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Predigt Kantate mit Gospelmesse , 6.5.2012, Pfr. Pohl

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<strong>Predigt</strong> <strong>Kantate</strong>, <strong>6.5.2012</strong>, 10.00 Marienkirche <strong>mit</strong> <strong>Gospelmesse</strong> Apg. 16, 23 – 34<br />

Liebe Gemeinde,<br />

hegt bitte keine falschen Erwartungen. Das wird so nicht gelingen <strong>mit</strong> dem Gesang. Dass<br />

sich die Fenster der besungenen Liebsten geöffnet haben, ist von Minnesängern aus dem Mittelalter<br />

glaubhaft überliefert, heutige Akteure senden eine lautlose sms. Aber Gefängnistüren,<br />

Fußfesseln Nein, lieber Lukas, da hast du im Detail sicher was falsch <strong>mit</strong>bekommen, ein so<br />

punktgenaues Erdbeben wäre wohl eher das Ding von heutigen Entfesselungskünstlern als ein<br />

göttliches Instrument zur Fluchthilfe. Deshalb versucht es die attraktive ukrainische Gefangene<br />

Julia Timoschenko auch gar nicht erst <strong>mit</strong> ihrer Stimme, sondern will per Hungerstreik ihre<br />

Freilassung zu erzwingen. So kurz vor der Fußball-EM wird das wohl nur gelingen, wer prominent<br />

genug ist. Aber die vielen tausend anderer unbekannter politischen und religiösen Gefangenen,<br />

wie verschaffen die sich Gehör, Recht und Freiheit<br />

Abdolffattah Soltani, ist nur einer davon. Ein Menschenrechtsanwalt aus dem Iran. Er wurde<br />

Anfang März zu 18 Jahren Haft verurteilt wegen Propaganda gegen das System und die<br />

nationale Sicherheit. Den würde solch eine Aufmerksamkeit freuen! Immerhin kämpfen die<br />

Sektionen von Amnesty international für seine Freilassung.<br />

In Israel plant man die zwangsweise Umsiedlung von 2.300 Beduinen, da<strong>mit</strong> der international<br />

geächtete Siedlungsbau um Jerusalem weitergehen kann. Im wahrsten Sinn ein Pulverfass<br />

im Nahen Osten, da wünschte ich mir ein ähnliches Wunder, das zur Verbrüderung zwischen<br />

Israel und Palästina führen könnte. Und ein letztes krasses Beispiel: In Bolivien rechtfertigte<br />

die Polizei den Einsatz von Pfefferspray und Elektroschocker gegen protestierende Rollstuhlfahrer<br />

<strong>mit</strong> der Behauptung, die Gewalt sei von denen ausgegangen.<br />

Ja, der Wert einer Demokratie zeigt sich auch beim Umgang <strong>mit</strong> den Minderheiten und am<br />

Standard des Strafvollzugs. Gegen Betonwände und Betonköpfe geduldig, friedlich ansingen,<br />

quasi aus der Gewissheit des Gospel: „We shall overcome“, wir werden überwinden – das<br />

gelang vergleichsweise nur in wenigen Situationen, bei den Aufständen <strong>mit</strong> Mahatma Gandhi<br />

in Indien, Nelson Mandela in Südafrika oder auch die Revolution im Herbst 89.<br />

Unruhestiftung, Aufwiegelung, so lautete auch die Anklage gegen Paulus und Silas, die<br />

beiden christlichen Missionare. Durch die Straßen von Thyatira ging eine Magd, die von einem<br />

Geist besessen war, der es ihr ermöglichte, die Wahrheit vorherzusagen. Im Falle jener<br />

beiden Apostel offenbarte sie tagelang lautstark, dies seien „Knechte des allerhöchsten Gottes,<br />

die den Weg des Heils verkündigen“. Das war nicht falsch, aber nervte, und als Paulus diesem<br />

Geist im Namen Jesu befahl, die Frau zu verlassen, war endlich Ruhe. Allerdings machten<br />

nun deren Besitzer ein Spektakel, weil dieses mobile Auskunftsbüro nicht mehr funktionierte<br />

und die Einnahmen ausblieben. Paulus und Silas werden durch Stadtrichter der Aufruhr für<br />

schuldig gefunden, geprügelt und für die nächste Nacht erst einmal ins Gefängnis gesteckt.<br />

Vielleicht kommen sie dort zur Vernunft.<br />

So schnell kann es gehen: gerade noch erlebt man bei den Einwohnern Gastfreundschaft,<br />

Interesse für die Botschaft von der Auferstehung Jesu und die Erfahrungen in der Nachfolge<br />

des Glaubens, da machen gegnerische Strömungen mobil und hauen einem die Beine weg. Im<br />

wahrsten Sinne des Wortes. Was soll werden Ich kann mir denken, die beiden sortieren sich<br />

erst einmal in der feucht-kalten, fensterlosen Zelle. Die Füße im Block gefesselt, die Schmerzen,<br />

die sich bei jeder Regung des Körpers melden, an Schlaf ist nicht zu denken. Dazu die<br />

