LOVE A - Noisy-neighbours.com
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das zine für musik, film, literatur und.<br />
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love a.<br />
matt pryor.<br />
juli kapelle.<br />
niels frevert.<br />
el bosso.<br />
affairs of the heart.<br />
excuse me fire.<br />
bonsai kitten.<br />
radiozeug.<br />
1,50<br />
Eur<br />
nO35<br />
2012
2<br />
vorWort I #35 I März 1/2012<br />
Jetzt ist es also fast soweit:<br />
Am 21.12. diesen Jahres geht die Welt unter. Das sagen zumindest<br />
die Mayas – und die müssen es wissen, die haben nämlich vor tausenden<br />
von Jahren einen Kalender entworfen, der dies’ Jahr, kurz vor<br />
dem Christfest, endet. Zu dumm. Aber mal ehrlich: So richtig schade<br />
ist es ja nun auch wieder nicht um uns, oder?! Haben wir nicht<br />
inzwischen unsere Erde ganz schön runtergewirtschaftet? Und alles,<br />
was da so „kreucht und fleucht“ - vor allem in den letzten 100 Jahren<br />
- ziemlich mies behandelt? Ok, der ein oder andere mag sagen: Das<br />
war ja wohl auch der Deal - hat uns der liebe Gott nicht gesagt „macht<br />
Euch die Erde untertan“? Und brav und folgsam wie wir nun mal<br />
sind haben wir einfach nur genau das gemacht? Wie dem auch sei: In<br />
diesem Jahr nicht in den Genuss des Festtagschmauses von Mama,<br />
Oma und Tante zu kommen, nur weil drei Tage vorher die apokalyptischen<br />
Reiter auf der Matte stehen und meinen, wir könnten uns den<br />
Weihnachtseinkauf sparen? Schöne Scheiße, das.<br />
Apropos. Das gilt auch für die „Kandidatenfindung Bundespräsident“;<br />
von der Leyen, Töpfer, Schwarzer, Netzer & Delling – erst will keiner<br />
oder wird nicht gewollt und am Ende ist die Liste derart ausgedünnt,<br />
dass ich schon Sorge hatte, die würden jetzt unseren Andrasch fragen<br />
– und gutmütig wie der Kerl ist, hätte er bestimmt zugesagt … und<br />
was wäre dann aus uns geworden? SO! weit geht die Vaterlandsliebe<br />
dann auch nicht. Jetzt wird’s der konservative Pfarrer Gauk, der<br />
die Ergüsse von Guido, dem alten Sar(r)azinen, schon mal ebenso<br />
„mutig“ findet wie die Diskussion um die Geldgeilheit der Banken<br />
„unsäglich naiv“. Da wäre mir Klarsfelds Bea doch lieber; klar, die hat<br />
zwar mal einem Bundeskanzler eine gescheuert - und so was tut<br />
man hierzulande einfach nicht! - aber zum einen ist das lange her und<br />
außerdem würde ihre Wahl doch beweisen, dass ein Volk, welches<br />
manchmal auf dem rechten Auge blind ist, mit dem linken umso<br />
schärfer sieht, oder?! Ha!<br />
Ach ja, apropos „Vaterlandsliebe“.<br />
Neulich hat’s da irgendwo eine interessante Umfrage<br />
gegeben, so unter Jugendlichen und nach dem Motto „Bist Du stolz<br />
darauf, ein Deutscher zu sein?“ … die Hälfte soll mit „ja“ geantwortet<br />
haben. Hey – ob diese Dumpfbacken mal irgendwer gefragt hat,<br />
was eigentlich IHR Beitrag dazu gewesen ist, HIER geboren worden<br />
zu sein und worin eigentlich die „Leistung“ ihres Heimatlandes besteht??<br />
Nee, mankannsichaberauchaufregen …<br />
Egal, zum Heft jetzt; ihr seid ja hoffentlich nicht nur deshalb hier,<br />
um Vorworte frustrierter Mittvierziger zu lesen. Neben den obligatorischen<br />
Rezis aus den Themenbereichen Buch, Musik und Film gibt<br />
es diesmal Interviews mit NILS FREVERT, <strong>LOVE</strong> A, den Münchner<br />
Alternativrockern EXCUSE ME FIRE, BONSAI KITTEN, der Ska-Ikone<br />
El Bosso & Die Ping Pongs, mit „The Get Up Kids“-Fronter MATT<br />
PRYOR, der auf Solopfaden unterwegs ist und Jan Schewe, dem<br />
Macher von AFFAIRS OF THE HEART; außerdem rücken wir dem<br />
Thema „Charts“ noch mal zu Leibe, indem wir mal schauen, ob es<br />
da nicht halbwegs vernünftige Alternativen gibt. Noch was vergessen?<br />
Und gebt die Hoffnung nicht auf, dass der alte Maya-Weise nur<br />
deshalb am 21.12.2012 mit dem Kalender Schluss gemacht hat, weil<br />
er uns entweder einfach mal richtig den Arsch auf Grundeis setzten<br />
wollte – oder weil seine Ölsche ihn noch kurz vor’m Feierabend zum<br />
Einkaufen geschickt hat. Ich schätze: genau so war’s.<br />
In diesem Sinne: Euer Keule für’s noisy-Team<br />
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –<br />
**Schickt uns Demos! Erwünscht und gerne gesehen bzw. gehört!<br />
noisyNeighbours * Landgrafenstr. 37–39 * 53842 Troisdorf<br />
**Anregungen, Kritik, Wünsche oder einfach nur Kontakt?<br />
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4 ______________________Love A<br />
8 ____El Bosso<br />
10 ______________________Affairs Of The Heart<br />
12 ____literaTur ...Bücher, Tipps, Verrisse.<br />
17 ______________________Hörbücher<br />
18 ____Excuse Me Fire<br />
20 ______________________Radiozeug<br />
22 ____Highlights ...Schätzchen der Ausgabe.<br />
24 ______________________Niels Frevert<br />
26 ____ reViews ...wir wildern quer durch die Veröffentlichungslandschaft.<br />
42 ______________________Juli Kapelle<br />
46 ____<strong>com</strong>iCorner ...alles um die <strong>com</strong>iKunst.<br />
49 ______________________Matt Pryor<br />
50 ____gayGlotze ...von seicht bis leicht, zart bis hart.<br />
56 ______________________Bonsai Kitten<br />
58 ____Im Himmel, Unter Der Erde<br />
60 ______________________videoThek ...von seicht bis leicht, zart bis hart. Neue Filme. Auch alte.<br />
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Verlag und Redaktion<br />
noisyNeighbours<br />
TRTR GbR<br />
c/o Collenbusch<br />
Am Schloßplatz 23<br />
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Herausgeber v.i.S.d.P.<br />
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Redaktion & redaktionelle Mitarbeit<br />
Carsten Collenbusch, Christian Eder, Matthias Horn,<br />
Andrasch Neunert, Marcel von der Weiden,<br />
Arnulf Woock, Jochen Wörsinger, Joachim Brysch,<br />
Tom Gipfel, Mario Karl, Stephan Karsch, C. Klenk,<br />
Johannes Koch, Matthias Kuehn, Guido Lucas,<br />
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Pressebilder der jeweiligen Künstler<br />
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2012 I #35 I Inhalt<br />
Inhalt Ausgabe 35 * März * 2012<br />
noisy Neighbours<br />
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Artikeln und Bildern nur mit schriftlicher Genehmigung<br />
der Redaktion. Sonderdrucke auf Anfrage. Für unverlangt<br />
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3
4<br />
No Life Lost I #35 I 2012
<strong>LOVE</strong> A<br />
GESANGS-<br />
STUNDEN<br />
SIND WIE<br />
ZAHNARZT!<br />
nN: … ist das eigentlich, wenn man die<br />
Chance hat und sie nutzt, bei einem Fanzine<br />
über sich selbst zu schreiben und<br />
so Promo in eigener Sache zu machen.<br />
Überwiegen da rundherum die Bedenkenträger,<br />
oder findet man das um Dich<br />
rum, weil Du das offen spielst, eher cool?<br />
KK: Das war immer so, auch in jüngeren<br />
Jahren, wo man ja nicht nur über sich selbst,<br />
sondern über Freunde geschrieben hat.<br />
Oftmals war es doch so, dass man dadurch<br />
den Fanzine-Gedanken weitergetragen hat.<br />
Es geht ja da auch darum, das Lokale zu<br />
fördern, das, was man sieht und das ist ja<br />
nun oft das, was die Menschen machen, die<br />
einen umgeben, und so ist dieser Vorwurf<br />
einer Vetternwirtschaft eigentlich so ein<br />
bisschen ein Oxymoron (Tipp von Wikipedia:<br />
Ein Oxymoron ist eine rhetorische Figur, bei<br />
der eine Formulierung aus zwei gegensätzlichen,<br />
einander (scheinbar) widersprechenden<br />
oder sich gegenseitig ausschließenden<br />
Begriffen gebildet wird), weil so<br />
funktioniert ja Fanzine im Grundgedanken.<br />
Und so sollte der Text in dem Lied, auf das<br />
Du jetzt anspielst, auch klingen, dass man<br />
diese Strukturen auch mal offenlegt. Klarmacht,<br />
dass man sich eben besser kennt,<br />
dass das nicht läuft, wie Redakteur hier, und<br />
anonyme Redaktion dort, sondern man sich<br />
kennt, auseinandersetzt...<br />
Siehst Du Dich noch eher auf der Seite<br />
des jugendlichen, kompromisslosen<br />
Sturm und Drangs, so zum Beispiel<br />
in der Kritik, wenn Du den Reichen<br />
vorwirfst, dass sie nicht genug von<br />
ihren Kindern in ihren Swimmingpools<br />
versenken, und zwar so, dass sie nicht<br />
wieder auftauchen. Oder ob es doch<br />
eher schon das Relativierende ist, weil<br />
Du ja zwischen den beiden Polen mit<br />
Deinen Texten hängst. Auf der einen<br />
Seite die Wut, auf der anderen Seite aber<br />
auch Deine Skepsis gegenüber platter<br />
Schwarz-Weiß-Malerei!<br />
Als Berufsjugendlicher bin ich natürlich auf<br />
der Seite der Jugend, auch wenn ich sie<br />
oft scherzhaft verdamme. Aber: Sie sind ja<br />
wichtig und sie sind unser aller Fortkommen,<br />
in Zukunft! …<br />
...schaumamal...<br />
Ich bilde mir das immer noch ein. Ich bin<br />
nun mal ein hoffnungsloser Optimist. Das<br />
ist ja das Schöne. Man hat selbst ein bisschen<br />
ausgedient als Frontsoldat, aber kann<br />
sich für seine Männer (Anm.: und Frauen!),<br />
die vorne kämpfen, einsetzen...<br />
...das finde ich ja ganz klasse, hinter den<br />
Reihen stehen und brüllen, „Kämpft mal<br />
schön!“, das ist wie der, der im Mittelfeld<br />
einen weiten Pass spielt, selber<br />
stehenbleibt und ruft, „Gute Reise!“<br />
KK (lachend): Genau. In den Tod schicken.<br />
Ich fühl mich da eher wie der Ausbilder, der<br />
seine Ehre daraus bezieht, dass er versucht,<br />
seine Jungs (Anm.: und Mädels!) so gut wie<br />
möglich auf den Kampf vorzubereiten. Ich<br />
2012 I #35 I Love A<br />
Trier. Das hatten wir noch gar nicht, oder?<br />
Egal. Andrasch freute sich vor einem Dreiviertel-Jahr<br />
so sehr über die damalige EP<br />
von der Love Academy, die er wähnte, eine<br />
Berliner Band zu sein, dass er so lange rumtelefonierte<br />
und mailte, was mit der nun<br />
inzwischen passiert war, bis er sie gefunden<br />
hatte, unter verkürztem Namen, aber mit<br />
neuer Platte, nachzulesen bei unseren Reviews.<br />
Und weil er das Ganze so spannend<br />
fand, rief er Jörkk, den mit dem Doppel-K,<br />
Sänger und Texter im Büro an. Im Ox-Büro,<br />
da wirkt er nämlich. Womit wir schon beim<br />
Einstieg wären... Also, wie …<br />
erlaube mir das noch, weil ich eben auch<br />
weiß, wie man da dachte und denkt und<br />
versuche dann auch tatsächlich, ein wenig<br />
plakativ, übertrieben das Ganze darzustellen.<br />
Also, man kann uns jetzt kein stumpfes<br />
Parolengedresche vorwerfen, wobei ich ja<br />
dann doch manchmal mit solchen Dingen<br />
spiele. Ohne jetzt politisieren zu wollen:<br />
So ähnlich ist es ja.... Also, ich habe einen<br />
klaren politischen Standpunkt, will uns aber<br />
nicht als politische Band verstanden wissen.<br />
Nachdem ich den zweiten Song gehört<br />
hatte, hab ich mir hingeschrieben:<br />
Abgesang auf den ruhiggestellten<br />
Mittelstand, stand unterstrichen, denn<br />
deshalb heißt das so, weil sie eben<br />
ruhiggestellt sind, also Mittelstand, der<br />
sich die Chance auf Belohnung nur noch<br />
selbst vorlügt.<br />
Oh! (denkt nach) Ich glaub, das würde ich<br />
unterschreiben.<br />
Dieser Mittelstand, dem es eigentlich<br />
immer ganz gut ging, der franst ja aus,<br />
aber die Leute sind immer noch mit<br />
den alten Gewissheiten unterwegs und<br />
haben noch nicht kapiert, dass sie das<br />
Lumpenproletariat von morgen sind.<br />
ehe ich auch so.<br />
Dann kann man doch eigentlich, wenn<br />
man eh abstürzt, auch NEU anfangen!<br />
Ja, man soll ja auch aus Fehlern lernen.<br />
5
6 Love A I #35 I 2012<br />
Ist das die Traurigkeit, die Du beschreibst,<br />
„es macht mich traurig, was<br />
Ihr Leben nennt“?<br />
Das sind durchaus Beobachtungen von<br />
Menschen … also, man erwischt sich ja selber,<br />
wenn man Menschen diesen Vorwurf<br />
macht, z. B. Wegbegleitern von früher, die<br />
ein sogenanntes normales Leben führen,<br />
keinen Bezug mehr haben zur Subkultur,<br />
aber das muss man ja schon auch bei sich<br />
selbst erkennen, dass man da auch ein bisschen<br />
herausrutscht, man sich unweigerlich<br />
mehr zur Mitte hin bewegt. Das macht einen<br />
natürlich traurig, wenn man sieht, dass die<br />
Kampfeslust versiegt, persönlich ist man<br />
aber schon manchmal auch des Kämpfens<br />
müde.<br />
Diese „Normalität“, die da auf einmal<br />
entsteht als Bollwerk gegen die eigenen<br />
unerfüllten Wünsche, die wird ja dann<br />
von vielen später auf sehr aggressive<br />
Weise verteidigt: DAS ist dann die Aggression<br />
des Spießertums!<br />
Durchaus, die immer strampeln und dann<br />
treten, wenn sie Kritik erfahren in ihrem<br />
gesättigten Vor-Sich-Hin-Dümpeln.<br />
Wer sie dran erinnert, dass da noch ’ne<br />
Menge offene Rechnungen in Ihnen drin<br />
stecken, der ist gefährlich für sie.<br />
Mag ja sein. Aber: Es gibt auch Leute, die<br />
DIESES Leben ANDERS führen!!! Nur, in<br />
den Texten soll ja der Bilderbuchspießer<br />
beschrieben werden.<br />
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass<br />
die totalen Dogmatiker von früher auch<br />
die Spießerdogmatiker von heute sind.<br />
Das ist richtig: Die am lautesten schreien.<br />
Genau! Um mal ein Name-dropping anzubringen:<br />
Was mich oft gestört hat, bei der<br />
Wandlung von But Alive zu Kettcar...<br />
...Kettcar hast Du Dir auf dem Album ja<br />
gleich persönlich vorgeknöpft...<br />
Das war ein Beispiel, dass auch die Fans beschreiben<br />
sollte, oder die Fans, die sie dann<br />
im Endeffekt hatten, also, da lässt sich drüber<br />
streiten, ob die Band die Fans verdient<br />
hat, sprich, zu Recht damit gestraft war....<br />
Also, Kettcar seh’ ich ja völlig anders. Ich<br />
kenne kaum eine Band, die ihre eigene,<br />
persönliche Veränderung so genau, teils<br />
so unbarmherzig genau reflektiert und<br />
dargestellt hat, wie Kettcar.<br />
Ich weiß nicht, ich hab das ja als Konsument,<br />
als Verbraucher wahrgenommen.<br />
In den Texten... und Liedern selbst! Sie<br />
haben halt auch abgerechnet mit einem<br />
Teil der Fans, die ihnen wütend wegliefen,<br />
als sie Kettcar wurden. Und haben<br />
darunter viele dogmatische Linksspießer<br />
gesehen.<br />
… stimmt! …<br />
...das wurde Kettcar dann ausgelegt als<br />
der treulose Abschied von der eigenen<br />
Identität, war es aber nicht. Was sollen<br />
sie denn anders machen? Anderes Beispiel:<br />
Metallica! Würde es denn überzeugend<br />
wirken, wenn die Swimming-<br />
Pool-Besitzer noch immer einen auf<br />
Street-Fighting-Men machen würden?<br />
Über Metallica haben wir grad gestern noch<br />
in der Bandprobe gelacht, dieses „Tourverschieben<br />
wegen des Dollarkurses“... Wir<br />
wissen kollektiv nicht, was wir davon halten.<br />
Also, wenn man schon ein Arschloch ist, ist<br />
man doch sympathischer, wenn man der<br />
Welt auch erzählt, dass man ein Arschloch<br />
ist.<br />
Nur, wenn ich mir gerad den Euro<br />
angucke, dann weiß ich ja nicht, ob sie<br />
damit nicht ganz schön daneben...<br />
KK: (lacht schallend) … Aber die Idee war<br />
doch großartig, dass dann auch noch zu<br />
erzählen...!<br />
So ein klein wenig neidisch bist Du auf<br />
die Schwarz-Weiß-Maler mit den einfachen<br />
Feindbildern doch schon noch!<br />
Motto: Wenn ich daran noch glauben<br />
würde, wäre doch vieles einfacher.<br />
Ja, das ist richtig. Oft bin ich fasziniert<br />
davon – und schüttle oft den Kopf, wie man<br />
die Welt immer noch so wahrnehmen kann.<br />
Aber es ist doch tatsächlich dann viel, viel<br />
leichter.<br />
Vielleicht sind wir mit unseren ganzen<br />
Relativierungen nur schon den Feuilletonisten<br />
vom Spex, die sind ja auch<br />
nur Überbau, auf den Leim gegangen.<br />
Vielleicht leben wir längst schon wieder<br />
in einer Gesellschaft von Opfern, und<br />
Tätern, und sonst nix! Wenn ich sie mir<br />
angucke, die Favelas auf der einen Seite,<br />
die Elendsviertel in den ganzen Südmetropolen<br />
und mitten drin Stacheldraht<br />
und Selbstschussanlagen, und Mauern<br />
um die Siedlungen der Reichen. Die<br />
gesicherten Reichenbezirke mitten in<br />
der Armut (Anm.: Siehe Spielfilm „La<br />
Zona“!). Im Grunde steuern wir doch auf<br />
einen Bürgerkrieg Reich gegen Arm zu.<br />
Weltweit.<br />
Ja, absolut. Das ist so eine düstere Vision,<br />
die ich auch teile. Und das ist ja auch Grund<br />
für Verzweiflung und auch für den Wunsch,<br />
noch mal den Schritt zurück zu machen und<br />
sich in diese dogmatischen Strukturen noch<br />
mal reinzubewegen. Quasi der Wunsch,<br />
noch mal wenig überlegt genug zu handeln,<br />
einfach damit wenigstens irgendwas<br />
passiert.<br />
Schnitt. Und wer von Euch war früher<br />
immer der Freibadheld, oder ist es heute<br />
noch?<br />
Ich glaube, da haben wir keinen dabei!<br />
Ach komm, Dein Freibadsong, wenn der<br />
nicht selbst erlebt ist...<br />
Ja, klar! Aber das hat doch mit Helden nix zu<br />
tun. In meinem Fall geht es um den kleinen<br />
Dicken, der keine abbekommen hat...<br />
Was mir in Euren Songs gefällt, ist unter<br />
anderem auch, dass Du immer mit ganz<br />
konkreten Bildern und Geschichten<br />
arbeitest, zum Beispiel singst über Absurditäten<br />
des Alltags, wenn sich einem<br />
in der U-Bahn Jesus in den Weg stellt.<br />
Dieser Blick für den Alltagswahnsinn,<br />
auch Poesie, die sich in kleinen Gesten<br />
zeigen, gefällt mir gut bei Dir... Ist das<br />
so, dass Du beim Warten an der Haltestelle<br />
ganz bewusst noch wach bist?<br />
Viele sind das ja nicht.<br />
Durchaus, ja, da passieren ja die Geschichten<br />
und da schnappt man etwas auf,<br />
auf der Fünf-Minuten-Busfahrt zum Proberaum...<br />
Gerade auch die Geschichte mit dem<br />
Wal, da muss ich an den Marten denken von<br />
Turbostaat. Ich hab damals ja mein erstes<br />
Interview für’s Ox mit den Jungs machen<br />
dürfen und ich fragte ihn, wo hast Du<br />
eigentlich diese Texte her und er sagte so<br />
scherzhaft, „Aus der Zeitung!“. Und es ist<br />
ja tatsächlich so, ob es die Zeitung ist oder<br />
die Straße, das Eine ist ja ein Spiegel des<br />
Anderen, so dass man da schon sehr viel<br />
aufschnappen kann, wenn man beobachtet.<br />
Siehe Max Goldt & Co.
Du kannst Dich aber gleichzeitig<br />
ungeheuer freuen darüber, dass in all<br />
der Scheiße immer noch auch so viel<br />
Menschlichkeit existiert.<br />
Ja, absolut. Diese ganze Rumhackerei auf<br />
irgendwas ist ja einfach die Hilflosigkeit,<br />
dass ich es eigentlich nicht bringe, eigentlich<br />
ein Philanthrop und Optimist bin und mich<br />
halt tagein tagaus darüber ärgere. Weil ich<br />
glaube, dass die Welt um mich herum das<br />
einfach nicht verdient hat!<br />
Klar bist Du zu intelligent, um verlogene<br />
Scheinidyllen abzufeiern. Auf der<br />
anderen Seite: Schloss Neuschwanstein<br />
abzubrennen, macht die Landschaft<br />
dann auch nicht schöner.<br />
KK (lachend): Es gibt Hinweise! Das Bild<br />
im Anschluss ist wahrscheinlich nicht so<br />
schön zu betrachten, aber das Bild, das man<br />
mit der Tat zeichnet, es kann durchaus zum<br />
Nachdenken anregen.<br />
Du, übrigens, eines, was Ihr wirklich<br />
immer habt: Ihr habt immer den steady<br />
vorwärtstreibenden Beat. Ohne Uptemp<br />
macht Ihr’s nicht. Ist das nur auf der<br />
Platte so, oder ist das in Euren Genen<br />
eingemeißelt?<br />
Ich glaub, der Charly kann sonst nix.<br />
(lachend) Nee, der kann nur den Einen und<br />
dann ist man ganz schnell bei diesem treibenden<br />
Beat...<br />
… zu dem „kann sonst nix“ kommen wir<br />
noch, weil ich glaube, dass das bei Euch<br />
wirklich noch ein wenig zu einförmig ist.<br />
Obwohl’s mir ja gleichzeitig auch saugut<br />
gefällt.<br />
Wir witzeln da ja manchmal drüber, zum<br />
Beispiel so: `Komm, ich hab hier ’ne schöne<br />
Popbridge`, oder `wir machen jetzt mal ’ne<br />
schöne Midtemponummer!`<br />
Nein! Ich mein, wenn Ihr zwischendurch<br />
mal zwei Minuten ausbrechen würdet<br />
und reine Poplicks spieltet, um sie dann<br />
aber brutal zu brechen, fänd’ ich das ’ne<br />
spannende Variante, die von der Aussage<br />
kein bisschen wegnimmt!<br />
Ja, steh ich auch drauf! Das ist teilweise bei<br />
uns auch Thema, dass man mal sagt, lass<br />
uns da mal was Schrägeres machen, um<br />
dann wieder so ’nen verzuckerten Refrain<br />
hinterherzuschieben zur Entschädigung. Der<br />
Versuch ist schon da und da wird man auch<br />
mit Sicherheit noch dran wachsen! Das ist<br />
ja nun mal unser Debüt und dann möchte<br />
ich doch mal immer wieder auch die Presse<br />
daran erinnern, dass sie da vorsichtig mit<br />
uns umgehen sollen, mit dem zarten Pflänzchen...<br />
(lacht selber) …<br />
Entschuldige mal, ich messe Euch doch<br />
nur an der Champions League! Was<br />
willst Du denn?<br />
KK: (Gelächter) - Ist aber schon so, wenn es<br />
mal zu zuckerig wird, dann muss einer mit<br />
den Stiefeln reintreten.<br />
Ich weiß ja auch nicht, was mit Dir und<br />
Deiner Stimme passiert, wenn Du Dich<br />
außerhalb dieser einen Oktave begibst...<br />
Das ist durchaus schwierig. Ich bekomm ja<br />
immer vorgeworfen zu singen.<br />
Sing ruhig, aber atme richtig!<br />
Ja, der Charly meint immer, ich soll doch<br />
nicht so knödeln. Wobei: Ich schrei absichtlich,<br />
überfordere meine Stimme auch<br />
absichtlich!<br />
Schon klar, aber man kann das bewusst<br />
einsetzen, oder es passiert mit Einem.<br />
Und bei Dir bin ich mir nicht immer<br />
sicher, was von beidem der Fall ist.<br />
Also, das ist in dem Fall schon bewusst! Ich<br />
könnte auch sauberer!<br />
Das aggressiv Gellende, das drüberliegt,<br />
das ist Absicht, das ist schon klar. Ich<br />
mein da eher den unteren Bereich, dass<br />
Dir in den tieferen Lagen manchmal der<br />
Atem fehlt.<br />
Absolut. Was diese Techniken angeht, da<br />
bin ich Dilettant.<br />
2012 I #35 I Love A<br />
Dein Gestaltungsspielraum wär’ halt<br />
noch größer, wenn Du ein paar Gesangsstunden<br />
nehmen würdest...<br />
Das ist so eine Geschichte wie zum Zahnarzt<br />
gehen... da fällt einem immer noch<br />
etwas ein, was man vorschiebt....<br />
Aber jetzt ist es öffentlich. Du kommst<br />
nicht mehr raus aus der Nummer.<br />
Das ist richtig. Da hab ich mir auch schon<br />
Gedanken drüber gemacht. Mich würde das<br />
auch wirklich interessieren, selbst wenn es<br />
nur Atemtechniken, nur ganz einfache Dinge<br />
sind. Und man holt sich da ja auch immer<br />
wieder mal Rat bei erfahrenen Freunden<br />
und Kollegen, aber da gebe ich Dir absolut<br />
Recht.<br />
Was macht Ihr nun weiter, die ersten<br />
Reaktionen auf das Album sind ja gut...<br />
Absurd gut und wohlwollend, man kann das<br />
noch gar nicht glauben. Wir nehmen jetzt<br />
erst mal alles mit, freuen uns über jeglichen<br />
Zuspruch, und vor allem freuen wir uns,<br />
dass wir spielen können und dürfen.<br />
7<br />
Nik Freitas<br />
Wann tourt Ihr, mit wem tourt Ihr, wisst<br />
Ihr’s schon?<br />
Wir haben viele selbstorganisierte und viele<br />
mit Hilfe von Jürgen zustandegekommene<br />
kleine und Einzel-Gigs, oder Wochenenden,<br />
und haben im April ’ne Tour mit Frau Potz<br />
aus Hamburg, da singt der letzte Sänger<br />
von Escapado, um mal ’nen Namen fallen zu<br />
lassen.<br />
Wie genial, ich liebe Escapado.<br />
Die Frau Potz find ich jetzt wiederum NOCH<br />
besser! Die haben uns gefragt, ob wir bei<br />
ihrer Releaseparty mitspielen wollen, so fing<br />
das an.<br />
Ich hoffe für Dich, sie spielen demnächst in<br />
Deiner Nähe. ... Und warum steht noch kein<br />
Termin in München??? Muss ich etwa mit<br />
meiner Bahncard in der Gegend rumgurken?<br />
Fragt mal ganz egoman der<br />
Andrasch
8 No Life Lost I #35 I 2012<br />
nN: Nachdem ich zum ersten mal in Eure<br />
aktuelle Scheibe gehört habe, meine ich<br />
festgestellt zu haben, dass das gar nicht<br />
unbedingt nach „Ska“ klingt ... Irrtum<br />
meinerseits, oder bemüht Ihr Euch<br />
tatsächlich um größtmögliche „Vielseitigkeit“?<br />
Marcus: Richtig ist, dass einige Songs<br />
wirklich einen sehr „funky-“, rockigen- oder<br />
beatlastigen Einschlag haben und nur im<br />
weitesten Sinn etwas mit Ska zu tun haben.<br />
Nichtsdestotrotz war es uns schon wichtig,<br />
auch Songs auf der Platte zu haben, die<br />
schon „sehr Ska“ sind beziehungsweise die<br />
typischen Ska-Elemente enthalten. Insgesamt<br />
ist das Album musikalisch aber schon<br />
weit gefächert. Aber so haben wir uns als<br />
Band eigentlich schon immer verstanden:<br />
Durchaus mal andere Einflüsse mit aufnehmen.<br />
Roots-Rocksteady-Ska haben wir noch<br />
nie gemacht, das spannende für uns war<br />
es immer, zu schauen, wie man Off-Beat-<br />
Musik noch umsetzen, mit anderen Stilen<br />
vermischen kann. Die Musikwelt ist so bunt,<br />
warum nicht gut gelaunt mit allen Farben<br />
malen?<br />
Schönes Bild. Ein bisschen brennt mir<br />
die Frage unter den Nägeln. Die vorletzte<br />
Scheibe habt Ihr 1995 gemacht – was ist<br />
denn dazwischen passiert?<br />
Korrektur: Unsere vorletzte Platte ist von<br />
1991 „Ich bin Touri“. Zwei Jahre später<br />
haben wir uns aufgelöst und dann ein paar<br />
Jahre nix gemacht. 1995 wurden dann beide<br />
Alben noch mal über „Pork Pie“ neu veröffentlicht.<br />
Ein Jahr danach gab’s eine Revivalshow,<br />
und dann war wieder erstmal lange<br />
Pause. 2003 haben wir in Münster zwei<br />
Revivalshows gespielt, und weil es allen<br />
Beteiligten so viel Spaß gemacht hat, haben<br />
wir weitere Shows angehängt und seitdem<br />
immer mal wieder mit dem alten Programm<br />
und ein paar neuen Songs Konzerte gespielt.<br />
Unsere DVD kam dann 2007 - und kurz danach<br />
stand für uns fest: entweder gibt’s ein<br />
neues Album mit frischen neuen Songs oder<br />
wie lassen es ganz sein, bevor wir zu unserer<br />
eigenen „Top-40 Band“ mutieren. Nun<br />
ja, das hat dann noch mal knapp vier Jahre<br />
gedauert. Aber nun ist es so weit: „El Bosso<br />
& Die Ping Pongs“ are back in the ring!<br />
Zwischen 1996 und 2003 also erneut eine<br />
lange Pause, und während dessen lief<br />
nichts?<br />
So weit ich mich erinnern kann, war da<br />
Funkstille. Richie (aka „Dr. Ring-Ding“<br />
– Anm. d. Verf.) hatte genug mit seinen<br />
„Senior Allstars“ zu tun, Bosso absolvierte<br />
eine Schauspielausbildung und ich tobte<br />
mich an der Gitarre in diversen Grunge- und<br />
Stonerrockbands aus.<br />
Ich habe irgendwo mal gelesen, die<br />
„Hütten“ wären nach der „Reunion“<br />
gleich „wieder voll“ gewesen – erstaunlich<br />
– die Leute haben Euch die lange<br />
Pause in keiner Weise übel genommen,<br />
oder? … Etwas anderes - mir fällt der,<br />
sagen wir, „bruchstückhafte“ Titel Eures<br />
Albums auf, „Tag Vor Dem Abend“ …<br />
Richtig, irgendwie war es auf den Konzerten<br />
unverändert. Beziehungsweise interessant<br />
zu beobachten, dass wir scheinbar, während<br />
wir „live“ von der Bildfläche verschwunden<br />
waren, so eine Art „Kultstatus“ bekamen.<br />
Immer öfters las man von „El Bosso & Die<br />
Ping Pongs“ – die „Kultband“, die „erste<br />
Skaband mit deutschen Texten“ und so.<br />
Die Pause hat unserem Status beziehungsweise<br />
Standing wohl ganz gut getan. Zum<br />
Albumtitel … „Tag vor dem Abend“ ist aus<br />
dem gleichnamigen Song. Und da heißt<br />
es im Refrain „Wir loben den Tag vor dem<br />
Abend“ und ist die Umkehrung der bekannten<br />
Spruchs oder besser der typischen<br />
Mahnung aller Zögerer und Zauderer „Man<br />
soll den Tag NICHT vor dem Abend loben“.<br />
Doch genau dazu rufen wir in dem Song auf!<br />
Das Jetzt ist entscheidend! Genieße den<br />
Augenblick! Das Glas ist halbvoll! Duck Dich<br />
nicht verstohlen in der Ecke rum, nur weil<br />
Du nicht weißt, was später sein wird. Eigentlich<br />
kein neuer Gedanke, nur mit dieser<br />
Verkehrung des Spruchs noch mal anders<br />
auf den Punkt gebracht.<br />
Wobei ich jetzt irgendwie die Überleitung<br />
zu Euren Texten hinbekommen<br />
hätte … In „Metallica“ scheint ihr Euch<br />
darüber zu freuen, dass wenigstens
einiges so bleibt, wie es ist, und bei<br />
„Mann Von Nebenan“ beschwert ihr<br />
Euch allen ernstes über die zu lauten<br />
Nachbarn … interpretiere ich hier fehl?<br />
Nee, ist schon ganz richtig. Wobei „Mann<br />
von nebenan“ im weitesten Sinne einfach<br />
ins deutsche übersetzt und kein eigener<br />
Text ist. Aber Nachbarn die nur nerven sind<br />
ja auch wirklich schlimm. Und „Metallica“<br />
ist eine kleine Homage an Beständigkeit<br />
und Verlass. Wobei es unterm Strich egal<br />
ist, ob es die Platten von „Metallica“ oder<br />
„AC/DC“ sind, auf die „Verlass“ ist, die<br />
Glücklotterie, die jeden zweiten Mitwoch<br />
im Fernsehen ausgestrahlt wird oder das<br />
regelmäßige Tretbootfahren auf dem Münsteraner<br />
„Aasee“. Tradition und Beständigkeit<br />
sind nicht immer scheiße.<br />
Nicht unbedingt, da gebe ich Dir recht;<br />
„Mädchenmusik“ ist dann aber schon<br />
arg ironisch, oder?!<br />
Mmmh … der kleine, verschmitzte Seitenhieb<br />
auf die Armada von Singer/<br />
Songwritern, die uns mit Ihrem dauernden<br />
Herzschmerzgesäusel und selbstmitleidigen<br />
Tralalla tagtäglich weiß machen wollen, dass<br />
uns Ihr Leid oder die große Selbsterkenntnis<br />
brennend interessiert. Nix gegen die Vertextung<br />
tiefer Sehnsüchte, aber bitte doch<br />
nicht immer gleich sich selbst so fürchterlich<br />
ernst nehmen …<br />
Wenn Du jetzt gesagt hättest, dass Du<br />
„Mädchenmusik“ ganz erst meinst …<br />
dazu noch die Sache mit der Tradition<br />
und Beständigkeit“ – ich hätte mir ernsthaft<br />
Sorgen gemacht … Aber verglichen<br />
mit so manch schärferen Texten aus<br />
Eurer Vergangenheit – seid Ihr „altersmilde“<br />
geworden?<br />
Altersmilde? Vielleicht entspannter oder<br />
abgeklärter was die Sicht auf manche Dinge<br />
betrifft. Ich meine die großen Rockrebellen<br />
waren wir ja eh nie und den Revoluzzer hat<br />
man bei uns auch schon immer vergeblich<br />
gesucht. Mehr als mal auf einem „Ostermarsch“<br />
spielen gab es eigentlich nicht. In<br />
erster Linie standen wir schon immer für<br />
Spaß mit Augenzwinkern … und das hat<br />
sich nicht geändert.<br />
Wobei Du mir wieder einen Steilpass<br />
schlägst … Ihr seid ja nun auch nicht<br />
mehr 18 oder 20 … wie lange wollt Ihr<br />
das Ganze noch betreiben? Ist das nur<br />
eine Frage des „Bocks“?<br />
Gegenfrage, ist das eine Frage des Alters?<br />
Ich denke nicht. So lange es allen Beteiligten<br />
Spaß macht und es Menschen gibt, die sich<br />
für das alles interessieren, brauch man über<br />
einen musikalisch geruhsamen Lebensabend<br />
nicht nachdenken. Ich meine, keiner<br />
von uns möchte als Berufsjugendlicher<br />
rüberkommen. Und darum klingt die Platte<br />
wie sie klingt und darum sind die Texte<br />
ja auch, wie sie sind. Auch wenn einige<br />
sagen werden, dass sind gar nicht mehr<br />
EL BOSSO gelten als die erste<br />
deutschsprachige Ska-Band, und<br />
schon 1991 brachten die Band<br />
um Gitarrist Marcus „Skacus“<br />
Diekmann und Sänger Markus<br />
„El Bosso“ Seidensticker eine erste<br />
Scheibe heraus. Obwohl zwischen<br />
damals und heute gerade mal drei<br />
Longplayer erschienen sind, besitzt<br />
die Band aus Münster längst Kultstatus.<br />
„Skacus“ war so freundlich,<br />
uns ein paar Fragen zu beantworten<br />
…<br />
die „El Bosso“ von früher oder so. Richtig,<br />
die „Bossos“ von früher sind ja nun auch<br />
20 Jahre her. Und in 20 Jahren passiert ne<br />
Menge und wenn’s nur das Älterwerden ist.<br />
Naja, „Frage des Alters“ – im Grunde<br />
gebe ich Dir recht … und bei „Saitenschwingern“<br />
auch weitestgehend egal<br />
- aber wenn man singt?? … Bleiben wir<br />
aber in der Gegenwart – was geht „live“<br />
in naher Zukunft?<br />
Hier und da mal nen Ostermarsch … nee,<br />
Spaß …Wir gucken gerade, wie wir alle<br />
terminlich zusammenkommen - und das ist<br />
keine Frage des Spaß, sondern ein Frage der<br />
vielen anderweitigen Verpflichtungen, die jeder<br />
einzelne mehr oder weniger hat. Ist halt<br />
so in der „Ü 35“, da gibt’s Familie, Beruf,<br />
einige zocken auch noch in anderen Bands<br />
und und und … das will alles berücksichtigt<br />
werden. Wir haben aber schon den ein oder<br />
anderen Livetermin für 2012 „save“, auch<br />
das ein oder andere schöne Festival. Nur<br />
die fette Livepromopower können wir nicht<br />
fahren. Also drei Wochen am Stück touren<br />
und etliche dicke Sommerfestivals, das wird<br />
leider nicht gehen. Jeder, der uns live sehen<br />
will: Immer mal wieder über unsere Homepage<br />
oder „Facebook“ updaten.<br />
Keule<br />
9
10 Affairs Of The Heart I #35 I 2012<br />
Tim Kasher<br />
nN: Erst mal war’s doch nur ’ne Agentur,<br />
oder?<br />
JS: Angefangen hab ich als Promoagentur,<br />
2004. Und Saddle Creek war mein erster<br />
Kunde.<br />
Womit Du unzweifelhaft nicht nur Glück,<br />
sondern ’ne gute Nase hattest.<br />
Richtig, genau. (lacht) Nach einigen Jahren,<br />
2007 war das, hab ich dann das Label<br />
gegründet und meinen ersten Künstler unter<br />
Vertrag genommen, das war David Dondero.<br />
In der Anfangszeit, wo Du ein Einmann-<br />
Unternehmen warst, da warst Du doch<br />
auch mit den Saddle Creek–Musikern<br />
unterwegs.<br />
Nein, ganz so weit ging das nicht, aber bei<br />
Presseterminen, Interviews...<br />
Und wie oft war Conor Oberst in Deinem<br />
Beisein betrunken?<br />
JS (schallendes Gelächter): Ich schweige zu<br />
dem Thema.<br />
nN (schallendes Gelächter) …<br />
Ich glaub, wir waren BEIDE oft betrunken.<br />
Wie siehst Du die Entwicklung bei<br />
Saddle Creek? Dass das nicht ewig<br />
das kleine, süße, von purer Harmonie<br />
geprägte Label bleiben konnte, das war<br />
doch klar!<br />
Ja. Genau. Und die Karrieren haben sich<br />
unterschiedlich entwickelt. Da gibt es den<br />
Conor Oberst, The Saints, Tim Kasher,<br />
Cursive, The Good Life – klar hat sich das<br />
David Dondero<br />
Zwischen Folk, Postfolk, Indie, Avantgarde, Rock mit Fuzz-Gitarre und was Dir jetzt sonst<br />
noch einfällt in Sachen Americana mit eindeutigem Schwerpunkt, das „andere Amerika“,<br />
nix Bible Belt-Stumpfsinn und vergesst auch ganz schnell die in Nashville ansässige<br />
Country-Musikerpolizei, es geht um Freiheit, Weite in Hirnen und Herzen. Würde uns Labelmacher<br />
Jan Schewe garantiert bestätigen. Der darf nachher auch noch sagen, was seine<br />
persönliche amerikanische Eskapisten-Obsession ist. Doch gemach, erst mal die Geschichte<br />
in Stichworten...<br />
auch auseinandergelebt. Dann sind Leute<br />
auch weggezogen, nach New York, oder Tim<br />
wohnt jetzt in Atlanta...<br />
Und dann gibt’s noch meine Lieblingsjungs,<br />
die Two Gallants. Verrätst Du mir,<br />
was mit denen jetzt los ist?<br />
Kann ich Dir verraten, die sind im Studio und<br />
nehmen ihr neues Album auf!<br />
Diese zwei Jungs, die ewigen Tramps,<br />
die haben mit ihrer Schnoddrigkeit,<br />
dem Sowohl-Als-Auch zwischen weit<br />
ausgreifend elegischen Stücken, die<br />
diese Eisenbahnromantik des Tramps<br />
einbegreifen...<br />
...Richtig!...<br />
Unbunny<br />
...und gleichzeitig aber auch der gezielten<br />
Zertrümmerung der alten<br />
Country-Gewissheiten unheimlich vielen<br />
Kids, auch hierzulande, Mut gemacht,<br />
sich diese Americana-Geschichten anzueignen<br />
und da mehr Selbstbewusstsein<br />
zu entwickeln.<br />
Das hoffe ich sehr, denn es ist ein sehr<br />
interessantes Genre und wie Du sagst, die<br />
zerlegen das tatsächlich und das finde ich<br />
sehr, sehr spannend.<br />
Würdest Du vom Label leben wollen –<br />
würdest Du am Hungertuch nagen, oder<br />
wärst Du schon tot?<br />
Was heißt „wollen“ - Können ist doch die<br />
Frage...<br />
John Vanderslice<br />
Jan Schewe<br />
Es ist Nischenmusik!<br />
Richtig. Hinzu kommt, dass es nicht nur ’ne<br />
Nischenmusik ist, sondern dass es eine<br />
Nischenindustrie geworden ist. (lacht) Keine<br />
Ahnung, wie sich das weiter entwickeln<br />
wird, ich beobachte das.<br />
Ich hab ja mehr und mehr die Sorge,<br />
dass wir uns auf einen gesellschaftlichen<br />
Zustand zu entwickeln, wo Musik vor<br />
allem wieder im streng marxistischen<br />
Sinn Überbau wird, nämlich nach dem<br />
Motto, wenn die Wirklichkeit schon so<br />
ätzend und kompliziert und scheiße ist,<br />
dann will ich mich durch die Musik einfach<br />
nur noch komplett wegdröhnen.<br />
Ja, das macht auch mir Sorge. Wobei – ich<br />
flüchte schon auch gerne mal.<br />
In was flüchtest Du denn?<br />
JS (bockt)<br />
Sag’s mir!<br />
Serien.<br />
Lindenstraße guck ich auch.<br />
Nein, da bin ich wieder mehr amerikanisch<br />
geprägt. Die „Raising Hope“ finde ich ganz<br />
große Klasse.<br />
Wie eng ist die Bindung an die USA? Wie<br />
oft bist Du drüben?<br />
Ich war gerade erst vor ein paar Wochen in<br />
den Staaten, es war mein erster Urlaub drüben.<br />
Zwar war ich vorher schon mal dort in<br />
Omaha und Chicago, aber die zwei Wochen<br />
jetzt in New England, das war der erste<br />
Urlaub. Ich bin da zwei Wochen rumgereist.
Maria Taylor<br />
Und, klar, ich romantisiere das schon, sehe aber auch<br />
die Probleme, die die Staaten haben. Es ist ein Land, das<br />
mich sehr fasziniert. Das spielt schon eine sehr große<br />
Rolle, ganz klar.<br />
Gibt’s irgendjemanden, wo Du sagst, ich hätte den<br />
sooo gern, ich find den sooo toll, aber Scheiße,<br />
Wunschträume, no chance, den krieg ich einfach<br />
nicht?<br />
Ja, den gibt es, da wiederhole ich mich auch gern öffentlich,<br />
das ist Jeff Tweedy von Wilco. Den hätte ich gern,<br />
egal, ob Wilco, oder Tweedy solo, egal, wie auch immer,<br />
nur: Jeff Tweedy, bitte!<br />
Was wünscht Du Dir für die nächsten fünf Jahre?<br />
Dass ich weiter glücklich bin mit dem, was ich tue und<br />
ich damit über die Runden komme, das ist alles. Und<br />
weiter interessante Menschen kennenzulernen, Musik<br />
mit Menschen teilen zu dürfen. Denn das muss man<br />
wirklich sagen, so cheesy das auch klingt: DAS ist wirklich<br />
ein großes Privileg!<br />
Geht mir genau so. Ich find das Kennenlernen<br />
manchmal fast wichtiger als das Hören. Gab es<br />
Momente mit einem bestimmten Musiker, die Dir<br />
besonders nahe sind, wo Du sagst, das werde ich<br />
nie vergessen?<br />
Klar. Unbunny war so ’ne Sache. Es ging um die Tour<br />
zum Album. Was tun? Kommt er alleine rüber? Macht<br />
er es solo? Können wir es uns leisten, eine ganze Band<br />
einzufliegen? Da haben wir festgestellt, das können wir<br />
nicht. Und dann habe ich ihm eine Band zusammengestellt<br />
– und da war ich dann selbst der Gitarrist und durfte<br />
ihn da begleiten, auf zwei Touren durch Europa und<br />
das war natürlich ganz spannend! So sind wir auch enge<br />
Freunde geworden, ja, ist wirklich eine irre Geschichte!<br />
Wow, wie schön! Und nun touren sie also so als Familie,<br />
wo sich Maria Taylor, Unbunny und die Flare Acoustic<br />
Arts League gegenseitig instrumentell unterstützen,<br />
ganz familienlike, so wie in den Anfängen von Saddle<br />
Creek. Womit sich der Kreis schließt. Und dann sagte<br />
ich noch aus voller Inbrunst einen Satz zum Jan: „Schön,<br />
dass es Dich gibt.“<br />
Andrasch Neunert<br />
The Dead Trees<br />
Wye Oak<br />
Flare<br />
Acoustic<br />
Arts<br />
League<br />
11<br />
Nik Freitas
12 literaTur I #35 I 2012<br />
TOM ANGLEBERGER –<br />
DARTH PAPER<br />
SCHLÄGT ZURÜCK<br />
BASTEI LÜBBE/<br />
BAUMHAUS 2011<br />
169 Seiten<br />
ISBN:<br />
978-3-8339-0075-4<br />
Richtig, es handelt sich<br />
bei dieser Veröffentlichung<br />
um den Nachfolger<br />
des im letzten Heft besprochenen Buches<br />
„Yoda ich bin! Alles ich weiß!“. Im zweiten Teil<br />
der Origami-Reihe bekommen der kauzige<br />
Dwight und seine papierne, weise Yoda-Fingerpuppe<br />
ernsthafte Konkurrenz, denn sein<br />
größter Widersacher, der großmäulige Harvey,<br />
will den Erfolg des Origami-Yoda-Orakels<br />
im neuen, siebten Schuljahr stoppen, indem<br />
er sich kurzerhand einen Origami-Darth Vader<br />
auf den Finger steckt und die Mitschüler auf<br />
die dunkle Seite ziehen will. Intrigant, wie er<br />
ist, versucht er alles, um Dwight als Unruhestifter<br />
hinzustellen und den Schulausschuss<br />
so dazu zu bewegen, ihn von der Schule<br />
werfen zu lassen. Dwights Freunde allerdings<br />
wollen das nicht einfach so geschehen lassen.<br />
Und so machen Tommy, Kellen und Co. sich<br />
erneut an eine Akte mit neuen Fallstudien,<br />
denn sie sind sich sicher: Egal, wie seltsam<br />
Dwight sein mag – ein schlechter Kerl ist er<br />
mitnichten! Ihre Erfahrungen und Erlebnisse<br />
schildernd reden sie, wie ihnen der Schnabel<br />
gewachsen ist, und natürlich hat Harvey nichts<br />
Besseres zu tun, als diese Schilderungen mit<br />
seinem verbalen Senf zu beschmieren.<br />
Wie schon beim Vorgängerbuch lebt auch<br />
„Darth Paper schlägt zurück“ von einem lebendigen<br />
Layout mit vielen vom Autoren gezeichneten<br />
Illustrationen, ohne allerdings den<br />
Text in den Hintergrund zu schieben. Im Gegenteil,<br />
denn im Vergleich zu „Yoda ich bin!<br />
Alles ich weiß!“ ist dieses Schriftwerk um einiges<br />
textlastiger und auch komplexer ausgedrückt.<br />
Eine clevere Sache, denn schließlich<br />
wachsen die Kids, die in diesem ärgerlichspaßigen<br />
Gezanke mitwirken, ja nicht nur<br />
physisch, sondern auch, was ihre Ausdrucksweise<br />
und ihren Wortschatz angeht.<br />
Autor Tom Angleberger hat mit dieser neuen<br />
Episode einen würdigen Nachfolger zum Debüt<br />
der „Krieg der Sternchen“-Reihe erschaffen<br />
und verzichtet auf pädagogische Gehirnwäsche,<br />
wie sie in Kinder- und Jugendliteratur<br />
leider immer wieder in übertriebenem Maße<br />
zu finden ist. Der Spaß steht hier an erster<br />
Stelle, und dies hat der Erschaffer dieser<br />
oftmals verschrobenen Charaktere hervorra-<br />
gend gemeistert. Da darf man ja fast schon<br />
ungeduldig auf Nachschub warten...<br />
Chris P<br />
TOM ANGLEBERGER<br />
– HORTON HALFPOTT<br />
ODER DAS TEUF-<br />
LISCHE GEHEIMNIS<br />
VON SCHLOSS<br />
EIGENBRÖTL ODER<br />
WIE SICH LADY<br />
LUGGERTUCKS<br />
KORSETT LOCKERTE<br />
KNESEBECK VERLAG<br />
2011<br />
206 Seiten, ISBN: 9-783-868-73381-5<br />
Der US-amerikanische Autor ist nicht nur in der<br />
Lage, zeitgenössische Kinder- und Jugend-<br />
bücher über schrullige Schüler mit seltsamen<br />
Freunden und widerwärtigen Nichtfreunden<br />
zu schreiben. In diesem wie immer von Angleberger<br />
selbst äußerst geschmack- und<br />
liebevoll illustrierten, qualitativ hochwertig<br />
verarbeiteten 206-Seiter findet sich der Leser<br />
nämlich auf dem Anwesen der Luggertucks,<br />
dem Schloss Eigenbrötl (im Englischen<br />
„Smugwick Manor“) wieder, auf welchem die<br />
herrische Lady Luggertuck streng die Fäden<br />
zieht – wer nicht spurt, bekommt durchaus<br />
mal eins mit dem Kochlöffel auf die Rübe.<br />
Doch an einem bestimmten Tag bittet Mylady<br />
ihr ältestes Dienstmädchen Crottie, ihr<br />
das Korsett dieses Mal nicht ganz so eng zu<br />
schnüren – und es scheint ganz so, als stünden<br />
hierdurch auf dem Schloss die Sitten und<br />
das ganze Leben Kopf. Arbeiten werden nicht<br />
mehr ordentlich erledigt, Diener essen Kuchen,<br />
statt der ihr zustehenden Brotkruste,<br />
und die wunderschöne Celia wird zum Ball<br />
auf Eigenbrötl eingeladen. Zu allem Überfluss<br />
verschwindet dann auch noch der ach<br />
so wertvolle „Luggertuck’sche Klumpen“. Hat<br />
ihn etwa der Küchenjunge Horton gestohlen?<br />
Oder war es doch jemand anderes? Was hat<br />
es mit diesem hässlichen Ding auf sich?<br />
In einer herrlich antiquierten, geschwollenen<br />
Sprache geschrieben, wie man sie aus uralten<br />
britischen Kriminalgeschichten kennt, entsteht<br />
zusammen mit der zeichnerischen Komponente<br />
ein herzlicher, kindgerechter, aber<br />
auch für Erwachsene enorm unterhaltsamer<br />
Roman, in welchem man sich die reichlich<br />
vorhandenen Figuren anhand sehr bildhafter<br />
Beschreibungen lebhaft vorstellen kann – ein<br />
wenig überdreht, aber nie effekthaschend<br />
wird der Spannungsbogen bis zum Schluss<br />
straff gespannt. Und nicht nur die kriminologische<br />
Ader des Lesers wird angesprochen,<br />
nein, auch eine kleine Romanze findet in „Horton<br />
Halfpott“ ihren Platz. Schön an dieser Geschichte<br />
ist, dass sich der Autor immer wieder<br />
direkt an den Leser wendet, so als wäre dieser<br />
derjenige, dem er die Story brandheiß als Allererstem<br />
erzählen möchte, und so fühlt man<br />
sich als „Zuschauer“ richtiggehend involviert<br />
und ganz furchtbar wichtig. Und diese Wärme<br />
ist etwas, was vielen an junge Leser gerichteten<br />
Büchern fehlt. Sehr empfehlenswert.<br />
Chris P<br />
DOUGLAS COUPLAND<br />
– JPOD<br />
KLETT-COTTA/TROPEN<br />
2011<br />
520 Seiten<br />
ISBN: 978-3-608-50103-2<br />
Mit „jPod“, dem elften<br />
seiner insgesamt vierzehn<br />
Romane, entführt<br />
der in Deutschland auf einem NATO-Stützpunkt<br />
geborene, in Vancouver aufgewachsene<br />
Kanadier endlich auch die Leser des deutschsprachigen<br />
Raumes in eine Bürowabe einer<br />
riesigen Spieledesignfirma. Eine dieser Waben,<br />
„Pods“ genannt, wurde aufgrund eines<br />
Fehlers mit sechs jungen Geeks besetzt,<br />
deren Nachnamen allesamt mit dem Buchstaben<br />
J beginnen. Ständig werden von oben<br />
Änderungen delegiert, die Protagonist Ethan<br />
Jarlewski und seine KollegInnen Bree, Kaitlin,<br />
John, Mark und Cowboy bitteschön zu realisieren<br />
haben. Das treibt die sechs an den<br />
Rand ihres Verstandes, was zur Folge hat,<br />
dass sie – mit massiver Angenervtheit, die<br />
zu Kurzschlüssen in der biologischen Hauptplatine<br />
führen – so langsam eine Scheißegal-<br />
Einstellung entwickeln. Etwas Sabotage bei<br />
der Spieleentwicklung darf da natürlich nicht<br />
fehlen. Abseits dieses Höllenjobs plagt sich<br />
Ethan zudem mit menschlichen Katastrophen<br />
herum: Ein gescheiterter, dauerfremdkopulierender<br />
Schauspieler als Vater, der verzweifelt<br />
auf der Suche nach einer Rolle – wenigstens<br />
einer Sprechrolle – ist und sich von einer<br />
Peinlichkeit in die nächste reitet. Eine ähnlich<br />
promiske Mutter, die Cannabis anbaut und<br />
einen Rocker „aus Versehen“ tötet. Ein Vorgesetzter,<br />
der nach China entführt wird. Und<br />
dann taucht auch noch der Autor selbst in der<br />
Story auf.<br />
Optisch arbeitet der seit zwei Dekaden Romane<br />
verfassende Zeilenzauberer wie gewohnt<br />
eigenwillig. Ähnlich wie in „Generation A“ nutzt<br />
Coupland in diesem eigenwilligen, mit zackigen<br />
Dialogen und großartigen Gedanken-
spielen gespickten Roman internettypische<br />
Elemente wie etwa Spammails, Requester<br />
und dergleichen. Nach dem Lesen des über<br />
500-seitigen Schmökers, ja eigentlich schon<br />
währenddessen, kratzt man sich erst mal am<br />
Kopf, doch Stück für Stück fallen die Papiergroschen<br />
und man kommt so langsam hinter<br />
das, was der heute 50-jährige Schriftsteller<br />
mit diesem Werk sagen möchte. Interessant<br />
ist auch dieses Mal wieder das wechselhafte<br />
Tempo dieses vielschichtigen Buches, dessen<br />
Ereignisse mitkriegen zu wollen, ein wenig<br />
ist, wie das Schauen der DVD-Box einer<br />
Lieblingsserie: Man hat noch so viel anderen<br />
Kram zu tun, aber man möchte unbedingt wissen,<br />
was als nächstes passiert. Zack, hat man<br />
wieder vierzig Seiten weiter gelesen. Sicherlich<br />
kann man der Abgefahrenheit von „jPod“<br />
kritisch gegenüberstehen, doch Couplands<br />
schreiberisches und kreatives Agieren ist nie<br />
selbstzweckhaft oder selbstgefällig, sondern<br />
hat stets einen Hintergedanken, den es zu<br />
entschlüsseln gilt. Natürlich spielt der Nordamerikaner<br />
hierbei auch mit der Geduld und<br />
dem Verstand des den Wälzer blätternden<br />
Buchstaben-Pac-Mans und man muss durchaus<br />
eine Ader für progressive, unkonventionelle<br />
Schreibkunst haben. Bringt man diese<br />
mit, erntet man tütenweise geistiges Saatgut,<br />
das seine Triebe tief in die neuronale Masse<br />
hinein bohrt. Die Taktfrequenz des menschlichen<br />
Hauptprozessors wird praktisch auf natürliche<br />
Weise erhöht.<br />
Chris P<br />
CARIN GERHARDSEN<br />
– UND RAUS BIST DU<br />
BASTEI LÜBBE 2011<br />
350 Seiten<br />
ISBN: 978-3-404-16593-3<br />
Der dritte Kriminalroman<br />
der Hammarby-<br />
Serie – meine Erstkonfrontation<br />
mit<br />
Letzterer – beginnt wie<br />
ein typischer Schwedenkrimi: Catherine Larsson<br />
und ihre beiden Kinder liegen in Södermalm,<br />
Stockholm mit aufgeschlitzter Kehle<br />
im Bett, und anfangs deutet alles darauf hin,<br />
dass Christer, ihr nicht mehr bei der Familie<br />
lebender Noch-Ehemann, diese furchtbare<br />
Tat begangen hat. Doch innerhalb kurzer Zeit<br />
verlieren sich all die Gedankenpfade ins Leere<br />
und das Team um Kriminalkommissar Conny<br />
Sjöberg weiß kaum noch Rat. Kurz darauf verschwindet<br />
der Kollege Einar Eriksson spurlos<br />
und das führt das Ermittlerteam an das Limit<br />
seiner Fähigkeiten. Hängen diese beiden Fälle<br />
zusammen?<br />
Genau ab diesem Gabelungspunkt nimmt der<br />
Roman unerwartet Fahrt auf und signalisiert<br />
mit lauten Sirenen, dass wir es hier doch nicht<br />
mit einem Krimi auf „Tatort“-Niveau zu tun haben.<br />
Eine aufwühlende Reise in die Vergangenheit<br />
und in die Köpfe vieler beteiligter Personen<br />
beginnt und bringt einige „Leichen im<br />
Keller“ zutage. Neben den Ermittlungen kommen<br />
viele Wahrheiten ans Licht, die durch ihre<br />
Verborgenheit fast vergessen waren, jedoch<br />
die Leben vieler Einzelner in all den Jahren<br />
deformiert haben. Carin Gerhardsen versteht<br />
es hierbei brillant, den Leser in den Strudel<br />
des irrsinnig spannenden Geschehens hineinzuziehen,<br />
denn sie meistert es nicht nur, ein<br />
verworrenes, komplexes, clever verwobenes<br />
Drama zu stricken, das die Filmspulen des<br />
Kopfkinoprojektors zum Rattern bringt, sondern<br />
auch, ihren Roman mit sehr starken Persönlichkeiten<br />
zu besetzen, deren Gefühle präzise<br />
zu beschreiben, jedem ein glaubwürdiges<br />
Schicksal auf den Leib zu schneidern und in<br />
die tiefsten Winkel der Psyche der einzelnen<br />
Figuren hervorzudringen.<br />
Während viele etablierte genreverwandte<br />
Autoren sich noch von den Nachwirkungen<br />
der hohen Wellen ihrer Erfolge in Sicherheit<br />
wiegen und zum Teil ganz schön halbgare<br />
Kost abliefern, ist es an der Zeit, dass diese<br />
schwedische Autorin an ihnen vorbeizieht und<br />
ihnen so bald durch den Rückspiegel zuwinken<br />
kann.<br />
Chris P<br />
AGNES HAMMER –<br />
HERZ, KLOPF!<br />
SCRIPT5 2009<br />
275 Seiten<br />
ISBN: 978-3-839-00104-2<br />
Vom im letzten Heft<br />
besprochenen, edlen<br />
2010er Roman<br />
„Dorfbeben“ begeistert<br />
gewesen, galt es zu<br />
ergründen, ob die anderen beiden Bücher der<br />
Nordrhein-Westfälin genauso packend sind.<br />
Eines vorweg: Es ist so – da mag der etwas<br />
profan anmutende Buchtitel durchaus ein<br />
wenig täuschen und auf die falsche Fährte<br />
locken.<br />
Karneval in Düsseldorf. Eines Tages wird<br />
die literaturbesessene Außenseiterin Franka<br />
entführt und die Eltern sind in völliger Panik,<br />
aber auch Frankas Freundin Lissy ist kurz<br />
davor abzudrehen. Lissy selbst stammt aus<br />
Hartz IV-Verhältnissen, hat eine Mutter, die ihr<br />
ganzes Geld mit Internet- und Teleshopping-<br />
Bestellungen verpulvert und ihr Vater ist obdachloser<br />
Säufer. Während die Ermittlungen<br />
der Polizei ins Leere laufen, geht Lissy eigene<br />
investigative Wege und findet bald heraus,<br />
dass Franka einen gewissen „Erlkönig“ im<br />
Chat kennengelernt hat. Der bildet sich ein,<br />
dass das Gefangenhalten und Quälen doch<br />
nur das Beste für Franka sei. Für seinen Engel.<br />
Für Franka – ein Teil seiner sauberen,<br />
reinen Welt. Für sie, die nicht so dreckig, so<br />
widerlich, so verdorben ist wie dieser ganze<br />
Absud da draußen. Sowohl Lissy als auch<br />
Franka und der Erlkönig erleben ihre ureigenen<br />
Formen der Angst und dies sorgt dafür,<br />
dass sich die Situation dramatisch zuspitzt.<br />
Agnes Hammer erzählt in einer schonungslosen,<br />
realistischen Sprache, welche einem<br />
häufig ein Gefühl der Beklemmnis verleiht.<br />
Hierbei arbeitet sie oft mit Widersprüchen,<br />
beispielsweise: Als Lissy mit ihrer Freundin<br />
Milena erst eine junge Türkin an der Bushaltestelle<br />
verprügelt und hinterher im Kaufhaus<br />
mit den erbeuteten 50 Euro erst mal Engelsflügelchen<br />
einkauft, die ja „total süß“ sind – oder<br />
der Moment, in dem für den Besuch erst mal<br />
Fertigschnitzel aus dem Gefrierfach geholt<br />
werden. Das schicksalsschwangere Leben in<br />
sozialen Brennpunkten ist nicht einfach und<br />
der Autorin gelingt es fantastisch, dem Leser<br />
einen Einblick dorthin zu gewähren. Ein tolles<br />
Stilmittel ist hier, wie Hammer die Gefühlswelt<br />
Lissys mit einem „Tier“, welches in ihr lebt und<br />
sich den Situationen entsprechend verhält,<br />
widerspiegelt. Viele solcher Details sind edles<br />
Gut in „Herz, klopf!“.<br />
Chris P<br />
AGNES HAMMER –<br />
NACHT, KOMM!<br />
SCRIPT5 2011<br />
283 Seiten<br />
ISBN: 978-3-839-00125-7<br />
Wie man schon anhand<br />
des Titels vermuten<br />
kann, schließt Agnes<br />
Hammers dritter Roman<br />
an den Erstling „Herz,<br />
klopf!“ an. Es ist an der Zeit für Lissy, endlich<br />
ihre Sozialstunden abzuarbeiten und so wird<br />
sie dazu verdonnert, diese in einem städtischen<br />
Altenheim abzuleisten. Ihren Job erstaunlich<br />
gut meisternd, gerät sie mit einer<br />
Pflegerin, mit der sie sich im Grunde bestens<br />
versteht, in einen Streit, und kurz darauf wird<br />
Nele, so deren Name, tot aufgefunden. Dank<br />
Lissys Polizeiakte und mangels Alibi ist die<br />
