Geheimnisvoller Osten
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PHILIPP WEISS<br />
1971 Philipp Weiss wird in München<br />
geboren.<br />
1980 Erster Klavierunterricht, vier Jahre<br />
später Schlagzeuger einer Schülerband.<br />
1997 Der Klaviervirtuose schreibt<br />
sich für ein Gesangsstudium am Richard<br />
Strauss Konservatorium ein.<br />
2001 Nach dem Abschluss seines Studiums<br />
tritt er immer öfter mit seiner eigenen<br />
Band in Clubs wie der „Unterfahrt“<br />
auf.<br />
2002 Gewinner des „Jazz Song Expo<br />
Award“. Masterclasses mit Mark Murphy<br />
in New York.<br />
2003 Erster Plattenvertrag mit Liquid<br />
Loop, „Münchens spannendster Newcomergruppe“<br />
(SZ), auf deren aktuellem<br />
Album „Reset“ er auch zu hören ist.<br />
2005 Das Majordebüt „You Must<br />
Believe In Spring“, eingespielt mit dem<br />
Pianisten Steve Kuhn und hervorragenden<br />
Gästen, erscheint bei Universal.<br />
Philipp Weiss wird 1971 in eine musikalische<br />
Familie in München geboren.<br />
Nach einigen Jahren klassischem<br />
Klavierunterricht, Ausflügen als Xylophonist<br />
der Orff-Truppe seiner Schule<br />
und als Rockstar in einer Schülerband,<br />
schreibt er sich 1991 für ein<br />
Gesangsstudium am Richard Strauss<br />
Konservatorium ein. Parallel ist „die<br />
Entdeckung der Saison“ („SZ“) auch<br />
immer öfter mit dem eigenen Quartett<br />
zu erleben. 2003 nimmt Weiss<br />
sein erstes Album mit Liquid Loop<br />
auf. Mark Murphy, neben dem frühen<br />
Al Jarreau und dem späten Tony<br />
Bennett eine der großen gesanglichen<br />
Inspirationen für Philipp Weiss,<br />
stellt die Verbindung zum Pianisten<br />
Steve Kuhn her, die jetzt zu Philipp<br />
Weiss’ Majordebüt „You Must Believe<br />
In Spring“ führte. An einem Sommernachmittag<br />
des letzten Jahres aufgenommen<br />
in New York, mit Kuhn und<br />
seinem Trio, sowie Gästen wie dem<br />
Trompeter Lew Soloff, dem Saxophonisten<br />
Eric Alexander und Tim Bolden<br />
am Flügelhorn, singt Philipp Weiss<br />
darauf zehn Standards und eine viel<br />
versprechende Eigenkomposition.<br />
MARK MURPHY<br />
1932 Am 14. März wird Mark Murphy<br />
in Fulton, New York, geboren.<br />
1956 „Meet Mark Murphy“, das Debütalbum<br />
des von Kollegen wie Ella Fitzgerald<br />
und Sammy Davis Jr. protegierten<br />
Gesangstalents, erscheint bei Decca.<br />
1962 Das Album „RAH“, unter anderen<br />
mit Wynton Kelly, Bill Evans, Clark<br />
Terry, Blue Mitchell und Jimmy Cobb,<br />
erscheint bei Riverside.<br />
1963 Murphy zieht nach London und<br />
arbeitet dort nicht nur als Sänger, sondern<br />
auch als Schauspieler.<br />
1967 Sein inzwischen legendäres<br />
Album „Midnight Mood“ mit Ronnie<br />
Scott, Sahib Shihab, Francy Boland,<br />
Jimmy Woode, Kenny Clarke und anderen<br />
erscheint bei MPS.<br />
1973 Zurück in den USA, beginnt er<br />
eine lange und fruchtbare Zusammenarbeit<br />
mit dem Muse-Label, für das er<br />
Alben mit Viva Brasil, David Sanborn,<br />
