schwulen Streifen seit langem,<br />

low budget und ziemlich verwegen, aber<br />

auch hochgradig raffiniert - aber der Reihe nach:<br />

In der Vorstadt ist die Hölle los. Junger schwuler<br />

Latino wird auf offener Straße abgeknallt. Wer war<br />

das? Etwa sein Monsta-Macho-Gangsta-Brudah?<br />

Der böse Drogendealer und Mädchenversteher,<br />

angeblich? War’s’n Mord? Oder ’n Unfall? Unser<br />

Erschossener erzählt die Story selbst, per Rückblende<br />

und wir lernen seinen exquisiten, durchgeknallt-sympathischen<br />

Freundeskreis kennen.<br />

Da ist sein vermeintlich bester Freund, der voyeuristisch<br />

arrogante, angeblich total heterosexuelle<br />

Emoboy Jake, nie ohne Kamera unterwegs<br />

und mit den engsten Jeans der Kinogeschichte<br />

ohne Riesenprügel ever. Dann hätten wir eine<br />

Lehrerin, die mit ihrem schönen Nachhilfeschüler<br />

vögelt, was Jake natürlich beweisen kann, der<br />

aus ähnlichen Gründen schon einen Sportlehrer<br />

den Job kosten ließ. War am Ende der hübsche<br />

Emoschönling das Ziel des Mordanschlags?<br />

Dann hätten wir noch eine hübsche blonde<br />

Freundin namens Anybody und sein nun wirklich<br />

bester Kumpel Michael, der wenigstens nicht mal<br />

zu 91 % hetero ist, wie sich<br />

noch herausstellt. Ein echt<br />

niedlicher, treuer Asiaten-<br />

Bro. Leider ist die einzig<br />

schwule Verbindung zwischen<br />

ihm und unserem<br />

hübschen Latino der gemeinsam<br />

gedrehte Safer-<br />

Sex-Spot, aber das ist ja<br />

noch ausbaufähig.<br />

Ansonsten im Spiel: Die<br />

Gang des MothaFucka<br />

Gangstahs, ein Swimmingpool<br />

als Exilheimat, ein inter-<br />

rumpierter Dreier, ein instruktives Abschlussfilmprojekt<br />

und weitere Kameras, ein düsterer Park,<br />

mindestens eine vertauschte Patrone, ein abgeblitzter<br />

Emoboy und jede Menge witzige Pointen.<br />

Und das Beste dran: Das funktioniert so was<br />

von: Hinreißend.


ZURÜCK INS GLÜCK<br />

Pro-Fun-Media<br />

Regie: Malu De Martino<br />

BRA 2010, 96 Min., FSK 6<br />

Port. OF mit dt. UT<br />

Nach dem Zusammenbruch<br />

ihrer Beziehung wegen<br />

einer Ingenieurin gibt<br />

sich die Literaturprofessorin<br />

Julia ganz ihren Depressionen<br />

hin - und glücklicherweise schließlich<br />

dem Drängen ihres ebenfalls beziehungsgeschädigten<br />

schwulen Freundes Hugo nach, mit der gemeinsamen<br />

Hippie-Freundin Lisa, die eine Abtreibung<br />

zu verkraften hat, gemeinsam vor den Toren<br />

der Stadt einen neuen Anfang als 3er-WG zu versuchen.<br />

Bald stößt auch Lisas Kusine Helena zum<br />

sympathisch chaotischen, traumatisierten Dreigestirn<br />

hinzu, die für Julia zur amourösen Herausforderung<br />

avanciert. Und da wäre noch die provozierende,<br />

pfiffige Studentin Carmem Lygia, deren<br />

Avancen Julia ebenso brüsk, wie arrogant zurückweist,<br />

weil sie Angst vor deren demonstrativer Lebendigkeit<br />

hat, wobei die junge Hochbegabte sich<br />

aber nicht wirklich abschütteln lässt.<br />

Den Kampf um eine Neuwerdung, den Abschluss<br />

der eigenen Trauerarbeiten erzählt dieser sympathische<br />

Film mit viel Situationskomik, charmanter<br />

Leichtigkeit und viel südamerikanischem Temperament.<br />

Der gut gelaunte Cast und die poetische Kamera<br />

erzählen die Story geradlinig auf den Punkt.<br />

Und die pointierten Dialoge tun ihr Übriges zu einem<br />

launigen cineastischen Vergnügen mit Hirn. Insbesondere<br />

die beeindruckende Wandlungsfähigkeit<br />

der Hauptdarstellerin Ana Paula Arosio liegt weit<br />

über Durchschnitt. Tolles südamerikanisches Erzählkino,<br />

ein echtes Kleinod für ein Publikum, das<br />

ebenso bunt sein sollte, wie dieser tolle Film!<br />

Andrasch Neunert<br />

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56<br />

Bonsai Kitten I #35 I 2012<br />

nN: Der Begriff „Killbily“, der als „Schublade“ für das,<br />

was Bonsai Kitten macht, dient, war mir so noch<br />

nicht untergekommen ... Kannst Du das mal erklären?<br />

Tiger Lilly Marleen: „Killbilly“ verkörpert für uns mehr<br />

als „nur“ eine Musikrichtung. „Killbilly“ ist eine Lebensphilosophie,<br />

ähnlich einer Religion. So wie es kein Genre<br />

gibt, in das man unsere Musik und unseren Style<br />

stecken kann, so wenig gibt es eine Lebensweise, die<br />

man uns vorschreiben kann. Wir machen, jeder für sich,<br />

sein eigenes Ding im Leben. Aber zum Musikmachen<br />

kommen wir zusammen und lassen unserer Kreativität<br />

gemeinsam freien Lauf. Dabei entstehen witzige und<br />

gute Sachen. Uns geht es auch darum, dass unsere Musik<br />

genau das aussagt und dass man uns das ansieht.<br />

So wie jeder Song für sich alleine stehen kann, so wie<br />

jeder Text in jedem Song eine eigenen Message hat, so<br />

möchten wir auch im Ganzen auch einzeln wahr genommen<br />

werden.<br />

Leute, die in irgendeiner Form mit „Rockabilly“ zu<br />

tun haben, erkennt man oft sofort, da scheint es so-<br />

was wie eine „Uniform“ zu geben. Wie wichtig ist<br />

das?<br />

Tiger Lilly Marleen: Also es gibt in jeder Subkultur ja<br />

Merkmale, die jemanden zu der einen oder anderen zugehörig<br />

erscheinen lassen, klar. Das scheint den Leuten<br />

auch wirklich wichtig zu sein. Daraus entwickeln sich<br />

aber auch wieder „Uniformen“, die dann wieder wie eine<br />

große Masse wirken, in der jeder Einzelne untergeht. Ich<br />

persönlich bediene mich gerne aus den verschiedensten<br />

Stilen der letzten 100 Jahre, denn jedes Jahrzehnt<br />

hatte seine interessanten Seiten und das kann man<br />

gut mischen und so wieder seinen eigenen Stil daraus<br />

entwickeln.<br />

MADE IN JAPAN<br />

Nicht nur, dass die BONSAI KITTEN mit<br />

„Wel<strong>com</strong>e To My World“ eine brandaktuelle Platte<br />

am Start haben, auch über die Entstehungsgeschichte<br />

der Band gibt es Interessantes zu berichten. Aber<br />

nicht nur darüber, sondern auch über „Uniformen“,<br />

Subkulturen und Lebensphilosophien konnten wir<br />

mit Sängerin Tiger Lilly Marleen und Drummer<br />

Alexx DeLarge angenehm plauschen.<br />

Alexx DeLarge: Stellst Du die Frage auch Punks, Metalheads,<br />

Skinheads und anderen Subkulturen?<br />

Schon – das liegt daran, dass ich ein gewisses Problem mit<br />

„Uniformen“ habe, ich hätte schon Skrupel, mit dem Trikot<br />

meines „Lieblingsvereins“ irgendwo rumzulaufen …<br />

Alexx: Irgendwo stellt sich doch jeder selbst dar, und einem Großteil<br />

scheint es auch wichtig zu sein, sich mehr oder weniger einer bestimmten<br />

Subkultur zugehörig zu fühlen und das auch zum Ausdruck<br />

zu bringen. So eben auch bei den ...Billys.<br />

Vor fünf Jahren habt Ihr Euer Debüt bei einem japanischen Label<br />

herausgebracht - wie kam die Verbindung zustande – seid Ihr dort<br />

jemals getourt?<br />

Tiger Lilly Marleen: Wir haben uns ja alle in Japan kennengelernt.<br />

Das wusste ich nicht, erzähl mal …<br />

Tiger Lilly Marleen: Wir haben gestaunt, dass sich Musiker aus Berlin<br />

erst in Tokio kennen lernen müssen, um in Berlin Musik zu machen.<br />

Alexx DeLarge kannte Tetsuya, der das Label „On The Hill“ Records in<br />

Japan hat, und so war der auch bei unserem ersten Treffen dabei. Als<br />

Tetsuya mitbekommen hat, dass wir alle zusammen Musik machen<br />

wollen, hat er gesagt: „Wenn ihr mal ein Album macht, dann bringe<br />

ich das sofort hier in Japan raus“. So geschehen ist es dann auch ein<br />

Jahr später - und der Rest ist Geschichte! Wir haben nach dem Album<br />

überlegt, ob wir überhaupt weiter machen.<br />

Wieso das?<br />

Tiger Lilly Marleen: Es war ja am Anfang ein reines Spaßprojekt, und<br />

wir hatten alle noch unsere anderen Projekte am Laufen. Jeder ist<br />

dann tatsächlich erstmal seines Weges gegangen. Ein paar Konzerte<br />

haben wir hier und da gespielt, haben uns aber nicht weiter um irgend-<br />

was gekümmert. 2009 kam es dann, dass wir uns wieder zusammengefunden<br />

und uns ans Songschreiben gemacht haben.


Wir hatten eine ziemlich kreative und intensive Phase, so dass<br />

sehr viele Songs entstanden sind. Auch unsere Zusammenarbeit<br />

mit Mark „Mad Dog“ Cole von „The Krewmen“ und Köfte<br />

von „Mad Sin“ hat uns großen Spaß gemacht. Also haben wir<br />

überlegt, weiterzumachen und diese Songs in zwei Etappen,<br />

auf zwei Jahre verteilt, herauszubringen.<br />

Das neue Bonsai Kitten Album „Wel<strong>com</strong>e To My World“ gibt es<br />