Verdächtige schnell ausgemacht, und es war<br />
nicht schlau, sich in genau dieser Nacht mit<br />
Neles Immer-mal-wieder-Freund Daniel zu<br />
treffen. Die Gefühle für ihn sind in heftigem<br />
Zwist mit ihrem Misstrauen gegen ihn, so dass<br />
Lissy bald gar nichts mehr versteht. Doch<br />
wenngleich sie und ihr inneres Tier gepeinigt<br />
werden, da kein Mensch Lissy Glauben schenken<br />
mag, bleibt ihr nichts anderes übrig, als die<br />
Sache selbst in die Hand zu nehmen, was sie<br />
nicht selten an den Rand der Selbstzerstörung<br />
bringt.<br />
Um es kurz zu machen: „Nacht, komm!“ ist<br />
ein mehr als ebenbürtiger „Herz, klopf!“-Nachfolger,<br />
der unverkrampft geschrieben wurde,<br />
ohne „heftiger, krasser, schlimmer“-Motiv, sondern<br />
genau so grundehrlich und ungeschönt,<br />
wie es in Hammers vorhergehenden Büchern<br />
bereits der Fall war. Absolute Empfehlung, am<br />
besten im Doppelpack mit dem 2009er Debüt.<br />
Chris P<br />
ALLGRÍMUR<br />
HELGASON –<br />
EINE FRAU BEI 1000°<br />
KLETT-COTTA/<br />
TROPEN 2011<br />
400 Seiten<br />
ISBN: 978-3-608-50112-4<br />
2012 I #35 I Literatur<br />
So skurril und lustig wie<br />
dieses Buch mancherorts<br />
angepriesen wird,<br />
ist es keinesfalls – und auch das Cover dieses<br />
400-Seiters mag irreführend sein, denn „Eine<br />
Frau bei 1000°“ ist nur oberflächlich mit Humor<br />
gespickt – der nämlich fußt auf der imposanten<br />
Lebenserfahrung der 80-jährigen<br />
isländischen Protagonistin Herbjörg María<br />
Björnsson, die völlig verkrebst auf ihre Einäscherung<br />
wartet. Nur noch via Laptop und<br />
Internet mit der Außenwelt verbunden und<br />
von zwei Pflegern versorgt, lebt sie in einer<br />
13
14<br />
literaTur I #35 I 2012<br />
Garage und hütet eine Handgranate wie ihren<br />
Augapfel, welche ihr Vater ihr als Kind gegeben<br />
hatte. Nun ist es an der Zeit, mit der<br />
Vergangenheit abzurechnen und hierbei lässt<br />
Herbjörg ihr Leben Revue passieren. Beinahe<br />
biographisch geht sie bis zu ihrer Kindheit in<br />
Island zurück, erzählt von ihrer Familie, von<br />
ihren Erlebnissen, ihren Erfahrungen, ihrem<br />
Erwachsenwerden. Vor allem aber schildert<br />
sie in unglaublich bewegenden und erschütternden<br />
Wortbildern, wie sie den II. Weltkrieg<br />
am eigenen Leib miterlebt hat und von Island<br />
nach Dänemark, Deutschland, Polen, Russland<br />
und weißgottwohin geschoben wurde.<br />
Wertverluste, Tode, Vergewaltigungen, Hunger<br />
und die Ungewissheit, was am nächsten<br />
Tag geschehen mag, pflasterten den harten<br />
Weg, den die damals Heranwachsende gehen<br />
musste – oft allein, verloren in der großen,<br />
weiten Welt, ganz auf sich gestellt. Und<br />
auch nach dem Krieg, in ihrer Zeit in Argentinien<br />
und der Rückkehr nach Island, hat es<br />
die Frau im weiteren Leben nicht einfach. Gesegnet<br />
mit einer scharfen Beobachtungsgabe,<br />
entgleitet der alten Dame oftmals derbster<br />
Galgenhumor und immer wieder finden sich<br />
in diesem Buch wertvolle, kleine große Weisheiten<br />
– hierbei verwundert es nicht selten,<br />
wie der Autor, der schon das legendäre „101<br />
Rejkjavík“ sowie „Zehn Tipps, das Morden zu<br />
beenden und mit dem Abwasch zu beginnen“<br />
geschrieben hat, zu so viel Weisheit und Lebenserfahrung<br />
gekommen ist – hier übertrifft<br />
er sich selbst und hat mal eben einen der<br />
aufrüttelndsten, zerwühlendsten, intensivsten<br />
Romane geschrieben, die in der zweiten Jahreshälfte<br />
2011 erschienen sind. Starker Tobak,<br />
an welchem man noch viele Tage später<br />
zu knabbern hat.<br />
Chris P<br />
WOLFGANG<br />
HERRNDORF – SAND<br />
ROWOHLT BERLIN<br />
475 Seiten<br />
ISBN: 978-3-871-34734-4<br />
Wenn es bei Herrndorfs<br />
Werken einen gemeinsamen<br />
Nenner gibt,<br />
dann ist es der der Unberechenbarkeit,<br />
denn<br />
einem Genre oder dergleichen lässt sich der<br />
gebürtige Hamburger absolut nicht zuordnen.<br />
Schrieb er mit „In Plüschgewittern“ noch eine<br />
Art popliterarischen Roman, war der darauf<br />
folgende Sammelband ein in Nihilismus mündendes<br />
Konvolut aus fünf Kurzgeschichten,<br />
die anfangs zusammenhanglos erscheinen<br />
und zu einem Mobile der Sinnfragen zusammenlaufen.<br />
In beiden dieser... Romane?...<br />
spielten teils sehr sonderbare Figuren die<br />
Hauptrollen, wobei man sich nach der Lektüre<br />
fragen musste: Sind sie eigentlich nicht völlig<br />
normal, gar ein wenig wie Du selbst? Und<br />
dann kam „Tschick“, ein Zwischending aus<br />
literarischem Roadmovie und Jugendroman,<br />
fast „easy reading“.<br />
Spulen wir vor ins Jahr 2011. „Sand“. Ein<br />
Roman, beinahe dicker als alle drei Vorgänger<br />
zusammen. Ein Buch mit Irrungen. Wirrungen.<br />
Enden und Wendungen. Ein Labyrinth,<br />
das gleichermaßen ein bis zum Horizont<br />
wand-, grenzen- und menschenloser Ort ist.<br />
Ein Werk, bestehend aus 69 von Zitaten flankierten<br />
Kapiteln voller bildhafter Wortgewalt,<br />
die einen auf überwältigende Art und Weise<br />
fast zu erdrücken droht. Mit entwaffnend<br />
niedergeschriebenen Gedankengängen, die<br />
einem anhand ihrer schonungslosen Wahrheit<br />
Tränen der Überraschtheit ob der fassungslosen<br />
Übereinstimmung in die Augen treiben.<br />
Messerscharfe Präzision und eine selbstverständliche,<br />
nie prätentiös demonstrierte Intelligenz<br />
als steter Begleiter. Und Feingeist als<br />
das Gewürz, welches für den zerebralen Gaumenorgasmus<br />
sorgt.<br />
Nordafrika, Sahara, wir schreiben 1972. Eine<br />
haarblonde Amerikanerin. Ein gehirnblonder<br />
Ermittler. Ein Atomspion, dessen Hirnwindungen<br />
wohl durch Strahlungen etwas zu<br />
sehr durcheinander geraten sind. Ein Mann,<br />
der nach einem gewaltsamen Überfall sein<br />
Gedächtnis verloren hat und auf der Suche<br />
nach seiner Identität ist. Ein Kriminalfall wartet<br />
auf seine Auflösung. Hippie-Kommunen<br />
im Sandmeer. Zur gleichen Zeit herrscht in<br />
München der „Schwarze September“, Palästinenser<br />
überfallen das olympische Dorf.<br />
Wie hängt das alles zusammen? Bestehen<br />
überhaupt Kohärenzen? Wenn ja: Wo? Wenn<br />
nein: Wo nicht? Was ist, was nicht? Und: Was<br />
ist überhaupt von Relevanz? Existiert eine<br />
solche denn überhaupt? „Protagon-“ oder<br />
„Stat-“ - wer ist welcher „-ist“? Herrndorf strickt<br />
mit „Sand“ eine Story, die einem undurchsichtigen,<br />
komplexen Irrgarten gleicht, durch welchen<br />
verschiedene Figuren wandeln, wobei<br />
man nicht weiß, welche Figuren nun von Bedeutung<br />
sind und welche nicht. Der Leser fühlt<br />
sich fast ein wenig wie der Mann, dessen Erinnerungen<br />
ausgelöscht sind – letzterer sucht<br />
in einem Kapitel mitten in der sengenden<br />
Wüste nach Gegenständen, die er verloren<br />
zu haben meint, und lässt Handvoll für Handvoll<br />
den Sand durch ein sehr grobes Sieb in<br />
Form seiner Finger rieseln, in der Hoffnung,<br />
ein Ergebnis zu erzielen. Jedes Sandkorn ein<br />
Unikat, jedes so einzigartig und doch bedeutungslos,<br />
und irgendwo zwischen all diesen<br />
Körnern muss doch etwas sein. Findet der<br />
Leser das Etwas? Findet es der Mann ohne<br />
Gedächtnis? Ist er nun der, der von einem<br />
Szenario ins nächste irrt, oder ist es der sich<br />
durch das Buch Grabende, der immer wieder<br />
lose Fäden findet, aufgreift, verknüpft, dabei<br />
verheerend-zwirnverheddernd kurz vor der<br />
Verzweiflung steht, einen Moment der Klarheit<br />
erlebt und doch wieder vom Alles ins Nichts,<br />
vom Nichts ins Alles taumelt? Von der Komik<br />
in das Lebensverneinende. Von Depression<br />
gen Sanguinismus. Von faszinierender Buntheit<br />
ins Dunkelgrau. Von - nach.<br />
„Sand“ ist beinahe wie ein Geheimnis, das es<br />
zu ergründen gilt, und es dürfte wohl kaum<br />
verwundern, dass der ein oder andere Leser –<br />
mich eingeschlossen – dieses Buch nochmals<br />
lesen müssen wird, um Schicht für Schicht<br />
hinter das zu kommen, was dort zu finden ist.<br />
Oder nicht zu finden ist. Ein Irrgang ohne oder<br />
mit Ziel. Einen, den man gerne geht, wenn<br />
man sich Herausforderungen gerne stellen<br />
möchte. „Sand“ ist ein Buch, das die Termini<br />
„Literatur“ und „Kunst“ ernsthaft verdient<br />
und für welches die Begriffe „Roman“ und<br />
„Belletristik“ beinahe schon eine Beleidigung<br />
darstellen. Die Antwort auf alle Lateralfragen,<br />
die sich zu diesem Werk stellen, lautet: Jein.<br />
Denn: Die Ratlosigkeit und die offenen Fra-<br />
gen tanzen einen wilden Tanz mit der Zufriedenheit<br />
und der Gewissheit. Verwirre nun ich<br />
Dich, den Leser dieses Magazins? Möglicherweise.<br />
Oder auch nicht. Lies und geh deinen<br />
eigenen Weg. Taste Dich selbst voran. Suche.<br />
Chris P<br />
RICK PARFITT, FRANCIS ROSSI,<br />
INHOFFEN, ANGELIKA –<br />
DIE STATUS QUO AUTOBIOGRAFIE<br />
HANNIBAL-VERLAG 2011<br />
384 Seiten, Broschur<br />
ISBN 978-3-85445-365-9<br />
Die Ü-40-Generation kennt Status Quo in<br />
erster Linie nur noch als mehr oder minder<br />
seichte Bierzelt-Rocker mit schunkeligen Hits<br />
wie “Rockin’ All Over The World“ oder „In The<br />
Army Now“. Dabei waren die Briten nicht nur<br />
musikalisch mal deutlich heftiger drauf, sondern<br />
auch außerhalb der Bühne. Diese offizielle<br />
Biographie der beiden Hauptakteure<br />
Francis Rossi (der mit dem Zopf) und Rick<br />
Parffit (die Löwenmähne) zeichnet davon ein<br />
gutes Bild: Sex, Drugs, zerstörte Hotelzimmer<br />
und Sportwagen – das ganze Rockstar-Programm<br />
gab es auch bei SQ, zumindest zirka<br />
drei Jahrzehnte in der bald 45 Jahre (!) dauernden<br />
Karriere. Eingefleischten Quo-Fans<br />
werden manche Anekdoten bekannt sein,<br />
interessant sind die Einblicke in das Innenleben<br />
dieser Band aber allemal. Und auch mal<br />
unfreiwillig komisch: Rossi behauptet etwa<br />
allen Ernstes, er habe Groupies eher aus<br />
einem Pflichtgefühl und „Höflichkeit“ gebumst.<br />
Parfitt hingegen hat in den Anfangstagen der<br />
Band rosa Lippenstift gekauft und Herzchen<br />
mit seinem eigenen Namen an die Scheiben<br />
des Tourbusses gemalt – weil sich bis dato<br />
schlicht kein Schwein, geschweige denn Mädel,<br />
für ihn interessierte.<br />
Weniger spaßig ist das Thema Drogen, insbesondere<br />
Kokain. Offenbar konsumierten<br />
die Herren zeitweilig tonnenweise. Eines Tages<br />
hatte Rossi dann beim Popeln unter der<br />
Dusche die Reste seiner Nasenscheidewand<br />
am Finger – hm, lecker. Er selbst sagt dazu:<br />
„Ich war wie ein Hund. Ein Straßenköter. Ich<br />
robbte auf allen Vieren durch die Gegend<br />
und bettelte mit heraushängender Zunge Tag<br />
und Nacht um Stoff.“ Die Schattenseite des<br />
Ruhmes, die sich auch auf die persönlichen<br />
Beziehungen der Musiker auswirkte. Auch<br />
zum Erfolgsgeheimnis der Band gibt es eine<br />
Erkenntnis: Die Gegensätzlichkeit von Rossi<br />
und Paffit: Rossi der ruhige und vorausschauend<br />
handelnde ergänzt sich musikalisch wie<br />
menschlich offenbar perfekt mit dem spontanen<br />
und stets im Hier und Jetzt lebenden<br />
Parfitt. Und da die Drogen aus dem Leben<br />
der beiden verschwunden sind, darf man gespannt<br />
sein, wie lange sie Quo-Geschichte<br />
fortschreiben.<br />
JOBRY
BIRGIT QUERENGÄSSER –<br />
DIE FEINE ART DES VÖGELNS<br />
(EIN HANDBUCH FÜR DEN<br />
MODERNEN BEISCHLAF)<br />
TROPEN SACHBUCH/KLETT-COTTA<br />
2011<br />
Zweihundertsex Seiten<br />
ISBN: 978-3-608-40304-3<br />
Die Ex- und Noch-Redakteurin solcher<br />
Zeitungen und Zeitschriften wie Maxim, Playboy, Jolie, Welt am<br />
Sonntag und FAZ versucht sich nun auch als Buchautorin, wobei<br />
dieses rosaseitige, stark chemisch duftende Buch natürlich nicht<br />
ornithologischen Themen gewidmet ist. Anstatt allerdings mit dem<br />
Zeigefinger eine Erektion zu simulieren und dem Leser zu demonstrieren,<br />
wie „es“ nun geht, packt Querengäßer das Thema<br />
auf satirisch-humorvolle Weise an und holt dafür gerne mal den<br />
Holzhammer raus.<br />
Klar, beim Thema Sex schaltet das Gehirn auf Minimalfunktion<br />
um, doch es wäre durchaus wünschenswert gewesen, wenn<br />
manches etwas feingeistiger formuliert worden wäre. Es ist nicht<br />
so, dass das Buch unlustig wäre, aber oftmals wird die Wirkung<br />
des Witzes verfehlt. Pointen werden häufig gesetzt wie vorzeitige<br />
Samenergüsse, oder der Text nimmt hin und wieder auch eine<br />
unerfreuliche Wendung ein – so wie ein Stellungswechsel des<br />
Partners, wo es sich doch gerade bis zu diesem Wechsel so fantastisch<br />
angefühlt hat. Das heißt beileibe nicht, dass „Die feine<br />
Art des Vögelns“ minderqualitativ ist, vielmehr fällt es unter die<br />
Kategorie „Ganz nett, aber die Autorin muss noch üben!“.<br />
Für zwischendurch ganz in Ordnung, aber nicht essenziell.<br />
Chris P<br />
BENEDICT WELLS – FAST GENIAL<br />
DIOGENES 2011<br />
322 Seiten<br />
ISBN: 978-3-257-06789-7<br />
New Jersey. Der etwa 18 Jahre alte Francis<br />
Dean lebt mit seiner Mutter unter finanziell<br />
schwierigen Bedingungen in einem abgeranzten<br />
Trailerpark und es scheint ganz so, als<br />
ob dieser Platz auf ewig für ihn, den Loser,<br />
bestimmt sei. Eines Tages erfährt er jedoch,<br />
dass er ein Retortenkind ist. Francis’ Mutter nahm zur „Zeugungszeit“<br />
an einem fragwürdigen Experiment teil, in welchem ausschließlich<br />
das Sperma von Genies schockgefrostet wurde, um<br />
auf diese Weise extrem intelligente Nachkommen zu züchten.<br />
Durch eine undichte Stelle im Netz der Verschwiegenheit kommt<br />
er Schritt für Schritt an die Information, dass sein Dad ein genialer<br />
Harvard-Wissenschaftler sei.<br />
Seine Mutter landet – wie schon so oft – in der Psychiatrie und<br />
unternimmt dort einen Selbstmordversuch. Die Katze beißt sich in<br />
den Schwanz, denn so bleibt Francis weiter in diesem Teufelskreis<br />
gefangen – just an diesem Tag lernt er die drei Zimmer weiter stationierte,<br />
schwer durchschaubare, labile, unstete Anne-May kennen,<br />
für die er mehr und mehr empfindet. Sie hält dieses Leben<br />
zwischen Psychiatrie und dem strengen Elternhaus nicht mehr<br />
aus und möchte einfach nur noch weg. Raus dort. Aus dem alten<br />
Leben ausbrechen. Schnell ist Francis klar, dass er zwei Fliegen<br />
mit einer Klappe schlagen kann: Wenn sein Vater kein Loser ist,<br />
kann er unmöglich selbst einer sein. Er muss ihn finden, und das<br />
so schnell wie möglich. Im selben Zug kann er auch Anne-May<br />
eine große Hilfe sein.<br />
Grover, ein leicht nerdiger, verschrobener, aber hochintelligenter<br />
Querkopf, unterstützt die beiden und so begeben sich die drei auf<br />
die Suche nach Francis’ Erzeuger – und nach ihrem eigenen Ich.<br />
Mit dramatischen Wendungen und emotionalen Achterbahnen<br />
gespickt, weiß der 1984 in München geborene Autor mit seinem<br />
dritten Roman unglaublich spannende Szenen zu schreiben, und<br />
dies tut er in einer dermaßen lebensnahen, ungeschönten, direkten<br />
Art, die unter die Haut geht. Kein unnötiges Geschwurbel,<br />
keine grammatischen Mäander, einfach nur klare Worte – diese<br />
allerdings werden so clever und geschickt miteinander verwoben,<br />
2012 I #35 I Literatur<br />
15
16 literaTur I #35 I 2012<br />
dass man zu dem Schluss kommen muss, dass Genialität nicht zwangsläufig mit<br />
einer gehobenen Ausdrucksweise zusammenhängen muss. Die Bilder, die Wells<br />
erschafft, nehmen dem Leser stellenweise regelrecht die Luft und man hat die<br />
ganze Zeit das Gefühl, man befände sich mitten in der Story – als unsichtbarer<br />
Begleiter. „Fast Genial“ ist auf anspruchsvolle Weise roh und unverfälscht, und<br />
das ist eine Begabung, mit der nur wenige Autoren gesegnet sind. Mir behagt<br />
es kaum, diesen Terminus zu benutzen, aber dieses Buch ist schlichtweg ein<br />
Must-have.<br />
Chris P<br />
BRENNA YOVANOFF – SCHWEIGT STILL DIE NACHT<br />
SCRIPT5 2011<br />
367 Seiten<br />
ISBN: 978-3-8390-0127-1<br />
Wer ist Mackie Doyle? Oder besser: Was ist er?<br />
In einer amerikanisch-provinziellen Kleinstadt namens<br />
Gentry wächst dieser junge Mann auf, und er war schon<br />
immer etwas anders. Seine schwarzen Augen.<br />
Seine körperlich extremen Reaktionen auf Metall und auf<br />
Blut. In seiner Schule hat er schon früh den Ruf eines<br />
Freaks und der verfolgt ihn auch weiterhin. Es dauert nicht lange und Mackie erfährt,<br />
dass er nicht aus dieser Welt stammt, sondern aus der Unterwelt, tief unter<br />
der Erde, wo wandelnde Tote, nach Verwesung stinkend, ihr „Leben“ leben. Diese<br />
Unterwelt wird von einer grausamen Herrscherin angeführt und diese ordnete<br />
an, in regelmäßigen, großen Abständen ein Baby zu opfern und dieses durch ein<br />
Kind aus der Unterwelt der bodenlosen Tümpel zu ersetzen.<br />
Angetrieben vom Drang, einfach nur ein normaler Mensch zu sein, muss sich<br />
Mackie dem Abenteuer unter der Erde stellen und erfährt Dinge, die so nicht<br />
zu erwarten gewesen wären. Zudem stellt sich bei dem Wandeln dieses neuen<br />
Pfades auch die Frage, wer nun Freund oder Verbündeter und wer das genaue<br />
Gegenteil ist.<br />
Nun mag der Leser denken, dass es sich bei „Schweigt<br />
still die Nacht“ um einen profanen Urban-Mystery/Fantasy-<br />
Roman für Jugendliche handelt, doch die Befürchtung zerschlägt<br />
sich. Klar, ein bisschen Romanze ist auch in diesem<br />
Buch zu finden, doch das war es dann auch schon mit Klischees,<br />
denn diese Story ist sehr häufig um einiges gruseliger,<br />
ekliger und blutiger als das Gros der derzeit beliebten<br />
Genrevertreter – und anstatt Hochglanz-Schlüpferstürmer-<br />
Bilder in den Kopf zu transportieren, arbeitet die junge<br />
Schriftstellerin mit deutlich anderen Stilmitteln. So sind die<br />
Charaktere um einiges merkwürdiger, cooler, sonderbarer;<br />
und das ist letztendlich authentischer und „glaubwürdiger“<br />
(ja, ich weiß, ein Widerspruch bei dieser Romansparte...)<br />
als so manches, was derzeit unter anderem auch das audiovisuelle<br />
Licht der Welt erblickt hat. Trotz aller Bildhaftigkeit<br />
und vieler Verflechtungen meistert Yovanoff es sehr gut,<br />
das Ganze flüssig lesbar zu halten. Und trotz aller Spannung<br />
lässt sich „Schweigt still die Nacht“ sehr entspannt<br />
lesen – immer mit kleinen Pausen zwischendrin, damit man<br />
das bisher Gelesene sich erst mal auf den Boden setzen<br />
lassen kann.<br />
Chris P<br />
JODI PICOULT –<br />
IN DEN AUGEN DER ANDEREN<br />
Diverse Sprecher (2011)<br />
(Lübbe Audio)<br />
Ein Autist unter Mordverdacht?<br />
Der hochintelligente Jacob Hunt, der<br />
ein Faible für Kriminaltechnik hat, leidet unter dem Asperger-Syndrom<br />
und seine Mutter Emma tut alles Erdenkliche<br />
für ihn, damit sein routinierter Tagesablauf nicht gestört wird<br />
und dass alles, was er hasst – wie zum Beispiel die Farbe<br />
orange – vermieden wird. Selbst die Speisen folgen einem<br />
Schema: Sie müssen montags grün sein, dienstags rot. Alle<br />
haben sich nach seinen „Macken“ zu richten, und das sorgt<br />
natürlich für einige Reibereien. Jacobs Sonderstellung ist<br />
besonders für seinen Bruder Theo kaum zu ertragen, da dieser<br />
hierdurch häufig in den Hintergrund gedrängt wird. Aber<br />
letztendlich akzeptiert sein Umfeld ihn, denn schließlich<br />
kann er ja nichts für seine Krankheit.<br />
Seine Erzieherin Jess wird eines Tages tot aufgefunden und<br />
Jacob gerät durch eine undurchsichtige und extrem schlechte<br />
Beweislage in das Visier der Ermittler. Mit Hilfe seiner<br />
Mutter kämpft er gegen die Mühlen der Justiz und für die<br />
Rechte andersartiger Menschen.<br />
Grundsätzlich ist dies nicht Picoult’s bester Roman und in<br />
Druckform mag er vielleicht gar nicht mal so prickelnd beim<br />
Leser ankommen. Aber das Entscheidende ist oftmals das<br />
„Wie“, und dieses wertet den Roman in Hörbuchform irrsinnig<br />
auf: Fünf verschiedene Sprecher (Nicolas Artajo als Jakob,<br />
Maximilian Artajo als Bruder Theo, Irina Scholz als Mutter<br />
Emma, Philipp Schepmann als Anwalt Oliver sowie Rolf<br />
Berg als Detective Rich) bringen die Ineinanderverzahntheit<br />
und den Multiperspektivismus der fünf Erzählebenen grandios<br />
zur Geltung, so dass man recht bald in den Bann der einzelnen<br />
Charaktere gezogen wird, zumal die Stimmen kaum<br />
besser hätten gewählt werden können. Eine imaginäre Visualisierung<br />
des Geschehens und der einzelnen Figuren wird<br />
hierdurch extrem vereinfacht, man ist sofort „drin“, und gerade<br />
das ist ja oftmals der Knackpunkt bei Hörbüchern. Der<br />
Erfolg, den das Hörbuch derzeit zu haben scheint, ist also –
zumindest aus subjektiv empfundener Position<br />
– gerechtfertigt.<br />
Chris P<br />
RALF SCHMITZ –<br />
SCHMITZ’ MAMA<br />
(ANDERE HABEN<br />
PROBLEME, ICH HAB’<br />
FAMILIE)<br />
Autorenlesung (2011)<br />
(Argon Hörbuch)<br />
Komiker und (Hör-)Bücher. Das geht oftmals<br />
gnadenlos in die Hose. Dass Ralf Schmitz diesbezüglich<br />
eine rühmliche Ausnahme ist, bewies<br />
er bereits mit „Schmitz’ Katze – Hunde haben<br />
Herrchen, Katzen haben Personal“ nachhaltig.<br />
In jenem Buchdebüt erzählte der offensichtlich<br />
dauergutgelaunte, 1,68 m große Turbo-Flummi<br />
herrlich unterhaltsam und beinahe in Form<br />
einer Biographie seines Lebens mit all seinen<br />
flauschigen, scharfkralligen Hausraubtierchen.<br />
Doch erst in Hörbuchform macht das Ganze so<br />
richtig Spaß, denn man merkt förmlich, wie der<br />
gebürtige Leverkusener voll in seinem Element<br />
ist und in seinen Erzählungen aufblüht. Man<br />
kann sich lebhaft vorstellen, wie er auf seinem<br />
Stuhl, auf und ab hüpfend, wild gestikulierend<br />
und grimassierend seine Erzählungen wiedergibt.<br />
Nun legt der umtriebige, auch als Schauspieler<br />
und Synchronsprecher aktive Sympath mit<br />
„Schmitz’ Mama“ eine weitere, 272 Minuten<br />
lange Semibiographie vor, in der er von sich<br />
und seiner Familie, besonders aber von Mutti<br />
erzählt. Es ist fast überflüssig zu erwähnen,<br />
dass dem Autor und Vorleser auch dieses Mal<br />
ein herrlich gefühlvoll vorgetragenes Werk gelungen<br />
ist, in dem sich ein Lacher an den nächsten<br />
reiht. Und man kann beinahe mitfühlen,<br />
wie Klein Ralfi, beziehungsweise der später<br />
(geringfügig) größere Ralf in sämtlichen Situationen<br />
unter seiner Familie „leidet“, inklusive<br />
Situationskomik und Peinlichkeiten. Denn<br />
sind wir mal ehrlich: Irgendwie hat man all diese<br />
Erfahrungen doch selbst auch machen dürfen.<br />
Nicht selten muss man augenrollend und<br />
grinsend energisch Luft einsaugen, langsam<br />
nicken und sich sagen: „Hach ja... genau so.<br />
Ge-nau so!“. Die streitenden Eltern im Auto,<br />
während man auf der Rückbank tausend Tode<br />
stirbt. Oder man war krank und Mama schaute<br />
alle zehn Minuten am Bett vorbei, ob denn<br />
wirklich alles in Ordnung sei. Oder: „Holst<br />
du mal eben bitte den Dingens aus der Dingens?“...<br />
Oder die hoffnungslosen Versuche,<br />
Muttern die moderne Technik zu erklären. Oder<br />
das erste Mal woanders schlafen. Oder Mamas<br />
sechster Sinn. Ihre Umräumaktionen. Ihre<br />
Lebenshilfe. Ihre kulinarischen Unfälle. Oder<br />
Weihnachten. Oder, oder, oder. Hierbei ist es<br />
einfach zu köstlich, wie Schmitz sich bei alledem<br />
aufregt, so dass man glauben könnte, der<br />
Arme sei im Tonstudio mehrmals dem Herzinfarkt<br />
nahe gewesen, und das setzt der ohnehin<br />
schon enorm spaßigen Angelegenheit das berühmte<br />
Sahnehäubchen auf. Besser geht audioliterarische<br />
Unterhaltung kaum noch.<br />
Chris P<br />
ANTHONY E. ZUIKER<br />
& D. SWIERCZYNSKI –<br />
LEVEL 26<br />
(DARK ORIGINS)<br />
Gelesen von<br />
Udo Schenk (2009)<br />
(Lübbe Audio)<br />
Serienfans und -junkies dürften beim Lesen<br />
des Namens des erstgenannten Autoren bereits<br />
interessiert die Stirn in Falten legen, wenn<br />
sie nicht eh schon vertraut mit seinen Kriminalromanen<br />
sind, denn der US-Amerikaner hat<br />
sich durch zahlreiche Drehbücher für sämtliche<br />
drei CSI-Ableger sowie als Produzent dieser<br />
Serien Kultstatus erarbeitet. Nun möchte Zuiker<br />
wohl auch den Literaturdschungel aufrütteln<br />
und präsentiert sein Romandebüt „Level<br />
26 – Dark Origins“:<br />
Seit fast zwei Dekaden treibt der brutale Serienmörder<br />
Sqweegel, dessen Name er dem<br />
Geräusch seines Ganzkörper-Latexanzugs<br />
verdankt, sein Unwesen. Die Art und Weise,<br />
wie der irre Psychopath seine Opfer hinrichtet,<br />
ist grausam und extrem blutig. In den USA<br />
werden Gewaltverbrecher und Mörder in 25<br />
verschiedene Level kategorisiert, wobei Level<br />
eins für Zufallstäter gilt, Level 25 für Schlächter<br />
und Folterer. Doch Sqweegel ist brutaler<br />
als alles Dagewesene – für ihn wird Level 26<br />
definiert. Lange wird erfolglos Jagd auf ihn gemacht,<br />
doch nachdem die Bestie einen Menschen<br />
zur Strecke bringt, der Geheim-Connections<br />
zum Oval Office hat, entscheidet<br />
der Verteidigungsminister der Staaten, den<br />
früheren Geheimagenten Steve Dark zu reaktivieren.<br />
Diesem nahm das Latexmonster<br />
vor vielen Jahren das Leben seiner Pflegeeltern,<br />
wodurch Darks Fall der wohl emotionalste<br />
seiner gesamten Karriere ist. Eine erbitterte<br />
Jagd – seine zweite auf Sqweegel – beginnt<br />
und selbst herbe Rückschläge und persönliche<br />
Verluste halten ihn nicht von seiner Mission ab,<br />
diesen kranken, hochcleveren und angstfreien<br />
Wahnsinnigen auszuschalten.<br />
Die beiden Autoren wortzeichnen die Figuren<br />
der Story sehr präzise und plastisch auf die<br />
innere Leinwand und lassen den Rezipienten<br />
nicht nur die blutigen Szenarien betrachten,<br />
sondern gewähren ihm auch Einblicke in die<br />
Gedankenwelt der verschiedenen Charaktere.<br />
Ergänzt wird diese Story durch sogenannte<br />
„Cyberbridges“, die das Werk noch einmal<br />
vertiefend beleuchten, wobei im Internet unter<br />
www.level26.<strong>com</strong> Kurzfilme, Audioclips oder<br />
interaktive Inhalte mittels Code freigeschaltet<br />
werden müssen.<br />
Die Idee ist große Klasse, nur gelingt es Zuiker<br />
nicht ganz, die Spannung so sehr aufrecht zu<br />
erhalten, wie es ihm in seinen CSI-Serien gelingt,<br />
und auch die Story ist weniger originell, als<br />
man es eigentlich erwarten würde. Wenngleich<br />
„Level 26 – Dark Origins“ solide Krimi-Kost<br />
ist, mag sich keine grenzenlose Begeisterung<br />
einstellen, da vieles trotz spürbar herzblutgetränkter<br />
Details und Mini-Cliffhanger ein wenig<br />
profan erscheint. Da auch die filmischen Internetbeiträge<br />
(unter anderem besetzt mit Daniel<br />
Buran, Michael Ironside, Ava Gaudet, Tauvia<br />
Dawn, Bill Duke und Daniel Browning Smith)<br />
bei weitem nicht die Qualität des „Originals“<br />
erreichen, bleibt ein wenig Enttäuschung zurück<br />
– was aber anhand der außerordentlich<br />
hohen CSI-Standards fast abzusehen war. So<br />
kann man dieses Hörbuch, das hervorragend<br />
von Synchronsprecher und Schauspieler Udo<br />
1717<br />
2010 I #31 2012 I Edition I #35 I PaperONE Hörbuch 17<br />
Schenk vorgetragen wird, nicht unbedingt im<br />
Hörkrimi-Olymp verorten. Da ein verständlicher<br />
Stil und eine überwiegend lineare Storyline<br />
vorliegen, verarbeitet sich das sechs CDs<br />
starke Konglomerat aus Gemetzel und Wahnsinn<br />
allerdings sehr leicht, wodurch der Hörer<br />
eher unterhalten als gefordert wird. Und letztendlich<br />
muss so etwas auch mal sein. Daumen<br />
zu 45° nach oben.<br />
Chris P<br />
ANTHONY E. ZUIKER<br />
& D. SWIERCZYNSKI –<br />
LEVEL 26 (DUNKLE<br />
PROPHEZEIUNG)<br />
Gelesen von<br />
Udo Schenk (2011)<br />
(Lübbe Audio)<br />
Es ist unschwer zu erkennen, dass dieses (Hör-)<br />
-Buch gewissermaßen die Fortsetzung von<br />
„Level 26 (Dark Origins)“ ist. Nachdem Ermittler<br />
Steve Dark den grausamen Killer Sqweegel<br />
stoppen konnte und ihn, nachdem ihm die<br />
Sicherungen durchgebrannt sind, aufs Grausamste<br />
hinrichtete, fällt er in ein psychisches<br />
Tief. Dark quittiert den Dienst. Doch es dauert<br />
nicht lange, und ein neuer Killer ist unterwegs.<br />
Einer, der seine Opfer nach Tarot-Motiven tötet.<br />
Der eigentlich darauf angesetzte Hüter des<br />
Gesetzes gerät schnell an seine Grenzen, und<br />
das bemerkt Steve Dark. So bleibt diesem gar<br />
nichts anderes übrig, als einmal mehr wieder<br />
selbst aktiv zu werden und den Serienmörder<br />
auszuschalten. Ihm fehlen allerdings die finanziellen<br />
Mittel. Eines Tages nimmt eine eigenartige<br />
Frau Kontakt zu ihm auf, die von ihm verlangt,<br />
exklusiv für sie Serienkiller zu jagen; und<br />
zwar ohne Budgetbegrenzung und ohne Respekt<br />
vor Moral und Justiz. Eine gefährliche,<br />
ereignisreiche Jagd beginnt und für Dark wird<br />
diese zu einem wahren Spießrutenlauf, während<br />
welchem auch er selbst in das Fadenkreuz<br />
der Ermittlungen gerät.<br />
Diejenigen, die erwarten, dass der zweite „Level<br />
26“-Teil noch brutaler, noch heftiger, noch<br />
höher/schneller/weiter als der erste ist, werden<br />
eventuell etwas enttäuscht sein. Denn es<br />
ist eher das Gegenteil der Fall – der Fokus ist<br />
nicht mehr ganz so sehr auf das Blutige gerichtet,<br />
bestimmten anderen Faktoren werden<br />
hingegen höhere Prioritäten zugeordnet. Stellenweise<br />
werden zum Beispiel die Psyche von<br />
Dark sowie die diverser anderer Charaktere intensiver<br />
beleuchtet. An sich haben wir es hier<br />
mit einem wirklich guten Hörbuch-Thriller zu<br />
tun, der schlichtweg einen anderen Weg einschlägt<br />
als man eventuell vermutet hätte. Doch<br />
während Sprecher Udo Schenk auf dem vorangegangenen<br />
Werk richtige Klasse abgeliefert<br />
hatte und seine Stimme wie ein Sog wirkte,<br />
scheint er bei „Dunkle Prophezeiung“ mit nicht<br />
ganz so viel Leidenschaft an die Arbeit gegangen<br />
zu sein, denn hin und wieder fällt das kontinuierliche<br />
Zuhören ein wenig schwer. Daher<br />
erschlafft der Daumen im Vergleich zum ersten<br />
„Level 26“-Roman ein wenig und neigt sich um<br />
5-10° nach unten. Was allerdings nicht heißen<br />
soll, dass Zuikers zweiter Roman, der ebenfalls<br />
durch Cyberbridges auf www.level26.<strong>com</strong><br />
ergänzt wird, nicht von überdurchschnittlicher<br />
Qualität ist. Da wäre schlichtweg mehr drin gewesen.<br />
Chris P
18 Excuse Me Fire I #35 I 2012<br />
EMF: „Wir hatten eigentlich entschieden, auf<br />
Wettbewerbe künftig zu verzichten, nachdem<br />
wir bei Emergenza mitgemacht haben...<br />
nN: ...pfui Deibel...!!!<br />
Leider wussten wir das erst danach, nachdem<br />
man Perlen vor die Säue geworfen<br />
hatte, dass das vielleicht nicht die richtige<br />
Entscheidung war. (Lachend) Laut Stimmenanzahl<br />
waren wir zweitschlechteste Band<br />
Münchens.<br />
Also habt Ihr Euch geweigert, als Versicherungs-<br />
bzw. Eintrittskartenvertreter in<br />
eigener Sache tätig zu werden. Ihr habt<br />
nicht in deren Sinn funktioniert!<br />
Ja, genau. Unser Schlagzeuger Julian ist dann<br />
drauf gekommen, dass es noch einen weit<br />
besseren Wettbewerb gab...<br />
Ich würde Euch ja zum Sprungbrett im Feierwerk<br />
raten, der von der Stadt München<br />
getragen wird, das ist dann auch seriös.<br />
Emergenza, das geht ja gar nicht.<br />
Ja, solche Überlegungen haben wir nun auch.<br />
Band des Jahres in München 2012 würde<br />
sich doch cool anhören. Und, also, wie lief<br />
das jetzt?<br />
Es waren drei Clubs, u. a. das Village in<br />
Habach...<br />
...der alte Blueserschuppen.<br />
EMF: Genau.<br />
Ach, und da habt Ihr dann als Sieger auch<br />
aufgenommen? Da haben doch bestimmt<br />
die Blueser um Euch rumgesessen und<br />
Euch erklärt, wie Musik geht.<br />
EMF: Ja, einer! Aber man hat sich da auch<br />
wirklich toll um uns gekümmert!<br />
Ganz ordentlich vorbereitet kamen sie zu den<br />
Takes, So nahmen sie nicht nur ’ne EP auf,<br />
wie eigentlich beabsichtigt, nein, sie haben in<br />
4 Tagen eine Full-Length-Scheibe reingeklopft.<br />
Auf den Punkt! Abweichungen vom Plan allerdings<br />
und so ganz grundsätzliche Entscheidungen,<br />
die brauchen bei den Indierockern.<br />
Man entscheidet nämlich streng basisdemokratisch,<br />
auch wenn das Zeit kostet. Die<br />
Macht des Vetos. Siehe EU. Und jeder soll<br />
sich auch in jedem Song wiederfinden, wobei<br />
inzwischen die verschiedenen Ansätze nicht<br />
mehr durch die unterschiedlichen Songs nur<br />
nebeneinander stehen, sondern – auch in<br />
längeren Kompositionen – die verschiedenen<br />
Pole aufeinander zu entwickelt werden. Die<br />
Experimentierfreude gehört hier zur Grund-
Excuse Me Fire I #35 I 2012 19<br />
EXCUSE ME FIRE –<br />
DIE ANGESCHRÄGT ROCKENDE BASIS-<br />
DEMOKRATIE<br />
Ich hab mich mal wieder in ‘ne Band verknallt.<br />
Und wenn das so ist, dann muss geredet werden. Vier Jungs aus<br />
dem Münchner Indie-Vorgarten, alle aus dem gleichen Kaff, in<br />
dem nach langem Kampf kein Platz für ein autonomes Jugendzentrum<br />
mehr war. Außer dem Drummer waren alle da.<br />
Vorgeschichte des Albums: Sie gewannen einen südbayerischen<br />
Bandwettbewerb und konnten es sich so leisten, einige Tage in<br />
einem professionellen Studio aufzunehmen...<br />
ausstattung. Und der Widerwillen gegenüber<br />
zu gerade-berechenbaren Songs... Aber,<br />
Hand aufs Herz...<br />
Wie viel Prozent der Schrägen klingen<br />
so, weil es gewollt war, und wie viel ist<br />
passiert?<br />
Das ist unglaublich schön, dass Dir das aufgefallen<br />
ist. Ich mach gerade das Info zur Platte<br />
und das hat vor allem auch mit Ecken und<br />
Kanten zu tun... Die schrägen Töne, Disharmonien,<br />
die brauchen wir!!! All die normalen,<br />
klaren, reinen Töne, wenn da nichts mehr<br />
hakt, knallt, das kennt man doch aus den<br />
ganzen 08/15-Radiosendern, die spielen doch<br />
diese ganze überproduzierte triviale Musik.<br />
Nönönö, trivial sind Excuse Me Fire nun wirklich<br />
nicht, Und so mutig es ist, die Abweichler<br />
zu geben und das auch noch neu zu definieren<br />
und das nicht kopfgesteuert zu machen,<br />
sondern garagendancegroovekompatibel,<br />
und das in dem zarten Twenty-and-a-bit-Alter,<br />
ja, ich komm wieder ins Schwärmen. Siehe<br />
oben. Wir verfolgen das für Euch weiter.<br />
Andrasch Neunert
20 Radiozeug I #35 I 2012<br />
Michael<br />
Klein<br />
Bojan<br />
Wilytsch<br />
DIE CHARTS -<br />
SELBSTGEMACHT<br />
In der letzten Ausgabe unseres Heftes hatten wir uns bereits mit dem Thema<br />
Charts beschäftigt, also mit den Charts, die man „so kennt“ und kamen zu der<br />
Erkenntnis, dass die eigentlich keiner braucht, weil die eh nicht die Realität<br />
im Sinne von „Beliebtheit“ abbilden. RADIOZEUG bietet nun „automatische<br />
Playlisten durch die Auswertung von im Radio gespielter Musik“ – guter Ansatz,<br />
die Charts zeigen hier schließlich genau das, was die Leute hören, respektive<br />
mögen, oder?! Wir haben mal bei Michael Klein, dem Initiator von RADIOZEUG,<br />
nachgefragt, was es mit der ganzen Sache denn auf sich hat …
nN: Was machst Du mit Deinen Charts,<br />
die ja zunächst mal reine Radiocharts<br />
sind, anders und warum macht das aus<br />
Deiner Sicht Sinn?<br />
Michael: Wir versuchen zunächst, durch<br />
die gezielte Auswahl von Radiosendern<br />
für junge Leute eben genau diese Klientel<br />
anzusprechen. In Zukunft erweitern wir auch<br />
die Anzahl der aufgenommenen Sender, also<br />
derjenigen Stationen, deren Airplays in unsere<br />
Charts mit einfließen sollen, sukzessive.<br />
Der Besucher kann mit ein paar Werkzeugen<br />
die Charts sogar weiter individualisieren. Ein<br />
paar dieser Funktionen gibt es bereits, so<br />
kann er „seine“ Charts in Bezug auf seinen<br />
Lieblingssender, Lieblingsinterpreten und<br />
Lieblingssongs einerseits, aber auch nach<br />
Genre und Musikrichtung auswählen.<br />
Wie muss man sich das technisch vorstellen,<br />
wie funktioniert das?<br />
Bei der Web-App, also der Software „Radiozeug“,<br />
laufen mehrere Prozesse gleichzeitig<br />
ab, die regelmäßig wiederholt werden.<br />
Einer der wichtigsten ist es, herauszufinden,<br />
welcher Track aktuell bei den Radiosendern<br />
läuft. Songname und Interpret werden dann<br />
gespeichert, mit Datum und Uhrzeit versteht<br />
sich. Dadurch können wir natürlich feststellen,<br />
wann welche Songs wie oft gespielt<br />
werden. Gleichzeitig versuchen wir, sinnvolle<br />
Informationen im Netz zu finden, wir schauen,<br />
was auf Musik-Plattformen wie „last.<br />
fm“, „Soundcloud“, „Youtube“, „Tape.tv“<br />
und ähnlichen Seiten so zu finden ist und verbinden<br />
diese Informationen mit dem Song.<br />
All das findet der Besucher dann gesammelt<br />
und ganz bequem auf unserer Plattform vor.<br />
Wenn die Software den Track selbst<br />
„entdeckt“, dann sollten zum Beispiel<br />
„Rechtschreibfehler“ ja unbedingt vermieden<br />
werden …<br />
Ja, das ist unter anderem ein wichtiger<br />
Punkt. Noch nicht alles funktioniert perfekt,<br />
alles befindet sich in einem ständigen<br />
Entwicklungsprozess. Man muss letztendlich<br />
sagen, dass sich die Web-App noch im<br />
Anfangsstadium der Entwicklung befindet,<br />
daher wird der Besucher auch hier und da<br />
noch ein paar Fehler bemerken. Hier haben<br />
wir ein eigenständiges Feedback-System<br />
entwickelt, dort können Besucher anonym,<br />
direkt und öffentlich Verbesserungsvorschläge<br />
einreichen und somit am Portal mitwirken.<br />
Bitte erkläre mal kurz „Web App“ ...<br />
Eine Web-App wird vom Benutzer mittels<br />
seines Browser aufgerufen und soll sich wie<br />
ein installiertes Programm beziehungsweise<br />
eine „App“ auf dem eigenen Gerät – dies<br />
kann zum Beispiel ein „Smartphone“ sein<br />
– bedienen und nutzen lassen. Diesen Weg<br />
wollen wir mit „Radiozeug“ gehen.<br />
Welche Radiostationen sollen denn letztlich<br />
in die Chart-Ermittlung einbezogen<br />
werden und welche nicht?<br />
Momentan sind es noch recht wenige Radiostationen.<br />
In Zukunft wird die Anzahl noch<br />
weiter wachsen. Die konkrete Auswahl hängt<br />
davon ab, ob sich hinter dem Radiosender<br />
eine weitgehend professionelle Redaktion<br />
befindet und ob diese mit ihrer Musikauswahl<br />
eine Zuhörerschaft gewinnen konnte.<br />
Dabei ist es dann auch fast unerheblich, ob<br />
es sich um ein Web-Radio, Podcast oder ein<br />
anderes Format handelt. „Radiozeug“ versteht<br />
sich als „Musikportal zum Entdecken<br />
und Hören“. Daher gehen wir bereits jetzt<br />
einen Schritt weiter und versuchen, andere<br />
Charts – wie solche von „Soundcloud“ oder<br />
die der „Itunes-Podcasts“ – mit einzubeziehen.<br />
Ich muss nochmal auf die Auswahl derjenigen<br />
Sender zurück kommen,<br />
die in die Ermittlung der Charts einfließen<br />
sollen? Kann sich beispielsweise ein<br />
Sender auch bei Dir „bewerben“?<br />
Momentan handelt es sich noch, wie gesagt,<br />
um eine Auswahl von Radios, welche weitgehend<br />
junge Leute anspricht. Natürlich kann<br />
jeder sein Lieblingsradio einreichen oder aber<br />
die Radios wenden sich direkt an uns. Doch<br />
versprechen können wir momentan nichts,<br />
da es noch ein paar technische Herausforderungen<br />
gibt, bevor wir eine größere Zahl an<br />
Sendern aufnehmen können.<br />
Was genau verstehst Du unter „weitgehend<br />
professionelle Redaktion“,<br />
diese Formulierung hattest Du gerade<br />
gewählt …?<br />
Damit meine ich eine ein- oder mehrköpfige<br />
Redaktion, welche sich ernsthafte Gedanken<br />
darüber macht, wann welche Musik gespielt<br />
wird, welche in das Programm aufgenommen<br />
und welche aussortiert wird. Es gibt<br />
ja viele Web-Radios, die einen Großteil der<br />
Sendezeit eine einzige Playlist immer wieder<br />
durchlaufen lassen.<br />
... was, zugegebenermaßen, das Bild<br />
nicht unerheblich verzerren würde.<br />
Denkst Du da eventuell auch an eine „Gewichtung“,<br />
also das Airplay im „öffentlich<br />
rechtlichen“ Radio wird beispielsweise<br />
höher bewertet als das irgendeines<br />
„Onliners“?<br />
Ich denke nicht, dass das genutzte „Sendemedium“,<br />
also Funk oder Internet, etwas<br />
über die Wertigkeit der von der Redaktion<br />
getroffenen Auswahl der Musik aussagt. Vielmehr<br />
ist es denkbar, die Radiostationen nach<br />
der Anzahl ihrer Zuhörer einzuordnen. Denn<br />
scheinbar findet ja ein populärer Sender mehr<br />
Anklang bei den Musikfans als ein anderer.<br />
Darin sehe ich aber auch eine gewisse<br />
Gefahr; so glaube ich, dass große „öffentlich-rechtliche“<br />
Sender über das normale<br />
„Ätherradio“ vor allem auch deshalb<br />
gehört werden, weil sie, je nach Sendegebiet,<br />
einfach besser zu empfangen sind.<br />
Ich höre beispielsweise lieber WDR 5 als<br />
Radiozeug I #35 I 2012<br />
WDR 2, bekomme letzteres aber einfach<br />
besser rein …<br />
Da stimme ich dir zu – der gefürchtete Mainstream,<br />
der auch dadurch zustande kommt,<br />
dass ihn die Masse hört, und dies wiederum<br />
oft nur deshalb, weil er auf gut empfangbaren<br />
Sendern läuft und daher ständig präsent<br />
ist. Das objektive Bewerten von Inhalten<br />
ist keine einfache Herausforderung. Genau<br />
da sollen unsere Werkzeuge greifen, das<br />
Individualisieren der Charts ist ein wichtiger<br />
Punkt. Denn durch das Auswählen eines bestimmten<br />
Interpreten oder Genres „taucht“<br />
man sozusagen in eine Unterkategorie ab<br />
und bekommt „seine“ Charts zu „seiner“<br />
persönlichen Auswahl.<br />
„Radiozeug“ könnte also durchaus auch<br />
den kleineren Indie-Bands die Chance<br />
bieten, ein Chart-Feedback zu bekommen.<br />
War das Dein Motiv für die Gründung<br />
von „Radiozeug“?<br />
Ich höre zu jeder Tages- und Nachtzeit<br />
Musik, und in jedem Zimmer meiner Wohnung<br />
habe ich Lautsprecher meiner Anlage<br />
hängen. Ich hörte im Laufe einiger Tage<br />
immer wieder die gleichen, neuen und interessanten<br />
Sachen, hatte aber mein Handy<br />
mit „Shazam“ (ein Musik-Erkennungsdienst<br />
für „Smartphones“, die Red.) nicht immer zur<br />
Hand. Da wurde die Idee geboren – und heute<br />
haben wir bereits mehr als nur die „Top-<br />
Neueinsteiger der Woche je“ Radiosender.<br />
Gibt es die Idee, die Sache so zu „professionalisieren“,<br />
so, dass Du auf Dauer<br />
selbst davon leben kannst?<br />
Ich gehe nicht unbedingt davon aus, dass<br />
auf Anhieb bei uns so alles klappt. Vielmehr<br />
betrachten wir das Ganze zunächst als ambitioniertes<br />
Projekt, welches weiter verfeinert<br />
werden und reifen muss. Mit ausreichend<br />
Geschick wird es dann sicher auch finanziell<br />
Früchte tragen.<br />
Keule<br />
www.radiozeug.de<br />
21
22<br />
Highlights I #35 I 2012<br />
ARARAT - II<br />
(Elektrohasch)<br />
Sergio Chotsourian, Alfredo<br />
Felitte, Santiago Chotsourian<br />
und Haien Qiu sind anders.<br />
Ein Nebenprojekt zu Los<br />
Natas: Die waren ja schon bekannt in der Elektrohasch-Stonerfamilie,<br />
die sich zum internationalen<br />
Netzwerk entwickelt hat. Und das hier ist nun eine<br />
wirklich allertiefste Psychedelic-Sause für Fortgeschrittene,<br />
für die man keine Drogen braucht, weil<br />
sie die Droge ist. Verrätselt, lakonisch, in Zeitlupe<br />
implodierende Klangkörper, und doch noch<br />
Rock. Aus Granit. Dazu muss als Bild Gebirge<br />
her, ganz kitschig, mit Hilfe vom alten Carlos Casteneda.<br />
Die Musiker, die im strömenden Regen<br />
El Ninos auf den Bergen stehend die Arme ausbreiten,<br />
sich verwandeln und talwärts fliegen, sich<br />
in den Sturmwolken treiben lassen, sich mit ruhig<br />
schwingenden Bewegungen dem Wind anpassen,<br />
mit ihm zu fließen scheinen.<br />
Oder wir da unten, die wir im Regen den Adler<br />
doch zu spüren glauben, da ganz oben, die wir<br />
unsere Hände in der Quelle waschen, zueinander<br />
finden ohne Hintergedanken in kühlen Nächten.<br />
Wie viel Verzweiflung steckt in dieser Raum<br />
schaffenden Musik? Wie viel Eskapismus? Oder<br />
geht es darum, auch musikalisch Orte der Kraft<br />
zu erschaffen, wenn sie den Indios schon in den<br />
Regenwäldern die heiligen Orte nehmen? Quellen<br />
der Kraft, Spaceclouds der Unangreifbarkeit?<br />
Ist das, was so eskapistisch daherkommt, also alles<br />
andere als das? Ist es die nötige Verortung widerständiger<br />
Identität, ein musikalisch definierter<br />
Kraftraum, ein Mysterium, ein Talisman aus Tönen,<br />
ist es zu Klang verdichtete Hoffnung?<br />
Klagelieder, Lowtemp-Härteriffs, Rückkopplungen,<br />
verhallte Pianoschönheiten und drohende<br />
Geräusche als Antithese zu purer Schönheit als<br />
Möglichkeit von Wahrheit. Kontrapunkte und doch<br />
die Chance zur Poesie – nie mehr störungsfrei<br />
denkbar, im Angesicht der weltweit täglichen Toten<br />
auf unserer Rechnung.<br />
Diese Musik ist tief, schön, sperrig, eine Zumutung.<br />
Und doch wirkt sie auf mich heute Abend<br />
wie die Einladung zu einem universal gestrickten<br />
Netzwerk gegen die Vereinsamung derer, die die<br />
Zeichen an den Wänden zu deuten verstehen.<br />
Für mich die wichtigste Platte des noch jungen<br />
Jahres. Für die ich dankbar bin.<br />
Andrasch Neunert<br />
BOY ANDROID –<br />
WALK / RUN / FLEE<br />
(Stickman Records/ Indigo<br />
Ach, ist das verdient. Haben die<br />
liebevollen Münchner das genau<br />
richtige Label gefunden, die gern<br />
mal klingen wie die selige dem Mond zugewandte<br />
Seite der Smashing Pumpkins an den sanfteren<br />
Tagen, wenn sie Gas geben - inzwischen. Gefühlvoll,<br />
aber nie pathetisch. Intim, aber nie privatistisch.<br />
Mit dem alten Mut zu großen Spannungsbögen,<br />
aber neuer kluger Selbstbeschränkung<br />
in der Ausformulierung. Kraftvoll und zugleich filigran.<br />
Jetzt noch ein bisschen Glück und einen<br />
fetten Promo-Etat und aufmerksame Hörer unter<br />
den Multiplikatoren, die die witzig versteckten<br />
Stolpersteine in Uptemp-Schlagzeugparts als<br />
schrullig-pfiffige Eigenheit deuten, denen musikalische<br />
Umarmungen mit Widerhaken mehr bedeu-<br />
ten, als hohle Emo-Popbehauptungen von Gefühlen,<br />
die doch nur aus Schminke bestehen und<br />
mehr und mehr die Regale füllen. Ach Leute, was<br />
soll ich da sagen, das hier ist einfach scheißeschön<br />
und ich hör das noch x-mal und das solltet<br />
Ihr eigentlich auch tun, es macht Tage und Nächte<br />
fast aller Art ein bisschen besser. Und jetzt will<br />
ich in Ruhe dahinschmelzen. Nein, dieser Anschluss<br />
ist vorübergehend nicht erreichbar.<br />
Andrasch Neunert<br />
THE BUYABLE<br />
SLUTS WANTED<br />
FOR STEALING<br />
VIRGINITY –<br />
ANTACIDS<br />
(Sweet Home Records/<br />
Brokensilence)<br />
Es ist schon erstaunlich mit welcher traumwandlerischen<br />
Sicherheit es das Chemnitzer Label<br />
Sweet Home Records von Ausgabe zu Ausgabe<br />
schafft, mit immer neuen, jungen Bands zu überzeugen.<br />
Diesmal sind es drei Herren aus Zwickau,<br />
die mit einem Bandnamen zum Auswendiglernen<br />
und großen Indierockmelodien die große Sause<br />
machen. Alles fußt in den Neunzigern - der Dekade<br />
also, in der die Gitarren noch quietschen durften,<br />
das Experimentieren mit Stimmungen und<br />
Sounds noch nicht zu einem blindwütigen Plug In-<br />
Massaker verkommen war und Vieles noch aus<br />
dem Bauch heraus passierte. Die Dekade also, in<br />
der wir (mehr oder weniger) alle unsere musikalische<br />
Sozialisation erfahren durften. Vielleicht ist<br />
es gerade deshalb so erfrischend, den käuflichen<br />
Schlampen dabei zuzuhören, wie sie all das, was<br />
eigentlich von gestern ist, wieder neu beleben<br />
und mit einer provokanten Note aus Garage und<br />
Noise aufhübschen. Heraus gekommen ist ein<br />
Debüt, das – wie es bei käuflicher Liebe schließlich<br />
auch sein sollte - keine Wünsche offen lässt<br />
und das bedient, was der „Kunde“ wünscht. Seien<br />
es nun die abseitigen Vorlieben von Sonic Youth<br />
oder die derben Liebkosungen von Bands wie Dinosaur<br />
Jr., Sebadoh, Nirvana, Guided By Voices<br />
oder Pavement – all‘ die alten Helden haben hier<br />
ihren Platz in der Schlange und geben brav ihren<br />
Obolus ab. Bitte mehr davon. Bald!<br />
Jochen Wörsinger<br />
DEL MOE –<br />
DIE HIGH BUTTERFLY<br />
(Kahunah)<br />
Was da so klingt wie der<br />
nächste Hype von der Insel<br />
oder dem Land der tausend<br />
Unmöglichkeiten, wurde überraschenderweise von<br />
drei Südhessen fabriziert. Und selten gab es ein<br />
Album, das gleichzeitig so voller Hits und so voller<br />
Sperrigkeit ist. Beginnt der Langspieler noch<br />
mit einem widerlich-eingängig-schweinegeilen<br />
Sing-a-long-Song wie „Yeah“, tönt das folgende<br />
„Knew your Name“ erst wie<br />
Motörhead auf rückwärts gebürstet<br />
plus Stoner, um dann, nach kurzer<br />
Disco-Einlage wüstenkompatibel<br />
weiterzurocken. „Soju“ nach Pop<br />
und Groove, dann wieder Dreck unter<br />
den Nägeln. „Carousel“ erfindet<br />
den fröhlichen Grunge, bei „Without<br />
Guns“ mutiert Ozzy zum totalen Hippie,<br />
so richtig mit Blümchen im Haar,<br />
„Hancock“ hingegen ist dann wieder<br />
Lynyrd Skynyrd mit Eiern und<br />
die Überraschungskiste ist auch<br />
erst mit dem letzten Song vollständig<br />
geplündert. Aber nun<br />
alles zu verraten, wäre ja<br />
auch doof... Chris P<br />
KEVIN DEVINE<br />
– BETWEEN THE<br />
CONCRETE AND<br />
CLOUDS<br />
(Arctic Rodeo<br />
Recordings/Alive!)<br />
S<br />
Kevin Devine ist zurück! Und er hat<br />
uns eine Riesenwundertüte Musik<br />
mitgebracht! Mit neuem Ansatz,<br />
bei dem seine Begleitband auch im<br />
Songwriting eine größere Rolle spielt,<br />
weg vom lone wolf und „Band-Diktator“,<br />
wandelt er hier auf definitiv pompöseren<br />
Pfaden und räubert zudem<br />
auch mal unverblümt in Indie-Gefilden<br />
auf der guten Seite der Macht; darf er<br />
auch. Gehört da ja ebenso hin. Kostprobe?<br />
„The First Hit“, vor allem „Between<br />
The Concrete And Clouds“ oder<br />
„Wait Out The Wreck“ hätten auch<br />
wunderbar auf eine Nada Surf-Platte<br />
gepasst, „Awake In The Dirt“ schielt<br />
sogar nostalgisch gen selige Pavement,<br />
die sich ja jüngst zu einzwei<br />
Reunionskonzerten (ohne erneute gemeinsame<br />
Bandzukunft?) zusammenfanden...<br />
Das mit Nada Surf ist schnell<br />
erklärt, war Kevin doch mit den Jungs<br />
auf Tour und guckte sich sicher das<br />
eine oder andere Riff und die eine<br />
oder andere Melodieführung ab. Dazu<br />
äußert er sich selbst, dass er aufgehört<br />
hat, krampfhaft anders zu sein<br />
und auch Songs zulässt, die an andere<br />
erinnern – denn seine persönliche<br />
Note kommt so oder so durch, findet<br />
man so oder so in jedem Song.<br />
Gut, namedropping erledigt, zurück<br />
zum Wesentlichen. Herr Göttlich (mit<br />
Schreibfehler) ist nun mal mit einem<br />
ausgesprochen treffsicheren Händchen<br />
gesegnet, was hymnenhafte<br />
Melodien mit ganz großem Gefühl<br />
angeht. Dazu versteht er es vortrefflich,<br />
nach einem Midtempo-Rocker eine<br />
eher ruhigere Nummer oder ein 60s-<br />
Stück zu bringen, um die
Spannungskurve des gesamten Werkes zum<br />
einen ausgeglichen, zum anderen auf Anschlag<br />
zu halten.<br />
Am Anfang war ich eher skeptisch ob des<br />
ganzen Pomps und der Klang-Dichte – schielt<br />
er doch in ein paar Passagen definitiv gen<br />
Stadion-Rock – jetzt kann ich gar nicht genug<br />
davon kriegen. Mehr davon!<br />
Matthias Horn<br />
FLARE ACOUSTIC ARTS<br />
LEAGUE - BIG TOP /<br />
ENCORE (Doppel-EP)<br />
(Affairs Of The Heart/Indigo)<br />
Wieder so ein schwieriges<br />
Thema, für das unser Label-Geburtstagskind<br />
(es sind nun 5 Jahre, siehe Artikel) nun<br />
mal ein besonderes Herz hat. Mr. LD Beghtol<br />
eignet sich nun mal nicht fürs große Medienspiel,<br />
für grellbunte Überschriften. Er schreibt<br />
einfach gute, unspektakulär schöne Songs<br />
mit Hirn, die sich auf sehr ähnliche Form in<br />
die Gehirnwindungen einnisten, wie kompliziertere<br />
Beatles-Songs. Und - besonders<br />
schön - Dana Kletters glockenhelle Stimme<br />
(einst sang sie für Hole die Parts, die für<br />
Courtney Love zu hoch waren, nur kriegte sie<br />
bis heute leider nichts von den Tantiemen ab,<br />
da konnte die verliehene Schallplatte für Hole<br />
noch so Gold sein..., pfui Spinne!) erklingt<br />
hier gern auch mal, schließlich ist die Arts<br />
League hier keine Konkurrenzveranstaltung,<br />
sonder ein kunterbuntes Künstlerkollektiv.<br />
Und so viele KollegInnen wissen auch, was<br />
gut ist und machen hier mit, von der Cellistin<br />
Julia Kent (Anthony & The Johnsons & Devendra<br />
Banhart) über Jon DeRosa von Aarktika<br />
bis hin zum Spanier Remate und die von<br />
Sparklehorse und Mascott bekannte Kendall<br />
Jane Meade. Auch textlich ist das hier Referenzmaterial,<br />
entdeckt Beghtol doch immer<br />
wieder das Politische (die Morbidität scheinbar<br />
wohlanständiger bürgerlicher Fassaden)<br />
im Privaten und, seltener, das Private im Politischen.<br />
Wenn er halt ein bisschen eitler<br />
NEUES VON NOISOLUTION<br />
ANTLERED MAN – GIFTES 1 AND 2<br />
THIS <strong>LOVE</strong> IS DEADLY - SAME<br />
(beide Noisolution/Indigo)<br />
Was ist denn das? Gefährlich schlängelt sich<br />
eine Gitarre heran, der Bass schüttet Sandberge<br />
auf, dann bricht der Donner los, fast<br />
schon orientalische Rhythmen hüpfen irrlichternd<br />
durch die Luft und plötzlich wieder<br />
Stille. Der Break, der retardierende Moment,<br />
der alles auflöst, wieder auf Anfang setzt und<br />
den Wahnsinn anschließend erst so richtig<br />
freien Lauf lässt. Alles das kann man hören.<br />
Auf einer Länge von genau fünf Minuten<br />
und sechsundvierzig Sekunden. Wo? Beim<br />