den Brecker Brothers und anderen aufnimmt.<br />
2003 Zum fünften Mal in sieben Jahren<br />
wird Mark Murphy im „Down Beat<br />
Readers Poll“ zum „Best Male Jazz Singer<br />
Of The Year“ gewählt.<br />
2005 Das von Till Brönner produzierte<br />
Album „Once To Every Heart“ erscheint<br />
bei Verve.<br />
Sammy Davis Jr. war der erste einflussreiche<br />
Murphy-Fan, der den 1932 in<br />
Fulton, New York, geborenen Jazzsänger<br />
berühmt machen wollte. Auch<br />
wenn es nach seinem ersten Produzenten<br />
gegangen wäre, hätte „The<br />
Singing M“ schon vor fast fünfzig Jahren<br />
Frank Sinatra Konkurrenz gemacht.<br />
Ella Fitzgerald nannte ihn „ihresgleichen“<br />
und auch Kollegen wie Betty<br />
Carter, Peggy Lee, Shirley Horn, Sheila<br />
Jordan, Stan Kenton, Liza Minelli,<br />
Cannonball Adderley, Kurt Elling,<br />
Jamie Cullum und nicht zuletzt Till<br />
Brönner loben ihn in höchsten Tönen.<br />
Der 73-Jährige, der 2003 zum fünften<br />
Mal in zehn Jahren den „Down Beat<br />
Readers Poll“ als bester „Male Jazz<br />
Vocalist“ gewonnen hat, wurde bisher<br />
sechsmal für den Grammy nominiert.<br />
Er hat zig eigene Alben mit Ikonen wie<br />
Bill Evans, Clark Terry, Al Cohn, Ron<br />
Carter, den Brecker Brothers oder Tom<br />
Harrell aufgenommen. In den letzten<br />
Jahren war der umtriebige Vokalist u.a.<br />
auf Produktionen von U.F.O., 4hero<br />
und Till Brönner zu hören. Seine Texte<br />
zu „Stolen Moments“ oder „<br />
Cantaloupe Island“ sind legendär und<br />
sein Einfluss in fast allen modernen<br />
Jazzstimmen zu hören. Mit seinem<br />
neuen Album „Once To Every Heart“<br />
könnte Mark Murphy noch erfolgreicher<br />
als hip werden.<br />
Gipfeltreffen auf der Dachterrasse: PHILIPP WEISS und MARK MURPHY<br />
Ausgabe 3 Jahrgang 8<br />
Mut und Möglichkeiten<br />
Kurz bevor MARK MURPHY sein neues Album „Once To Every Heart“ mit Till Brönner aufgenommen hat,<br />
schrieb er die lobendsten Worte in einen Begleittext zu „You Must Believe In Spring“, dem neuen Album seines Schülers<br />
PHILIPP WEISS. In Berlin unterhielten sich die beiden über Miles, Picasso, Till Brönner, Inspiration und Ekstase.<br />
JazzEcho: Wo habt ihr euch kennen<br />
gelernt?<br />
Philipp Weiss: Das war vor ein paar<br />
Jahren in New York. Ich rief Mark an, um<br />
ihn um Rat zu bitten.<br />
Mark Murphy: Habe ich dir einen gegeben?<br />
Weiss: Ja, obwohl du nicht besonders<br />
gesprächig warst.<br />
Murphy: War das nicht kurz nach dem<br />
11. September? Ich erinnere mich noch,<br />
wie ich am frühen Nachmittag über einen<br />
menschenleeren Times Square ging. Ein<br />
unheimliches Gefühl.<br />
Weiss: Der Rat, den du mir an dem Tag<br />
gegeben hast, war: „Singe, wie Miles<br />
Davis spielt.“ Das war mir sehr wichtig,<br />
und von da an fing ich an, Miles mit anderen<br />
Ohren zu hören.<br />
Murphy: Miles spielt die Worte. Genau<br />
wie Till Brönner auch. Auf meinem neuen<br />
Album singe ich eine Zeile und dann<br />