seit dem 24. Februar 2012 über Wolverine Records / Soulfood.<br />

Mehr Infos gibt es hier:<br />

www.bonsai-kitten.de<br />

www.facebook.<strong>com</strong>/bonsaikittenband<br />

Und auf Tour:<br />

30.03.2012 D Ludwigstr. 37, Halle<br />

31.03.2012 D L.A., Cham<br />

07.04.2012 D 59to1, München<br />

08.04.2012 D Tattoo Convention, Hamburg<br />

09.04.2012 D Tattoo Convention, Hamburg<br />

14.04.2012 D Record Release Party Festsaal<br />

Kreuzberg, Berlin<br />

28.04.2012 D Kantine, Augsburg<br />

04.05.2012 CH Kofmehl, Solothurn<br />

05.05.2012 D Cafe Central, Weinheim<br />

06.05.2012 BE Studio On Air, Mons<br />

19.05.2012 CZ Rock´n`Roll Cirkus, Praque<br />

Keule<br />

2012 I #35 I Bonsai Kitten 57


58 Im Himmel, Unter Der Erde I #35 I 2012<br />

IM HIMMEL , UNTER DER ERDE -<br />

DER JÜDISCHE FRIEDHOF WEISSENSEE<br />

A N M E R k U N g E N z U E I N E R W I C H T I g E N D O k U M E N T A T I O N


Ein alter Rabbiner wacht mit verschmitztem<br />

Grinsen über den jüdischen Friedhof in<br />

Weißensee. William Wolff. Uneitel schildert<br />

der alte Mann seine Aufgaben: Er habe nur<br />

eine Funktion - zu sehen, dass der Sarg<br />

entweder ins Feuer kommt oder in die Erde.<br />

Er dürfe sich da mit nörgelnden Angehörigen<br />

bei der Umsetzung des Willens der Verstorbenen<br />

nicht zu sehr aufhalten und müsse<br />

schauen, dass der Sarg in sein Grab kommt.<br />

„Hab ich bis jetzt geschafft.“<br />

Uneitel, wie der Rabbiner, wirkt weitgehend<br />

der ganze Friedhof, ein riesiger, völlig unüber-<br />

sichtlicher Park voller Gräber, die auf reichlich<br />

chaotische Weise, aber sauber registriert<br />

geordnet sind. Über 115.000 Menschen wur-<br />

den hier bestattet, eine grüne Totenstadt.<br />

115.000 Geschichten, mindestens. Berliner<br />

Geschichte. Jüdisch-deutsche Geschichte,<br />

die diese schöne und lehrreiche Dokumentation<br />

auf fröhlich-sanfte Weise ertastet<br />

und aufspürt. Geschichten und Bilder von<br />

umherirrenden Familien, immer wieder, auf<br />

der Suche nach den Gräbern ihrer Angehörigen.<br />

Schulklassen, die von Grabsteinen<br />

für ein Kunstprojekt Schriftzüge abpausen,<br />

Grabsteine entwerfen. Geschichten von<br />

protzigen Familienmausoleen, von Friedhofs-<br />

inspektoren, Parkwächtern und ihren spielenden<br />

Kindern. Auch in der Zeit der Nazis,<br />

die sich an diesen sagenumwobenen Ort<br />

damals nicht herantrauten, Angst hatten,<br />

schlafende Dämonen zu wecken, das böse<br />

Wort von einem Golem machte seiner<br />

Zeit die Runde bei den mordlüsternen Vertretern<br />

der Parteielite. Überraschend spät<br />

ist in diesem Film von der braunen Diktatur<br />

die Rede, vom Holocaust, der natürlich den<br />

entscheidenden Einschnitt darstellte.<br />

Geschichten von Angehörigen, die ihren<br />

Gott heute an Gräbern in Weißensee<br />

weinend fragen, warum ausgerechnet sie<br />

überlebten.<br />

Seit 1880 schon wird in Weißensee bestattet<br />

und getrauert, vor den Toren Berlins.<br />

„Da, wo ich oft gewesen bin, zwecks Trauerei,<br />

da kommst Du hin, da komm ich hin, [...]<br />

Du liebst, Du reist, Du freust Dich, Du, Feld U,<br />

es wartet in Absentia, Feld A. Es tickt die<br />

Uhr, Dein Grab hat Zeit, drei Meter lang, ein<br />

Meter breit... Du siehst noch drei, vier fremde<br />

Städte, Du siehst noch eine nackte Grete,<br />

noch zwanzig, dreißig Mal den Schnee und<br />

dann Feld P, in Weißensee, in Weißensee.“<br />

(Kurt Tucholsky)<br />

Nachkommen erzählen ihre Geschichten,<br />

die ihrer Vorfahren, deutsch-nationalistischen<br />

Juden in Berlin zum Beispiel, hoch dekoriert<br />

im Ersten Weltkrieg, voller Überzeugung<br />

kämpfend für Kaiser und Vaterland, zweiein-<br />

halb Jahrzehnte, bevor man sie in die Gaskammern<br />

schickte... In Weißensee liegen<br />

nicht Blumen, sondern Kieselsteine auf den<br />

Gräbern, nach alter jüdischer Tradition.<br />

Wir erfahren mehr über die Praxis jüdischer<br />

Beerdigungen, über offizielle Kranzniederlegungen,<br />

Delegationen auch aus Israel.<br />

Wir erfahren nichts über mehrfache Grabschändungen<br />

durch neue Nazis, die dadurch<br />

begründete Erhöhung der Friedhofsmauer,<br />

warum nur? Dies ist der einzige echte Faux-<br />

pas dieser Dokumentation, wenn auch leider<br />

ein sehr schwerwiegender. Hat man da ver-<br />

gessen nachzufragen, schlampig recherchiert?<br />

Glaubt man etwa, ausgerechnet an diesem<br />

Ort durch Schweigen den Schändungen Auf-<br />

merksamkeit verweigern zu können,<br />

Gewicht zu nehmen? Verschweigen hilft den<br />

Holocaustleugnern und Mordbrennern von<br />

heute nur, so viel muss doch mittlerweile klar<br />

sein...!<br />

Statt dessen lernen wir die Kleinfamilie<br />

Poppig-Schulz kennen, die ein Häuschen<br />

mitten auf dem Gelände bewohnt.<br />

Leben im Grünen, neben Grünfinken, Staren,<br />

Eichelhähern. Füchsen, die nachts laute<br />

Schreie ausstoßen. Die drei Großstädter füh-<br />

len sich hier wie Förster, wollen nicht mehr<br />

weg hier.<br />

Der alte Friedhofsgärtner, der einst in den<br />

engen Kurven des Friedhofs als 14-Jähriger<br />

Autofahren lernte, hier Räuber und Gendarm<br />

spielte und die in der Friedhofsgärtnerei<br />

geklauten Gurken verputzte. Sein Vater, der<br />

aus Palästina wieder zurückkehren musste,<br />

um sein Erbe nicht, wie durch den Familienpatriarchen<br />

angedroht, zu verlieren, der<br />

Friedhofsmaurer wurde, Fundamente für die<br />

Gräber anlegte. Der Sohnemann und heutige<br />

Gärtner hatte dagegen Stolz.<br />

Über die arischen Kinder sagt er, dass er kein<br />

Interesse gehabt habe, mit ihnen zu spielen.<br />

„Wenn die nicht mit mir spielen, mit’m<br />

Judenkind, warum sollte ich dann mit ihnen<br />

spielen?“ In Weißensee fühlten sich die<br />

Kinder der Friedhofsangestellten sicher.<br />

Bis 1939 lebten noch ca. 180.000 Juden in<br />

Berlin. Jüdische Kinder, zwangsverpflichtet,<br />

unter der Aufsicht eines fröhlichen Rabbiners,<br />

sah man sie ab da beim Gräberausheben<br />

und Fußballspielen. Noch 1942 lebte<br />

die Freundin unseres Gärtners unbehelligt in<br />

Weißensee, um dann doch deportiert zu<br />

werden, nach Auschwitz. In dieser Zeit werden<br />

in Weißensee täglich ca. 100 Selbstmörder<br />

aufgebahrt, die durch den Freitod<br />

ihrer Ermordung zuvorkamen, nachdem sie<br />

den Deportationsbefehl erhalten hatten.<br />

Die Grabsteine, die sie alle damals nicht be-<br />

kamen, werden heute aus Spendengeldern<br />

nach und nach ergänzt. Jeder Jude hat tradi-<br />

tionell das Recht auf einen eigenen Grabstein.<br />

Da nach den Massendeportationen Richtung<br />

Auschwitz, Treblinka und Majdanek in Weißensee<br />

die Toten ausbleiben, werden Ende<br />

1942 dort die Arbeiten eingestellt. Zweieinhalb<br />

Jahre später erlebt Rabbi Riesenburger,<br />

der bis zum Ende in Weißensee den Familien<br />

beistand, den Nachmittag des 23. April<br />

1945 in Weißensee, es ist genau 15:00 Uhr.<br />

„Da durchschritt das Tor unseres Friedhofs<br />

der erste sowjetische Soldat. Aufrecht und<br />

gerade war sein Gang. Ich hatte das Gefühl,<br />

als ob er mit jedem Schritt ein Stück des<br />

Hakenkreuzes zertrat.“<br />

Schon in den Tagen darauf schien die Welt<br />

wie ausgewechselt, rund um rauchende<br />

Trümmerfelder sprach man wieder mit den<br />

Juden, die eine ganze Weile brauchten,<br />

sich daran zu gewöhnen, auf einmal wieder<br />

„normale Menschen“ zu sein. Viele waren<br />

freilich nicht übrig geblieben, nur wenige<br />

kehrten zurück.<br />

Nach dem Mauerbau 1961 braucht man<br />

zwei jüdische Gemeinden in Berlin.<br />

Die jüdische Gemeinde in Ostberlin hat in<br />

den Siebzigern weniger Mitglieder, als der<br />

jüdische Friedhof in Weißensee vor den<br />

Wahlsiegen der Nazis Angestellte hatte.<br />

In der Zeit der DDR wird der Friedhof<br />

zum verwildernden Park, zum Regenwald<br />

der Gräber. Erst ab 1988 helfen FDJ und<br />

Schulklassen beim Ordnungschaffen.<br />

Ein wilder, wenn auch nun wieder gezähmter<br />

Park ist Weißensee bis heute. Und es<br />

wird fleißig weiter saniert. Grab für Grab.<br />

Und weiter suchen Angehörige Gräber auf<br />

den Buchstabenfeldern, stehen vor ihnen,<br />

weinen, tauschen sich aus. Auffällig viele<br />

heutzutage in russischer Sprache. Berliner<br />

gehen wieder in Weißensee spazieren, viele<br />

junge unter ihnen.<br />

Es liegen wieder mehr Kieselsteine auf den<br />

Gräbern in Weißensee. Gut so.<br />

Andrasch Neunert<br />

Infos zum Film:<br />

Hrsg.: Edition Salzgeber<br />

Regie: Britta Wauer<br />

FSK 6, 90 Min., dt. OF, D 2011<br />

59


60<br />

videoThek I #35 I 2012<br />

THE BIG WHITE –<br />

IMMER ÄRGER<br />

MIT RAYMOND<br />

USA 2005<br />

R: Mark Mylod<br />

3L Homevideo<br />

100 min.<br />

FSK: 12<br />

Paul steht mit dem<br />

Rücken zur Wand:<br />

Sein Reisebüro in einer<br />

Kleinstadt in Alaska ist so<br />

gut wie bankrott. Und seine Frau Margaret leidet an<br />

einer psychischen Störung, deren Behandlung die<br />

Krankenkasse nicht bezahlt. Verzweifelt greift Paul<br />

nach dem letzten Strohhalm: Er will an die Lebensversicherung<br />

seines verschwundenen Bruders Raymond.<br />

Das Problem: Ohne Raymonds nachweisbaren<br />

Tod zahlt die Versicherung nicht. Durch Zufall<br />

stößt Paul jedoch gerade jetzt auf eine Leiche und<br />

beschließt, diese als seinen toten Bruder auszugeben.<br />

Doch der karrieregeile Versicherungsagent Ted<br />

riecht den Braten und setzt alles daran, Paul auffliegen<br />

zu lassen. Zu allem Überfluss kreuzen auch<br />

noch zwei Killer auf, die ihre verschwundene Leiche<br />

suchen. Und noch eine Überraschung erwartet Paul:<br />

Raymond – der ist quicklebendig und sehr, sehr wütend.<br />

Eine gute Geschichte ist eben die halbe Miete<br />

und wenn man dann noch mit Herzblut castet und<br />

Stars wie Robin Williams und Oscar-Preisträgerin<br />

Holly Hunter („Das Piano“) an Bord hat, kommt dabei<br />

fast zwangsläufig ein guter Film heraus. „The Big<br />

White“ ist eine köstliche, rabenschwarze Komödie,<br />

die verdammt viel Spaß macht. Viel Fantasie gehört<br />

zudem nicht dazu, sich vorzustellen, wie viel Spaß<br />

die Dreharbeiten auch den Beteiligten gemacht haben.<br />

Regisseur Mark Mylod liefert eine ebenso sarkastische<br />

wie warmherzige Komödie voller skurriler<br />

Charaktere, absurder Verwicklungen und aberwitziger<br />

Wendungen. Insbesondere Holly Hunter als<br />

schräge Margaret weiß dabei zu begeistern. Klasse<br />

hat aber letztlich der ganze Streifen, vor allem, wenn<br />

man Filme wie „Fargo“ mag…<br />

JOBRY<br />

CAIRO TIME<br />

Alamode/Alive<br />

R: Ruba Nadda<br />

Kanada 2009<br />

90 min.<br />

Zeit für Cairo Time muss<br />

einfach sein!<br />

Denn solche Filme gibt<br />

es nicht mehr oft.<br />

Das Prachtstück kommt<br />

ohne billige (bzw. teure,<br />

aber doch nur nervende)<br />

Effekte aus, ohne Verfolgungsjagden, Bruce Willis in<br />

Feinripp, brennende Autos und vordergründig sogar<br />

ohne Midlife Crisis. Seine Dramatik erzeugt der Film<br />

von Regisseurin Ruba Nadda (u. a. Lost Woman<br />

Story, Interstate Love Story, So Far Gone, Damascus<br />

Nights, I Always Come to You, Unsettled oder<br />

Sabah) anders. Er erzählt die Geschichte vom Erwachen<br />

einer Liebe, die nicht sein darf oder soll. Daher<br />

auch wird diese von den zusehends Verliebteren<br />

kaum thematisiert - also auch nicht totgeredet – und<br />

schon gar nicht vollzogen. Juliette (hinreißende Mischung<br />

aus Helen Mirren u. Meryl Streep: Patricia<br />

Clarkson) ist erfolgreiche Redakteurin einer Modezeitschrift<br />

und hat drei Wochen Urlaub genommen,<br />

um sich mit ihrem Mann Mark in Kairo zu treffen.<br />

Der organisiert für die Vereinten Nationen in Gaza<br />

ein Flüchtlingslager und wird dort überraschend<br />

und für eine unabsehbare, immer wieder verlängerte<br />

Frist festgehalten. An seiner statt kümmert sein<br />

ägyptischer Freund Tareq (Alexander Siddig) sich<br />

um die Angekommene… Platt, vorhersagbar? Hätte<br />

diese Geschichte leicht werden können, stimmt.<br />

Doch sie wird es nicht, schon aufgrund des umwerfenden<br />

Spiels der beiden Hauptdarsteller. Die Kulisse<br />

einer der schönsten Metropolen der Welt tut ein<br />

Übriges, weil sie – verblüffend für einen Liebesfilm –<br />

mit fast dokumentarischer Akkuratesse eingefangen<br />

ist: Man erkennt die Nilinsel Zamalek, ohne dass sie<br />

genannt wird. Man fühlt die Morgenfrische und die<br />

abendliche Glut der weißen Wüste, glaubt, den Nil<br />

bei einer Felucca-Fahrt zu riechen… Wenn Juliette<br />

im Souq von Männern nachgestellt wird oder sie<br />

ein Kaffeehaus betritt, schlägt das Stimmengewühl<br />

schmerzlich laut über uns zusammen und übertönt<br />

zunächst jeden Dialog. Letzter Perfektionspunkt:<br />

Der Soundtrack des Iren Niall Byrne (u. a. „Amongst<br />

Women“) unterstützt die vorzügliche Kameraführung<br />

durch wunderbare Akzente, insbesondere ein<br />

magisches Klaviermotiv. Cairo Time ersetzt kein eigenes<br />

Verlieben und/oder eine eigene Kairo-Reise,<br />

ist aber definitiv ein Anfang. Sehr empfehlenswert!<br />

Klaus Reckert<br />

CARLTON MINE –<br />