Opener des Debütalbums von ANTLERED<br />
MAN – gegründet anno 2009, jedoch schon<br />
zuvor seit Ewigkeiten unter anderem Namen<br />
gemeinsam musikalisch unterwegs. Wer<br />
sich auf dieses Quartett aus London einlässt,<br />
wird sein wahres Wunder aus wilden Breaks,<br />
wär’. Mehr Gedöns um sich machen würde.<br />
Will er aber nicht. Noch ein Album mehr mit<br />
Geheimtippstatus? Er hätte doch mehr verdient...<br />
Die Welt ist ungerecht. Ein bisschen<br />
eitler nur. Ein bisschen sexier. Ja, ja, ich hör<br />
schon den Einwand, von wegen, auf Kosten<br />
der authentischen Vielgestaltigkeit, der Variabilität,<br />
und gerade das Uneitle und Markenzeichen<br />
und überhaupt, gut, ja, und das man<br />
schon zuhören muss, um die Tiefe erkennen<br />
zu können und im Autoradio wären das Perle<br />
vor die Säue. Und wenn schon: Einen vordergründigen<br />
Sergeant Pepper-Hit. Einen nur,<br />
damit der Rest mehr Aufmerksamkeit erfährt.<br />
Nur einen. Er kann es doch. Wie, den gibt es<br />
schon mit „Hideous Ethnic Stereotype“? Ach,<br />
ja. Ach, hör’s Dir doch selbst an, wie rätselhaft<br />
ungerecht die Welt ist.<br />
Andrasch Neunert<br />
MATT PRYOR – MAY DAY<br />
(Arctic Rodeo Recordings/<br />
Alive!)<br />
Wieder Arctic Rodeo Recordings!<br />
Und wieder ein Kandidat<br />
für die Highlights-Ecke. Kaum ein Label<br />
steht für einen treffsichereren Output, kaum<br />
ein Label hält das Qualitätsversprechen so<br />
konsequent ein, kaum ein Label hat in den<br />
den letzten Jahren die Nachfrage nach Singer/Songwriter<br />
und alten DIY-Helden in solch<br />
hohem Maße bedient.<br />
Jetzt also Matt Pryor - seines Zeichens Frontmann<br />
von The Get Up Kids. Die Platte weiß<br />
am besten in den ruhigen brüchigen Momenten<br />
zu gefallen, Anchecktipps hier: der<br />
Opener „Don‘t Let The Bastards Get You<br />
Down“ setzt gleich mal Maßstäbe deluxe –<br />
oder „Like A Professional“, wenn es sich so<br />
anfühlt, als ob Herr Pryor des Nächtens alleine<br />
in seinem Kämmerchen saß und sein Begleiter,<br />
eine volle Flasche Rotwein, gerade<br />
eben erst gegangen ist. Das Diktiergerät ruht<br />
auf einem Tisch im Kerzenschein und läuft<br />
einfach mal so in Aufnahme vor sich hin. Die-<br />
derben Rhythmuswechseln, noisigen Achterbahnfahrten<br />
und abgefahrenen Sounds erleben.<br />
Sie klingen nach Progressive Metal ohne<br />
wirklich Progressive Metal zu sein, sie klingen<br />
nach Industrial ohne wirklich Industrial zu sein,<br />
sie klingen nach Punk ohne wirklich Punk zu<br />
sein, sie klingen nach Psychedelic Rock ohne<br />
wirklich Psychedelic Rock zu sein. Ein Band<br />
zwischen allen Stühlen und dort fühlt sie sich<br />
sichtlich wohl; kann machen was sie will und<br />
jeder Hörerwartung genüsslich vor den Kopf<br />
stoßen. Die Band selbst spricht von einem<br />
Aufbrechen stilistischer Grenzen, die man sich<br />
einst selbst auferlegt hatte. Und so nahm man<br />
nach und nach verschiedene, selbstveröffentlichte<br />
Singles auf, die nun auf „Giftes 1 and 2“<br />
zusammen mit einigen zusätzlichen Tracks via<br />
Noisolution geballt auf uns losgelassen werden.<br />
Eine Songsammlung also, entstanden<br />
über mehrere Jahre. Vielleicht auch deshalb<br />
diese Vielfalt, dieses Sammelsurium an Ideen<br />
und Stilen. Man darf also gespannt sein, wie<br />
sich Antlered Man anhören, wenn sie mal „ge-<br />
2012 I #35 I Highlights 23<br />
se Purheit, das Rohe an für sich, bezeugt das<br />
große Talent, alleine schon mit dem Klang der<br />
Stimme ausschweifende Geschichten erzählen<br />
zu können, die so voller Emotionen sind,<br />
dass man aufpassen muss, bei sich zu bleiben<br />
und nicht in ferne entrückte Klanggebilde<br />
abzutauchen.<br />
Mit „Band“ im Rücken und Klavier im Kreuz<br />
klingt er teilweise wie eine verschollene „I am<br />
Kloot“-Session („Polish The Broken Glass“),<br />
und wenn er dazu noch die 60s/70s-Keule<br />
auspackt („Where Do We Go From Here“),<br />
erinnert er auf ganzer Linie an den genialen<br />
Brendan Benson zu dessen bester Zeit. Auch<br />
hier musste kurz das Namenwerfen stattfinden!<br />
Mit seinen Nebenprojekten (u.a.<br />
„The New Amsterdams“) wollte sich<br />
Matt schon immer mal vom Austoben<br />
seiner Hauptband austoben.<br />
In ruhigeren Klanggefilden. Mission<br />
succeeded! Als Randschlussnotiz<br />
sei noch darauf verwiesen, dass<br />
die gesamte Platte durch dieses<br />
moderne Crowdfunding finanziert<br />
wurde – komplett von Fans übernommen!<br />
Und dass Matt ein Mann<br />
der Fans ist, das ist hinlänglich bekannt!<br />
Jetzt bleibt nur noch, auf den Artikel<br />
über Matt in diesem noisy zu verweisen<br />
und das Fazit wirken zu lassen: Toll toll toll!<br />
Matthias Horn<br />
zielt“ (sic!) an einem Album arbeiten. Aber bis<br />
dahin bietet „Giftes 1 and 2“ noch genug Stoff<br />
für wirre Träume.<br />
Etwas getragener kommen da THIS <strong>LOVE</strong> IS<br />
DEADLY aus Berlin – die zweite Noisolution-<br />
Veröffentlichung des noch jungen Jahres – daher.<br />
Elegische Gitarrenteppiche, kleine elektronische<br />
Pinselstriche, wechselnder weiblich/<br />
männlicher Gesang, eine gehörige Portion<br />
Distortion-Rock mit einem Schlag Pop („Everything,<br />
Everything“) und fertig ist der Shoegazer-Traum<br />
aus Melodie und<br />
Krach, aus Dreampop-Passagen und rotziger<br />
Gitarrenverzerrung. Hier wird der Zwiespalt<br />
zur Eintracht, der Gegensatz zum Einklang gebracht<br />
und in Stahlwatte gepackt. Wie schon<br />
Herr von Lowtzow singt: Im Zweifel für den<br />
Zweifel, das Zaudern und den Zorn. So zerrissen<br />
das klingen mag. THIS <strong>LOVE</strong> IS DEADLY<br />
bringen es zusammen und binden eine dicke,<br />
rosa Schleife drum.<br />
Jochen Wörsinger
24<br />
Niels Frevert I #35 I 2012<br />
NIElS FREvERT: lIEDER, DIE BEGlEITEN<br />
Ach, der einstige Frontvorsteher der Nationalgalerie, der Prince Charming des Hamburger Schule-Chanson-<br />
traktes, guter Freund von Koppruch und Knyphausen, hat wieder eine neue Platte rausgebracht, die im Blätterwald<br />
mit bemerkenswerter Einigkeit über den vierblättrigen Klee gelobt wurde, da war das Lob vom Andrasch,<br />
nach zu lesen bei den Reviews, nur eines von vielen, aber dass er mit ihm sprechen wollte, als sich die Gelegenheit<br />
bot, na klar...<br />
nN: Du hattest ja einst in „Gemeinsame<br />
Sache“ die Chance, das Suchen miteinander<br />
zu teilen, als einen Sinn von Beziehung<br />
beschrieben. Inzwischen versprichst<br />
Du sogar, die Leichen gemeinsam zu<br />
verscharren. Solang’s nicht Deine ist, klar.<br />
Geht’s da um ’ne konkrete Beziehung, die<br />
es schon gibt, oder um eine, die Du Dir<br />
wünschst?<br />
NF: Weder noch. Du, das ist natürlich nur so<br />
halb aus dem eigenen Leben gegriffen. Klar<br />
spielen Themen, mit denen ich persönlich in<br />
Berührung komme, auch eine Rolle, aber 1:1<br />
könnte ich die niemals darstellen in meinen<br />
Texten. Da würde ich verkrampfen, da wäre<br />
ich ja befangen. Und zu der Zeile „Ich würde<br />
Dir helfen, eine Leiche zu verscharren...“, das<br />
hat Udo Lindenberg mal früher so formuliert:<br />
„Ich geh mit Dir durch dick und dünn, aber<br />
nicht durch dick und doof!“<br />
Ich hatte mir da noch dazu geschrieben:<br />
Wieso verscharren, nichts schweißt ’ne<br />
Beziehung so zusammen, wie gemeinsame<br />
Leichen im Keller. Und sei es nur das<br />
gemeinsame Bewusstsein, dass von der<br />
einstigen revolutionären Attitüde nichts<br />
übrig geblieben ist.<br />
(lacht): Das lass ich mal so stehen.<br />
Du warst aber auch schon mal ein<br />
bisschen kämpferischer, als Du es heute<br />
bist, auch wenn Du nie den Revoluzzer<br />
gegeben hast.<br />
Ich bin kein politischer Künstler, ich bin ein<br />
politisch denkender Mensch. Ich denke, dass<br />
man schon immer sehen konnte, dass ich<br />
vielen Dingen kritisch gegenüber stehe. Ich<br />
würd’ sogar eher sagen, dass ich mit der Zeit<br />
etwas kritischer geworden bin!<br />
Ich hab eher das Gefühl, dass so ’ne leise,<br />
ironische Wut immer mehr bei Dir hochkocht.<br />
Ich beschreibe Situationen, bin aber nicht der,<br />
der dann noch die Moralkeule rausholt.<br />
Und deckst den Mantel des Schweigens<br />
nicht mehr über das, was Du siehst!<br />
Nein, das seh’ ich ganz genauso, das ist das<br />
Album mit den Geschichten! Das hab ich<br />
auch gemerkt, nachdem ich so die ersten<br />
fünf, sechs Lieder für das Album geschrieben<br />
hatte... ‚Moment mal, die sind ja alle adressiert!’<br />
Dadurch bin ich auch auf den Titel des<br />
Albums gekommen, Zettel Auf Dem Boden<br />
– eben diese Nachrichten. Die man so hinterlässt.<br />
Wo so kleine, kurze Sätze drauf stehen,<br />
die manchmal lebensverändernd sind.<br />
Und dann wär’ da noch die Kiste Mineralwasser,<br />
die angeblich einen Quadratmeter<br />
Regenwald rettet. Deine Distanz zum ökologisch<br />
korrekten Gutmenschentum, oder?<br />
Du sprichst das Lied „1 qm Regenwald“ an,<br />
da geht es aber tatsächlich um den Besuch<br />
bei einem, fiktiven, Freund, der in die Hartz<br />
IV-Falle reingeraten ist, aber auch da gibt es<br />
nicht die Moral von der Geschichte, sondern<br />
es soll durch die Beschreibung der Situation<br />
rüberkommen, Mensch, Hartz IV ist kein<br />
Netz, das ist ’ne verdammte Falle.<br />
Die Menschen, die Du beschreibst,<br />
kämpfen fast immer darum, ihre Würde zu<br />
bewahren...<br />
Das ist ganz wichtig, heutzutage. Ob wirklich<br />
so viele Lieder von mir davon handeln, weiß<br />
ich nicht. Aber es geht im Leben wirklich<br />
in vielen Bereichen darum, seinen Stolz zu<br />
bewahren, Stolz nicht auf etwas Bestimmtes,<br />
sondern Stolz darauf, das eigene Selbstwertgefühl<br />
zu behalten. Das ist auch ein wichtiger<br />
Punkt in meinem Leben.<br />
Du hast ja auch nicht so ein starkes Sendungsbewusstsein,<br />
wie zum Beispiel ein<br />
Konstantin Wecker, der dann nach dem<br />
Motto von Günter Eich vorgeht, „Seid<br />
Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt!“<br />
Du, Konstantin Wecker ist natürlich ’ne ganz<br />
andere Generation als ich. Ich denke ja, dass<br />
man beim modernen Liedermacher, den<br />
nenne ich mal so, dass man bei dem auch<br />
neben den Liedern sehr gut ablesen kann,<br />
wo steht der, wie kritisch ist der. Was für<br />
Ansichten hat der. Ich weiß nicht, ob man das<br />
dann auch noch 1:1 in den Liedern singen<br />
muss, mir wäre das zu klar, zu eindeutig. Wobei,<br />
ich hab jetzt aber mit den letzten beiden<br />
Platten gemerkt, dass ich wohl auch auf dem<br />
richtigen Weg bin. Die letzten beiden Platten<br />
sind einfach sehr gut gelaufen...<br />
Ist da der Weg das Ziel, oder hat der Horizont,<br />
auf den Du da zugehst, schon ’ne<br />
Überschrift?<br />
Es ist nicht nur der Weg, es geht auch darum,<br />
wie man ihn beschreitet. Dass man am Ende<br />
des Tages auch noch in den Spiegel gucken<br />
kann. Ich bin natürlich nicht der, der jetzt Platz<br />
1 in den Charts will<br />
Ich fühl mich ja immer, wenn ich Deine<br />
Lieder hör, ein bisschen angekuschelt....<br />
Ich hätte jetzt umarmt besser gefunden. Aber<br />
wenn ich ein Ziel benennen kann, dann dass<br />
meine Lieder begleiten.<br />
Wie kam es eigentlich zu dem Herman van<br />
Veen-Cover auf der Platte?<br />
Das war so eine Art Mutprobe. Mich hat interessiert,<br />
wie klingt ein Lied von Herman van<br />
Veen, wenn man das rollende R weglässt.<br />
Ich hab mehrere Songs von ihm durchgehört<br />
und bin dann bei dem Lied „Bis jemand mich<br />
hört“ hängengeblieben. Das Lied hat immer<br />
noch so eine Relevanz zu heute. Man kann<br />
es fast so ein bisschen übertragen. Wobei,<br />
als Heranwachsender … Leute, die damals<br />
Herman van Veen hörten, die waren mir nicht<br />
so grün, muss ich sagen …<br />
Und ich fand ihn immer toll und die Leute<br />
um mich rum meinten, „Sonst hast aber<br />
einen guten Geschmack!“<br />
Ich fand’s ja interessant, aber seine spezielle<br />
Art zu singen, hat mich ein bisschen abgehalten.<br />
Den Meisten damals war es zu pathetisch.<br />
Ja, eben, und dieser Bildungsauftrag schimmerte<br />
immer durch.<br />
Hattest Du Kontakt zu ihm, bevor Du das<br />
Cover gemacht hast?<br />
Nein, gar nicht, wir haben nur einfach beim<br />
Verlag nachgefragt.<br />
Und dann ratschten wir noch über die anstehende<br />
Tour, über leicht angejazzte Arrangements,<br />
die Gäste auf der Platte... nur, so ganz<br />
in die Karten gucken lässt unser Hamburger<br />
Chansonnier sich ja nicht... Sei’s drum, das<br />
ist ja sein gutes Recht. In diesem Sinne:<br />
Dank für das Interview!<br />
Andrasch Neunert
Niels Frevert I #35 I 2012<br />
25
26<br />
reViews I #35 I 2012<br />
THE 4 EVAS – BREAK OUT<br />
(FinestNoiseReleases/Radar)<br />
Uninteressant ist das, was die<br />
vom Kalifornier Austin Angels<br />
gefrontete Ösi-Ami-Band so<br />
verbricht, nämlich einen<br />
Bastard aus Alternative, Glam, Sleaze, Wave,<br />
Pop und Hard Rock, mitnichten, zumal sich Eingängigkeit<br />
und Innovation auf „Break Out“ nicht<br />
den Platz streitig machen wollen. Eine recht entrückte<br />
Note lässt das Ganze dann mitunter noch<br />
etwas psychedelisch durch das Kopfkino kaleidoskopieren,<br />
und das macht Freude. Internationales<br />
Format hat die Kapelle zwar noch nicht so<br />
ganz, aber das liegt eher an der manchmal noch<br />
etwas unrunden Produktion, der hin und wieder<br />
déjà-vu-artigen Momente oder manchen instrumentalen<br />
Stolperern, aber da schlummert ein<br />
kleines Tier, das vielleicht schon bald aus seinem<br />
Käfig springt. Starke...<br />
9 Punkte<br />
Chris P<br />
5 POUNDS A HEAD –<br />
MAXIMUM CREDIBLE<br />
ACCIDENT<br />
(District 763 Records/<br />
New Music)<br />
Hektischer Hardcore aus<br />
Thüringen: 5 Pounds A Head existieren seit<br />
2005, stehen aber auf old school-Hardcore anno<br />
1985 folgend. Das wäre auch okay, wenn die<br />
Kerle a) nicht immer hart am Durchschnitt langkomponieren<br />
würden, b) die Produktion nicht so<br />
dumpf wie meine Waschmaschine klänge und c)<br />
einer der beiden (?) Sänger nicht so schrill bellen<br />
würde, wie Omas Asthma-Pudel Pfiffi. Wie ich<br />
es drehe und wende: Das ist trotz brauchbarer<br />
Ansätze ein Minuspunkt zu viel. Eine Empfehlung<br />
für die knapp 32 Minuten kann ich daher<br />
auch nur für Hardcore-Allessammler aussprechen.<br />
Der Rest lässt sich lieber von Discolate<br />
(Review siehe diese Ausgabe) verkloppen.<br />
5 Punkte<br />
JOBRY<br />
ADOLESCENTS –<br />
THE FASTEST KID ALIVE<br />
(Concrete Jungle/Edel)<br />
Die “Heranwachsenden” sind<br />
inzwischen alte Männer:<br />
1979 vom ursprünglichen<br />
Agent-Orange-Bassisten Steve Soto und dem<br />
Sänger Tony Cadena gegründet, veröffentlichten<br />
sie 1981 ihr selbstbetiteltes Debüt-Album. Es<br />
avancierte zu einem der wichtigsten Punkrock-<br />
Alben aus Kalifornien. Lange ist es her, aber<br />
musikalisch haben sich die Kerle ein bisschen<br />
von ihrer Jugend bewahrt – nicht nur im CD-Titel:<br />
Die 15 Stücke kommen im klassischen 80er-<br />
0–3 Punkte: Irgendwo da unten<br />
4–6 Punkte: „Nicht Fisch, nicht Fleisch“,<br />
aber essbar<br />
Stil daher und textlich geht es meist gehaltvoll<br />
sozialkritisch zu. Die 40 Minuten bestehen aus<br />
melodisch-treibenden Nummern irgendwo zwischen<br />
frühen Bad Religion, den Stadtnachbarn<br />
Social Distortion und gebremsten Dead Kennedys.<br />
Das ist ’ne kurzweilige Angelegenheit, allerdings<br />
fehlen dem Album die drei, vier richtigen<br />
Killersongs. Am ehesten kommen an diesem Anspruch<br />
noch „Serf City“ und „No Child Left Behind“<br />
heran. In Summe aber eine ordentliche Sache<br />
und der Beweis, dass Punkrocker auch in<br />
Würde altern können.<br />
9 Punkte<br />
JOBRY<br />
DIE AERONAUTEN –<br />
TOO BIG TO FAIL<br />
(Rookie Records/<br />
Ritchie Records/Cargo)<br />
Einst als Punkkapelle mit<br />
einem Hauch Mittsiebziger<br />
Londoner Luft gestartet, war die musikalische<br />
Evolution der größtenteils in deutscher Sprache<br />
textenden Aeronauten mehr als nur interessant.<br />
Jetzt, nach zwei Dekaden, ist man stilistisch im<br />
Alles-ist-möglich-Genre angelangt. Da ist von<br />
Pop, Rock, Swing und Country über Wave, Jazz,<br />
offbeatfreiem Ska, Blues, Dixieland, Folk und<br />
Beat bis hin zu fast progressiven Ausflügen so<br />
ziemlich alles gegeben, sodass man glaubt, man<br />
hätte einen Karton voller Ü-Eier vor sich, von denen<br />
jeder ein Song mit ungewissem Inhalt ist.<br />
Und natürlich möchte man dann auch gleich wissen,<br />
was in der nächsten gelben Kapsel ist. Gewürzt<br />
mit intelligentem Humor und der lässigen<br />
Stimme Olifrs, die gelegentlich an einen jungen,<br />
einst unpeinlichen Prä-Sonderzug-Lindenberg<br />
erinnert, wird auf der Haupt-CD entspannt<br />
eingängige und doch kunstvolle Musik mit Grips<br />
dargeboten. Auf der zweiten Scheibe dieses<br />
minimalistisch layouteten Digipaks gehen die<br />
sechs Schweizer allerdings deutlich weiter und<br />
loten die Genregrenzen konsequent aus – doch<br />
damit nicht genug, denn diese Scheibe soll gewissermßen<br />
einen Quasi-Soundtrack zu einem<br />
(noch?) nicht existenten Film darstellen, obendrein<br />
garniert mit interessanten Samples und viel<br />
Sonderbarem. Experiment gelungen.<br />
11 Punkte<br />
Chris P<br />
ALCATRAZ –<br />
SMILE NOW CRY LATER<br />
(Demons Run Amok/Soulfood)<br />
Hierzulande ist Bay Area um<br />
San Francisco ja als Wiege<br />
des Thrash Metals um Bands<br />
wie Metallica, Testament, Exodus oder Death<br />
Angel bekannt. Alcatraz hingegen zocken Hardcore<br />
– und der klingt zudem nach Ost- und nicht<br />
nach Westküste. Also: Schnell, rabiat und me-<br />
7–9 Punkte: Mittelfeld<br />
10–12 Punkte: Gut!<br />
13–15 Punkte: Das so richtig toll!!!<br />
tallisch sind sie. Das Debüt der Amis fällt mit 20<br />
Stücken üppig aus, Quantität ist aber bekanntlich<br />
nicht alles. Handwerklich ist alles im grünen<br />
Bereich, in puncto Eigenständigkeit hapert es allerdings.<br />
Da schimmern immer wieder Terror und<br />
ganz besonders Madball durch. Das ist natürlich<br />
keine Schande, dürfte es Alcatraz aber nicht unbedingt<br />
leichter machen, eine eigene Duftmarke<br />
zu setzten. Zudem mangelt es der Band an Variabilität.<br />
Spätestens nach zehn Stücken ist die<br />
Sau durchs Hardcore-Dorf getrieben und man<br />
weiß, was kommt. Und da kommen weder potenzielle<br />
Szene-Hits, noch überdurchschnittliche<br />
Riffs. Durch und durch solide – nicht mehr, nicht<br />
weniger.<br />
7 Punkte<br />
JOBRY<br />
ALLTAGSDASEIN –<br />
TRASHGOURMET<br />
(Setalight/Rough Trade)<br />
Sie wollen alles auf einmal.<br />
Sie wollen Lebendige<br />
Hosen sein und Emopunker,<br />
sie wollen dreckigen Anarchorock verkörpern<br />
und schnittige Popchöre trällern, wollen mächtig<br />
rough klingen und doch nicht anecken, wollen<br />
krass Metalgekreisch und gaaanz gefühlvollen<br />
Sprechgesang kombinieren, sie wollen massenkompatiblen<br />
Stadionrock machen, aber ganz doll<br />
individuell authentisch.<br />
Sie sind drei Musiker mit mächtig viel vor. Sie<br />
versuchen, überall anzukommen und bleiben<br />
auf der Strecke hängen. Sie entscheiden sich für<br />
und gegen nichts, sie wollen eben alles. Und erreichen<br />
nix.<br />
Zurück auf Los. Macht Euch mal klar, was Ihr eigentlich<br />
wollt und macht nicht Musik, um Anderen<br />
zu gefallen, sondern das, was Ihr selbst zum<br />
Atmen braucht. Wenn’s das gibt.<br />
Handwerklich ist es ganz gut, klar. Aber es<br />
rauscht identitätslos in den Äther. Und wenn Ihr<br />
mir jetzt zuruft, Alter, fick dich! – dann ist das der<br />
erste Schritt zur Besserung!<br />
5 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
ANGELIC UPSTARTS/<br />
CRASHED OUT –<br />
THE DIRTY DOZEN SPLIT-CD<br />
(I Hate People Records/Edel)<br />
Zwei Bands, zwölf Stücke und<br />
’ne gute Zeit für Freunde des<br />
britischen Punk/Oi! Die Urgesteine der Angelic<br />
Upstarts aus South Shields melden sich neun<br />
Jahre nach „Sons Of Spartacus“ mit geschmeidig-melodischem<br />
Oi! zurück. Die Kerle sind ja<br />
bereits seit 1977 aktiv und lassen nix anbrennen,<br />
ohne deshalb zu routiniert oder lieblos zu<br />
klingen – besonders schick: „King Of The Rats“.<br />
Teil zwei übernehmen die ebenfalls aus Nord-<br />
England stammenden Crashed Out. Die gehören<br />
mit dem Baujahr 1995 zu einer deutlich jüngeren<br />
Punk-Generation und gehen etwas streetpunkiger<br />
zu Werke. Dabei wildern sie reichlich ungeniert<br />
im Revier von The Anti-Nowhere League,
The Last Resort und Co. Machen sie aber so clever,<br />
dass es nicht nach reiner Kopie klingt. Mit<br />
„Get A Life“ gibt es auch hier ein Stück, das etwas<br />
mehr hervorsticht als der Rest. Rohrkrepierer<br />
liefert das Quartet um die Brüder Chris und<br />
Lee Wright aber auch nicht ab. Von daher, eine<br />
runde Sache.<br />
10 Punkte<br />
JOBRY<br />
ARMS LIKE SNAKES –<br />
WE HAVE MET THE ENEMY<br />
AND HE IS US<br />
(Rookie/Toxic Toast)<br />
Stuttgart und Punk ist ja ein<br />
Widerspruch in sich (never<br />
fucking ever!!! – Anm. d. Layouters)<br />
– Arms Like Snakes machen ihre Sache<br />
dennoch anständig. Spaß beiseite: Die Schwaben<br />
präsentieren auf dieser 20-minütigen EP<br />
sieben Mal eine Mischung aus (Post-)Punk und<br />
’ner Prise Hardcore, irgendwo zwischen Anti-<br />
Flag, Rise Against und AFI. Das geht zumeist ordentlich<br />
ins Ohr – das Trio bewegt sich mit den<br />
genannten Platzhirschen zuweilen auf Augenhöhe,<br />
in Bedrängnis bringt man sie nicht. Wer auf<br />
die erwähnten Bands steht, kann ALS jedoch bedenkenlos<br />
anchecken. Aber der Soundtrack zur<br />
Kehrwoche sind sie nun auch nicht…<br />
Keine Wertung<br />
JOBRY<br />
ATOM NOTES –<br />
SPARE PARTS<br />
(Combat Rock Industry/<br />
Flight 13)<br />
Da versuchen sie fast alle,<br />
einen auf Rock ’n’ Roll zu<br />
machen, dann kommt die aus den Ruinen von<br />
Manifesto Jukebox und Endstand auferstandene<br />
finnische Kapelle Atom Notes daher und IST<br />
Rock ’n’ Roll. Frechheit! Diese Halunken! Im Infoschreiben<br />
wird von den Hot Snakes, FRTC und<br />
den Wipers schwadroniert, was ja nicht ganz unwahr<br />
ist. Aber die Jungs um Sänger Antti sollte<br />
man nicht unter der Kategorie „Sound-a-likes“<br />
ablegen, denn inmitten all der Retrobands verfügt<br />
dieser Fünfer über einen sehr hohen Individualitätsfaktor.<br />
Ach so, das sagen die Promoter<br />
ja ebenso. Wofür red’ ich denn dann, ’zefix?<br />
Jedenfalls macht das Teil richtig Bock, zumal die<br />
Schnuckis uns auch noch die „Hockey Champ“-<br />
Single und ihre erste 7“ hintendran gepappt haben.<br />
Ich schenk’ euch ein Ü-Ei, wenn ich euch<br />
mal seh’.<br />
11 Punkte<br />
Chris P<br />
THE BABOON SHOW –<br />
PUNKROCK HARBOUR<br />
(Kidnap Music/Cargo)<br />
Dass Punk nicht immer testosteronhaltige<br />
Rüpelei, Singsang<br />
mit Zuckerguss und<br />
Chucks oder Huldigungen der 77er bedeuten<br />
muss, beweist das von Cecilia Boström gefrontete<br />
XX-XX-XY-XY-Gespann aus Schweden, das<br />
auf seinem vierten Langdrehdingsbums eine<br />
starke Affinität zu Wave demonstriert. Auch mit<br />
nicht ganz so aufgerissenen Verstärkern kann<br />
man nämlich wunderbar druckvolle, rotzige, An-<br />
archie-bejahende Songs fabrizieren, die mächtig<br />
schieben. Und wenn dann auch noch das lecker<br />
schmackofatz dirty sexy Organ von Frau Boström<br />
über allem thront und für eine zusätzliche<br />
Schippe wütender Energie sorgt, lässt der Pogo-<br />
Impuls nicht lange auf sich warten. Innovation, ja<br />
scheiß doch der Hund drauf, dann treten wir mit<br />
den Doc Martens noch mal rein, dass es schön<br />
schmatzt!<br />
11 Punkte<br />
Chris P<br />
BEEN OBSCENE –<br />
NIGHT O’MINE<br />
(Elektrohasch)<br />
Tja. Österreichischer Stonerrock<br />
wiederholt sich endlos<br />
selbst. Das rumpelt und pumpelt<br />
mal recht, mal eher berechenbar<br />
dahin und verursacht bei mir gerad<br />
innerlich ein immer größerwerdendes Fragezeichen<br />
mit anschließender Leerstelle. Vielversprechend<br />
sind einige Passagen, aber unter dem<br />
Strich gebricht es den Vocals an Schärfe und<br />
Akzentuierung, und vor allem gebricht es dem<br />
Album an zündenden Ideen. Wiederholungen<br />
können ja gerade im Stonerrock magische Qualität<br />
haben, ja, Ekstase erzeugen. Hier dominiert<br />
eher mäßig temperierte Bravheit und die Gitarrenausbrüche<br />
wirken auch eher ratlos, weil einfach<br />
die Grundspannung fehlt. Schade. Aber das<br />
ist überwiegend Gedudel.<br />
4 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
BLACKUP –<br />
EASE & DELIGHT<br />
(Screaming Mimi/Cargo)<br />
Egal, ob man die Chose nun<br />
Postpunk oder Indie-Rock<br />
nennt – sie nervt. Die Belgier<br />
haben wirklich einen Mix aus gezielten Disharmonien<br />
und unmotiviertem Geschrei drauf, dass<br />
mir jedes der neun Stücke spätestens nach zwei<br />
Minuten verleidet. Die 35 Minuten von „Ease &<br />
Delight“ werden so ganz schön lang. Blackup erinnert<br />
an ein hyperaktives Kind, das seine Energie<br />
einfach nicht in die richtigen Bahnen lenken<br />
kann. Zwischendurch schimmern zwar immer<br />
mal wieder brauchbare Ansätze durch, scheinbar<br />
aber nur, um wieder von der nächsten Disharmonie<br />
in Grund und Boden getrümmert zu werden.<br />
Es soll Leute geben, die das cool finden. Cool<br />
finde ich in diesem Fall nur die Stop-Taste.<br />
3 Punkte<br />
JOBRY<br />
BUNGALOW 7 –<br />
WE ARE HERE<br />
(Rookie Records/Cargo)<br />
Welch Düfte. Staubiges<br />
Beatles-, Blondie-, Doors-,<br />
Stooges- und Suzy Quattro-<br />
Vinyl inklusive Kellermuff. Schmutzige Polyester-<br />
Strick-Streifenpullis. Aroma frisch praktizierter<br />
freier Liebe. Feuchte Backenbärte. Speckige<br />
Schlaghosen. Bac-Deo. Ein nach Hundespeichel<br />
riechendes, angeknabbertes Monchichi.<br />
Ja, das Debüt der Band um den Ex-Spermavogel<br />
und Jones-Kicker Frank Rahm und Goldkehlchen<br />
Katrin Bärmann macht Spaß mit sei-<br />
nem cool-schrulligen Wirrwarr aus 80er-Indie,<br />
70er-Rock und 60er-Beat, aus Pop, Psychedelic,<br />
Folk, Rock ’n’ Roll und Punk, zumal Bungalow 7<br />
ihre Songs dermaßen charming darbieten, dass<br />
Mundwinkel und Krähenfüße unübersehbar Gefühle<br />
der Sympathie signalisieren. Tanz!<br />
12 Punkte<br />
Chris P<br />
BUSINESS AS USUAL –<br />
SAME<br />
(Demons Runamok<br />
Entertainment/Soulfood)<br />
Hardcore aus Hessen.<br />
Die vier Kerle und eine Frau<br />
machen es einem stilistisch leicht: Wer an Hardcore<br />
mit leichtem Post hängt, kann die Band<br />
aus Wetzlar antesten. Die Vorbilder jedenfalls<br />
lassen sich glasklar heraushören: Bane, Have<br />
Heart, Comeback Kid und Ruiner. Folgerichtig<br />
gibbet „echte“ Hardcore-Riffs, aber auch melancholisch<br />
anmutende Melodien und angezogene<br />
Handbremse. Zehn Stücke in 22 Minuten<br />
sprechen dafür, dass die Truppe auf den Punkt<br />
kommt. Der ist zwar nicht unbedingt ein Unikat –<br />
wie der Querverweis zu den genannten Einflüssen<br />
belegt – man kann diese Art von Hardcore<br />
aber ganz sicher auch schlechter spielen als<br />
BAU. Unter dem Strich also kein übermäßig originelles,<br />
aber dennoch gefälliges Debüt.<br />
8 Punkte<br />
JOBRY<br />
CATHEDRAL –<br />
ANNIVERSARY<br />
(Rise Above/Soulfood)<br />
Sag zum Abschied lange<br />
Servus: Die englischen<br />
Doomster nehmen sich zwei<br />
CDs und fast 140 Minuten Zeit. Mitgeschnitten<br />
wurde dafür das Londoner Konzert zum 20.<br />
Bandjubiläum im Dezember 2010. CD 1 liefert<br />
das “Forest of Equilibrium”-Album in voller Länge<br />
und das Original-Line-up. CD 2 bietet insgesamt<br />
zwölf weitere Stücke aus den restlichen<br />
Schaffensphasen der Band. Dazu gehören Szene-Hits<br />
wie „Midnight Mountain“, „Vampire Sun“<br />
oder „Hopkins“. Solche Stücke haben nichts von<br />
ihrem Reiz verloren – anderes Liedgut, vor allem<br />
das über zehn bis zwölf Minuten gestreckte,<br />
wirkt da zuweilen schon etwas …äh zäher und<br />
nicht ganz so zwingend. Fans – und vor allem<br />
für die dürfte der Doppeldecker interessant sein<br />
– ist das vermutlich schnuppe. Sie kriegen zum<br />
Abschied noch einmal ganz viel Cathedral – im<br />
authentisch rohen Klanggewand.<br />
Keine Wertung<br />
JOBRY<br />
CLOSE YOUR EYES –<br />
EMPTY HANDS AND<br />
HEAVY HEARTS<br />
(Victory/Soulfood)<br />
2012 I #35 I reViews<br />
Die Texaner zocken auch auf<br />
Album Nummer zwei so eine<br />
Art Handbremsen-Hardcore.<br />
Wie das geht? Man nehme die wütenden Genre-<br />
Bestandteile (Gangshouts, Beatdowns) und addiere<br />
zuweilen fast schon zuckersüße Refrains<br />
und Clean-Voclas hinzu. Hmmm, durchwachsene<br />
Geschichte, im Prinzip ein Widerspruch in<br />
27
28 reViews I #35 I 2012<br />
sich. CYE klingen dann auch wie ein wütender<br />
Typ, der anstatt die Tür einzutreten, höflich anklopft<br />
und fragt, ob er reinkommen darf. Würden<br />
sie besser öfter treten – denn die teilweise rasanten<br />
Passen in den 43 Minuten zeigen, dass<br />
die Kerle das im Prinzip können. Klar ist es legitim,<br />
seine Wut in Zuckerwatte zu packen, aber<br />
diese Zuckerwatte sollte dann auch richtig gut<br />
schmecken. Daran hapert es, denn die Melodien<br />
sind einfach nicht eingängig genug, um gänzlich<br />
zu überzeugen und harmonieren überdies nur<br />
bedingt mit der harten Seite der Band. Mehr was<br />
für Freunde von Rise Against, A Day To Remember<br />
oder Comeback-Kid, als für Fans ”echter”<br />
HC-Bands wie Terror und Co. Dessen Fronter<br />
lobt das Quintett zwar als potente Live-Band, für<br />
die Konserve teile ich dieses Urteil aber nicht.<br />
7 Punkte<br />
JOBRY<br />
CIGARETTE CROSSFIRE –<br />
IN BETWEEN THE CURE<br />
AND THE DISEASE<br />
(Combat Rock Industry/<br />
Flight13)<br />
Würden Smokeblow auf intellektuell<br />
machen, klängen sie vielleicht wie Cigarette<br />
Crossfire. Die Finnen, u. a. mit Ex-Musikern<br />
von Endstand und Life Giving Waters, haben vor<br />
allem dank Sänger Jere Lehmus einen gewissen<br />
Dreck im Sound, gehen aber deutlich verkopfter<br />
und gebremster zu Werke, als die norddeutschen<br />
Vollassis. Wer jetzt in Richtung Leatherface<br />
oder Hot Water Music denkt, denkt richtig:<br />
Postpunk mit einem Schuss Melancholie. Nicht<br />
übel, aber auch nicht mehr als Szene-Nische,<br />
zumal man die großen Melodien auf „IBTCATD“<br />
vergeblich sucht.<br />
7 Punkte<br />
JOBRY<br />
COUNTERPARTS –<br />
THE CURRENT WILL<br />
CARRY US<br />
(Victory/Soulfood)<br />
So, so – “es gibt sie noch: Die<br />
“richtigen” Hardcorebands”,<br />
behauptet der Waschzettel. Counterparts gehören<br />
entgegen dieser Ankündigung nicht dazu:<br />
Die Kerle stehen sich und ihrer grundsätzlich<br />
vorhandenen Energie auf Album Nummer zwei<br />
dermaßen selbst im Weg, dass es fast weh tut.<br />
Die gerade mal 34 Minuten ziehen sich wie Kaugummi<br />
und das liegt 1. am total durchschnittlichen<br />
Liedgut, 2. an den absolut nervtötenden<br />
Disharmonien und 3. am gnadenlos monotonen<br />
Geschrei von Fronter Brendan Murphy. Beschönigend<br />
spricht man in dieser Kombination gerne<br />
von Post-Hardcore, am besten noch mit Metalcore-Riffs.<br />
Auch Bands wie Bane oder Defeater<br />
spielen in ähnlicher Liga. Aber hier gilt: Nö,<br />
die elf Stücke haben wirklich nicht viel mit „richtigem“<br />
Hardcore zu tun, sondern eher mit Rohstoffverschwendung.<br />
2 Punkte<br />
JOBRY<br />
THE DANGEROUS<br />
SUMMER – WAR PAINT<br />
(Hopeless Records/Soulfood)<br />
Band-Name und das Frisurenproblem<br />
der Herren lassen<br />
mühelos auf eine Emo-Alternative-Kapelle<br />
schließen. Bingo: Das Quartett aus<br />
Maryland (USA) findet die Blink 41s und weltfressenden<br />
Jimmys dieser Welt gut, wäre zugleich<br />
aber auch gerne U2. Hm, schwieriges Unter-<br />
fangen. Die Mischung aus fröhlichem Pop-Punk<br />
und eher depressiv-disharmonisch angehauchten<br />
Gitarrenharmonien führt zu einer fast neutralen<br />
Schnittmenge. Sprich: Die 44 Minuten plätschern<br />
höhepunktlos vor sich hin, sind weder Fisch noch<br />
Fleisch. Dabei glaube ich den Kerlen ja sogar,<br />
dass sie mehr können, als sie in den elf Stücken<br />
zeigen. Aber zumindest im Punk-Bereich kommen<br />
Song-Längen von 3:30 bis 5 Minuten gar<br />
nicht gut. Und der U2-Fraktion braucht man mit<br />
Pop-Punk-Quatsch wohl gar nicht erst zu kommen.<br />
Insofern sollten sich TDS erstmal klar darüber<br />
werden, wohin die Reise gehen soll und sich<br />
dann auch darauf konzentrieren, anstatt sich in<br />
(zu) verschiedenen Stilrichtungen zu verzetteln.<br />
Muss ja nicht zwingend Fisch oder Fleisch herauskommen,<br />
kann ja auch mal ein leckerer Gemüseeintopf<br />
werden…<br />
4 Punkte<br />
JOBRY<br />
DANNY AND THE<br />
WONDERBRAS –<br />
ROCKABILLY PARTY<br />
(DMG/Broken Silence)<br />
Danny und seine zwei Kumpels<br />
spielen klassischen Rockabilly.<br />
Und wenn ich klassisch meine, dann reden wir<br />
vor allem von den 50er Jahren und Künstlern wie<br />
Buddy Holly, Pat Boone, Bill Haley, Elvis Presley<br />
oder Jerry Lee Lewis. Das ist dermaßen oldschool,<br />
dass es schon wieder mehr rockt, als so<br />
manche digital hochgezüchtete „moderne“ Rockplatte<br />
dieser Tage. Die Karlsruher bedienen sich<br />
am reichen Fundus jener Zeit gütlich, packen<br />
aber hörbar viel Spaß und Spielfreude in die<br />
gut 50 Minuten. Unter den 15 Stücken befinden<br />
sich auch diverse Coversongs, etwa „You Made<br />
A Boo Boo“, das berühmte „Runaway“ oder der<br />
Tanzflächenfeger „Bird Dog“. Kurzum: Wer auf<br />
Pomade und Petticoats steht, wird Danny and<br />
the Wonderbras lieben<br />
10 Punkte<br />
JOBRY<br />
THE DEAD HANDS – S/T<br />
(Eigenverlag)<br />
Aus Balingen kommen die<br />
Dead Hands, zwei Überlebende<br />
der Stereo Satanics, nun<br />
aber nicht mehr im Punkgenre<br />
unterwegs, sondern, Überraschung,<br />
mit schönen, mystisch verhallten Wave-<br />
Postfolkrock-Spielereien beschäftigt, die allemal<br />
eine tolle Athmo ausstrahlen und ein gutes Setting<br />
für durchquatschte Nächte und träge Liebesspiele<br />
garantieren. Nicht alle eingestreuten<br />
kleinen Disharmonien klingen dabei folgerichtig,<br />
manche lakonische Gesangsline könnte doch<br />
mehr Variationen vertragen und eine ausgeklügeltere<br />
Technik wär’ manchmal auch schön.<br />
Doch andererseits atmet das ruhige Versenkung,<br />
ist echt, liebevoll, nah und wirklich tief empfunden.<br />
Nicht das Schlechteste, was man über einen<br />
Neubeginn sagen kann. Und für die nächste<br />
Scheibe wünsch ich mir einen fragil und leise<br />
beginnenden, mindestens zwölf Minuten kunstvoll<br />
sich steigernden epischen Kracher. Wetten,<br />
die können das? Die emotionale Kraft ritualisierter<br />
Wiederholungen haben sie ja eh schon<br />
längst kapiert. Sie dürfen sich auf der Erkenntnis<br />
nur nicht ausruhen. Jedenfalls mag ich das,<br />
eindeutig!<br />
10 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
THE DEAD NOTES –<br />
ENTERTAINMENT IS<br />
THE PURPOSE<br />
(My Redemption Records/<br />
Cargo)<br />
Ganz schön großspurig werden<br />
die fünf Bayern als potenzielle Erben des<br />
echten Rock angepriesen, und des weiteren darf<br />
man von Vergleichen mit The Darkness, Gluecifer<br />
und Airbourne lesen. Doch blicken wir der<br />
Wahrheit ins Auge: Das Zweitwerk bietet eine<br />
profane Mische aus Punk Rock, Hard Rock und<br />
Rock‘n‘Roll, nach Schema F gestrickt, getöpfert<br />
und geklöppelt, mit teils holprigen Übergängen,<br />
banalen Texten und einem Tobias Wieser am<br />
Gesangsplugin, der dringendst einen Englisch-<br />
Phonetikkurs besuchen sollte. Klar, die Nummern<br />
sind recht catchy, man kann sofort mitwippen,<br />
und live knallt das bestimmt, wenn man als<br />
lokaler Support unterwegs ist oder die Arnstorfer<br />
Kirmes beschallen möchte. Das Kapitel Professionalität<br />
gehört allerdings schlichtweg noch einmal<br />
überarbeitet.<br />
7 Punkte<br />
Chris P<br />
ANI DI FRANCO –<br />
WHICH SIDE ARE YOU ON<br />
(Righteos Babe/Tonpool)<br />
Es ist inzwischen über drei<br />
Jahre her, dass die Grammy-<br />
Gewinnerin und Singer/Songwriterin<br />
Ani Di Franco uns mit einem neuen Album<br />
erfreute. Und nun also wieder, mit prominenter<br />
Unterstützung von A wie Anais Mitchell<br />
und Gitarrist Adam Levy (Tracy Chapman u. a.)<br />
über die Neville Brothers bis hin zu einer ganzen<br />
Armada von Hornisten aus New Orleans bis S<br />
wie Skerik, dem Saxophonisten, der u. a. Pearl<br />
Jam und R.E.M. unterstützte, wenn er nicht gerade<br />
komplett avantgardistisch unterwegs war.<br />
Hat irgendwie abgefärbt. Nein, immer noch sie,<br />
aber vielgestaltiger, mutiger. Noch immer perlt<br />
das wie ’ne Glaskette aus ’ner Boutique für den<br />
gehobenen Anspruch, aber das verhallt düstere<br />
Schlagwerk setzt Kontrapunkte und pfiffige<br />
Breaks zerlegen den Flow, wo wir es eher<br />
nicht erwarten, um ihn dann lässig perlend, siehe<br />
oben, wieder aufzunehmen. Elegant und raffiniert.<br />
Di Franco muss sich niemandem mehr<br />
anpassen und wenn ich sage, dass Devandra<br />
Banhart diese Platte lieben muss, dann ist es<br />
die pure Wahrheit. Allein schon das formidabel<br />
um eigene Textpassagen erweiterte Pete Seegers-Cover.<br />
Klasse. Im Wechsel in ihrer Heimat<br />
New Orleans und in New York eingespielt, besticht<br />
die Platte durch ihre Buntheit. Die Widerhaken.<br />
Den nun offen vorgetragenen Ärger über<br />
die Dummheit der herrschenden Klasse. Lassen
wir die Dame doch selbst zu Wort kommen: „I’m testing<br />
deeper waters with the political songs on this album.<br />
I feel a little bit frustrated, politically desperate.<br />
After havin’ written hundreds of songs over decades,<br />
I think, now what? How far can I go with this? Can<br />
you sing the word ‘abortion’, can you sing the word<br />
‘patriarchy’ – what can you sing and get away with?“<br />
Ein bisschen fremdelt sie in diesen politischen Liedern<br />
noch mit sich selbst, ungläubig die neuen spitzen<br />
Spielzeuge anfassend. Aber das wird auch noch,<br />
keine Angst. Zieht Euch warm an, wenn die Lady<br />
konsequent weitermacht, in der Richtung.<br />
12 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
DIRETONE – DIRETONE<br />
(Gateways)<br />
Die Dänen sind verliebt –<br />
schwer verliebt in Metallica’s<br />
“Black Album“. Dazu flirten sie<br />
heiß und innig mit Down und<br />
eine frühere Liaison mit Pantera ist den 42 Minuten<br />
auch zu entnehmen. Aber Liebe macht bekanntlich<br />
blind. Daher merken Diretone offenbar nicht, dass es<br />
nicht reicht, exakt so zu klingen wie James Hetfield<br />
und den wuchtigen Sound besagter Metallica-CD zu<br />
imitieren (Diretone’s Bob Rock heißt allerdings Jacob<br />
Hansen). Und auch die allzu offensichtliche Abkupferei<br />
bei den anderen Bands führt nicht zu einer knistervollen<br />
Atmosphäre. Ganz im Gegenteil. Das alles<br />
klingt beeindruckend, aber eben auch komplett<br />
einfallslos nach Kopie. Zumal Diretone die zeitweise<br />
kompositorische Brillanz mancher Vorbilder nicht<br />
ansatzweise erreichen. Daher sind die zehn Stücke<br />
letztlich kalter Kaffee – und den soll man bekanntlich<br />
nicht wieder aufwärmen – schon gar nicht, wenn es<br />
um Liebe und Herzblut geht.<br />
5 Punkte<br />
JOBRY<br />
DISLOCATE –<br />
STOP THIS TRADITION<br />
(District 763/New Music)<br />
Year, so geht Hardcore.<br />
Discolate aus dem Saarland verpassen<br />
dir ’ne richtig schöne Abreibung.<br />
34 Minuten gibt es schnell und aggressiv<br />
auf die Zwölf. Kein Schnickschnack, kein Emo, kein<br />
Gedöns. Gleich der Opener „Game of Dice” funktioniert<br />
wie eine gerade Rechte direkt ins Gesicht. Die<br />
fünf Kerle pöbeln, spucken und kratzen zwölf Stücke<br />
lang schlicht, derb und vor allem angepisst, aber<br />
eben auch extrem zielsicher. Stilistisch bewegt sich<br />
die Chose irgendwo zwischen Pro-Pain, den sträflich<br />
unterbewerteten Barcode und Bonehouse. Die Riffs<br />
sitzen wie eine Eins und die metallische Produktion<br />
drückt und schiebt. Kurzum: Discolate machen nicht<br />
nur auf dicke Hose, „Stop this Tradition“ hat auch<br />
mächtig dicke Eier.<br />
11 Punkte<br />
JOBRY<br />
DIXIE WITCH – LET IT ROLL<br />
(Small Stone Recordings)<br />
Das Texas-Trio existiert seit zehn<br />
Jahren und liefert hier bereits sein<br />
viertes Album ab. Das bietet eine<br />
gute Mischung aus (Southern-)<br />
Hardrock, Blues, Country und Boogie.<br />
Die zehn Stücke bieten kraftvolle Gitarrenarbeit, ein<br />
angenehm raues Organ und jede Menge whiskey-<br />
getränkte Atmosphäre. Stilistisch pendeln die Kerle<br />
knapp 38 Minuten recht geschickt zwischen klassischen<br />
Bands wie Blackfoot, ZZ-Top oder Lynyrd<br />
Skynyrd, aber auch „modernem“ Kram wie Monster<br />
Magnet oder Nickelback. Damit sollte sich nicht nur<br />
in ihrem Heimatland etwas reißen lassen, sondern<br />
auch in der alten Welt. So wie „Let It roll“ klingt, wären<br />
Dixie Witch hierzulande in kleinen Clubs perfekt<br />
aufgehoben, um die bereits auf Konserve spürbare<br />
Energie ihrer Musik schön authentisch mit viel<br />
Schweiß und Whiskey darzubieten.<br />
9 Punkte<br />
JOBRY<br />
DO OR DIE –<br />
THE DOWNFALL OF THE<br />
HUMAN RACE<br />
(Demons Run Amok<br />
Entertainment)<br />
Die Belgier knüppeln sich bereits<br />
seit 1999 durch die Hardcore-Szene. Sonderlich unterscheiden<br />
sie sich dabei nicht von diversen US-Vorbildern<br />
wie Hatebreed oder Sworn Enemy. Soll heißen:<br />
Die Kerle zocken aggressiven, metallischen<br />
Boller-Hardcore, der eher das Testosteron, als die<br />
grauen Zellen in Wallung bringt. Ist ja auch mal okay,<br />
zumal das Sextett in den 13 Stücken das ein oder<br />
andere überdurchschnittliche Riff verbrät. Auch zwei<br />
Sänger, ein Instrumental und weibliche Backvocals<br />
gehören zu den Besonderheiten dieses Albums. Allerdings<br />
reichen die Zutaten nur bedingt, um einen<br />
Originalitätszuschlag zu erhalten, denn vieles auf<br />
„TDOTHR“ ist (solider) Szenestandard. Dieser Eindruck<br />
entsteht sicher auch deshalb, weil DOD den<br />
Bogen mit 52 Minuten schlicht überspannen und<br />
sich die Chose über eine solche Spieldauer einfach<br />
zu sehr abnutzt. Auch die Produktion hätte mehr<br />
Wumms vertragen. Wieder einmal zeigt sich: Weniger<br />
wäre mehr gewesen – für einen Platz im sicheren<br />
Mittelfeld reicht die Leistung jedoch.<br />
8 Punkte<br />
JOBRY<br />
EMANUEL AND THE FEAR –<br />
HANDS (5-Track-EP)<br />
(Haldern Pop/Cargo)<br />
Emanuel And The Fear kommen<br />
aus New York, spielen eine Art<br />
Folkrock mit teils irischen, teils<br />
amerikanischen Einschlag und präsentieren mit dieser<br />
EP einen kleinen Vorgeschmack auf eine LP, die<br />
Mitte des Jahres erscheinen soll. Soweit wäre alles<br />
gesagt. Oder eben nicht. In der Info liest man vielsagend,<br />
dass die Band schon mal 200 Bandmitglieder<br />
auf die Bühne bringt und auch sonst mit allerlei illustren<br />
Bands und Künstlern der Szene (The National,<br />
From Autumn To Ashes, Sufjan Stevens etc.) verbandelt<br />
ist. In der Tat ist die Herangehensweise auf<br />
„Hands“ recht unkonventionell. So sind die Songs<br />
oberflächlich gesehen genreüblich und eingängig,<br />
unter dieser Schale erschließt sich jedoch nach und<br />
nach eine Vielschichtigkeit, die nicht zuletzt dem Einsatz<br />
zahlreicher Streich- und Blasinstrumente geschuldet<br />
ist. Und obwohl es sich hier nur um knapp<br />
25 Minuten Musik handelt, erzeugen Emanuel And<br />
The Fear einen stimmungsvollen Spannungsbogen,<br />
den manch andere Band nicht mal mit einer Doppel-<br />
LP zustande brächte. Ich bin gespannt, ob die New<br />
Yorker diesen guten Eindruck auch auf voller Länge<br />
bestätigen können.<br />
11 Punkte<br />
Jochen Wörsinger<br />
2012 I #35 I reViews<br />
29
30<br />
reViews I #35 I 2012<br />
EMSCHERKURVE 77 – DAT<br />
SOLL PUNKROCK SEIN?!<br />
Sunny Bastards/Broken Silence<br />
Punkrock aus dem Ruhrpott,<br />
Klischee hin oder her, ist<br />
ehrlich und direkt. Mach ja auch nix, wenn man<br />
dazu steht, so wie die Emscherkurve 77. Die<br />
Songs halten sich im simplen Drei-Akkorde-Ramones-Schema,<br />
dem zumindest optisch nicht<br />
wirklich schönen Ruhrgebiet wird gehuldigt und<br />
die Texte pendeln zwischen plattem Humor und<br />
durchaus hintersinniger Ironie. Dabei geht es<br />
textlich neben lokalen Standards wie der A40<br />
oder RW Oberhausen auch durchaus mal humoristisch-exotisch<br />
zu. Ein Song wie „Sarrazin vs.<br />
Guttenberg“ gehört genauso dazu wie „Louis De<br />
Funès“, im dem der kleine Franzose kurzerhand<br />
in den Rockerstand erhoben wird („Du warst<br />
Rock ’n’ Roll auf Zelluloid“). Dazu gesellen sich<br />
mitgröhlkompatible Refrains und meist einprägsame<br />
Gitarrenarbeit. Stilistisch liegt das Quintett<br />
zwischen Lokalmatadoren und Supernichts, lediglich<br />
beim Abgang „Alles Gute und viel Glück“<br />
geht es etwas zu Toten-Hosen-mäßig zu. Mit<br />
„Zeit bleib stehen“ ist übrigens auch ein Cover<br />
von Dritte Wahl am Start. In Summe ein schönes<br />
deutsches Punkrock-Kleinod, das humoristisch<br />
sicher nicht überall verstanden wird. Aber dann<br />
wäre es wohl auch kein Punkrock – und den haben<br />
EK 77 nach eigener Aussage nun mal verstanden.<br />
11 Punkte<br />
JOBRY<br />
EXCUSE ME FIRE –<br />
GLOW AND FLUTTER<br />
(BSC-Music/Rough Trade)<br />
Und noch eine ungewöhnliche<br />
neue Attacke aus München,<br />
die übliche Kompositionsprinzipien<br />
und musikalische vermeintliche<br />
Gewissheiten auf charmant rockende<br />
Weise in Frage stellt...<br />
Man nehme: Einen mit allen Jazzrock-Wassern<br />
gewaschenen irrwitzig guten Schlagzeuger und<br />
einen stoischen Basser mit sehr viel Funky Flow<br />
im Arsch, die zusammen fast schon der Rhythmussektion<br />
der Red Hot Chili Peppers das Wasser<br />
reichen können, während ein zorniger Gitarrist<br />
mit konternden fiesen Schrägen jeden Anflug<br />
von zu viel Harmonie zerstört, dann noch ein<br />
Sänger, der sich akustisch ebenso lasziv um seinen<br />
Mikroständer wickelt, wie er bei Bedarf auch<br />
Streetboy-Prollcharme versprühen kann, das ist<br />
nun wirklich keine Mischung von der Stange.<br />
Was ist bloß los in der einst eher glätteversiegelten<br />
Münchner Soundwolke?<br />
Ein Debüt jedenfalls, das noch einen Riesenspace<br />
nach oben aufmacht, Indierock mit Schrägen<br />
und Flow, ein Stück Wiedergeburt von Genres,<br />
die einst im Crossovergenre auch nicht<br />
überzeugender zusammengedacht wurden als<br />
hier. Wenn jetzt auch noch alle Schrägen gewollt<br />
klingen und die grundverschiedenen Pole des<br />
Sounds noch selbstverständlicher zusammenwachsen<br />
– wobei an der Stelle diese CD schon<br />
ein Riesensatz im Vergleich zum ersten Demo<br />
darstellt, wenn die in dem Tempo weiter wachsen,<br />
dann macht schon mal die großen Hallen<br />
frei – nun, dann reicht es auch für die Best Of-<br />
Abteilung, noch sind sie nur ganz nah dran. Feines<br />
Fulltime-Debut, Respekt!!!<br />
12 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
FALLEN CROWNED –<br />
VERSUS TERMINUS<br />
(Eigenverlag)<br />
Langes Foreplay, Piano,<br />
klassisches Spiel, wie früher,<br />
wo dann die Metalbands<br />
irgendwann mitten rein brachen, ohne die Harmonien<br />
in irgendeiner Weise aufzugreifen. Zum<br />
Glück machen unsere jungen Metaller aus Fürstenfeldbruck<br />
bei München das etwas anders,<br />
wenn auch nicht ganz überzeugend. Sie zitieren<br />
zumindest die Harmonien im Ansatz. Ansonsten<br />
– schwierig, Emocore meets Melodic Deathmetal<br />
mit den üblichen Zutaten, furchtbar klinisch <strong>com</strong>puterisiert<br />
klingendes Schlagzeug (und der Kerl<br />
kann was, das hört man ja und live ist‘s Bombe,<br />
wie ich schon miterlebte), starke Vocals und<br />
Shouts, gute Gitarren und Bassarbeit, trotzdem,<br />
die Produktion klingt klinisch und dünnbrüstig.<br />
Immerhin ist das ein echter Talentnachweis. Aber<br />
für die nächste CD sparen wir für ’ne amtlichere<br />
Produktion und ein geschmackvolleres Cover,<br />
versprochen? Oder sollte jemand von ’ner Härte<strong>com</strong>pany<br />
Lust auf ’ne sehr talentierte, fett abgehende,<br />
variantenreiche, experimentierfreudige<br />
junge südbayrische Band zwischen Emocore<br />
und Death Metal haben, die schon über ein bemerkenswert<br />
solides Handwerkszeug verfügt?<br />
Hier würde sich ’ne Investition lohnen. Wetten?<br />
9 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
FIGHTBALL –<br />
THE HYPERBOLE<br />
OF A DEAD MAN<br />
Wolverine Records/Soulfood<br />
Schwere Bürde seitens des<br />
Labels: Vom “Punkrock-Album<br />
des Jahres” ist da die Rede<br />
und von Vergleichen mit Pennywise oder Social<br />
Distortion. Das schürt eine Erwartungshaltung,<br />
die sich fast unmöglich einlösen lässt. Und wenn<br />
man es denn mal nüchtern betrachtet, verhält es<br />
sich eher so: Die Berliner haben sich mit neuem<br />
Sänger zusammengerauft und liefern auf ihrem<br />
zweiten Album gefälligen melodischen Punkrock<br />
ab, dem aber ganz sicher die „Eier“ von Social<br />
Distortion und die metallische Energie von Pennywise<br />
fehlen. Auf der einen Seite führt das dennoch<br />
zu einer Reihe eingängiger Refrains und<br />
Melodien, auf der anderen Seite befinden sich<br />
aber auch eine handvoll Durchschnittsnummern<br />
unter den 14 Stücken, die so unauffällig und nett<br />
sind, dass sie auch im Kaufhof-Fahrstuhl dudeln<br />
könnten. Nicht missverstehen: „THOADM“ ist ein<br />
nettes Scheibchen und hat mit „Jukebox“ auch<br />
einen unglaublich hartnäckigen Ohrwurm am<br />
Start, aber die Eintrittskarte für den Punkrock-<br />
Olymp sind diese gut 40 Minuten mitnichten.<br />
Kann ja noch werden…<br />
9 Punkt<br />
JOBRY<br />
NIELS FREVERT –<br />
ZETTEL AUF DEM BODEN<br />
(Tapete Records/Indigo)<br />
Manchmal passiert das, dass<br />
Du ’ne Platte hörst und sofort<br />
weißt, die wird Dich begleiten,<br />
an guten wie an schlechten<br />
Tagen, wie ein guter Freund. Hier ist das so.<br />
Niels Frevert, einstiger Frontvorsteher der Band<br />
Nationalgalerie, hat nun nach drei Jahren seit<br />
seiner Letzten die bislang reifste Scheibe aufgenommen.<br />
Und er singt gerade, er würde mir helfen, eine<br />
Leiche zu verscharren, wenn’s nicht seine ist.<br />
Geht mehr Freundschaft? Und ich sag Euch, der<br />
meint das so... Und dass ich mich angesprochen<br />
fühle, hat Gründe. Sie ist mir nah, die uneitle,<br />
aber selbstbewusste Art Freverts, Geschichten<br />
zu erzählen, die sich nun nicht mehr primär um<br />
ihn selbst drehen müssen. Er hat seinen Kosmos<br />
deutlich erweitert, inhaltlich, wie musikalisch. Frischer<br />
Wind bläst uns hier sanft ins Gesicht, wird<br />
auf die Dauer dann doch eine liebevoll formulierte<br />
Herausforderung, das eigene Fenster zu<br />
öffnen, den frischen Wind reinzulassen in all unsere<br />
Riten und Rituale gegen die Erkenntnis unserer<br />
Verstrickungen, verfrühten Kapitulationen,<br />
gegen den inneren Schweinehund, den Anpassungsdruck.<br />
Dabei ist so viel drin. Frevert spürt<br />
die Chance zum Neubeginn, er wirkt als Tonikum<br />
gegen Panikattacken ebenso, wie als kleiner<br />
Stachel gegen zu viel Bequemlichkeit, scheint<br />
grinsend dazustehen, wenn ich ihn morgens<br />
höre, und vor dem Rausgehen noch zu sagen,<br />
„Hey, komm ruhig mal hoch, lohnt sich!“ (Und sei<br />
es nur, um Track 5 zu skippen, der grad ein wenig<br />
abfällt in meinen Ohren).<br />
So wirkt bei mir diese feine Platte, klingendes<br />
Kompendium des tollen freundschaftlichen<br />
Netzwerkes eines Poeten, der sich nie anbiederte<br />
und gerade deshalb so stimmig rüberkommt,<br />
so selbstverständlich und unaufgeregt.<br />
Tolle Gäste hat er im Gepäck, wie Gisbert<br />
zu Knyphausen, Nils Koppruch, die Brüder im<br />
Geiste, und Martin Wenk von Calexico. Ein wenig<br />
Herb Alpert – Gitarrenharmonien, ein wenig<br />
chansoneske Pianoeskapaden, leicht ist das,<br />
swingend, wenn er davon singt, dass jeder seinen<br />
Untergrund hat, „Frustrationstoleranz, Herr<br />
Frevert!“ So viel charmante Selbstironie ist ein<br />
allzu seltenes Juwel. Und dann covert er auch<br />
noch Herman van Veen, den mit dem zärtlichen<br />
Gefühl, mit den großen epischen Betroffenheitsbögen,<br />
der gleichzeitig immer so ein wunderbarer<br />
Poet war und ist, ein Mutmacher, Kinderfreund,<br />
Spaßvogel und einer, der in seinen leisen<br />
Momenten am stärksten war, ich vergess’ es nie:<br />
„Die echten Zeugen sind selten Helden...“ Frevert<br />
schnappt sich das ebenso schöne „Bis jemand<br />
mich hört“, nimmt es uptemp, nimmt ihm<br />
mit dem flotten Tempo ein wenig Erdenschwere<br />
und bleibt auch und gerade hier als Interpret hinter<br />
dem Song, schaut höchstens verschmitzt um<br />
die Ecke, guckt mal nach, ob ich jetzt aufgestanden<br />
bin... Ich konnte nicht widerstehen. Auch<br />
ohne zu skippen. Ich könnte ja was überhört haben.<br />
Die Platte hier wächst nämlich stets ein wenig<br />
weiter. In offene Räume.<br />
13 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
THE GENERATORS –<br />
LAST OF THE PARIAHS<br />
(I Hate People/Edel)<br />
Keine andere Band platziert<br />
sich so stilvoll und exakt in die<br />
Schnittmenge aus Bad Religion<br />
und Social Distortion wie die<br />
kalifornischen Straßen-Punkrocker der Generators.<br />
Das mag in puncto Kreativität mäßig wertvoll<br />
sein, in Sachen Spaß funktioniert diese Mischung<br />
auch auf dem achten Album der Mannen<br />
um Melo-Kehlchen Doug Dagger ausgezeichnet.<br />