kommt Till und führt sie fort. Und dabei<br />
spricht er die Worte mit seiner Trompete.<br />
Denn Till, da er ja auch Sänger ist, kennt<br />
eben die Texte. Ich kann es selbst kaum<br />
glauben, dass ich auf „Do Nothing Till<br />
You Hear From Me“ das Klavier spiele. Ich<br />
war so glücklich, als ich das hörte, und vor<br />
allem, dass sie den Bass und diese vierzig<br />
Streicher dazu aufgenommen haben. Ich<br />
habe mich nie als Pianisten gesehen, aber<br />
ich muss sagen, dass ich sehr stolz auf diesen<br />
Track bin.<br />
JazzEcho: Till ist ja ziemlich wichtig für<br />
eure beiden aktuellen Alben. Wie wichtig<br />
war er speziell für deines, Mark?<br />
Murphy: Schwer zu sagen. Ich war vor<br />
einigen Jahren mit Till im Studio und<br />
nahm einen alten Song von mir auf, „Dim<br />
The Lights“. Er schubste mich da rein<br />
und ließ ihn mich in einem völlig anderen<br />
Tempo singen. Aber es gefiel mir. Als<br />
ich zu ihm ins Studio kam, behandelte er<br />
mich wie einen König. Und davon kann<br />
ich mehr vertragen. Es war klar, dass ich<br />
mehr mit ihm machen wollte. Irgendwann<br />
holte ich einige meiner Songs und<br />
Arrangements aus dem Keller …<br />
Weiss: Wo er tausende von Noten liegen<br />
hat …<br />
Murphy: Ich habe da ganz schön aufgeräumt,<br />
inzwischen. Naja, auf jeden Fall<br />
brachte ich diese Noten mit und wir nahmen<br />
das Album auf. Allein schon, weil ich<br />
Tills Spiel so mag und seine Art mit Musik<br />
umzugehen, würde ich vielleicht sagen,<br />
dass ich es war, der ihn dazu gebracht hat,<br />
dieses Album mit mir aufzunehmen. Wir<br />
haben es dann sehr einfach und schnell<br />
gemacht. Vielleicht wurden hier und<br />
da ein paar Harmonien besprochen<br />
und Till hatte, glaube<br />
ich, auch einige Noten. Aber<br />
komplette Arrangements<br />
gibt es bis heute nicht.<br />
Wenn wir übermorgen ein Konzert geben<br />
sollten, müssten wir die Arrangements erst<br />
herausschreiben. Und die Texte für mich,<br />
weil ich mir echt keine Songtexte mehr<br />
merken kann. Wer mich für seinen nächsten<br />
Film haben will, sollte schon mal die<br />
großen Texttafeln vorbereiten. Bei Marlon<br />
Brando ging das schließlich auch.<br />
JazzEcho: Er hatte gegen Ende sogar<br />
einen Kopfhörer im Ohr, über den ihm<br />
der Text souffliert wurde, heißt es.<br />
Murphy: Dann gibt es Hoffnung für<br />
mich! Mann, Philipp, wir könnten das ja<br />
auch machen: Ab sofort stehen wir immer<br />
als Souffleur bei den Konzerten des anderen<br />
hinter der Bühne. Ich singe dir ins Ohr<br />
und du mir. Furchtbar! Es ist wie bei diesen<br />
Typen, die mal ziemlich erfolgreich<br />
waren, obwohl alles nur Playback war …<br />
Weiss: Milli Vanilli?<br />
Murphy: Genau. Aber davor beschützt<br />
uns die Tatsache, dass das Jazzpublikum<br />
ziemlich intelligent ist. Sie kommen zu uns<br />
und zur Musik mit etwas zwischen den<br />
Ohren: Sie haben ein Gehirn. Ich muss es<br />
so sagen, kein Grund, zu höflich zu sein.<br />