SCHACHT DER VER-<br />

DAMMTEN<br />

USA 2006<br />

R: J.S. Cardone<br />

3L Homevideo<br />

90 Minuten<br />

FSK: 18<br />

Karen Tunney zieht mit<br />

ihren zwei Töchtern Sarah<br />

und Jenny in ein ver-<br />

schlafenes Nest in den Bergen Pennsylvanias. Doch<br />

die Ruhe trügt: Ganz in der Nähe des Hauses liegt<br />

der Zugang zu einer fast vergessenen Mine, die<br />

nach einem schrecklichen Unglück stillgelegt wurde.<br />

Dutzende Kinder, die dort arbeiteten, wurden damals<br />

lebendig begraben… doch ihre untoten Seelen<br />

dürsten noch heute nach Rache. Tja, was soll man<br />

dazu sagen? Die abstruse Geschichte lässt es ahnen:<br />

„Carlton Mine“ ist ein Zombie-Film der durchschnittlichen<br />

Art. Das liegt neben der eher mäßig<br />

originellen Story und dem vorhersehbaren Handlungsverlauf<br />

schlicht daran, dass eine Horde Dreikäsehochs<br />

mit Spitzhacke nicht gerade furchteinflößend<br />

wirken. Zwar spritzt im Laufe des Films<br />

verdammt viel Kunstblut, aber echter Nervenkitzel<br />

oder gar Abscheu wollen in der (vermutlich stark gekürzten)<br />

deutschen Fassung zu keiner Zeit aufkommen.<br />

Zu harmlos die Inszenierung, zu einfältig die<br />

Charaktere.<br />

JOBRY<br />

CHANSON DER LIEBE<br />

Pro Fun Media<br />

Regie: Christoph Honoré<br />

FRA 2007, FSK 6,<br />

92 min., frz. OF mit dt. UT<br />

Ein Unikat ist dieser Film.<br />

Nennen wir ihn die chansoneske<br />

Variante einer<br />

cineastischen Popoperette.<br />

Da wird nämlich ebenso<br />

(gut und viel) gesungen,<br />

wie (schön) gespielt<br />

und gesprochen. Gelacht und geweint. Zum Mitheulen<br />

schön bisweilen. So etwas ohne Peinlichkeit<br />

auch auf musikalisch so hohem Niveau hinzubekommen,<br />

das ist nun wirklich formidabel.<br />

Die Story: Junges Paar, das von der Frau um eine<br />

Freundin zum Dreier erweitert wurde, wird durch ihren<br />

plötzlichen Tod auseinandergerissen. Die beiden<br />

Liebenden, die zurückbleiben, funktionieren als<br />

Paar alsbald auch nicht und das gute Verhältnis des<br />

jungen, hübschen Ismaels (beeindruckend als poetisch-pfiffiger<br />

Filou: Louis Garrel) zur Mutter der Verstorbenen<br />

gibt ihm etwas Halt. Nachdem er keine<br />

Beziehung mehr wirklich an sich heran lässt, gibt es<br />

dann doch noch eine - sehr überraschende - Begegnung,<br />

auf die vorher nichts wirklich hindeutete... Wie<br />

die Verwandten und hinterbliebenen Freunde Julies<br />

mit ihrem Tod umgehen, das ist das Thema der cineastischen<br />

Chansoneske, bittersüß und federleicht<br />

zugleich inszeniert von Christoph Honore, für<br />

den Leben offensichtlich ein Tanz ist, auf den immer<br />

wieder neu sich einzulassen unser aller Aufgabe ist.<br />

Eine tröstliche Sichtweise, ein wunderschöner Film.<br />

Andrasch Neunert


CODENAME: FOX<br />

Japan 2011<br />

R: Hideyuki Hirayama<br />

Sunfilm Entertainment<br />

124 min.<br />

FSK: 16<br />

Heldenverehrung auf Japanisch:<br />

Im Jahre 1944, während<br />

der Schlacht im Pazifik,<br />

wurde ein Soldat von den amerikanischen<br />

Truppen besonders gefürchtet: Captain Sakae<br />

Oba, genannt Fox. Mit nur 47 Mann konnte er<br />

auf einer kleinen Insel im Pazifik 16 Monate lang<br />

den US-Truppen standhalten und damit manchen<br />

Zivilisten vor dem sicheren Tod retten. Sein<br />

Mut und sein Kampfgeist beeindruckten nicht nur<br />

sein eigenes Volk, sondern auch die verfeindeten<br />

Amerikaner. Genau darum drehen sich die rund<br />

120 Minuten: Mal rührselig, oft pathetisch und<br />

selten so dreckig, brutal und menschenverachtend,<br />

wie Kriege letztlich sind. Handwerklich hat<br />

Regisseur Hirayama die historischen Ereignisse<br />

solide in Szene gesetzt. Die Spannung allerdings<br />

hält sich in Grenzen, denn es ist ja von vornherein<br />

klar, wer den Krieg gewinnt. Allzu oft bestimmen<br />

zudem eher wirre Ehrbegriffe das Handeln<br />

der Soldaten und es fällt zumindest aus westlicher<br />

Sicht schwer, dieses gefühlt übersteigerte<br />

Ehrgefühl als authentisch zu empfinden. Der Film<br />

basiert übrigens auf einem Buch des ehemaligen<br />

US-Marine-Soldaten Don Jones und ist mit<br />

Sean Mc Gowan („Star Trek: Enterprise“), Daniel<br />

Baldwin („Paparazzi“) und Treat Williams („127<br />

Hours“) in den Hauptrollen besetzt.<br />

JOBRY<br />

CRY WOLF<br />

USA 2005<br />

R: Jeff Wadlow<br />

3L Homevideo<br />

87 min.<br />

FSK: 16<br />

Owen ist neu an der Westlake<br />

Preparatory Academy,<br />

einem traditionsreichen, privaten<br />

Internat, irgendwo im Nirgendwo. Durch<br />

seinen Zimmergenossen Tom und die attraktive,<br />

wie auch intelligente Dodger gerät er an<br />

den geheimen „Liar’s Club“, die coolste Clique<br />

der Schule. Gelangweilt vom Schulleben versuchen<br />

sich diese Kinder reicher Eltern die Zeit mit<br />

einem Lügenspiel, bei dem sie intrigieren, manipulieren<br />

und sich gegenseitig aufeinander hetzen,<br />

zu vertreiben. Als eine Frauenleiche in der<br />

Nähe des Internats aufgefunden wird, beschließen<br />

sie, dem Rest der Schülerschaft einen perfiden<br />

Streich zu spielen: Sie verbreiten per E-Mail<br />

das Gerücht, es ginge ein Serienkiller namens<br />

„Wolf“ um. Was als vermeintlicher Spaß beginnt,<br />

schlägt unvermittelt in tödlichen Ernst um und die<br />

Dinge laufen komplett aus dem Ruder.<br />

Mit Cry Wolf ist Regisseur Jeff Wadlow ein spannender<br />

Thriller gelungen, vor allem deshalb, weil<br />

er die Zuschauer immer wieder aufs Glatteis<br />

führt. Indem er seine Akteure tief eintauchen lässt<br />

in eine Atmosphäre voller Misstrauen, Neid und<br />

Missgunst, verblassen die Grenzen zwischen<br />

Schein und Sein, Realität und Spiel bis zur Unendlichkeit.<br />

Erfreulicherweise fällt dann auch die<br />

Auflösung clever aus. Und: Rockstar Bon Jovi<br />

schlägt sich als Schullehrer durchaus achtbar.<br />

Insgesamt packend und raffiniert.<br />

JOBRY<br />

DER DÄMON –<br />

IM BANN DES GOBLIN<br />

USA 2010<br />

R: Jeffery Scott Lando<br />

Sunfilm Entertainment<br />

88 min.<br />

FSK: 16<br />

Im Jahre 1831, am Vorabend<br />

von Halloween, werfen die Einwohner<br />

von Hollow Glen bei ihrem alljährlichen Fest<br />

ihre schlechte Ernte in ein loderndes Feuer, in der<br />

Hoffnung, dadurch im nächsten Jahr ein fruchtbares<br />

Feld zu haben. Doch als ein Paar bei dem Ritual zu<br />

weit geht und ein krankes und behindertes Kind in<br />

die Flammen wirft, beschwört dessen Mutter einen<br />

teuflischen Dämon herauf. 2011: Der junge Familienvater<br />

Neil Perkins zieht mit Frau und Baby nach Hollow<br />

Glen, ohne zu wissen, dass der Jahrestag des<br />

Goblins gekommen ist. Der Dämon hat es vor allem<br />

auf das Baby der Familie abgesehen… Klingt fast<br />

wie eine Auftragsarbeit für RTL II, stammt aber aus<br />

den USA. Geht trotzdem stark in Richtung Horror-<br />

Trash, allerdings ohne Kult-Faktor. Flache Charaktere<br />

und wüster digitaler Mummenschanz sind die beherrschenden<br />

Faktoren dieser zuweilen unfreiwillig<br />

komischen 90 Minuten. Allein der Dämon: Der sieht<br />

aus wie der uneheliche Sohn von Gollum und einem<br />

Gremlin, ts ts ts. Am Ende gibt es zwar viele Tote,<br />

aber auch ein Happy-End. Spannung kommt dabei<br />

nur selten auf, denn zumeist ahnt der geneigte Zuschauer<br />

was kommt. Möglicherweise wäre ja etwas<br />

zu retten gewesen, wenn wenigstens die Computeranimationen<br />

gelungen wären. Aber so bleibt der fade<br />

Nachgeschmack nach einer lustlosen Fastfood-Produktion.<br />

JOBRY<br />

DOC WEST –<br />

NOBODY IST ZURÜCK<br />

SUNFILM<br />

R: Terence Hill<br />

Italien/USA 2011<br />

ca. 93 min.<br />

FSK: ab 12 beantragt<br />

Tatort Stuttgart:<br />

Hackstrasse,<br />

die WG-Video-Couch.<br />

Drei Jungs, manchmal<br />

auch nur zwei, mittlerweile<br />

mehr oder minder im „Mittelalter“ angekommen, die<br />

gerne gute Filme sehen. Das Diktiergerät läuft, O-<br />

Töne sind wichtig und werden unzensiert wiedergegeben.<br />

Regelunmäßig wird die Couch ab und an in<br />

kommenden noisys auftauchen.<br />

Terence Hill ist zurück!!!<br />

Und was habe ich für meinen Teil gezweifelt... wird<br />

das was? Kann er‘s noch? Wird das ein billiger<br />

Comeback-Versuch mit hohem Peinlichkeitsfaktor?<br />

Zumal zusätzlich als Regisseur? Erlebt man ja leider<br />

immer wieder, dass sich Helden der Jugend selbst<br />

demontieren (Oh Gott, „Winnetous Rückkehr“ z. B.<br />

war solch ein Trauma!). Aber der gute und vor allem:<br />

alte (er wird dieses Jahr 73!) Terence scheißt auf solche<br />

Demontagen, sieht unglaublich jung und fit für<br />

sein Alter aus (nachgeholfen?) und sitzt im Sattel wie<br />

eh und je. Lediglich die Hose ist waaay zu hoch angesetzt...<br />

Mr. Hill verkörpert einen<br />

alten ehemaligen<br />

Profizocker und Arzt,<br />

der nach einem Trauma<br />

- eine junge Patientin<br />

kam aufgrund seiner<br />

Trunksucht bei einer Kugelentfernung<br />

ums Leben<br />

– durch die Lande<br />

zieht. Mit regelmäßigen<br />

Geldsendungen ermöglicht<br />

er der hinterbliebenen<br />

Tochter, um die er<br />

sich seit dem Unglück<br />

kümmert, eine sehr gute<br />

Ausbildung in einem Internat.<br />

Seine Filmeingangs<br />

getätigte Zahlung<br />

wird von ein paar miesen<br />

Gangstern geraubt,<br />

auf deren Fährte er sich<br />

setzt – und in ein kleines<br />

Kaff kommt, in dem sich<br />

die Fehde zweier Clans<br />

um ein Stück Land immer<br />

mehr zuspitzt. Natürlich<br />

gerät er sofort zwischen<br />

die Fronten...<br />

Der Film kann was! Fernab<br />

von jeglichen Plattitüden und Peinlichkeitsfallen<br />

weist er mit einer soliden Story, einer dichten Atmosphäre<br />

und überaus herrlichen Dialogen auf, dazu<br />

schauspielerische Leistungen deluxe in sehr guter<br />

Charakterausarbeitung - und auch das eine oder andere<br />

bekannte Gesicht darf auftauchen, bis auf Bud<br />

Spencer. Was zum einen sehr schade ist, dessen<br />

Part zum anderen aber kongenial durch Paul Sorvino<br />

als trocken-humoriger Sheriff mit zweifelhafter Vergangenheit<br />

verkörpert wird. Lediglich den guten alten<br />

schäbigen, abgefuckten und trostlosen Look der<br />

alten Nobody-Filme und Italo-Western gilt es zu vermissen<br />

… aber das ist so was von verschmerzbar,<br />

denn: Siehe, dieser Film rockt!<br />

O-Töne von der Couch:<br />

Uwe: „In die Rolle des Sheriffs hätte unserer Ansicht<br />

nach ganz super der Buddy von Terence Hill<br />

– eben Bud Spencer – reingepasst. Aber der jetzige<br />

Schauspieler ist auch in Sympathie und schauspielerischem<br />

Können alles andere als verkehrt. Die Synchronstimmen<br />

sind super und Matthias hat festgestellt,<br />

dass er wieder Terence Hill-Fan ist.“<br />

Matthias: „Terence Hill ist zurück. Und er kann‘s immer<br />

noch. Er kann‘s. Er kann‘s! Wir wussten gar<br />

nicht, wie sehr wir ihn vermisst hatten.“<br />

U: „Ja, du schon, ich nicht. Ich nicht!“<br />

M: „Aber der größte Teil der Menschheit sicherlich.“<br />

U: „Er hat immer noch dieses Lächeln, diesen strahlenden<br />

Blick.“<br />

M: „Terence Hill, ich will ein Kind von Dir!“<br />

U: „Es fehlt lediglich der typische Italo-Western-<br />

Soundtrack von damals“<br />

M: „Einfach ein feel-good-Movie mit so einem „Robert<br />

Redford“-Ende. Super!“<br />

Uwe Koch, Matthias Horn<br />

DOG BITE DOG<br />

HONGKONG 2006<br />

R: Pou-Soi Cheang<br />

KonoKontrovers/Bavaria<br />

108 min.<br />

FSK: 18<br />

2012 I #35 I videoThek<br />

Pang ist ein Killer. Auf den Straßen<br />

von Kambodscha hat er zu<br />

überleben gelernt. Ohne Gnade und ohne Schmerz<br />

tritt er seinen Gegnern entgegen und prügelt sie zu<br />

Tode. Für seine Mafiabosse kaum mehr als ein Tier<br />

wird der junge Mann unter menschenunwürdigen<br />

Bedingungen nach Hongkong verschifft, um einen<br />

Auftragsmord zu erledigen. Doch als sich die Cops<br />

nach dem Blutbad an seine Fersen heften, ist Pang<br />

61


62 videoThek I #35 I 2012<br />

völlig auf sich allein gestellt. Fast instinktiv zieht es<br />

ihn zu Hongkongs gigantischen Müllfeldern. Denn<br />

Schmutz und Tod – das sind die Dinge, die Pang unausweichlich<br />

umgeben. So ist es wohl eher Schicksal<br />

als Zufall, dass er dort auf die von ihrem Vater<br />

vergewaltigte Yue stößt und das Mädchen, gerührt<br />

von ihrem Leid, vom sadistischen Peiniger befreit.<br />

Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben spürt der<br />

gefühllose Pang eine Perspektive - und tatsächlich<br />

kommen sich die beiden vorsichtig näher. Aber Polizei<br />

und Mafia sind dem Jungen unerbittlich auf der<br />

Spur, und der Tod bleibt seine Bestimmung. (Inhalt<br />

nach SPLATZGORE.DE) – Hong Kong-Kino mal anders,<br />

nix „Martial-Arts“ oder sonst etwas, was man<br />

als „irgendwie typisch“ bezeichnen könnte; bei „Dog<br />

Bite Dog“ glaubt sich der Zuschauer knapp zwei<br />

Stunden auf der Überholspur, die Protagonisten<br />

brüllen hysterisch durcheinander und prügeln immer<br />

dann wild aufeinander los, wenn zur Klärung der<br />

Sachlage auch ein kurzes Gespräch gelangt hätte.<br />

Die Gewalt, die in Pou-Soi Cheangs Streifen dargestellt<br />

wird, ist immer exzessiv, und auch dem, der<br />