Gleich der Opener „Angels looking down“ startet<br />
mit beeindruckender Energie und festbeißenden<br />
Gitarrenharmonien. So soll es in den insgesamt
34 Minuten, bzw. elf Stücken auch weitgehend<br />
bleiben, einzig „Condition red“ scheitert ob des<br />
etwas arg plumpen Refrains an der Qualitätshürde.<br />
Insgesamt kokettieren die Herren zudem<br />
stärker mit ihren 77er-Helden wie The Clash<br />
oder Stiff Little Fingers. Kommt auch ganz gut.<br />
Fazit: Für Fans des melodischen Punkrocks bleiben<br />
die Generators weiterhin eine Pflichtadresse.<br />
12 Punkte<br />
JOBRY<br />
GLAZED FINISH –<br />
MANY FACES<br />
(Antstreet/New Music)<br />
„Many Faces“.<br />
Aber kein eigenes, könnte ich<br />
sagen, wenn ich böse wäre.<br />
Okay, ich bin böse. Glazed Finish machen nämlich<br />
alles richtig und doch alles falsch, denn sie<br />
versuchen mit ihrem offen angelegten Alternative-Indie-Rock<br />
das Beste vom Besten aus ihren<br />
Plattenschränken miteinander zu verschmelzen.<br />
Das mundet durchaus in eingängige, schmackhafte,<br />
erstklassige Songs, doch so leicht sie ins<br />
Ohr gehen, flutschen sie auch wieder heraus.<br />
Die Saarländer „klingen nach“, vergessen sich<br />
dabei aber selbst, so dass der Eindruck entsteht,<br />
die Band wolle auf Teufel-komm-raus gefallen.<br />
Meine Abwehr steht wie ’ne Eins.<br />
7 Punkte<br />
Chris P<br />
GRAVEYARD JOHNNYS –<br />
SONGS FROM BETTER<br />
DAYS<br />
(Wolverine Records/Soulfood)<br />
Das Trio mit dem lustigen<br />
Namen kommt aus South<br />
Wales und spielt 50er-Rockabilly<br />
mit einer ordentlichen Portion Punkrock garniert.<br />
Das ist nicht unbedingt neu, aber auf jeden<br />
Fall unterhaltsam. Stilistisch hängen die britischen<br />
Burschen irgendwo zwischen den coolen<br />
The Peacocks und The Living End. Die 32 Minuten<br />
glänzen dementsprechend durch eine ausgewogene<br />
Mischung aus Melodie und Tempo. Der<br />
Großteil der elf Stücke kommt schön treibend<br />
daher und lässt eher früher als später Beine<br />
und/oder Nacken zucken. Dazu passt auch das<br />
gelungene Cover von Golden Earing’s „Radar<br />
Love“. Das macht sich im Rockabilly-Gewand erstaunlich<br />
gut und ist der würdige Abschluss einer<br />
durch und durch vitalen Vorstellung. Eine besondere<br />
Qualität scheint der Band bei Live-Konzerten<br />
innezuwohnen. Der Waschzettel jedenfalls<br />
behauptet: „Die Graveyard Johnnys bringen<br />
euren Club zum Bersten. Kein Loch bleibt unerforscht!“<br />
10 Punkte<br />
JOBRY<br />
H20 –<br />
DON’T FORGET YOUR<br />
ROOTS<br />
Bridge Nine Records<br />
Cover-Alben gibt es wie<br />
Sand am Meer – jetzt also<br />
auch eines von den New<br />
Yorker Hardcorelern H20. Die haben 15 Stücke<br />
ihrer musikalischen Helden und größten Einflüsse<br />
vertont und geizen dabei nicht mit groß-<br />
en Namen und/oder echten Szeneschwergewichten,<br />
wie etwa Ramones, Social Distortion,<br />
7 Seconds, Sick Of It All, Gorilla Biscuits, The<br />
Clash oder Warzone. Dass dabei keine wirklich<br />
schlechte CD herauskommen kann, ist eigentlich<br />
klar. Zumal es der Band gelingt, die Vorlagen<br />
39 Minuten lang in ihren typisch positiven<br />
Youthcrew-Sound zu packen. Andererseits ist es<br />
gewagt, sich an zum Teil ausgesprochene Klassiker<br />
heranzutrauen und diese mehr oder weniger<br />
neu zu interpretieren. Bei manchen Stücken<br />
kann man als Band nur verlieren. Von daher<br />
bleibt zumindest bei einigen Neuinterpretationen<br />
ein fader Beigeschmack und zudem der Eindruck,<br />
dass sich H20 hier in erster Linie selbst<br />
seinen Wunsch erfüllt haben. Als auflockernder<br />
Einschub im eigenen Live-Set mögen manche<br />
der hier servierten Nummern der Band überdies<br />
noch gute Dienste leisten.<br />
8 Punkte<br />
JOBRY<br />
HATESPHERE –<br />
THE GREAT BLUDGEONING<br />
(Napalm/Edel)<br />
Erstaunlich: Obwohl es bei<br />
Hatesphere in den letzten<br />
Jahren gefühlt mehr Line-up-<br />
Wechsel gab, als Spielerwechsel bei Schalke 04,<br />
bleibt die Band ihrem Sound auf Album Nummer<br />
sieben uneingeschränkt treu. Muss wohl an Gitarrist<br />
Pepe Hansen liegen, der einzigen Konstante<br />
und zugleich dem Hauptsongwriter der<br />
Dänen. Wie auch immer: Die 37 Minuten, bzw.<br />
neun Stücke bollern mal wieder mächtig aggro<br />
und angepisst aus den Boxen. Klassischer Thrash<br />
à la Slayer, Testament oder Pantera trifft auf neuere<br />
Schule. Dazu gibt es die gewohnte Mischung<br />
aus Gitarren-Keule, Grooves und Midtempo. So<br />
ein bisschen avancieren Hatesphere damit zu<br />
den AC/DC des Thrash-Death, aber vermutlich<br />
gibt es auch und gerade im Knüppel-Genre weniger<br />
ehrenvolle Vergleiche…<br />
9 Punkte<br />
JOBRY<br />
HAVOK – TIME IS UP<br />
(Candlelight/Soulfood)<br />
Das Quartett aus Colorado<br />
feuert auf seinem zweiten<br />
Album zehn amtliche Thrash-<br />
Songs ab. Roh und energisch<br />
einerseits, ordentlich strukturiert<br />
und mit einem ordentlichen Maß an Abwechslung<br />
andererseits. Die Chose klingt wie<br />
junge Exodus, Slayer zu Show-No-Mercy- und<br />
Hell-Awaits-Zeiten plus ’ner Prise Demolition<br />
Hammer. Oha, Szene-Fans wissen spätestens<br />
jetzt: Reinhören ist Pflicht. Klar sollte allerdings<br />
sein, dass die Amis das Rad in den 42 Minuten<br />
nicht neu erfinden (können), aber die Unbekümmertheit<br />
und Leidenschaft gleichen die zuweilen<br />
mangelnde Originalität adäquat aus. Wüsste ich<br />
es nicht besser, würde ich die Kerle direkt in die<br />
Bay Area verorten. Abzug in der B-Note gibbet<br />
einzig für das etwas zuuu thrashige Cover, ansonsten<br />
sehr ordentlich.<br />
11 Punkte<br />
JOBRY<br />
HEMENDEX – RESET 2<br />
(Geenger Records)<br />
2012 I #35 I reViews 31<br />
Mit ihrer zweiten Studio-EP<br />
wandeln die Kroaten unbeirrt<br />
den seit der 2008er Gründung<br />
gestarteten Trip weiter<br />
und präsentieren eine neckische Mischung aus<br />
Ladytron, Pouppée Fabrikk, frühen Young Gods<br />
und gitarrenfreien Ur-Ministry, nehmen sich dabei<br />
aber nicht allzu ernst. Der völlig unverkrampfte<br />
Bastard aus Indie, New Wave, Post<br />
Punk und analoger EBM erfrischt mit Nostalgie-Feeling.<br />
Oft wohnt den Stücken eine Amiga<br />
500-Atmosphäre inne, wie zum Beispiel in „Have<br />
a nice Weekend“, und diese minimalistische Haltung<br />
in Verbindung mit exzellentem Songwriting<br />
tut gut im Mehrmehrmehr-Dschungel. A propos<br />
mehr: Wenn man die CD in den Schacht des PC-<br />
Laufwerks einlegt, darf man feststellen, dass die<br />
gesamte EP sowie der Vorgänger „Reset 1“, die<br />
Live-EP „Life is not a Soundcheck“ und so einige<br />
visuelle Schmankerl aller Art auf ihr enthalten<br />
sind. Ja sind die nicht lieb zu uns?<br />
10 Punkte<br />
Chris P<br />
HERZPARASIT –<br />
FROMME LÄMMER<br />
(Echozone/Bobmedia/Sony)<br />
Aus einem Text der Homepage:<br />
„Zeige auch Du, wie<br />
vergiftet Du bist und gewinne<br />
ein exklusives Fanpaket + ein<br />
einzigartiges Online-Liveinterview, bei dem Du<br />
HERZPARASIT all Deine Fragen...“, und so weiter.<br />
Schon klar. Mach Disch nackisch. Hast Du<br />
Brustimplantate? Zeig mir, wie vergiftet Du...<br />
Stopp, Herr Neunert. Das geht doch nicht.<br />
Und ob, Klappe. Buuuuh, wie böse ist das<br />
denn? Mädchen Angst machen, hab ja auch was<br />
Schwarzes an, damit man mich satanisch –<br />
Schluss! Aus! Es reicht völlig aus festzustellen,<br />
dass dieses Machwerk aus brunftigem Schlagergewinsel<br />
und schwachbrüstigen Hardrockvocals,<br />
Electrogezicke von der Stange und maximalbanalen<br />
Midtempheavygitarren in etwa so<br />
spannend ist, wie eine Readers Digest-Ausgabe,<br />
Gott oder wem immer sei Dank, nie veröffentlichter<br />
Rammstein-Songs. „Ich bin das Alpha-<br />
Tier!“, versucht der Herr hier gerade, böse zu<br />
klingen. Selten so gelacht. Dieser böse Wolf ist<br />
ein verkleidetes Schaf und wurde während Ihrer<br />
Abwesenheit softlanweich gewaschen. Und jetzt<br />
ab unter die Schermaschine, Böckchen.<br />
2 Punkte für den Drummer.<br />
Andrasch Neunert<br />
HI-LO & INBETWEEN –<br />
WE ARE NOT THE WIND<br />
(Beste! Unterhaltung/<br />
Broken Silence)<br />
Was wäre der wilde Westen<br />
wohl friedlich gewesen, wenn<br />
die finnischen Hi-Lo & Inbetween damals existiert<br />
hätten. Rauchende Kräuterzigaretten statt<br />
Pistolen. Gespräche bei einem Tee zu zweit statt<br />
Duelle. Gerechtes Teilen statt egoistischer Zockerei.<br />
Große rosa Wattebäusche statt Tumbleweed.<br />
Lieblich, heimelig und entspannt schmeichelt<br />
das dritte Album der Nordeuropäer den<br />
Ohren und dieser charmante Mix aus Folk, Americana,<br />
Country und dem drolligen Akzent Juha<br />
Mäki-Patola’s, der hier und dort auch von Liina
32 reViews I #35 I 2012<br />
Mäki-Patola unterstützt wird, hat schon etwas.<br />
Schade nur, dass der Band im letzten Albumdrittel<br />
ein klein wenig die schöpferische Puste ausgeht.<br />
10 Punkte<br />
Chris P<br />
HORDE OF HELL – LIKDAGG<br />
(Blooddawn/Regain Records)<br />
Klar, wer sich Höllenhorde<br />
nennt, muss infernalischen<br />
Krach machen. Black Metal<br />
also. Na ja, ein bisschen mehr<br />
Struktur und Originalität<br />
würden aber auch diesen Höllenhunden aus<br />
Schweden gut tun. Dahinter steckt übrigens Eigenbrötler<br />
Odhinn (u. a. In Battle) und eine Schar<br />
anonymer Musiker. Die 58 Minuten bestehen<br />
meist aus Marduk-Midtempo und Satyricon-Lava-Sound,<br />
zwischendurch gibt es Höllen-Hörspiele<br />
und das ein oder andere Bathory-Riff recyceln<br />
die Kerle gleich mit. Abgesehen davon,<br />
dass diese Mischung nicht gerade neu ist, stört<br />
der massiv übersteuerte Sound. Der soll wohl<br />
böse klingen, kommt aber ziemlich anstrengend.<br />
Er führt auch nicht gerade dazu, dass die zwölf<br />
Stücke des zweiten Schwedenhappens hängen<br />
bleiben. Im Laufe der Spielzeit verkommt „Likdagg“<br />
mehr und mehr zu einem Grundrauschen<br />
zwischen Staubsauger und Wasserkocher. Vielleicht<br />
ein Album für Menschen mit Haushaltsgerätegeräusch-Fetisch?<br />
3 Punkte<br />
JOBRY<br />
ISOLATED – ANTISTYLE<br />
(District 763 Records<br />
/New Music)<br />
„Die Musik ist beeinflusst von<br />
Hardcore, Punk und ganz viel<br />
Spaß“, heißt es schlicht im<br />
Waschzettel zu dieser CD. Den Spaß nehme ich<br />
den Kerlen aus Quedlinburg schon ab, allerdings<br />
klingen die 15 Stücke auch ganz schön wütend.<br />
Im Prinzip pendelt „Antistyle“ zwischen Agnostic<br />
Front und Rawside. Passend dazu gibbet aggressiven<br />
englisch- und deutschsprachigen<br />
Hardcore zu Gehör. Der lässt sich bekanntlich<br />
nicht neu erfinden, jedoch durchaus mal besser,<br />
mal schlechter wiederkäuen. Isolated verrichten<br />
hier absolut solide Arbeit und es verwundert wenig,<br />
dass man sich seit der Gründung 1993 u.<br />
a. im Vorprogramm von Sick Of It All, Agnostic<br />
Front oder Madball verdingen durfte. Textlich gibt<br />
es ’ne klare Position gegen Kommerz und Szenetrends<br />
und für Offenheit und Toleranz. Ebenfalls<br />
positiv: Trotz harter Töne lachen einen die<br />
Musiker auf den Fotos entspannt an, zudem gibt<br />
es mit „Where Eagles dare“ eine Misfits-Cover-<br />
Version, die nicht ganz in die stilistische Ausrichtung<br />
der Band passt, aber dennoch als gelungen<br />
bezeichnet werden darf.<br />
9 Punkte<br />
JOBRY<br />
JEALOUSY MOUNTAIN<br />
DUO – NO. 1<br />
(bluNoise/Alive)<br />
Kurz vor Deadline rutscht mir<br />
hier noch Neues vom Berufsverrückten<br />
und Tausendsassa<br />
Jörg A. Schneider rein. Nach Fischessen und<br />
Tarngo wird nun also unter dem Namen Jealousy<br />
Mountain Duo der Projektgedanke weitergelebt.<br />
Diesmal mit dabei: Gitarrist Jens Berger.<br />
Zu zweit werden Improvisationen geboten, die<br />
ihre Wurzeln im Jazz haben und recht frickelig<br />
daherkommen. Das große Plus der Platte ist dabei<br />
ihre Unmittelbarkeit. Als würde man neben<br />
den beiden Freigeistern im Aufnahmeraum sitzen,<br />
meint man quasi live mitzuerleben, wie sich<br />
die Songs aus dem Nichts aufbauen, die Musiker<br />
die Improvisationen fließen lassen und sich<br />
alles letztendlich immer wieder neu zusammenfügt.<br />
Das muss man hören, um es zu verstehen.<br />
entzieht sich jedweder Wertung<br />
Jochen Wörsinger<br />
JIM JEFFRIES –<br />
COMING TO GET YOU<br />
(I Sold My Soul/Edel)<br />
Nimmt man nur die Bilder der<br />
CD zum Maßstab, scheint Jim<br />
Jeffries ein ganz schön eitler<br />
Poser zu sein. Aber der 40jährige<br />
Engländer kann mehr, als nur wichtig in<br />
die Kamera zu glotzen: Nämlich Gitarre spielen<br />
und singen. Und da JJ den Rockabilly quasi<br />
mit der Muttermilch aufgesogen hat, gibt es<br />
hier 43 Minuten lang 14 Stücke zwischen angecashter<br />
Slideguitar-Wild-West-Romantik, klassischem<br />
Rock ’n’ Roll im Elvis-Stil und eben treibendem<br />
Rockabilly. Eine hübsche Mischung,<br />
die Jeffries und seine Mannen mit viel Herzblut<br />
und Liebe zum Detail vortragen. Klingt zudem<br />
kein bisschen angestaubt, weil die Band nicht<br />
mit der Brechstange dem Retro-Sound hinterher<br />
hechelt. Und eine Rockabilly-Coverversion von<br />
„Don’t Go“ (Vince Clarke, bzw. Yazoo) ist mir bislang<br />
auch noch nicht zu Ohren kommen. Funktioniert<br />
aber das Teil – genau wie das komplette<br />
Album.<br />
10 Punkte<br />
JOBRY<br />
KADAVRIK – N.O.A.H<br />
(Sonic Attack/Soulfood)<br />
Melodic-Death-Metal<br />
aus Westfalen: Das Quartett<br />
liefert sauber produzierte 45<br />
Minuten zwischen Dark<br />
Tranquility-Melodik, Sample-Teppichen, Cradle-<br />
Of-Filth-Black-Metal und minimalen Morbid-Angel-Technikanleihen.<br />
Zwischendurch recyceln die<br />
Kerle auch mal ein Bathory-Gedächtnis-Riff. Es<br />
steckt also relativ viel drin in den elf Stücken von<br />
Kadavrik, übrigens vier Mal auch deutsche Texte.<br />
Die sind aber bei der Art von Musik naturgemäß<br />
nur bei konzentriertem Hören als solche zu verstehen.<br />
Sänger Niklas Preach bezeichnet das<br />
dritte Werk der Band als ein „vertontes, antiutopisches<br />
Endzeitszenario“. Na ja, ganz so düster<br />
geht es nun auch nicht zu, vielmehr ist N.O.A.H.<br />
ein unterhaltsames Potpourri aus verschiedenen<br />
etablierten Stileinflüssen harter Musik. Neu erfunden<br />
wir das Rad in Westfalen nicht, aber es<br />
rollt durchaus passabel und weitgehend rund.<br />
9 Punkte<br />
JOBRY<br />
KIESGROUP –<br />
SHANTYCHRIST<br />
(Tumbleweed/Brokensilence)<br />
Manchmal zählt ja der<br />
Gesamteindruck. Da wäre<br />
zunächst das absolut als<br />
geschmacklos einzustufende Cover. Dann ein<br />
Begleitschreiben, das auf einer Länge von gefühlt<br />
1000 Wörtern (mir war’s ehrlich gesagt zu<br />
blöd, genau zu zählen) nichts anderes ist, als<br />
sinnentleerter, pseudointellektueller Dünnschiss.<br />
Okay alles nur Oberflächlichkeit, lediglich Paratext<br />
– es geht hier ja schließlich um die Musik!<br />
Und naja, was soll ich sagen? Die kann sich<br />
auch nicht wirklich entscheiden, ob sie nun Fahrstuhlpop<br />
im Stile eines Peter Licht sein will oder<br />
doch lieber die dunklen, düsteren und teils auch<br />
absichtlich nervenden Elektroexperimente eines<br />
Hans Platzgumer nachahmen möchte. Und zwischendrin<br />
auch noch der ein oder andere Punk-<br />
bzw. Hardcore-Song. Schingeling, schalala. Fertig<br />
ist etwas, das manche sicherlich als Kunst<br />
bezeichnen. Leider finde ich zu dieser persönlich<br />
aber keinen Zugang. Ach, ist das herrlich, etwas<br />
mal so richtig subjektiv scheiße zu finden.<br />
1 Punkt (weil’s ja immerhin Musik ist)<br />
Jochen Wörsinger<br />
KOFFIN KATS –<br />
OUR WAY AND THE<br />
HIGHWAY<br />
(I Hate People/Edel)<br />
Gibt es so etwas wie<br />
positiven Rockabilly?<br />
Wenn ja, dann spielen ihn die seit 2003 aktiven<br />
Koffin Kats aus Detroit. Das Ami-Trio überzeugt<br />
auf seinem vierten Album mit einer tollen Mischung<br />
aus Melodie und Energie. Die 36 Minuten<br />
kommen mit Viel Schmackes, „“Ohhs und<br />
„Ahhs“ sowie – der Abwechslung zuliebe – auch<br />
zwei, drei gebremsten Nummern daher. Stilistisch<br />
erinnert die Chose mehr als einmal an Rezurex.<br />
Stimmlich erinnert Fronter und Upright-<br />
Bassist Vic Victor ein wenig an Blitzkid. Letztlich<br />
aber sind die Koffin Kats die Koffin Kats und die<br />
leben ziemlich gut von der gleichermaßen melodischen<br />
wie klaren Stimme Victors. Fast ebenso<br />
wichtig: Der zumeist treibende, popotretende<br />
Grundrhythmus der KK-Kompositionen. Die führen<br />
dann zu Hits wie „Severing Ties“, Keep It Coming“<br />
oder „Choke“. Kurzum: Ein ganz starkes<br />
Album. Zu diesem rassigen Rockabilly-Rennpferd<br />
kann man Andre von IHP wirklich nur gratulieren.<br />
13 Punkte<br />
JOBRY<br />
LOADED –<br />
BLOODSHOT FORGET-<br />
ME-NOTS<br />
(Rookie/Cargo)<br />
Gute-Laune-Punkrock<br />
mit Ska-Einflüssen.<br />
Auf ihrem fünften Album zocken die Mannheimer<br />
um Exil-Amerikaner Nick melodisch-schwungvollen<br />
Punkrock im Stile von NUFAN, ein bisschen<br />
The Clash und einem ordentlichen Schuss<br />
Operation Ivy. Auch das The-Alarm-Cover „68<br />
Guns“ kommt nicht von ungefähr. Hinzu gesellen<br />
sich in den 36 Minuten neuerdings auch einmal<br />
Western-, bzw. Rockabilly-Anleihen („Sons<br />
of Lee Marvin“). Das verleiht dem Trio stilistisch
einen noch bunteren Anstrich und sorgt durchaus<br />
für Kurzweil. Zuweilen driften die Dame<br />
am Schlagzeug und die zwei Kerle zwar einen<br />
Tick zu sehr ins Cheesige ab, andererseits bietet<br />
„BFMN“ einen ganzen Sack voll eingängiger<br />
Melodien, ganz vorneweg „Wel<strong>com</strong>e To Calgary<br />
Manor“ und „Rebel Romance“. Positiv ansteckend.<br />
11 Punkte<br />
JOBRY<br />
LOS BASTARDOS<br />
FINLANDESES –<br />
SAVED BY ROCK N ROLL<br />
(100% Record Company)<br />
Ähnlich wie ihre Landsleute<br />
von Lordi setzen die Helsinki<br />
Headbanger auf einen bunten Rock-Cocktail mit<br />
allerlei bekannten Zutaten, allerdings ohne Maskerade.<br />
Die 39 Minuten bieten reichlich Déjàvus:<br />
Bands wie Kiss, Twisted Sister, Van Halen,<br />
ZZ Top, Lynyrd Skynyrd und Slade schimmern<br />
in den elf Songs an allen Ecken und Enden<br />
durch. Aber die Finnen sind pfiffig genug, dieser<br />
Rock-Melange zumindest einen kleinen Eigenanteil<br />
beizumischen, etwa durch das angenehme<br />
kratzige Organ von Fronter El Taff. Das<br />
Ergebnis pendelt irgendwo zwischen Party-Metal<br />
und leichter Hardrock-Kost. Nicht ohne Charme,<br />
wenngleich nicht jedes Stück so zielsicher den<br />
Puls in die Höhe treibt wie etwa „Twin Sister“.<br />
Sympathisch aber, dass die Band sich selbst<br />
nicht allzu ernst nimmt und vor allem eines vermitteln<br />
will: Den Spaß am (Hard)Rock. Mission<br />
erfüllt, liebe Bastarde.<br />
9 Punkte<br />
JOBRY<br />
<strong>LOVE</strong> A –<br />
EIGENTLICH<br />
(Rookie/Cargo)<br />
Muss eine Oktave<br />
reichen? Darf sie?<br />
Wenn das einfach so<br />
geil vorwärts rockt,<br />
wie Dackelblut zu<br />
seinen besten Tagen?<br />
Wie die wüste<br />
Anarchoversion der<br />
Schneller Autos<br />
Organisation, wie die<br />
Indiepop-Variante der<br />
Ton Steine Scherben<br />
...<br />
? Viel Sprachgesang,<br />
viel gut temperierter<br />
Ärger, nein, Traurigkeit<br />
über das, was<br />
manche Leben nennen,<br />
viel Hoffnung<br />
auf neue Perspektiven<br />
und „alles, was<br />
Ihr heute sagt, war<br />
gestern schon gelogen...“.<br />
„Was denkt<br />
Ihr Euch?<br />
Denkt Ihr denn überhaupt?“<br />
Tja, gute Frage. Der nicht zu smart hervorsprudelnde<br />
Ekel an der Realität der „Vegetables“<br />
(Danke, Bernhard Vesper!), der spätkapitalistischen<br />
Massenverblödung ist subjektiv und<br />
selbstkritisch genug formuliert, um zu sitzen.<br />
Und das, was Love A, die frühere Trierer Love<br />
Academy, hier formulieren, ist natürlich mit der<br />
Hamburger Schule verbunden, wenn man nicht<br />
primär an Kettcar denkt, die hier ausdrücklich<br />
gedisst werden, sondern eher Marr oder Escapado.<br />
Das hat Haltung, ist echt und warm und<br />
biestig und nett gemeint und doch kompromisslos<br />
und immer gespannt auf die Story hinter der<br />
nächsten Ecke, egal, ob in der U-Bahn oder an<br />
der Supermarktkasse. Das ist wach und macht<br />
wach. Und wenn jetzt, siehe oben, noch ein wenig<br />
mehr Formenreichtum dazukommt, ohne von<br />
einem Mehr an Möglichkeiten sich zu L’art pour<br />
l’art verführen zu lassen – Jungs, da hab ich bei<br />
Euch so gar keine Angst vor – wenn also das<br />
Ganze noch’n Tick bunter wird, dann ist es Referenz<br />
für mindestens eine Musikergeneration.<br />
Oder wollt Ihr etwa Geld verdienen damit? Echt?<br />
Kicher. Dabei hättet Ihr das echt verdient. Aber<br />
welche Industrie lässt sich zu fröhlichem Garagenpoprock-Uptemp<br />
den Ast absägen, auf dem<br />
sie selber... Ach, das kommt erst noch? Und die<br />
sollen es auch noch selbst... Hab ich jetzt zu viel<br />
verraten? Macht Ihr jetzt auch noch ’nen Song<br />
über uns, die Nachbarn auf der anderen Seite?<br />
Wir legen auch kein Kettcar auf, bei der Hinterhofparty,<br />
wenn Ihr vorbeikommt, obwohl wir die<br />
mögen. Versprochen.<br />
12 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
MARVPAUL –<br />
ES GIBT HIER NICHTS<br />
ZU TUN, ABER ETWAS<br />
ANDERES GIBT ES<br />
AUCH NICHT<br />
(Eigenverlag)<br />
2012 I #35 I reViews<br />
Sie sind ja noch so jung, und schon so gut. Im<br />
Spannungsfeld zwischen Pianolyrik wechselweise<br />
Keyboard-Retrospace mit kracherten Indierockgitarren<br />
und Drums, die tendenziell immer<br />
ein wenig schneller wollen als sie dürfen,<br />
mäandert die ein wenig, aber nicht zu weinerlichwütende<br />
Stimme eines früh Desillusionierten aus<br />
meinen Boxen. Und hat offensichtlich zwischen<br />
Sven Regeners balladesker Poesie und den ärgerlichen<br />
Selbstbehauptungsattacken eines Rio<br />
Reiser mit ’nem gehörigen Touch Kompromisslosigkeit<br />
und selbstreferentieller Verliebtheit in epische<br />
Verrätselungen ein sehr eigenes Plätzchen<br />
entdeckt, in dem sich wiedererkennbar deutschsprachig<br />
rocken lässt. Das ist ganz schön neu<br />
und verträgt auch kleinere Stolpereien blendend,<br />
stehen doch Echtheit und rotziger Charme<br />
über allem. Ich empfehle, einfach weiter zu machen<br />
und sich keinesfalls die Kanten abschleifen<br />
zu lassen, nur halt durch technischen Fortschritt<br />
die schon bemerkenswerte Flexibilität und<br />
Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern.<br />
Sehr aussichtsreich sind die Jungs. Partyrock<br />
mit Hirn. Selten. Nicht nur in dem Alter.<br />
Sind ja noch so jung. Ganz schön frech. In der<br />
Münchner Schule ist das Direktorat gefallen. Es<br />
herrscht schwitzige Anarchie. Das sollte sich bis<br />
nach Hamburg ’rumsprechen.<br />
12 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
33
34<br />
reViews I #35 I 2012<br />
MAUD – S/T<br />
(Ampire/New Music)<br />
Kennt Ihr noch North Of<br />
America, die Indierocker, die<br />
einst wüsten Stonerrock mit<br />
Indieschrägen und bewusst<br />
unperfekt gehaltenen Gesangslines zum Gegenentwurf<br />
der gelackten Normierung austauschbarer<br />
Massenprodukte entwickelten, die bei jedem<br />
Song die Instrumente durchwechselten, um<br />
jeglicher Entfremdung vorzubeugen, spontan und<br />
unberechenbar zu bleiben, auch für sich selbst?<br />
Und kennt Ihr noch den wüsten Noiserock von<br />
Mars, die einst Versammlungen von Langhaarigen<br />
in wilde Tanzsäle verwandelten, die hemmungslos<br />
von einer krachigen Überraschung zur<br />
nächsten getrieben wurden?<br />
Verbindet das mal, von den Instrumentenwechseln<br />
abgesehen. Maud sind eine angejazzte,<br />
wütend gegen den Mainstream rockende Neuentdeckung<br />
aus Bavaria, sind ein brachialer<br />
und zugleich filigraner Angriff auf tradierte Hörgewohnheiten,<br />
sind biestig und majestätisch zugleich.<br />
Wie geil ist das denn. Sollte je ein Spielfilm<br />
über einen liebevollen Kampfhund gedreht<br />
werden, der ein ganzes Dorf aufmischt, ohne<br />
dass Blut fließt, dann ist das hier dazu der passende<br />
Soundtrack. Einfacher gesagt: Das atmet<br />
Größe! Und, mal so am Rande bemerkt: Die Blu-<br />
Noise-Abteilung sollte das mögen... Herr Lucas:<br />
Übernehmen Sie!<br />
13 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
ANAЇS MITCHELL –<br />
YOUNG MAN IN AMERICA<br />
(Wilderland Records/Soulfood)<br />
Wenn Dir für ’ne Folkoper im<br />
Guardian, der Sunday Times<br />
und im Observer gleichzeitig<br />
die Ehre zuteil wurde, in den Jahresbestenlisten<br />
Preise abzuräumen, was dann? Dich neu erfinden?<br />
Kommt bei unserer Weltenbummlerin nicht<br />
in Frage. Sie ist, wie sie ist, bringt Geschichten<br />
mit nach Hause und erzählt. Nein, diesmal geht<br />
es eher um „Back to the roots“, verzichtet Mitchell<br />
zunächst auf die große Oper, geht mit kleinerem<br />
Gerät zu Werke und – singt in einem kleinen,<br />
feinen Epos alle Rollen selbst. Es geht diesmal<br />
um einen jungen Mann, der, angeekelt vom Erfolg,<br />
letztlich vergeblich nach Erfüllung sucht, den<br />
nichts mehr wirklich kickt oder gar erfüllt... Anais<br />
Mitchell über ihren tragischen Helden: „Alcohol,<br />
fame, money, sex, – nothing satisfies him. He’s<br />
desirous and very sad.“ Und mit all den Gastmusikern,<br />
die auch dem Di Franco/Mitchell-Kosmos<br />
entstammen, wird es dann doch recht bunt und<br />
ein bisschen viel Geflirre macht sich breit, nur<br />
wenige Minuten lang. Tolle Geschichte ist das,<br />
was sie erzählt, und sie umschifft dann doch wieder<br />
genial die Gefahr, durch zu viel Chichi ihrer<br />
eigenen schönen Geschichte die Aufmerksamkeit<br />
zu nehmen. Das hat dann wirklich Größe.<br />
Wie schön das Banjo von Brandon Seabrook.<br />
Und Todd Sickafoose, ihr treuer Produzent und<br />
Pianist, er ist ihr mindestens ebenbürtig, ihm gehört<br />
die Hälfte des Ruhms, wieder einmal. Nur<br />
die Uptemp-Abteilung, da überfährt sie sich wieder<br />
mal ein wenig selbst. Eine Rockerin muss ja<br />
auch nicht mehr aus ihr werden. Sie hat andere<br />
Stärken.<br />
11 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
MOSFET –<br />
DEATHLIKE THRASH’N’ROLL<br />
(Refused Records)<br />
Diese Ösis aus Marchtrenk<br />
wandeln schwer auf den<br />
Spuren von The Crown, heißt:<br />
Sie reichern zumeist schnellen Thrash mit Death<br />
und Roll an – so gesehen trifft der Albumtitel<br />
zu. Zwischendurch holen die Alpenstaatler mit<br />
diversen Riffs und Soli auch Freunde älterer Slayer<br />
und The Haunted ab. Ist nicht ohne Charme<br />
diese Mischung, landet auf der Originalitätsskala<br />
allerdings eher auf den hinteren Plätzen, auch<br />
in puncto Langzeitgedächtnis. Daher sind diese<br />
knapp 42 Minuten, bzw. 13 Stücke eine Frage<br />
der Priorität: Wer sich bekannte Zutaten gerne<br />
(mehr oder weniger) neu abschmecken lässt,<br />
sollte „DTR“ mal auf dem Speisezettel notieren.<br />
Für Freunde gehobener Gourmet-Küche mit innovativen<br />
Ansprüchen dürfte das Album eher<br />
Fastfood-Charakter besitzen.<br />
7 Punkte<br />
JOBRY<br />
MOST WANTED<br />
MONSTER – BIPOLAR<br />
(District 763/Cargo)<br />
Ich hab es ja schon nicht mehr<br />
für möglich gehalten, dass da<br />
Jungs daher kommen, die es<br />
schaffen, dem guten alten<br />
melodischen Powerheavy neues Leben einzuhauchen<br />
und mal wirklich eine neue, innovative<br />
Mischung zusammenzukomponieren. And here,<br />
ein neues Label aus dem Südwesten der Republic<br />
proudly presents: Feinen vorwärtstreibenden<br />
Emo mit Powergeschrei, Hardrockrums in der<br />
Rhythmik plus Hardcoregitarre (SEHR geil!),<br />
Postrockteppiche, Popchoräle, Electro – und ein<br />
gern mal kurz trillerndes Piano, das bisweilen ein<br />
bisschen viel will, aber in den traurigen Passagen<br />
wirklich schön ist, just that. Guter Gesang,<br />
wichtig in dem Genre. Sehr gutes Handwerk,<br />
und wenn das alles in seiner raffinierten Vielschichtigkeit<br />
live genauso klappt, dann hat das<br />
den Hard ’n’ Heavy-Innovationspreis verdient<br />
und man könnte ähnlich Lustiges erleben, wie<br />
einst bei Waltari-Konzerten: Indie- und Postcorefreunde,<br />
die sich im Metalpublikum nicht unwohl<br />
fühlen. Bei solchen Shouts, solchen pfiffigen<br />
Klangüberraschungen in Serie, die nie Selbstzweck<br />
sind, sondern ein berechtigtes ganz klein<br />
wenig selbstverliebt und ganz schön soundsexy<br />
ein Fest der Variabilität feiern, ohne je den<br />
Grundrumms und vorwärtsweisenden Beat zu<br />
verlieren, wenn man mal von ein, zwei etwas<br />
holprigen Digital-Analog-Flows absieht. Tja, wären<br />
auf der Meckerseite nur die reichlich ausbaufähigen<br />
Englischkenntnisse. Falsche Lehrer?<br />
Urlaub in den Staaten, Bay Area!!! Aber das<br />
führt beim Erstling nicht zur Abwertung, ihr seid<br />
in Karlsruhe ja schon gestraft genug mit dem<br />
KSC...<br />
Also, Freunde der Tonkunst: Das rockt fett, hat<br />
Stil, ist Klasse und ich empfehle die Band mit<br />
Entschiedenheit für höhere Aufgaben. Chapeau,<br />
Jungs!<br />
12 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
MOTÖRHEAD –<br />
THE WÖRLD IS OURS VOL.<br />
1 – EVERYTHING FURTHER<br />
THAN EVERYPLACE ELSE<br />
DVD/2 CD<br />
(Motörhead Music/UDR/EMI)<br />
Dass Lemmy (66 Jahre…) und Co. unkaputtbar<br />
sind, haben sie oft genug bewiesen. Und<br />
wer es immer noch nicht glaubt, möge sich diese<br />
Dreifach-Ladung zu Gemüte führen: Die DVD<br />
dokumentiert das 35-jährige Jubiläum – aufgenommen<br />
von Banger Films und Sam Dunn (Iron<br />
Maiden, Flight 666, Rush, Beyond The Lighted<br />
Stage) und gemixt vom langjährigen Motörhead-Produzenten<br />
Cameron Webb. Es handelt<br />
sich um ein komplettes, 90-minütiges Konzert<br />
aus Santiago de Chile vom April 2011 – 17<br />
Stücke, übrigens gefilmt in Schwarz-Weiß. Das<br />
gibt der Sache eine gewisse Aura der Zeitlosigkeit<br />
– der passende Rahmen für diese Rock ’n’<br />
Roll-Urviecher. Dazu gibbet noch je etwa 25-minütige<br />
Mitschnitte von Konzerten aus New York<br />
und Manchester. Bei „Killed by Death“ taucht<br />
Doro Pesch auf, die ja schon seit Jahren dicke<br />
mit Lemmy ist. Neben Band-Klassikern wie<br />
„Ace Of Spades“, „Overkill“ oder „Over The Top“<br />
kommen auch Stücke vom letzten Album „The<br />
Wörld is Yours“ und eher selten zu Gehör gebrachtes<br />
wie „In the Name of Tragedy“ oder „Just<br />
‚cos You got the Power“ zum Zuge. Die beiden<br />
CDs bringen es jeweils auf eine knappe Stunde<br />
Spielzeit und runden damit den ersten Teil des<br />
Motörhead-wunschlos-glücklich-Pakets gewohnt<br />
knarzig ab. Oder um es wie Lemmy zu sagen:<br />
„We are Motörhead and we play Rock ’n’ Roll!“<br />
Keine Wertung<br />
JOBRY<br />
NEMHAIN – THE MURDER MILE-EP<br />
Download<br />
Starke Zwischenmeldung der Rocker um Paradise-Lost-Drummer<br />
Adrian Erlandsson und seiner<br />
Amber: Als Vorgeschmack auf das nächste Album<br />
funktioniert die 16-minütige EP vorzüglich.<br />
Den Anfang macht eine kaputte Slidegitarrenversion<br />
von „Bad Moon Rising“ – könnte auch von<br />
Marilyn Manson stammen. Danach gibbet zwei<br />
tighte Punkrocker um die Ohren und ein zäher<br />
Bastard in bester Danzig-/Black Sabbath-Tradition<br />
beschließt den Kurztrip düster. Eigentliches<br />
Highlight ist aber das Rotzorgan von Amber, die<br />
positiv an Nina von Skew Siskin erinnert. Das<br />
Beste kommt wie immer zum Schluss. Das Teil<br />
könnt ihr kostenlos unter www.tiefdruck-musik.<br />
de herunterladen.<br />
Keine Wertung<br />
JOBRY<br />
NITROGODS – NITROGODS<br />
(Steamhammer/SPV)<br />
Leute, was soll ich schreiben.<br />
Das ist keine Motörhead--<br />
Scheibe, auch wenn das an<br />
manchen Stellen durchkommt.<br />
Das sind NITROGODS – und die brauchen sich<br />
vor niemandem zu verstecken. Gestandene Musiker<br />
mit langjähriger Erfahrung lassen ein Teil<br />
auf uns los, bei dem Schmidt‘s Katze sich aber<br />
einen Düsenjet unter die vier Pfoten klemmen<br />
müsste, um mithalten zu können. Zwölf Songs,<br />
die dich an die intimste Zone packen und einen<br />
Rock-Adrenalinschub nach dem anderen entfa
chen. Ob midtempomäßig wie bei „At Least I‘m Drunk“, wenn die<br />
Slide-Gitarre ausgepackt („Lipsynch Stars“) oder man eine 3-Minuten-it‘s-only-rock-n-roll-Nummer<br />
(„Gasonline“) zum Besten gibt<br />
– hier wird klar: Das ist THE NEXT BIG THING! Und die kommen<br />
aus good old Germany! Mehr gibt es nicht zu schreiben, das Teil<br />
rockt die Sau in den Kuhstall!<br />
14 Punkte<br />
Carsten Klenke<br />
NITROVOLT – ROCK ’N’ ROLL COMMANDO<br />
(I Hate People/Edel)<br />
Sie sind jung und brauchen den Rock ’n’ Roll:<br />
Die Kölner Nitrovolt galoppieren in knapp<br />
33 Minuten durch zwölf High-Energy-Songs.<br />
Die Paten sind offensichtlich:<br />
Peter Pan Speedrock, The Carburetors und The Chuck Norris<br />
Experiment – Hauptsache flott also. Verschnaufpausen gibbet<br />
auf „Rock ’n’ Roll Commando” folglich nicht, stattdessen regiert<br />
chronisches Popo-Treten. Im Detail mangelt es den Rheinländern<br />
allerdings (noch) an musikalischer Variabilität und den großen Mitgröhl-Refrains.<br />
Fans genannter Bands dürfte die Mischung aus<br />
treibendem Punk ’n’ Roll und Speedrock dennoch so gut einlaufen,<br />
wie ein kühles Blondes an einem heißen Sommertag.<br />
8 Punkte<br />
JOBRY<br />
PENCILCASE –<br />
KANSAS CITY SHUFFLE<br />
(Xochipilli/New Music Distribution)<br />
Diese singenden Federmäppchen fühlen sich<br />
von US-Melodic-Rockern wie den Foo Fighters,<br />
Audioslave oder Puddle Of Mudd angespitzt,<br />
öhm, angestiftet. Die Inspiration hat so gut geklappt, dass die Aachener<br />
meist authentisch US-amerikanisch klingen, teils gar wie<br />
eine unpeinliche Nickelback-Ausgabe. Man benannte sich nach<br />
einem Zitat von Mr. Goodkat aus dem Gangsterthriller „Lucky #<br />
Slevin“: „Ein Kansas City Shuffle ist, wenn alle Welt nach rechts<br />
guckt, während du links rum gehst.“ Seither sind an die 400 Live-Auftritte<br />
(z. B. bei Rock am Turm, eine Rockpalast Show oder<br />
Support für Samiam) sowie aktuell das bereits zweite Album im<br />
Kasten. Und Letztgenanntes macht rundum Laune: „Freaks“<br />
ist ein punkig loslegender Kick-Starter, „Dig“ eine twangige Mischung<br />
aus Radiorock und Hüpfcore mit tollem Intro und das Titelstück<br />
„KCS“ hat „Rollin’“-Qualitäten, die selbst aus meinem<br />
Daihatsu Curare fast eine V8-Stretch-Limo machen. „Memory<br />
Milestones“ hat ein Southern Rock-Flair (doch keine Sorge: Wer<br />
die Beatsteaks coverd, kann eigentlich kein Redneck sein), bei<br />
„Faultline Stories“ kriegen 3DD die Tür nicht zu und „Say Goodbye“<br />
schließlich erinnert sogar ein wenig an die sehr großen Tragically<br />
Hip. Dazu kommt noch Lebenshilfe wie „How To Shit In<br />
The Woods“, ein abgedrehtes Wald-Cover mit einem lang entbehrten<br />
„Parental Advisory“-Sticker – Herz, was willst du mehr?!<br />
11 Punkte<br />
Klaus Reckert<br />
THE PORTERS –<br />
RUM, BUM & VIOLINA<br />
(Cargo Records)<br />
Wenn sich deutsche Bands an Folkrock/-punk<br />
versuchen, geht das meistens ganz schön in<br />
die Bux, aber, lieber Leser, sei beruhigt.<br />
Diese Düsseldorfer Band zieht sich gar nicht mal so schlecht aus<br />
der Affäre. Im Vergleich zu den beiden Vorgängerscheiben bewegen<br />
sich die vier Herren und die Dame allerdings musikgeographisch<br />
noch ein ganzes Stück weiter weg von Irland, stattdessen<br />
werden die Country- und Rock-Territorien intensiver<br />
beackert, gerne aber auch der des Punk. Gerade dann erinnern<br />
The Porters nicht zuletzt auch wegen Volkers Stimme ein wenig<br />
an eine Lightversion der Dreadnoughts. Doch „Rum, Bum & Violina“<br />
ist nicht zum Dauerpogo und -schwof gedacht, denn es<br />
finden sich viele entspannte Momente auf dem Album. Hat man<br />
2012 I #35 I reViews<br />
sich an ein paar marginale Unzulänglichkeiten hinsichtlich Timing, Tightness, Tuning<br />
und Englischaussprache gewöhnt, wird dieses akustische Rund zu einem gern gesehenen<br />
Gast im CD-Schacht.<br />
10 Punkte<br />
Chris P<br />
PSYCHO<strong>LOVE</strong> –<br />
HARDCORE ROCK N ROLL<br />
(Idle Star Records/SecretHell)<br />
Harrharr … ein musikakustisches Werk aus meiner alten Heimatstadt<br />
Oberhausen. PSYCHO<strong>LOVE</strong>! Es muss mächtig was hergeben, das<br />
Geschehen in der Ruhrpottstadt, um solche Song saus dem Ärmel<br />
zu schütteln. Sänger Mirk und sein musikalischer Bruder Jimmy verdeutlichen schon<br />
mit dem Albumtitel “Hardcore Rock’n‘Roll” worum es geht. Die zehn Songs strotzen<br />
nur so vor Energie und Kick-Ass-Rock’n‘Roll. Begrüßt wird man mit einem deftigen<br />
“Fuck”! Hey … was haut ihr uns da um die Ohren!? Puren Rock’n’Roll mir der obligatorischen<br />
schnulzigen Ballade. Also für Euch da draußen sollte klar sein: PSYCHO<strong>LOVE</strong><br />
sind schon zu Lebzeiten Kult! Wer seinen Rockohren eine Menge spaßigen und erdigen<br />
Rock’n‘Roll bieten möchte, sollte sich diese Scheibe besorgen. Den Rest erledigen<br />
dann PSYCHO<strong>LOVE</strong>.<br />
12 Punkte<br />
Carsten Klenke<br />
ROTOR –<br />
FESTSAAL KREUZBERG<br />
(Elektrohasch)<br />
Das war ja mal fällig, Rotor live. Und in der Homebase fehlte es<br />
weder an Tagesform, noch an der nötigen Stimmung. Also, fetter<br />
Stonerrock mit Indiecore- und sogar Metaleskapaden und det<br />
35
36 reViews I #35 I 2012<br />
Janze auf damned hohem Niveau. Man könnte<br />
die Berliner ja fast beneiden, die dabei waren,<br />
aber ein wenig dürfen wir nun wenigstens posthum<br />
mitfeiern, Haare schütteln, abfahren, uns<br />
immer schneller um uns selbst drehen, in den<br />
raffinierten Varianten der Themen versinken und<br />
kein bisschen irgendwelche Vocals vermissen<br />
und die tonangebende Präsenz des Bassers bewundern<br />
und - laut machen. Jetzt. Muss ja nicht<br />
gleich schade finden, dass sie nicht noch ein,<br />
zwei unbekannte Stücke lebendig gemacht oder<br />
alte Bringer in neues Gewand gepackt haben,<br />
wär’ nur schön gewesen, für die Fans, die die<br />
Studioalben schon haben. So, jetzt halt ich aber<br />
mal die Klappe und hör zu. Lohnt sich.<br />
11 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
ROTZKOTZ – MUCH FUNNY<br />
(Sireena Records/<br />
Brokensilence)<br />
Meistens sind Re-Releases ja<br />
der Teufel, doch ab und zu gibt<br />
es doch sinnvolle solche.<br />
Zum Beispiel dieses kleine<br />
Juwel aus dem Jahre 1979. Was duftet es hier<br />
nach ollen Ramones, den Sex Pistols, den<br />
Kinks, den Stooges und The Clash, jaaa, es ist<br />
einfach ein Fest. Noch mal eine dicke Nase einatmen,<br />
aaah! An der Vier-Spur-Eigenproduktion,<br />
die seinerzeit gerade mal 300,- DM gekostet<br />
hat und der Band den Ruf der ersten deutschen<br />
Punkband, die eine selbstproduzierte Scheibe<br />
auf den Markt gebracht hat, einbrachte, wurde<br />
nix geschraubt, und doch schiebt das um drei<br />
Live-Bonustracks erweiterte Kultdebüt der 1976<br />
gegründeten Hannoveraner Wave-Punk-Legende<br />
so manch aktuelle, sich „punk“ schimpfende<br />
Hightech-Veröffentlichung mühelos gegen die<br />
Wand. Es ist ja schon ein wenig ein Fluch, wenn<br />
man wie ich zu spät geboren wurde, denn mit<br />
damals fünf Jahren auf dem schmächtigen Buckel<br />
und eher geschmacksverwirrten Geschwistern<br />
gab es seinerzeit keine Gelegenheit, das<br />
frische Vinyl mit der Nadel des Plattenspielers zu<br />
entjungfern. Doch der Fluch ist nun gebrochen,<br />
wenn auch „nur“ in digitaler Form.<br />
12 Punkte<br />
Chris P<br />
CLAUDIA RUDEK – S/T<br />
(Finest Noise/Radar Music)<br />
Claudia wer? Frau Rudek<br />
markiert mit ihrem Debüt am<br />
Singer-Songwriter-Baum und<br />
gibt dabei eine durchaus<br />
passable Figur ab: Stimmlich an Suzanne Vega<br />
erinnernd liefert Rudek zehn folkig angehauchte<br />
Nummern ab, die sich grob zwischen Bob Dylan<br />
und Joan Baez verorten lassen. Dabei pendelt<br />
Rudek zwischen Pop, ein bisschen Kitsch, Melancholie<br />
und zuweilen interessanter Rhythmik.<br />
In Summe fallen die zehn Stücke recht unterschiedlich<br />
aus. Dieses relativ großzügige Spektrum<br />
macht in Verbindung mit den vielen kleinen<br />
Details innerhalb der einzelnen Stücke den<br />
Reiz der 37 Minuten aus. Auf jeden Fall ein Album,<br />
das an kalten Winterabenden durchaus ein<br />
bisschen gefühlte Wärme in die heimische Stube<br />
bringt.<br />
9 Punkte<br />
JOBRY<br />
THE SAINT<br />
JAMES SOCIETY –<br />
PRAY FOR US<br />
(Tee Pee/Ada Global)<br />
Die Hippies sind wieder da:<br />
Die MusikerInnen von TSJS<br />
glotzen einen nicht nur durch Puck-die-Stubenfliege-Gedächtnis-Sonnenbrillen<br />
an, sondern<br />
liebäugeln auch musikalisch den späten 60ern<br />
folgend. Die vier Stücke, bzw. 17 Minuten lassen<br />
gefühlt so manche Dope-Fahne durch die Boxen<br />
wabern. Ist mir eine Spur zu retro aber Dauer-Hippies,<br />
die sich musikalisch zwischen Doors<br />
und Led Zeppelin wohlfühlen, dürfen sich das<br />
Teil auf den Einkaufszettel notieren.<br />
Keine Wertung<br />
JOBRY<br />
SAMIAM – TRIPS<br />
„I’ve been awake so long“,<br />
diese Zeile (s)kandiert Jason<br />
Beebout im herrlich noisigen<br />
Aufmacher „80 West“ so<br />
lange, bis das Mantra tatsächlich<br />
so eine Art Überklarheit erzeugt, wie sie<br />
Übernächtigung (oder Plattenrezensionsmarathons)<br />
manchmal mit sich bringen kann. Gut so,<br />
denn für diese Scheibe können wir jedes bisschen<br />
Aufmerksamkeit brauchen. Beispielsweise<br />
für endgültige Hymnen wie „Demon“, „How<br />
Would You Know“ oder das Liedgold „El Dorado“.<br />
Hiermit geht Ihr auf einen 40-minütigen Trip<br />
von Punk über Pop bis zu Emo, der übrigens mit<br />
Billie Joe Armstrong im Green Day-Studio eingefangen<br />
wurde. Samian rule. Alle anderen tun nur<br />
so.<br />
13 Punkte<br />
Klaus Reckert<br />
SATURNIA –<br />
ALPHA-OMEGA-ALPHA<br />
(2CD)<br />
(Elektrohasch)<br />
Krautrocker. Brain-Jünger.<br />
Sinnsucher. Legale Drogen-<br />
FreundInnen, Verschwörungstheoretiker ohne<br />
Verfolgungswahn. LSD-Hängengebliebene mit<br />
Angst vor zu bösen Tönen. Indienfahrer ohne<br />
feste Hotelbuchung und Nepalreisende ohne<br />
Rückfahrtticket. Freunde des Kosmos und des<br />
Majakalenders in der alten Ausgabe. Philosophen<br />
aus Atlantis. Ätherische Spinnenmädchen vom<br />
Planeten Betageuze. Langhaar-Fetisch-Schwule<br />
mit Sinn für Stromgitarren und flirrendes Gefiepe<br />
aus Eurer Drogenexperimentalphase. Klaus<br />
Schulze und der Rest von Tangerine Dream.<br />
Eberhard Schoener. Mani Neumeier und die ganze<br />
Guru Guru – Blase. Blumenmädchen aller Länder.<br />
Rick van der Linden und Jon Lord, wenn Ihr<br />
Euch mal kurz wiederbeleben würdet. Modedesigner<br />
für Außerirdische Besucher ohne Bewaffnung.<br />
Alle mal herkommen. Und hören.<br />
P.S.: Wen wir morgen wieder aufwecken aus der<br />
unweigerlichen Trance, das darf unser portugiesischer<br />
Ausnahmekünstler Luis Simões dann<br />
ganz frei selbst entscheiden. Bin dann auch mal<br />
weit weg.<br />
13 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
SCHWARZ –<br />
ESPIRITUS DEL DESIERTO,<br />
YO OS INVOCO<br />
(bluNoise/Alive)<br />
Schwarz ist ein vom Spanier<br />
Alfonso Alfonso (sic!) im<br />
Jahre 1997 ins Leben gerufenes Projekt, das<br />
seinen Namen seinerzeit per Zufallsgenerator<br />
aus einer Krautrock-Enzyklopädie entnahm.<br />
Nicht nur das, sondern auch die Tatsache, dass<br />
das hier vorliegende siebte Album der Band Vinyl<br />
only (weißes Vinyl!!) veröffentlicht wird, offenbart<br />
einen gewissen Charme und zeugt von der Liebe<br />
zu dem, was man macht. Mit dem Signing von<br />
Schwarz geht bluNoise unterdessen entschlossen<br />
den Weg weiter, der schon mit der Veröffentlichung<br />
von Tomzack beschritten wurde. Wie diese<br />
loten sich auch Schwarz im Spannungsfeld<br />
zwischen Krautrock, Drone und experimenteller<br />
Improvisation ein. In diesem Sinne eine echte<br />
Genre-Platte für Liebhaber und Sammler.<br />
13 Punkte<br />
Jochen Wörsinger<br />
SHIRLEY HOLMES –<br />
HEAVY CHANSONS<br />
(Setalight/Rough Trade)<br />
Uptemp, Mädels am Rocken<br />
und Reimen. Plus ein Männeken.<br />
Fett forward. A weng auffällig<br />
krawallig bunt, der flotte<br />
Dreier betreibt Crying for Compliments, aber egal,<br />
das ist ganz schön frech und sexy, hat hohen<br />
Partyunterhaltungsfaktor, ist allemal selbstironisch<br />
genug, um nicht zu selbstgerecht zu wirken,<br />
alles andere als doof, die Sprachwechsel erhöhen<br />
Hype- und Partyfaktor gleichermaßen – und<br />
also ist das zwar nicht eben die Neuerfindung<br />
des Garagenmädelsrrrrocks und irgendwie gibt’s<br />
das alles schon, aber es macht halt god damned<br />
fun, and that’s the point, so lange es noch ein<br />
paar Widerhäkchen gibt. Sonst wär’s ja doch nur<br />
Überbauscheiße. Passt da ein bisschen auf, Mädels.<br />
Wenn Springer Euch liebt, ist der Krawall<br />
Modekacke, ist die Rrrriot nur der Name eines<br />
Parfums und die Veranstaltung bedarf der Redefinition.<br />
Einstweilen geht’s noch.<br />
10 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
SICK OF IT ALL – NONSTOP<br />
(Century Media/EMI)<br />
Der Album-Titel passt:<br />
Die NewYorker Hardcore-Posse<br />
existiert seit mittlerweile<br />
25 Jahren und hat sich in<br />
ihrer Karriere durch nichts<br />
aufhalten lassen. Das nötigt Respekt ab, zumal<br />
die Band bis heute durch absolute Bodenständigkeit<br />
glänzt. Zum Jubiläum belohnt sich das<br />
Quartett mit einer Neueinspielung seiner 20 besten<br />
Stücke – zumindest nach dem Geschmack<br />
der Musiker. Klar ist, dass SOIA tatsächlich eine<br />
ganze Reihe Szene-Hits zustande gebracht haben,<br />
stellvertretend genannt seien hier „Injustice<br />
System!“, „Scratch The Surface“, „Just Look<br />
Around“ und „Lo<strong>com</strong>otive“. Die 35 Minuten zu<br />
füllen, gehörte damit zu der leichtesten Übung.<br />
Fast mehr überrascht, dass der nicht gerade als<br />
szeneaffin geltende Tue Madsen den vier Unkaputtbaren<br />
tatsächlichen einen räudigen und doch<br />
transparenten Sound gezimmert hat. Der verleiht
einem das Gefühl, dass die Kerle gerade im heimischen<br />
Wohnzimmer aufspielen. Bleibt einzig<br />
ein winziger Schönheitsfehler: Ihren vermeintlich<br />
größten Hit „Step down“ haben sich die Geburtstagskinder<br />
tatsächlich geknickt…<br />
12 Punkte<br />
JOBRY<br />
SISTER SIN –<br />
ROCK ’N’ ROLL (Single)<br />
(Victory/Digital Release)<br />
Year, die GöteborgerInnen<br />
werden ihrem Ruf als R ’n’ R-<br />
Säue gerecht und nehmen<br />
sich stilecht ’ne Motörhead-Nummer vor. Die gilt<br />
zwar nicht unbedingt als der große Band-Hit,<br />
aber in diesem Fall entscheiden Botschaft und<br />
Attitüde. Und die stimmen: Liv röhrt herrlich rockig<br />
und ihre männlichen Sidekicks an den Instrumenten<br />
lassen auch nix anbrennen. Dass<br />
Lemmys Kumpeline Doro auftaucht, also zwei<br />
Damen eine Motörhead-Nummer interpretieren,<br />
verleiht der Chose einen zusätzlichen Reiz.<br />
Mr. Killmister jedenfalls wird das gefallen. Noch<br />
was? Höchstens das: “I am in love with Rock ’n’<br />
Roll, it satisfies my soul, if that’s how it has to be,<br />
it ain’t so bad!”<br />
Keine Wertung<br />
JOBRY<br />
SKELETAL DAMAGE –<br />
FIRE AND FORGET<br />
(Rising Records/Cargo)<br />
Bis jetzt hielt ich Reinkarnation<br />
ja für Hokuspokus. Nach der<br />
Einfuhr von „Fire and Forget“<br />
komme ich allerdings ins Grübeln. Skeletal Damage<br />
aus England? Nee, das sind doch die eigentlich<br />
längst aufgelösten Sacred Reich, die<br />
sich ein paar Slayer-Riffs ausgeliehen haben.<br />
Exakt so nämlich klingen diese 49 Minuten. Erstaunlich,<br />
verblüffend, unglaublich – zumindest<br />
für mich als bekennenden Sacred-Reich-Fan.<br />
Wer also auf Innovationen in Sachen Thrash Metal<br />
aus ist, kann sich wieder schlafen legen – damit<br />
kann das junge Quartett nicht dienen. Dafür<br />
aber mit neun Mal klassischen Kompositionen,<br />
die vor allem durch markanten Gesang und gekonnte<br />
Midtempo-Passagen überzeugen. Zwar<br />
ziehen die Kerle ihre Stücke mit 6 bis 8 Minuten<br />
zuweilen etwas zu sehr in die Länge, grundsätzlich<br />
jedoch beweisen sie ein gutes Händchen<br />
beim Song-Aufbau und der Riff-Auswahl. Ein<br />
tendenziell zeitloses Album, das vor allem Traditionalisten<br />
und old-school-Verfechtern Freude<br />
bereiten dürfte.<br />
11 Punkte<br />
JOBRY<br />
SARAH SOPHIE –<br />
LOOKING FOR<br />
PERCEPTION<br />
(Flowerstreet/Alive)<br />
Eine der Stärken der Flowerstreet-Popblase<br />
in München<br />
besteht darin, frühzeitig zwischen Pop, Folk und<br />
Retro jungen Talenten eine Plattform zu geben<br />
und sie familiär zu binden. Da muss nicht immer<br />
alles perfekt sein, wichtig ist Authentizität und Talent.<br />
Sarah Sophie ist eine jener jungen Singer/Song-<br />
writerinnen, die dadurch früh eine Chance bekommen.<br />
Ihre Songs sind hübscher, spärlich arrangierter<br />
Folkpop, teils ein wenig austauschbar<br />
und „schon gehört“ wirkend, teils aber auch fragile<br />
Schönheiten, vor allem im zweiten Teil der<br />
Platte.<br />
Da ist nach oben noch eine Menge Raum offen,<br />
aber auch schon eine Menge Talent erkennbar.<br />
Weitermachen!<br />
8 Punkte<br />
Andrasch Neunert<br />
SOLITUDE –<br />
BRAVE THE STORM<br />
(Fastball Music/Megaphon)<br />
Retrosounds sind im<br />
Metalbereich ja gera<br />
de wieder schwer in.<br />
Fast könnte man die Japaner Solitude auch in diese<br />
Schublade stecken. Doch hier haben wir es<br />
mit ein paar alten Hasen zu tun. Die Hälfte des<br />
Quartetts war in den 80ern in Sacrifice (den japanischen<br />
natürlich) zu Gange. So weit, so gut.<br />
Nach zwei Jahren hat ihr zweites Album „Brave<br />
the Storm“ nun auch den Weg vom Morgen- ins<br />
Abendland gefunden. Zu hören gibt es kraftvollen<br />
und traditionellen Heavy Metal mit eindeutigen<br />
Wurzeln in der New Wave of British Heavy<br />
Metal – typische Riffs und Hoppel-Bass inklusive.<br />
Dabei geht die Band nicht den einfachsten<br />
Weg und breitet ihre Songs gerne etwas weiter<br />
aus. Am packendsten ist es dann, wenn der<br />
Härtezeiger Richtung Thrash ausschlägt, oder<br />
man auch Tribal-artige Sounds im Intro verarbeitet<br />
oder zeitgemäß groovt. Leider klingt alles<br />
ein wenig austauschbar und kommt nicht immer<br />
so richtig auf den Punkt. Für den Wiedererkennungswert<br />
sorgt dafür der kräftig kratzende und<br />
gar „unjapanische“ Gesang. Gut zu hören, aber<br />
insgesamt nicht ganz so zwingend. Für Genrefans<br />
trotzdem interessant.<br />
9 Punkte<br />
Mario Karl<br />
STONECREEP –<br />
THE DEATHMARCH<br />
CRUSHES ON<br />
(Old School Metal/H’art)<br />
Ursprünglich in 2009 in den<br />
USA als EP erschienen,<br />
pimpen Stonecreep diesen Rundling für Europa<br />
mit zwei weiteren Stücken zu ihrem zweiten<br />
Album auf. Der martialische Albumtitel führt in<br />
die Irre – hier gibt es weder Death- noch Black<br />
Metal, sondern kraftvollen Power-Metal. Dabei<br />
haben die vier Amis aus Portland, Oregon,<br />
vor allem Iced Earth verinnerlicht. Aber auch<br />
eine Truppe wie Brainstorm kommt einem bei<br />
den knapp 40 Minuten in den Sinn. Meist geht<br />
es flott zur Sache, die Gitarrensoli sind ausladend<br />
und vom Einsatz der Doublebass macht<br />
das Quintett reichlich Gebrauch. Die Gitarrenarbeit<br />
erinnert in den melodischeren Momenten<br />
an Iron Maiden, in den weniger melodischen Momenten<br />
an Children Of Bodom. Der im Waschzettel<br />
gezogene Vergleich zu Motörhead und Accept<br />
ist hingegen Humbug. Für Fans genannter<br />
Bands solides Nackenmuskel-Trainingsfutter.<br />
8 Punkte<br />
JOBRY<br />
EINAR STRAY –<br />
CHIAROSCURO<br />
(Sinnbus/Rough Trade)<br />
2012 I #35 I reViews 37<br />
Gibt es das heute noch?<br />
Könnt ihr euch an die Zeit erinnern,<br />
als die größte Freude<br />
war, mit dem selbstgebastelten Schiffchen den<br />
nächsten Bach aufzusuchen und fasziniert zu<br />
beobachten, wie sich das Gefährt – falls nicht<br />
sofort untergegangen – seinen Weg durch die<br />
ruhig dahinperlenden Gewässer suchte – und<br />
teilweise mit „gefährlichen Riffen“ und „Stromschnellen“<br />
zurechtkommen musste?<br />
Was nebst Konstruktionsleidenschaft noch benötigt<br />
wurde, waren die kostbaren Güter Ruhe und<br />
Zeit. Am besten ging das natürlich im Kindesalter,<br />
in dem der Faszinationspegel dementsprechend<br />
meist noch auf Anschlag stand. Hachja.<br />
Gute alte Zeit. Oder einfach nur verklärte Erinnerung<br />
...<br />
Kennt ihr noch? Einar Stray sicher auch, trotz<br />
seiner erst 21 Lenze. Hört man ihm keine Sekunde<br />
an. Ebenso wenig seiner Begleitband, niemand<br />
hat die 21 überschritten. Die Mädels und<br />
Jungs liefern Indie-Folk-Epen der fortgeschrittenen<br />
Art ab – im Fahrwasser Post-Rock mit Hang<br />
zur orchestralen Opulenz. Ihr Debutalbum „Chiaroscuro“<br />
ist die perfekte Vertonung zu den mitreißenden<br />
Bacherlebnissen der Kindheit. Perlendes<br />
Piano, Songs, die sich langsam aufbauen,<br />
unglaublich angenehme Stimmen, alleine, im<br />
Duo oder auch im Chor, tolle Arrangements, Instrumentierung<br />
ohne Scheuklappen und ebensolche<br />
Melodien. Dazu Texte voller Natur, Leidenschaft<br />
und reflektiertem Aufbegehren. Und<br />
vier von sieben Songs, die die 7-Minuten-Marke<br />
durchbrechen. Was will man mehr?<br />
Und wie es sich für gestandenen – wenn auch<br />
junge - Norweger gehört, gehört natürlich eine<br />
straffe Brise von hoffnungsgebender Melancholie<br />
dazu. Einfach nur magisch. Auf Anschlag.<br />
Es gilt jedoch: Man braucht Ruhe und Zeit – Chiaroscuro<br />