Was ich mache, ist einfach nicht für Leute<br />
gedacht, die es nicht verstehen. Vocal<br />
Jazz kann für dumme Menschen manchmal<br />
sehr irritierend sein. Denn er (scattet)<br />
ergibt für sie keinen Sinn. Und das soll<br />
er auch nicht. Er ist ein Eartrip. Und ich<br />
denke immer, dass Musik zu hören mehr<br />
Intelligenz bedarf, als sie nur anzusehen.<br />
Weiss: András Schiff hat mal sinngemäß<br />
gesagt, dass es den Leuten heutzutage<br />
schwer fällt, Musik zu hören, die<br />
sie nicht gewohnt sind. Früher, zu Horowitz’<br />
Zeiten, waren die Leute regelrecht<br />
hungrig darauf, etwas zu hören, was sie<br />
so noch nicht kannten. Das Jazzpublikum<br />
ist immer noch offen für neue Sachen.<br />
Wenn jemand, der sonst nur Pop hört, zu<br />
einem deiner Konzerte kommt, wird er<br />
nicht inspiriert und erfrischt, sondern nur<br />
müde.<br />
Murphy: Ich versuche inspiriert zu sein,<br />
indem ich inspiriere. Warum sollte ich<br />
all diese strapaziösen Reisen auf mich<br />
nehmen und auch noch meinen Anzug<br />
bügeln, wenn ich dann nicht wirklich<br />
Menschen inspirieren kann?<br />
Weiss: Ich erinnere mich noch an dein<br />
Konzert in Joe’s Pub. Du kamst vorher zu<br />
mir und meintest: „Heute Abend kannst<br />
du mal sehen, wie ich mich ganz nah an<br />
die Klippe stelle. Ob ich herunterfalle oder<br />
nicht, wir werden es erleben.“<br />
Murphy: Bin ich heruntergefallen?<br />
W eiss: Nein. Ich habe dich nie herunterfallen<br />
gesehen.<br />
Höchstens fliegen.<br />
Murphy: An dem Abend war Jamie<br />
Cullum vor mir dran. Er geht mir nur bis<br />
zum Bauchnabel. Wenn ich heruntergefallen<br />
wäre, hätten die Leute vielleicht<br />
gedacht, ich bin er.<br />
JazzEcho: Dafür ist Jamie Cullum einer<br />
deiner größten Fans.<br />
Murphy: Ja, so sagt man. Deshalb hat<br />
er jetzt auch meine Version von „I’m<br />
Glad There Is You“ für sein neues Album<br />
kopiert.<br />
JazzEcho: Zumindest ist es seine Lieblingsversion<br />
des Songs. Er meinte auch,<br />
dass es eine der wenigen Versionen ist, die<br />
er kennt, bei der das Intro mitgesungen<br />
wird.<br />
Murphy: Für mich bereitet diese Einführung<br />
alles vor. Sie bereitet mich und<br />
meine Stimme vor, die Atmung kommt in<br />
Wallungen – das erzähle ich immer meinen<br />
Studenten – und außerdem bereitet<br />
sie die Stimmung vor. Nur so funktioniert<br />
der Song und wird in seiner Gesamtheit<br />
zu einem echten Trip.<br />
Weiss: Deshalb haben sie diese Einführungen<br />
in der klassischen Musik vor hunderten<br />
von Jahren erfunden. Man braucht<br />
das, um in die Stimmung des Songs zu<br />
kommen. Mit dem Refrain anzufangen, ist<br />
viel schwieriger, oder?<br />
Murphy: Es ist fast unmöglich. Es ist<br />
fast am besten damit zu vergleichen, wie<br />
ein Tänzer sich hinter der Bühne vorbereitet<br />
und Übungen macht, unmittelbar<br />
bevor er auf der Bühne zu tanzen anfängt.<br />
In meinen Klassen lernt man erstmal,<br />
wie wichtig es ist, richtig zu atmen. Die<br />