von sich behaupten mag, er sei „einiges gewohnt“,<br />

stockt ab und an der Atem. Wer hier im klassischen<br />

Sinne „unterhalten“ werden will, ist fehl am Platze:<br />

das Ganze tut beinahe schon körperlich weh und<br />

dennoch: Diese gelungene Mischung aus Sozialkritik,<br />

Action und Dokumentation, die auch durch das<br />

extrem überzeichnete Ende nicht entwertet wird, ist<br />

grandioses Kino!<br />

Sven<br />

DRAMA –<br />

KANN DAS LEBEN<br />

EINE BÜHNE SEIN?<br />

Pro Fun Media<br />

R: Matias Lara<br />

CHI 2010, 80 min.,<br />

FSK 16<br />

Span. OF/ dt. UT<br />

Dieser vielfach prämiierte<br />

chilenische Skandalfilm –<br />

der katholische Klerus<br />

Lateinamerikas kochte förmlich vor Wut – testet<br />

Grenzen aus. Nein, besser: Seine Figuren tun das,<br />

als Mitglieder einer Theaterkompanie, deren Leiter<br />

seine Schauspieler ohne Rücksicht auf die darin liegenden<br />

Gefahren ungeschützt den eigenen Schattenseiten<br />

aussetzt, sie dazu treibt, im Alltag die<br />

Situationen eigener Traumatisierungen wiederherzustellen<br />

und erneut zu erleben, koste es, was es<br />

wolle. Dies ist ebenso dogmatisch, wie voyeuristisch<br />

und verantwortungslos. Seine Schauspieler überschreiten<br />

denn auch folgsam die Grenzen der Entblößung,<br />

Entwürdigung, jeglicher Scham.<br />

Drogen, Sex, Gewalt bestimmen die Stadtlandschaft<br />

seiner Eleven. Also ob nur darin Wahrheit liegen<br />

würde. Diese Geschichte soll ja auf einer echten<br />

beruhen, die wirklich passierte. Jedenfalls wirft vor<br />

allem die Story eines seiner Schüler einen bitteren,<br />

kritischen Blick auch auf die Geschichte Chiles.<br />

Man muss das nicht im Detail immer nachvollziehen<br />

können, denn auch ohne politische Querverweise<br />

ist dieser Film ein radikaler Abgesang auf jeglichen<br />

Dogmatismus, gleichzeitig eine Hommage an alle,<br />

die sich auf die Suche nach Veränderung machen,<br />

auch und vor allem in sich selbst. Und er erklärt auf<br />

mitreißende Weise, wie Emanzipation und Revolution<br />

sich gegenseitig bedingen, wie gesellschaftliche<br />

alte Verkrustungen ohne individuelle Veränderung,<br />

nur unter neuen Vorzeichen restauriert.<br />

Im schlimmsten Fall wird sie ein Höllentrip, wie jene<br />

armen Schauspieler, getrieben von ihrem fanatischen<br />

Lehrer, hier erleben müssen. In einem von<br />

ihnen explodiert das Trauma der familiären Tragödie<br />

aus der Zeit der faschistischen Militärdiktatur<br />

und zwingt ihn in einen kaum noch kontrollierbaren<br />

gewaltigen Mahlstrom. „Mein Schwanz ist das Sauberste<br />

an mir!“, meint er. In Wirklichkeit ist er ein Opfer,<br />

auf ganz andere Art und Weise, als er selbst aus<br />

der Erinnerung heraus glaubt. Mateo heißt er, großartig,<br />

nuanciert und radikal zugleich dargestellt von<br />

Eusebio Arenas, den man sich unbedingt merken<br />

sollte.<br />

Wie meint sein gewissenloser Antreiber immer wieder?<br />

„Geht Eurer Herkunft, Euren Traumata auf den<br />

Grund. Rekonstruiert den Tatort!“ Dass der Lehrer<br />

plötzlich selbst in den Strudel gerät, den er entfesselte,<br />

ist nur gerecht.<br />

Mateo gewinnt auf diese Weise nichts dazu, außer<br />

neuer Angst und muss schließlich feststellen, „Um<br />

ehrlich zu sein: Ich habe nicht den leisesten Schimmer,<br />

wer ich eigentlich bin. Ich bin wohl einfach niemand.“<br />

Das ist die Saat, die die Schergen der Diktatur in<br />

den Kindern der Verhafteten säten. Sie verwandelten<br />

sie in leere Hüllen, die die vermissten Heroen<br />

stets idealisierten, ohne sie an der Realität messen<br />

zu können, die ihnen zum unerreichbaren und unerfüllbaren<br />

Maßstab wuchsen, an dem sie selbst nur<br />

scheitern konnten, dem gegenüber sie winzig klein<br />

blieben, eben niemand.<br />

Was dann dieses großartige Drehbuch noch für eine<br />

weitere Drehung bereithält, davon schweige ich hier<br />

besser. Eine wahnwitzige Auflösung. Was für ein<br />

Erstlingswerk! Was für ein Film!<br />

Andrasch Neunert<br />

GANDU – WICHSER<br />

INDIEN 2010<br />

R: Kaushik Mukherjee<br />

Bildstörung<br />

85 min.<br />

FSK: 18<br />

Gandu (Anubrata) ist<br />

arbeitslos, er hat nichts<br />

gelernt und keine Freunde.<br />

Mit seiner Mutter lebt<br />

er im Haus von Dasbabu,<br />

einem Café-Besitzer, der sich seine Hilfsbereitschaft<br />

mit Sex bezahlen lässt. Auf seinen Streifzügen<br />

durch Kalkutta lernt er Rikscha (Joyraj) kennen, einen<br />

Rikscha-Fahrer und Bruce-Lee-Fan, der Gandu<br />

mit der Sinnlosigkeit dessen Lebens konfrontiert.<br />

Ein Ausweg aus der Leere sind Drogen und Sex …<br />

(Inhalt, gekürzt, nach FILMGAZETTE.DE) – Bollywood<br />

mal anders? Hat gar nichts mit Bollywood zu<br />

tun? Doch, zumindest in dem Sinne, dass auch hier<br />

kräftig „gesungen“ wird; zwar erscheinen dabei keineswegs<br />

makellos gekleidete und hübsch gestylte<br />

Damen und Herren, um uns mit ihren Tanz- und Gesangsvorführungen<br />

den letzten Nerv zu rauben –<br />

aber es wird gerappt! „Gandu“, was bengalisch übrigens<br />

„Wichser“, „Penner“, „Versager“ oder „Arsch“,<br />

bedeutet, ist der Protagonist, der aufgrund seiner<br />

Perspektivlosigkeit „mächtig angepisst“ (Infotext) ist.<br />

An Kohle kommt er nur dadurch, dass er dem Lover<br />

seiner Frau Mutter heimlich Geld aus der Tasche<br />

stiehlt - und dann ist er auch noch „Jungfrau“ … Regisseur<br />

Kaushik Mukherjee, der Insidern auch unter<br />

dem Alias „Q“ bekannt sein dürfte, ist mit „Gandu“<br />

mehr als nur ein simpler Zeitgeist-Film über die<br />

Frustration eines Jugendlichen gelungen. Stilistisch<br />

spannend und mit einem äußerst coolem Soundtrack<br />

versehen, hat er einen höchst authentischen<br />

Film gedreht, bei welchem dem Betrachter am Ende<br />

zwar der Schädel brummt, dieser sich aber auch sicher<br />

sein kann, einen brandaktuellen Top-Streifen<br />

des Indie-Kinos gesehen zu haben. Unbedingt empfehlenswert.<br />

Sven<br />

HENRY & JULIE<br />

(DER GANGSTER<br />

UND DIE DIVA)<br />

USA, 2010<br />

R: Malcolm Venville<br />

Sunfilm Entertainment<br />

112 min., FSK: 12<br />

Henry (Keanu Reeves) ist ein<br />

ziemlich biederer, aber freundlicher<br />

Typ, der in einer recht einfach gestrickten<br />

Vorstadt lebt. Er könnte niemandem etwas zuleide<br />

tun, seine Weste ist weiß. Eines Tages verwickeln<br />

ihn ein paar Freunde in einen Banküberfall, wodurch<br />

Henry erst mal ins Kittchen wandert. Drei Jahre<br />

später, wieder in Freiheit, beschließt er, mit Max<br />

(James Caan), seinem ehemaligen Zellengenossen,<br />

der sich bestens mit krummen Dingern auskennt,<br />

die Bank tatsächlich auszurauben. Dummerweise<br />

stellt sich Henry nicht gerade geschickt an, seine<br />

alten Kumpels bekommen Wind von diesem Coup,<br />

und dann verliebt sich der Ex-Langweiler auch noch<br />

in die Schauspielerin Julie (Vera Farmiga). Sowohl<br />

Henrys Pläne, als auch sein emotionales Innenleben<br />

werden hierdurch zu einem Gedankensalat.<br />

Bei einer solch hochklassigen Besetzung könnte<br />

man eigentlich davon ausgehen, dass der Streifen<br />

exzellente Kost ist, doch die Erwartungen werden<br />

leider herb enttäuscht, denn bis auf James Caan’s<br />

Figur als gewiefter alter Gangster Max wirken sämtliche<br />

Schauspieler so, als würden sie ihre Rolle oftmals<br />

halbherzig spielen. Die Charaktere wirken hölzern<br />

und beinahe lustlos gespielt, und irgendwie<br />

mag durch diese hohlen bewegten Hüllen nicht das<br />

beim Zuschauer ankommen, was die Macher des<br />

Films beabsichtigt zu haben scheinen. Auch sonst<br />

scheint bei diesem Film vieles nur sparsam angewendet<br />

worden zu sein, alles wirkt trotz hollywoodreifer<br />

Produktion lieblos und beinahe schon billig<br />

inszeniert. Und genau diese Umstände lassen „Henry<br />

& Julie“ recht frühzeitig in Richtung Langeweile<br />

und Belanglosigkeit kippen. Wieso haben Reeves,<br />

Caan und Farmiga nicht schon beim miesen Drehbuch<br />

nein gesagt?<br />

Chris P<br />

I SPIT ON YOUR GRAVE<br />

USA 2010<br />

R: Steven R. Monroe<br />

Sunfilm Entertainment<br />

93 min., FSK: 18<br />

Schriftstellerin Jennifer Hills<br />

mietet sich eine einsame<br />

Blockhütte im Wald, um in<br />

Ruhe ein neues Buch schreiben<br />

zu können. Doch die junge Frau ahnt nicht,<br />

dass eine Gruppe sadistisch veranlagter Einheimischer<br />

ein Auge auf sie geworfen hat. Eines Nachts<br />

überfallen sie Jennifer in ihrer Hütte, quälen und vergewaltigen<br />

sie. Bevor die Kerle die Frau zu Tode<br />

quälen können, fällt sie kraftlos in einen reißenden<br />

Fluss und wird weggespült. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit<br />

überlebt Jennifer und hat nur noch ein


Ziel: Rache!<br />

Das Remake des 1978 erschienen Originals ist ein<br />

knallharter Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Horrorthriller<br />

und ganz sicher nichts für Zartbesaitete. Brutal<br />

und doch gut nachvollziehbar zeigen die Akteure die<br />

menschlichen Abgründe zwischen Folterlust und Rachedurst<br />

auf. Der geneigte Betrachter leidet zunächst<br />

mit der übelst malträtierten Hauptdarstellerin, wendet<br />

sich aber zuweilen aber auch mit Grausen von ihr<br />

ab, wenn sie ihren nicht minder radikalen Rachefeldzug<br />

durchzieht. Sagen wir mal so: Weder so einer Folterbande,<br />

noch so einer Frau möchte man(n) im wahren<br />

Leben begegnen. Wer auf harte Schockszenen, viel<br />

(Kunst-)Blut und eine dennoch stimmige Story steht,<br />

dem ist der Film zu empfehlen. Mit dabei sind übrigens<br />

Chad Lindberg („The Last Samurai“ & „The Fast and the<br />

Furious“) und Tracey Walter („Das Schweigen der Lämmer“<br />

& „Trailerpark of Terror“).<br />

JOBRY<br />

ICH BIN NEUGIERIG –<br />

GELB/BLAU<br />

SCHWEDEN 1967<br />

R: Vilgot Sjöman<br />

KonoKontrovers/Bavaria<br />

222 min., FSK: 16<br />

Verboten, zensiert und immer wieder<br />

Gegenstand hitziger Diskussionen:<br />

Vilgot Sjömans „Ich bin<br />

neugierig“ ist ein Schlüsselfilm des jungen Kinos der<br />

68er-Bewegung und wurde weltweit zu einem Massenphänomen.<br />

„Ich bin neugierig – Gelb“ erzählt die Geschichte<br />

der rebellischen Lena (Lena Nyman) auf ihrer<br />

Suche nach Antworten. Die kritische junge Frau hinterfragt<br />

die gesellschaftlichen und politischen Zustände in<br />

ihrem Heimatland Schweden. Auf der Suche nach ihrer<br />

eigenen sexuellen Identität wird sie selbst zur Botschafterin<br />

für die beginnende Revolution der freien Liebe.<br />

Obszön, fieberhaft, mutig und visionär durchbricht<br />

„Ich bin neugierig – Gelb“ die Grenze zwischen Fiktion<br />

und Wirklichkeit und zeichnet das scharfsinnige Sittengemälde<br />

einer ganzen Epoche. Mit „Ich bin neugierig<br />

– Blau“ drehte Vilgot Sjöman eine alternative Version<br />

seines Skandalwerks, die sich (mit denselben Charakteren)<br />

anderen Themen widmet und die Grenze zur Realität<br />

noch stärker verwischt. (Inhalt nach EUROVIDEO.<br />

DE) – Zugegeben: Besonders „obszön“ oder „revolutionär“<br />

wirkt „Ich bin neugierig“ heute nicht mehr; dass<br />

der Streifen seinerzeit, in den späten Sechzigern also,<br />

auf dem Index stand, kann man allerdings auch heute<br />

noch nachvollziehen, und vor allem die Freizügigkeit<br />

des Filmchens dürfte den ein oder anderen Zensurbeamten<br />

aus der Fassung gebracht haben. Heutzutage<br />

zwar eher harmlos, darf man das Frühwerk des großen<br />

schwedischen Autorenfilmers Vilgot Sjöman aber mit<br />

Fug und Recht als hochinteressantes Zeitdokument betrachten,<br />

welches auch in voller Länge nicht langweilig<br />

wird; allein die Interviews mit Olof Palme, Martin Luther<br />

King und anderen Zeithelden sind absolut sehenswert.<br />

Auch nach über 40 Jahren kann man sich auf den<br />

abendfüllenden Streifen ohne Angst vor aufkommender<br />

Langeweile gut einlassen.<br />

Sven<br />

IM HIMMEL, UNTER DER ERDE -<br />

DER JÜDISCHE FRIEDHOF WEISSENSEE<br />

Edition Salzgeber<br />

Regie: Britta Wauer<br />

D 2011, 90 Min., FSK 6, Dt. OF<br />

siehe Extra-Artikel in diesem Heft!<br />

JEDEM SEINE NACHT<br />

R: Pascal Arnold<br />

& Jean-Marc Barr<br />

FRA 2008, FSK 16,<br />

95 min., dt. UT<br />

Vier Jungs und ein Mädchen sind<br />

eine französische Indieband, sowohl<br />

musikalisch, als auch sexuell<br />

ebenso spontan wie variabel<br />

auf der Suche, wobei Lucie’s Bruder Pierre, charismatischer<br />

Frontmann, in seiner Freizeit auch mal gegen<br />

Geld Sex mit deutlich älteren Männern hat. Der überlebt<br />

den Plot nicht, wir ahnen lange Zeit nicht, warum.<br />

In diesem Film werden Teenies letztlich präsentiert als<br />

haltlos Suchende, denen jegliche Werte am Knackarsch<br />

vorbeigehen, die sich nur in Rausch, Ekstase zu spüren<br />

scheinen, die sie in immer extremeren Formen suchen.<br />

Dass das auch die Möglichkeit zu Gewalt einschließt,<br />

ist bei dieser Sichtweise nur logisch, und so<br />

wird aus dem Teenie-Sittengemälde nach Pierres rätselhaftem<br />

Verschwinden ein Kriminalfall, der alle Beteiligten<br />

auf schmerzhafte Weise mit der eigenen Realität<br />

konfrontiert. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der etwas<br />