ist definitiv keine Platte für zwischendurch<br />
oder den kleinen Hunger. Eher für eine<br />
größere nachhaltigere Sättigung!<br />
14 Punkte<br />
Matthias Horn<br />
SUBVASION –<br />
LOST AT FUNFAIR<br />
(Major Label/Broken Silence)<br />
Was dabei herauskommen<br />
kann, wenn zwei sich zuvor<br />
kaum, beziehungsweise ganz<br />
unbekannte Kapellen – hier die beiden Guts<br />
Pie Earshot’ler Rizio (Cello) und Scheng-Fou<br />
(Drums) und L.N/A, die man als Arapiatas Elena<br />
kennt und die mit einem sogenannten ‚Electribe‘<br />
werkelt – aufeinander treffen, kann oft spannend<br />
sein. Ist es im Falle dieser Kollaboration<br />
auch ansatzweise, denn die Mische aus Ambient,<br />
Electro, Techno, Drum ’n’ Bass, Punkflair<br />
und experimentellen Cello-Klängen ist eine coole,<br />
atmosphärische Angelegenheit; ebenso sind<br />
die Drei bemüht, die acht Stücke ereignisreich zu<br />
gestalten. Vieles aber ist fast schon zu vorhersehbar,<br />
gerade auch, weil alles eine Ecke zu logisch<br />
komponiert wurde und das nimmt dem eigentlich<br />
nicht uninnovativen 48-Minüter etwas<br />
den Glanz und die Spannung.<br />
8 Punkte<br />
Chris P
38 reViews I #35 I 2012<br />
SUN GODS IN EXILE –<br />
THANKS FOR THE SILVER<br />
(Small Stone Records/Cargo)<br />
Drei Jahre nach dem Debüt<br />
„Black Light, White Lines“,<br />
welches von der Fachpresse<br />
mit Wohlwollen aufgenommen wurde, kommen<br />
die 2008 gegründeten Sonnengötter aus ihrem<br />
Exil zurück in den Fokus der Anbetenden. Geboten<br />
wird klassischer Rock‘n‘Roll ohne Schnörkel,<br />
dafür mit sehr viel ins Blut gehenden Gitarrenriffs<br />
und zehn Songs voller Spielfreude. Keine Kompromisse<br />
in Anbetracht dessen, was sie können.<br />
Eingängige Melodien mit seelebehafteten Soli.<br />
Schon der Opener „Hammer Down“ lässt das<br />
Rockerherz der Lynyrd Skynyrd-, Molly Hatchet-,<br />
The Cult- oder Black Crowes-Fans heftig schlagen<br />
– und auch danach ebbt die Darbietung<br />
nicht ab. Das Teil läuft und läuft ... Herrlich erfrischender,<br />
typischer Staaten-Classic Rock mit<br />
Suchtfaktor 1 plus!<br />
12 Punkte<br />
Carsten Klenke<br />
TEODOR TUFF –<br />
SOLILOQUY<br />
(Fireball/Edel)<br />
Progrocker mit Hang zum<br />
Bombast – das ist euer Album.<br />
Die Norweger mit dem<br />
komischen Namen brennen auf Album Nummer<br />
zwo jedenfalls ein ziemliches Feuerwerk aus<br />
70er Progrock, Power Metal, Klassik, Rock-Oper<br />
und Musical(-Anleihen) ab. Der opernhafte, disharmonische<br />
Opener „Godagar” ist erst mal ein<br />
ziemlicher Schock, aber im Laufe der 50 Minuten<br />
(plus 28 Minuten Leerlauf) besinnen sich<br />
die Herren dann doch auf nachvollziehbarere<br />
Strukturen und nicht allzu komplizierte Musikmathematik.<br />
Hinzu kommen diverse sinfonische<br />
Elemente, die die durchaus vorhandenen Metal-Gene<br />
meist dominieren und dem Ganzen ein<br />
bisschen mehr Drama geben. Wer auf Künstler<br />
wie Jorn, Kiske oder Avantasia steht, dürfte mit<br />
den elf Stücken gut leben können. Wer zudem<br />
noch eine Schwäche für Namedropping besitzt,<br />
sollte spätestens jetzt wunschlos glücklich sein:<br />
Neben Jeff Waters (Annihilator), Mattias IA Eklundh<br />
(Freak Kitchen), Martin Buus (Mercenary)<br />
und Eskild Kløften (Divided Multitude) lässt sich<br />
Produzent Jacob Hansen (Volbeat, Mercenary,<br />
Pestilence) als beteiligter Szene-Promi ins Feld<br />
führen.<br />
9 Punkte<br />
JOBRY<br />
THOUGHTS PAINT THE<br />
SKY – NICHT MAL MEHR<br />
WIR SELBST<br />
(Midsummer Records/Cargo)<br />
Die Überraschung vor etwas<br />
mehr als sechs Jahren war<br />
groß, als eine unbekannte deutsche Band die<br />
elektrische Gitarre außen vor ließ und ihren eigenwilligen<br />
Screamo quasi unplugged auf Konserve<br />
transportierte. Das war neu, das war aufregend,<br />
das war anders – doch heuer, auf dem<br />
dritten Album und nach vielen Line-up-Wechseln<br />
ist die Magie ein ganzes Stück weit verlorengegangen.<br />
Einerseits liegt das wohl daran,<br />
dass Thoughts Paint The Sky anno 2011 deutlich<br />
routinierter zu Werke gehen, besonders aber<br />
hat sich die Band ihrer Ecken und Kanten leider<br />
selbst beraubt und sich so von einer unangepassten,<br />
innovativen Truppe in eine angepasste<br />
und bequemer zu konsumierende verwandelt –<br />
und sich so Stück für Stück gen, nun ja, Albumtitel<br />
bewegt. Schade.<br />
7 Punkte<br />
Chris P<br />
THROWOUTS –<br />
WORKING CLASS<br />
TRADITION<br />
(District 763 Records/<br />
New Music)<br />
Kurz und schmerzlos:<br />
Diese Fünf-Track-EP dauert gerade einmal 13<br />
Minuten und hängt stilistisch zwischen Punkrock<br />
und Streetpunk. Gleich das erste Stück „interpretiert“<br />
kackfrech den Refrain von Pennywise’s<br />
“Bro Hym“ und das nachfolgende Titelstück<br />
könnte glatt von Roger Miret & The Disasters<br />
stammen. Alles nur geklaut? Na ja, zumindest<br />
so einiges, auch bei den Dropkick Murphys und<br />
Sick Of Society. Und doch wissen die Kerle aus<br />
Saarlouis zu gefallen, weil sie – abgesehen vom<br />
etwas zu starken deutschen Akzent und den etwas<br />
zu schwachen Stimmchen – einen lockerleichten<br />
Punkrock-Hardcore-Oi!-Cocktail mit melodischen<br />
Gitarren zustande gebracht haben.<br />
Darauf lässt sich aufbauen.<br />
Keine Wertung<br />
JOBRY<br />
TOTAL CHAOS –<br />
BATTERED AND SMASHED<br />
(Conrete Jungle/Edel)<br />
TC sind mittlerweile seit 22<br />
Jahren im Geschäft – ihre<br />
Helden sind aber noch älter:<br />
UK-Punk anno 1982 heißt die Lösung. Diesen<br />
Zeiten frönen die Kalifornier nicht nur optisch (Iro<br />
und gaaaanz viele Nieten), sondern auch 33 Minuten<br />
lang akustisch. Im Vergleich zu manchem<br />
Vorgängeralbum gehen die Herren etwas melodischer<br />
zu Werke, was ihnen erstaunlich gut bekommt.<br />
Damit wandeln TC auf den Spuren ihres<br />
bislang wohl besten Albums „Anthems from the<br />
Alleyway“. Letztlich geben sich bei dem Oi!-<br />
Streetpunk-Gebräu Sing-A-Longs, simple Hooks<br />
und räudige Riffs die Klinke in die Hand. Auch<br />
verbal ist auf TC Verlass: Titel wie „Hooligans<br />
Holiday“, „Total Massacre“ oder „Political Repression“<br />
wandeln auf dem schmalen Grad zwischen<br />
platten Klischees und Szene-Authentizität.<br />
Passend dazu auch das Cover: Es zeigt<br />
Lead-Gitarristen Shawn Smash, der sich als junger<br />
Kerl eine Abreibung von der kalifornischen<br />
Polizei einfängt. Überraschung unter den zwölf<br />
Stücken dürfte das plakative „Du siehst scheiße<br />
aus“ sein. Englischer Text, deutscher Refrain<br />
und dann auch noch eingängig…<br />
11 Punkte<br />
JOBRY<br />
TOXPACK –<br />
BASTARDE VON MORGEN<br />
(Sunny Bastards/<br />
Broken Silence)<br />
Ja klar, deutscher Straßenköter-Rock<br />
müffelt fast immer<br />
noch zwangsläufig nach Böhsen Onkelz.<br />
Gerecht, geschweige denn gerechtfertig ist das<br />
nicht, denn die besagten Herren hatten vielleicht<br />
ein Monopol auf zuweilen dümmliche Texte<br />
und Attitüde, ganz sicher aber nicht auf deutsche<br />
Texte in Verbindung mit harter Rockmusik.<br />
Dass es auch besser geht, zeigen z. B. Toxpack,<br />
die stilistisch ähnlich agieren wie etwa Kärbholz<br />
oder die Troopers. Harter, zuweilen metallischer<br />
Sound trifft auf deutsche Texte, die ab<br />
und zu vielleicht etwas zu sehr das Underdog-<br />
Motiv strapazieren, in Gänze aber weitaus weniger<br />
dumpf daherkommen als „Onkelz wie wir,<br />
die fantastischen Vier“. Die Berliner verbinden<br />
schlicht eine gewisse Popo-Treter-Energie mit<br />
verdammt eingängigen und mitgröhltauglichen<br />
Refrains. Ein, zwei Nummern hängen zwar im<br />
Durchschnitt und ein Intro hätte es auch nicht<br />
wirklich gebraucht, der Rest der insgesamt 44<br />
Minuten hat aber das Zeug zum Szene-Highlight.<br />
Fürs Namedropping sorgen als Gäste Roi<br />
Pearce (Last Resort) und Paul Bearer (Sheer<br />
Terror).<br />
11 Punkte<br />
JOBRY<br />
TRI STATE CORNER –<br />
HISTORIA<br />
(Fastball Music/Sony Music)<br />
Bei all den neuzeitlichen austauschbar<br />
klingenden und<br />
nicht selten mit Pathos überladenen<br />
Rockbands ist man mit Recht froh, wenn<br />
mal eine dabei ist, die so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal<br />
besitzt. Tri State Corner sind<br />
eine dieser positiven Ausnahmen. Die Band steht<br />
klanglich zu ihren griechischen Wurzeln, was<br />
sich in der Melodieführung (ein wenig) und dem<br />
Einbinden einer Bouzouki (sehr viel), anstatt<br />
der handelsüblichen E-Leadgitarre, bemerkbar<br />
macht. Dabei schafft man auch auf dem zweiten<br />
Album das Kunststück, dass es nicht wie eine<br />
übers Knie gebrochene Ethnokiste, sondern richtig<br />
natürlich und sinnig klingt. Das Grundgerüst<br />
bleibt dabei immer noch zeitgemäßer Hard Rock<br />
mit Wumms und kräftigen, unkitschigen Melodien.<br />
Der Fünfer hat ein gutes Händchen für feine<br />
Hooks, die von packenden Riffs umgarnt werden.<br />
Der originell klingende Parforceritt über die<br />
Saiten der Langhalslaute ist am Ende bei Songs<br />
wie „Historia“, „Katastrophy“ oder „Sleepless“<br />
nur das Tüpfelchen auf dem I. Das Debüt „El Na<br />
This“ war ja schon nicht von schlechten Eltern,<br />
doch mit „Historia“ (übrigens ein Konzeptalbum<br />
mit einem wieder recht aktuellen Thema) legt<br />
man noch mal was oben drauf. Sollte man mal<br />
reinhören!<br />
12 Punkte<br />
Mario Karl<br />
THE TURBO A.C.’s –<br />
KILL EVERYONE<br />
(Concrete Jungle Records/<br />
Edel)<br />
Rückmeldung nach fünf<br />
Jahren Pause. Die Punk ’n’<br />
Roller haben sich Zeit gelassen für Studio Album<br />
Nummer sieben. Dafür gibbet gleich 17 Kompositionen.<br />
Zieht man Intro und Zwischengeplänkel<br />
ab, bleiben 13 vollwertige Songs. Die bieten<br />
einerseits zwar die gewohnte Rotzig- und Speckigkeit<br />
des Quintetts, lassen echte Widerharken-Qualitäten<br />
allerdings vermissen. Zudem haben<br />
die Kerle um Frontsau KC die Surfgitarren
dieses Mal fast gänzlich außen vor gelassen.<br />
Warum bloß? Nach dem fünften Durchgang beschleicht<br />
mich langsam aber sicher das Gefühl,<br />
dass der Knoten hier nicht mehr platzt. Live funktionieren<br />
die neuen Stücke wahrscheinlich ganz<br />
gut, auf Konserve fehlen den 39 Minuten in Summe<br />
trotz langer Anlaufzeit die besonderen Momente<br />
und hartnäckigen Melodien. Das können<br />
die Kerle besser.<br />
7 Punkte<br />
JOBRY<br />
VA – AGGROPUNK VOL. 2<br />
(Aggressive/Edel)<br />
29 Deutschpunk-Bands in fast 80 Minuten zum<br />
kleinen Preis. Das ist definitiv ein fairer Gegenwert,<br />
zumal sich unter den 29 Stücken ein paar<br />
unveröffentlichte, bzw. zum Erscheinungszeitpunkt<br />
des Samplers neue Tracks befinden. Mit<br />
an Bord sind u. a. namhafte Szenevertreter wie<br />
Dritte Wahl, Kotzreiz, Fahnenflucht, Pestpocken,<br />
Hass, Knochenfabrik, Lokalmatadore, Troopers,<br />
Rawside, Supernichts oder Popperklopper. Ob<br />
„Aggropunk Vol. 2“ damit, wie vom Label behauptet,<br />
die derzeit härteste Deutschpunk-Compilation<br />
auf dem Markt ist, sei mal dahingestellt.<br />
Fakt ist, dass sich vom klassischen Sauf-Punk-<br />
Stück über Stücke mit 80er-NDW-Einschlag bis<br />
hin zum fett produzierten Metal-Punk alle derzeit<br />
gängigen Stoßrichtungen finden. Zusätzlich gibt<br />
es zehn weitere Bonus-Songs als kostenlosen<br />
Download sowie eine limitierte Auflage mit Sticker.<br />
Reicht also locker für ein bis zwei Paletten<br />
Hansa-Pils, das Teil…<br />
Keine Wertung<br />
JOBRY<br />
VA – FREE ROCKSTAR COMPILATION<br />
(Rockstar Records/Download)<br />
Das Aachener Label Rockstar Records hat<br />
aus seinem Programm einen 14-Song-Label-<br />
Sampler zusammengestellt, den es gratis zum<br />
Download anbietet. Stilistisch reicht die Chose<br />
von Integrity-ähnlichem Krach (Trainwreck)<br />
über 77er-Schule (Bad Luck Charms) bis hin zu<br />
Country-Punk (Chip Hanna, Crosstops). Angenehm<br />
fallen u. a. Sommerset und The Pricks auf.<br />
Feine Sache, nicht nur, weil es für lau ist: www.<br />
rockstarrecords.de/<strong>com</strong>pilation.<br />
Keine Wertung<br />
JOBRY<br />
VOLBEAT –<br />
LIVE FROM BEYOND HELL/ABOVE HEAVEN<br />
(Universal/Vertigo)<br />
Wie man’s dreht und wendet – Volbeat sind ein<br />
Phänomen. In welch relativ kurzer Zeit die Band<br />
relativ groß geworden ist – erstaunlich. Diesen<br />
Eindruck bestätig auch die erste Live-CD, die<br />
parallel zur Live-DVD erscheint. Hier ist so ziemlich<br />
alles perfekt: Der Sound, die Aufmachung,<br />
die Stimmung. Ein Mega-Konzert vor 10.000 begeisterten<br />
Landsleuten im Kopenhagener Forum.<br />
Aber halt: Zumindest Fans der ersten Stunde<br />
wird das vermutlich zu viel des Guten sein.<br />
So enthält die 18 Stücke umfassende Playlist mit<br />
„Pool Of Booze“ z. B. gerade einmal ein Stück<br />
vom guten Debüt. Andererseits sind Live-Alben<br />
stets eine Momentaufnahme. Daher stehen in<br />
den knapp 79 Minuten vor allem Stücke des letzten<br />
Albums und damit auch kommerzielle Zugeständnisse<br />
wie „Heaven Nor Hell“ oder das unsägliche<br />
„Fallen“ im Vordergrund. Andererseits<br />
präsentieren sich die Dänen nach wie vor absolut<br />
sympathisch. Dazu gehört auch, dass sie ein<br />
latentes Knüppelstück wie „Evelyn“ und das Misfits-Cover<br />
„Angelfuck“ im Set haben, oder mal<br />
gepflegt Slayers’ „Raining Blood“ in „The Human<br />
Instrument“ einbauen. Und eines bleibt, wie es<br />
ist: „Sad Man’s Tongue“ oder „Still Counting“ sind<br />
Hits für die Ewigkeit und bleiben das Bindeglied<br />
für alte und neue Fans des Quartetts.<br />
Keine Wertung<br />
JOBRY<br />
WALKING WITH<br />
STRANGERS – HARDSHIPS<br />
(Panic & Action/Soulfood)<br />
Beruhigend zu hören, dass<br />
selbst in Schweden –<br />
in Sachen harter Musik oft weit<br />
vorne – manche Band hinterm Mond lebt. Dieser<br />
Fünfer aus Trollhättan hat wohl noch nicht<br />
mitbekommen, dass eine Mischung aus Metalcore,<br />
Mathcore, Breakdowns und melodischen<br />
Refrains längst zum musikalischen Auslaufmodell<br />
verkommen ist. Erst recht, wenn man, so wie<br />
WWS, Genrevorreiter wie As I Lay Dying, Bring<br />
Me The Horizon, Architects oder Meshuggah in<br />
einen Topf schmeißt, umrührt und das Ergebnis<br />
als Eigenleistung ausgibt. Die 33 Minuten bieten<br />
– denn auch handwerkliche, okay – Langeweile<br />
ohne nennenswerte Impulse. Die im schicken<br />
Digipak mitgelieferte 2010er-Bonus-EP „Buries,<br />
Dead And Alone“ kann den gnadenlos überproduzierten<br />
Karren auch nicht aus dem Dreck ziehen.<br />
3 Punkte<br />
JOBRY<br />
WARBRINGER – WORLDS TORN ASUNDER<br />
(Century Media/EMI)<br />
Year, Warbringer sind und bleiben auch mit Album<br />
Nummer drei die legitimen Nachfolger der<br />
leider viel zu früh verblichenen kultigen Demolition<br />
Hammer. Wie einstweilen die Amis Anfang<br />
der 90er-Jahre zelebrieren auch deren<br />
Landsleute Warbringer simplen, aber effektiven<br />
Thrash-Metal, der sich insbesondere durch zwei<br />
Details vom Gros der Szene unterscheidet: 1.<br />
durch geil groovende Midtempo-Passagen und<br />
2. durch gute (!) melodische Gitarrensoli. Die<br />
stehen in angenehmem Kontrast zu der ansonsten<br />
recht derben Mucke, die aber bei aller Energie<br />
stets gut nachvollziehbar bleibt und auch<br />
nie zum Egotrip eines einzelnen Musikers verkommt.<br />
Die zehn Stücke bewegen sich auf konstantem<br />
Niveau – einzig das Instrumental „Behind<br />
The Veils Of Night“ wirkt etwas deplatziert.<br />
Ansonsten aber gilt: Warbringer sind eine New-<br />
School-Thrash-Metal-Band, die den Old-School-<br />
Sound verdammt gut drauf hat.<br />
12 Punkte<br />
JOBRY<br />
WASTED – OUTSIDER BY CHOICE<br />
(Combat Rock Industries/Flight 13)<br />
Die Finnen krebsen seit 15 Jahren in der D.I.Y.-<br />
Punkrock-Szene herum. Das wird wohl auch mit<br />
dem aktuellen Album so bleiben. Das passend<br />
betitelte „Outsider By Choice“ bietet treibenden,<br />
melodischen und zugleich leicht melancholischen<br />
Punkrock. Die 13 Stücke gehen zeitweilig<br />
gut und simpel nach vorne, wirken zuweilen<br />
aber auch ein bisschen ungehobelt und unzureichend<br />
kanalisiert. Stilistisch geht’s in Richtung<br />
2012 I #35 I reViews 39<br />
Descendents, Dead Boys und Spermbirds, die<br />
ja auch immer einen Hauch von Hektik verbreiten.<br />
Dazu kommt ein guter Schuss 77er-Schule.<br />
Alles okaye Zutaten, allerdings machen Wasted<br />
daraus eine gut hörbare, in Summe jedoch auch<br />
recht durchschnittliche 37-minütige Mixtur, deren<br />
Wiedererkennungswert zu gering sein dürfte, um<br />
das selbstgewählte Außenseiter-Dasein zu beenden.<br />
7 Punkte<br />
JOBRY<br />
WILDFYRE –<br />
... REVISIT SPIKE’S ROCKIN 4<br />
(I Hate People Records/Edel)<br />
Lutz Vegas ist ja bislang eher als Frontsau der<br />
Schweinerocker V8 Wankers in Erscheinung getreten.<br />
Erstaunlicherweise füllt den Kerl das nicht<br />
aus. Bei Wyldfyre lässt er die Petticoats fliegen<br />
– es geht um Neo Rockabilly – und der kommt<br />
erstaunlich überzeugend daher. Hintergrund: Bei<br />
SPIKE’S ROCKIN 4 war Vegas Ende der 80er<br />
in einer Rockabilly-Band aktiv. 1991, zwei Jahre<br />
nach ihrer Auflösung, fand sich die Band noch<br />
einmal im Studio zusammen, um sieben ihrer<br />
Kompositionen aufzunehmen. Vier dieser sieben<br />
Stücke wurden noch im selben Jahr auf Crawfishin<br />
Records als „Finally EP“ veröffentlicht. Und<br />
jetzt juckt’s Vegas wieder in den Fingern: Gemeinsam<br />
mit Gitarrist Sudi (Sixes And Sevens),<br />
Kontrabasser Marco (Rampires) und Drummer<br />
Rockin’ Reject (Frantic Flintstones) reanimiert er<br />
im Sommer 2011 die ursprünglich 2006 gegründeten<br />
Wyldfyre. Das Album enthält daher sieben<br />
neue und sieben alte Stücke: Die erstmals remasterten<br />
Stücke von 1991 sowie neue Songs von<br />
Wyldfyre. Obwohl zwischen den Songs kompositorisch<br />
zwei Jahrzehnte liegen, weisen die gut<br />
40 Minuten keinen immensen stilistischen Bruch<br />
auf. Der Neobilly kommt melodisch und angenehm<br />
treibend daher. Wyldfyre werden ganz sicher<br />
nicht die Szene revolutionieren, aber Spaß<br />
macht die Chose allemal. Von daher sollten auch<br />
skeptische Fans dem Quer-, bzw. Wiedereinsteiger<br />
Vegas ruhig eine Chance geben.<br />
10 Punkte<br />
JOBRY<br />
XCLAYM –<br />
PREMIUM ASSKICKING SPEEDROCK<br />
(Fastball Music/Megaphone)<br />
Zumindest die Schreibweise des Bandnamens<br />
ist mal ein klassisches Eigentor, ansonsten aber<br />
stellen sich die Ingolstädter auf ihrem Debüt<br />
recht geschickt an – sehr sogar: Wer sein Album<br />
selbstbewusst „Premium Asskicking Speedrock“<br />
nennt, muss dann aber auch einige Popo-Treter-Riffs<br />
raushauen und ordentlich Tempo machen.<br />
Machen die vier Kerle in den gut 30 Minuten:<br />
Stücke wie „Attention“, „Ink And Blood“ oder<br />
„Ride The Bullet“ finden den direkten Weg ins<br />
Großhirn und stimulieren umgehend Bein- und<br />
Nackenmuskulatur. Hinzu kommt eine leicht dreckige,<br />
aber dennoch druckvolle Produktion, die<br />
den zwölf kurzen Stücken das passende knackige<br />
Gewand verleiht. Der vielleicht größte Pluspunkt:<br />
Obwohl das Genre ja nun weiß Gott keine Neuerfindung<br />
ist, klingen Xclaym erstaunlich frisch und<br />
unverbraucht. Sollten sich die Ingolstädter diese<br />
Fähigkeit bewahren, steht der internationalen<br />
Wettbewerbsfähigkeit nichts im Wege.<br />
12 Punkte<br />
JOBRY
ZIS<br />
40 reViews I #35 I 2012<br />
KURZREZIS – KURZREZIS<br />
Von A WHISPER IN THE NOISE – TO FORGET<br />
(Exile On Mainstream/Soulfood) hat man schon seit<br />
einiger Zeit nichts mehr gehört, 2007 kam die „Dry<br />
Land“, schön, dass die Jungs um West Thordson<br />
mal wieder was von sich hören lassen. Und gut für<br />
das Label, entpuppte sich das letzte Album der Band<br />
doch als absoluter Verkaufsschlager. Musikalisch gibt<br />
es „schöne, melancholische Tunes“ (Waschzettel),<br />
die der ein oder andere Zeitgenosse gewiss als „langweilig“<br />
abtun wird; für den aufmerksamen Zuhörer erschließt<br />
sich aber eine äußerst interessante Klangwelt,<br />
und man könnte sich vorstellen, dass das hier<br />
die Musik ist, die wir Menschen im nächsten Jahrtausend<br />
hören werden, wenn „Hooks“ oder „Strophe-Refrain-Strophe“-Muster<br />
ausgestorben sind (11).<br />
ARSTIDIR – SVENFS OG VÖKU SKILL (BesteUnterhaltung/Broken<br />
Silence) singen in einer Sprache,<br />
der sicherlich nicht jedermann mächtig ist, isländisch<br />
nämlich. Umso erstaunlicher, dass die Sprachbarriere<br />
(es gibt nur zwei Tracks in englischer Sprache) keinesfalls<br />
hinderlich zu sein scheint; man hat das Gefühl,<br />
alles bestens zu verstehen. Wie die Band aus<br />
Reykjavik das schafft? Vielleicht dadurch, dass diese<br />
Musik Gefühle und Stimmungen erzeugt, die universell<br />
sind, da ist Sprachverständnis unnötig, stört<br />
vielleicht sogar. Arstidir, was wohl soviel wie „Jahreszeiten“<br />
bedeutet, machen einfach wunderbare Musik,<br />
zum Heulen schön (12).<br />
So eine Kneipenschlägerei kann mächtig daneben<br />
gehen – das wissen BARFIGHT – BARFIGHT MU-<br />
SIC (AntstreetRecords/NewMusic) ziemlich gut, und<br />
so klingen sie auch ein bisschen, als hätte es neulich<br />
nach ein paar Drinks zuviel mächtig auf die Fresse<br />
gegeben. Ich würde das Ganze als Hardcore mit<br />
ein paar Metal-Einflüssen bezeichnen, die Songs<br />
kommen – gewohntermaßen – nach stets ähnlichem<br />
Schema beim Hörer an, aber der geneigte solche will<br />
natürlich auch genau das, da will ich mal nicht meckern;<br />
außerdem klingt die Schoße ziemlich amtlich,<br />
und wenn nun Sänger Ralle noch ab und an die Tonlage<br />
wechseln würde, könnte das die Band über den<br />
Genredurchschnitt heben (9).<br />
BURNING JACKS – GENERATOR PARTY kommen<br />
aus Dortmund und machen, so sagen sie, schlicht<br />
und einfach, „Rock’n’Roll“, was es tatsächlich ganz<br />
gut trifft. Dabei entwickeln die Jungs ein gutes Gespür<br />
für Melodie und Drive; ok – wer meckern will, der moniert<br />
wahrscheinlich, dass die „Jacks“ das Rad nicht<br />
erfunden haben - aber das dürfte den Burschen herzlich<br />
egal sein, zeigen sie doch auf „Generator Party“,<br />
dass es einzig und allein darauf ankommt, Spaß an<br />
der Sache zu haben – und eben der wird sich, da bin<br />
ich sicher, auf ihr Publikum übertragen. (9)<br />
Die „Provinz“ lebt; dass nicht nur Berlin, Köln, Hamburg<br />
und München musikalisch angesagt sind – oder<br />
sagen wir: sein sollten - zeigen BURN PILOT – BO-<br />
HEMIAN TRAUMA (Setalight). Eine solche Entdeckung<br />
hätte ich, man verzeihe mir meine Worte, in<br />
Bielefeld nun wirklich nicht erwartet. Irgendwo zwischen<br />
„Stoner“ und „Hard Rock“ würde ich den Dreier<br />
einordnen, es grooved und rockt „like hell“, besonders<br />
Sänger und (!) Drummer Sidney, dessen Organ<br />
an keinen geringeren als Robert Plant erinnert, hat es<br />
mir angetan; dazu gesellen sich Basser Joel, der –<br />
im positiven Sinne – die Finger einfach nicht stillhalten<br />
kann und ein großartiger Gitarrist namens Jonas<br />
– und jetzt muss mir bitte mal einer erklären, warum<br />
kein Arsch diese Jungs kennt – ändern wir das! (12)<br />
Besonders Fans von David Bowie und Ray Davies<br />
werden bei JAMES COOK – ART & SCIENCES (Deepsee<br />
Records/ough Trade) auf ihre Kosten kommen,<br />
dies weniger, weil er seinen Altvorderen stimmlich<br />
nahe stünde, sondern vielmehr deshalb, weil es<br />
vor allem kompositorische Ähnlichkeiten gibt. Gitarren,<br />
Synthesizer und Streicher stehen im Mittelpunkt<br />
der musikalischen Ergüsse, die allesamt von einer<br />
ausgeprägten musikalischen Reife zeugen. Fazit: Immer<br />
überzeugend, mitunter gar beeindruckend (11).<br />
Mit der Besprechung von CHRYSAL PASTURE –<br />
GESCHICHTEN VON HABICHT & HOLUNDER<br />
gehen wir mal „back to the roots“, denn das hier ist<br />
KURZREZIS – KURZREZIS<br />
KURZREZIS – KURZREZIS<br />
eigentlich genau das, dem wir uns immer sehr verpflichtet<br />
fühlen. Liebevoll gemachte, handwerklich<br />
mehr als nur solide Musik, „auf dem Kornboden in<br />
Bardüttingdorf“ aufgenommen von einer Band, die<br />
sich selbst, etwas uncharmant, als „Dorfkapelle“ bezeichnet.<br />
Aber genau das, mit Verlaub, ist sie - und<br />
das im allerbesten Sinne: Vor Jahren als ein-Mann-<br />
Projekt gestartet, scheint heute die komplette Dorfjugend<br />
(ich zähle dreizehn Personen auf dem Bandfoto!)<br />
involviert. Dargeboten wird Musik „zwischen<br />
Polka, Kirmessounds, Ska, Indiefolk, Dorfmusik &<br />
Rock“ und das in erstaunlicher Qualität – von denen<br />
werden wir noch hören! (10)<br />
DIGGER BARNES – EVERY STORY TRUE (Hometown<br />
Caravan/Cargo)? War das nicht dieser sympatische<br />
Looser aus “Dallas”? Aber nicht alle Digger<br />
Barnes sind Verlieren, dieser hier ist richtig gut, ganz<br />
wohlfeil kommt das zunächst rüber, lullt den Hörer ein<br />
und entpuppt sich als wesentlich vielschichtiger als<br />
man zunächst annehmen durfte; Digger scheint Spaß<br />
daran zu haben, sein Publikum in die Irre zu führen,<br />
dekonstruiert auch gerne mal den eigenen Wohlklang<br />
durch a-rhythmische Handclaps oder sinistre<br />
Lyrics, bei denen es nicht selten um Mörder, Verbrecher<br />
und gesellschaftliche Außenseiter geht. Erinnert<br />
an die großartigen „Hemlock Smith“ und muss dem<br />
geneigten Musikkonsumenten nicht nur deshalb an’s<br />
Herz gelegt werden (12).<br />
Interessante Idee: Warum nicht mal eine Compilation<br />
mit den musikalischen Einflüssen der „Ramones“<br />
zusammenstellen, wie bei DEEP ROOTS - OF<br />
THE RAMONES (Sireena/Broken Silence) geschehen.<br />
Gene Vincent wird hier musikalisch erwähnt,<br />
die „Stooges“, natürlich, auch Roy Orbison und Link<br />
Wray. Spannend also allemal – wenn man nicht übel<br />
nimmt, dass die „Beach Boys“ fehlen, also ein rundum<br />
gelungener Blick auf diejenigen Großen, die den<br />
Großen ein Vorbild waren (ohne Wertung).<br />
Kurz vor Toresschluss erreicht uns das Vinyl von DER<br />
HERR POLARIS – DREHEN UND WENDEN (Schaf<br />
Records), ein mit viel Liebe gemachtes, wunderschönes<br />
„Singer/Songwriter“-Album, auf dem man den<br />
einzelnen Instrumenten noch Raum zum atmen lässt.<br />
Dabei versteht es der Vierer aus Augsburg ganz ausgezeichnet,<br />
Stimmungen in Musik umzusetzen und<br />
entfacht dabei, auch mit Hilfe der schönen Texte, genau<br />
das, was man wohl mit dem neudeutschen Wort<br />
„Vibes“ bezeichnet. Ganz feine Teil, das! (12)<br />
EHRENMORD – WOLFSCHNAUZE (Millionaires<br />
Club/Cobayn) – klingt hart, ist hart! Deutsche Texte,<br />
ultrabrutale Riffs, mitunter trashig– „Ich hab’ keine<br />
Freunde – ich wohn’ noch bei Mama“ (Textauszug)<br />
meets überraschende Breaks – puuh, nix für Hörer,<br />
die auf eher Radiokompatibles stehen, und das, obwohl<br />
sich das Duo aus Frankfurt das Statement abringen<br />
lässt, man wolle „eine Brücke zwischen Subkultur<br />
und Radiotauglichkeit schlagen“. Aber die<br />
beiden hauen nicht nur auf die Fresse, sondern beweisen<br />
auch, dass sie anders können: „Hey“ ist ein<br />
gutes Beispiel und auch eher punkig ist drin („Stolpern“).<br />
Vielseitigkeit ist also angesagt, und insgesamt<br />
haben die Frankfurter eine hoch-interessante Scheibe<br />
am Start, die massig Fans finden sollte. Aber: Es<br />
wäre schön, mal in die Texte schauen zu können,<br />
denn der Gesang ist oft hart am Rande der „Hörbarkeit“<br />
(11).<br />
Düster ist die Grundstimmung auf der aktuellen CD<br />
von ELECTRIC MOON (NasoniRecords/Nasoni/<br />
ClearSpot), was beim Titel THE DOOMSDAY MA-<br />
CHINE, die auch als doppel-Vinyl erhältlich zu sein<br />
scheint, auch kein Wunder ist. „Musik und Bilder“ sollen<br />
hier „verschmelzen“, mit geschlossenen Augen<br />
kann der Hörer seinen eigenen kleinen Film drehen.<br />
Ob dabei am Ende albtraumhafte Szenarien oder<br />
himmlische Engelscharen zu sehen sind, liegt wohl<br />
nicht zuletzt im Wesen des Konsumenten. Schön laut<br />
aufgedreht könnte sich „Doomsday Machine“ aber<br />
vor allem für diejenigen als echtes Hörerlebnis entpuppen,<br />
die sich furchtlos musikalischen Randgebieten<br />
nähern und auch sonst für alles offen sind. Für<br />
diese könnte das alles sogar ein ganz besonderes<br />
Erlebnis werden (10).<br />
KURZREZIS – KURZREZIS<br />
EMERGE – PERCEPTION ONE (ASR/Soulfood)<br />
machen straighten Hard Rock, den wir so aus den<br />
späten Achtzigern kennen und sicher schon öfter so<br />
oder ähnlich gehört haben. Vor allem Sänger Thomas<br />
Darscheidt, der offenkundig bei den „Regensburger<br />
Domspatzen“ in Ausbildung war (keine Sorge, davon<br />
hört man nichts) vermag der ganzen Sache jedoch<br />
einen guten Funken Individualmerkmal einzuimpfen,<br />
was die Band deutlich über die im Genre so weit verbreitete<br />
Durchschnittlichkeit hebt. Hier darf man gespannt<br />
sein, was da noch so kommt (10).<br />
FRAU POTZ – LEHNT DANKEND AB (Delikatess<br />
Tonträger/BrokenSilence) machen sowas wie Punkrock<br />
mit deutschen Texten, und es ist es ist ein bisschen<br />
schade, dass man, die wirklich guten Texte, nur<br />
zum Teil versteht – ein vollständiges Cover – und ich<br />
gehe mal davon aus, dass hier die Texte abgelichtet<br />
gewesen sind – wäre schon schön gewesen …<br />
Dennoch hat das kleine Hamburger Label hier einen<br />
noch nicht ganz fertig geschliffenes Edelsteinchen<br />
am Start, das man im Auge behalten sollte. Erinnert<br />
in seiner Kompromisslosigkeit übrigens an die Würzburger<br />
Band „Malm“ (10).<br />
MONT GO – ODYSSEE (ES&L/ÜBER) sind wohl<br />
das „next big thing“, zumindest kann man auf der<br />
Label-(?)/Vertriebs-(?) Homepage das Statement<br />
„Man spricht jetzt schon von dem besten Debüt Album<br />
des Nordens“ vernehmen. Zunächst fühlt man<br />
sich aber eher an einen Wolle-Petry-Klon erinnert,<br />
ein Eindruck, der sich dann aber – gottseidank – bald<br />
verflüchtigt. Sauber und glasklar produziert, setzten<br />
die Jungs auch textlich ein Ausrufezeichen - schön<br />
wäre in diesem Zusammenhang übrigens ein Booklet,<br />
in welchem man eben diese Texte auch wirklich<br />
LESEN! könnte. Ansonsten aber eine Band, die irgendwo<br />
zwischen „Madsen“ und „Selig“ anzusiedeln<br />
ist und mit der man definitiv eine „Odyssee“ wagen<br />
kann (11).<br />
Ist es nicht merkwürdig, eine Besprechung zu einer<br />
Platte zu schreiben, die MR. REVIEW heißt. “So<br />
ist das Leben, da musst Du durch“, hätte Oma gesagt.<br />
„XXV“ (PorkPie/Broken Silence) heißt das neue<br />
Werk, und auch jemandem, der sich nicht alltäglich<br />
im Ska-Revier tummelt, dürfte der Name bekannt vorkommen,<br />
sind die Jungs um Sänger Dr. Rude und Gitarrist<br />
Arne Visser doch schon seid - na eben: 25 Jahren<br />
im Geschäft! Wer wird sich da wundern, dass der<br />
Neuner aus dem Land an der Nordsee seinem Sound<br />
treu geblieben ist: Ohrwurmhafter „2Tone Ska“ mit<br />
krachigen Bläsersätzen – das funktioniert heute noch<br />
genauso gut wie 1985. (11)<br />
NAPE – SYNTHETIC UNITY (Setalight/RoughTrade)<br />
erinnern zunächst mal an die guten alten „Nirvana“.<br />
Die Cottbuser machen also „Grunge“, und da<br />
dieses Genre ja eigentlich schon längst tot ist, heißt<br />
das jetzt „Post-Grunge“. Und auch der Genre-Nachzügler<br />
funktioniert noch ganz hervorragend, was das<br />
Trio beweißt – ob’s daran liegt, dass das Teil in Brasilien<br />
gemastert wurde? Gewiss nicht – ich weiß auch<br />
nicht, warum das im Info so hervorgehoben wird –<br />
vielleicht schon eher an der Leidenschaft, mit welcher<br />
die Band an den Schrauben dreht. Obwohl mir<br />
persönlich die Vocs von Sänger und Gitarrist Steve<br />
Gerisch nicht immer zusagen und der Platte gerade<br />
zum Ende hin mitunter zu deutlich anzuhören ist, wer<br />
die Vorbilder sind, haben die Burschen hier ein richtig<br />
gutes Album an den Start gebracht, welches nicht nur<br />
Grunger-Herzen höher schlagen lassen dürfte (10).<br />
Bei O EMPEROR – HITHER THITHER (K&FRecords/<br />
BrokenSilence) gibt es irgendwas zwischen Folkrock,<br />
Pop und Rock zu hören, sehr angenehm und äußerst<br />
atmosphärisch. Und dabei wäre die Platte fast an uns<br />
vorüber gegangen, denn nur dem kleinen, aber umtriebigen<br />
Dresdner Label „Kumpels And Friends“ ist<br />
es zu verdanken, dass man die Scheibe auch hierzulande<br />
hören kann. Well done und Lob dafür, dass<br />
man uns diese schöne Scheibe zur Ohren gereicht<br />
hat. Bei den fünf Iren wechseln sich die Songwriter<br />
gerne mal ab, vielleicht ist dies das Geheimnis ihrer<br />
Vielseitigkeit. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die<br />
Jungs aus Waterford eine große Karriere vor sich haben<br />
(12)<br />
KURZREZIS
– KURZREZIS<br />
KURZREZIS – KURZR<br />
Nein, das Rad haben die POOBALLS – STILL BUR-<br />
NING (FNR/Radar) nicht neu erfunden, das wollen<br />
sie auch ganz gewiss nicht; sie wollen es krachen<br />
lassen, Spaß haben und eben den an ihr Publikum<br />
weitergeben. Ihre Vorbilder sind die „Pixies“ und „Sonic<br />
Youth“ und vor allem ihre Live-Darbietungen haben<br />
ihnen eine stetig wachsende Fanbase eingebracht.<br />
Warum sie ihre CD im Info „Demo“ nennen,<br />
wird ihr Geheimnis bleiben, wertet es die Darbietung<br />
auf „Still Burning“ doch letztlich etwas ab, aber egal:<br />
Hier gibt es mächtigen Alternative Rock mit einer Prise<br />
Punk – die nächste Uni-Party ist gerettet (10).<br />
Schon erstaunlich, aber SAMAVAYO – COSMIC<br />
KNOCKOUT (Setalight/RoughTrade) klingen zunächst<br />
wie eine dieser guten, alten „AOR“-Bands á<br />
la „Toto“ oder „Foreigner“, um dann doch plötzlich die<br />
Kurve in die frühen Siebziger zu kriegen und nach<br />
amtlichem „Alternative-Rock“ zu klingen. Coole Sache,<br />
wusste gar nicht, dass es derlei überhaupt noch<br />
gibt. Auch im Metal ist man daheim, sogar – Achtung<br />
Wortwitz! – die FUNKen fliegen ab und an, bin erstaunt<br />
ob der diversen und gut heraushörbaren Einflüsse<br />
– und dass so was aus Deutschland kommt?!<br />
Und als wäre das noch alles nix, kommt das Teil auch<br />
noch im schicken Pappschuber. Meine vorzügliche<br />
Hochachtung, die Herren! (11)<br />
Eher schwer zugänglich scheint SAM GRAY SING-<br />
ING – SONGS ABOUT HUMANS (FürRecords/Soulfood).<br />
Das ist allerdings noch lange kein Grund, sich<br />
naserümpfend abzuwenden, denn wenn man sich<br />
ein bisschen Zeit nimmt und dem Neuseeländer mit<br />
Ruhe zuhört, entdeckt man eine ungeheure Intensität<br />
und ein „Feuerwerk an Sounds“ (Beipackzettel). Seine<br />
Stimme ist und bleibt gewöhnungsbedürftig, aber<br />
auch sein sehr „eigenes“ Stimmchen darf in Zeiten<br />
immer gleichen und wohl kalkulierten Songwritertums<br />
durchaus als Bereicherung verstanden werden. Mehr<br />
davon! (11)<br />
SCHLAGWERK – s/t (Golden Core RecordsZyx) machen<br />
Metal mit tiefer gestimmten Gitarren, singen<br />
deutsch und klingen dabei irgendwie nach „Oomph“<br />
und/oder „Rammstein“. Dabei machen sie ihre Sache<br />
ganz ordentlich, das Ganze ist mit fettem Sound ausgerüstet,<br />
die Musiker, immerhin Ex- „Ufo“, - „Annihilator“<br />
und „Helloween“-Mitstreiter, machen ihre Sache<br />
ordentlich. Das Ganze hat man dann nur doch schon<br />
ein bisschen zu oft gehört, als dass mehr als zustimmendes<br />
Kopfnicken und Tanzbein-Wippen ausgelöst<br />
werden könnte (8).<br />
SEID – AMONG THE FLOWERS AGAIN (Sulatron/Cargo)<br />
müssten inzwischen auch schon deutlich<br />
zehn Jahre auf dem Buckel haben, die Norweger<br />
sind einfach nicht totzukriegen. Und auch auf<br />
dem aktuellen Longplayer zeigt man, dass man musikalisch<br />
tief in den Siebzigern steckt, die „Beatles“<br />
ebenso kennt, wie David Bowie“, „Led Zepplin“, Marc<br />
Bolan und ähnliche. Mit dem, was da am Ende rauskommt<br />
und die Trondheimer selbst „multi-layered<br />
psychedelic-Rock“ nennen, kann man ganz prima leben,<br />
weil sie die vielen Komponenten eines im Grunde<br />
abgelutschten Genres geschickt neu stylen und<br />
ihm so überaus geschickt neuen Wert verleihen (11).<br />
Und noch so ein „Frickelbruder“. SPARKY QUA-<br />
NO – JENGA (FNR/Zimbalam) spielt die Gitarre selten<br />
auf „normale“ Art, er klopft auf Ihr herum, tappt,<br />
schlägt, wütet, streichelt, zitiert dabei sowohl „ZZ Top“<br />
also auch klassische Komponisten, nutzt Unmengen<br />
von Effekten, um seiner siebensaitige „Fender“-Bariton-Gitarre<br />
die merkwürdigsten Sounds abzujagen –<br />
vorsicht Avantgarde, also?! Ganz so arg ist es dann<br />
doch nicht, denn der Mann aus der Nähe von Tokyo<br />
kriegt immer wieder die Kurve und sorgt durch<br />
eine stets durchdachte Vorgehensweise immer dafür,<br />
dass die Sache nicht in wilde Soundorgien ausufert.<br />
Für manch einen schlicht zu „strange“, für die<br />
offeneren Zeitgenossen eine hochinteressante Geschichte,<br />
die man sich unbedingt mal live geben<br />
IS – KURZREZIS<br />
sollte. Auf was man sich bei Sparky einlässt? Watch:<br />
http://www.youtube.<strong>com</strong>/watch?v=k_k5LF0IEh0 (10).<br />
TALKING PETS – CITIES (Redwinetunes/PIAS) zeigen<br />
sich “vom Westcoastsound inspiriert” (Bio), und<br />
tatsächlich findet man hier und da Anleihen an die<br />
“Beach Boys” und entdeckt die ein oder andere Blume<br />
im Haar; richtig schöne Hooks sind dabei, und so<br />
richtig gibt es nichts zu meckern, vielleicht mal abgesehen<br />
davon, dass das Ganze ab und an ein bisschen<br />
kalkuliert und etwas glatt rüberkommt – ein paar<br />
Ecken und Kanten darf es dann schon noch haben.<br />
Ansonsten aber: Well done, erste Erfolge in Form von<br />
TV-Auftritten und Besprechungen in Gazetten, die<br />
sich ansonsten dem Indie-Bereich eher verschließen,<br />
können als Indiz dafür gewertet werden, dass diese<br />
Band es weit bringen könnte (10).<br />
Für eine Band wie THE AGGROLITES – UNLEAS-<br />
HED LIVE (Brixton/Cargo) scheint eine live-Scheibe<br />
nach acht Jahren und fünf Studioalben ein logischer<br />
Schritt, gilt die Band aus L. A. doch als einer der Top-<br />
Bühnen-Acts des Genres. Aufnahmetechnisch gelingt<br />
es ganz prima, Atmosphäre rüberzubringen, und mit<br />
Tracks wie „Funky Fire“, „Banana“ und einem coolen<br />
„Beatles“-Cover von „Don’t Let Me Down“ bieten „The<br />
Aggrolites“ nicht nur dem eingefleischten Fan was<br />
das Herz begehrt – „Dirty Reggae“ at its best! (11).<br />
THE COLORADAS – s/t (Hometown Caravan/Cargo)<br />
sind äußerst fleißige Musiker, haben dem Publikum<br />
drei Alben in fünf Jahren und jede Menge Gigs<br />
zwischen San Francisco und New York beschert. Stilistisch<br />
darf man das Ganze als „Country“ mit einem<br />
Spritzer Bluegrass bezeichnen, schön, dass es auch<br />
hierzulande noch Labels gibt, die sich dieser nordamerikanischen<br />
Tradition widmen. Macht Spaß, wer<br />
allerdings teilhaben möchte, muss schnell zugreifen,<br />
die Auflage dieses schnörkellosen akustischen Kleinods<br />
ist auf 300 Silberlinge begrenzt (11).<br />
THE CONVOIS – OCEAN’S TALES (AntstreetRecords/NewMusic)<br />
– das ist amtlicher “Emo“ mit Metal-<br />
Einschlägen oder anders “einmalig eingängige Melodien<br />
mit einem Hauch von Brutalität“, um mal aus<br />
dem Info zu zitieren. Die Konzer Band macht ihren<br />
Job ausgesprochen gut, kein Wunder stand sie bei<br />
über 70 Shows mit Szenegrößen wie „NUFAN“ oder<br />
„Lagwagon“ auf der Bühne. Bleibt den vier Herren<br />
zu wünschen, dass sie nunmehr zu ihrem wohl verdienten<br />
Siegeszug antreten – und beim nächsten mal<br />
ein Booklet konzipieren, auf dem man auch etwas lesen<br />
kann (11).<br />
THE SPIRIT OF SIREENA – VOL. 6 (Sireena/Shack-<br />
Media), nagelneuer Samper aus dem Hause des beliebten<br />
Hamburger Labels. Mit von der Party – nein,<br />
kein Rechtschreibfehler - sind „Atomic Rooster“, Octopus“,<br />
„Grobschnitt“, „Frank K.“, „Kraan“ und viele<br />
andere. Hier zeigen die Elbestädter, wie variantenreich<br />
ihr Label-Oevre ist. Fazit: Besonders gelungen<br />
(keine Wertung).<br />
DIE TÜREN – ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVW-<br />
XYZ (Staatsakt/RTD) machen es mir mit dem Titel<br />
ihrer aktuellen CD recht schwierig, hier die gebotene<br />
Kürze walten zu lassen und die „zulässige Zeichenzahl“<br />
nicht zu überschreiten. Da kommt der Inhalt,<br />
drei CD-große Papierchen mit coolen Stickern, schon<br />
besser, und - schließlich und endlich – ist ja auch die<br />
Mucke nicht schlecht. Denn die münsterländischen<br />
Wahl-Berliner befinden sich, nach den eigenen Worten<br />
ihrer offenbar liebevoll gefälschten Bio in einer<br />
„Überbegabungshölle“, die immerhin dazu führt, dass<br />
sie ihre Hörer mit wohlfeil abgestimmter Musik und<br />
Texten, die irgendwo zwischen „Dada“ und tieferer<br />
Sinnhaftigkeit chargieren, verzücken. Musik kann<br />
auch heutzutage noch überraschen. (12).<br />
Das letzte, was ich von TOMMY TORNADO – COOL<br />
DOWN (PorkPie/Broken Silence) gehört habe, war<br />
sein inzwischen drei Jahre altes Album “Sunrise”,<br />
was ich seinerzeit zur Besprechung vorliegen hatte.<br />
KURZREZIS – KURZREZIS<br />
Geändert hat sich seither nicht viel: Der coole Tommy<br />
macht da weiter, wo er seinerzeit aufgehört hat:<br />
Er vermischt coole Ska-Roots mit Rocksteady und jeder<br />
Menge modernem Reggae; noch öfter als früher<br />
ist er hier allerdings rein instrumental unterwegs, was<br />
der Sache durchaus zuträglich ist und nicht nur sein<br />
Saxophon sondern auch die großartige Trompete von<br />
Ruud „Trompie“ Kleiss noch mehr in den Vorgrund<br />
schiebt. Fazit: Cooooool! (11)<br />
Dass VIBRAVOID – GRAVITY ZERO (Sulatron/Cargo)<br />
ihre großen Vorbilder im „Psychedelic Rock“ der<br />
ausgehenden Sechziger haben, weiß man schon<br />
nach dem ersten Track der aktuellen CD der Düsseldorfer;<br />
aber nicht nur hier fühlen sich die drei Rheinländer<br />
daheim, auch Acid- und Spacerock ist ihnen<br />
geläufig, wobei sie es verstehen, die Mixtur mit einer<br />
guten Portion eigener Note zu versehen, das Ganze<br />
mithin geschickt modernisieren – die Geschichte wiederholt<br />
sich eben doch, aber wenn sie das so tut wie<br />
bei „Vibravoid“, dann darf man rundum zufrieden sein<br />
(11).<br />
WINO AND CONNY OCHS – HEAVY KINGDOM<br />
(Exile On Mailstream) ist, das schon mal vorab, ein<br />
ziemlich geiles Teil geworden. Labelmacher Andreas<br />
Kohl schätzt sich glücklich, Musiker zusammengebracht<br />
zu haben, die sich „ohne diese Label niemals<br />
getroffen hätten“ – und wir erst! Robert Scott<br />
Weinrich („Saint Vitus“, „The Obsessed“) meets Conny<br />
Ochs, da trifft Topf auf Deckel, Arsch auf Eimer!<br />
Ochs, der wahrscheinlich eher den eingefleischten<br />
Nerds bekannt ist, dürfte mit dieser Scheibe dort hin<br />
treten, wo Kollege Weinrich schon lage ist: in’s Rampenlicht!<br />
WOW! Hammerscheibe, irgendwo zwischen<br />
Folk, Americana und Blue und vielleicht das Beste,<br />
was ich dieses Jahr bis dato gehört habe (13).<br />
Bei ZOSCH – Birds Don’t Lie (Contraszt!Records/Diyordie)<br />
trifft „New Wave“ auf „Guts Pie Earshot“ und<br />
„Bikini Kill“. Der hohe Widererkennungswert kommt<br />
nicht zuletzt durch die eindringliche Stimme von Sängerin<br />
Martina (den Nachnamen erfährt man nicht) zustande.<br />
Schön auch, dass die drei Mädels und die<br />
beiden Jungs nicht nur elektropunkig unterwegs sind,<br />
sondern ab und an auch die Gitarren auspacken.<br />
Und mindestens genauso schön: Das Ganze kommt<br />
auf fette, 180-Gramm-Vinyl UND CD im Digipack! Zugreifen!<br />
(11)<br />
KURZREZIS – KURZREZIS<br />
41<br />
KURZREZIS – KURZREZIS
42<br />
Von rechts unten nach oben auf der Treppe: Stefan David Wehner (Wena), Olly Opitz, Achim Sauer (Kapellmeister). Foto: HERZSCHWESTER<br />
Psalter und Harfe wacht auf !<br />
Noch jeder Tonträger der Juli Kapelle überraschte,<br />
widerborstete und faszinierte letztlich<br />
wie sonst kaum eine neu einlaufende<br />
CD. Auch jetzt war das tatsächlich wieder so.<br />
Diesmal wählte die Formation um Kapellmeister<br />
Achim Sauer („as“) einen „Unplugged“-<br />
Ansatz. Sie tat dies mit besonderem Erfolg,<br />
denn das suchtbildende Gift steckte wohl<br />
Die neue Scheibe heißt „Alchemie“ – was wird hier in was verwandelt?<br />
Und handelt es sich dabei um „weiße“ oder um „schwarze“<br />
Künste?<br />
Im Grunde werden Erfahrungen und helle Momente im Leben, die ja<br />
zuweilen in düsteren Augenblicken aufblitzen, in Musik verwandelt.<br />
Der Strom des Unterbewusstseins zum Klingen gebracht. Die Künste<br />
flippern dabei immer so zwischen „schwarz“ und „weiß“ herum...<br />
Das Artwork Eurer Veröffentlichungen ist ja stets ein echtes zusätzliches<br />
Kaufargument. Diesmal hat V.B. Kühl (vgl. http://www.<br />
myspace.<strong>com</strong>/vonkbee, d. Red.) Besonderes geleistet, finde ich.<br />
Was siehst Du in diesem Lichterspiel – das Entstehen von Gold?<br />
Eine andere (chemische oder emotionale) Reaktion?<br />
V.B. KÜHL ist ein fantastischer Grafiker! Fürs Julikapelle Artwork ist er<br />
beratend tätig und macht den Endschliff. Heisst, er sorgt dafür dass<br />
das, was man ihm vorlegt, gescheit zusammengefügt wird. Tatsächlich<br />
stammt die Grundlage für das aktuelle Artwork, also die Bilder von<br />
Cover und Booklet, von der Fotokünstlerin HERZSCHWESTER (siehe<br />
immer schon primär in den mit der Präzision<br />
eines meisterlichen Kurzgeschichtenerzählers<br />
aufgespießten Texten und der schamanischen<br />
Rhythmik. Und just diese beiden Stärken kommen<br />
in diesen Akustik-Arrangements mit u. a.<br />
Dobro, Mandoline, herrlich singendem Fretless<br />
Bass, „Fiddel“, Cello u. a. womöglich noch<br />
besser über den Kapellengraben. Drum nichts<br />
wie hin, als der Maestro eine seiner seltenen<br />
Audienzen gab…<br />
auch Fotocredits; vgl. https://www.facebook.<strong>com</strong>/pages/Herzschwester/152300808183203,<br />
d Red.). Seltenes Glück, denn sie macht nicht<br />
allzu oft Auftragsarbeiten. Aber auf diese hat sie sich eingelassen da sie<br />
die Musik liebt und einen unlösbaren Pakt mit mir geschlossen hat.<br />
Wie jetzt das Bild auf dem Cover entstanden ist, das ist geheim. Man<br />
kann aber sagen dass es definitiv eine Mischung aus chemischer und<br />
emotionaler Reaktion ist. Und dass es gut ist, dass keiner weiss, was<br />
das ist. Für mich jedenfalls ists die treffendste Interpretation von Alchemie<br />
in Bezug Mensch/Seele überhaupt.<br />
„In Klammern“ klinge so, als hätte Morricone einen Endzeit-Fantasy-Film<br />
vertont, hatte ich andernorts behauptet – nachvollziehbar?<br />
Magst Du Filmmusiken? Welche?<br />
Hast Du die Raben im Text je wirklich gesehen (habt Ihr noch<br />
Kolkraben in Hildesheim?!?), oder gaben die Galgenvögel halt ein<br />
stärkeres Bild ab als beispielsweise schnöde Krähen?<br />
Ich habe Filmmusik immer sehr geliebt, schon als ich klein war. Ich hatte<br />
nen Umhängekassettenrekorder, in Mono, und mir auf Kassette die<br />
komplette Musik von „Jäger des verlorenen Schatzes“ draufgespielt,
die ich voll aufgedreht laufen ließ während ich samstags den<br />
Hof und die Gasse kehrte. John Carpenter, Bernard Herrmann,<br />
Morricone, Henry Mancini, Lalo Schifrin, John Williams<br />
usw., ja, Filmmusik mag ich.<br />
Die Raben sind klaro Krähen. Ertappt. Ich wohne im Industriegebiet<br />
eines kleinen Städtchens, und im Herbst kommt<br />
zuverlässig ein Riesenschwarm dieser Wesen pünktlich<br />
zwischen 17.00 und 17.30 Uhr und besetzt das Hausdach des<br />
Hotels gegenüber. Ich mag dieses Volk. Aber das gilt auch für<br />
andere Vögel. Für Vögel generell, eigentlich. Erst lange, nachdem<br />
ich das Stück fertig hatte, wurde mir bewusst dass die<br />
„Raben“ ja eigentlich Krähen sind. Das Wort Krähen jedoch<br />
ist in meinem Sprachgebrauch nie wirklich regulär geworden.<br />
Rabe klingt besser und krähen tut der Hahn.<br />
Das Gitarren-Instrumental „Feuerstelle“ hat zwar nichts<br />
vom Marlboro-Mann, aber doch definitiv Lagerfeuer-<br />
Romantik – was steckt dahinter?<br />
Dahinter steckt ne traurige Geschichte von einer Feuerstelle<br />
im Garten die nie so recht gezündet hat ... ich saß nen<br />
sommerlang immer wieder auf einer Holzbank an dieser<br />
Feuerstelle und spielte mir auf der Gitarre den Kopf leer. So<br />
entstand dies Instrumental.<br />
„Vampirella“ – was sind die „Welten, in die wir nicht gehörn“,<br />
in denen wir uns aber dennoch bewegen?<br />
Du erkennst den Schatten der Angesungenen, „auch dann<br />
wenn du keinen hast“ – Hast Du denn Blutsaugerinnen in<br />
Deiner Bekanntschaft?<br />
Das Lied schrieb ich –wie alle diese Lieder- zu Beginn der<br />
00er Jahre. Damals, als dieses Casting-Ding grad aufkam.<br />
Heute muss ich nur durch ne samstägliche Innenstadt gehen<br />
um das Gefühl zu haben, mich in einer Welt zu bewegen, in<br />
die ich nicht gehör‘ ... Aber das Stück bezieht sich ursprünglich<br />
auf die Medien und die Bilder/Welten, die sie kreieren.<br />
Und mit denen sie gerne diktieren wollen, wem oder was wir<br />
entsprechen müssen. Während sie uns gleichzeitig um die<br />
Ohren hauen, dass wir diesen Bildern niemals entsprechen<br />
können. Und so ein Verlangen hervorrufen, das unstillbar<br />
ist. Sie installieren in den Köpfen und Herzen grade junger<br />
Menschen eine Sehnsucht danach, etwas anderes zu sein,<br />
als sie selbst. Und bereichern sich daran, sie brauchen ja das<br />
Publikum. Es sind Vampire, die uns aussaugen. Und wir sind<br />
Vampire, die ebenfalls Durst haben nach etwas von Wert.<br />
Etwas, das unser Herz erfüllt. Oder schlicht Beachtung. Die<br />
haben keinen sichtbaren Schatten, und trotzdem liegt er auf<br />
der Straße, in der Stadt, im Büro, im Jugendhaus oder im<br />
Kinderzimmer... Vampire, die Vampire jagen, quasi. Vampirella<br />
spielen.<br />
Wie schon berichtet: der u.a. aufgrund von Teufelsgeiger<br />
Manfred Pietrzok enorm abgehende „Krebstanz“ begeistert<br />
ausgerechnet unser mit weitem Abstand jüngstes<br />
Familienmitglied am meisten. Was bedeutet Rhythmus<br />
für die Juli Kapelle? Hast Du andere Rückmeldungen<br />
dazu, wie Kinder Eure Musik finden?<br />
Eine der wichtigsten Lektionen die ich lernte – ganz vorzüglich<br />
lernte durch V.B. KÜHL und nochmal bestätigt bekam von<br />
einem Mann der ein ganz anderes Genre reitet, nämlich besagtem<br />
Manfred Pietrzok, ist: Das wichtigste ist der Groove.<br />
2012 I #35 I Juli Kapelle 43<br />
Es gibt ja viele solche Musikerweisheiten. Und alle stimmen.<br />
Z.B. „Das wichtigste sind die Pausen“. Aber der Groove, der<br />
Rhythmus, ist eben auch das Wichtigste. Egal ob du Glitchhop<br />
machst oder im Mandolinenorchester Hösbach spielst.<br />
Wenn‘s nicht groovt, ist‘s scheiße. Kinder sind an diesen<br />
ursprünglichen Wahrheiten viel näher dran als „Erwachsene“.<br />
Sie müssen sich das nicht erst bewusst machen oder so.<br />
Jedenfalls bekomme ich oft rückgemeldet dass meine Musik<br />
von Kindern sehr positiv aufgenommen wird.<br />
Warum ist „Dezembernacht“ so leise?<br />
Damit man den Schnee rieseln hört.<br />
„Geisterzähler“ ist in diesen Post-Fukushima-Tagen ja<br />
ein sehr spezielles Wortspiel. Ich hab in dem starken,<br />
poetischen Text keine Geister entdeckt, jedenfalls nicht an<br />
der Oberfläche?<br />
Die Geister sind die der Jugend. Und es ist ja eine Eigenart<br />
von Geistern, sich nicht entdecken zu lassen.<br />
Toll, dass „die gms“ wieder dabei ist! Mein persönlicher<br />
Favorit „Gefährten“ bringt ihr Klavier an den Start, das<br />
klingt, als ob es mit einem darin stehenden Grundig-<br />
Cassenrecorder aufgenommen worden wäre. Dazu noch<br />
Deine melancholische Steel Drums-Begleitung! Die<br />
geheimnisvolle Dame hat hier auch Songwriter Credits<br />
– wenn sie schon keine eigenen Platten macht, vielleicht<br />
könntet Ihr ja irgendwann mal auf voller Albumlänge<br />
kooperieren?<br />
Das ist ein sehr schönes Bild, mit dem Grundig-Kassettenrekorder.<br />
Viel von dem Sound liegt am Klavier selbst, es ist ja<br />
fast 100 Jahre alt und hat nicht diese kristallene Brillanz neuer<br />
oder künstlicher Klaviere.<br />
Die gms, diese vorzügliche Person, ist schrullig und wunderlich.<br />
Sie zu solcherlei Projekten zu bewegen ist uneinfach.<br />
Aber ich werde ihr diese exquisite Idee mal auf die Tapete<br />
schreiben, an mir soll‘s nich liegen…<br />
Die Aufzählung der in der Juli Kapelle gespielten Instrumente<br />
gerät leicht abweichend von anderen Bands… Die<br />
„Udu“ hab ich ja noch gefunden. Und sehr schön, dass<br />
man hier die so gern gehaltene Standpauke endlich mal<br />
in ihrer wahren Bestimmung belauschen kann. Auch der<br />
Lachsack oder das Harmonium sind zwar exotische, aber<br />
nicht völlig unbekannte Tonquellen. Doch was bittschön<br />
sind, nur als Beispiele, „Herr Im Frack“, „Topfgitarre“ - und<br />
besitzt jemand von Euch wirklich einen „Psalter“?<br />
Ich besitze einen Psalter! Einen Streichpsalter. Auf nem<br />
Mittelaltermarkt gekauft, einem beruflichen Psalterbauer<br />
persönlich abgehandelt. Ist ne Art Geige für nicht-Geiger. Die<br />
Topfgitarre heisst so, weil mir der afrikanische Originalname<br />
entfallen ist und ich ihn auch nirgends auftreiben konnte.<br />
Und der „Herr im Frack“ ist die Gitarre, die meinem Vater<br />
gehörte. Lag jahrelang auf dem Dachboden rum, war nahezu<br />
unspielbar. Ich hab sie wiederbelebt. Es ist der Nachbau einer<br />
Hoyer „Herr im Frack“. Einer Jazz- bzw. Schlaggitarre aus den<br />
50/60er Jahren. Das Modell heisst wirklich so. Ich glaub die<br />
werden auch wieder gebaut. Damals hatten Gitarren halt noch<br />
wirklich abgefahrene Namen. Und so treffend. Sie schaut ja<br />
auch ein bisschen aus wie ein Herr im Frack.