menschliche Ausstattung zur Sprachfähigkeit<br />
haben wir den anderen Tieren voraus.<br />
Bei den Schimpansen hört es kurz davor<br />
auf, weshalb sie nur kreischen können. Sie<br />
können eben nicht „I love you“ singen.<br />
MIDNIGHT MOOD<br />
Begleitend zum aktuellen Mark Murphy-<br />
Album wird auch „Midnight Mood“, sein<br />
MPS-Album aus dem Jahre 1967 wiederveröffentlicht.<br />
MARK MURPHY<br />
Midnight Mood<br />
MPS 06024 987 2742<br />
Hochgeschätzt ist dieser Album-Klassiker<br />
schon länger in der DJ-Szene, nicht zuletzt<br />
durch die beiden Tracks „Why & How“<br />
und „Just Give Me Time“, die dank Kopplungen<br />
von Gilles Peterson und dem Mojo<br />
Club zu Dancefloorjazz-Klassikern wurden.<br />
Zusammen mit Musikern der Clarke-<br />
Boland Big Band und Pianist & Arrangeur<br />
Francy Boland (siehe Nachruf auf Seite 3),<br />
nahm Murphy das Album mit Produzent<br />
Gigi Campi in Köln auf. Die Spannbreite<br />
geht von hart groovenden Tracks bis zu<br />
intensiven Balladen.<br />
JazzEcho: In einem Interview vor einigen<br />
Jahren hast du mal gesagt, dass das<br />
Wichtigste, was du deinen Schülern beibringen<br />
kannst ist, Mut zu haben.<br />
Weiss: Mark riskiert immer alles. Es gibt<br />
viele gute Sänger, aber keinen, der so viel<br />
Mut auf der Bühne beweist.<br />
Murphy: Manchmal brauche ich all meinen<br />
Mut, um aufzutreten. Besonders übermorgen<br />
in Moskau, wo ich keine Ahnung<br />
habe, mit wem ich was spielen werde.<br />
Aber das ist was anderes.<br />
JazzEcho: Im Prinzip bist du wohl ein<br />
eher schüchterner Mensch?<br />
Murphy: Ja, immer noch. Ich war ein<br />
sehr schüchternes Kind. Mit 12 oder 13<br />
konnte ich das überwinden, um Leuten<br />
vorzusingen. Aber auch später dachte ich<br />
immer: „Okay, kauf mir’n Drink, wenn<br />
es dir gefallen hat. Aber bitte komm mir<br />
nicht zu nahe und fass mich bloß nicht<br />
an!“ Nach einer Weile bekam ich allerdings<br />
Spaß daran, genoss die Kommunikation.<br />
Man muss langsam herausfinden,<br />
wie das geht.<br />
Weiss: Ich denke, dass jemand, der für<br />
diesen künstlerischen Ausdruck lebt,<br />
eigentlich schüchtern sein muss. Weil<br />
man dann umso mehr lernen muss, aus<br />
sich herauszugehen. Menschen, die sich<br />
zu sicher sind, die ganz einfach und überzeugt<br />
aus sich herausgehen können,<br />
haben vielleicht auch dieses Verständnis<br />
für den sprachlichen Ausdruck nicht, sie<br />
können die diffizilen Unterschiede nicht<br />
ausmachen.<br />
Murphy: Ich muss an Miles denken, den<br />
ich auch den Picasso des Jazz nenne, weil<br />
er sich alle paar Jahre neu erfunden hat<br />
– wie Picasso. Aber am Ende dachte ich,<br />
dass Picasso wohl kaum ein schüchterner<br />
Mann war, weil er ja noch mit 70 oder 80<br />
versuchte, sich mit allen Frauen, die zu<br />
ihm ins Studio kamen, „anzufreunden“.<br />
Und ich habe gehört, dass es mit Miles<br />
ähnlich war. (lacht) Und trotzdem war das<br />