zurückgebliebene Nachbar, der das Treiben der Youngsters<br />

gern beobachtete und der ihrem frivolen Nihilismus<br />

kontrastierend gegenübergestellt wird.<br />

Wie entsteht die rohe Gewalt von Teenagern, die dann<br />

gern als „grundlos“ bezeichnet wird? Letztlich verweigert<br />

das Drehbuch von dea Filmes dafür eine Antwort,<br />

die über Überschriften und eindimensionale Verurteilung<br />

hinausgeht. Dennoch überzeugt der Film durch<br />

das frische, spontane Agieren der jungen Schauspieler,<br />

durch Sexiness und Spannung. Leider kann die Auflösung<br />

letztlich durch ihren Mangel an Tiefenschärfe nicht<br />

ganz das hohe Niveau halten. Man hätte doch noch<br />

mehr erfahren wollen über die Hintergründe eines wahren<br />

Verbrechens, das dieser Film u. a. auch in der offiziellen<br />

Sektion des Filmfestivals von Toronto spiegeln<br />

durfte.<br />

Diese französische Reifeprüfung wird von unseren Teenagern<br />

jedenfalls nicht bestanden, auf bitter-blutige<br />

Weise. Und jugendliche Unschuld ist eine sehr relative<br />

Behauptung, die sich hier auf dramatische Weise selbst<br />

ad absurdum führt.<br />

Andrasch Neunert<br />

LARGO WINCH II -<br />

DIE BURMA-VERSCHWÖRUNG<br />

Sunfilm<br />

R Jerome Salle<br />

F 2010/11, 113 min.,<br />

FSK 16<br />

Was für ein Action-Kino-<br />

Popcorn-Fest!<br />

In einem Dorf des Bergvolkes der<br />

Karen in Burma (nicht Myanmar, das ist nur der offizielle<br />

Name der Militärjunta, im Volk aber ein verhasster Begriff!)<br />

lebt der aus Teil I (muss man aber nicht gesehen<br />

haben, um diesen Film genießen zu können!) bekannte<br />

Adoptivsohn eines Konzerntycoons und dessen Alleinerbe,<br />

Largo Winch. Als der sein Erbe antritt, verkündet<br />

er, das Erbe zu verkaufen und davon eine Stiftung<br />

für humane Ziele aufzubauen, viele Milliarden schwer.<br />

Gleichzeitig bricht er mit der russischen Mafia, mit der<br />

sein Adoptivvater noch gekungelt hatte. Folge: Bedrohungen,<br />

Feuer aus allen Richtungen, Mordversuche.<br />

Doch dann trifft ihn ein Pfeil aus dem Hinterhalt wirklich<br />

hart: Es wird von einer UN-Ermittlerin behauptet,<br />

sein Vater und er selbst seien verwickelt in dreckige Geschäfte<br />

mit den blutigen Machthabern von Rangun. Um<br />

seine Unschuld zu beweisen und sein Image zu retten,<br />

muss er, stets bedroht von dunklen Mafiosi und Hintermännern<br />

der Macht, nun im burmesischen Dschungel<br />

versuchen, seine Unschuld zu beweisen und den Vorwürfen<br />

gegen seinen Vater auf den Grund zu gehen.<br />

Das First-Class-Filmteam mit einigen der besten Effektspezialisten<br />

der Welt garantiert großartige Actionszenen,<br />

die den Vergleich mit Bond-Filmen nicht zu<br />

scheuen brauchen. Und en passant liefert der Film eine<br />

2012 I #35 I videoThek<br />

63


64 videoThek I #35 I 2012<br />

zutreffende Beschreibung des Wahnsinns der Minderheitenverfolgungen<br />

in Burma, die längst einen<br />

Ethnozid bedeuten, weitab von der Aufmerksamkeit<br />

der Weltöffentlichkeit, auch wenn die zivilen Marionetten<br />

der alten Militärs gerade neue Liberalität mimen.<br />

Und wir bekommen die Hintermänner des internationalen<br />

Business des militärisch-industriellen<br />

Komplexes so gezeigt, wie sie leider überwiegend<br />

wirklich sind. Grimmige Charakterzeichnungen mit<br />

Tiefenschärfe und ein herausragender internationaler<br />

Cast, ein raffinierter Handlungsstrang mit brillanter<br />

Auflösung und eine Liebesgeschichte im Hintergrund<br />

als Bonus, was will man vom Popcornkino<br />

mehr? Chapeau! James Bond hat tatsächlich aus<br />

Frankreich ernstzunehmende Konkurrenz bekommen.<br />

Andrasch Neunert<br />

LASS IHN NICHT REIN<br />

GB 2011<br />

R: Kelly Smith<br />

Sunfilm Entertainment<br />

77 min.<br />

FSK: 18<br />

In einer verschlafenen Gegend<br />

in England treibt ein Serienkiller<br />

sein Unwesen. Der<br />

sogenannte „Baumchirurg“ schlachtet seine Opfer<br />

ab und hängt ihre abgehackten Körperteile an<br />

Bäumen auf. Ausgerechnet in dieser Gegend machen<br />

die zwei Paare Calvin, Paige, Mandy und Tristan<br />

nichts ahnend Urlaub. Schon bald jedoch merken<br />

sie, wo sie gelandet sind. Zu allem Überfluss<br />

entpuppt sich Tristan, der frische Freund von Mandy,<br />

als ziemlich zwielichtiger Typ. Als die Vier in der<br />

Nacht auf einen schwer verwundeten Mann treffen,<br />

beginnen sie erst recht misstrauisch zu werden. Als<br />

dann auch noch Calvin verschwindet, steigert sich<br />

ihr Misstrauen in panische Angst.<br />

Regisseur Smith nutzt den minimalen Handlungs-<br />

und Personenrahmen mit scheinbar diebischer<br />

Freude, um den Zuschauer in die Irre zu führen. Wenig<br />

ist, wie es scheint und am Ende kommt es anders,<br />

als man vermuten würde. Darin liegt eine Stärke<br />

des Films: Gekonnt falsche Fährten und deren<br />

Auflösung sind der eigentliche Horror. Zwar gibt es<br />

auch ein paar unappetitliche Blutszenen, aber zwingend<br />

nötig sind diese nicht. Ein kleiner gemeiner<br />

Schocker also.<br />

JOBRY<br />

LIFE IN A DAY –<br />

EIN TAG AUF UNSERER<br />

ERDE<br />

GB 2011<br />

R: Kevin Macdonald<br />

Rapid Eye Movies<br />

95 min., FSK: 6<br />

Eigentlich war es nur eine<br />

Frage der Zeit, bis es einen<br />

ersten Kinofilm geben würde, der von Internet-Usern<br />

selbst gedreht wurde. Nun ist es also soweit: „Life<br />

In A Day“ ist das Ergebnis eines globalen Filmprojektes,<br />

er bringt über YouTube hochgeladene Privatvideos<br />

verschiedenster Kulturen zusammen,<br />

zeigt Schicksale und Alltagssituationen, fängt unterschiedlichste<br />

Perspektiven und Stimmungen ein.<br />

Zusammengestellt von Oscar-Preisträger Kevin Madonald<br />

(„Der letzte König von Schottland“), bieten<br />

die 95 Minuten letztlich ein Kaleidoskop des Lebens,<br />

mal belanglos, manchmal schockierend, mal ergreifend,<br />

mal komisch. Erstaunlich ist es schon, wobei<br />

sich Menschen alles filmen, z. B. bei der „Morgensitzung“<br />

auf dem Klo… Dokumentiert ist der 24.<br />

Juli 2010 – zufällig auch der Tag des Loveparade-<br />

Unglücks in Duisburg. Das spielt hier aber nur eine<br />

untergeordnete Rolle. Vielmehr gibt es einen zuweilen<br />

voyeuristischen Blick auf alle Kontinente, in 190<br />

Länder und unzählige Leben: Letztlich ein interessantes<br />

Experiment, ein faszinierender Ausschnitt<br />

des menschlichen Alltags.<br />

LEARNING FROM LIGHT –<br />

DER ARCHITEKT I.M.PEI<br />

Edition Salzgeber<br />

R: Bo Landin/<br />

Sterling van Wagenen<br />

11/2011, FSK 0, 84 min.,<br />

OF/dt. UT<br />

JOBRY<br />

Licht und Schattenspiele im<br />

grellen Licht der Wüste sind<br />

der Einstieg zu diesem Film über den chinesischstämmigen<br />

Stararchitekten I. M. Pei aus den USA,<br />

der sich spätestens mit dem Museum für Islamische<br />

Kunst in Doha ein beeindruckendes Denkmal setzte.<br />

Um diesen Auftrag erfüllen zu können, bereitete er<br />

sich durch das Studium islamischer Kunst und Architektur<br />

viele Monate lang vor, ließ sich tief beeindrucken<br />

von der hier typischen geometrischen<br />

Vielfalt. Pei ist 93, wirkt immer noch sehr abenteuerlustig<br />

und vital, fordert von sich und anderen stets<br />

das Maximum. Er ist ein absoluter Stararchitekt und<br />

weiß das nur zu genau. „Meine Bauwerke stehen<br />

überall. So habe ich das gewollt.“ Der immer wieder<br />

grundverschieden bauende Wanderer zwischen<br />

den Welten kennt in seiner Arbeit nur wenige Konstanten,<br />

ist alles andere als ein Dogmatiker: Er reflektiert<br />

in seinen Bauwerken primär den jeweiligen<br />

Standort, Set und Setting. Die kulturelle Geschichte<br />

und die lokalen Traditionen, in Doha sind es kubische<br />

Formen, die kalligraphische Geometrie, zurückgeführt<br />

auf ihre Basis im Dialog mit dem harten<br />

Licht des Wüstenstaates und des Wassers rund um<br />

den Standort. In einer Kairoer Moschee hatte Pei die<br />

wesentliche Vorlage gefunden, islamische Baukunst<br />

in ihrer reinsten, klarsten, ursprünglichen Form. „Architektur<br />

ist nichts weiter als Leben gewordene Geometrie.“<br />

So denkt der pragmatische Künstler, der<br />

aber, wenn er sich mal etwas in den Kopf gesetzt<br />

hat, ein legendäres Beharrungsvermögen entwickelt.<br />

Seine raffinierte Flexibilität und sein gleichzeitiger<br />

visionärer Mut sind bei Bauwerken für die<br />

Kunst am besten nachvollziehbar, neben dem Museum<br />

in Doha ganz besonders im Louvre in Paris<br />

bei der sensationellen Glaspyramide, die die ursprüngliche<br />

erhabene Starre des Ortes bricht.<br />

Nun also will Pei in Doha keine Stadtsilhouette voller<br />

Wolkenkratzer als Hintergrund für sein Museum, er<br />

will einfachste Flächen und Formen, und wenn das<br />

mit dem puren Himmel oder der Wüste aus Mangel<br />

entsprechender Grundstücke schon nicht geht, dann<br />

muss es das Wasser sein: Er fordert eine künstlich<br />

zu bauende Insel, und Doha ist noch Boomtown:<br />

Der Stararchitekt kriegt, was er will. Ein einmaliger<br />

Akt. Geld spielt keine Rolle. Pei ist in der Arbeit mit<br />

seinem bewusst klein gehaltenen engsten Team ein<br />

freundlicher Diktator, der aufmerksam zuzuhören<br />

weiß, sich selbst aber grundsätzlich das Recht zur<br />

endgültigen Entscheidung sichert.<br />

Dieser Film ist ein Film über sein wohl letztes großes<br />

Bauwerk, eine Eloge auf ihn, den philosophischen<br />

Pragmatiker, das architektonische Chamäleon, ihn,<br />

der in Doha den Kern und Ursprung islamischer Architektur<br />

sichtbar machte, ihm eine moderne, aber<br />

unverfälschte Form verlieh, der in Doha und Paris<br />

Bauwerke ewig bleibender Größe geschaffen hat.<br />

Das ist beeindruckend und inspirierend, nicht nur für<br />

Architekten.<br />

Andrasch Neunert<br />

MEGA MONSTER MOVIE<br />

USA 2010<br />

R: Bo Zenga<br />

Sunfilm Entertainment<br />

92 min., FSK: 16<br />

Sicher, schlimmer geht immer,<br />

aber MEGA MON-<br />

STER MOVIE ist schon<br />

ziemlich schlimm. Gegen<br />

die vermeintliche Horror-<br />

film-Parodie ist „Scary Movie“<br />

(produzierte übrigens<br />

MMM-Regisseur Bo Zenga)<br />

reinstes Intellektuellen-Kino.<br />

Die Story ist total konfus, völlig<br />

konzeptlos und vor allem<br />

unlustig. Darum geht es: Der<br />

Video-Verkäufer Stan Helsing<br />

macht in der Halloween-<br />

Nacht gemeinsam mit seiner<br />

Ex-Freundin, seinem besten<br />

Kumpel und dem Gogo-Girl Mia einen Abstecher<br />

in eine verfluchte Stadt. Dort treiben sich Parodien<br />

der sechs grausigsten Monster der Filmgeschichte<br />

herum: Freddy („A Nightmare on Elm Street“), Jason<br />

(„Freitag der 13.“), Pinhead („Hellraiser“), Leatherface<br />

(„Das Kettensägen-Massaker“), Chucky<br />

(„Chucky – Die Mörderpuppe“) und Michael Myers<br />

(„Halloween“). Als Stan herausfindet, dass er ein<br />

direkter Nachkomme des Monsterjägers Van Helsing<br />

ist, müssen die Vier eine Nacht mit den Mon-<br />

stern, mörderischen Trampern und Vampir-Stripperinnen<br />

überleben. Man ahnt schon: Da kann nichts<br />

Gutes bei herauskommen. Der Humor ist gröber als<br />

jeder Dampfhammer und lustig ist, wenn man trotzdem<br />

lacht. Selbiges bleibt einem spätestens im Halse<br />

stecken, wenn man sieht, wie sich der 2010 verstorbene<br />

Leslie Nielsen („Die nackte Kanone“) hier<br />

in einem Drag Queen-Gastauftritt als Bardame genauso<br />

niveaulos wie der Rest der Akteure zum Affen<br />

macht. Klare Sache: Monster Mega Müll.<br />

JOBRY<br />

DIE MISSION<br />

Pro Fun<br />

R: Peter Bratt<br />

USA 2009, FSK 16,<br />

116 min.<br />

Engl.spr. OF/ dt. UT<br />

Ein alleinerziehender Ex-<br />

Knacki, Busfahrer, Autobastler<br />

aus Passion, Latinoking<br />

seiner Straße,<br />

hemdsärmeliger Charmeur<br />

mit dem Prollcharme eines Pitbulls und demonstrativer<br />

100-Volt-Macho, dem nichts ferner liegt, als<br />

lauwarm duschen, hat, oh Maria hilf, einen schwulen<br />

Sohn und eine nachbarliche Emanze, die zu allem<br />

Überfluss auch noch großartig aussieht. Er fühlt sich<br />

doppelt gestraft, schmeißt den Schwuchtelfilius,<br />

dem er zuvor noch einen tollen Oldtimer hergerichtet<br />

hatte, ohne viel Federlesens aus der gemeinsamen<br />

Wohnung, poliert dessen weißen Oberschichtenlover<br />

mal so richtig ordentlich die Weichei-Fresse<br />

und der knackig-vorlauten Schönheit von nebenan<br />

drückt er bei Gelegenheit auch noch ein paar passende<br />

Sprüche rein, die ein für alle Mal klar machen<br />

sollen, wer in seinem Viertel das Sagen hat.<br />

Was sich nun wie ’ne doofe Prollklamotte anhört, ist<br />

in Wirklichkeit ein mit viel Liebe, Witz und Phantasie<br />

gedrehter Cross-Culture-Movie, randvoll mit spritzigen<br />

Dialogen, bis in die kleinsten Rollen toll besetzt<br />

und beseelt vom kauzigen Charme von Hauptdarsteller<br />

Benjamin Bratt. Und je länger der Film<br />

dauert, der als Coming-Out-Tragikkomödie zu starten<br />

schien, desto mehr rückt der knarrige Papa mit<br />

seiner Identitätskrise in den Mittelpunkt, dessen Macho-Innenwelt<br />

sich als ebenso antiquiert erweist,


wie seine mit Hingabe zusammengeschraubten Oldtimer-Schlitten,<br />

mit denen der Held der Straße an<br />

Feiertagen protzig die Straßen des Viertels auf- und<br />

abparadiert, begleitet von all den gealterten Vorstadtdjangos,<br />

die ebenso unterwegs sind.<br />

Die Überwindung klischeetriefender Rollenbilder,<br />

hier des Latino-Machismo, das ist das Hauptthema<br />

dieses pfiffigen, herzerweichenden Streifens, der<br />

auf intelligente Weise blendend zu unterhalten versteht.<br />

Dass bei dieser Versuchsanordnung das übliche<br />

Happy End alles andere als selbstverständlich ist,<br />

macht den Filmgenuss nur noch lohnender...<br />

Andrasch Neunert<br />

MURAT B. –<br />

VERLOREN IN<br />

DEUTSCHLAND<br />

Milestone Film<br />

R: Bijan Benjamin<br />

D 2008/9, 93 Min., FSK 0<br />

Murat Bektas, der fiktive<br />

Held dieses Streifens, ist<br />

Hartz IV-Empfänger. Dieser<br />

Film soll sein Leben<br />

zeigen. Das scheint eine<br />

Reality-TV-Doku zu sein, doch hier wirken Schauspieler<br />

mit, die einen auf echt machen, ganz wie bei<br />

den Reality-TV-Soaps von RTL und SAT1. Leider ist<br />

auch das Niveau nur geringfügig höher.<br />

Die Filmemacher, gefördert u. a. von der Kölner<br />

Kunsthochschule wollten Großes, Verdienstvolles<br />

leisten: Die Realität des Prekariats einfangen,<br />

die Hartz IV-Realität, fernab der Soap-Vereinfachungen<br />

und Ideologien. Ich zitiere den Prolog zum<br />

Film: „Deutschland 2008, 82 Mio. Einwohner, ca. 3<br />

Mio. offiziell ohne Arbeit, 75.000 allein in Köln. Immer<br />

mehr Menschen leben von Arbeitslosengeld<br />

2“ (Anm.: Stimmt heute in absoluten Zahlen jedenfalls<br />

nicht mehr!). „Ein Thema, das in den Medien<br />

für hohe Aufmerksamkeit sorgt. Es wurde unzählige<br />

Male aufgegriffen und uns in unterschiedlichster<br />

Form präsentiert. Viele Vorurteile und Klischees sind<br />

dabei entstanden. Wir wollten zeigen, wie sich das<br />

Leben mit Hartz IV wirklich anfühlt ...“<br />

Nun, ich habe selbst eine Weile Hartz IV erhalten<br />

und für mich gelten die „Wahrheiten“ dieses Filmes<br />

nicht. Nicht jeder Hartz IV-Empfänger ist ein betrogener<br />

Vollchaot, der keinerlei Plan hat, der aber<br />

auch keinerlei strukturierte Hilfe angeboten be-<br />

kommt, um sein Leben in den Griff zu bekommen,<br />

der völlig überschuldet ist, der von so gut wie jedem<br />

Menschen beschissen wird, dem er begegnet.<br />

Falsche Fakten, eine Arbeitsagentur, bzw. ARGE,<br />

die nicht einmal nach ihren eigenen Regeln handelt,<br />

und Widersprüche zuhauf schon in den Fakten der<br />

Story; von den schauspielerischen Leistungen mit<br />

nur einer positiven Ausnahme (Larissa Aimee Breidbach<br />

als Freundin Murats) ganz zu schweigen. Fakten...<br />

Wieso brabbelt Murat in seinem charmanten<br />

Offenbacher Dialekt etwas von einem chronischen<br />

Bandscheibenschaden, wenn er das bei der Arbeitsagentur<br />

nie wirklich geltend macht mit einem Attest?<br />

Wieso entschuldigt er damit seine permanenten<br />

schnellen Abbrüche angebotener Beschäftigungen,<br />

wenn ihm ein Facharzt gleichzeitig volle Arbeitsfähigkeit<br />

bescheinigt und er täglich in einem Fitnessstudio<br />

Gewichte stemmt? Wieso verschweigt das<br />

Drehbuch, dass es für Führerscheininhaber ohne<br />

Vorstrafen in deutschen Großstädten nun wirklich<br />

kein Problem ist, Jobs zu finden, jedenfalls bei eigenem<br />