44<br />
Juli Kapelle I #35 I 2012<br />
„ich mach jeden fehler nochmal | solang bis er perfekt ist“<br />
behauptest Du im letzten Lied. Ist das mehr lebensführungstechnisch<br />
gemeint? Oder auch musikalisch?<br />
Ist so ne Art Haltung die in vielerlei Hinsicht in allen möglichen<br />
Bereichen nützlich sein kann. Vielleicht nicht unbedingt im Krankenhaus...<br />
aber ich schätze das kreative Potential, das in Fehlern<br />
steckt. Der Titel kommt übrigens daher: In der Grundschule,<br />
im Deutschunterricht, stand regelmäßig in rot am Rand meiner<br />
Schreibübungen: „Fehler, nochmal!“<br />
Ich kenne nicht viele deutschsprachig singende Bands bzw.<br />
Projekte, deren Texten man mit so viel Lustgewinn und so<br />
wenig Peinlichkeiten lauschen kann wie bei Juli Kapelle oder<br />
kühl&sauer. Hast Du immer schon deutsch gesungen oder gab<br />
es Versuche mit englischen oder noch anderssprachigen Texten?<br />
Ich wuchs auf mit der ausklingenden NDW, die hinterließ zwar<br />
Spuren aber es kam zunächst eine lange Zeit nix Deutschsprachiges<br />
mehr in mein kleines Universum. Ich schrieb, wie jene,<br />
die ich bewunderte, in Englisch. Mit Mitte 20 –ich brauch oft ein<br />
bissel länger- machte es zong (nicht zoom) und mir wurde klar:<br />
All diese Songwriter, die ich gut finde, schreiben in ihrer Muttersprache.<br />
Ich beschloß, das von nun an auch zu tun und schrieb<br />
von da an nix Englisches mehr. Und andere Sprachen kann ich<br />
blöderweise nicht.<br />
Du hast mit dem 7V-Studio ein eigenes Musiklabor.<br />
Wird das auch vermietet? Würdest Du auch andere Bands<br />
produzieren? Wovon lebst Du eigentlich?<br />
Das Studio vermiete ich auch, klar. Es hat inzwischen Ausmaße<br />
angenommen, die erfordern, dass ich regelmäßig auch Geld<br />
reinhole um die Wartung des ganzen alten Gerümpels zu finanzieren.<br />
Ich bin ja kein Musikelektroniker. Oder Instrumentenbauer.<br />
Ich lebe davon, dass ich an der A7 Zimmer an Reisende<br />
vermiete. Bands produzieren – hmm. Käm‘ auf die Chemie an.<br />
Wenn ich produziere, bin ich nicht unbedingt der Typ, der Bock<br />
auf Kompromisse oder „lass ma´ ausdiskutieren“ hat. Das saugt<br />
mir zu sehr Energie. Die Juli Kapelle ist ja nicht umsonst ne<br />
1-Mann-Band ... insofern sollte das „chemisch“ und geschmacklich<br />
schon passen. Aber das ist ja eh klar.<br />
Du hast mir schon in anderem Zusammenhang von Deiner<br />
Freude berichtet, bei Live-Auftritten auch Menschen im<br />
Publikum vorzufinden, die wegen der Musik da sind. Gleichzeitig<br />
gab es grad die Premiere von Solo-Auftritten. Wie<br />
klappt das überhaupt mit dem Live-Spielen: Wer bucht die,<br />
auf welches Publikum und welche Clubs zielt Ihr und wie<br />
sind die Erfahrungen? Für wen würdest Du am liebsten mal<br />
die Vorgruppe geben?<br />
Gebucht werden wir durch Vermittlung von Freunden oder durch<br />
Individualisten, denen die Musik gefällt und die drauf scheissen,<br />
wenn´s sonst keiner kennt. Aber das passiert selten, es ist<br />
schon ein Kampf, an Gigs zu kommen. „Kennt keiner, kommt<br />
keiner“ ist so der Tenor. Als deutschsprachige Truppe mit nem
eigenen Stil, noch dazu unbekannt, sind wir halt nicht grade ne<br />
Garantie für nen vollen Laden. Ich hoffe immer auf Publikum, das<br />
musikinteressiert ist, unvoreingenommen und nicht festgefahren<br />
in den Hörgewohnheiten. Die auch kein Vorurteil gegen deutschsprachigen<br />
Kram haben.<br />
Am liebsten spielen wir in kleinen Clubs oder schrulligen Läden,<br />
wie in der Braunschweiger Kaufbar. Da hatten wir zusammen mit<br />
dem Hamburger Jürgen Ufer ein wundervolles Konzert. Das Publikum<br />
war zwischen 19 und 69 Jahre alt, lauschte andächtig und<br />
ich verkaufte mehr CDs als bei sämtlichen bisherigen Konzerten<br />
überhaupt. Ich war ziemlich baff. Warum das so war, weiss ich<br />
nicht. Vermutlich war das eben genau jenes Publikum, das ich mir<br />
wünsche. Mein Vorgruppentraum... Würd gern mal auf dem OBS<br />
in Beverungen spielen. Egal vor wem. Ansonsten hätt ich nichts<br />
dagegen, mal für Bob Dylan zu eröffnen. Harrr. Oder fürs Kammerflimmer<br />
Kollektief.<br />
Ihr habt schon so viel gemacht: Experimente mit tanzbaren<br />
„Beatz“, psychedelischen Stoner Rock („Brandung“), Monsters<br />
Of Stimmensampling (für das Du vermutlich leider<br />
Deine Quellen immer noch nicht offenzulegen bereit bist?),<br />
Kollaborationen mit remixenden Muckerkollegen, Lautstärkeschablonen,<br />
Branded Brustbeutel (bildhübsch), jetzt das<br />
Unplugged-Album. Und noch vieles mehr. Was kann da noch<br />
kommen? Welche Pläne wurde noch nicht realisiert?<br />
2012 I #35 I Juli Kapelle45<br />
Seit 2005 arbeite ich mit dem Dichter und Filmwissenschaftler<br />
Roman Mauer an einem Album dass Musik und Hörspiel<br />
vermischt. So grob gesagt. Das wird nächstes Jahr fertig, mit<br />
nem Haufen Gastmusikern wie Katharina Franck (ehem. Rainbirds),<br />
Bobo (in white wooden Houses), Textor (ehem. Kinderzimmer<br />
Productions) und vielen mehr.<br />
Ein weiteres musikalisches Projekt steht mit der vorhin schon<br />
erwähnten HERZSCHWESTER an, besagter Pakt... das wird recht<br />
elektronisch. Und die neue kühl & sauer atmet den Geist des<br />
Postrock und dürfte kommendes Frühjahr gemastert sein. In einer<br />
nie dagewesenen Verpackungsform welche Kunst und Protest<br />
vereint!<br />
Darüber hinaus gibt´s noch Stoff für mehrere Ewigkeiten in den<br />
Schubladen... Ach, hätt ich doch 1.000 Jahre!<br />
Möge er die bekommen. Wir jedenfalls wollen dem Kapellmeister<br />
nicht noch mehr Zeit rauben und empfehlen uns jetzt.<br />
Fotos auf der linken Seite:<br />
Dorit Schulze * livegesehen.de<br />
Black border: sxc.hu<br />
Klaus Reckert
46 <strong>com</strong>iCorner I #35 I 2012<br />
<strong>com</strong>iCorner<br />
<strong>com</strong>iKunst im ComiCorner.<br />
Männerehre, eine Beziehung über alle Grenzen<br />
hinaus, die lieben Kleinen, Kleidungsstücke und<br />
Nahrungsmittel in einer WG zusammen und der<br />
neue Leowald! Viel Spaß!<br />
Und wie immer nicht vergessen: reprodukt.<strong>com</strong>,<br />
avant-verlag.de, editionmoderne.de – da Pflichtlektüre!<br />
MERVAN & VIVÉS – FÜR DAS IMPERIUM<br />
Band I: Ehre & Band II: Frauen<br />
Reprodukt<br />
Man stelle sich vor: Eine Spezialeinheit von Römern,<br />
die in geheimer Mission über die Grenzen<br />
des Reiches in unbekanntes Land vordringt, um<br />
zu kartographieren und auf einer Art Vorhut-<br />
Himmelfahrtskommando herauszufinden, was in<br />
diesen vorher nie betretenen Gebieten alles so<br />
kreucht und fleucht, dazu, welch glorreiche Taten<br />
oder todbringendes Getier auf den Kaiser und<br />
sein Heer warten mögen.<br />
Quasi die Inglorious Basterds zur Blütezeit des<br />
Römischen Reichs. Bastarde stimmt dann auch<br />
wieder. Harte Gesellen, jeder Meister seines<br />
Metiers, sei es als Späher, Kämpfer (auch gerne<br />
mal mit einem „Berserker-“ vorne dran), Pfeilschütze<br />
oder Führer. Ein kleiner zusammengerotteter<br />
Haufen, der nicht gerade sehr zimperlich<br />
ist, geht es um Gewalt, Feinde, Tatendrang,<br />
Furchtlosigkeit, Beutegut, um zu nehmende<br />
Jungfrauen, oder um ein Gelage generell. Wo<br />
gehobelt wird, fallen eben Späne. Und vor allem<br />
geht es bei den rauen Burschen um eines:<br />
Ehre. In männlicher Reinform. Allseits beliebt,<br />
unbedingt ein zu erreichendes Gut – gerne auch<br />
durch absoluten Gehorsam gegenüber seinen<br />
Befehlshabern in die Tat umgesetzt. Man wird<br />
eingangs sehr stimmig und schnell mit den<br />
Charakteren vertraut gemacht, taucht ebenso<br />
schnell in die fesselnde Story ein. Die Auserwählten<br />
nehmen den Auftrag von ganz oben<br />
dankbar an und brechen in die große Unbekannte<br />
auf; im Kopf Schwindel voller Ruhm und Ehre,<br />
im Nacken anfangs noch uneingeschränkter<br />
Gehorsam. Band 1 handelt von eben diesem<br />
großen Aufbruch.<br />
Die Farbgebung ist schmutzig – jedoch wunderschön,<br />
der Zeichenstil erinnert an sanft<br />
dahingeworfene Striche zum Zwecke einer<br />
Studie. Diese sind jedoch viel zu präzise und definiert,<br />
um „nur“ als Fingerübung durchzugehen.<br />
Teilweise erinnern die Panels an Szenen aus<br />
einem düsteren und gleichermaßen kunstvollen<br />
Sandalen-Animationsfilm voller Gewalt und<br />
Schlachtengemetzel. Klar definierte Linie trifft<br />
auf vermischt verschwommene Farbe.<br />
Bastien Vivès hat auch schon in seinen anderen<br />
Werken gekonnt aufgezeigt, wie er mit Strichen<br />
und Farbgebung umzugehen weiß, vor allem<br />
auch, dass er ein Meister der Beobachtung und<br />
Darstellung von Körperhaltungen sowie auch<br />
vor allem -bewegungen ist; man denke nur an<br />
das mit Wort sparende „In meinen Augen“ oder<br />
„Der Geschmack von Chlor“ - beide ebenso<br />
bei Reprodukt erschienen. Hier stellt er erneut<br />
unter Beweis, dass er zu den ganz großen der<br />
Comicszene gehört – und das mit seinen 28<br />
Lenzen. Auch sein vielseitiges Oeuvre weiß<br />
einfach nur zu verblüffen. Von seinem Mitstreiter<br />
Merwan (Designer für Storyboard/Videospiele<br />
und eher im Trickfilm-Metier unterwegs – das<br />
erklärt einiges!) gab es bis dato in den hiesigen<br />
Gefilden noch nicht zu bewundern. Da sich die<br />
beiden Szenario, Story und Zeichnungen via<br />
kongenialer Kollaboration teilen, bleibt doch sehr<br />
zu hoffen, dass es auch von Herrn Merwan in<br />
Zukunft mehr zu sehen gibt.<br />
In Band 2 gelangt unser „Helden“-Trupp in<br />
eine Art Garten Eden, um dort u. a. auf ein Volk<br />
von Amazonen zu stoßen, das es – sehr zum<br />
Leidwesen und absoluten Verwirrung der harten<br />
Burschen – mehr als nur ganz schön in sich hat.<br />
Somit haben unsere Legionäre alle Hände voll<br />
zu tun, um ihre Haut zu retten. Abschließender<br />
Teil 3 der Mini-Serie müsste jetzt im Moment<br />
bei Reprodukt erschienen sein. Er soll nochmals<br />
einen zusätzlichen Paukenschlag oben drauf<br />
geben. Ich bin gespannt!
MIKE VAN<br />
AUDENHOVE – KIDS<br />
Edition Moderne<br />
Ein geniales Buch<br />
vom leider viel zu früh<br />
von uns gegangenen<br />
Schweizer Illustrations-<br />
und Comic-Künstler<br />
Mike van Audenhove.<br />
Am besten für Menschen,<br />
die a) Eltern sind, b) sich ernsthaft aktuell<br />
mit dem Gedanken an Kinder auseinandersetzen,<br />
c) die sich in irgendeiner Zukunft mit einem<br />
Kinderwunsch auseinandersetzen wollen, d) die<br />
einfach nur die lieben Kleinen mögen oder auch<br />
misstrauisch beäugen, was in Kinderköpfen so<br />
vor sich geht, und e) alle restlichen Großeltern,<br />
Tanten, Onkel, Urgroßeltern und der sonstiger<br />
Rest vom Fest.<br />
Im schönen geskribbelten und farbenfroh<br />
colorierten Stil setzt sich van Audenhove mit<br />
den Logiken, alltäglichen großen und kleinen<br />
Aufgaben, Streichen, Sorgen, Problemen und<br />
dem Ticken der lieben „kleinen“ Menschheit<br />
auseinander – ebenso mit denen der Eltern<br />
und anderen Menschen in deren Umfeld. Und<br />
es ist einfach nur so witzig witzig witzig. So<br />
echt. So voller Wahrheit und Erfahrung! Kriegt<br />
man ja täglich mit, wenn man mit offenen<br />
Augen durch‘s Leben generell oder auch eigene<br />
Familienleben tappt. Diese grundunschuldige<br />
Ehrlichkeit, das verschwurbelte Denken und<br />
die absurden – oft entlarvenden - Kausalzusammenhänge,<br />
die in solch kleinen Köpfchen ticken<br />
… einfach nur herrlich, einfach zu köstlich!<br />
Dazu der ganze Sinn, Unsinn und die grandiose<br />
Verspieltheit... hachja!<br />
Ein ideales Geschenk für alle Vertreter der<br />
oben aufgeführten Zielgruppen-Liste. Und tolle<br />
Leistung, Herr van Audhoven! Diese Beobachtungsgabe.<br />
Und vor allem auch das Talent, diese<br />
Beobachtungen auch noch so brillant und nachvollziehbar<br />
zu Papier zu bringen und somit zu<br />
verewigen! Und das ist dann auch schon wieder<br />
ein bisschen traurig... Denn viel mehr wird es<br />
wohl nicht mehr von ihm geben. Ist „Kids“ sein<br />
Vermächtnis? Wenn ja, dann ist jenes ein<br />
wunderbar leises, subtiles, feinhumoriges<br />
und grenzschönes. Danke.<br />
JUDITH<br />
VANISTENDAEL –<br />
KAFKA FÜR AFRIKA-<br />
NER – Sofie und der<br />
schwarze Mann.<br />
Reprodukt<br />
„Diese Geschichte<br />
ist eine Geschichte<br />
über Liebe.<br />
Ich widme sie Kerim.<br />
Und allen Flüchtlingen auf dieser Welt, die auf<br />
der Suche nach einem menschlichen Dasein<br />
sind.“<br />
Judith Vanistendael hat sich in ihrer semiautobiographischen<br />
Premiere die Liebe als<br />
Hauptthema auserkoren. Nur eben nicht die<br />
unkomplizierteste Liebe, zumindest wenn<br />
man ihre Familie fragen sollte. Oder die Behörden.<br />
Oder die Öffentlichkeit generell. 1994<br />
verliebt sich die 19-jährige Belgierin Sofie in<br />
Abou – einen Flüchtling aus Togo, der illegal<br />
ins Land kam und in dem bekannten Asylzentrum<br />
Klein Kasteeltje untergebracht wurde.<br />
Damit konfrontiert reagieren die Eltern<br />
erst einmal nicht ganz so locker und lässig,<br />
ihre Tochter lässt sich aber definitiv nicht<br />
von ihrem Vorhaben abbringen, mit Abou<br />
zusammen sein und auch mit ihm zusammen<br />
ziehen zu wollen; so fügen sie sich und überlassen<br />
den zwei Liebenden den ungenutzten<br />
Dachboden. Natürlich auch, um ein Auge auf<br />
die noch zarte Beziehung zu werfen.<br />
Ab jetzt gilt es natürlich, einige Vorurteile und<br />
kulturelle Hürden zu überwinden und sich<br />
mit außer-belgischen Bräuchen, Geschichten,<br />
der Politik und Gepflogenheiten auseinanderzusetzen.<br />
Ebenso mit der bürokratischen<br />
Willkür, die zu dieser Zeit noch um einiges<br />
willkürlicher in belgischen Ämtern gewütet<br />
haben dürfte (wobei uns die letzten Seiten des<br />
2012 I #35 I <strong>com</strong>iCorner 47<br />
Buches darüber aufklären, wie die Asylverfahren<br />
auch aktuell in Belgien und Deutschland<br />
aussehen, sogar eine Verschlechterung der<br />
Lage der Asylanträger blieb leider nicht aus …<br />
permanentes Kopfschütteln ist die Folge bei<br />
Lektüre der Infoseiten.). Dazu noch die unerfahrenen<br />
und vorsichtig ausgeführten ersten<br />
Schritte der beiden, verknüpft mir Verlustängste<br />
und all den Gedanken, Konflikten und<br />
Sorgen, die im Fahrwasser einer Beziehung<br />
mitkommen könnten.<br />
Alles gipfelt in einer gemeinsamen Hochzeit,<br />
damit Abou nicht abgeschoben werden<br />
kann. Es folgt ein Zeitsprung und Kapitel<br />
2, in dem wir erfahren, wie es bis zur und<br />
nach der Hochzeit weiterging und warum<br />
die Beziehung scheiterte – kongenial in der<br />
Rahmenhandlung und im Dialog zwischen<br />
der jetzt sehr erwachsenen Sophie und ihrer<br />
kleinen Tochter eingebettet. Judith Vanistendael<br />
hat ein enormes Gespür für Storytelling,<br />
die Geschichte vorantreibende und Spannung<br />
erzeugende Zeitsprünge und Szenarien.<br />
Der geskribbelte Stil ihrer Zeichnungen<br />
verstärkt den autobiographischen Charakter;<br />
ebenso die via Freihand erstellten Panels und<br />
das eigens in geschwungener Schreibschrift<br />
ausgeführte Lettering. Intensiv, tiefgehend,<br />
sozialkritisch, mitreißend, ganz nahe.<br />
LEOWALD – STOPPTANZ<br />
Reprodukt<br />
Der sagenhafte Leo<br />
Leowald ist zurück!<br />
Und hat mal wieder einige<br />
Alltagsabsurditäten,<br />
Verschwörungstheorien<br />
und Lebensratgeber auf Tasche. Allesamt in<br />
Strips verpackt. Dazu einzwei ganzseitige<br />
Cartoons und fertig ist das geschmackvolle<br />
und überaus wichtige „A Teenage Guide To<br />
Surviving Life – Adults Wel<strong>com</strong>e, Too“. 192<br />
Seiten. Schickes fast quadratisches Format.<br />
Heißt jedoch jetzt „Stopptanz“. Geht trotzdem<br />
klar. Natürlich. Und natürlich hat er auch
48 <strong>com</strong>iCorner I #35 I 2012<br />
wiederum von seinem überaus empfehlenswerten Webblog zwarwald.de geklaut, ist ja<br />
auch einfach. Und dann noch in Guttenberg-Manier einzwei Sachen ergänzt, neu dazugepinselt.<br />
Um zu vertuschen, eben. Auch bekannt. Wäre er nicht so subtil, leisetreterisch<br />
und feinhumorig, er würde im großen Presserampenlicht gnadenlos zerfetzt werden.<br />
Dazu gibt sich Leowald bewusst als Meister der Reduktion, schon fast zu gewollt abgebrüht<br />
und auch berechnend. Nicht nur in den Zeichnungen. Er fordert den Leser dazu auf<br />
– nein, er zwingt ihn sogar, durch wegrationalisierte Auflösungs-Bilder oder gar dazwischen<br />
eingestreute Nachdenk-Panels in seine höchst verschwurbelt-philosophische Gehirnwindungen<br />
einzutauchen, um diesen die Essenz heraus zu pressen. Nebenwirkungen:<br />
regelmäßig auftretendes unkontrolliertes Kichern, Lachen und Sabbern. Schmunzeln ist<br />
natürlich erlaubt.<br />
Er lässt Undinge einfach auch mal so stehen. Mittendrin. Bricht ab. Lässt uns alleine.<br />
Mit der Pointe. Oder mit etwas ähnlichem.<br />
Genauso ähnlich habe ich letztens eine Rezi über Nicolas Mahler‘s aktuelles Werk<br />
eingeleitet... Ähnlichkeiten sind bewusst platziert und auf jeden Fall gewollt. Die beiden<br />
könnten ruhig mal zusammen auf Lesereise gehen. Haben sie doch die eine oder auch<br />
andere Gemeinsamkeit. Unter anderem eine nicht zu unterschätzende Genialität. In Tun,<br />
Humor, Zeichnung und Reduktion. So, den Rest lass ich auch mal weg.<br />
AUSSERDEM<br />
Matthias Horn<br />
HANNES NEUBAUER - DAS KLEINE SCHWARZE<br />
Edition Moderne<br />
Eine Stripsammlung in Buchform mit guter Hintergrundidee: ein kleines Schwarzes,<br />
eine Krawatte und eine Couch-Kartoffel plus Katze teilen sich eine Wohnung und<br />
erleben absurde Alltäglichkeiten einer Kleidung-Nahrungsmittel-WG.<br />
Schön im reduzierten Pop-Art-Stil und Duplexton umgesetzt, voller Wortspielereien<br />
und Reminiszenzen an bekannte Motive der politischen, sozialen und kulturellen<br />
Geschichte. Einseitige Cartoons wechseln sich mit mehrbildrigen Stories ab, manche<br />
zum Schreien komisch, andere zum Schmunzeln, dritte wiederum, um müde<br />
zu lächeln. Alles in allem jedoch kurzweilig und witzig; das Gute daran überwiegt.<br />
Lustich!
Matt Pryor, seines Zeichens Frontmann<br />
der GET UP KIDS, macht<br />
schon merkwürdige Sachen; bis<br />
vor kurzem sammelte er Spenden<br />
für sein neues Solo-Album und bot<br />
demjenigen, der die Spendierhosen<br />
besonders weit trägt, auch schon<br />
mal an, gleich einen Song für ihn<br />
zu schreiben. Das mag in Zeiten<br />
sinkender Absatzzahlen ein probates<br />
Mittel sein, die Kohle für seine<br />
Produktion zusammenzubekommen,<br />
löst aber bei Musikliebhabern<br />
beiderseits des großen Teichs auch<br />
gerne mal Kopfschütteln aus. Ob<br />
nun, wie bei Matt, das Fanportal<br />
„Kickstarter“ hilft oder das Geld<br />
durch harte Arbeit auf den Bühnen<br />
oder an den Fließbändern dieser<br />
Welt zusammenkommt – letztlich<br />
zählt doch die Mucke. Und die auf<br />
„May Day“ ist wieder so richtig<br />
schön amtlich geworden, die Texte<br />
scheinen allerdings sehr nachdenklich,<br />
beinahe pessimistisch,<br />
besonders wenn man sich Tracks<br />
wie „Don‘t Let The Bastards Get You<br />
Down” oder “The Lies Are Keeping<br />
Me Here” anhört. „In er Tat - zu<br />
der Zeit, zu der ich diese Songs geschrieben<br />
habe, war ich besonders<br />
pessimistisch, man kann sagen:<br />
zynisch“. Hat sich das inzwischen<br />
geändert? „Tatsächlich ist das alles<br />
seitdem schon etwas besser geworden,<br />
aber seinerzeit hat es hat mir<br />
geholfen, die Songs zu schreiben.<br />
Ein paar der Dämonen, die mich<br />
damals gequält haben, bin ich seitdem<br />
losgeworden“. Beim Lesen der<br />
Texte begegnet mir immer wieder<br />
das Wort „Lüge“ oder „lügen“, ist<br />
ihm das irgendwie wichtig? „Nein,<br />
ist mir eigentlich egal, Lügner sind<br />
mir wurscht – das gilt auch für mich“,<br />
sagt er verschmitzt. Scherzkeks.<br />
Manche Dinge sind, was auch immer<br />
man in sie hineininterpretieren<br />
möchte, genau das, was sie sind:<br />
bedeutungslos. Ich möchte wissen,<br />
wie genau die Songs auf „May Day“<br />
entstanden sind. „Ich habe daheim<br />
in meiner Garage aufgenommen, da<br />
habe ich ein komplettes Studio. Viele<br />
Instrumente gibt es dort nicht, und<br />
so wurden ein Karton zur Bassdrum<br />
und meine Schreibtischplatte zur<br />
Snare“, erzählt er. „Die Songs hatte<br />
ich weitestgehend schon während<br />
der „The Get Up Kids“-Tour 2010<br />
geschrieben, aber es war schwierig,<br />
sie fertig zu bekommen. Ich habe<br />
mir dann selbst ein Limit gesetzt<br />
und einfach für mich festgelegt,<br />
dass die Sache bis Mai 2011 stehen<br />
muss.“ Ohne ein bisschen Druck<br />
geht es also auch bei den talentiertesten<br />
Musikern nicht. „Daher<br />
auch der Titel „May Day“ führt er<br />
fort. Was, so möchte ich wissen, hat<br />
einen Typ wie Matt Pryor, Sänger<br />
eine ausgesprochen erfolgreichen<br />
Band wie „The Get Up Kids“, überhaupt<br />
dazu bewogen, Solopfade zu<br />
betreten? „Naja, ich habe eigentlich<br />
nebenbei immer schon akustische<br />
Musik gemacht, und 2000 habe ich<br />
mein Side-Project „The New Amsterdam“<br />
aus der Taufe gehoben. Ich<br />
habe mich seinerzeit auch sehr mit<br />
Musikern wie Steve Earle beschäftigt,<br />
ich wollte irgendetwas machen,<br />
das etwas „ruhiger“ ist, als das<br />
was ich mit „The Get Up Kids“ am<br />
Start hatte …“. Earle, fällt mir dabei<br />
ein, hatte damals gerade das Album<br />
„Transcendental Blues“ herausgebracht,<br />
seinerzeit vom US-amerikanischen<br />
„Magnets“-Magazin zu<br />
den Top 20-Alben des Jahres 2000<br />
gekührt; als „Alternative Country“<br />
wurde das Album bezeichnet, und<br />
diese Bezeichnung passt irgendwie<br />
auch auf das, was Matt musikalisch<br />
so macht. Auffällig ist eine gewisse<br />
Nähe zu Nick Drake, ok, ich als<br />
2012 I #35 I Matt Pyor 49<br />
LASST EUCH<br />
NICHT UNTERKRIEGEN!<br />
„Die-Hard“-Drake-Fan neige vielleicht dazu, hier gerne<br />
mal die „Flöhe husten“ zu hören, aber vor allem das<br />
Picking … „Ja, vielen Dank für den Vergleich, ich mag<br />
Nick Drake tatsächlich sehr, das ehrt mich“. Aber auch<br />
darüber hinaus wird es gewiss Einflüsse geben, oder?!<br />
„Da sind bestimmt Bon Iver und die Avett Brothers zu<br />
nennen.“ Und was bewegt ihn inhaltlich? „Die Familie,<br />
Bücher, das Leben, die Amerikaner, ihre Ignoranz“. Natürlich<br />
hat nicht jeder seine aktuelle Platte, ich empfehle<br />
aber, das Teil unbedingt man anzutesten. Und obendrein<br />
gibt’s ein extra-Schmankerl für Vinyl-Fetischisten:<br />
rot, 180 Gramm! Soviel Schleichwerbung darf,<br />
muss sein. Ach ja, „antesten“ … am besten hier:<br />
http://soundcloud.<strong>com</strong>/matt-pryor<br />
Keule<br />
Bild gesehen auf planetlyrics.co
50 gayGlotze I #35 I 2012<br />
•<br />
ANARCHIE GIRLS<br />
Pro Fun Media<br />
R: Saullus Drunga<br />
LIT 2010, 90 Min., FSK 12<br />
Lit. OF mit dt. UT<br />
Gleich der Beginn dieses kompromisslosen Beispiels<br />
für baltisches Autorenkino zeigt, wo es lang<br />
geht. Da treibt eine junge,<br />
burschikose Vermieterin mit<br />
Hilfe ihres geschwungenen<br />
Nietengürtels bei ihrer Mieterin<br />
die überfälligen Zahlungen<br />
ein. Anarchie in Vilnius?<br />
Schnitt. Im Zug sitzt ein vergleichsweise<br />
biederes Mädel<br />
aus der Provinz. Sie<br />
fährt in die Hauptstadt, während<br />
man um sie herum davon<br />
spricht, dort herrsche -<br />
na? - richtig: Anarchie!<br />
Ein bisschen dick aufgetragen dieser Beginn,<br />
und das ist die einzige Schwäche des sympathischen<br />
Films, der nicht immer den eigenen Bildern<br />
so ganz trauen mag. Nun, was bringt das<br />
Blondchen, sie will in Vilnius Pädagogik studieren,<br />
außer Träumen, Naivität und selbstgekochter<br />
Marmelade in rauen Mengen schon mit? Jedenfalls<br />
bleibt sie nicht wie vorgesehen bei ihrer<br />
biestig kontrollsüchtigen Geizkragentante, sondern<br />
bezieht in einer heruntergekommenen Plattenbausiedlung<br />
eine kleine Wohnung, mit oben<br />
erwähnter Krawalllady als Vermieterin, die einen<br />
Schlüssel zur Wohnung hat und den auch<br />
exzessiv benutzt, auch um ihre Mieterin zu verführen<br />
und sie in ihre täglichen kleinkriminellen<br />
Machenschaften und Besorgungsgänge einzubeziehen.<br />
Dass dieser Film trotz des doofen, plakativen<br />
Titels nicht misslingt, liegt nicht an der reichlich<br />
spekulativen Story, die immerhin mit einer<br />
sehr pfiffigen Pointe überrascht. Faszinierend<br />
ist vor allem das Setting, die Schilderung der<br />
Umgebung, der Nebenfiguren, der schonungs-<br />
lose Blick auf die Nachwende-Realität der litauischen<br />
Metropole. Aufeinanderkrachende Milieus<br />
und Lebensentwürfe, der krasse Gegensatz der<br />
Generationen, von Vergangenheit und Moderne,<br />
Land und Stadt, wird ebenso knapp und kühl wie<br />
überzeugend auf den Punkt gebracht. Faszinierend,<br />
an welchem Punkt sich fast alle hier einig<br />
zu sein scheinen: Sie wollen einfach nur weg.<br />
Gerade in der beengten Wohnung der Studentin<br />
wird das klaustrophobisch eingeengte Lebensgefühl<br />
der alten Plattenbaurealität durch anarchistische<br />
Vorstellungen und Wut gesprengt,<br />
verdichtet sich gewalttätiges Aufbegehren zum<br />
logischen Destillat paranoider Spießbürgerlichkeit.<br />
Doch was steckt wirklich hinter dem aggressiven<br />
Auftreten der scheinbar autonomen Vermieterinnen-Kampflesbe?<br />
Und ist unsere Pädagogikstudentin<br />
so naiv, wie es anfangs scheint?<br />
Am Ende des Films wirken auch die anarchistischen<br />
Punkparolen seltsam schal, nur ein<br />
Spiegelbild des Spießertums, eine Art pseudorevolutionärer<br />
Trachtenverein. Auch nur Losungen<br />
und Parolen. Und die wahre Autonomie<br />
finden wir am Ende dieses Films da, wo<br />
wir sie lange Zeit am wenigsten vermutet hätten.<br />
Ein starkes Stück.<br />
AUGUST<br />
Pro Fun Media<br />
USA 2011, 100 Min.,<br />
FSK 12<br />
OF mit dt. UT<br />
Der Stoff, aus dem das<br />
Drama ist: Junger, exzentrischer,<br />
muskulöser<br />
Karrierist, schwul, kehrt<br />
zurück aus Madrid an<br />
den Ort seiner letzten<br />
Beziehung und seine alte Heimat im sonnigen<br />
amerikanischen Süden. Dorthin, wo er reichlich<br />
Porzellan zerschlagen und ein zerbrochenes<br />
Herz zurückgelassen hatte, das er nun prompt<br />
wieder mit Beschlag belegt. Obwohl sein Ex gerade<br />
kurz davor steht, mit seinem neuen Freund<br />
(sexy und nuanciert: Adrian Gonzalez) zusammenzuziehen,<br />
einem Latino-Bartender, der lange<br />
versucht, im Angesicht des Ex seines Freundes<br />
das eigene Vertrauen aufrecht zu erhalten, während<br />
Troy seinen Ex Jonathan ins Bett zerrt und<br />
sich halt nimmt, was er zu brauchen glaubt, ein<br />
im Grunde beziehungsunfähiger Jäger, den die<br />
Beute primär nur interessiert, so lange sie sich<br />
entzieht. Doch was wird bei dieser bitteren Gemengelage<br />
aus der Beziehung von Jonathan<br />
und Raul? Bricht die hinter der verständnisvollliebevollen<br />
Fassade lauernde Wut Rauls noch<br />
hervor? Oder schlägt er den Eindringling mit<br />
dessen eigenen Mitteln? Hat die Beziehung der<br />
beiden jungen Männer unter diesen Umständen<br />
überhaupt eine Chance?<br />
Intelligentes Dreiecksdrama mit überraschender<br />
Auflösung, konventionell erzählt und bei allem<br />
Pathos doch sehr lohnenswert.<br />
BREAK MY FALL<br />
Pro Fun Media<br />
R: Kanchi Wichmann<br />
GB 2010, 105 Min.,<br />
FSK 16, dt. UT<br />
Zwei Band-Mädels aus<br />
London im Beziehungsclinch.<br />
Lesbische Liebe<br />
im Endstadium, drei<br />
Tage und Nächte stehen<br />
ihre Beziehung und ihre<br />
Freundschaften auf einem dramatischen Prüfstand.<br />
Das auch. Indieszene, Intimität, Irrsinn.<br />
Doch eigentlich geht es hier um Grundsätzliches:<br />
Die Regisseurin und Drehbuchautorin zeigt, wie<br />
Abhängigkeit Liebe zerstört, Gewalt erzeugt, Sadomasochistische<br />
Psychospiele, Kontrollzwang<br />
und -verlust, bis hin zur Existenzbedrohung. Das<br />
gegenseitige Wissen um Schwachstellen und<br />
Narben des anderen macht verletzbar, das Wissen<br />
darum erzeugt ängstliche Vorwärtsverteidigung,<br />
wüste Angriffe, wo Hinhören und Innehalten<br />
nötig wäre.<br />
Als Spiegel des wachsenden Wahnsinns zwischen<br />
den zwei Mädels fungieren hier zwei ihrer<br />
Freunde, einer davon zwar Stricher, jung und<br />
asiatischer Immigrant, aber wenn er nicht gerade<br />
eine Koksline zieht, noch der Rationalste der<br />
Clique, während der Vierte im Bunde, proletarisch<br />
geprägt, aus Sicherheitsgründen gelernt<br />
hat, etwas mehr Distanz zum Geschehen rundum<br />
zu halten. Doch der Dreh- und Angelpunkt<br />
ist die berstende Abhängigkeit der Frauen voneinander,<br />
sind die bitteren Dialoge, das blitzartige<br />
Wechseln in den Kampfzustand. Kanchi Wichmann<br />
zeigt dies geradezu in Zeitlupe, seziert die<br />
lauernde Gewalt in der engen Chaosbude der<br />
Musikerinnen wie in einem Chemiebaukasten,<br />
klaustrophobisch und furchteinflößend. Doch es<br />
sind doch nur Liebe suchende, die Mädels, keine<br />
Monster... Sie machen sich gegenseitig dazu,<br />
das ist die bittere Wahrheit. Liebende wie Du und<br />
Ich, die sich verirrt zu haben scheinen in ihren<br />
Verlustängsten und Vernarbungen, vielleicht rettungslos<br />
verirrt.<br />
Die authentischen tollen Dialoge, das genaue<br />
körperliche Spiel bis über die Grenzen der Zumutung<br />
hinaus, der Film Wichmanns ist radikal,<br />
weil er nichts ausspart, nichts überhöht, einfach<br />
nur draufhält und dabeibleibt, immer noch verzweifelt<br />
bemüht, einen Rest an Hoffnung für seine<br />
ProtagonistInnen aufzuspüren. Die zwei jungen<br />
Männer kommentieren das Ganze auf dem<br />
Dach eines Wohnhauses... „Hältst Du uns für<br />
normal, Vin? Die Welt da draußen ist ganz anders.<br />
Eine Welt mit Leuten, die nachts schlafen<br />
und morgens zur Arbeit gehen.“ Von der sind unsere<br />
jungen, gar nicht so Erwachsenen weit entfernt.<br />
Und die Mädels? Das Ende einer Beziehung<br />
kann auch eine Erlösung sein. Immerhin.<br />
Toller Soundtrack!
BRUDERSCHAFT<br />
Pro Fun Media<br />
R: Nicolo Donato<br />
DEN 2009, 97 Min., FSK 16<br />
Dän. OF mit dt. UT<br />
Warum wird einer Nazi... Gibt es dafür eine<br />
spezielle Disposition? Muss man dafür besonders<br />
dämlich sein? Besonders unsensibel? Und<br />
wenn einer gleichzeitig schwul ist,<br />
braucht es da zur Naziwerdung einen<br />
Uniformfetisch? Die Geilheit darauf,<br />
dominiert zu werden?<br />
All diese Fragen beantwortet dieser<br />
verstörende, mutige Film des dänischen<br />
Regisseurs Nicolo Donato<br />
über schwule Liebe in einer Neonazibande<br />
mit - Nein.<br />
Doch von vorne: Ein blonder junger<br />
Mann fliegt aus dem Militär, weil er<br />
sich einem Kameraden zu sehr genähert<br />
hatte. Rumschwulen in der<br />
Armee, geht gar nicht. Wenn es auffliegt.<br />
Zuhause gibt es keine Unterstützung,<br />
sondern nur Sinnsprüche satt und Angebote<br />
aus dem Fertigbaukasten bürgerlicher Karriereplanung,<br />
die mit seinen eigenen Wünschen<br />
rein gar nichts zu tun haben. Angewidert von<br />
der häuslich vermeintlichen Sinnentleertheit füllt<br />
er den Mangel an Thrill, Identität und Anerkennung,<br />
indem er bei der lokalen Naziclique andockt,<br />
die vorzugsweise säuft oder Schwule<br />
verprügelt. Und nach anfänglichem Widerstand<br />
feuert er als Mutprobe einen Molotovcocktail auf<br />
ein Immigrantenheim und entwirft erste Propagandatexte,<br />
wobei er das Ganze immer noch<br />
als Spiel betrachtet. Doch der Anführer sieht in<br />
ihm ein schlaues Kerlchen mit Potential und so<br />
wird er zum ersten Anwärter auf eine Karriere in<br />
der Nazipartei und tauscht die Existenz zu Hause<br />
endgültig gegen eine Koje im Haus des lokalen<br />
Führers, das er mit einem Kameraden renoviert.<br />
Und die beiden jungen Männer entdecken<br />
nach erster Antipathie nach und nach ihre Liebe<br />
zueinander. Bis das heimliche Verhältnis durch<br />
den eifer- und drogensüchtigen Bruder des Geliebten<br />
enttarnt wird, da ist Schluss mit lustig<br />
und es fließt reichlich Blut.<br />
Dieser Film ist mutig, echt, riskant. Er zeigt,<br />
dass Nazis als Gruppe widerwärtige Monster<br />
sind, die man nur mit den nötigen Gewaltmitteln<br />
stoppen kann und muss. Doch auch diese Menschen<br />
sind, so weit sie sich noch nicht schuldig<br />
gemacht haben, als Individuen auch Verführte,<br />
fehlgeleitete Männer und Frauen, von denen<br />
einzelne sogar, so schmerzhaft das auch sein<br />
mag, sympathisch sein können, fast schon zufällig<br />
durch das jeweilige Umfeld braun geprägt.<br />
Denn auch das gehört zur braunen Wahrheit:<br />
Da zogen Punks in Magdeburg von der Alt- in<br />
die naziverseuchte Neustadt, schnitten sich die<br />
Haare ab und wurden zu Nazimitläufern, an-<br />
satzlos. Hauptsache, die Welt ist einfach erklärt,<br />
die Schwarz-Weiß-Bilder stimmen, eine Welt<br />
aus Freunden und Feinden und sonst nichts ist<br />
nämlich bequem. Solange die Feindbilder klar<br />
sind, ist die eigene mickrige Identität nicht im<br />
Fokus. So funktioniert das, von eiskalt kalkulierenden<br />
machtgeilen Opportunisten an der Spitze<br />
mal abgesehen, die die Parteileitung eher<br />
als Karrierechance betrachten und sich selbst<br />
die Finger nicht schmutzig machen. Nicht morden,<br />
höchstens morden lassen,<br />
um die Jungs, die das gemacht<br />
haben, im Knast verrecken zu<br />
lassen, so lange das politisch<br />
opportun ist.<br />
Solche Innenverhältnisse zeigt<br />
dieser Film, Prekariatsopfer<br />
und gelangweilte Bürgerkinder<br />
ohne Perspektiven, die aus der<br />
Sucht nach Anerkennung, dem<br />
Wunsch nach Gruppensolidarität<br />
und der männerbündlerischen<br />
Wärme zu leichten Opfern<br />
der Verführer werden.<br />
Es ist schlicht sensationell, dass Donato das<br />
zeigt, damit die übliche Braun-Weiß-Malerei<br />
verlässt, ohne dabei zu vergessen, wer die Täter<br />
und wer die Opfer sind. Eine Meisterleistung<br />
ist das ohnehin, hier nur noch getoppt durch<br />
zwei Hauptdarsteller, die eine wirklich überragende<br />
Leistung abliefern: Thure Lindhardt und<br />
David Denck.<br />
Die schmerzhaften Fragen, die dieser Film<br />
stellt, die gehen uns alle an. Sind Sie, Sie ganz<br />
persönlich! Sind Sie sich denn sicher, mal angenommen,<br />
Sie sind Mann, stehen auf Männer,<br />
verknallen sich in einen und erfahren erst später,<br />
der ist Nazi. Würden Sie ihn nicht zu verstehen<br />
suchen? Würden Sie nicht bei ihm bleiben,<br />
wenn er Ihnen Ihre Sicherheit garantieren<br />
würde? Was er eigentlich gar nicht könnte? Und<br />
wären Sie nicht auch für ihn ein Risiko? Würde<br />
er also zu Ihnen stehen? Und würden Sie einen<br />
Moment lang auch daran denken? Und was würden<br />
Sie sagen, davor und danach? Schatz, sag<br />
Deinen Jungs nie wieder, dass man Schwulen<br />
den Schwanz abhacken sollte. Sag das nie wieder!<br />
Und jetzt, lass es uns noch mal genießen?<br />
Was würden Sie sagen?<br />
EATING OUT 4 – DRAMA CAMP<br />
Pro Fun Media<br />
R: Allen Brocka<br />
USA 2010, FSK 16, 90 Min.<br />
dt. synchronisierte Fassung<br />
Drama-Camp? Die rosarote Disney-Variante?<br />
Die Jonas Brothers in schwul? Leider nicht.<br />
Aber gemach, wer die ersten drei Folgen mochte,<br />
wird hier keinesfalls enttäuscht: Die Teilnahme<br />
am ersehnten Schauspielercamp, in dem<br />
die leitende Drama-Queen jeglichen Sex ver-<br />
2012 I #35 I gayGlotze<br />
bietet, weil sie in ihrer Unerfülltheit den Anblick<br />
nicht ertragen könnte, ist immer noch besser, als<br />
die Home-Video-Versuche an schwulen Splattermovies.<br />
Da haben unsere jungschwulen Filmer und<br />
Schauspieler ja völlig Recht, die sich mit unverbesserlichem<br />
Optimismus die Professionalisierung ihrer<br />
Fertigkeiten erhoffen. Und geilen Spaß, na klar,<br />
den haben sie dann auch, viel nackte Haut inklusive,<br />
und nach einem Beginn voller Drive und guter<br />
Gags werden letztere erst im zweiten Teil ein wenig<br />
berechenbar und fad. Doch auch das kannten<br />
wir ja schon von den ersten drei Folgen. Hübsch,<br />
nett, unterhaltsam ist das hier, nicht mehr und nicht<br />
weniger.<br />
FJELLET - DER BERG<br />
Edition Salzgeber<br />
Regie: Ole Glaever<br />
NOR 2011, 70 Min.,<br />
FSK 0<br />
norweg. OF mit dt. UT<br />
Zwei Bergwanderinnen<br />
machen sich<br />
auf zu einer Bergtour<br />
in arktischer Kälte.<br />
Diese Tour ist das Ergebnis<br />
einer Erpressung. „Wenn<br />
Du nicht mitkommst, ist es zu<br />
Ende.“ Die beiden haben ein<br />
gemeinsames Trauma: Bei der<br />
gleichen Tour, zwei Jahre vorher,<br />
starb ihr Sohn bei einem<br />
Sturz am Berg. Er war fünf Jahre<br />
alt. „Weißt Du, was Dein Problem ist? Du kannst<br />
nicht offen über Valle sprechen!“ „Dieser Trip bringt<br />
ihn uns nicht zurück.“ „Bald wird es schneien.“<br />
In der winterlichen Kälte wird jede Frage zum<br />
schneidenden Angriff, die erstarren lässt, was so<br />
lange Liebe war. Zwei lesbische junge Frauen mit<br />
gemeinsamem Kinderwunsch, nur noch nachts im<br />
Zelt aneinandergekuschelt unbewusst die einstige<br />
Nähe findend, kämpfen um - ihre Liebe? Oder doch<br />
zu aller erst um sich selbst? Und - ist das vielleicht<br />
doch noch das Selbe? Da sind ja Momente von<br />
Zärtlichkeit, gemeinsamer Freude und Trauer.<br />
„Wovor hast Du so große Angst? Er war Dein<br />
Sohn!“ „Er war auch Dein Sohn!“ „Wie meinst Du<br />
das?“ „Es war so steil. Ich versteh’s nicht!“<br />
Lakonische, bittere Dialoge in einer archaischen<br />
Landschaft. In eisiger Kälte suchen zwei mit aller<br />
Konsequenz eine Klärung, um neu beginnen zu<br />
können. Ob miteinander, gegeneinander, oder für<br />
sich. Ob durch Rache oder Vergebung, das erzählt<br />
der von zwei großen Schauspielerinnen getragene<br />
Film genau, nah, zutiefst berührend.<br />
Fjellet ist nicht in erster Linie ein Film über eine lesbische<br />
Beziehung, sondern ein phänotypisches<br />
Drama um Trauer, Rache und Vergebung.<br />
Als ob das die DVD nicht schon lohnen würde, gibt<br />
es als Extra noch einen tollen Bonusfilm: „Kurzatmig“<br />
erzählt von der Annäherung zweier sehr unterschiedlicher<br />
Frauen, die sich als Nachbarinnen auf<br />
dem Lande nur für einige Wochen begegnen. Mystisch,<br />
lakonisch, schön.<br />
51
52 gayGlotze I #35 I 2012<br />
THE FOUR-FACED-LIAR –<br />
LIEBE FINDET IHREN WEG<br />
Edition Salzgeber<br />
R: Jakob Chase<br />
USA 2010, 87 Min., dt. UT, FSK 12<br />
West Village, New York. Eine lesbisch - heteromännliche<br />
Zweier-WG und ein frisch aus der<br />
Provinz nach New York gekommenes Stino-Pärchen<br />
mischen sich gegenseitig und ihre Umgebung<br />
ganz schön auf. Jeder ist dabei irgendwie<br />
bewusst oder unbewusst damit beschäftigt, alle<br />
gefestigten Beziehungsstrukturen in der Umgebung<br />
möglichst ins Wanken zu bringen. Die<br />
Kneipe „Four-Faced Liar“ wird dabei zum Dreh-<br />
und Angelpunkt der amourösen Verstrickungen<br />
und Wirren, einem tragikomischen Bäumchenwechsle-dich-Spiel,<br />
das teils slightly overplayed<br />
und reichlich melodramatisch, aber durchweg<br />
sympathisch sämtliche Weltbilder ringsherum<br />
atomisiert. Das hat Charme und Witz, auch<br />
wenn dieses Twenty-something-auf-und-ab dem<br />
„Liebeswirren in Invierteln westlicher Großstädte“<br />
-Genre letztlich nichts Neues hinzuzufügen vermag<br />
und vor allem deshalb verpufft, weil es sich<br />
bis zum Schluss zwischen Romantikklamotte<br />
und Persiflage nicht entscheiden will.<br />
IN THEIR ROOMS (San Francisco/Berlin)<br />
Edition Salzgeber<br />
Bonus-Kurzfilm: I Want Your Love<br />
R: Travis Mathews<br />
USA 2009, ca. 100 Min., FSK 18, dt. UT<br />
Das sitzt. Verdichtet auf gerade mal 20 Minuten<br />
Länge reflektieren völlig unterschiedliche schwule<br />
Kerle und Kerlchen über die intimsten Details<br />
ihrer Obsessionen, spielen auch mal an sich rum,<br />
in Berlin bis hin zum Wichsen und offenem Sex.<br />
Doch die in San Francisco klare Struktur wird im<br />
weitaus längeren und expliziteren Berlinabschnitt<br />
unverständlicherweise aufgeweicht. Warum auf<br />
einmal Kamerafahrten durch Straßen und Untergrund<br />
Berlins? Warum Pärchen und nicht nur,<br />
wie ursprünglich, einzelne Männer, ihre Beziehung<br />
zu Körper und Raum und Sinnlichkeit?<br />
Stark ist das, neu und so was wie Indieporno,<br />
klar. Gerade auch im Bonusfilm „I Want You“, der<br />
klarer die Begegnung im Fokus hat und deshalb<br />
auch wieder mehr überzeugt.<br />
Mathews ist einer, der versucht, Porno jenseits<br />
vom oft peinlichen Zentimeterfetisch und den<br />
ewig gleichen Traumtyp-Fixierungen neu zu<br />
denken, und das allein ist schon mal verdienst-<br />
voll. Seine Männer müssten noch ein wenig<br />
verschiedener sein. Man denke an die porträtierten<br />
Männer bei Herlinde Koelbl. Seine Vorgaben<br />
müssten klarer umgesetzt werden, formal<br />
strenger. Doch er ist auf diesem Weg in eine<br />
lustvoll-bunte Körperbezogenheit ohne Konsumentia-geprägte<br />
Normierungen weiter als viele<br />
andere, die sich hoffentlich der Abteilung „Indie-<br />
Porno“ noch anschließen werden...<br />
JUDAS KISS<br />
Pro Fun Media<br />
R: J. T. Tepnapa<br />
USA 2011, 91 Min., FSK 16<br />
OF/ dt. UT<br />
Schwule Time-Traveller-Variante mit verworren<br />
konstruierter, abstruser Geschichte, die nur als<br />
Vorwand dient, erotische Verwirrungen von Film-<br />
Highschool-Eleven als nicht enden wollende Parade<br />
charakterlos verzeichneter Schönlinge zu<br />
inszenieren, glatt und ohne jede Tiefe, kitschig<br />
und ohne Glaubwürdigkeit, mit gestelzten Dialogen,<br />
die schon am Anfang klarmachen, worum es<br />
eigentlich gehen soll: „Das sind hautenge Jeans<br />
tragende Burschen, die denken, dass die Welt ihnen<br />
was schuldet.“ Genau das ist das Problem.<br />
LIEB MICH! GAY SHORTS VOL. 3<br />
Pro Fun Media<br />
USA/DEN/BRD 2008-10, 138 Min., FSK 16<br />
Orig. mit dt. UT, außer dt. OF<br />
Zwei der insgesamt acht Kurzfilme handle ich<br />
erst mal kurz ab. In „CURIOUS THINGS“ und<br />
THE IN-BETWEEN quatschen junge schwule<br />
Männer über diverse Varianten des Sehnens<br />
und Begehrens, Treffens, Verliebens und Verlassens,<br />
aus dem Off über schnell geschnittene Alltagsbilder.<br />
Ich würde mir den Cut Up-Style riskanter,<br />
provokativer und frecher wünschen, so<br />
ist das eher eine halbe Sache.<br />
Ansonsten aber herrscht sehr hohes Niveau vor.<br />
Im beeindruckenden Kurzdrama „HINTERBLIE-<br />
BENE“ trifft ein junger Mann nach dem Tod des<br />
Vaters an der Haltestelle einen älteren schwulen<br />
Mann, eine Begegnung mit Zunder, die ihm<br />
zu wertvollen Einsichten verhilft und durch die<br />
er auch der kleinen Schwester gegenüber eine<br />
neue, angemessenere und liebevollere Rolle findet.<br />
Ein von einem Topcast souverän gestaltetes<br />
Glanzstück von Alexander Peufer.<br />
„WE ONCE WERE TIDE“ zeigt dann eine psychisch<br />
kranke Mutter, ihren ratlosen schwulen<br />
Sohn und dessen Freund - und eigentlich die<br />
bittersüß verrätselte Chronologie eines erzwungenen<br />
Abschieds, der neues Verstehen gebiert.<br />
Stark! Sexy und genau zeigt dann „EL RELOJ“<br />
zwei Jungs, einen brunftigen Bruder, eine verhinderte<br />
Übernachtung, eine missglückte Annäherung.<br />
Und Blicke. Solche Blicke... Dann wird<br />
es lustig und boshaft: „SMALL TIME REVOLUTI-<br />
ONARY“ porträtiert einen jungschwulen queeren<br />
Politkämpfer im Spannungsfeld zwischen der<br />
Queer-Clique und den von ihm gestalteten Flugblättern<br />
– und seiner eigenen ahnungslosen Familie.<br />
Denn hinter der biederen Fassade gibt’s<br />
nur den Papa-Whimp, der sich hinter seiner<br />
Briefmarkensammlung vor dem Leben versteckt<br />
und die kontrollsüchtig-dominante Mutterfurie,<br />
deren Autorität vom Vater nur in winzigen Momenten<br />
hinterfragt wird, der kurz vor einem<br />
Amoklauf zu stehen scheint. Da gibt es doch nur<br />
Eines: Come Out, Boy! Oder?<br />
Ein ganzes Stück weiter sind die sechs dänischen<br />
Jungs, die in „XY ANATOMY OF A BOY“ unter der<br />
Dusche, der Umkleidekabine<br />
und in der Wanne<br />
von sich und ihren Erfahrungen<br />
erzählen, unaufgeregt,<br />
selbstverständ-<br />
lich authentisch, natürlich<br />
sexy, toll. Und mit einem<br />
Lehrstück in Sachen Body<br />
wahn und Muckifetisch<br />
geht die Sammlung zu<br />
Ende, witzig und auf den<br />
Punkt gebracht: Boy, der<br />
gern Gogo-Dancer wäre,<br />
hat dafür leider nicht die<br />
angeblich genremäßig<br />
unabdingbaren Muckis, und entdeckt so in „GOGO<br />
REJECT“ eine Marktlücke. Nachahmenswert!<br />
MARY LOU<br />
Pro Fun Media<br />
R: Eytan Fox<br />
ISR 2009, 90 Min., FSK 12<br />
Isr. OF mit dt. UT<br />
Mama schwärmt für Schlagerstar, prägt damit<br />
Sohnemann zur Dramaqueen. Und verschwindet<br />
spurlos, Tränen und Traumata zurücklassend.<br />
Sohn flieht vor manisch-depressivem alleinerziehenden<br />
Papa nach Tel Aviv und macht<br />
dort Karriere als Travestiestar in einer bunt-sympathisch-schrägen<br />
Truppe. Während er einen armen<br />
jungen Kollegen und dessen Leidenschaft<br />
für ihn leider gänzlich übersieht, überlebt dieser<br />
das nicht. Am Ende wird sogar die verschwundene<br />
Mama nach einer Odyssee des Suchens<br />
wieder entdeckt, womit sich all die erfundenen<br />
Geschichten des jungen Mannes komplett erledigen,<br />
der nun den Mut fasst, eigene Lieder zu<br />
singen. Hach, wie romantisch. Und sogar Papa<br />
kommt wieder auf die Reihe. Alles wird gut.
Das Ganze passiert wie schon früher<br />
(„The Bubble“) bei Eytan Fox mit reichlich<br />
pfiffiger Situationskomik - die Tiefe<br />
früherer Arbeiten allerdings vermisse<br />
ich hier schmerzlich, bade stattdessen in<br />
überbordender Pathetik, von der es deutlich<br />
weniger auch getan hätte. Und der<br />
Kunstgriff, unsere Hauptfigur als Erzähler<br />
einzusetzen, der uns auf einem Stuhl<br />
im Düstern hockend von Kapitel zu Kapitel<br />
geleitet, bricht den fragilen Drive der<br />
Komödie vollends. Da retten die schönen<br />
Showeinlagen und Lieder die Chose<br />
auch nicht mehr. Zu viel Glitter und Dramatik<br />
verderben einen im Ansatz netten<br />
Filmplot, weil Zwischentönen kaum<br />
eine Chance gegeben wird und der Zwitter<br />
aus Komödie und Melodram einfach<br />
nicht funktioniert. Nur wer auf Travestie-<br />
Schmonzetten grundsätzlich steht, könnte<br />
das mögen, ich schau mir lieber die gute<br />
alte Priscilla an.<br />
SASCHA<br />
Edition Salzgeber<br />
Regie: Dennis Todorovic<br />
D 2010, FSK 12, 101 Min., dt. OF<br />
Man nehme:<br />
Eine aus Monte-<br />
negro (nicht: Mazedonien,<br />
da legt<br />
Mutti Wert drauf)<br />
stammende Immigrantensippe,<br />
wohnhaft in Köln,<br />
deren versteckt<br />
schwuler Sohn<br />
(hinreißend zerbrechlich<br />
und tap-<br />
sig: Saša Kekoz)<br />
von der überfürsorglichen<br />
Mutter<br />
und Heimarbeiterin für eine Karriere als<br />
Starpianist fest eingeplant ist, während<br />
der Kneipier und Papa (großartig in seiner<br />
Kauzigkeit und Vielschichtigkeit: Pedja<br />
Bjelac!) ihn lieber in der alten Heimat verheiraten<br />
würde. Dazu nicht zu vergessen<br />
der Bruder, der die chinesische Immigrantentochter<br />
= Violinistin aus der Nachbarschaft<br />
anschmachtet, die aber gleichzeitig<br />
dem Jungschwulen als Alibifreundin dient,<br />
nachdem sie dessen Geheimnis mühsam<br />
verkraftet hat, weil sie ja selbst in ihn verschossen<br />
war. Ich beginne abzuschweifen,<br />
back zur Sippe: Also, der Bruder, der<br />
was ahnt und noch ein komplett unnützer<br />
Bruder oder Cousin des Papas, der die<br />
Renovierung eines Bades herauszögert,<br />
um länger Speis, Trank und Unterkunft<br />
zu genießen. Und dann wäre da noch das<br />
Ziel der Begierde, der von Tim Bergmann<br />
ebenso arrogant, wie muskelbepackt gegebene<br />
Klavierlehrer-Schönling, der sich<br />
im Wesentlichen für sich selbst und angesagte<br />
Parties interessiert. So, all die netten<br />
schrägen Vögel, mehr oder weniger<br />
friedlich eingebettet ins Leben der Kölner<br />
Multi-Kulti-Straßenrealität. Hach, was ein<br />
schönes Setting für ’ne geile Komödie, die<br />
sich aber so was von gewaschen hat. All<br />
die kleinen Bosheiten und Gags, die schon<br />
gleich beginnen mit der Familientragödie<br />
am Grenzzaun, bzw. am Zollhäuschen.<br />
Einfach treffend und komisch ist das und<br />
das Beste: Keine billigen Gags, niemand<br />
wird vorgeführt. Nein, voller Sympathie für<br />
alle Protagonisten reiht sich ein blendend<br />
getimeter Gag an den anderen, leichtfüßig<br />
und genau bastelt der hochtalentierte<br />
Regisseur an pfiffigen Überraschungen in<br />
Folge, jagt die bunte Mischpoke durch ein<br />
sehr spezielles Wechselbad an Herausforderungen<br />
und erzwungenen Einsichten.<br />
Wer nicht hören will, muss fühlen. Und<br />
gefühlt wird hier reichlich. Reichlich komisch.<br />
Wir erleben Dramen menschlicher<br />
Leidenschaft und montenegrinischer Passion,<br />
und eigentlich schlicht und einfach<br />
die beste deutsche Coming-Out-Komödie<br />
ever. Und für das Genre der Multi-Kulti-<br />
Comedy auch einen Film für ganz oben<br />
auf der ewigen Bestenliste, vergleichbar<br />
allenfalls mit den ebenso frischen Pakis/<br />
Inder-In-London Komödien eines Damien<br />
O’Donnell („East Is East“) oder von Kurinder<br />
Chadha („Kick It Like Beckham“). Tiefe<br />
Verbeugung und jetzt seh’ ich ihn mir ein<br />
drittes Mal an.<br />
SEA PURPLE<br />
Pro Fun Media<br />
R: Donatella Maiorca<br />
ITA 2009, 105 Min., FSK 12<br />
Ital. OF mit dt. UT<br />
Während das Leben von heutigen Schwulen<br />
und Lesben im queeren Film schon<br />
lange von diversen Seiten ausgeleuchtet<br />
ist - und doch auch hier noch viele Wege<br />
ungegangen sind - ist die Vergangenheit<br />
schwulen und vor allem lesbischen Lebens<br />
in früheren Jahrhunderten ein weitgehend<br />
unbesprochenes, erst recht unbespieltes<br />
Thema. Erfreulicherweise rückt<br />
dieses Melodram<br />
2012 I #35 I gayGlotze 53<br />
nach einer wahren Geschichte das harte, kaum glaubliche<br />
Los zweier lesbischer Frauen im ländlichen Italien Mitte des<br />
19. Jahrhunderts in den Fokus.<br />
Eine der beiden Frauen wird von ihrem brutalen Gutsverwalter-Vater<br />
quasi von Beginn an permanent misshandelt, sogar<br />
eine eigentlich tödliche Zeit lang in einem kleinen Kellerverließ<br />
eingesperrt. Ein Sohn hätte sie sein sollen, das ist<br />
ihr Vergehen.<br />
Ihre Freundin Sara ahnt nichts von ihrer Marter im Kellerloch,<br />
wähnt sich im Stich gelassen und lässt sich einem<br />
Nachbarssohn versprechen. Doch die Eingesperrte wird befreit<br />
- und schließlich zum Sohn und Nachfolger des Gutsbesitzers<br />
umgestaltet. Aus Angela wird Angelo. Zwar weiß<br />
das Jeder im Dorf, aber der Gutsverwalter hat die Autorität,<br />
die Spötter zum Schweigen zu bringen. Angelo-la und Sara<br />
heiraten, später kommt ein Kind zur Welt, der Skandal ist<br />
perfekt.<br />
Mit sprichwörtlicher italienischer Dramatik<br />
wird dieser atemberaubende Plot<br />
umgesetzt - archaisch und romantisch<br />
- doch diese wahre Begebenheit<br />
verträgt alles Pathos und ist<br />
auf ergreifende Art konsequenter<br />
Ausdruck jener barbarischen Unmenschlichkeit,<br />
mit der gerade im<br />
Wirkungsfeld des organisierten<br />
Katholizismus mindestens in der<br />
Vergangenheit Minderheiten und<br />
Normabweichler durch die Dörfer<br />
getrieben wurden. Für Individualität<br />
und Selbstverwirklichung<br />
war da kein Platz und die Saat, die<br />
von den vatikanischen Pfaffen gesät<br />
wurde, ging auf in der sadistischen Gewalt jener, die den<br />
Verrat an ihren eigenen Schattenseiten und Begierden als<br />
Teil eines gewalttätigen Mobs wegzuprügeln suchten, die<br />
für ihre eigenen unterdrückten Zweifel und erlebte Gewalt<br />
an solchen Abweichlern tödliche Rache nahmen. So wurden<br />
sexuelle Abweichler und sogenannte Ketzer zu Opfern faschistischer<br />
Raserei. Die Erinnerung an solch unchristliche<br />
Gnadenlosigkeit im Namen des Herrn in Rom wachzuhalten,<br />
ist alle Mal verdienstvoll, erst recht wenn dies filmisch auf so<br />
überzeugende Weise geschieht, wie in diesem Drama, das<br />
einen Ehrenplatz nicht nur in queeren Filmarchiven verdient.<br />
EIN SOMMER DER LIEBE<br />
Edition Salzgeber<br />
Drehbuch, Regie: Edwin Oyarce<br />
CL 2010, 107 Min., FSK 12<br />
Orig. mit dt. UT<br />
Ein junger, hübscher Latino, der den Sommer beim Vater<br />
verbringt, Scheidungskind, sammelt Sperrmüll, um damit<br />
sein kleines Zimmer etwas persönlicher gestalten zu können<br />
und begegnet dabei seinem alten Kumpel, Sohn einer<br />
alleinerziehenden Alkoholikerin, der für sein Leben gern filmt<br />
- bald auch ihn, scheinbar spaßeshalber gerne mal in sexy-
54 gayGlotze I #35 I 2012<br />
anzüglichen Posen. Dessen schwules Begehren<br />
nimmt er nicht wirklich wahr, während sich beim<br />
Gegenüber zwischen Indierock, Joints, Suff und<br />
gemeinsamem Träumen Schritt für Schritt das<br />
dramatische innere Coming Out seinen Weg ins<br />
Bewusstsein bahnt...<br />
Dass dieser Film dabei die meisten Coming Out<br />
& Of Age-Filme weit überragt, liegt am brillanten<br />
Spiel der gesamten Darstellerschar, an der wunderbar<br />
genauen, nahen Kamera, an den behutsam<br />
und genau geschilderten Randgeschichten.<br />
Da wäre die Freundin, die zunächst im Koma<br />
liegt und nach Kameraexperimenten unserer<br />
zwei Halodris auf wundersame Weise erwacht.<br />
Da wäre die fast ständig alkoholisierte Mutter,<br />
die den Freund des Sohnes ob seiner Sexiness<br />
hemmungslos angräbt. Und da wäre die Dreier-Bettszene,<br />
die dann doch eine völlig andere<br />
Richtung nimmt, als wir vermuten mögen, und<br />
einen dramatischen Bruch bedeutet. Da wären<br />
die scheuen, heimlichen Berührungen in heißen<br />
Nächten, da ist ein geheimnisvoller Schöner am<br />
Strand. Da sind die authentischen, frischen Dialoge,<br />
das spontane, völlig natürliche Spiel, echt,<br />
unverfälscht, ohne jedes Pathos, weitab von jeglichen<br />
Klischees. Und ein ebenso beiläufig wie<br />
logisch konstruiertes Ende. Ein rundum gelungener,<br />
toller Ausnahmefilm, den man so manchem<br />
jungen queeren Filmer<br />
hierzulande zu Lernzwecken<br />
empfehlen kann - und der<br />
nicht nur für schwules Publikum<br />
ein echter Volltreffer ist.<br />
VAMPIRE BOYS<br />
Queer Films<br />
R: Charlie Vaughn<br />
USA 2011, 70 Min., FSK 16<br />
OF/ dt. UT<br />
Caleb, jung, schwul, sehr unsicher<br />
und naiv, zieht zu Paul,<br />
jung, schwul, hübsch, in dessen schönes Häuschen.<br />
Doch statt sich dem in Leidenschaft für<br />
ihn, warum auch immer, Entflammten hinzugeben,<br />
wird er zum Toyboy der in der Stadt tätigen<br />
Vampir-Viererbande, die auch einen schwulen<br />
Blut- und was-auch-immer-noch-Sauger in ihren<br />
Reihen hat. Leider wird Paul, für mich der ein-<br />
zige Protagonist mit<br />
echtem Sexappeal,<br />
von den Vampirmuckiträgern<br />
als potentieller<br />
Störfaktor früh<br />
dahingemeuchelt, damit<br />
Caleb, unser blonder<br />
Azubi, Zeit für die<br />
dramatische Entscheidung<br />
hat, ob er auch<br />
ein Vampir werden<br />
und mit dem Anführer<br />
der Bluttrinker für immer<br />
und ewig verbandelt<br />
sein will.<br />
Gnadenlos hölzerne<br />
Dialoge, schauspielerischer<br />
Dilettantismus,<br />
eine grausige Filmmusik<br />
und die amateurhafte,<br />
schlampige<br />
Regie qualifizieren dieses furchtbare Machwerk<br />
zum ersten Anwärter für die peinlichste cineastische<br />
queere Posse seit Jahren. Das Gute daran:<br />
Schlechte Filme sind nicht ansteckend und<br />
wer den Kontakt vermeidet, lebt völlig safe.<br />
VIOLET ... SUCHT MR. RIGHT<br />
Pro Fun Media<br />
R: Casper Andreas<br />
USA 2010, 105 Min., FSK 16, dt. UT<br />
Es ist toll, Fag Hag zu sein. Will heißen: Die<br />
Lieblingsmutti einer lokal ansässigen Clique von<br />
Schwulen, genauer: Eines Gay-Hofstaats. Star<br />
zu sein im Schwulenclub, wandelnder Kummerkasten,<br />
bei dem sich die Boys ausheulen können...<br />
Toll!? Eine Weile lang schon. Nur. Solcherart<br />
geliebt, aber eigentlich komplett alleine<br />
zu sein, verführt nämlich dazu, das eigene innere<br />
schwarze Loch, die Einsamkeit nicht mehr<br />
wahrnehmen zu wollen, dieses Manko zu ignorieren<br />
und darob auch Möglichkeiten zu affektiven<br />
Bindungen nicht mehr an sich heran zu lassen.<br />
Wer so unterwegs ist, bleibt chronisch solo. Violet<br />
ist genau so drauf, sagt dem glamourösen Leben<br />
als Schwulenmama „Good-Bye“ und landet<br />
- leider nicht bei demjenigen, der sie tatsächlich<br />
anschmachtet und der wohl auch der Richtige<br />
wäre, sondern ausgerechnet bei einem engstirnigen<br />
Pedanten, dessen persönlicher Horizont<br />
reichlich überschaubar und berechenbar ist. Stoff<br />
genug für eine leichtfüßige, witzige Komödie, die<br />
blendend unterhält, quietschbunt zutreffend die<br />
Szene karikiert und dabei doch nicht im Klischee<br />
steckenbleibt, eine reife Leistung. Für das queere<br />
Partyevent ein cineastischer Burner. Und nicht<br />
nur für Marianne Sägebrecht ein queeres Geschenk,<br />
mit dem man nichts falsch machen kann.<br />
VORSTADTGEHEIMNISSE<br />
Queer Films<br />
R: Cheetah Gonzalez<br />
USA 2010, 70 Min., FSK 16<br />
Original mit dt. UT<br />
Einer der most sexy schwulen Streifen seit langem,<br />
low budget und ziemlich verwegen, aber<br />
auch hochgradig raffiniert - aber der Reihe nach:<br />
In der Vorstadt ist die Hölle los. Junger schwuler<br />
Latino wird auf offener Straße abgeknallt. Wer war<br />
das? Etwa sein Monsta-Macho-Gangsta-Brudah?<br />
Der böse Drogendealer und Mädchenversteher,<br />
angeblich? War’s’n Mord? Oder ’n Unfall? Unser<br />
Erschossener erzählt die Story selbst, per Rückblende<br />
und wir lernen seinen exquisiten, durchgeknallt-sympathischen<br />
Freundeskreis kennen.<br />
Da ist sein vermeintlich bester Freund, der voyeuristisch<br />
arrogante, angeblich total heterosexuelle<br />
Emoboy Jake, nie ohne Kamera unterwegs<br />
und mit den engsten Jeans der Kinogeschichte<br />
ohne Riesenprügel ever. Dann hätten wir eine<br />
Lehrerin, die mit ihrem schönen Nachhilfeschüler<br />
vögelt, was Jake natürlich beweisen kann, der<br />
aus ähnlichen Gründen schon einen Sportlehrer<br />
den Job kosten ließ. War am Ende der hübsche<br />
Emoschönling das Ziel des Mordanschlags?<br />
Dann hätten wir noch eine hübsche blonde<br />
Freundin namens Anybody und sein nun wirklich<br />
bester Kumpel Michael, der wenigstens nicht mal<br />
zu 91 % hetero ist, wie sich<br />
noch herausstellt. Ein echt<br />
niedlicher, treuer Asiaten-<br />
Bro. Leider ist die einzig<br />
schwule Verbindung zwischen<br />
ihm und unserem<br />
hübschen Latino der gemeinsam<br />
gedrehte Safer-<br />
Sex-Spot, aber das ist ja<br />
noch ausbaufähig.<br />
Ansonsten im Spiel: Die<br />
Gang des MothaFucka<br />
Gangstahs, ein Swimmingpool<br />
als Exilheimat, ein inter-<br />
rumpierter Dreier, ein instruktives Abschlussfilmprojekt<br />
und weitere Kameras, ein düsterer Park,<br />
mindestens eine vertauschte Patrone, ein abgeblitzter<br />
Emoboy und jede Menge witzige Pointen.<br />
Und das Beste dran: Das funktioniert so was<br />
von: Hinreißend.