eine Fassade. Miles hatte diese „erfundene<br />
Persönlichkeit“, die ihm alle anderen vom<br />
Leib hielt. Vielleicht wollte ich ihn deshalb<br />
auch nie persönlich kennen lernen.<br />
Mein erstes Idol war Peggy Lee und mit<br />
ihr hatte ich meine erste Erfahrung, wie<br />
anders ein Künstler sein kann, als er sich<br />
im Fernsehen oder auf der Bühne gibt. Ich<br />
war schockiert.<br />
JazzEcho: Was hat sie denn gemacht?<br />
Seite 9<br />
Call & Response<br />
Murphy: Als ich Peggy Lee sah, war<br />
sie für mich die coolste Braut der Welt,<br />
pardon, die coolste Frau. Dann fand ich<br />
backstage nach einem Konzert heraus,<br />
was für eine nervige, aggressive Person sie<br />
wirklich ist. Es waren zwei unterschiedliche<br />
Personen. Und vielleicht muss das so sein.<br />
Ich bin mir sicher, dass du, Philipp, auch<br />
Leute triffst, die dir sagen, dass du auf der<br />
Bühne ein anderer Mensch bist, oder?<br />
Weiss: Ja, aber es wird weniger. Es wird<br />
besser.<br />
Murphy: Wenn man ein privater Mensch<br />
ist, eine zeitlang nicht auf der Bühne<br />
gewesen ist, braucht man einige Tage,<br />
um wieder hereinzukommen. Ich habe<br />
Miles nie kennen gelernt, aber wenn man<br />
je irgendeinen dieser Songs mit ihm und<br />
Gil Evans gehört hat, weiß man, dass man<br />
einfach nicht mehr braucht, um ins Nirvana<br />
zu gelangen. Das ist Ekstase! Und<br />
danach streben wir. Wir erreichen es nicht<br />
immer … Man hört Miles, um seinen<br />
eigenen Sound zu entdecken. Man hört,<br />
wo die Stille ist und wo die Sounds hingehören.<br />
Weiss: Ich erinnere mich noch, als wir<br />
uns einige Jahre später mit meinem Pianisten<br />
Peter Wegele trafen. Dabei spielte<br />
ich dir etwas von Miles vor, auf der Harfe.<br />
Es ging so: (singt)<br />
Murphy: Blue In Green!<br />
Weiss: Genau. Und da meintest du, ich<br />
solle so singen, wie ich Harfe spiele.<br />
Murphy: Weißt du, ich glaube ja, dass<br />
Bill Evans „Blue In Green“ geschrieben<br />
hat.<br />
Weiss: Das ist eine alte Geschichte. Und<br />
von den Changes würde es passen.<br />
Murphy: Damals, Ende der Fifties, als ich<br />
gerade von Los Angeles wieder nach New<br />
York gezogen war, rief mich Bill Evans an,<br />
weil er Geld brauchte. Und er brauchte es<br />
wirklich. Ich hatte Bargeld zu Hause und<br />
er kam vorbei, in meiner Wohnung direkt<br />
neben dem Actor’s Studio an der 44. Straße<br />
zwischen 9. und 10. Avenue. Er kam und<br />
nahm das Geld und sagte „Danke“. Erst<br />
im Herausgehen merkte er, dass das ganze<br />
Zimmer in Blau und Grün gestrichen war.<br />
Da meinte er nur: „Ah, blue in green!“, und<br />
ging. Ich denke, dass er nach Hause ging und<br />
dann dieses Stück geschrieben hat. Ich weiß<br />
es nicht, aber es ist möglich. Und manchmal<br />
bleibt uns nichts außer Möglichkeiten.<br />
JazzLink: murphy<br />
MARK MURPHY<br />
Once To Every Heart<br />
06024 987 2410<br />
PHILIPP WEISS<br />
You Must Believe<br />
In Spring<br />
06024 987 0769