Engagement? Warum ist in Sachen Schulden<br />

beim Rechtsanwalt weder von der Möglichkeit der<br />

Kostenübernahme durch Prozesskostenhilfe, noch<br />

vom Schuldnerberater die Rede? Nein, hier erleben<br />

wir den Gegenentwurf zu den peinlichen SAT.1- und<br />

RTL-Possen: Diesmal ist der Hartz IV-Empfänger<br />

das arme, gejagte Opfer, „verloren in Deutschland“<br />

und alle, die um ihn herum an seine Verantwortung<br />

erinnern und seiner Weigerung, wirklich seine Situation<br />

zu verbessern, Grenzen setzen, sind die Monster.<br />

Dieser Film mag als Trigger für gemeinsames Weinen<br />

in Charity-Veranstaltungen funktionieren, deren<br />

BesucherInnen von Hartz IV-Realitäten so weit<br />

entfernt sind, wie offensichtlich die Schreiber dieser<br />

hanebüchenen Dialoge, dieses komplett realitätsfremden<br />

Drehbuchs. Als Vorlage für die überfällige<br />

Überprüfung der Hartz IV-Gesetzgebung,<br />

insbesondere was tatsächliche Härtefälle, Wartezeiten<br />

bei Schuldnerberatungen, Eingliederungshilfen<br />

und ihren notwendigen Ausbau, Altersarmut, die<br />

Gnadenlosigkeit raffgieriger Banken und das Verhalten<br />

mancher BeraterInnen - die aber die Ausnahme<br />

darstellen! - angeht, taugt er nicht das Mindeste.<br />

Er ist kontraproduktiv, schlecht recherchiert,<br />

völlig unglaubwürdig und teilweise sogar unfreiwillig<br />

komisch. Noch mal zum besseren Verständnis:<br />

Nicht alle in sozialen Schieflagen Kämpfende sind<br />

so verpeilte Hans-guck-in-die-Lufts, wie unser sympathischer<br />

junger türkischer Immigrant, der hier<br />

das männliche Pechmariechen und Daueropfer mimen<br />

muss, der, damit die Story so richtig betroffen<br />

macht, am Ende auch noch darauf kommen muss,<br />

dass er nicht der Vater seiner Tochter ist und im Übrigen<br />

auch noch impotent. „Ein halber Mann“: Die<br />

Realität der Hartz IV-Empfänger, wie im Vorspann<br />

dreist behauptet? Alle impotent, oder so ähnlich, jedenfalls<br />

die Türkenjungs? Wieso stattdessen kein<br />

Wort darüber, dass Hartz IV-Bezug laut Gesetzestext<br />

schon Grund zur Ausweisung sein kann, nur<br />

mal so am Rande gefragt? Aber das hätte ja sorgfältige<br />

Recherche vorausgesetzt, statt billiger Klassenpropagandaklischees.<br />

Nein, das hier ist einfach von<br />

vorne bis hinten: Schade um das verdrehte Material.<br />

Andrasch Neunert<br />

NICHTS ZU VERZOLLEN<br />

Frankreich, 2010<br />

R: Danny Boon<br />

Prokino<br />

103 min.,<br />

Extras 20 Minuten<br />

FSK: 12<br />

Mit dem Quasi-Nachfolger<br />

von „Willkommen bei<br />

den Sch’tis“ hat sich Regisseur<br />

Danny Boon keinen<br />

Gefallen getan. Das die dreistellige Minutenzahl<br />

knackende Werk spielt in Courquain, einem kleinen<br />

Grenzort an der französisch-belgischen Grenze.<br />

Dort soll natürlich alles seine Ordnung haben, findet<br />

der Belgier Zollbeamte Ruben, doch der franzö-<br />

sische Kollege Ducatel möchte natürlich ebenfalls,<br />

dass alles „sauber“ bleibt, und so lassen sich die<br />

beiden auch nicht vom Schengener Abkommen beirren,<br />

das beide ihren Job kosten wird. Immer verbitterter<br />

und letztendlich eigeninitiativ beharrt jeder<br />

auf seinem Recht und auf klare Fronten. Richtig interessant<br />

wird es allerdings erst, als herauskommt,<br />

dass Ducatel mit Rubens Schwester ein Techtelmechtel<br />

hat.<br />

So weit, so schön – wie die meisten modernen<br />

französischen Komödien ist die Produktion professionell,<br />

liebevolle Details bereichern „Nichts zu<br />

verzollen“ obendrein, doch viel in diesem Semi-Culture-Clash-Film<br />

ist einfach dermaßen overacted,<br />

sprich übertrieben, was zur Folge hat, dass sich<br />

sehr schnell Abnutzungserscheinungen bemerkbar<br />

machen. Boon hat man schon deutlich besser und<br />

vielseitiger gesehen und Zoll- und Schauspielkollege<br />

Benoît Poelvoorde versucht leider viel zu häufig<br />

in die Fußstapfen der fragwürdigen Legende Louis<br />

de Funès zu treten, die Slapstick-Situationen amortisieren<br />

sich gegenseitig, beim Geballer herrscht bald<br />

„Alarm für Cobra 11“-Alarm, sodass man wirklich<br />

Kondition mitbringen muss, um bei diesem einfach<br />

nur anstrengenden, anspruchsarmen audiovisuellen<br />

Pamphlet bis zum Schluss durchzuhalten. Etwas<br />

weniger überzogene Action und mehr Glaubwürdigkeit<br />

der Akteure sowie eine etwas gehaltvollere<br />

Handlung hätten dem 103-Minüter bestimmt gut getan,<br />

doch hiernach braucht man erst einmal eine<br />

Wetter-Cam zum Herunterfahren. „Nichts zu verzollen“<br />

ist eine ärgerliche Angelegenheit, denn gerade<br />

aus Frankreich kam zuletzt so viel Besseres.<br />

Chris P<br />

PINGUINE –<br />

KÖNIGE DER<br />

ANTARKTIS 2<br />

Neuseeland 1993<br />

R: Max Quinn<br />

3L Homevideo<br />

53/52 min.<br />

FSK: 0<br />

Auch wenn es sich bei<br />

dieser Doppel-DVD ganz<br />

offensichtlich um eine Adaption aus dem neuseeländischen<br />

Fernsehen handelt, die bereits 19 Jahre auf<br />

dem Buckel hat, lohnt sich die Anschaffung – vorausgesetzt,<br />

man interessiert sich für Pinguine. DVD<br />

1 konzentriert sich ganz auf die Kaiserpinguine in<br />

der Arktis. Die Tiere sind wahre Überlebenskünstler<br />

in einer massiv lebensfeindlichen Landschaft.<br />

Also haben die Tiere einige erstaunliche Strategien<br />

entwickelt. Man erfährt zum Beispiel, dass sie entgegen<br />

anderer Vogelarten auf feste Reviere verzichten<br />

und sich stattdessen zu Rudeln zusammenschließen,<br />

um bei Temperaturen von Minus 50 Grad<br />

und weniger zu überleben. DVD 2 hält viele grundlegende<br />

Informationen und Filmaufnahmen zu Pinguinen<br />

aus der ganzen Welt parat: Erstaunlich zum<br />

Beispiel, dass es auch Tiere in 40 Grad heißen Regionen<br />

gibt, die zwischen Kakteen herumstolpern.<br />

Ungewöhnliche Aufnahmen zu einer ungewöhnlichen<br />

Tierart.<br />

JOBRY<br />

POOLBOY –<br />

DROWNING OUT THE<br />

FURY<br />

Senator Home<br />

Entertainment<br />

R: Garrett Brawith<br />

USA, 2011<br />

ca. 86 min.<br />

FSK: 18<br />

2012 I #35 I videoThek<br />

Neeee. Das geht leider<br />

gar nicht. Wobei: nicht mal<br />

„leider“. Nur „gar nicht“.<br />

Allerorten liest man über dieses Machwerk,<br />

dass es polarisieren würde.<br />

65


66 videoThek I #35 I 2012<br />

Grottiger Produzentenplan, grottige Story, grottige<br />

Synchro, grottige Schauspieler. Einzig Danny „Machete“<br />

Trejo und einzwei anderen merkt man an,<br />

dass sie durchaus auch so richtig anders könnten<br />

bzw. können. Im Original-Ton ist das Machwerk immerhin<br />

marginal netter.<br />

Der Film kokettiert so was von kaum auszuhalten<br />

mit seinem hohen gewollten Trashgehalt, schielt zu<br />

unverschämt berechnend in Richtung Kultstatus,<br />

persifliert das 80er-Jahre-Action-Kino, mixt Stories<br />

aus bekannten anderen Filmen auf „Scary Movie<br />

und Konsorten“-Niveau, zeigt jede Menge digitales<br />

Blut und analoge Titten und scheitert kläglich. Der<br />

will so unbedingt und kann es einfach nicht.<br />

Definitiv nur nervigstes youTube-Geflimmere der<br />

„Haha, sind wir lustig und machen Filme“-Sparte.<br />

Anyway, in einem sind die Schöpfer von Poolboy<br />

doch richtig erfolgreich gewesen: es gut zu meinen.<br />

Und das ist bekannterweise ja das Gegenteil von …<br />

- richtig! - gut.<br />

Wenigstens eine Empfehlung für einen Trash-Abend<br />

mit Kumpels, Bier, Tüten und Fritten? Weitaus besseres<br />

auf dem Markt... Wir haben es probiert. Ehrlich.<br />

Sind gar nicht soooo sanft im Nehmen. Wir haben<br />

mittendrin den Kill-Button betätigen müssen.<br />

Ging nicht anders. Nein. Und aus. Schon viel zu viel<br />

dazu geschrieben. Welch doppelte Zeitverschwendung.<br />

Würde es hier Punkte geben: im Minusbereich.<br />

Matthias Horn<br />

RICHARD HASENFUSS<br />

GB 2008<br />

R: Vito Rocco<br />

Sunfilm Entertainment<br />

87 min.<br />

FSK: 6<br />

Sympathisch-schrullig<br />

können sie, die Briten:<br />

„Richard Hasenfuss“ ist ein weiterer Beweis dafür.<br />

Die Story: Richard ist ein eher unbeholfener Verkäufer<br />

eines Baumarktes. Sein Chef hat ihn auf<br />

dem Kieker. Auch privat gibt es Stress. Seine Frau<br />

trennt sich von ihm, seinem Sohn ist der eigene<br />

Vater peinlich, u. a. weil dieser zusammen mit ein<br />

paar freakigen Freunden gerne Schlachten der Wikinger<br />

nachstellt – dann als tapferer Readmund der<br />

Gerechte. Die harte Lebensrealität weckt in dem eigentlich<br />

schlaffen Richard einen hart um Frau und<br />

Sohn kämpfenden Kerl – wenngleich dieser dabei<br />

in so manches Fettnäpfchen tritt… Liebenswert machen<br />

diese Komödie vor allem die gut gecasteten<br />

Charakterköpfe – allen voran der glänzende Hauptdarsteller<br />

Eddie Marsan als Richard, der sich letztlich<br />

rührend bemüht, die Herzen seiner Lieben zurückzuerobern.<br />

A propos Herz: Für genau jenes ist<br />

dieser Film etwas, denn hier geht es auch um Romantik,<br />

Liebe und Wahrhaftigkeit. Glücklicherweise<br />

endet das nur ganz selten im Kitsch und viel häufiger<br />

in humorvollen Situationen. Ebenfalls sympathisch:<br />

Der Soundtrack u. a. mit Madness, MSG, Human<br />

League, Saxon oder The Proclaimers.<br />

JOBRY<br />

SAMSON & DELILAH<br />

Rapid Eye Movies<br />

Regie, Drehbuch, Kamera:<br />

Warwick Thornton<br />

AUS 2009, 101 Min., FSK 12<br />

Original mit dt. UT<br />

Die Maori Neuseelands und<br />

die Aborigines Australiens gehören<br />

zu den Ausgestoßenen,<br />

über die wir hier am wenigsten wissen. Dieser Film<br />

ändert das - auf ebenso tief beeindruckende, wie radikale<br />

Weise - und wurde auf insgesamt 15 Filmfestivals<br />

dafür völlig zu Recht mit Preisen überhäuft -<br />

vom Award for Indigenous Script Writing bis hin zur<br />

Camera d’Or in Cannes.<br />

Mitten auf dem Land leben die Aborigines meist in<br />

isolierten, verarmten kleinen Gemeinschaften. Suff<br />

und Drogen, Gewalt und Perspektivlosigkeit kennzeichnen<br />

dort ihren Alltag. Sie sind der Normalfall.<br />

An einen solchen heillosen Ort entführt uns der Film<br />

und konzentriert sich auf zwei Teenies, die dem<br />

Film seinen Titel geben. Samson hat kaum gelernt<br />

zu sprechen, schnüffelt permanent Benzin, vermisst<br />

seinen Vater, der im Knast sitzt und wird vom älteren<br />

Bruder drangsaliert. Er wird nach einer gewalttätigen<br />

Auseinandersetzung ebenso heimatlos wie<br />

Delilah, die, eigentlich ein fürsorgliches, liebes Mädchen,<br />

von der Verwandtschaft für den Tod ihrer mit<br />

Hingabe gepflegten Oma verantwortlich gemacht<br />

wird. Beide suchen nun ihr Heil in der großen Stadt,<br />

um im Beisein eines alkoholsüchtigen Penners unter<br />

einer Brücke scheinbar endgültig ins Bodenlose<br />

abzustürzen.<br />

Radikal dicht und intim verfolgt die Handycam des<br />

Regisseurs seine zwei verlorenen Helden, über<br />

viele Minuten des Schweigens, des puren Elends,<br />

die sich zur Ewigkeit auszudehnen scheinen. Wir<br />

freuen uns über jedes so seltene Lächeln, jeden<br />

Anflug von Kommunikation zwischen den von der<br />

Wohlstandsgesellschaft nie angenommenen, ausgespuckten,<br />

weggeworfenen Kindern, deren leere<br />

Blicke nicht nur einen Kontinent anklagen.<br />

Doch dieser wichtige Film zeigt noch mehr: Die<br />

Unberührbaren, denen von der Mehrheit jegliches<br />

Menschsein abgesprochen wird, erleben vor unseren<br />

Augen eben auch Momente von Nähe, Sehnsucht.<br />

Ein Lächeln für eine Dosensuppe zeigt uns,<br />

dass auch in der Hölle Freude existiert, für Momente<br />

immerhin. Zeigt, dass Liebe und Freundschaft Wege<br />

aus dem Wahnsinn zeigen können, auch wenn die<br />

wenigsten Betroffenen diesen Horizont für sich je<br />

wahrnehmen werden. Vor allem aber zeigt dieser<br />

von zwei jungen Laiendarstellern auf überragende<br />

Weise getragene Film nicht nur den Einwohnern<br />

Australiens: Die Hölle ist mitten unter uns. Da, wo<br />

wir alle wegsehen. Weil das bequemer ist.<br />

Sie sollten sich diesen Film keinesfalls entgehen<br />

lassen: Er könnte ihr Denken und Sehen tiefgreifender<br />

verändern, als sie jetzt ahnen...<br />

Andrasch Neunert<br />

SAO PAULO –<br />

NACHT DER GEWALT<br />

USA 2006<br />

R: Eric Eason<br />

3L Homevideo<br />

88 min., FSK: 16<br />

In einem Nachtclub mitten in<br />

Sao Paulo wird ein russischer<br />

Drogenkurier erschossen und<br />

hinterlässt einen Koffer voller<br />

Kokain. Nachtclubbesitzer Rosso und sein Sohn<br />

Paul wittern das große Geschäft und wollen mit<br />

dem Verkauf der Drogen in ein neues Leben starten.<br />

Dummerweise haben die beiden völlig unterschiedliche<br />

Absichten und so entwickelt sich der der<br />

Deal zu einem Fiasko. „Sao Paulo“ ist ein düsterer<br />

Cocktail aus Drogen, Sex und Gewalt. Eric Eason<br />

hat den Film so dicht inszeniert, dass man zuweilen<br />

Blut, Schweiß und Schmauch zu riechen glaubt.<br />

Das Moloch Sao Paulo bildet dafür die passend kaputte<br />

Kulisse. Zudem kaschieren Inszenierung und<br />

Setting manche Schwäche im Drehbuch. Die Story<br />

ist zwar nicht unlogisch, wirkt aber zuweilen etwas<br />

unschlüssig und zufällig. Ohne zu viel zu verraten:<br />

Nach dem großen High Noon rundet ein bittersüßes<br />

Ende die Geschichte passend ab. Überraschend:<br />

Brendan Fraser, bislang eher durch Weichspüler<br />

wie „Die Mumie“ oder „Die Reise zum Mittelpunkt<br />

der Erde“ auffällig geworden, spielt den brutalen und<br />

skrupellosen Paul Rosso richtig schön asozial überzeugend.<br />

JOBRY<br />

SWANS<br />

Edition Salzgeber<br />

R: Hugo Vieira Da Silva<br />

D/PT 2010, 120 min.,<br />

FSK 0, dt. OF<br />

Viel wird nicht gesprochen in<br />

diesem ambitionierten Drama.<br />

Nicht verbal. Vater und Sohn<br />

landen, aus ihrer langjährigen<br />

Heimat Portugal kommend, in Berlin, wo die Exfreundin<br />

des Vaters und Mutter des Halbwüchsigen<br />

im Koma liegt. In deren Wohnung treffen sie auf deren<br />

Freundin, eine ebenso rätselhafte wie geheimnisvolle<br />

asiatische Immigrantin.<br />

Doch Vater und Sohn verstummen nicht erst im An-


gesicht der Komapatientin an deren Krankenbett in<br />

der Intensivstation. Sie sind in ihrem Binnenverhältnis<br />

längst verstummt und durch die Situation überfordert.<br />

Das Schweigen zwischen ihnen ist Routine<br />

und atmet dennoch verdrängte Gefühle und unterdrückte<br />

Wut. Während der Sohn mehr und mehr<br />

versucht, hinter Masken versteckt zur Mutter körperlichen<br />

Kontakt mit ihrem komatösen Körper zu suchen,<br />

den er nach und nach bei seinen Besuchen<br />

entdeckt und seine Aggressionen ansonsten beim<br />

Skateboarden und bei Sprayeraktionen ausagiert,<br />

kann sein Vater die Erstarrung nicht lösen, ist unfähig<br />

zu trauern.<br />

Dieser Film ist eine leise Zumutung, seinen Protagonisten<br />

weit über Scham- und Schmerzgrenzen<br />

nahe. Er ist letztlich zu sehen als Studie über<br />

den Zusammenbruch aller Kommunikation und Bindungen,<br />

pessimistisch, kompromisslos, herausfordernd.<br />

In düsteren, sparsamen Farben zeichnet er<br />

das grausige Bild von Protagonisten im emotionalen<br />

Ausnahmezustand, deren Verstummen nach dem<br />

Zusammenbruch aller bindenden Strukturen normal<br />

ist, die das rätselhafte Angebot zu Kommunikation<br />

und Verarbeitung, verkörpert durch die Lebensfreude<br />

der vitalen Asiatin, nicht mehr erkennen können<br />

oder wollen. Das ist schwer zu ertragen, denn so<br />

schildert da Silva das neurotische Schweigen als eigentliche<br />

Norm einer sich und ihren Möglichkeiten<br />

komplett entfremdeten Gesellschaft.<br />

Am Ende sehen wir den Sohn auf der Couch neben<br />

seinem Vater sitzen, der vor der Glotze eingeschlafen<br />

ist, in der noch ein Tennismatch läuft. Wir hören<br />

nichts, als das Stöhnen der Spielerinnen. Lakonisch,<br />

wie er begann, geht dieser bittere Film auch<br />

zu Ende. Da wirkt das vergleichsweise fröhliche portugiesische<br />

Lied zum Abspann wie pure Ironie.<br />

Andrasch Neunert<br />

TIGER & DRAGON<br />

RELOADED<br />

Sunfilm Entertainment<br />

R: Clement Sze-Kit Cheng,<br />

Derek Kwok<br />

Hong Kong, 2009<br />

94 mon.<br />

Name-dropping galore:<br />

„Die Macher von Jon Woos<br />

„Red Cliff“, „Warlords“ und „House Of Flying Daggers“<br />

vereinen […] zum ersten Mal die größten<br />

Stars der goldenen Ära der Kung-Fu-Filme“. Das<br />

kann man nun so oder so sehen... Nicht diskutabel<br />

aber ist, dass „Reloaded“ nichts, aber wirklich<br />