ZURÜCK INS GLÜCK<br />
Pro-Fun-Media<br />
Regie: Malu De Martino<br />
BRA 2010, 96 Min., FSK 6<br />
Port. OF mit dt. UT<br />
Nach dem Zusammenbruch<br />
ihrer Beziehung wegen<br />
einer Ingenieurin gibt<br />
sich die Literaturprofessorin<br />
Julia ganz ihren Depressionen<br />
hin - und glücklicherweise schließlich<br />
dem Drängen ihres ebenfalls beziehungsgeschädigten<br />
schwulen Freundes Hugo nach, mit der gemeinsamen<br />
Hippie-Freundin Lisa, die eine Abtreibung<br />
zu verkraften hat, gemeinsam vor den Toren<br />
der Stadt einen neuen Anfang als 3er-WG zu versuchen.<br />
Bald stößt auch Lisas Kusine Helena zum<br />
sympathisch chaotischen, traumatisierten Dreigestirn<br />
hinzu, die für Julia zur amourösen Herausforderung<br />
avanciert. Und da wäre noch die provozierende,<br />
pfiffige Studentin Carmem Lygia, deren<br />
Avancen Julia ebenso brüsk, wie arrogant zurückweist,<br />
weil sie Angst vor deren demonstrativer Lebendigkeit<br />
hat, wobei die junge Hochbegabte sich<br />
aber nicht wirklich abschütteln lässt.<br />
Den Kampf um eine Neuwerdung, den Abschluss<br />
der eigenen Trauerarbeiten erzählt dieser sympathische<br />
Film mit viel Situationskomik, charmanter<br />
Leichtigkeit und viel südamerikanischem Temperament.<br />
Der gut gelaunte Cast und die poetische Kamera<br />
erzählen die Story geradlinig auf den Punkt.<br />
Und die pointierten Dialoge tun ihr Übriges zu einem<br />
launigen cineastischen Vergnügen mit Hirn. Insbesondere<br />
die beeindruckende Wandlungsfähigkeit<br />
der Hauptdarstellerin Ana Paula Arosio liegt weit<br />
über Durchschnitt. Tolles südamerikanisches Erzählkino,<br />
ein echtes Kleinod für ein Publikum, das<br />
ebenso bunt sein sollte, wie dieser tolle Film!<br />
Andrasch Neunert<br />
55
56<br />
Bonsai Kitten I #35 I 2012<br />
nN: Der Begriff „Killbily“, der als „Schublade“ für das,<br />
was Bonsai Kitten macht, dient, war mir so noch<br />
nicht untergekommen ... Kannst Du das mal erklären?<br />
Tiger Lilly Marleen: „Killbilly“ verkörpert für uns mehr<br />
als „nur“ eine Musikrichtung. „Killbilly“ ist eine Lebensphilosophie,<br />
ähnlich einer Religion. So wie es kein Genre<br />
gibt, in das man unsere Musik und unseren Style<br />
stecken kann, so wenig gibt es eine Lebensweise, die<br />
man uns vorschreiben kann. Wir machen, jeder für sich,<br />
sein eigenes Ding im Leben. Aber zum Musikmachen<br />
kommen wir zusammen und lassen unserer Kreativität<br />
gemeinsam freien Lauf. Dabei entstehen witzige und<br />
gute Sachen. Uns geht es auch darum, dass unsere Musik<br />
genau das aussagt und dass man uns das ansieht.<br />
So wie jeder Song für sich alleine stehen kann, so wie<br />
jeder Text in jedem Song eine eigenen Message hat, so<br />
möchten wir auch im Ganzen auch einzeln wahr genommen<br />
werden.<br />
Leute, die in irgendeiner Form mit „Rockabilly“ zu<br />
tun haben, erkennt man oft sofort, da scheint es so-<br />
was wie eine „Uniform“ zu geben. Wie wichtig ist<br />
das?<br />
Tiger Lilly Marleen: Also es gibt in jeder Subkultur ja<br />
Merkmale, die jemanden zu der einen oder anderen zugehörig<br />
erscheinen lassen, klar. Das scheint den Leuten<br />
auch wirklich wichtig zu sein. Daraus entwickeln sich<br />
aber auch wieder „Uniformen“, die dann wieder wie eine<br />
große Masse wirken, in der jeder Einzelne untergeht. Ich<br />
persönlich bediene mich gerne aus den verschiedensten<br />
Stilen der letzten 100 Jahre, denn jedes Jahrzehnt<br />
hatte seine interessanten Seiten und das kann man<br />
gut mischen und so wieder seinen eigenen Stil daraus<br />
entwickeln.<br />
MADE IN JAPAN<br />
Nicht nur, dass die BONSAI KITTEN mit<br />
„Wel<strong>com</strong>e To My World“ eine brandaktuelle Platte<br />
am Start haben, auch über die Entstehungsgeschichte<br />
der Band gibt es Interessantes zu berichten. Aber<br />
nicht nur darüber, sondern auch über „Uniformen“,<br />
Subkulturen und Lebensphilosophien konnten wir<br />
mit Sängerin Tiger Lilly Marleen und Drummer<br />
Alexx DeLarge angenehm plauschen.<br />
Alexx DeLarge: Stellst Du die Frage auch Punks, Metalheads,<br />
Skinheads und anderen Subkulturen?<br />
Schon – das liegt daran, dass ich ein gewisses Problem mit<br />
„Uniformen“ habe, ich hätte schon Skrupel, mit dem Trikot<br />
meines „Lieblingsvereins“ irgendwo rumzulaufen …<br />
Alexx: Irgendwo stellt sich doch jeder selbst dar, und einem Großteil<br />
scheint es auch wichtig zu sein, sich mehr oder weniger einer bestimmten<br />
Subkultur zugehörig zu fühlen und das auch zum Ausdruck<br />
zu bringen. So eben auch bei den ...Billys.<br />
Vor fünf Jahren habt Ihr Euer Debüt bei einem japanischen Label<br />
herausgebracht - wie kam die Verbindung zustande – seid Ihr dort<br />
jemals getourt?<br />
Tiger Lilly Marleen: Wir haben uns ja alle in Japan kennengelernt.<br />
Das wusste ich nicht, erzähl mal …<br />
Tiger Lilly Marleen: Wir haben gestaunt, dass sich Musiker aus Berlin<br />
erst in Tokio kennen lernen müssen, um in Berlin Musik zu machen.<br />
Alexx DeLarge kannte Tetsuya, der das Label „On The Hill“ Records in<br />
Japan hat, und so war der auch bei unserem ersten Treffen dabei. Als<br />
Tetsuya mitbekommen hat, dass wir alle zusammen Musik machen<br />
wollen, hat er gesagt: „Wenn ihr mal ein Album macht, dann bringe<br />
ich das sofort hier in Japan raus“. So geschehen ist es dann auch ein<br />
Jahr später - und der Rest ist Geschichte! Wir haben nach dem Album<br />
überlegt, ob wir überhaupt weiter machen.<br />
Wieso das?<br />
Tiger Lilly Marleen: Es war ja am Anfang ein reines Spaßprojekt, und<br />
wir hatten alle noch unsere anderen Projekte am Laufen. Jeder ist<br />
dann tatsächlich erstmal seines Weges gegangen. Ein paar Konzerte<br />
haben wir hier und da gespielt, haben uns aber nicht weiter um irgend-<br />
was gekümmert. 2009 kam es dann, dass wir uns wieder zusammengefunden<br />
und uns ans Songschreiben gemacht haben.
Wir hatten eine ziemlich kreative und intensive Phase, so dass<br />
sehr viele Songs entstanden sind. Auch unsere Zusammenarbeit<br />
mit Mark „Mad Dog“ Cole von „The Krewmen“ und Köfte<br />
von „Mad Sin“ hat uns großen Spaß gemacht. Also haben wir<br />
überlegt, weiterzumachen und diese Songs in zwei Etappen,<br />
auf zwei Jahre verteilt, herauszubringen.<br />
Das neue Bonsai Kitten Album „Wel<strong>com</strong>e To My World“ gibt es<br />
seit dem 24. Februar 2012 über Wolverine Records / Soulfood.<br />
Mehr Infos gibt es hier:<br />
www.bonsai-kitten.de<br />
www.facebook.<strong>com</strong>/bonsaikittenband<br />
Und auf Tour:<br />
30.03.2012 D Ludwigstr. 37, Halle<br />
31.03.2012 D L.A., Cham<br />
07.04.2012 D 59to1, München<br />
08.04.2012 D Tattoo Convention, Hamburg<br />
09.04.2012 D Tattoo Convention, Hamburg<br />
14.04.2012 D Record Release Party Festsaal<br />
Kreuzberg, Berlin<br />
28.04.2012 D Kantine, Augsburg<br />
04.05.2012 CH Kofmehl, Solothurn<br />
05.05.2012 D Cafe Central, Weinheim<br />
06.05.2012 BE Studio On Air, Mons<br />
19.05.2012 CZ Rock´n`Roll Cirkus, Praque<br />
Keule<br />
2012 I #35 I Bonsai Kitten 57
58 Im Himmel, Unter Der Erde I #35 I 2012<br />
IM HIMMEL , UNTER DER ERDE -<br />
DER JÜDISCHE FRIEDHOF WEISSENSEE<br />
A N M E R k U N g E N z U E I N E R W I C H T I g E N D O k U M E N T A T I O N
Ein alter Rabbiner wacht mit verschmitztem<br />
Grinsen über den jüdischen Friedhof in<br />
Weißensee. William Wolff. Uneitel schildert<br />
der alte Mann seine Aufgaben: Er habe nur<br />
eine Funktion - zu sehen, dass der Sarg<br />
entweder ins Feuer kommt oder in die Erde.<br />
Er dürfe sich da mit nörgelnden Angehörigen<br />
bei der Umsetzung des Willens der Verstorbenen<br />
nicht zu sehr aufhalten und müsse<br />
schauen, dass der Sarg in sein Grab kommt.<br />
„Hab ich bis jetzt geschafft.“<br />
Uneitel, wie der Rabbiner, wirkt weitgehend<br />
der ganze Friedhof, ein riesiger, völlig unüber-<br />
sichtlicher Park voller Gräber, die auf reichlich<br />
chaotische Weise, aber sauber registriert<br />
geordnet sind. Über 115.000 Menschen wur-<br />
den hier bestattet, eine grüne Totenstadt.<br />
115.000 Geschichten, mindestens. Berliner<br />
Geschichte. Jüdisch-deutsche Geschichte,<br />
die diese schöne und lehrreiche Dokumentation<br />
auf fröhlich-sanfte Weise ertastet<br />
und aufspürt. Geschichten und Bilder von<br />
umherirrenden Familien, immer wieder, auf<br />
der Suche nach den Gräbern ihrer Angehörigen.<br />
Schulklassen, die von Grabsteinen<br />
für ein Kunstprojekt Schriftzüge abpausen,<br />
Grabsteine entwerfen. Geschichten von<br />
protzigen Familienmausoleen, von Friedhofs-<br />
inspektoren, Parkwächtern und ihren spielenden<br />
Kindern. Auch in der Zeit der Nazis,<br />
die sich an diesen sagenumwobenen Ort<br />
damals nicht herantrauten, Angst hatten,<br />
schlafende Dämonen zu wecken, das böse<br />
Wort von einem Golem machte seiner<br />
Zeit die Runde bei den mordlüsternen Vertretern<br />
der Parteielite. Überraschend spät<br />
ist in diesem Film von der braunen Diktatur<br />
die Rede, vom Holocaust, der natürlich den<br />
entscheidenden Einschnitt darstellte.<br />
Geschichten von Angehörigen, die ihren<br />
Gott heute an Gräbern in Weißensee<br />
weinend fragen, warum ausgerechnet sie<br />
überlebten.<br />
Seit 1880 schon wird in Weißensee bestattet<br />
und getrauert, vor den Toren Berlins.<br />
„Da, wo ich oft gewesen bin, zwecks Trauerei,<br />
da kommst Du hin, da komm ich hin, [...]<br />
Du liebst, Du reist, Du freust Dich, Du, Feld U,<br />
es wartet in Absentia, Feld A. Es tickt die<br />
Uhr, Dein Grab hat Zeit, drei Meter lang, ein<br />
Meter breit... Du siehst noch drei, vier fremde<br />
Städte, Du siehst noch eine nackte Grete,<br />
noch zwanzig, dreißig Mal den Schnee und<br />
dann Feld P, in Weißensee, in Weißensee.“<br />
(Kurt Tucholsky)<br />
Nachkommen erzählen ihre Geschichten,<br />
die ihrer Vorfahren, deutsch-nationalistischen<br />
Juden in Berlin zum Beispiel, hoch dekoriert<br />
im Ersten Weltkrieg, voller Überzeugung<br />
kämpfend für Kaiser und Vaterland, zweiein-<br />
halb Jahrzehnte, bevor man sie in die Gaskammern<br />
schickte... In Weißensee liegen<br />
nicht Blumen, sondern Kieselsteine auf den<br />
Gräbern, nach alter jüdischer Tradition.<br />
Wir erfahren mehr über die Praxis jüdischer<br />
Beerdigungen, über offizielle Kranzniederlegungen,<br />
Delegationen auch aus Israel.<br />
Wir erfahren nichts über mehrfache Grabschändungen<br />
durch neue Nazis, die dadurch<br />
begründete Erhöhung der Friedhofsmauer,<br />
warum nur? Dies ist der einzige echte Faux-<br />
pas dieser Dokumentation, wenn auch leider<br />
ein sehr schwerwiegender. Hat man da ver-<br />
gessen nachzufragen, schlampig recherchiert?<br />
Glaubt man etwa, ausgerechnet an diesem<br />
Ort durch Schweigen den Schändungen Auf-<br />
merksamkeit verweigern zu können,<br />
Gewicht zu nehmen? Verschweigen hilft den<br />
Holocaustleugnern und Mordbrennern von<br />
heute nur, so viel muss doch mittlerweile klar<br />
sein...!<br />
Statt dessen lernen wir die Kleinfamilie<br />
Poppig-Schulz kennen, die ein Häuschen<br />
mitten auf dem Gelände bewohnt.<br />
Leben im Grünen, neben Grünfinken, Staren,<br />
Eichelhähern. Füchsen, die nachts laute<br />
Schreie ausstoßen. Die drei Großstädter füh-<br />
len sich hier wie Förster, wollen nicht mehr<br />
weg hier.<br />
Der alte Friedhofsgärtner, der einst in den<br />
engen Kurven des Friedhofs als 14-Jähriger<br />
Autofahren lernte, hier Räuber und Gendarm<br />
spielte und die in der Friedhofsgärtnerei<br />
geklauten Gurken verputzte. Sein Vater, der<br />
aus Palästina wieder zurückkehren musste,<br />
um sein Erbe nicht, wie durch den Familienpatriarchen<br />
angedroht, zu verlieren, der<br />
Friedhofsmaurer wurde, Fundamente für die<br />
Gräber anlegte. Der Sohnemann und heutige<br />
Gärtner hatte dagegen Stolz.<br />
Über die arischen Kinder sagt er, dass er kein<br />
Interesse gehabt habe, mit ihnen zu spielen.<br />
„Wenn die nicht mit mir spielen, mit’m<br />
Judenkind, warum sollte ich dann mit ihnen<br />
spielen?“ In Weißensee fühlten sich die<br />
Kinder der Friedhofsangestellten sicher.<br />
Bis 1939 lebten noch ca. 180.000 Juden in<br />
Berlin. Jüdische Kinder, zwangsverpflichtet,<br />
unter der Aufsicht eines fröhlichen Rabbiners,<br />
sah man sie ab da beim Gräberausheben<br />
und Fußballspielen. Noch 1942 lebte<br />
die Freundin unseres Gärtners unbehelligt in<br />
Weißensee, um dann doch deportiert zu<br />
werden, nach Auschwitz. In dieser Zeit werden<br />
in Weißensee täglich ca. 100 Selbstmörder<br />
aufgebahrt, die durch den Freitod<br />
ihrer Ermordung zuvorkamen, nachdem sie<br />
den Deportationsbefehl erhalten hatten.<br />
Die Grabsteine, die sie alle damals nicht be-<br />
kamen, werden heute aus Spendengeldern<br />
nach und nach ergänzt. Jeder Jude hat tradi-<br />
tionell das Recht auf einen eigenen Grabstein.<br />
Da nach den Massendeportationen Richtung<br />
Auschwitz, Treblinka und Majdanek in Weißensee<br />
die Toten ausbleiben, werden Ende<br />
1942 dort die Arbeiten eingestellt. Zweieinhalb<br />
Jahre später erlebt Rabbi Riesenburger,<br />
der bis zum Ende in Weißensee den Familien<br />
beistand, den Nachmittag des 23. April<br />
1945 in Weißensee, es ist genau 15:00 Uhr.<br />
„Da durchschritt das Tor unseres Friedhofs<br />
der erste sowjetische Soldat. Aufrecht und<br />
gerade war sein Gang. Ich hatte das Gefühl,<br />
als ob er mit jedem Schritt ein Stück des<br />
Hakenkreuzes zertrat.“<br />
Schon in den Tagen darauf schien die Welt<br />
wie ausgewechselt, rund um rauchende<br />
Trümmerfelder sprach man wieder mit den<br />
Juden, die eine ganze Weile brauchten,<br />
sich daran zu gewöhnen, auf einmal wieder<br />
„normale Menschen“ zu sein. Viele waren<br />
freilich nicht übrig geblieben, nur wenige<br />
kehrten zurück.<br />
Nach dem Mauerbau 1961 braucht man<br />
zwei jüdische Gemeinden in Berlin.<br />
Die jüdische Gemeinde in Ostberlin hat in<br />
den Siebzigern weniger Mitglieder, als der<br />
jüdische Friedhof in Weißensee vor den<br />
Wahlsiegen der Nazis Angestellte hatte.<br />
In der Zeit der DDR wird der Friedhof<br />
zum verwildernden Park, zum Regenwald<br />
der Gräber. Erst ab 1988 helfen FDJ und<br />
Schulklassen beim Ordnungschaffen.<br />
Ein wilder, wenn auch nun wieder gezähmter<br />
Park ist Weißensee bis heute. Und es<br />
wird fleißig weiter saniert. Grab für Grab.<br />
Und weiter suchen Angehörige Gräber auf<br />
den Buchstabenfeldern, stehen vor ihnen,<br />
weinen, tauschen sich aus. Auffällig viele<br />
heutzutage in russischer Sprache. Berliner<br />
gehen wieder in Weißensee spazieren, viele<br />
junge unter ihnen.<br />
Es liegen wieder mehr Kieselsteine auf den<br />
Gräbern in Weißensee. Gut so.<br />
Andrasch Neunert<br />
Infos zum Film:<br />
Hrsg.: Edition Salzgeber<br />
Regie: Britta Wauer<br />
FSK 6, 90 Min., dt. OF, D 2011<br />
59
60<br />
videoThek I #35 I 2012<br />
THE BIG WHITE –<br />
IMMER ÄRGER<br />
MIT RAYMOND<br />
USA 2005<br />
R: Mark Mylod<br />
3L Homevideo<br />
100 min.<br />
FSK: 12<br />
Paul steht mit dem<br />
Rücken zur Wand:<br />
Sein Reisebüro in einer<br />
Kleinstadt in Alaska ist so<br />
gut wie bankrott. Und seine Frau Margaret leidet an<br />
einer psychischen Störung, deren Behandlung die<br />
Krankenkasse nicht bezahlt. Verzweifelt greift Paul<br />
nach dem letzten Strohhalm: Er will an die Lebensversicherung<br />
seines verschwundenen Bruders Raymond.<br />
Das Problem: Ohne Raymonds nachweisbaren<br />
Tod zahlt die Versicherung nicht. Durch Zufall<br />
stößt Paul jedoch gerade jetzt auf eine Leiche und<br />
beschließt, diese als seinen toten Bruder auszugeben.<br />
Doch der karrieregeile Versicherungsagent Ted<br />
riecht den Braten und setzt alles daran, Paul auffliegen<br />
zu lassen. Zu allem Überfluss kreuzen auch<br />
noch zwei Killer auf, die ihre verschwundene Leiche<br />
suchen. Und noch eine Überraschung erwartet Paul:<br />
Raymond – der ist quicklebendig und sehr, sehr wütend.<br />
Eine gute Geschichte ist eben die halbe Miete<br />
und wenn man dann noch mit Herzblut castet und<br />
Stars wie Robin Williams und Oscar-Preisträgerin<br />
Holly Hunter („Das Piano“) an Bord hat, kommt dabei<br />
fast zwangsläufig ein guter Film heraus. „The Big<br />
White“ ist eine köstliche, rabenschwarze Komödie,<br />
die verdammt viel Spaß macht. Viel Fantasie gehört<br />
zudem nicht dazu, sich vorzustellen, wie viel Spaß<br />
die Dreharbeiten auch den Beteiligten gemacht haben.<br />
Regisseur Mark Mylod liefert eine ebenso sarkastische<br />
wie warmherzige Komödie voller skurriler<br />
Charaktere, absurder Verwicklungen und aberwitziger<br />
Wendungen. Insbesondere Holly Hunter als<br />
schräge Margaret weiß dabei zu begeistern. Klasse<br />
hat aber letztlich der ganze Streifen, vor allem, wenn<br />
man Filme wie „Fargo“ mag…<br />
JOBRY<br />
CAIRO TIME<br />
Alamode/Alive<br />
R: Ruba Nadda<br />
Kanada 2009<br />
90 min.<br />
Zeit für Cairo Time muss<br />
einfach sein!<br />
Denn solche Filme gibt<br />
es nicht mehr oft.<br />
Das Prachtstück kommt<br />
ohne billige (bzw. teure,<br />
aber doch nur nervende)<br />
Effekte aus, ohne Verfolgungsjagden, Bruce Willis in<br />
Feinripp, brennende Autos und vordergründig sogar<br />
ohne Midlife Crisis. Seine Dramatik erzeugt der Film<br />
von Regisseurin Ruba Nadda (u. a. Lost Woman<br />
Story, Interstate Love Story, So Far Gone, Damascus<br />
Nights, I Always Come to You, Unsettled oder<br />
Sabah) anders. Er erzählt die Geschichte vom Erwachen<br />
einer Liebe, die nicht sein darf oder soll. Daher<br />
auch wird diese von den zusehends Verliebteren<br />
kaum thematisiert - also auch nicht totgeredet – und<br />
schon gar nicht vollzogen. Juliette (hinreißende Mischung<br />
aus Helen Mirren u. Meryl Streep: Patricia<br />
Clarkson) ist erfolgreiche Redakteurin einer Modezeitschrift<br />
und hat drei Wochen Urlaub genommen,<br />
um sich mit ihrem Mann Mark in Kairo zu treffen.<br />
Der organisiert für die Vereinten Nationen in Gaza<br />
ein Flüchtlingslager und wird dort überraschend<br />
und für eine unabsehbare, immer wieder verlängerte<br />
Frist festgehalten. An seiner statt kümmert sein<br />
ägyptischer Freund Tareq (Alexander Siddig) sich<br />
um die Angekommene… Platt, vorhersagbar? Hätte<br />
diese Geschichte leicht werden können, stimmt.<br />
Doch sie wird es nicht, schon aufgrund des umwerfenden<br />
Spiels der beiden Hauptdarsteller. Die Kulisse<br />
einer der schönsten Metropolen der Welt tut ein<br />
Übriges, weil sie – verblüffend für einen Liebesfilm –<br />
mit fast dokumentarischer Akkuratesse eingefangen<br />
ist: Man erkennt die Nilinsel Zamalek, ohne dass sie<br />
genannt wird. Man fühlt die Morgenfrische und die<br />
abendliche Glut der weißen Wüste, glaubt, den Nil<br />
bei einer Felucca-Fahrt zu riechen… Wenn Juliette<br />
im Souq von Männern nachgestellt wird oder sie<br />
ein Kaffeehaus betritt, schlägt das Stimmengewühl<br />
schmerzlich laut über uns zusammen und übertönt<br />
zunächst jeden Dialog. Letzter Perfektionspunkt:<br />
Der Soundtrack des Iren Niall Byrne (u. a. „Amongst<br />
Women“) unterstützt die vorzügliche Kameraführung<br />
durch wunderbare Akzente, insbesondere ein<br />
magisches Klaviermotiv. Cairo Time ersetzt kein eigenes<br />
Verlieben und/oder eine eigene Kairo-Reise,<br />
ist aber definitiv ein Anfang. Sehr empfehlenswert!<br />
Klaus Reckert<br />
CARLTON MINE –<br />
SCHACHT DER VER-<br />
DAMMTEN<br />
USA 2006<br />
R: J.S. Cardone<br />
3L Homevideo<br />
90 Minuten<br />
FSK: 18<br />
Karen Tunney zieht mit<br />
ihren zwei Töchtern Sarah<br />
und Jenny in ein ver-<br />
schlafenes Nest in den Bergen Pennsylvanias. Doch<br />
die Ruhe trügt: Ganz in der Nähe des Hauses liegt<br />
der Zugang zu einer fast vergessenen Mine, die<br />
nach einem schrecklichen Unglück stillgelegt wurde.<br />
Dutzende Kinder, die dort arbeiteten, wurden damals<br />
lebendig begraben… doch ihre untoten Seelen<br />
dürsten noch heute nach Rache. Tja, was soll man<br />
dazu sagen? Die abstruse Geschichte lässt es ahnen:<br />
„Carlton Mine“ ist ein Zombie-Film der durchschnittlichen<br />
Art. Das liegt neben der eher mäßig<br />
originellen Story und dem vorhersehbaren Handlungsverlauf<br />
schlicht daran, dass eine Horde Dreikäsehochs<br />
mit Spitzhacke nicht gerade furchteinflößend<br />
wirken. Zwar spritzt im Laufe des Films<br />
verdammt viel Kunstblut, aber echter Nervenkitzel<br />
oder gar Abscheu wollen in der (vermutlich stark gekürzten)<br />
deutschen Fassung zu keiner Zeit aufkommen.<br />
Zu harmlos die Inszenierung, zu einfältig die<br />
Charaktere.<br />
JOBRY<br />
CHANSON DER LIEBE<br />
Pro Fun Media<br />
Regie: Christoph Honoré<br />
FRA 2007, FSK 6,<br />
92 min., frz. OF mit dt. UT<br />
Ein Unikat ist dieser Film.<br />
Nennen wir ihn die chansoneske<br />
Variante einer<br />
cineastischen Popoperette.<br />
Da wird nämlich ebenso<br />
(gut und viel) gesungen,<br />
wie (schön) gespielt<br />
und gesprochen. Gelacht und geweint. Zum Mitheulen<br />
schön bisweilen. So etwas ohne Peinlichkeit<br />
auch auf musikalisch so hohem Niveau hinzubekommen,<br />
das ist nun wirklich formidabel.<br />
Die Story: Junges Paar, das von der Frau um eine<br />
Freundin zum Dreier erweitert wurde, wird durch ihren<br />
plötzlichen Tod auseinandergerissen. Die beiden<br />
Liebenden, die zurückbleiben, funktionieren als<br />
Paar alsbald auch nicht und das gute Verhältnis des<br />
jungen, hübschen Ismaels (beeindruckend als poetisch-pfiffiger<br />
Filou: Louis Garrel) zur Mutter der Verstorbenen<br />
gibt ihm etwas Halt. Nachdem er keine<br />
Beziehung mehr wirklich an sich heran lässt, gibt es<br />
dann doch noch eine - sehr überraschende - Begegnung,<br />
auf die vorher nichts wirklich hindeutete... Wie<br />
die Verwandten und hinterbliebenen Freunde Julies<br />
mit ihrem Tod umgehen, das ist das Thema der cineastischen<br />
Chansoneske, bittersüß und federleicht<br />
zugleich inszeniert von Christoph Honore, für<br />
den Leben offensichtlich ein Tanz ist, auf den immer<br />
wieder neu sich einzulassen unser aller Aufgabe ist.<br />
Eine tröstliche Sichtweise, ein wunderschöner Film.<br />
Andrasch Neunert
CODENAME: FOX<br />
Japan 2011<br />
R: Hideyuki Hirayama<br />
Sunfilm Entertainment<br />
124 min.<br />
FSK: 16<br />
Heldenverehrung auf Japanisch:<br />
Im Jahre 1944, während<br />
der Schlacht im Pazifik,<br />
wurde ein Soldat von den amerikanischen<br />
Truppen besonders gefürchtet: Captain Sakae<br />
Oba, genannt Fox. Mit nur 47 Mann konnte er<br />
auf einer kleinen Insel im Pazifik 16 Monate lang<br />
den US-Truppen standhalten und damit manchen<br />
Zivilisten vor dem sicheren Tod retten. Sein<br />
Mut und sein Kampfgeist beeindruckten nicht nur<br />
sein eigenes Volk, sondern auch die verfeindeten<br />
Amerikaner. Genau darum drehen sich die rund<br />
120 Minuten: Mal rührselig, oft pathetisch und<br />
selten so dreckig, brutal und menschenverachtend,<br />
wie Kriege letztlich sind. Handwerklich hat<br />
Regisseur Hirayama die historischen Ereignisse<br />
solide in Szene gesetzt. Die Spannung allerdings<br />
hält sich in Grenzen, denn es ist ja von vornherein<br />
klar, wer den Krieg gewinnt. Allzu oft bestimmen<br />
zudem eher wirre Ehrbegriffe das Handeln<br />
der Soldaten und es fällt zumindest aus westlicher<br />
Sicht schwer, dieses gefühlt übersteigerte<br />
Ehrgefühl als authentisch zu empfinden. Der Film<br />
basiert übrigens auf einem Buch des ehemaligen<br />
US-Marine-Soldaten Don Jones und ist mit<br />
Sean Mc Gowan („Star Trek: Enterprise“), Daniel<br />
Baldwin („Paparazzi“) und Treat Williams („127<br />
Hours“) in den Hauptrollen besetzt.<br />
JOBRY<br />
CRY WOLF<br />
USA 2005<br />
R: Jeff Wadlow<br />
3L Homevideo<br />
87 min.<br />
FSK: 16<br />
Owen ist neu an der Westlake<br />
Preparatory Academy,<br />
einem traditionsreichen, privaten<br />
Internat, irgendwo im Nirgendwo. Durch<br />
seinen Zimmergenossen Tom und die attraktive,<br />
wie auch intelligente Dodger gerät er an<br />
den geheimen „Liar’s Club“, die coolste Clique<br />
der Schule. Gelangweilt vom Schulleben versuchen<br />
sich diese Kinder reicher Eltern die Zeit mit<br />
einem Lügenspiel, bei dem sie intrigieren, manipulieren<br />
und sich gegenseitig aufeinander hetzen,<br />
zu vertreiben. Als eine Frauenleiche in der<br />
Nähe des Internats aufgefunden wird, beschließen<br />
sie, dem Rest der Schülerschaft einen perfiden<br />
Streich zu spielen: Sie verbreiten per E-Mail<br />
das Gerücht, es ginge ein Serienkiller namens<br />
„Wolf“ um. Was als vermeintlicher Spaß beginnt,<br />
schlägt unvermittelt in tödlichen Ernst um und die<br />
Dinge laufen komplett aus dem Ruder.<br />
Mit Cry Wolf ist Regisseur Jeff Wadlow ein spannender<br />
Thriller gelungen, vor allem deshalb, weil<br />
er die Zuschauer immer wieder aufs Glatteis<br />
führt. Indem er seine Akteure tief eintauchen lässt<br />
in eine Atmosphäre voller Misstrauen, Neid und<br />
Missgunst, verblassen die Grenzen zwischen<br />
Schein und Sein, Realität und Spiel bis zur Unendlichkeit.<br />
Erfreulicherweise fällt dann auch die<br />
Auflösung clever aus. Und: Rockstar Bon Jovi<br />
schlägt sich als Schullehrer durchaus achtbar.<br />
Insgesamt packend und raffiniert.<br />
JOBRY<br />
DER DÄMON –<br />
IM BANN DES GOBLIN<br />
USA 2010<br />
R: Jeffery Scott Lando<br />
Sunfilm Entertainment<br />
88 min.<br />
FSK: 16<br />
Im Jahre 1831, am Vorabend<br />
von Halloween, werfen die Einwohner<br />
von Hollow Glen bei ihrem alljährlichen Fest<br />
ihre schlechte Ernte in ein loderndes Feuer, in der<br />
Hoffnung, dadurch im nächsten Jahr ein fruchtbares<br />
Feld zu haben. Doch als ein Paar bei dem Ritual zu<br />
weit geht und ein krankes und behindertes Kind in<br />
die Flammen wirft, beschwört dessen Mutter einen<br />
teuflischen Dämon herauf. 2011: Der junge Familienvater<br />
Neil Perkins zieht mit Frau und Baby nach Hollow<br />
Glen, ohne zu wissen, dass der Jahrestag des<br />
Goblins gekommen ist. Der Dämon hat es vor allem<br />
auf das Baby der Familie abgesehen… Klingt fast<br />
wie eine Auftragsarbeit für RTL II, stammt aber aus<br />
den USA. Geht trotzdem stark in Richtung Horror-<br />
Trash, allerdings ohne Kult-Faktor. Flache Charaktere<br />
und wüster digitaler Mummenschanz sind die beherrschenden<br />
Faktoren dieser zuweilen unfreiwillig<br />
komischen 90 Minuten. Allein der Dämon: Der sieht<br />
aus wie der uneheliche Sohn von Gollum und einem<br />
Gremlin, ts ts ts. Am Ende gibt es zwar viele Tote,<br />
aber auch ein Happy-End. Spannung kommt dabei<br />
nur selten auf, denn zumeist ahnt der geneigte Zuschauer<br />
was kommt. Möglicherweise wäre ja etwas<br />
zu retten gewesen, wenn wenigstens die Computeranimationen<br />
gelungen wären. Aber so bleibt der fade<br />
Nachgeschmack nach einer lustlosen Fastfood-Produktion.<br />
JOBRY<br />
DOC WEST –<br />
NOBODY IST ZURÜCK<br />
SUNFILM<br />
R: Terence Hill<br />
Italien/USA 2011<br />
ca. 93 min.<br />
FSK: ab 12 beantragt<br />
Tatort Stuttgart:<br />
Hackstrasse,<br />
die WG-Video-Couch.<br />
Drei Jungs, manchmal<br />
auch nur zwei, mittlerweile<br />
mehr oder minder im „Mittelalter“ angekommen, die<br />
gerne gute Filme sehen. Das Diktiergerät läuft, O-<br />
Töne sind wichtig und werden unzensiert wiedergegeben.<br />
Regelunmäßig wird die Couch ab und an in<br />
kommenden noisys auftauchen.<br />
Terence Hill ist zurück!!!<br />
Und was habe ich für meinen Teil gezweifelt... wird<br />
das was? Kann er‘s noch? Wird das ein billiger<br />
Comeback-Versuch mit hohem Peinlichkeitsfaktor?<br />
Zumal zusätzlich als Regisseur? Erlebt man ja leider<br />
immer wieder, dass sich Helden der Jugend selbst<br />
demontieren (Oh Gott, „Winnetous Rückkehr“ z. B.<br />
war solch ein Trauma!). Aber der gute und vor allem:<br />
alte (er wird dieses Jahr 73!) Terence scheißt auf solche<br />
Demontagen, sieht unglaublich jung und fit für<br />
sein Alter aus (nachgeholfen?) und sitzt im Sattel wie<br />
eh und je. Lediglich die Hose ist waaay zu hoch angesetzt...<br />
Mr. Hill verkörpert einen<br />
alten ehemaligen<br />
Profizocker und Arzt,<br />
der nach einem Trauma<br />
- eine junge Patientin<br />
kam aufgrund seiner<br />
Trunksucht bei einer Kugelentfernung<br />
ums Leben<br />
– durch die Lande<br />
zieht. Mit regelmäßigen<br />
Geldsendungen ermöglicht<br />
er der hinterbliebenen<br />
Tochter, um die er<br />
sich seit dem Unglück<br />
kümmert, eine sehr gute<br />
Ausbildung in einem Internat.<br />
Seine Filmeingangs<br />
getätigte Zahlung<br />
wird von ein paar miesen<br />
Gangstern geraubt,<br />
auf deren Fährte er sich<br />
setzt – und in ein kleines<br />
Kaff kommt, in dem sich<br />
die Fehde zweier Clans<br />
um ein Stück Land immer<br />
mehr zuspitzt. Natürlich<br />
gerät er sofort zwischen<br />
die Fronten...<br />
Der Film kann was! Fernab<br />
von jeglichen Plattitüden und Peinlichkeitsfallen<br />
weist er mit einer soliden Story, einer dichten Atmosphäre<br />
und überaus herrlichen Dialogen auf, dazu<br />
schauspielerische Leistungen deluxe in sehr guter<br />
Charakterausarbeitung - und auch das eine oder andere<br />
bekannte Gesicht darf auftauchen, bis auf Bud<br />
Spencer. Was zum einen sehr schade ist, dessen<br />
Part zum anderen aber kongenial durch Paul Sorvino<br />
als trocken-humoriger Sheriff mit zweifelhafter Vergangenheit<br />
verkörpert wird. Lediglich den guten alten<br />
schäbigen, abgefuckten und trostlosen Look der<br />
alten Nobody-Filme und Italo-Western gilt es zu vermissen<br />
… aber das ist so was von verschmerzbar,<br />
denn: Siehe, dieser Film rockt!<br />
O-Töne von der Couch:<br />
Uwe: „In die Rolle des Sheriffs hätte unserer Ansicht<br />
nach ganz super der Buddy von Terence Hill<br />
– eben Bud Spencer – reingepasst. Aber der jetzige<br />
Schauspieler ist auch in Sympathie und schauspielerischem<br />
Können alles andere als verkehrt. Die Synchronstimmen<br />
sind super und Matthias hat festgestellt,<br />
dass er wieder Terence Hill-Fan ist.“<br />
Matthias: „Terence Hill ist zurück. Und er kann‘s immer<br />
noch. Er kann‘s. Er kann‘s! Wir wussten gar<br />
nicht, wie sehr wir ihn vermisst hatten.“<br />
U: „Ja, du schon, ich nicht. Ich nicht!“<br />
M: „Aber der größte Teil der Menschheit sicherlich.“<br />
U: „Er hat immer noch dieses Lächeln, diesen strahlenden<br />
Blick.“<br />
M: „Terence Hill, ich will ein Kind von Dir!“<br />
U: „Es fehlt lediglich der typische Italo-Western-<br />
Soundtrack von damals“<br />
M: „Einfach ein feel-good-Movie mit so einem „Robert<br />
Redford“-Ende. Super!“<br />
Uwe Koch, Matthias Horn<br />
DOG BITE DOG<br />
HONGKONG 2006<br />
R: Pou-Soi Cheang<br />
KonoKontrovers/Bavaria<br />
108 min.<br />
FSK: 18<br />
2012 I #35 I videoThek<br />
Pang ist ein Killer. Auf den Straßen<br />
von Kambodscha hat er zu<br />
überleben gelernt. Ohne Gnade und ohne Schmerz<br />
tritt er seinen Gegnern entgegen und prügelt sie zu<br />
Tode. Für seine Mafiabosse kaum mehr als ein Tier<br />
wird der junge Mann unter menschenunwürdigen<br />
Bedingungen nach Hongkong verschifft, um einen<br />
Auftragsmord zu erledigen. Doch als sich die Cops<br />
nach dem Blutbad an seine Fersen heften, ist Pang<br />
61
62 videoThek I #35 I 2012<br />
völlig auf sich allein gestellt. Fast instinktiv zieht es<br />
ihn zu Hongkongs gigantischen Müllfeldern. Denn<br />
Schmutz und Tod – das sind die Dinge, die Pang unausweichlich<br />
umgeben. So ist es wohl eher Schicksal<br />
als Zufall, dass er dort auf die von ihrem Vater<br />
vergewaltigte Yue stößt und das Mädchen, gerührt<br />
von ihrem Leid, vom sadistischen Peiniger befreit.<br />
Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben spürt der<br />
gefühllose Pang eine Perspektive - und tatsächlich<br />
kommen sich die beiden vorsichtig näher. Aber Polizei<br />
und Mafia sind dem Jungen unerbittlich auf der<br />
Spur, und der Tod bleibt seine Bestimmung. (Inhalt<br />
nach SPLATZGORE.DE) – Hong Kong-Kino mal anders,<br />
nix „Martial-Arts“ oder sonst etwas, was man<br />
als „irgendwie typisch“ bezeichnen könnte; bei „Dog<br />
Bite Dog“ glaubt sich der Zuschauer knapp zwei<br />
Stunden auf der Überholspur, die Protagonisten<br />
brüllen hysterisch durcheinander und prügeln immer<br />
dann wild aufeinander los, wenn zur Klärung der<br />
Sachlage auch ein kurzes Gespräch gelangt hätte.<br />
Die Gewalt, die in Pou-Soi Cheangs Streifen dargestellt<br />
wird, ist immer exzessiv, und auch dem, der<br />
von sich behaupten mag, er sei „einiges gewohnt“,<br />
stockt ab und an der Atem. Wer hier im klassischen<br />
Sinne „unterhalten“ werden will, ist fehl am Platze:<br />
das Ganze tut beinahe schon körperlich weh und<br />
dennoch: Diese gelungene Mischung aus Sozialkritik,<br />
Action und Dokumentation, die auch durch das<br />
extrem überzeichnete Ende nicht entwertet wird, ist<br />
grandioses Kino!<br />
Sven<br />
DRAMA –<br />
KANN DAS LEBEN<br />
EINE BÜHNE SEIN?<br />
Pro Fun Media<br />
R: Matias Lara<br />
CHI 2010, 80 min.,<br />
FSK 16<br />
Span. OF/ dt. UT<br />
Dieser vielfach prämiierte<br />
chilenische Skandalfilm –<br />
der katholische Klerus<br />
Lateinamerikas kochte förmlich vor Wut – testet<br />
Grenzen aus. Nein, besser: Seine Figuren tun das,<br />
als Mitglieder einer Theaterkompanie, deren Leiter<br />
seine Schauspieler ohne Rücksicht auf die darin liegenden<br />
Gefahren ungeschützt den eigenen Schattenseiten<br />
aussetzt, sie dazu treibt, im Alltag die<br />
Situationen eigener Traumatisierungen wiederherzustellen<br />
und erneut zu erleben, koste es, was es<br />
wolle. Dies ist ebenso dogmatisch, wie voyeuristisch<br />
und verantwortungslos. Seine Schauspieler überschreiten<br />
denn auch folgsam die Grenzen der Entblößung,<br />
Entwürdigung, jeglicher Scham.<br />
Drogen, Sex, Gewalt bestimmen die Stadtlandschaft<br />
seiner Eleven. Also ob nur darin Wahrheit liegen<br />
würde. Diese Geschichte soll ja auf einer echten<br />
beruhen, die wirklich passierte. Jedenfalls wirft vor<br />
allem die Story eines seiner Schüler einen bitteren,<br />
kritischen Blick auch auf die Geschichte Chiles.<br />
Man muss das nicht im Detail immer nachvollziehen<br />
können, denn auch ohne politische Querverweise<br />
ist dieser Film ein radikaler Abgesang auf jeglichen<br />
Dogmatismus, gleichzeitig eine Hommage an alle,<br />
die sich auf die Suche nach Veränderung machen,<br />
auch und vor allem in sich selbst. Und er erklärt auf<br />
mitreißende Weise, wie Emanzipation und Revolution<br />
sich gegenseitig bedingen, wie gesellschaftliche<br />
alte Verkrustungen ohne individuelle Veränderung,<br />
nur unter neuen Vorzeichen restauriert.<br />
Im schlimmsten Fall wird sie ein Höllentrip, wie jene<br />
armen Schauspieler, getrieben von ihrem fanatischen<br />
Lehrer, hier erleben müssen. In einem von<br />
ihnen explodiert das Trauma der familiären Tragödie<br />
aus der Zeit der faschistischen Militärdiktatur<br />
und zwingt ihn in einen kaum noch kontrollierbaren<br />
gewaltigen Mahlstrom. „Mein Schwanz ist das Sauberste<br />
an mir!“, meint er. In Wirklichkeit ist er ein Opfer,<br />
auf ganz andere Art und Weise, als er selbst aus<br />
der Erinnerung heraus glaubt. Mateo heißt er, großartig,<br />
nuanciert und radikal zugleich dargestellt von<br />
Eusebio Arenas, den man sich unbedingt merken<br />
sollte.<br />
Wie meint sein gewissenloser Antreiber immer wieder?<br />
„Geht Eurer Herkunft, Euren Traumata auf den<br />
Grund. Rekonstruiert den Tatort!“ Dass der Lehrer<br />
plötzlich selbst in den Strudel gerät, den er entfesselte,<br />
ist nur gerecht.<br />
Mateo gewinnt auf diese Weise nichts dazu, außer<br />
neuer Angst und muss schließlich feststellen, „Um<br />
ehrlich zu sein: Ich habe nicht den leisesten Schimmer,<br />
wer ich eigentlich bin. Ich bin wohl einfach niemand.“<br />
Das ist die Saat, die die Schergen der Diktatur in<br />
den Kindern der Verhafteten säten. Sie verwandelten<br />
sie in leere Hüllen, die die vermissten Heroen<br />
stets idealisierten, ohne sie an der Realität messen<br />
zu können, die ihnen zum unerreichbaren und unerfüllbaren<br />
Maßstab wuchsen, an dem sie selbst nur<br />
scheitern konnten, dem gegenüber sie winzig klein<br />
blieben, eben niemand.<br />
Was dann dieses großartige Drehbuch noch für eine<br />
weitere Drehung bereithält, davon schweige ich hier<br />
besser. Eine wahnwitzige Auflösung. Was für ein<br />
Erstlingswerk! Was für ein Film!<br />
Andrasch Neunert<br />
GANDU – WICHSER<br />
INDIEN 2010<br />
R: Kaushik Mukherjee<br />
Bildstörung<br />
85 min.<br />
FSK: 18<br />
Gandu (Anubrata) ist<br />
arbeitslos, er hat nichts<br />
gelernt und keine Freunde.<br />
Mit seiner Mutter lebt<br />
er im Haus von Dasbabu,<br />
einem Café-Besitzer, der sich seine Hilfsbereitschaft<br />
mit Sex bezahlen lässt. Auf seinen Streifzügen<br />
durch Kalkutta lernt er Rikscha (Joyraj) kennen, einen<br />
Rikscha-Fahrer und Bruce-Lee-Fan, der Gandu<br />
mit der Sinnlosigkeit dessen Lebens konfrontiert.<br />
Ein Ausweg aus der Leere sind Drogen und Sex …<br />
(Inhalt, gekürzt, nach FILMGAZETTE.DE) – Bollywood<br />
mal anders? Hat gar nichts mit Bollywood zu<br />
tun? Doch, zumindest in dem Sinne, dass auch hier<br />
kräftig „gesungen“ wird; zwar erscheinen dabei keineswegs<br />
makellos gekleidete und hübsch gestylte<br />
Damen und Herren, um uns mit ihren Tanz- und Gesangsvorführungen<br />
den letzten Nerv zu rauben –<br />
aber es wird gerappt! „Gandu“, was bengalisch übrigens<br />
„Wichser“, „Penner“, „Versager“ oder „Arsch“,<br />
bedeutet, ist der Protagonist, der aufgrund seiner<br />
Perspektivlosigkeit „mächtig angepisst“ (Infotext) ist.<br />
An Kohle kommt er nur dadurch, dass er dem Lover<br />
seiner Frau Mutter heimlich Geld aus der Tasche<br />
stiehlt - und dann ist er auch noch „Jungfrau“ … Regisseur<br />
Kaushik Mukherjee, der Insidern auch unter<br />
dem Alias „Q“ bekannt sein dürfte, ist mit „Gandu“<br />
mehr als nur ein simpler Zeitgeist-Film über die<br />
Frustration eines Jugendlichen gelungen. Stilistisch<br />
spannend und mit einem äußerst coolem Soundtrack<br />
versehen, hat er einen höchst authentischen<br />
Film gedreht, bei welchem dem Betrachter am Ende<br />
zwar der Schädel brummt, dieser sich aber auch sicher<br />
sein kann, einen brandaktuellen Top-Streifen<br />
des Indie-Kinos gesehen zu haben. Unbedingt empfehlenswert.<br />
Sven<br />
HENRY & JULIE<br />
(DER GANGSTER<br />
UND DIE DIVA)<br />
USA, 2010<br />
R: Malcolm Venville<br />
Sunfilm Entertainment<br />
112 min., FSK: 12<br />
Henry (Keanu Reeves) ist ein<br />
ziemlich biederer, aber freundlicher<br />
Typ, der in einer recht einfach gestrickten<br />
Vorstadt lebt. Er könnte niemandem etwas zuleide<br />
tun, seine Weste ist weiß. Eines Tages verwickeln<br />
ihn ein paar Freunde in einen Banküberfall, wodurch<br />
Henry erst mal ins Kittchen wandert. Drei Jahre<br />
später, wieder in Freiheit, beschließt er, mit Max<br />
(James Caan), seinem ehemaligen Zellengenossen,<br />
der sich bestens mit krummen Dingern auskennt,<br />
die Bank tatsächlich auszurauben. Dummerweise<br />
stellt sich Henry nicht gerade geschickt an, seine<br />
alten Kumpels bekommen Wind von diesem Coup,<br />
und dann verliebt sich der Ex-Langweiler auch noch<br />
in die Schauspielerin Julie (Vera Farmiga). Sowohl<br />
Henrys Pläne, als auch sein emotionales Innenleben<br />
werden hierdurch zu einem Gedankensalat.<br />
Bei einer solch hochklassigen Besetzung könnte<br />
man eigentlich davon ausgehen, dass der Streifen<br />
exzellente Kost ist, doch die Erwartungen werden<br />
leider herb enttäuscht, denn bis auf James Caan’s<br />
Figur als gewiefter alter Gangster Max wirken sämtliche<br />
Schauspieler so, als würden sie ihre Rolle oftmals<br />
halbherzig spielen. Die Charaktere wirken hölzern<br />
und beinahe lustlos gespielt, und irgendwie<br />
mag durch diese hohlen bewegten Hüllen nicht das<br />
beim Zuschauer ankommen, was die Macher des<br />
Films beabsichtigt zu haben scheinen. Auch sonst<br />
scheint bei diesem Film vieles nur sparsam angewendet<br />
worden zu sein, alles wirkt trotz hollywoodreifer<br />
Produktion lieblos und beinahe schon billig<br />
inszeniert. Und genau diese Umstände lassen „Henry<br />
& Julie“ recht frühzeitig in Richtung Langeweile<br />
und Belanglosigkeit kippen. Wieso haben Reeves,<br />
Caan und Farmiga nicht schon beim miesen Drehbuch<br />
nein gesagt?<br />
Chris P<br />
I SPIT ON YOUR GRAVE<br />
USA 2010<br />
R: Steven R. Monroe<br />
Sunfilm Entertainment<br />
93 min., FSK: 18<br />
Schriftstellerin Jennifer Hills<br />
mietet sich eine einsame<br />
Blockhütte im Wald, um in<br />
Ruhe ein neues Buch schreiben<br />
zu können. Doch die junge Frau ahnt nicht,<br />
dass eine Gruppe sadistisch veranlagter Einheimischer<br />
ein Auge auf sie geworfen hat. Eines Nachts<br />
überfallen sie Jennifer in ihrer Hütte, quälen und vergewaltigen<br />
sie. Bevor die Kerle die Frau zu Tode<br />
quälen können, fällt sie kraftlos in einen reißenden<br />
Fluss und wird weggespült. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit<br />
überlebt Jennifer und hat nur noch ein
Ziel: Rache!<br />
Das Remake des 1978 erschienen Originals ist ein<br />
knallharter Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn-Horrorthriller<br />
und ganz sicher nichts für Zartbesaitete. Brutal<br />
und doch gut nachvollziehbar zeigen die Akteure die<br />
menschlichen Abgründe zwischen Folterlust und Rachedurst<br />
auf. Der geneigte Betrachter leidet zunächst<br />
mit der übelst malträtierten Hauptdarstellerin, wendet<br />
sich aber zuweilen aber auch mit Grausen von ihr<br />
ab, wenn sie ihren nicht minder radikalen Rachefeldzug<br />
durchzieht. Sagen wir mal so: Weder so einer Folterbande,<br />
noch so einer Frau möchte man(n) im wahren<br />
Leben begegnen. Wer auf harte Schockszenen, viel<br />
(Kunst-)Blut und eine dennoch stimmige Story steht,<br />
dem ist der Film zu empfehlen. Mit dabei sind übrigens<br />
Chad Lindberg („The Last Samurai“ & „The Fast and the<br />
Furious“) und Tracey Walter („Das Schweigen der Lämmer“<br />
& „Trailerpark of Terror“).<br />
JOBRY<br />
ICH BIN NEUGIERIG –<br />
GELB/BLAU<br />
SCHWEDEN 1967<br />
R: Vilgot Sjöman<br />
KonoKontrovers/Bavaria<br />
222 min., FSK: 16<br />
Verboten, zensiert und immer wieder<br />
Gegenstand hitziger Diskussionen:<br />
Vilgot Sjömans „Ich bin<br />
neugierig“ ist ein Schlüsselfilm des jungen Kinos der<br />
68er-Bewegung und wurde weltweit zu einem Massenphänomen.<br />
„Ich bin neugierig – Gelb“ erzählt die Geschichte<br />
der rebellischen Lena (Lena Nyman) auf ihrer<br />
Suche nach Antworten. Die kritische junge Frau hinterfragt<br />
die gesellschaftlichen und politischen Zustände in<br />
ihrem Heimatland Schweden. Auf der Suche nach ihrer<br />
eigenen sexuellen Identität wird sie selbst zur Botschafterin<br />
für die beginnende Revolution der freien Liebe.<br />
Obszön, fieberhaft, mutig und visionär durchbricht<br />
„Ich bin neugierig – Gelb“ die Grenze zwischen Fiktion<br />
und Wirklichkeit und zeichnet das scharfsinnige Sittengemälde<br />
einer ganzen Epoche. Mit „Ich bin neugierig<br />
– Blau“ drehte Vilgot Sjöman eine alternative Version<br />
seines Skandalwerks, die sich (mit denselben Charakteren)<br />
anderen Themen widmet und die Grenze zur Realität<br />
noch stärker verwischt. (Inhalt nach EUROVIDEO.<br />
DE) – Zugegeben: Besonders „obszön“ oder „revolutionär“<br />
wirkt „Ich bin neugierig“ heute nicht mehr; dass<br />
der Streifen seinerzeit, in den späten Sechzigern also,<br />
auf dem Index stand, kann man allerdings auch heute<br />
noch nachvollziehen, und vor allem die Freizügigkeit<br />
des Filmchens dürfte den ein oder anderen Zensurbeamten<br />
aus der Fassung gebracht haben. Heutzutage<br />
zwar eher harmlos, darf man das Frühwerk des großen<br />
schwedischen Autorenfilmers Vilgot Sjöman aber mit<br />
Fug und Recht als hochinteressantes Zeitdokument betrachten,<br />
welches auch in voller Länge nicht langweilig<br />
wird; allein die Interviews mit Olof Palme, Martin Luther<br />
King und anderen Zeithelden sind absolut sehenswert.<br />
Auch nach über 40 Jahren kann man sich auf den<br />
abendfüllenden Streifen ohne Angst vor aufkommender<br />
Langeweile gut einlassen.<br />
Sven<br />
IM HIMMEL, UNTER DER ERDE -<br />
DER JÜDISCHE FRIEDHOF WEISSENSEE<br />
Edition Salzgeber<br />
Regie: Britta Wauer<br />
D 2011, 90 Min., FSK 6, Dt. OF<br />
siehe Extra-Artikel in diesem Heft!<br />
JEDEM SEINE NACHT<br />
R: Pascal Arnold<br />
& Jean-Marc Barr<br />
FRA 2008, FSK 16,<br />
95 min., dt. UT<br />
Vier Jungs und ein Mädchen sind<br />
eine französische Indieband, sowohl<br />
musikalisch, als auch sexuell<br />
ebenso spontan wie variabel<br />
auf der Suche, wobei Lucie’s Bruder Pierre, charismatischer<br />
Frontmann, in seiner Freizeit auch mal gegen<br />
Geld Sex mit deutlich älteren Männern hat. Der überlebt<br />
den Plot nicht, wir ahnen lange Zeit nicht, warum.<br />
In diesem Film werden Teenies letztlich präsentiert als<br />
haltlos Suchende, denen jegliche Werte am Knackarsch<br />
vorbeigehen, die sich nur in Rausch, Ekstase zu spüren<br />
scheinen, die sie in immer extremeren Formen suchen.<br />
Dass das auch die Möglichkeit zu Gewalt einschließt,<br />
ist bei dieser Sichtweise nur logisch, und so<br />
wird aus dem Teenie-Sittengemälde nach Pierres rätselhaftem<br />
Verschwinden ein Kriminalfall, der alle Beteiligten<br />
auf schmerzhafte Weise mit der eigenen Realität<br />
konfrontiert. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der etwas<br />
zurückgebliebene Nachbar, der das Treiben der Youngsters<br />
gern beobachtete und der ihrem frivolen Nihilismus<br />
kontrastierend gegenübergestellt wird.<br />
Wie entsteht die rohe Gewalt von Teenagern, die dann<br />
gern als „grundlos“ bezeichnet wird? Letztlich verweigert<br />
das Drehbuch von dea Filmes dafür eine Antwort,<br />
die über Überschriften und eindimensionale Verurteilung<br />
hinausgeht. Dennoch überzeugt der Film durch<br />
das frische, spontane Agieren der jungen Schauspieler,<br />
durch Sexiness und Spannung. Leider kann die Auflösung<br />
letztlich durch ihren Mangel an Tiefenschärfe nicht<br />
ganz das hohe Niveau halten. Man hätte doch noch<br />
mehr erfahren wollen über die Hintergründe eines wahren<br />
Verbrechens, das dieser Film u. a. auch in der offiziellen<br />
Sektion des Filmfestivals von Toronto spiegeln<br />
durfte.<br />
Diese französische Reifeprüfung wird von unseren Teenagern<br />
jedenfalls nicht bestanden, auf bitter-blutige<br />
Weise. Und jugendliche Unschuld ist eine sehr relative<br />
Behauptung, die sich hier auf dramatische Weise selbst<br />
ad absurdum führt.<br />
Andrasch Neunert<br />
LARGO WINCH II -<br />
DIE BURMA-VERSCHWÖRUNG<br />
Sunfilm<br />
R Jerome Salle<br />
F 2010/11, 113 min.,<br />
FSK 16<br />
Was für ein Action-Kino-<br />
Popcorn-Fest!<br />
In einem Dorf des Bergvolkes der<br />
Karen in Burma (nicht Myanmar, das ist nur der offizielle<br />
Name der Militärjunta, im Volk aber ein verhasster Begriff!)<br />
lebt der aus Teil I (muss man aber nicht gesehen<br />
haben, um diesen Film genießen zu können!) bekannte<br />
Adoptivsohn eines Konzerntycoons und dessen Alleinerbe,<br />
Largo Winch. Als der sein Erbe antritt, verkündet<br />
er, das Erbe zu verkaufen und davon eine Stiftung<br />
für humane Ziele aufzubauen, viele Milliarden schwer.<br />
Gleichzeitig bricht er mit der russischen Mafia, mit der<br />
sein Adoptivvater noch gekungelt hatte. Folge: Bedrohungen,<br />
Feuer aus allen Richtungen, Mordversuche.<br />
Doch dann trifft ihn ein Pfeil aus dem Hinterhalt wirklich<br />
hart: Es wird von einer UN-Ermittlerin behauptet,<br />
sein Vater und er selbst seien verwickelt in dreckige Geschäfte<br />
mit den blutigen Machthabern von Rangun. Um<br />
seine Unschuld zu beweisen und sein Image zu retten,<br />
muss er, stets bedroht von dunklen Mafiosi und Hintermännern<br />
der Macht, nun im burmesischen Dschungel<br />
versuchen, seine Unschuld zu beweisen und den Vorwürfen<br />
gegen seinen Vater auf den Grund zu gehen.<br />
Das First-Class-Filmteam mit einigen der besten Effektspezialisten<br />
der Welt garantiert großartige Actionszenen,<br />
die den Vergleich mit Bond-Filmen nicht zu<br />
scheuen brauchen. Und en passant liefert der Film eine<br />
2012 I #35 I videoThek<br />
63
64 videoThek I #35 I 2012<br />
zutreffende Beschreibung des Wahnsinns der Minderheitenverfolgungen<br />
in Burma, die längst einen<br />
Ethnozid bedeuten, weitab von der Aufmerksamkeit<br />
der Weltöffentlichkeit, auch wenn die zivilen Marionetten<br />
der alten Militärs gerade neue Liberalität mimen.<br />
Und wir bekommen die Hintermänner des internationalen<br />
Business des militärisch-industriellen<br />
Komplexes so gezeigt, wie sie leider überwiegend<br />
wirklich sind. Grimmige Charakterzeichnungen mit<br />
Tiefenschärfe und ein herausragender internationaler<br />
Cast, ein raffinierter Handlungsstrang mit brillanter<br />
Auflösung und eine Liebesgeschichte im Hintergrund<br />
als Bonus, was will man vom Popcornkino<br />
mehr? Chapeau! James Bond hat tatsächlich aus<br />
Frankreich ernstzunehmende Konkurrenz bekommen.<br />
Andrasch Neunert<br />
LASS IHN NICHT REIN<br />
GB 2011<br />
R: Kelly Smith<br />
Sunfilm Entertainment<br />
77 min.<br />
FSK: 18<br />
In einer verschlafenen Gegend<br />
in England treibt ein Serienkiller<br />
sein Unwesen. Der<br />
sogenannte „Baumchirurg“ schlachtet seine Opfer<br />
ab und hängt ihre abgehackten Körperteile an<br />
Bäumen auf. Ausgerechnet in dieser Gegend machen<br />
die zwei Paare Calvin, Paige, Mandy und Tristan<br />
nichts ahnend Urlaub. Schon bald jedoch merken<br />
sie, wo sie gelandet sind. Zu allem Überfluss<br />
entpuppt sich Tristan, der frische Freund von Mandy,<br />
als ziemlich zwielichtiger Typ. Als die Vier in der<br />
Nacht auf einen schwer verwundeten Mann treffen,<br />
beginnen sie erst recht misstrauisch zu werden. Als<br />
dann auch noch Calvin verschwindet, steigert sich<br />
ihr Misstrauen in panische Angst.<br />
Regisseur Smith nutzt den minimalen Handlungs-<br />
und Personenrahmen mit scheinbar diebischer<br />
Freude, um den Zuschauer in die Irre zu führen. Wenig<br />
ist, wie es scheint und am Ende kommt es anders,<br />
als man vermuten würde. Darin liegt eine Stärke<br />
des Films: Gekonnt falsche Fährten und deren<br />
Auflösung sind der eigentliche Horror. Zwar gibt es<br />
auch ein paar unappetitliche Blutszenen, aber zwingend<br />
nötig sind diese nicht. Ein kleiner gemeiner<br />
Schocker also.<br />
JOBRY<br />
LIFE IN A DAY –<br />
EIN TAG AUF UNSERER<br />
ERDE<br />
GB 2011<br />
R: Kevin Macdonald<br />
Rapid Eye Movies<br />
95 min., FSK: 6<br />
Eigentlich war es nur eine<br />
Frage der Zeit, bis es einen<br />
ersten Kinofilm geben würde, der von Internet-Usern<br />
selbst gedreht wurde. Nun ist es also soweit: „Life<br />
In A Day“ ist das Ergebnis eines globalen Filmprojektes,<br />
er bringt über YouTube hochgeladene Privatvideos<br />
verschiedenster Kulturen zusammen,<br />
zeigt Schicksale und Alltagssituationen, fängt unterschiedlichste<br />
Perspektiven und Stimmungen ein.<br />
Zusammengestellt von Oscar-Preisträger Kevin Madonald<br />
(„Der letzte König von Schottland“), bieten<br />
die 95 Minuten letztlich ein Kaleidoskop des Lebens,<br />
mal belanglos, manchmal schockierend, mal ergreifend,<br />
mal komisch. Erstaunlich ist es schon, wobei<br />
sich Menschen alles filmen, z. B. bei der „Morgensitzung“<br />
auf dem Klo… Dokumentiert ist der 24.<br />
Juli 2010 – zufällig auch der Tag des Loveparade-<br />
Unglücks in Duisburg. Das spielt hier aber nur eine<br />
untergeordnete Rolle. Vielmehr gibt es einen zuweilen<br />
voyeuristischen Blick auf alle Kontinente, in 190<br />
Länder und unzählige Leben: Letztlich ein interessantes<br />
Experiment, ein faszinierender Ausschnitt<br />
des menschlichen Alltags.<br />
LEARNING FROM LIGHT –<br />
DER ARCHITEKT I.M.PEI<br />
Edition Salzgeber<br />
R: Bo Landin/<br />
Sterling van Wagenen<br />
11/2011, FSK 0, 84 min.,<br />
OF/dt. UT<br />
JOBRY<br />
Licht und Schattenspiele im<br />
grellen Licht der Wüste sind<br />
der Einstieg zu diesem Film über den chinesischstämmigen<br />
Stararchitekten I. M. Pei aus den USA,<br />
der sich spätestens mit dem Museum für Islamische<br />
Kunst in Doha ein beeindruckendes Denkmal setzte.<br />
Um diesen Auftrag erfüllen zu können, bereitete er<br />
sich durch das Studium islamischer Kunst und Architektur<br />
viele Monate lang vor, ließ sich tief beeindrucken<br />
von der hier typischen geometrischen<br />
Vielfalt. Pei ist 93, wirkt immer noch sehr abenteuerlustig<br />
und vital, fordert von sich und anderen stets<br />
das Maximum. Er ist ein absoluter Stararchitekt und<br />
weiß das nur zu genau. „Meine Bauwerke stehen<br />
überall. So habe ich das gewollt.“ Der immer wieder<br />
grundverschieden bauende Wanderer zwischen<br />
den Welten kennt in seiner Arbeit nur wenige Konstanten,<br />
ist alles andere als ein Dogmatiker: Er reflektiert<br />
in seinen Bauwerken primär den jeweiligen<br />
Standort, Set und Setting. Die kulturelle Geschichte<br />
und die lokalen Traditionen, in Doha sind es kubische<br />
Formen, die kalligraphische Geometrie, zurückgeführt<br />
auf ihre Basis im Dialog mit dem harten<br />
Licht des Wüstenstaates und des Wassers rund um<br />
den Standort. In einer Kairoer Moschee hatte Pei die<br />
wesentliche Vorlage gefunden, islamische Baukunst<br />
in ihrer reinsten, klarsten, ursprünglichen Form. „Architektur<br />
ist nichts weiter als Leben gewordene Geometrie.“<br />