gar nichts mit Ang Lee’s mehrfach preisgekrönter<br />

(4 Oskars, 2 Golden Globes) Romanverfilmung von<br />

2000 zu tun hat, die ein mythisches Heldenepos von<br />

Ruhm und Ehre um die Geschicke eines legendären<br />

grünen Schwertes gesponnen hatte. Nichts davon<br />

in „Reloaded“. Der unentschlossen zwischen<br />

Klamauk und Kampfkunst-Action dümpelnde Streifen<br />

kann wahrlich keinen Anspruch auf das noble<br />

Genre Wǔxiá („ritterliche Kampfkunst“) erheben.<br />

Nachdem er über 30 Jahre im Koma gelegen hat,<br />

erlangt der Kung-Fu-Meister Law während eines<br />

Überfalls in einer üblen Slapstick-Szene wieder das<br />

Bewusstsein. Einen zufällig anwesenden hühnerbrüstigen<br />

Tollpatsch verwechselt er abwechselnd<br />

mit seinen ehemaligen Meisterschülern Tiger (Siu-<br />

Lung Leung; u. a.: Kung Fu Powerhouse, D-Day<br />

At Macao, The Dragon Lives Again, Ten Tigers Of<br />

Shaolin, Enter Three Dragons, Kung Fu Hustle) und<br />

Dragon (Kuan Tai Chen), die ihn und seine unterdes<br />

zum Teehaus gewordene Kampfkunstschule<br />

drei Dezennien lang bewacht haben. Natürlich gibt<br />

es auch einen rivalisierenden Meister und dessen<br />

Gang sowie ein alles entscheidendes Turnier, für<br />

das nun Jung und (ganz) Alt trainieren. Als Running<br />

Gag stinkt eine gepökelte Ente durch das Filmchen,<br />

dessen Niveau damit leider ganz gut beschrieben<br />

ist. Auch die immer noch beeindruckende Budo-<br />

Klasse eines Siu-Lung Leung bewahrt „Reloaded“<br />

nicht vor einem tief gesenkten Daumen.<br />

Klaus Reckert<br />

TIM UND STRUPPI –<br />

TIM UND DAS GEHEIMNIS<br />

UM DAS GOLDENE VLIES<br />

F, 1961<br />

Regie: Jean-Jacques Vierne<br />

Sunfilm Entertainment<br />

96 min., FSK: 6<br />

Während die Masse sich von<br />

dem derzeitigen Animationsfilm<br />

„Die Abenteuer von Tim & Struppi – Das Geheimnis<br />

der Einhorn“ blenden lässt, bei dem unter anderem<br />

– Achtung, Big-Names-Onanie! – Steven Spielberg,<br />

Peter Jackson und Harry Potter-Scorekomponist<br />

John Williams ihre Finger im Spiel hatten, kann sich<br />

der Freund „echter“ Filmkunst an dieser Neuauflage<br />

der herrlich uralten französischen Produktion erfreuen,<br />

die noch gänzlich ohne Special-Effects auskam<br />

(den rosa Rauch mal außen vor gelassen) und unter<br />

anderem in einer aufwändigen Special Collector’s<br />

Edition veröffentlicht wird, welche den Originalfilm<br />

in restaurierter Fassung auf DVD und Blu-ray in Full<br />

HD sowie ein mehrseitiges Filmbooklet im Comicstil<br />

enthält.<br />

Großartig auf die Handlung des Films einzugehen,<br />

wäre in etwa so, als müsse man eine Inhaltsangabe<br />

von „Dinner For One“ oder der Weihnachtsepisode<br />

der „Familie Heinz Becker“ vortragen, nämlich überflüssig.<br />

Richten wir den Fokus also auf das Wie. Zuerst<br />

fällt auf, dass die Produktion für damalige technische<br />

Gegebenheiten hervorragend gelungen ist<br />

– da gibt es weitaus erfolgreichere, größere Filme,<br />

die bei weitem nicht diesem Level entsprechen. Die<br />

Charaktere werden zudem wunderbar übertrieben<br />

und überzeichnet dargestellt, ganz egal, ob es Professor<br />

Bienlein (Georges Loriot), Kapitän Haddock<br />

(Georges Wilson) oder Tim (Jean-Pierre Talbot) ist.<br />

Jede Figur besticht durch ihre Echtheit.<br />

Das Angenehmste allerdings ist, dass nicht alles<br />

so glatt geleckt und perfekt ist, wie in den meisten<br />

modernen Streifen. Denn genau das ist es, was<br />

vielen modernen Kinder- und Familienfilmen fehlt:<br />

Eine schöne, spannende Geschichte zu sein, die<br />

so schön ist, weil sie einfach so ist, wie sie ist - unpoliert,<br />

ungeschönt, schrullig und vor allem nicht an<br />

den absatzorientierten Markt angepasst, stattdessen<br />

mit liebevollen Details ausgeschmückt, bei denen<br />

man teilweise an die Grenzen des Machbaren<br />

gegangen ist. Dieser Film hat es ins 50. Jahr seiner<br />

Existenz geschafft und geht nun also erneut über<br />

die Ladentheken. Da sind wir doch mal gespannt,<br />

ob man von dem eingangs genannten Pixelwahn<br />

im Jahre 2061 auch noch reden wird, oder ob er im<br />

audiovisuellen Fast-Food-Wahn nicht schon vor Anbruch<br />

des nächsten Jahrzehnts in der Bedeutungslosigkeit<br />

versumpft.<br />

Chris P<br />

DAS TRAURIGE LEBEN<br />

DER GLORIA S.<br />

Edition Salzgeber<br />

R: Christine Groß<br />

& Ute Schall<br />

D 2011. 75 min.,<br />

dt. OF, FSK 12<br />

„Kommt, wir kommen<br />

alle mal zusammen.<br />

Lasst alles raus.<br />

Alles Negative!“<br />

Die SchauspielerInnen-Truppe, die sich aus sehr<br />

unterschiedlichen Motiven am Thema des Deutschen<br />

RAF-Herbstes verhebt, ist ja an sich schon<br />

eine Schau. Schon bevor die minderbegabten, aber<br />

von sich überzeugten DarstellerInnen nach und<br />

nach, da gibt’s nämlich wenigstens ordentlich Kohle<br />

für, zu ProtagonistInnen einer Reality-TV-Doku werden,<br />

in der sie für die ahnungslose TV-Redaktion in<br />

der Staffage einer Plattenbauwohnung die Komparsen<br />

im Leben der vermeintlichen Ex-Terroristin und<br />

Hartz IV-Bezieherin geben, die einst angeblich zugunsten<br />

des politischen Kampfes ihre Tochter verließ,<br />

um deren Wiedereinzug sie sich jetzt angeblich<br />

bemüht. So entsteht, mit grimmigem Humor hautnah<br />

geschildert, ein Film im Film, eine beißend-komische<br />

Groteske zwischen Tabori und Fassbinder<br />

mit anarchistischem Witz satt.<br />

Selten sah ich zugleich den real existierenden pseudointellektuellen,<br />

von der eigenen behaupteten<br />

Großartigkeit besoffenen elitären Kunstbetrieb und<br />

den völlig hohlen, etablierten, gewissenlosen realen<br />

Kulturkommerz so genau karikiert. Dieser tolle<br />

Film hat alles, um schnell in der Nische derer zu verschwinden,<br />

die die Exponate aus ihren persönlichen<br />

schwarzen Löchern in muffigen Schubladen verstecken,<br />

um sich selbst ja nicht hinterfragen zu müssen:<br />

Er hinterfragt mit hinterfotziger Boshaftigkeit<br />

nämlich alles und jeden. Das mag einigen oder auch<br />

ziemlich vielen Angehörigen der Kulturszene so richtig<br />

wehtun... Dennoch oder grad deshalb - nie war<br />

deutsches AutorInnenkino so saukomisch: Ansehen!<br />

Andrasch Neunert<br />

TRUST<br />

Koch Media<br />

R: David Schwimmer<br />

(genau! Der aus „friends“.)<br />

USA, 2011<br />

101 min.<br />

FSK: 16<br />

2012 I #35 I videoThek<br />

Vorab: guter Film, der ein<br />

paar Tage im Gedächtnis<br />

bleibt, da mit sehr aufreibendem<br />

und leider auch aktuellem Thema besetzt:<br />

Ein 14-jähriges Mädchen lernt einen charmanten<br />

Chat-Partner in der großen Welt der sozialen Netzwerke<br />

kennen, der sich nach und nach als immer älter<br />

und älter outet. Als es dann auch noch zu einem<br />

Treffen zwischen den beiden kommt und er nochmalig<br />

eine Schippe älter als zuletzt preisgegeben<br />

67


68 videoThek I #35 I 2012<br />

ist, geht sie trotz großer Irritation und Enttäuschung<br />

mit ihm auf sein Hotelzimmer – und erlebt dort die<br />

Hölle. Sie verdrängt jedoch das Geschehene und<br />

steht zu ihrem Peiniger, bis zu dem Punkt, als Videos<br />

im Web auftauchen und der Konflikt mit ihren<br />

Freunden, dem Bruder und den Eltern – vor allem<br />

mit dem Vater – immer heftiger wird. Dessen Handeln<br />

kennt eh nur noch eines: Rache. Und hier sind<br />

wir auch schon bei der Problematik angelangt. Der<br />

Film ist einfach eine unverschämte Mogelpackung,<br />

der auf der DVD-Verpackung etwas ganz anderes<br />

vorgaukelt. Man stelle sich vor – und siehe das Cover:<br />

Ein Mädchen auf ein Kissen gebettet mit unglaublich<br />

zerbrechlich-traurigem Blick. Oben drüber<br />

der Vater Clive Owen – sichtlich aufgewühlt, verzweifelt,<br />

zu allem bereit... und - jetzt‘s kommts! - mit<br />

einer fetten Wumme in der Hand. Dazu Slogans wie<br />

„Die Spur führt ins Netz“, „Was ihre Familie jahrelang<br />

aufgebaut hat, hat ein Fremder in einem Moment<br />

gestohlen.“. Auf der Rückseite noch schlimmer:<br />

Zwei Szenenbilder, in denen eben jener Vater<br />

mit der Knarre einen Mann in die Fresse drischt und<br />

dazu noch einen auf dem Boden Liegenden verprügelt.<br />

Bei sieben Bildern eine gute Quote. Dazu<br />

Sätze wie „[...], scheint es nur noch einen Ausweg<br />

für ihn zu geben: Rache.“. Was denkt der geneigte<br />

Zuschauer? Genau. Hier kriegen wir einen Reißer<br />

im Stile von „96 Hours“ oder „Gesetz der Rache“,<br />

vielleicht sogar „Payback“! Aber mitnichten...<br />

ein ähnliches Symptom wie seinerzeit „Ghost Dog“:<br />

genialer - aber unbedingt nicht massen- oder gar<br />

mainstreamtauglicher – Film. Und damals sehr verstörend,<br />

dass er ruck-zuck ganz oben auf den Verleih-<br />

und Kaufcharts stand. Kurze einleuchtende Er-<br />

klärung meiner damaligen Videothekarin: das Cover.<br />

Darauf Forest Whitaker als Samurai samt Schwert,<br />

das er auch noch actionreich in Szene gesetzt<br />

schwingt. Lauter enttäuschte Kunden, die mit Kritik<br />

nicht sparten, als sie den Film zurückbrachten. Und<br />

warum? Weil die Erwartungshaltung durch eben jenes<br />

Cover mal ganz doll anders geschürt wurde als<br />

es letztendlich war. Das setzt den Film keineswegs<br />

herab, lässt aber auf schmerzhafte Weise die Dis-<br />

krepanz zwischen Cover und Inhalt spüren.<br />

Fazit: Ziemlich gelungener Film, schauspielerische<br />

Leistungen auf Anschlag, krasses aber wichtiges<br />

Thema über Missbrauch physischer wie auch psychischer<br />

Art, bleibt unangenehmerweise noch Tage<br />

später im Kopf... nur die Mogelpackung, die geht gar<br />

nicht. Da kommt zum unangenehmen Gefühl auch<br />

noch ein fader Beigeschmack der Verarsche. Die<br />

amerikanische Covergestaltung soll anscheinend<br />

nicht so mogeln. Aber hier in Deutschland... Geht<br />

nicht!<br />

Matthias Horn<br />

TWENTYNINE PALMS<br />

FRANKREICH 2004<br />

R: Bruno Dumont<br />

KonoKontrovers/Bavaria<br />

114 min.<br />

FSK: 18<br />

Der Fotograf David<br />

(David Wissak) und sein<br />

Modell Katia (Yekaterina Golubev) fahren durch die<br />

kalifornische Wüste. In diesem endlos leeren Land<br />

suchen sie einen Hintergrund für ihre Fotos. Sie<br />

streiten sich, sie versöhnen sich, sie haben Sex.<br />

Dann beginnt der Zyklus von vorne ... Ein irritierendes<br />

Meisterwerk von Bruno Dumont. Die Welt<br />

um das kleine Wüstenstädtchen Twentynine Palms<br />

ist feindlich: Wenn das Pärchen über die Straße<br />

geht, wird es bereits von vorüberfahrenden Rednecks<br />

beschimpft. Und tatsächlich scheinen der<br />

coole Fotograf und das filigrane Model im Kapuzen-<br />

Shirt so gar nicht in diese erstarrte Umgebung zu<br />

passen. Doch meist sind die Straßen menschenleer<br />

und niemand stört sich daran. Neben dem Nichts<br />

steht der Untergang: Immer wieder taucht ein mysteriöser<br />

Van auf. In der Einsamkeit der Wüste wird<br />

jedes Wesen unvermittelt zum potenziellen Feind,<br />

und so mündet die Bedrohung in einem Inferno der<br />

Angst. (Info nach DVD FORUM) – Schon ein merkwürdiger<br />

Streifen, den uns Bruno Dumont („The Life<br />

Of Jesus“) da auftischt. Bei der Beobachtung des<br />

Pärchens, welches entweder streitend oder Liebe<br />

machend durch den Plot mäandert, kommt nach einer<br />

guten Stunde reichlich Langeweile auf; nun gut,<br />

man kann hier, wie einst ein Feuilletonist der FAZ,<br />

argumentieren, diese - nennen wir es: „Sperrigkeit“<br />

sei notwendig, um darzustellen, dass menschlicher<br />

Gewalt und Leidenschaft etwas quälend Unausweichliches<br />

innewohnt“; aber es bleibt dabei: „29<br />

Palms“ ist nichts für Ungeduldige. Ist man dann irgendwann<br />

mehr oder weniger entnervt kurz davor,<br />

den Film abzuschalten, bleibt einem in der letzten<br />

Viertelstunde vor allem aufgrund der Darstellung exzessiver<br />

Gewalt beinahe der Atem stehen. Ist das<br />

hier ein guter Film? Keine Ahnung, „kontrovers“ aber<br />

allemal. Und wer die 114 Minuten durchhält, der<br />

steht erstmal nicht einfach auf, kocht sich einen Kaffee<br />

und geht zur Tagesordnung über – dafür würde<br />

ich mich verbürgen.<br />

Sven<br />

UNMORALISCHE<br />

GESCHICHTEN<br />

FRANKREICH 1974<br />

R: Walerian Borowczyk<br />

Bildstörung<br />

99 min.<br />

FSK: 18<br />

Vier Episoden, vier Epochen,<br />

vier sexuelle Spielarten: in<br />

UNMORALISCHE GESCHICHTEN, seinem größten<br />

Filmerfolg, lässt Walerian Borowczyk (LA BÊTE<br />

– Die Bestie) seinen erotischen Phantasien freien<br />

Lauf. Mit gewohnt fetischistischem Blick für erotische<br />

Details erzählt er diesmal Geschichten über<br />

Fellatio, die verführerische Anziehungskraft von Gemüse,<br />

den Reiz jungfräulichen Blutes und von inzestuösen<br />

Ausschweifungen im Vatikan – vier Episoden,<br />

in denen jede Geste, jeder Gegenstand – ein<br />

Mund, ein Finger, eine Perle – vor erotischer Aufladung<br />

Funken sprühen … Nach 25 Jahren auf dem<br />

Index wird Borowczyks legendärer erotischer Vignettenfilm,<br />

der 1974 mit dem Prix de l‘Âge d‘Or<br />

ausgezeichnet wurde und im selben Jahr als zweiterfolgreichster<br />

Film in den französischen Kinos lief,<br />

nun wieder ungekürzt in Deutschland veröffentlicht.<br />

(Inhalt, gekürzt, nach CINEFACTS.DE) – Schonmal<br />

über den Unterschied zwischen Pornographie<br />

und Erotik sinniert? Oder sich gefragt, was genau<br />

„Erotik“ eigentlich ausmacht? Vielleicht kann man<br />

sich dem Thema nach dem Betrachten von „Unmoralische<br />

Geschichten“ besser annähern, denn Walerian<br />

Borowczyk hat in diesem, aus vier Episoden<br />

bestehenden Film, unter Beweis gestellt, dass man<br />

hocherotisches Kino ohne Schmuddelimage machen<br />

kann. Zwar sind die eben erwähnten vier Teile<br />

von sehr unterschiedlicher Qualität, aber die Leichtigkeit,<br />

die über den Filmen schwebt, sucht ihresgleichen<br />

– nicht einmal der Regisseur selbst, der später<br />

auch für „Softpornos“ á la „Emmanuelle V“ verantwortlich<br />

zeichnen sollte, hat sie konservieren können.<br />

Freilich kann uns das, was 1974 „provokant“<br />

war, heute nur noch ein Lächeln abringen, dennoch<br />

ist „Unmoralische Geschichten“ ein Highlight des<br />

erotischen [sic!] Films – vielleicht auch deshalb, weil<br />

es so wenige davon gibt.<br />

Sven<br />

VIRIDIANA<br />

Mexiko/Spanien, 1961<br />

R: Luis Buñuel<br />

Pierrot Le Fou<br />

90 min., FSK: 12<br />

Der verwitwete Don Jaime<br />

lebt auf seinem Landgut,<br />

eines Tages beschließt<br />

seine Nichte Viridiana, eine<br />

junge Novizin, ihn zu besuchen, und ihm gefriert<br />

beim ersten Anblick fast das Blut in den Adern, denn<br />

ihre Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau ist<br />

frappierend. Sehr schnell realisiert Viridiana, dass er<br />

in ihr einen Ersatz für die Gattin sieht, zumal er ihr<br />

mehrfach Avancen macht. Sie lehnt ihn ab und verlässt<br />

ihn; und das treibt Don Jaime zum Suizid.<br />

Sie ist fortan voller Schuldgefühle, die sie zu kompensieren<br />

versucht - und so verlässt sie das Kloster<br />

und nutzt das geerbte Landgut dafür, um Kranke,<br />

Landstreicher und Arme einzuladen und für sie zu<br />

sorgen. Ihre Selbstlosigkeit wird gnadenlos ausgenutzt<br />

und alles endet in katastrophalen Zuständen,<br />

die die Existenz bedrohen. Szenarien von Sex und<br />

Gewalt – im Film meist symbolisch dargestellt – zeigen<br />

tiefe menschliche Abgründe auf und so „ganz<br />

nebenbei“ versucht Don Jaime’s verhasster Sohn<br />

Jorge, Modernisierungen anzubringen.<br />

Dieser vor fünf Dekaden produzierte Schwarzweiß-<br />

Streifen wurde seinerzeit nicht umsonst in einigen<br />

Ländern verboten, denn in seiner Radikalität, in seiner<br />

subtilen und doch gnadenlos direkt die Doppelmoral<br />

der ach so christlichen Katholiken und die<br />

Regierung kritisierenden, ja entlarvenden Art und<br />

durch die Tabubrüche fiel er mit der Tür regelrecht<br />

ins Haus, und das war in der „heilen Welt“ der Sechziger<br />

vielerorts nicht erwünscht. Der Regisseur und<br />

Atheist Luis Buñuel legte den Finger tief in die Wunde<br />

und die Neuauflage, die rund eine halbe Stunde<br />

Bonusmaterial beinhaltet, streut noch einmal Salz<br />

in dieselbe. „Viridiana“ ist, ganz plump gesagt, ein<br />

wertvoller Film, den man gesehen haben sollte, gerade<br />

wenn man der Kirche kritisch gegenübersteht.<br />

Chris P<br />

THE WALKING DEAD<br />

STAFFEL 1<br />

WVG Medien GmbH<br />

R: Frank Darabont<br />

USA, 2010<br />

ca. 400 min.<br />

FSK: 18<br />

Angucken!


Darüber muss man kein Wort mehr verlieren. Ein<br />

absolutes Meisterwerk! Die ebenso meisterhafte<br />

Comic-Serie übergenial verfilmt. Absolute Erfrischung<br />

im Horror-Genre, Abteilung Endzeit, Untergruppierung<br />

Zombie. Technik: super. Atmosphäre:<br />

super. Spannung: super. Umsetzung: super. Schauspielerische<br />

Leistungen: superer. Gott sei Dank hat<br />

das lange Warten über Weihnachten und Neujahr<br />

jetzt dann ein Ende! Die zweite Season geht endlich<br />

endlich weiter und hat doppelt so viele Folgen wie<br />

die Pilot-Test-Season 1! Und die letzte Folge vor der<br />

Pause endete mit einem Millenium-Knall. Oh yes!<br />

Keine weiteren Worte notwendig. Fuckin‘ A+++!<br />

Matthias Horn<br />

WAR REQUIEM<br />

Edition Salzgeber<br />

R: Derek Jarman<br />

Musik: Benjamin Britten<br />

GB 1989, Engl. OF/Dt. UT,<br />

FSK 16<br />

Benjamin Britten widmete den<br />

Opfern der beiden Weltkriege<br />

sein War Requiem. Eine von<br />

ihm selbst dirigierte Version aus dem Jahr 1963 bildet<br />

den Background für diese Verfilmung des Oratoriums<br />

in erlesen-kitschigen Bildern, wie wir es von<br />

Jarman gewohnt sind. Wobei der Hinweis erlaubt<br />

sein muss, dass es aus Anlass des Falklandkrieges<br />

eine weit besser gelungene Einspielung unter Sir<br />

Simon Rattle gab, just by the way. Der pathetische<br />

Kostümfilm zeigt das Leid der Kriege nicht wirklich.<br />

Stattdessen regiert selbstverliebte Opulenz, Monstrosität,<br />

ein wenig schwule Soldatensinnlichkeit,<br />

immerhin erlebt man einen letzten Auftritt von Sir<br />

Laurence Olivier. Jarman schwelgt in seinen Stilisierungen,<br />

statt den Krieg unverfälscht zu zeigen.<br />

Ich empfehle ein anderes Vorgehen: Besorgen Sie<br />

sich eine radikal-kompromisslose Kriegsdoku mit<br />

Bildern aus Vietnam, Afghanistan, den Weltkriegen,<br />

dem Irak, Tschetschenien, Bildern aus Lagern, von<br />

Gefangenen und spielen Sie dazu diese herzzerreißende<br />

Musik.<br />

Sollten Sie freilich auch die anderen Werke Jarmans<br />

und seinen speziellen Stil mögen, dann greifen Sie<br />

hier ohne Bedenken zu.<br />

Wer mit Jarman beginnen will, der sollte freilich dafür<br />

Derek Jarman’s Film Sebastiane und in Sachen<br />

Klassikverfilmung Ken Russel’s Tchaikovsky - Genie<br />

und Wahnsinn vorziehen.<br />

Andrasch Neunert<br />

WERWÖLFE<br />

Als Werwolf-Fan hat man es heutzutage nicht einfach.,<br />

stolpert man doch über ziemlich viel Dünnes,<br />

sucht man im Genre heutzutage nach guten Filmen.<br />

Wobei... Fan. Eher eine Hass-Liebe. Von all den<br />

Filmmonstern sind mir die Menschwölfe am liebsten,<br />

gleichzeitig fürchte ich mich vor ihnen auch<br />

so dermaßen, dass ich sicherlich sofort tot umfallen<br />

würde, wäre ich bei Vollmond auf einem weiten<br />

Acker, dessen Ende man nicht erkennen kann, und<br />

dessen tiefe Furchen groteske Schatten werfen. Irgendwo<br />

steht ein kahler Baum, der mit dicken Wolken<br />

behangene Himmel lässt jedoch immer genug<br />

Platz für den Mond, damit dieser alles in sein Unglück<br />

verheißendes Licht tauchen kann. Und irgendwo<br />

in der Ferne hört man Geheul. Oder zumindest<br />

verrückt werden. Würde ich. Sicherlich. Alle anderen<br />

Monsterchen sind wirklich nur Monsterchen. Bis<br />

auf dieses possierlichen Burschen eben... Und was<br />

man da alles an Psychologie hineininterpretieren<br />

könnte... aber genug, jetzt nicht Thema.<br />

Bester Film ist und bleibt „An American Werewolf in<br />

London“, dann noch in loser Reihenfolge auch definitiv<br />

nicht verkehrt, ohne Gewähr für Vollständigkeit:<br />

„The Howling“, „Dog Soldiers“, „Ginger Snaps“, „Bad<br />

Moon“ und „Silver Bullit – Der Werwolf von Tarker<br />

Mills“. „Van Helsing“ war nur wegen der reißenden<br />

alles platt machenden Bestien angenehm, ähnlich<br />

einzwei Szenen aus der „Underground“-Reihe. Die<br />

Neuverfilmung von „Wolf Man“ oder „Wolf“ mit dem<br />

ollen Nicholson gingen auch noch klar ... ansonsten<br />

wird es finster. Und das trotz Vollmond.<br />

BLUE MOON –<br />

ALS WERWOLF<br />

GEBOREN<br />

Sunfilm<br />

R: JoeNimziki<br />

USA, 2011<br />

ca. 92 min.<br />

FSK: ab 12 beantragt<br />

Okay. Ein Remake. Mal<br />

wieder. Von „The Howling“?<br />

Der war ja nicht gerade<br />

von schlechtesten Eltern, siehe oben. Notwendig?<br />

In den Zeiten des Remake-Wahns wohl schon.<br />

Aber letztendlich hat „Blue Moon“ mit seinem Remake-Opfer<br />

nicht allzu viel zu tun, bis auf das mit<br />

den Werwölfen eben. Er darf eher als Fortsetzung<br />

der „Howling“-Reihe gesehen werden, dessen Vertreter<br />

ja auch mehr oder minder lose miteinander<br />

verknüpft sind. Also, dann „Howling“ Nummero sieben...?<br />

Let‘s go.<br />

Die Story: Ein schüchterner „graues kleines Küken<br />

und Nerd“-Typ steht kurz vor dem Highschool-<br />

Abschluss und traut sich nicht, seinen großen<br />

Schwarm anzusprechen. Dazu von Haus aus eh<br />

schon mal traumatisiert, da er in ganz jungen Jahren<br />

unter mysteriösen Umständen seine Mutter verlor.<br />

Bei einer Party kommt er seiner Angebeteten tatsächlich<br />

näher, plötzlich geht das Licht aus... und<br />

alle Anwesenden werden von etwas Unbekanntem<br />

angegriffen. Gerade noch mal so mit dem Schrecken<br />

davongekommen spürt Will – unser Küken –<br />

jedoch kurze Zeit später, dass sich sein Körper innen<br />

wie außen seltsam verändert. Irgendetwas<br />

stimmt ganz und gar nicht mehr. Die Werwölfe indes<br />

haben seine Witterung schon aufgenommen...<br />

So weit so gut.<br />

Abschreckend waren nur solch Info-Hinweise wie<br />

„Ein Muss für alle Fans der Twilight-Trilogie“ oder<br />

„[...] vermischt gekonnt ein spannendes Werwolf-<br />

Abenteuer mit einer romantischen Liebesgeschichte<br />

zwischen zwei Teenagern“.<br />

Aber alles gar nicht so schlimm! Der Romanzenpegel<br />

hält sich auf ertragbarem Niveau, hingegen<br />

ist die Coming-Of-Age-Komponente (weitaus wichtiger!)<br />

erstaunlich präsent. Dazu noch ein paar ge-<br />

lungene spannende Momente und der Film darf<br />

durchaus als gut durchgehen! So einfach ist das!<br />

Und tat nicht mal weh. Kurzweilig, die schauspielerischen<br />

Leistungen sehr ordentlich und auch die<br />

Story keineswegs schlecht!<br />

Was lediglich noch gegen dieses Fazit aufbegehren<br />

könnte: der Film ist ab 12 beantragt, lag jedoch in<br />

der „nicht endgültigen 12er-Fassung“ vor. Es bleibt<br />

nur zu hoffen, dass die große böse Schere ihn nicht<br />

nachträglich noch so zu krass verstümmelt und zu<br />

immense Löcher in den Handlungsverlauf reißt … –<br />

alles schon mal erlebt. Leider. Also: unter Vorbehalt<br />

empfehlenswert. Ohne Schere: sehr, mit Schere: …<br />

we‘ll see.<br />

DIE NACHT DER WÖLFE<br />

Sunfilm<br />

R: Philippe Gagnon<br />

Kanada, 2010<br />

ca. 88 min.<br />

FSK: ab 12<br />

2012 I #35 I videoThek<br />

Toll, gleich zwei Werwolf-<br />

Filme zur Sichtung!<br />

Hat ja mit „Blue Moon“<br />

einen guten Einstand<br />

gefunden, man darf gespannt<br />

sein. Auch der Inhalt liest sich sehr nach<br />

Heisa! - Im Jahre 1665 in Quebec flieht der Betrüger<br />

und Schwerenöter Joseph vor dem Galgen in<br />

die Lordschaft de Beaufort und nimmt die Identität<br />

eines ermordeten Priesters an. Jener war jedoch ein<br />

berühmter Werwolfjäger, dementsprechend herzig<br />

wird er in einem Dorf empfangen. Denn irgendwas<br />

stimmt in diesen Breitengraden nicht … nachts ver-<br />

69


70 videoThek I #35 I 2012<br />

nimmt man entferntes Heulen, einige Dorfbewohner sind verschwunden,<br />

zudem ist auch noch Josephs Liebste in Gefahr...<br />

Klingt schon mal sehr gut! Lediglich und wiederum stutzig machen<br />

so Infos wie „Werwolf-Horror“ im gleichen Atemzug genannt<br />

mit „ab 12“ (beißt sich ja schon ein bisschen, haha!)<br />

und „Das Werwolf-Abenteuer im Stile von „Pakt der Wölfe“<br />

wurde als Highlight auf dem Fantasy Film Fest 2011 gefeiert.“<br />

- Hmmmm, mittlerweile habe ich schon verdammt viele Filme<br />

kennengelernt, die als „Highlight auf dem FFF 2011“ gefeiert<br />

wurden... ein ganzes Festival voller Highlights? Ist zwar definitiv<br />

eines von den Guten, aber „schön wär‘s“. Und mit „im<br />

Stile von ...“ lehnen sich die Infoschreiber ganz schön verdammt<br />

weit aus dem Fenster. Das wird natürlich gecheckt!<br />

Anfangs ist die Wolfsnacht sehr stimmig, spannungsreich,<br />

auch in der Einführung der Charaktere zeigt sie durchaus Potential.<br />

Zudem gibt es ein paar Male gut platzierte Situationskomik<br />

und die Synchro stimmt in ihrer Besetzung – bis hierhin<br />

passt alles. Dann jedoch, kurz vor Beginn des Showdowns,<br />

geht alles nur noch sehr schnell. Zu schnell. „Ähm? War das<br />

nicht gerade noch das Einläuten zum Finale? Und jetzt schon<br />

aus? Was zur Hölle...?“<br />

Und ruckzuck fallen Story und Stimmung leider in sich zusammen.<br />

Quasi auf der Zielgerade schlapp gemacht. Schade.<br />

Dennoch gibt es in der Wolfsnacht streckenweise diebische<br />

Spaßmomente!<br />

Zum Abschluss noch kurz was zum „Pakt der Wölfe“-Vergleich.<br />

Einzig Zeit, Schauplatz und eventuell noch die Kostüme<br />

lassen sich mit diesem Genre-Meilenstein vergleichen.<br />

Aber der Rest: Bitte was? Da wir doch wohl jemand nicht ein<br />

Mogelpäckchen wie bei „Trust“ schnüren wollen? Ne ne ne.<br />

Matthias Horn<br />

ZEITSCHLEIFEN –<br />

IM DIALOG MIT CHRISTA WOLF<br />

Edition Salzgeber<br />

R: Daniela Dahn/ Karlheinz Mund<br />

D 1990/91 FSK 0, dt. OF, 101 min.<br />

Mahnende Worte zum Zeitpunkt<br />

schwarz-rot-goldener Glückseligkeit<br />

stehen am Beginn dieses neu editierten<br />

Films der DEFA aus den Jahren<br />

1990/91. Worte, die gerade nachdenkliche Frauen wie Bärbel<br />

Bohley oder Christa Wolf gegen die Vereinigungshysterie<br />

richteten, in der sie schon deutlich die Brüche, ja, den Zusammenbruch<br />

der Bewegungen und Netzwerke erkannten, die<br />

den Volksaufstand erst hervorgebracht hatten.<br />

„Keineswegs leichter erträgt man die Folgen von Fehlentwicklungen,<br />

wenn man selbst vor ihnen gewarnt hat. Unglückliches<br />

Bewusstsein ist ja nicht falsches Bewusstsein.<br />

Und um keinen Deut fröhlicher wird dieses<br />

Bewusstsein von Unglück bei den ewigen<br />

Minderheiten, wenn zugleich daneben die<br />

Massen in einem glücklichen Bewusstsein<br />

schwelgen“:<br />

Hilflos muss Christa Wolf mit anschauen,<br />

wie die fragilen Strukturen des Widerstands<br />

in der DDR von der Einheitsbesoffenheit<br />

der Masse überrollt wurden. Das<br />

Verschwinden der Utopien nach der Kapitulation<br />

der Funktionärsdiktatur, die große<br />

Leere der Widerständigen nach dem ihnen<br />

geklauten Sieg: Der Sozialismus ist tot, auch als Alternative komplett diskreditiert, seine humane<br />

demokratische Verwirklichung kann nicht mehr probiert werden, die Runden Tische des Aufbruchs<br />

weichen den Bankettbarrikaden, hinter denen die Aufkäufer aus dem Westen ihre Schnäppchen<br />

mit Champagner begießen.<br />

Christa Wolf, lange Zeit Stachel im Fleisch der DDR, reflektiert hier tastend, klug und genau zu<br />

Ausschnitten aus kontemporären Dokumentationen und Rückblenden ihre eigene Rolle im Widerstand,<br />

ihre Reaktionen auf Kritik, Verleumdung, Verrat, Verbot. Und macht ebenso klar, dass<br />

sie auch dem neuen D-Mark-Establishment kritisch gegenüber steht, auch wenn sie zwischen Polithaft<br />

à la Bautzen und offener Diskursmöglichkeit sehr wohl zu unterscheiden weiß. Und viele<br />

dieser zeitlos gültigen Einsichten hat sie schon sehr früh gewonnen: „Aber auch die Fähigkeit, in<br />

einem Rausch zu leben, ist Dir abgegangen. Die heftigen, sich überschlagenden Worte, die geschwungenen<br />

Fahnen, die überlauten Lieder, die hoch über unseren Köpfen im Takt klatschenden<br />

Hände. Sie hat gefühlt, wie sich die Worte zu verwandeln beginnen. Wenn nicht mehr guter Glaube<br />

und Ungeschick und Übereifer sie hervorschleudern, sondern Berechnung, Schläue, Anpassungstrieb“<br />

(Aus „Nachdenken über Christa T“, 1968).<br />

Dieser wichtige, lehrreiche Dokumentarfilm bietet uns weit mehr, als halt Gespräche mit einer<br />

wichtigen Autorin. Er trägt uns mitten hinein in Aufbruch und Volkserhebung, ist ein Stück lebendiger,<br />

authentischer Zeitgeschichte jenseits der Deutungshoheit sogenannter Eliten, er ist beste<br />

deutsch-deutsche Geschichte von unten.<br />

„Der Umkreis der Zerstörung um einen Schreibenden: Wie oft habe ich ihn beobachtet, wie oft gefürchtet.“<br />

Christa Wolf ist schonungslos - auch sich selbst gegenüber, in ihrem Ringen um unangepasste<br />

Wahrhaftigkeit, das erst mit ihrem Tode ein Ende fand und hier zeitlos weiterlebt.<br />

Andrasch Neunert

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