So denkt der pragmatische Künstler, der<br />
aber, wenn er sich mal etwas in den Kopf gesetzt<br />
hat, ein legendäres Beharrungsvermögen entwickelt.<br />
Seine raffinierte Flexibilität und sein gleichzeitiger<br />
visionärer Mut sind bei Bauwerken für die<br />
Kunst am besten nachvollziehbar, neben dem Museum<br />
in Doha ganz besonders im Louvre in Paris<br />
bei der sensationellen Glaspyramide, die die ursprüngliche<br />
erhabene Starre des Ortes bricht.<br />
Nun also will Pei in Doha keine Stadtsilhouette voller<br />
Wolkenkratzer als Hintergrund für sein Museum, er<br />
will einfachste Flächen und Formen, und wenn das<br />
mit dem puren Himmel oder der Wüste aus Mangel<br />
entsprechender Grundstücke schon nicht geht, dann<br />
muss es das Wasser sein: Er fordert eine künstlich<br />
zu bauende Insel, und Doha ist noch Boomtown:<br />
Der Stararchitekt kriegt, was er will. Ein einmaliger<br />
Akt. Geld spielt keine Rolle. Pei ist in der Arbeit mit<br />
seinem bewusst klein gehaltenen engsten Team ein<br />
freundlicher Diktator, der aufmerksam zuzuhören<br />
weiß, sich selbst aber grundsätzlich das Recht zur<br />
endgültigen Entscheidung sichert.<br />
Dieser Film ist ein Film über sein wohl letztes großes<br />
Bauwerk, eine Eloge auf ihn, den philosophischen<br />
Pragmatiker, das architektonische Chamäleon, ihn,<br />
der in Doha den Kern und Ursprung islamischer Architektur<br />
sichtbar machte, ihm eine moderne, aber<br />
unverfälschte Form verlieh, der in Doha und Paris<br />
Bauwerke ewig bleibender Größe geschaffen hat.<br />
Das ist beeindruckend und inspirierend, nicht nur für<br />
Architekten.<br />
Andrasch Neunert<br />
MEGA MONSTER MOVIE<br />
USA 2010<br />
R: Bo Zenga<br />
Sunfilm Entertainment<br />
92 min., FSK: 16<br />
Sicher, schlimmer geht immer,<br />
aber MEGA MON-<br />
STER MOVIE ist schon<br />
ziemlich schlimm. Gegen<br />
die vermeintliche Horror-<br />
film-Parodie ist „Scary Movie“<br />
(produzierte übrigens<br />
MMM-Regisseur Bo Zenga)<br />
reinstes Intellektuellen-Kino.<br />
Die Story ist total konfus, völlig<br />
konzeptlos und vor allem<br />
unlustig. Darum geht es: Der<br />
Video-Verkäufer Stan Helsing<br />
macht in der Halloween-<br />
Nacht gemeinsam mit seiner<br />
Ex-Freundin, seinem besten<br />
Kumpel und dem Gogo-Girl Mia einen Abstecher<br />
in eine verfluchte Stadt. Dort treiben sich Parodien<br />
der sechs grausigsten Monster der Filmgeschichte<br />
herum: Freddy („A Nightmare on Elm Street“), Jason<br />
(„Freitag der 13.“), Pinhead („Hellraiser“), Leatherface<br />
(„Das Kettensägen-Massaker“), Chucky<br />
(„Chucky – Die Mörderpuppe“) und Michael Myers<br />
(„Halloween“). Als Stan herausfindet, dass er ein<br />
direkter Nachkomme des Monsterjägers Van Helsing<br />
ist, müssen die Vier eine Nacht mit den Mon-<br />
stern, mörderischen Trampern und Vampir-Stripperinnen<br />
überleben. Man ahnt schon: Da kann nichts<br />
Gutes bei herauskommen. Der Humor ist gröber als<br />
jeder Dampfhammer und lustig ist, wenn man trotzdem<br />
lacht. Selbiges bleibt einem spätestens im Halse<br />
stecken, wenn man sieht, wie sich der 2010 verstorbene<br />
Leslie Nielsen („Die nackte Kanone“) hier<br />
in einem Drag Queen-Gastauftritt als Bardame genauso<br />
niveaulos wie der Rest der Akteure zum Affen<br />
macht. Klare Sache: Monster Mega Müll.<br />
JOBRY<br />
DIE MISSION<br />
Pro Fun<br />
R: Peter Bratt<br />
USA 2009, FSK 16,<br />
116 min.<br />
Engl.spr. OF/ dt. UT<br />
Ein alleinerziehender Ex-<br />
Knacki, Busfahrer, Autobastler<br />
aus Passion, Latinoking<br />
seiner Straße,<br />
hemdsärmeliger Charmeur<br />
mit dem Prollcharme eines Pitbulls und demonstrativer<br />
100-Volt-Macho, dem nichts ferner liegt, als<br />
lauwarm duschen, hat, oh Maria hilf, einen schwulen<br />
Sohn und eine nachbarliche Emanze, die zu allem<br />
Überfluss auch noch großartig aussieht. Er fühlt sich<br />
doppelt gestraft, schmeißt den Schwuchtelfilius,<br />
dem er zuvor noch einen tollen Oldtimer hergerichtet<br />
hatte, ohne viel Federlesens aus der gemeinsamen<br />
Wohnung, poliert dessen weißen Oberschichtenlover<br />
mal so richtig ordentlich die Weichei-Fresse<br />
und der knackig-vorlauten Schönheit von nebenan<br />
drückt er bei Gelegenheit auch noch ein paar passende<br />
Sprüche rein, die ein für alle Mal klar machen<br />
sollen, wer in seinem Viertel das Sagen hat.<br />
Was sich nun wie ’ne doofe Prollklamotte anhört, ist<br />
in Wirklichkeit ein mit viel Liebe, Witz und Phantasie<br />
gedrehter Cross-Culture-Movie, randvoll mit spritzigen<br />
Dialogen, bis in die kleinsten Rollen toll besetzt<br />
und beseelt vom kauzigen Charme von Hauptdarsteller<br />
Benjamin Bratt. Und je länger der Film<br />
dauert, der als Coming-Out-Tragikkomödie zu starten<br />
schien, desto mehr rückt der knarrige Papa mit<br />
seiner Identitätskrise in den Mittelpunkt, dessen Macho-Innenwelt<br />
sich als ebenso antiquiert erweist,
wie seine mit Hingabe zusammengeschraubten Oldtimer-Schlitten,<br />
mit denen der Held der Straße an<br />
Feiertagen protzig die Straßen des Viertels auf- und<br />
abparadiert, begleitet von all den gealterten Vorstadtdjangos,<br />
die ebenso unterwegs sind.<br />
Die Überwindung klischeetriefender Rollenbilder,<br />
hier des Latino-Machismo, das ist das Hauptthema<br />
dieses pfiffigen, herzerweichenden Streifens, der<br />
auf intelligente Weise blendend zu unterhalten versteht.<br />
Dass bei dieser Versuchsanordnung das übliche<br />
Happy End alles andere als selbstverständlich ist,<br />
macht den Filmgenuss nur noch lohnender...<br />
Andrasch Neunert<br />
MURAT B. –<br />
VERLOREN IN<br />
DEUTSCHLAND<br />
Milestone Film<br />
R: Bijan Benjamin<br />
D 2008/9, 93 Min., FSK 0<br />
Murat Bektas, der fiktive<br />
Held dieses Streifens, ist<br />
Hartz IV-Empfänger. Dieser<br />
Film soll sein Leben<br />
zeigen. Das scheint eine<br />
Reality-TV-Doku zu sein, doch hier wirken Schauspieler<br />
mit, die einen auf echt machen, ganz wie bei<br />
den Reality-TV-Soaps von RTL und SAT1. Leider ist<br />
auch das Niveau nur geringfügig höher.<br />
Die Filmemacher, gefördert u. a. von der Kölner<br />
Kunsthochschule wollten Großes, Verdienstvolles<br />
leisten: Die Realität des Prekariats einfangen,<br />
die Hartz IV-Realität, fernab der Soap-Vereinfachungen<br />
und Ideologien. Ich zitiere den Prolog zum<br />
Film: „Deutschland 2008, 82 Mio. Einwohner, ca. 3<br />
Mio. offiziell ohne Arbeit, 75.000 allein in Köln. Immer<br />
mehr Menschen leben von Arbeitslosengeld<br />
2“ (Anm.: Stimmt heute in absoluten Zahlen jedenfalls<br />
nicht mehr!). „Ein Thema, das in den Medien<br />
für hohe Aufmerksamkeit sorgt. Es wurde unzählige<br />
Male aufgegriffen und uns in unterschiedlichster<br />
Form präsentiert. Viele Vorurteile und Klischees sind<br />
dabei entstanden. Wir wollten zeigen, wie sich das<br />
Leben mit Hartz IV wirklich anfühlt ...“<br />
Nun, ich habe selbst eine Weile Hartz IV erhalten<br />
und für mich gelten die „Wahrheiten“ dieses Filmes<br />
nicht. Nicht jeder Hartz IV-Empfänger ist ein betrogener<br />
Vollchaot, der keinerlei Plan hat, der aber<br />
auch keinerlei strukturierte Hilfe angeboten be-<br />
kommt, um sein Leben in den Griff zu bekommen,<br />
der völlig überschuldet ist, der von so gut wie jedem<br />
Menschen beschissen wird, dem er begegnet.<br />
Falsche Fakten, eine Arbeitsagentur, bzw. ARGE,<br />
die nicht einmal nach ihren eigenen Regeln handelt,<br />
und Widersprüche zuhauf schon in den Fakten der<br />
Story; von den schauspielerischen Leistungen mit<br />
nur einer positiven Ausnahme (Larissa Aimee Breidbach<br />
als Freundin Murats) ganz zu schweigen. Fakten...<br />
Wieso brabbelt Murat in seinem charmanten<br />
Offenbacher Dialekt etwas von einem chronischen<br />
Bandscheibenschaden, wenn er das bei der Arbeitsagentur<br />
nie wirklich geltend macht mit einem Attest?<br />
Wieso entschuldigt er damit seine permanenten<br />
schnellen Abbrüche angebotener Beschäftigungen,<br />
wenn ihm ein Facharzt gleichzeitig volle Arbeitsfähigkeit<br />
bescheinigt und er täglich in einem Fitnessstudio<br />
Gewichte stemmt? Wieso verschweigt das<br />
Drehbuch, dass es für Führerscheininhaber ohne<br />
Vorstrafen in deutschen Großstädten nun wirklich<br />
kein Problem ist, Jobs zu finden, jedenfalls bei eigenem<br />
Engagement? Warum ist in Sachen Schulden<br />
beim Rechtsanwalt weder von der Möglichkeit der<br />
Kostenübernahme durch Prozesskostenhilfe, noch<br />
vom Schuldnerberater die Rede? Nein, hier erleben<br />
wir den Gegenentwurf zu den peinlichen SAT.1- und<br />
RTL-Possen: Diesmal ist der Hartz IV-Empfänger<br />
das arme, gejagte Opfer, „verloren in Deutschland“<br />
und alle, die um ihn herum an seine Verantwortung<br />
erinnern und seiner Weigerung, wirklich seine Situation<br />
zu verbessern, Grenzen setzen, sind die Monster.<br />
Dieser Film mag als Trigger für gemeinsames Weinen<br />
in Charity-Veranstaltungen funktionieren, deren<br />
BesucherInnen von Hartz IV-Realitäten so weit<br />
entfernt sind, wie offensichtlich die Schreiber dieser<br />
hanebüchenen Dialoge, dieses komplett realitätsfremden<br />
Drehbuchs. Als Vorlage für die überfällige<br />
Überprüfung der Hartz IV-Gesetzgebung,<br />
insbesondere was tatsächliche Härtefälle, Wartezeiten<br />
bei Schuldnerberatungen, Eingliederungshilfen<br />
und ihren notwendigen Ausbau, Altersarmut, die<br />
Gnadenlosigkeit raffgieriger Banken und das Verhalten<br />
mancher BeraterInnen - die aber die Ausnahme<br />
darstellen! - angeht, taugt er nicht das Mindeste.<br />
Er ist kontraproduktiv, schlecht recherchiert,<br />
völlig unglaubwürdig und teilweise sogar unfreiwillig<br />
komisch. Noch mal zum besseren Verständnis:<br />
Nicht alle in sozialen Schieflagen Kämpfende sind<br />
so verpeilte Hans-guck-in-die-Lufts, wie unser sympathischer<br />
junger türkischer Immigrant, der hier<br />
das männliche Pechmariechen und Daueropfer mimen<br />
muss, der, damit die Story so richtig betroffen<br />
macht, am Ende auch noch darauf kommen muss,<br />
dass er nicht der Vater seiner Tochter ist und im Übrigen<br />
auch noch impotent. „Ein halber Mann“: Die<br />
Realität der Hartz IV-Empfänger, wie im Vorspann<br />
dreist behauptet? Alle impotent, oder so ähnlich, jedenfalls<br />
die Türkenjungs? Wieso stattdessen kein<br />
Wort darüber, dass Hartz IV-Bezug laut Gesetzestext<br />
schon Grund zur Ausweisung sein kann, nur<br />
mal so am Rande gefragt? Aber das hätte ja sorgfältige<br />
Recherche vorausgesetzt, statt billiger Klassenpropagandaklischees.<br />
Nein, das hier ist einfach von<br />
vorne bis hinten: Schade um das verdrehte Material.<br />
Andrasch Neunert<br />
NICHTS ZU VERZOLLEN<br />
Frankreich, 2010<br />
R: Danny Boon<br />
Prokino<br />
103 min.,<br />
Extras 20 Minuten<br />
FSK: 12<br />
Mit dem Quasi-Nachfolger<br />
von „Willkommen bei<br />
den Sch’tis“ hat sich Regisseur<br />
Danny Boon keinen<br />
Gefallen getan. Das die dreistellige Minutenzahl<br />
knackende Werk spielt in Courquain, einem kleinen<br />
Grenzort an der französisch-belgischen Grenze.<br />
Dort soll natürlich alles seine Ordnung haben, findet<br />
der Belgier Zollbeamte Ruben, doch der franzö-<br />
sische Kollege Ducatel möchte natürlich ebenfalls,<br />
dass alles „sauber“ bleibt, und so lassen sich die<br />
beiden auch nicht vom Schengener Abkommen beirren,<br />
das beide ihren Job kosten wird. Immer verbitterter<br />
und letztendlich eigeninitiativ beharrt jeder<br />
auf seinem Recht und auf klare Fronten. Richtig interessant<br />
wird es allerdings erst, als herauskommt,<br />
dass Ducatel mit Rubens Schwester ein Techtelmechtel<br />
hat.<br />
So weit, so schön – wie die meisten modernen<br />
französischen Komödien ist die Produktion professionell,<br />
liebevolle Details bereichern „Nichts zu<br />
verzollen“ obendrein, doch viel in diesem Semi-Culture-Clash-Film<br />
ist einfach dermaßen overacted,<br />
sprich übertrieben, was zur Folge hat, dass sich<br />
sehr schnell Abnutzungserscheinungen bemerkbar<br />
machen. Boon hat man schon deutlich besser und<br />
vielseitiger gesehen und Zoll- und Schauspielkollege<br />
Benoît Poelvoorde versucht leider viel zu häufig<br />
in die Fußstapfen der fragwürdigen Legende Louis<br />
de Funès zu treten, die Slapstick-Situationen amortisieren<br />
sich gegenseitig, beim Geballer herrscht bald<br />
„Alarm für Cobra 11“-Alarm, sodass man wirklich<br />
Kondition mitbringen muss, um bei diesem einfach<br />
nur anstrengenden, anspruchsarmen audiovisuellen<br />
Pamphlet bis zum Schluss durchzuhalten. Etwas<br />
weniger überzogene Action und mehr Glaubwürdigkeit<br />
der Akteure sowie eine etwas gehaltvollere<br />
Handlung hätten dem 103-Minüter bestimmt gut getan,<br />
doch hiernach braucht man erst einmal eine<br />
Wetter-Cam zum Herunterfahren. „Nichts zu verzollen“<br />
ist eine ärgerliche Angelegenheit, denn gerade<br />
aus Frankreich kam zuletzt so viel Besseres.<br />
Chris P<br />
PINGUINE –<br />
KÖNIGE DER<br />
ANTARKTIS 2<br />
Neuseeland 1993<br />
R: Max Quinn<br />
3L Homevideo<br />
53/52 min.<br />
FSK: 0<br />
Auch wenn es sich bei<br />
dieser Doppel-DVD ganz<br />
offensichtlich um eine Adaption aus dem neuseeländischen<br />
Fernsehen handelt, die bereits 19 Jahre auf<br />
dem Buckel hat, lohnt sich die Anschaffung – vorausgesetzt,<br />
man interessiert sich für Pinguine. DVD<br />
1 konzentriert sich ganz auf die Kaiserpinguine in<br />
der Arktis. Die Tiere sind wahre Überlebenskünstler<br />
in einer massiv lebensfeindlichen Landschaft.<br />
Also haben die Tiere einige erstaunliche Strategien<br />
entwickelt. Man erfährt zum Beispiel, dass sie entgegen<br />
anderer Vogelarten auf feste Reviere verzichten<br />
und sich stattdessen zu Rudeln zusammenschließen,<br />
um bei Temperaturen von Minus 50 Grad<br />
und weniger zu überleben. DVD 2 hält viele grundlegende<br />
Informationen und Filmaufnahmen zu Pinguinen<br />
aus der ganzen Welt parat: Erstaunlich zum<br />
Beispiel, dass es auch Tiere in 40 Grad heißen Regionen<br />
gibt, die zwischen Kakteen herumstolpern.<br />
Ungewöhnliche Aufnahmen zu einer ungewöhnlichen<br />
Tierart.<br />
JOBRY<br />
POOLBOY –<br />
DROWNING OUT THE<br />
FURY<br />
Senator Home<br />
Entertainment<br />
R: Garrett Brawith<br />
USA, 2011<br />
ca. 86 min.<br />
FSK: 18<br />
2012 I #35 I videoThek<br />
Neeee. Das geht leider<br />
gar nicht. Wobei: nicht mal<br />
„leider“. Nur „gar nicht“.<br />
Allerorten liest man über dieses Machwerk,<br />
dass es polarisieren würde.<br />
65
66 videoThek I #35 I 2012<br />
Grottiger Produzentenplan, grottige Story, grottige<br />
Synchro, grottige Schauspieler. Einzig Danny „Machete“<br />
Trejo und einzwei anderen merkt man an,<br />
dass sie durchaus auch so richtig anders könnten<br />
bzw. können. Im Original-Ton ist das Machwerk immerhin<br />
marginal netter.<br />
Der Film kokettiert so was von kaum auszuhalten<br />
mit seinem hohen gewollten Trashgehalt, schielt zu<br />
unverschämt berechnend in Richtung Kultstatus,<br />
persifliert das 80er-Jahre-Action-Kino, mixt Stories<br />
aus bekannten anderen Filmen auf „Scary Movie<br />
und Konsorten“-Niveau, zeigt jede Menge digitales<br />
Blut und analoge Titten und scheitert kläglich. Der<br />
will so unbedingt und kann es einfach nicht.<br />
Definitiv nur nervigstes youTube-Geflimmere der<br />
„Haha, sind wir lustig und machen Filme“-Sparte.<br />
Anyway, in einem sind die Schöpfer von Poolboy<br />
doch richtig erfolgreich gewesen: es gut zu meinen.<br />
Und das ist bekannterweise ja das Gegenteil von …<br />
- richtig! - gut.<br />
Wenigstens eine Empfehlung für einen Trash-Abend<br />
mit Kumpels, Bier, Tüten und Fritten? Weitaus besseres<br />
auf dem Markt... Wir haben es probiert. Ehrlich.<br />
Sind gar nicht soooo sanft im Nehmen. Wir haben<br />
mittendrin den Kill-Button betätigen müssen.<br />
Ging nicht anders. Nein. Und aus. Schon viel zu viel<br />
dazu geschrieben. Welch doppelte Zeitverschwendung.<br />
Würde es hier Punkte geben: im Minusbereich.<br />
Matthias Horn<br />
RICHARD HASENFUSS<br />
GB 2008<br />
R: Vito Rocco<br />
Sunfilm Entertainment<br />
87 min.<br />
FSK: 6<br />
Sympathisch-schrullig<br />
können sie, die Briten:<br />
„Richard Hasenfuss“ ist ein weiterer Beweis dafür.<br />
Die Story: Richard ist ein eher unbeholfener Verkäufer<br />
eines Baumarktes. Sein Chef hat ihn auf<br />
dem Kieker. Auch privat gibt es Stress. Seine Frau<br />
trennt sich von ihm, seinem Sohn ist der eigene<br />
Vater peinlich, u. a. weil dieser zusammen mit ein<br />
paar freakigen Freunden gerne Schlachten der Wikinger<br />
nachstellt – dann als tapferer Readmund der<br />
Gerechte. Die harte Lebensrealität weckt in dem eigentlich<br />
schlaffen Richard einen hart um Frau und<br />
Sohn kämpfenden Kerl – wenngleich dieser dabei<br />
in so manches Fettnäpfchen tritt… Liebenswert machen<br />
diese Komödie vor allem die gut gecasteten<br />
Charakterköpfe – allen voran der glänzende Hauptdarsteller<br />
Eddie Marsan als Richard, der sich letztlich<br />
rührend bemüht, die Herzen seiner Lieben zurückzuerobern.<br />
A propos Herz: Für genau jenes ist<br />
dieser Film etwas, denn hier geht es auch um Romantik,<br />
Liebe und Wahrhaftigkeit. Glücklicherweise<br />
endet das nur ganz selten im Kitsch und viel häufiger<br />
in humorvollen Situationen. Ebenfalls sympathisch:<br />
Der Soundtrack u. a. mit Madness, MSG, Human<br />
League, Saxon oder The Proclaimers.<br />
JOBRY<br />
SAMSON & DELILAH<br />
Rapid Eye Movies<br />
Regie, Drehbuch, Kamera:<br />
Warwick Thornton<br />
AUS 2009, 101 Min., FSK 12<br />
Original mit dt. UT<br />
Die Maori Neuseelands und<br />
die Aborigines Australiens gehören<br />
zu den Ausgestoßenen,<br />
über die wir hier am wenigsten wissen. Dieser Film<br />
ändert das - auf ebenso tief beeindruckende, wie radikale<br />
Weise - und wurde auf insgesamt 15 Filmfestivals<br />
dafür völlig zu Recht mit Preisen überhäuft -<br />
vom Award for Indigenous Script Writing bis hin zur<br />
Camera d’Or in Cannes.<br />
Mitten auf dem Land leben die Aborigines meist in<br />
isolierten, verarmten kleinen Gemeinschaften. Suff<br />
und Drogen, Gewalt und Perspektivlosigkeit kennzeichnen<br />
dort ihren Alltag. Sie sind der Normalfall.<br />
An einen solchen heillosen Ort entführt uns der Film<br />
und konzentriert sich auf zwei Teenies, die dem<br />
Film seinen Titel geben. Samson hat kaum gelernt<br />
zu sprechen, schnüffelt permanent Benzin, vermisst<br />
seinen Vater, der im Knast sitzt und wird vom älteren<br />
Bruder drangsaliert. Er wird nach einer gewalttätigen<br />
Auseinandersetzung ebenso heimatlos wie<br />
Delilah, die, eigentlich ein fürsorgliches, liebes Mädchen,<br />
von der Verwandtschaft für den Tod ihrer mit<br />
Hingabe gepflegten Oma verantwortlich gemacht<br />
wird. Beide suchen nun ihr Heil in der großen Stadt,<br />
um im Beisein eines alkoholsüchtigen Penners unter<br />
einer Brücke scheinbar endgültig ins Bodenlose<br />
abzustürzen.<br />
Radikal dicht und intim verfolgt die Handycam des<br />
Regisseurs seine zwei verlorenen Helden, über<br />
viele Minuten des Schweigens, des puren Elends,<br />
die sich zur Ewigkeit auszudehnen scheinen. Wir<br />
freuen uns über jedes so seltene Lächeln, jeden<br />
Anflug von Kommunikation zwischen den von der<br />
Wohlstandsgesellschaft nie angenommenen, ausgespuckten,<br />
weggeworfenen Kindern, deren leere<br />
Blicke nicht nur einen Kontinent anklagen.<br />
Doch dieser wichtige Film zeigt noch mehr: Die<br />
Unberührbaren, denen von der Mehrheit jegliches<br />
Menschsein abgesprochen wird, erleben vor unseren<br />
Augen eben auch Momente von Nähe, Sehnsucht.<br />
Ein Lächeln für eine Dosensuppe zeigt uns,<br />
dass auch in der Hölle Freude existiert, für Momente<br />
immerhin. Zeigt, dass Liebe und Freundschaft Wege<br />
aus dem Wahnsinn zeigen können, auch wenn die<br />
wenigsten Betroffenen diesen Horizont für sich je<br />
wahrnehmen werden. Vor allem aber zeigt dieser<br />
von zwei jungen Laiendarstellern auf überragende<br />
Weise getragene Film nicht nur den Einwohnern<br />
Australiens: Die Hölle ist mitten unter uns. Da, wo<br />
wir alle wegsehen. Weil das bequemer ist.<br />
Sie sollten sich diesen Film keinesfalls entgehen<br />
lassen: Er könnte ihr Denken und Sehen tiefgreifender<br />
verändern, als sie jetzt ahnen...<br />
Andrasch Neunert<br />
SAO PAULO –<br />
NACHT DER GEWALT<br />
USA 2006<br />
R: Eric Eason<br />
3L Homevideo<br />
88 min., FSK: 16<br />
In einem Nachtclub mitten in<br />
Sao Paulo wird ein russischer<br />
Drogenkurier erschossen und<br />
hinterlässt einen Koffer voller<br />
Kokain. Nachtclubbesitzer Rosso und sein Sohn<br />
Paul wittern das große Geschäft und wollen mit<br />
dem Verkauf der Drogen in ein neues Leben starten.<br />
Dummerweise haben die beiden völlig unterschiedliche<br />
Absichten und so entwickelt sich der der<br />
Deal zu einem Fiasko. „Sao Paulo“ ist ein düsterer<br />
Cocktail aus Drogen, Sex und Gewalt. Eric Eason<br />
hat den Film so dicht inszeniert, dass man zuweilen<br />
Blut, Schweiß und Schmauch zu riechen glaubt.<br />
Das Moloch Sao Paulo bildet dafür die passend kaputte<br />
Kulisse. Zudem kaschieren Inszenierung und<br />
Setting manche Schwäche im Drehbuch. Die Story<br />
ist zwar nicht unlogisch, wirkt aber zuweilen etwas<br />
unschlüssig und zufällig. Ohne zu viel zu verraten:<br />
Nach dem großen High Noon rundet ein bittersüßes<br />
Ende die Geschichte passend ab. Überraschend:<br />
Brendan Fraser, bislang eher durch Weichspüler<br />
wie „Die Mumie“ oder „Die Reise zum Mittelpunkt<br />
der Erde“ auffällig geworden, spielt den brutalen und<br />
skrupellosen Paul Rosso richtig schön asozial überzeugend.<br />
JOBRY<br />
SWANS<br />
Edition Salzgeber<br />
R: Hugo Vieira Da Silva<br />
D/PT 2010, 120 min.,<br />
FSK 0, dt. OF<br />
Viel wird nicht gesprochen in<br />
diesem ambitionierten Drama.<br />
Nicht verbal. Vater und Sohn<br />
landen, aus ihrer langjährigen<br />
Heimat Portugal kommend, in Berlin, wo die Exfreundin<br />
des Vaters und Mutter des Halbwüchsigen<br />
im Koma liegt. In deren Wohnung treffen sie auf deren<br />
Freundin, eine ebenso rätselhafte wie geheimnisvolle<br />
asiatische Immigrantin.<br />
Doch Vater und Sohn verstummen nicht erst im An-
gesicht der Komapatientin an deren Krankenbett in<br />
der Intensivstation. Sie sind in ihrem Binnenverhältnis<br />
längst verstummt und durch die Situation überfordert.<br />
Das Schweigen zwischen ihnen ist Routine<br />
und atmet dennoch verdrängte Gefühle und unterdrückte<br />
Wut. Während der Sohn mehr und mehr<br />
versucht, hinter Masken versteckt zur Mutter körperlichen<br />
Kontakt mit ihrem komatösen Körper zu suchen,<br />
den er nach und nach bei seinen Besuchen<br />
entdeckt und seine Aggressionen ansonsten beim<br />
Skateboarden und bei Sprayeraktionen ausagiert,<br />
kann sein Vater die Erstarrung nicht lösen, ist unfähig<br />
zu trauern.<br />
Dieser Film ist eine leise Zumutung, seinen Protagonisten<br />
weit über Scham- und Schmerzgrenzen<br />
nahe. Er ist letztlich zu sehen als Studie über<br />
den Zusammenbruch aller Kommunikation und Bindungen,<br />
pessimistisch, kompromisslos, herausfordernd.<br />
In düsteren, sparsamen Farben zeichnet er<br />
das grausige Bild von Protagonisten im emotionalen<br />
Ausnahmezustand, deren Verstummen nach dem<br />
Zusammenbruch aller bindenden Strukturen normal<br />
ist, die das rätselhafte Angebot zu Kommunikation<br />
und Verarbeitung, verkörpert durch die Lebensfreude<br />
der vitalen Asiatin, nicht mehr erkennen können<br />
oder wollen. Das ist schwer zu ertragen, denn so<br />
schildert da Silva das neurotische Schweigen als eigentliche<br />
Norm einer sich und ihren Möglichkeiten<br />
komplett entfremdeten Gesellschaft.<br />
Am Ende sehen wir den Sohn auf der Couch neben<br />
seinem Vater sitzen, der vor der Glotze eingeschlafen<br />
ist, in der noch ein Tennismatch läuft. Wir hören<br />
nichts, als das Stöhnen der Spielerinnen. Lakonisch,<br />
wie er begann, geht dieser bittere Film auch<br />
zu Ende. Da wirkt das vergleichsweise fröhliche portugiesische<br />
Lied zum Abspann wie pure Ironie.<br />
Andrasch Neunert<br />
TIGER & DRAGON<br />
RELOADED<br />
Sunfilm Entertainment<br />
R: Clement Sze-Kit Cheng,<br />
Derek Kwok<br />
Hong Kong, 2009<br />
94 mon.<br />
Name-dropping galore:<br />
„Die Macher von Jon Woos<br />
„Red Cliff“, „Warlords“ und „House Of Flying Daggers“<br />
vereinen […] zum ersten Mal die größten<br />
Stars der goldenen Ära der Kung-Fu-Filme“. Das<br />
kann man nun so oder so sehen... Nicht diskutabel<br />
aber ist, dass „Reloaded“ nichts, aber wirklich<br />
gar nichts mit Ang Lee’s mehrfach preisgekrönter<br />
(4 Oskars, 2 Golden Globes) Romanverfilmung von<br />
2000 zu tun hat, die ein mythisches Heldenepos von<br />
Ruhm und Ehre um die Geschicke eines legendären<br />
grünen Schwertes gesponnen hatte. Nichts davon<br />
in „Reloaded“. Der unentschlossen zwischen<br />
Klamauk und Kampfkunst-Action dümpelnde Streifen<br />
kann wahrlich keinen Anspruch auf das noble<br />
Genre Wǔxiá („ritterliche Kampfkunst“) erheben.<br />
Nachdem er über 30 Jahre im Koma gelegen hat,<br />
erlangt der Kung-Fu-Meister Law während eines<br />
Überfalls in einer üblen Slapstick-Szene wieder das<br />
Bewusstsein. Einen zufällig anwesenden hühnerbrüstigen<br />
Tollpatsch verwechselt er abwechselnd<br />
mit seinen ehemaligen Meisterschülern Tiger (Siu-<br />
Lung Leung; u. a.: Kung Fu Powerhouse, D-Day<br />
At Macao, The Dragon Lives Again, Ten Tigers Of<br />
Shaolin, Enter Three Dragons, Kung Fu Hustle) und<br />
Dragon (Kuan Tai Chen), die ihn und seine unterdes<br />
zum Teehaus gewordene Kampfkunstschule<br />
drei Dezennien lang bewacht haben. Natürlich gibt<br />
es auch einen rivalisierenden Meister und dessen<br />
Gang sowie ein alles entscheidendes Turnier, für<br />
das nun Jung und (ganz) Alt trainieren. Als Running<br />
Gag stinkt eine gepökelte Ente durch das Filmchen,<br />
dessen Niveau damit leider ganz gut beschrieben<br />
ist. Auch die immer noch beeindruckende Budo-<br />
Klasse eines Siu-Lung Leung bewahrt „Reloaded“<br />
nicht vor einem tief gesenkten Daumen.<br />
Klaus Reckert<br />
TIM UND STRUPPI –<br />
TIM UND DAS GEHEIMNIS<br />
UM DAS GOLDENE VLIES<br />
F, 1961<br />
Regie: Jean-Jacques Vierne<br />
Sunfilm Entertainment<br />
96 min., FSK: 6<br />
Während die Masse sich von<br />
dem derzeitigen Animationsfilm<br />
„Die Abenteuer von Tim & Struppi – Das Geheimnis<br />
der Einhorn“ blenden lässt, bei dem unter anderem<br />
– Achtung, Big-Names-Onanie! – Steven Spielberg,<br />
Peter Jackson und Harry Potter-Scorekomponist<br />
John Williams ihre Finger im Spiel hatten, kann sich<br />
der Freund „echter“ Filmkunst an dieser Neuauflage<br />
der herrlich uralten französischen Produktion erfreuen,<br />
die noch gänzlich ohne Special-Effects auskam<br />
(den rosa Rauch mal außen vor gelassen) und unter<br />
anderem in einer aufwändigen Special Collector’s<br />
Edition veröffentlicht wird, welche den Originalfilm<br />
in restaurierter Fassung auf DVD und Blu-ray in Full<br />
HD sowie ein mehrseitiges Filmbooklet im Comicstil<br />
enthält.<br />
Großartig auf die Handlung des Films einzugehen,<br />
wäre in etwa so, als müsse man eine Inhaltsangabe<br />
von „Dinner For One“ oder der Weihnachtsepisode<br />
der „Familie Heinz Becker“ vortragen, nämlich überflüssig.<br />
Richten wir den Fokus also auf das Wie. Zuerst<br />
fällt auf, dass die Produktion für damalige technische<br />
Gegebenheiten hervorragend gelungen ist<br />
– da gibt es weitaus erfolgreichere, größere Filme,<br />
die bei weitem nicht diesem Level entsprechen. Die<br />
Charaktere werden zudem wunderbar übertrieben<br />
und überzeichnet dargestellt, ganz egal, ob es Professor<br />
Bienlein (Georges Loriot), Kapitän Haddock<br />
(Georges Wilson) oder Tim (Jean-Pierre Talbot) ist.<br />
Jede Figur besticht durch ihre Echtheit.<br />
Das Angenehmste allerdings ist, dass nicht alles<br />
so glatt geleckt und perfekt ist, wie in den meisten<br />
modernen Streifen. Denn genau das ist es, was<br />
vielen modernen Kinder- und Familienfilmen fehlt:<br />
Eine schöne, spannende Geschichte zu sein, die<br />
so schön ist, weil sie einfach so ist, wie sie ist - unpoliert,<br />
ungeschönt, schrullig und vor allem nicht an<br />
den absatzorientierten Markt angepasst, stattdessen<br />
mit liebevollen Details ausgeschmückt, bei denen<br />
man teilweise an die Grenzen des Machbaren<br />
gegangen ist. Dieser Film hat es ins 50. Jahr seiner<br />
Existenz geschafft und geht nun also erneut über<br />
die Ladentheken. Da sind wir doch mal gespannt,<br />
ob man von dem eingangs genannten Pixelwahn<br />
im Jahre 2061 auch noch reden wird, oder ob er im<br />
audiovisuellen Fast-Food-Wahn nicht schon vor Anbruch<br />
des nächsten Jahrzehnts in der Bedeutungslosigkeit<br />
versumpft.<br />
Chris P<br />
DAS TRAURIGE LEBEN<br />
DER GLORIA S.<br />
Edition Salzgeber<br />
R: Christine Groß<br />
& Ute Schall<br />
D 2011. 75 min.,<br />
dt. OF, FSK 12<br />
„Kommt, wir kommen<br />
alle mal zusammen.<br />
Lasst alles raus.<br />
Alles Negative!“<br />
Die SchauspielerInnen-Truppe, die sich aus sehr<br />
unterschiedlichen Motiven am Thema des Deutschen<br />
RAF-Herbstes verhebt, ist ja an sich schon<br />
eine Schau. Schon bevor die minderbegabten, aber<br />
von sich überzeugten DarstellerInnen nach und<br />
nach, da gibt’s nämlich wenigstens ordentlich Kohle<br />
für, zu ProtagonistInnen einer Reality-TV-Doku werden,<br />
in der sie für die ahnungslose TV-Redaktion in<br />
der Staffage einer Plattenbauwohnung die Komparsen<br />
im Leben der vermeintlichen Ex-Terroristin und<br />
Hartz IV-Bezieherin geben, die einst angeblich zugunsten<br />
des politischen Kampfes ihre Tochter verließ,<br />
um deren Wiedereinzug sie sich jetzt angeblich<br />
bemüht. So entsteht, mit grimmigem Humor hautnah<br />
geschildert, ein Film im Film, eine beißend-komische<br />
Groteske zwischen Tabori und Fassbinder<br />
mit anarchistischem Witz satt.<br />
Selten sah ich zugleich den real existierenden pseudointellektuellen,<br />
von der eigenen behaupteten<br />
Großartigkeit besoffenen elitären Kunstbetrieb und<br />
den völlig hohlen, etablierten, gewissenlosen realen<br />
Kulturkommerz so genau karikiert. Dieser tolle<br />
Film hat alles, um schnell in der Nische derer zu verschwinden,<br />
die die Exponate aus ihren persönlichen<br />
schwarzen Löchern in muffigen Schubladen verstecken,<br />
um sich selbst ja nicht hinterfragen zu müssen:<br />
Er hinterfragt mit hinterfotziger Boshaftigkeit<br />
nämlich alles und jeden. Das mag einigen oder auch<br />
ziemlich vielen Angehörigen der Kulturszene so richtig<br />
wehtun... Dennoch oder grad deshalb - nie war<br />
deutsches AutorInnenkino so saukomisch: Ansehen!<br />
Andrasch Neunert<br />
TRUST<br />
Koch Media<br />
R: David Schwimmer<br />
(genau! Der aus „friends“.)<br />
USA, 2011<br />
101 min.<br />
FSK: 16<br />
2012 I #35 I videoThek<br />
Vorab: guter Film, der ein<br />
paar Tage im Gedächtnis<br />
bleibt, da mit sehr aufreibendem<br />
und leider auch aktuellem Thema besetzt:<br />
Ein 14-jähriges Mädchen lernt einen charmanten<br />
Chat-Partner in der großen Welt der sozialen Netzwerke<br />
kennen, der sich nach und nach als immer älter<br />
und älter outet. Als es dann auch noch zu einem<br />
Treffen zwischen den beiden kommt und er nochmalig<br />
eine Schippe älter als zuletzt preisgegeben<br />
67
68 videoThek I #35 I 2012<br />
ist, geht sie trotz großer Irritation und Enttäuschung<br />
mit ihm auf sein Hotelzimmer – und erlebt dort die<br />
Hölle. Sie verdrängt jedoch das Geschehene und<br />
steht zu ihrem Peiniger, bis zu dem Punkt, als Videos<br />
im Web auftauchen und der Konflikt mit ihren<br />
Freunden, dem Bruder und den Eltern – vor allem<br />
mit dem Vater – immer heftiger wird. Dessen Handeln<br />
kennt eh nur noch eines: Rache. Und hier sind<br />
wir auch schon bei der Problematik angelangt. Der<br />
Film ist einfach eine unverschämte Mogelpackung,<br />
der auf der DVD-Verpackung etwas ganz anderes<br />
vorgaukelt. Man stelle sich vor – und siehe das Cover:<br />
Ein Mädchen auf ein Kissen gebettet mit unglaublich<br />
zerbrechlich-traurigem Blick. Oben drüber<br />
der Vater Clive Owen – sichtlich aufgewühlt, verzweifelt,<br />
zu allem bereit... und - jetzt‘s kommts! - mit<br />
einer fetten Wumme in der Hand. Dazu Slogans wie<br />
„Die Spur führt ins Netz“, „Was ihre Familie jahrelang<br />
aufgebaut hat, hat ein Fremder in einem Moment<br />
gestohlen.“. Auf der Rückseite noch schlimmer:<br />
Zwei Szenenbilder, in denen eben jener Vater<br />
mit der Knarre einen Mann in die Fresse drischt und<br />
dazu noch einen auf dem Boden Liegenden verprügelt.<br />
Bei sieben Bildern eine gute Quote. Dazu<br />
Sätze wie „[...], scheint es nur noch einen Ausweg<br />
für ihn zu geben: Rache.“. Was denkt der geneigte<br />
Zuschauer? Genau. Hier kriegen wir einen Reißer<br />
im Stile von „96 Hours“ oder „Gesetz der Rache“,<br />
vielleicht sogar „Payback“! Aber mitnichten...<br />
ein ähnliches Symptom wie seinerzeit „Ghost Dog“:<br />
genialer - aber unbedingt nicht massen- oder gar<br />
mainstreamtauglicher – Film. Und damals sehr verstörend,<br />
dass er ruck-zuck ganz oben auf den Verleih-<br />
und Kaufcharts stand. Kurze einleuchtende Er-<br />
klärung meiner damaligen Videothekarin: das Cover.<br />
Darauf Forest Whitaker als Samurai samt Schwert,<br />
das er auch noch actionreich in Szene gesetzt<br />
schwingt. Lauter enttäuschte Kunden, die mit Kritik<br />
nicht sparten, als sie den Film zurückbrachten. Und<br />
warum? Weil die Erwartungshaltung durch eben jenes<br />
Cover mal ganz doll anders geschürt wurde als<br />
es letztendlich war. Das setzt den Film keineswegs<br />
herab, lässt aber auf schmerzhafte Weise die Dis-<br />
krepanz zwischen Cover und Inhalt spüren.<br />
Fazit: Ziemlich gelungener Film, schauspielerische<br />
Leistungen auf Anschlag, krasses aber wichtiges<br />
Thema über Missbrauch physischer wie auch psychischer<br />
Art, bleibt unangenehmerweise noch Tage<br />
später im Kopf... nur die Mogelpackung, die geht gar<br />
nicht. Da kommt zum unangenehmen Gefühl auch<br />
noch ein fader Beigeschmack der Verarsche. Die<br />
amerikanische Covergestaltung soll anscheinend<br />
nicht so mogeln. Aber hier in Deutschland... Geht<br />
nicht!<br />
Matthias Horn<br />
TWENTYNINE PALMS<br />
FRANKREICH 2004<br />
R: Bruno Dumont<br />
KonoKontrovers/Bavaria<br />
114 min.<br />
FSK: 18<br />
Der Fotograf David<br />
(David Wissak) und sein<br />
Modell Katia (Yekaterina Golubev) fahren durch die<br />
kalifornische Wüste. In diesem endlos leeren Land<br />
suchen sie einen Hintergrund für ihre Fotos. Sie<br />
streiten sich, sie versöhnen sich, sie haben Sex.<br />
Dann beginnt der Zyklus von vorne ... Ein irritierendes<br />
Meisterwerk von Bruno Dumont. Die Welt<br />
um das kleine Wüstenstädtchen Twentynine Palms<br />
ist feindlich: Wenn das Pärchen über die Straße<br />
geht, wird es bereits von vorüberfahrenden Rednecks<br />
beschimpft. Und tatsächlich scheinen der<br />
coole Fotograf und das filigrane Model im Kapuzen-<br />
Shirt so gar nicht in diese erstarrte Umgebung zu<br />
passen. Doch meist sind die Straßen menschenleer<br />
und niemand stört sich daran. Neben dem Nichts<br />
steht der Untergang: Immer wieder taucht ein mysteriöser<br />
Van auf. In der Einsamkeit der Wüste wird<br />
jedes Wesen unvermittelt zum potenziellen Feind,<br />
und so mündet die Bedrohung in einem Inferno der<br />
Angst. (Info nach DVD FORUM) – Schon ein merkwürdiger<br />
Streifen, den uns Bruno Dumont („The Life<br />
Of Jesus“) da auftischt. Bei der Beobachtung des<br />
Pärchens, welches entweder streitend oder Liebe<br />
machend durch den Plot mäandert, kommt nach einer<br />
guten Stunde reichlich Langeweile auf; nun gut,<br />
man kann hier, wie einst ein Feuilletonist der FAZ,<br />
argumentieren, diese - nennen wir es: „Sperrigkeit“<br />
sei notwendig, um darzustellen, dass menschlicher<br />
Gewalt und Leidenschaft etwas quälend Unausweichliches<br />
innewohnt“; aber es bleibt dabei: „29<br />
Palms“ ist nichts für Ungeduldige. Ist man dann irgendwann<br />
mehr oder weniger entnervt kurz davor,<br />
den Film abzuschalten, bleibt einem in der letzten<br />
Viertelstunde vor allem aufgrund der Darstellung exzessiver<br />
Gewalt beinahe der Atem stehen. Ist das<br />
hier ein guter Film? Keine Ahnung, „kontrovers“ aber<br />
allemal. Und wer die 114 Minuten durchhält, der<br />
steht erstmal nicht einfach auf, kocht sich einen Kaffee<br />
und geht zur Tagesordnung über – dafür würde<br />
ich mich verbürgen.<br />
Sven<br />
UNMORALISCHE<br />
GESCHICHTEN<br />
FRANKREICH 1974<br />
R: Walerian Borowczyk<br />
Bildstörung<br />
99 min.<br />
FSK: 18<br />
Vier Episoden, vier Epochen,<br />
vier sexuelle Spielarten: in<br />
UNMORALISCHE GESCHICHTEN, seinem größten<br />
Filmerfolg, lässt Walerian Borowczyk (LA BÊTE<br />
– Die Bestie) seinen erotischen Phantasien freien<br />
Lauf. Mit gewohnt fetischistischem Blick für erotische<br />
Details erzählt er diesmal Geschichten über<br />
Fellatio, die verführerische Anziehungskraft von Gemüse,<br />
den Reiz jungfräulichen Blutes und von inzestuösen<br />
Ausschweifungen im Vatikan – vier Episoden,<br />
in denen jede Geste, jeder Gegenstand – ein<br />
Mund, ein Finger, eine Perle – vor erotischer Aufladung<br />
Funken sprühen … Nach 25 Jahren auf dem<br />
Index wird Borowczyks legendärer erotischer Vignettenfilm,<br />
der 1974 mit dem Prix de l‘Âge d‘Or<br />
ausgezeichnet wurde und im selben Jahr als zweiterfolgreichster<br />
Film in den französischen Kinos lief,<br />
nun wieder ungekürzt in Deutschland veröffentlicht.<br />
(Inhalt, gekürzt, nach CINEFACTS.DE) – Schonmal<br />
über den Unterschied zwischen Pornographie<br />
und Erotik sinniert? Oder sich gefragt, was genau<br />
„Erotik“ eigentlich ausmacht? Vielleicht kann man<br />
sich dem Thema nach dem Betrachten von „Unmoralische<br />
Geschichten“ besser annähern, denn Walerian<br />
Borowczyk hat in diesem, aus vier Episoden<br />
bestehenden Film, unter Beweis gestellt, dass man<br />
hocherotisches Kino ohne Schmuddelimage machen<br />
kann. Zwar sind die eben erwähnten vier Teile<br />
von sehr unterschiedlicher Qualität, aber die Leichtigkeit,<br />
die über den Filmen schwebt, sucht ihresgleichen<br />
– nicht einmal der Regisseur selbst, der später<br />
auch für „Softpornos“ á la „Emmanuelle V“ verantwortlich<br />
zeichnen sollte, hat sie konservieren können.<br />
Freilich kann uns das, was 1974 „provokant“<br />
war, heute nur noch ein Lächeln abringen, dennoch<br />
ist „Unmoralische Geschichten“ ein Highlight des<br />
erotischen [sic!] Films – vielleicht auch deshalb, weil<br />
es so wenige davon gibt.<br />
Sven<br />
VIRIDIANA<br />
Mexiko/Spanien, 1961<br />
R: Luis Buñuel<br />
Pierrot Le Fou<br />
90 min., FSK: 12<br />
Der verwitwete Don Jaime<br />
lebt auf seinem Landgut,<br />
eines Tages beschließt<br />
seine Nichte Viridiana, eine<br />
junge Novizin, ihn zu besuchen, und ihm gefriert<br />
beim ersten Anblick fast das Blut in den Adern, denn<br />
ihre Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Frau ist<br />
frappierend. Sehr schnell realisiert Viridiana, dass er<br />
in ihr einen Ersatz für die Gattin sieht, zumal er ihr<br />
mehrfach Avancen macht. Sie lehnt ihn ab und verlässt<br />
ihn; und das treibt Don Jaime zum Suizid.<br />
Sie ist fortan voller Schuldgefühle, die sie zu kompensieren<br />
versucht - und so verlässt sie das Kloster<br />
und nutzt das geerbte Landgut dafür, um Kranke,<br />
Landstreicher und Arme einzuladen und für sie zu<br />
sorgen. Ihre Selbstlosigkeit wird gnadenlos ausgenutzt<br />
und alles endet in katastrophalen Zuständen,<br />
die die Existenz bedrohen. Szenarien von Sex und<br />
Gewalt – im Film meist symbolisch dargestellt – zeigen<br />
tiefe menschliche Abgründe auf und so „ganz<br />
nebenbei“ versucht Don Jaime’s verhasster Sohn<br />
Jorge, Modernisierungen anzubringen.<br />
Dieser vor fünf Dekaden produzierte Schwarzweiß-<br />
Streifen wurde seinerzeit nicht umsonst in einigen<br />
Ländern verboten, denn in seiner Radikalität, in seiner<br />
subtilen und doch gnadenlos direkt die Doppelmoral<br />
der ach so christlichen Katholiken und die<br />
Regierung kritisierenden, ja entlarvenden Art und<br />
durch die Tabubrüche fiel er mit der Tür regelrecht<br />
ins Haus, und das war in der „heilen Welt“ der Sechziger<br />
vielerorts nicht erwünscht. Der Regisseur und<br />
Atheist Luis Buñuel legte den Finger tief in die Wunde<br />
und die Neuauflage, die rund eine halbe Stunde<br />
Bonusmaterial beinhaltet, streut noch einmal Salz<br />
in dieselbe. „Viridiana“ ist, ganz plump gesagt, ein<br />
wertvoller Film, den man gesehen haben sollte, gerade<br />
wenn man der Kirche kritisch gegenübersteht.<br />
Chris P<br />
THE WALKING DEAD<br />
STAFFEL 1<br />
WVG Medien GmbH<br />
R: Frank Darabont<br />
USA, 2010<br />
ca. 400 min.<br />
FSK: 18<br />
Angucken!
Darüber muss man kein Wort mehr verlieren. Ein<br />
absolutes Meisterwerk! Die ebenso meisterhafte<br />
Comic-Serie übergenial verfilmt. Absolute Erfrischung<br />
im Horror-Genre, Abteilung Endzeit, Untergruppierung<br />
Zombie. Technik: super. Atmosphäre:<br />
super. Spannung: super. Umsetzung: super. Schauspielerische<br />
Leistungen: superer. Gott sei Dank hat<br />
das lange Warten über Weihnachten und Neujahr<br />
jetzt dann ein Ende! Die zweite Season geht endlich<br />
endlich weiter und hat doppelt so viele Folgen wie<br />
die Pilot-Test-Season 1! Und die letzte Folge vor der<br />
Pause endete mit einem Millenium-Knall. Oh yes!<br />
Keine weiteren Worte notwendig. Fuckin‘ A+++!<br />
Matthias Horn<br />
WAR REQUIEM<br />
Edition Salzgeber<br />
R: Derek Jarman<br />
Musik: Benjamin Britten<br />
GB 1989, Engl. OF/Dt. UT,<br />
FSK 16<br />
Benjamin Britten widmete den<br />
Opfern der beiden Weltkriege<br />
sein War Requiem. Eine von<br />
ihm selbst dirigierte Version aus dem Jahr 1963 bildet<br />
den Background für diese Verfilmung des Oratoriums<br />
in erlesen-kitschigen Bildern, wie wir es von<br />
Jarman gewohnt sind. Wobei der Hinweis erlaubt<br />
sein muss, dass es aus Anlass des Falklandkrieges<br />
eine weit besser gelungene Einspielung unter Sir<br />
Simon Rattle gab, just by the way. Der pathetische<br />
Kostümfilm zeigt das Leid der Kriege nicht wirklich.<br />
Stattdessen regiert selbstverliebte Opulenz, Monstrosität,<br />
ein wenig schwule Soldatensinnlichkeit,<br />
immerhin erlebt man einen letzten Auftritt von Sir<br />
Laurence Olivier. Jarman schwelgt in seinen Stilisierungen,<br />
statt den Krieg unverfälscht zu zeigen.<br />
Ich empfehle ein anderes Vorgehen: Besorgen Sie<br />
sich eine radikal-kompromisslose Kriegsdoku mit<br />
Bildern aus Vietnam, Afghanistan, den Weltkriegen,<br />
dem Irak, Tschetschenien, Bildern aus Lagern, von<br />
Gefangenen und spielen Sie dazu diese herzzerreißende<br />
Musik.<br />
Sollten Sie freilich auch die anderen Werke Jarmans<br />
und seinen speziellen Stil mögen, dann greifen Sie<br />
hier ohne Bedenken zu.<br />
Wer mit Jarman beginnen will, der sollte freilich dafür<br />
Derek Jarman’s Film Sebastiane und in Sachen<br />
Klassikverfilmung Ken Russel’s Tchaikovsky - Genie<br />
und Wahnsinn vorziehen.<br />
Andrasch Neunert<br />
WERWÖLFE<br />
Als Werwolf-Fan hat man es heutzutage nicht einfach.,<br />
stolpert man doch über ziemlich viel Dünnes,<br />
sucht man im Genre heutzutage nach guten Filmen.<br />
Wobei... Fan. Eher eine Hass-Liebe. Von all den<br />
Filmmonstern sind mir die Menschwölfe am liebsten,<br />
gleichzeitig fürchte ich mich vor ihnen auch<br />
so dermaßen, dass ich sicherlich sofort tot umfallen<br />
würde, wäre ich bei Vollmond auf einem weiten<br />
Acker, dessen Ende man nicht erkennen kann, und<br />
dessen tiefe Furchen groteske Schatten werfen. Irgendwo<br />
steht ein kahler Baum, der mit dicken Wolken<br />
behangene Himmel lässt jedoch immer genug<br />
Platz für den Mond, damit dieser alles in sein Unglück<br />
verheißendes Licht tauchen kann. Und irgendwo<br />
in der Ferne hört man Geheul. Oder zumindest<br />
verrückt werden. Würde ich. Sicherlich. Alle anderen<br />
Monsterchen sind wirklich nur Monsterchen. Bis<br />
auf dieses possierlichen Burschen eben... Und was<br />
man da alles an Psychologie hineininterpretieren<br />
könnte... aber genug, jetzt nicht Thema.<br />
Bester Film ist und bleibt „An American Werewolf in<br />
London“, dann noch in loser Reihenfolge auch definitiv<br />
nicht verkehrt, ohne Gewähr für Vollständigkeit:<br />
„The Howling“, „Dog Soldiers“, „Ginger Snaps“, „Bad<br />
Moon“ und „Silver Bullit – Der Werwolf von Tarker<br />
Mills“. „Van Helsing“ war nur wegen der reißenden<br />
alles platt machenden Bestien angenehm, ähnlich<br />
einzwei Szenen aus der „Underground“-Reihe. Die<br />
Neuverfilmung von „Wolf Man“ oder „Wolf“ mit dem<br />
ollen Nicholson gingen auch noch klar ... ansonsten<br />
wird es finster. Und das trotz Vollmond.<br />
BLUE MOON –<br />
ALS WERWOLF<br />
GEBOREN<br />
Sunfilm<br />
R: JoeNimziki<br />
USA, 2011<br />
ca. 92 min.<br />
FSK: ab 12 beantragt<br />
Okay. Ein Remake. Mal<br />
wieder. Von „The Howling“?<br />
Der war ja nicht gerade<br />
von schlechtesten Eltern, siehe oben. Notwendig?<br />
In den Zeiten des Remake-Wahns wohl schon.<br />
Aber letztendlich hat „Blue Moon“ mit seinem Remake-Opfer<br />
nicht allzu viel zu tun, bis auf das mit<br />
den Werwölfen eben. Er darf eher als Fortsetzung<br />
der „Howling“-Reihe gesehen werden, dessen Vertreter<br />
ja auch mehr oder minder lose miteinander<br />
verknüpft sind. Also, dann „Howling“ Nummero sieben...?<br />
Let‘s go.<br />
Die Story: Ein schüchterner „graues kleines Küken<br />
und Nerd“-Typ steht kurz vor dem Highschool-<br />
Abschluss und traut sich nicht, seinen großen<br />
Schwarm anzusprechen. Dazu von Haus aus eh<br />
schon mal traumatisiert, da er in ganz jungen Jahren<br />
unter mysteriösen Umständen seine Mutter verlor.<br />
Bei einer Party kommt er seiner Angebeteten tatsächlich<br />
näher, plötzlich geht das Licht aus... und<br />
alle Anwesenden werden von etwas Unbekanntem<br />
angegriffen. Gerade noch mal so mit dem Schrecken<br />
davongekommen spürt Will – unser Küken –<br />
jedoch kurze Zeit später, dass sich sein Körper innen<br />
wie außen seltsam verändert. Irgendetwas<br />
stimmt ganz und gar nicht mehr. Die Werwölfe indes<br />
haben seine Witterung schon aufgenommen...<br />
So weit so gut.<br />
Abschreckend waren nur solch Info-Hinweise wie<br />
„Ein Muss für alle Fans der Twilight-Trilogie“ oder<br />
„[...] vermischt gekonnt ein spannendes Werwolf-<br />
Abenteuer mit einer romantischen Liebesgeschichte<br />
zwischen zwei Teenagern“.<br />
Aber alles gar nicht so schlimm! Der Romanzenpegel<br />
hält sich auf ertragbarem Niveau, hingegen<br />
ist die Coming-Of-Age-Komponente (weitaus wichtiger!)<br />
erstaunlich präsent. Dazu noch ein paar ge-<br />
lungene spannende Momente und der Film darf<br />
durchaus als gut durchgehen! So einfach ist das!<br />
Und tat nicht mal weh. Kurzweilig, die schauspielerischen<br />
Leistungen sehr ordentlich und auch die<br />
Story keineswegs schlecht!<br />
Was lediglich noch gegen dieses Fazit aufbegehren<br />
könnte: der Film ist ab 12 beantragt, lag jedoch in<br />
der „nicht endgültigen 12er-Fassung“ vor. Es bleibt<br />
nur zu hoffen, dass die große böse Schere ihn nicht<br />
nachträglich noch so zu krass verstümmelt und zu<br />
immense Löcher in den Handlungsverlauf reißt … –<br />
alles schon mal erlebt. Leider. Also: unter Vorbehalt<br />
empfehlenswert. Ohne Schere: sehr, mit Schere: …<br />
we‘ll see.<br />
DIE NACHT DER WÖLFE<br />
Sunfilm<br />
R: Philippe Gagnon<br />
Kanada, 2010<br />
ca. 88 min.<br />
FSK: ab 12<br />
2012 I #35 I videoThek<br />
Toll, gleich zwei Werwolf-<br />
Filme zur Sichtung!<br />
Hat ja mit „Blue Moon“<br />
einen guten Einstand<br />
gefunden, man darf gespannt<br />
sein. Auch der Inhalt liest sich sehr nach<br />
Heisa! - Im Jahre 1665 in Quebec flieht der Betrüger<br />
und Schwerenöter Joseph vor dem Galgen in<br />
die Lordschaft de Beaufort und nimmt die Identität<br />
eines ermordeten Priesters an. Jener war jedoch ein<br />
berühmter Werwolfjäger, dementsprechend herzig<br />
wird er in einem Dorf empfangen. Denn irgendwas<br />
stimmt in diesen Breitengraden nicht … nachts ver-<br />
69
70 videoThek I #35 I 2012<br />
nimmt man entferntes Heulen, einige Dorfbewohner sind verschwunden,<br />
zudem ist auch noch Josephs Liebste in Gefahr...<br />
Klingt schon mal sehr gut! Lediglich und wiederum stutzig machen<br />
so Infos wie „Werwolf-Horror“ im gleichen Atemzug genannt<br />
mit „ab 12“ (beißt sich ja schon ein bisschen, haha!)<br />
und „Das Werwolf-Abenteuer im Stile von „Pakt der Wölfe“<br />
wurde als Highlight auf dem Fantasy Film Fest 2011 gefeiert.“<br />
- Hmmmm, mittlerweile habe ich schon verdammt viele Filme<br />
kennengelernt, die als „Highlight auf dem FFF 2011“ gefeiert<br />
wurden... ein ganzes Festival voller Highlights? Ist zwar definitiv<br />
eines von den Guten, aber „schön wär‘s“. Und mit „im<br />
Stile von ...“ lehnen sich die Infoschreiber ganz schön verdammt<br />
weit aus dem Fenster. Das wird natürlich gecheckt!<br />
Anfangs ist die Wolfsnacht sehr stimmig, spannungsreich,<br />
auch in der Einführung der Charaktere zeigt sie durchaus Potential.<br />
Zudem gibt es ein paar Male gut platzierte Situationskomik<br />
und die Synchro stimmt in ihrer Besetzung – bis hierhin<br />
passt alles. Dann jedoch, kurz vor Beginn des Showdowns,<br />
geht alles nur noch sehr schnell. Zu schnell. „Ähm? War das<br />
nicht gerade noch das Einläuten zum Finale? Und jetzt schon<br />
aus? Was zur Hölle...?“<br />
Und ruckzuck fallen Story und Stimmung leider in sich zusammen.<br />
Quasi auf der Zielgerade schlapp gemacht. Schade.<br />
Dennoch gibt es in der Wolfsnacht streckenweise diebische<br />
Spaßmomente!<br />
Zum Abschluss noch kurz was zum „Pakt der Wölfe“-Vergleich.<br />
Einzig Zeit, Schauplatz und eventuell noch die Kostüme<br />
lassen sich mit diesem Genre-Meilenstein vergleichen.<br />
Aber der Rest: Bitte was? Da wir doch wohl jemand nicht ein<br />
Mogelpäckchen wie bei „Trust“ schnüren wollen? Ne ne ne.<br />
Matthias Horn<br />
ZEITSCHLEIFEN –<br />
IM DIALOG MIT CHRISTA WOLF<br />
Edition Salzgeber<br />
R: Daniela Dahn/ Karlheinz Mund<br />
D 1990/91 FSK 0, dt. OF, 101 min.<br />
Mahnende Worte zum Zeitpunkt<br />
schwarz-rot-goldener Glückseligkeit<br />
stehen am Beginn dieses neu editierten<br />
Films der DEFA aus den Jahren<br />
1990/91. Worte, die gerade nachdenkliche Frauen wie Bärbel<br />
Bohley oder Christa Wolf gegen die Vereinigungshysterie<br />
richteten, in der sie schon deutlich die Brüche, ja, den Zusammenbruch<br />
der Bewegungen und Netzwerke erkannten, die<br />
den Volksaufstand erst hervorgebracht hatten.<br />
„Keineswegs leichter erträgt man die Folgen von Fehlentwicklungen,<br />
wenn man selbst vor ihnen gewarnt hat. Unglückliches<br />
Bewusstsein ist ja nicht falsches Bewusstsein.<br />
Und um keinen Deut fröhlicher wird dieses<br />
Bewusstsein von Unglück bei den ewigen<br />
Minderheiten, wenn zugleich daneben die<br />
Massen in einem glücklichen Bewusstsein<br />
schwelgen“:<br />
Hilflos muss Christa Wolf mit anschauen,<br />
wie die fragilen Strukturen des Widerstands<br />
in der DDR von der Einheitsbesoffenheit<br />
der Masse überrollt wurden. Das<br />
Verschwinden der Utopien nach der Kapitulation<br />
der Funktionärsdiktatur, die große<br />
Leere der Widerständigen nach dem ihnen<br />
geklauten Sieg: Der Sozialismus ist tot, auch als Alternative komplett diskreditiert, seine humane<br />
demokratische Verwirklichung kann nicht mehr probiert werden, die Runden Tische des Aufbruchs<br />
weichen den Bankettbarrikaden, hinter denen die Aufkäufer aus dem Westen ihre Schnäppchen<br />
mit Champagner begießen.<br />
Christa Wolf, lange Zeit Stachel im Fleisch der DDR, reflektiert hier tastend, klug und genau zu<br />
Ausschnitten aus kontemporären Dokumentationen und Rückblenden ihre eigene Rolle im Widerstand,<br />
ihre Reaktionen auf Kritik, Verleumdung, Verrat, Verbot. Und macht ebenso klar, dass<br />
sie auch dem neuen D-Mark-Establishment kritisch gegenüber steht, auch wenn sie zwischen Polithaft<br />
à la Bautzen und offener Diskursmöglichkeit sehr wohl zu unterscheiden weiß. Und viele<br />
dieser zeitlos gültigen Einsichten hat sie schon sehr früh gewonnen: „Aber auch die Fähigkeit, in<br />
einem Rausch zu leben, ist Dir abgegangen. Die heftigen, sich überschlagenden Worte, die geschwungenen<br />
Fahnen, die überlauten Lieder, die hoch über unseren Köpfen im Takt klatschenden<br />
Hände. Sie hat gefühlt, wie sich die Worte zu verwandeln beginnen. Wenn nicht mehr guter Glaube<br />
und Ungeschick und Übereifer sie hervorschleudern, sondern Berechnung, Schläue, Anpassungstrieb“<br />
(Aus „Nachdenken über Christa T“, 1968).<br />
Dieser wichtige, lehrreiche Dokumentarfilm bietet uns weit mehr, als halt Gespräche mit einer<br />
wichtigen Autorin. Er trägt uns mitten hinein in Aufbruch und Volkserhebung, ist ein Stück lebendiger,<br />
authentischer Zeitgeschichte jenseits der Deutungshoheit sogenannter Eliten, er ist beste<br />
deutsch-deutsche Geschichte von unten.<br />
„Der Umkreis der Zerstörung um einen Schreibenden: Wie oft habe ich ihn beobachtet, wie oft gefürchtet.“<br />
Christa Wolf ist schonungslos - auch sich selbst gegenüber, in ihrem Ringen um unangepasste<br />
Wahrhaftigkeit, das erst mit ihrem Tode ein Ende fand und hier zeitlos weiterlebt.<br />
Andrasch Neunert