Angst: Was tut sich hinter den schweren Türen und dicken Mauern: kein Laut dringt nach<br />

innen. Oder doch Da ist ein regelmäßiges Geräusch, leise, wie von fern, nein, doch ganz nah:<br />

Es ist das Herzklopfen, in der Brust, in den Schläfen: poch, poch, poch; dazwischen das des<br />

Freundes, das irgendwie schneller schlägt und nicht so rhythmisch: Poch, poch. Mal liegen<br />

die Schläge synchron, dann trennen sie sich: eine Melodie entsteht, der schwere Atem bildet<br />

das Ostinato, die Gedanken formen Worte: Diese hier sind 1600 Jahre jünger, könnten aber<br />

ganz gut passen: „Jesu meine Freude, meines Herzens Weide, Jesu meine Zier: ach, wie


lang, ach lange ist dem Herzen bange und verlangt nach dir! …Unter deinen Schirmen bin<br />

ich von den Stürmen aller Feinde frei… ob es jetzt gleich kracht und blitzt, obgleich Sünd und<br />

Hölle schrecken, Jesus will mich decken… Trotz dem alten Drachen, trotz dem Todesrachen,<br />

trotz der Furcht dazu! Tobe, Welt, und springe, ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh.<br />

Gottes Macht hält mich in acht, Erd und Abgrund muss verstummen, ob sie noch so brummen.<br />

So stell ich mir das vor, wie sich das gesungene Gebet seinen Weg gebahnt hat: aus den<br />

Herzen, zum Mitgefangenen, in den kalten Raum hinein, durch die dicken Mauern in die<br />

Freiheit. Wer so existentiell betet, der kann erleben, dass sich plötzlich Auswege auftun, dass<br />

Gott errettet. Sicher nicht oft gleich in der ersten Nacht und manchmal kommt auch ER nicht<br />

am Bösen vorbei, kann nicht verhindern, wenn Menschen den Schöpfungsauftrag ins Gegenteil<br />

verkehren. Aber wer nicht die Hoffnung aufbringt, dass Rettung möglich ist, der hat schon<br />

vorab verloren, der ist und bleibt quasi lebenslänglich eingesperrt. Solch ein Gefängnisdasein,<br />

kann man sich letztlich auch schönreden oder -singen: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie<br />

erraten“ ist eines meiner Lieblingsvolkslieder, aber merken Sie den Unterschied Wenn es<br />

nicht hörbar wird, was uns treibt, wenn die Gedanken nur in der Seele oder im Hirn kreisen,<br />

wie soll sich da was ändern, außer wenn die Herrscher alle Jubeljahre eine Amnestie erlassen,<br />

um Platz zu schaffen für die nächste Belegung<br />

Liebe Gemeinde, ich möchte diese überlieferte Befreiungsgeschichte aus dem Gefängnis<br />

nicht von den z.T. legendär konstruierten Ereignissen her kommentieren, sondern vom Sinn<br />

her verstehen, der ihr das Recht gibt, gehört zu werden: Was ich von Paulus und Silas erfahre,<br />

lässt mich nämlich zu der Einschätzung kommen: Die waren niemals eingesperrt, nicht wirklich<br />

jedenfalls. Weil sich das Wort Gottes, weil sich die frohe Botschaft von Jesus Christus<br />

nicht einsperren lässt, müssen auch die Träger keine Angst haben, verloren und allein gelassen<br />

zu sein. Wo wir beten und loben, in Worten oder Melodien, sind wir in Verbindung <strong>mit</strong><br />

Gott. Da baut sich eine Brücke, egal ob durch das Rote Meer wie bei Mose oder aus dem Gefängnis<br />

von Thyatira. Diese Brücke ist auch für andere da. So wie der Gefängniswärter erst<br />

am Verhalten seiner beiden Gefangenen erkannt hat, dass er in Wahrheit selbst der Gefangene<br />

war und der Rettung bedarf. Durch sein Bekenntnis in Wort und Tat, durch diakonischen<br />

Dienst und Taufe findet er den Weg in die wahre Freiheit. In diesem Sinn kann ich auch das<br />

Erdbeben, die Befreiung aus den Ketten verstehen: Wer zum Glauben kommt, der kann schon<br />

erleben, dass da im eigenen Dasein etwas grundlegend durchgerüttelt wird, neue Wertmaßstäbe<br />

gelten im Blick auf Gott, aber auch zum Mitmenschen. In diesem Sinne wünschte ich mir<br />

und unserer Gemeinde immer mal solch einen Ruck, der uns aus festgewachsenen Strukturen<br />

reißt und frei macht für neue Erfahrungen.<br />

Das muss nun nicht immer gleich zum Event, zum Erlebnis aufgebauscht werden, ich denke,<br />

da bilden ganz unterschiedliche Empfindungen ihre ganz eigene Melodie, da kann es rocken,<br />

gospeln oder klassisch daher kommen, Hauptsache, es transportiert immer auch eine<br />

ermutigende und befreiende Botschaft: Paulus und Silas sagen es dem Wärter so: „Glaube an<br />

den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig“, bzw. dem griechischen Verb näher: „gerettet“.<br />

Mit diesem Wort zögere ich etwas, wenn ich an einen anderen, sehr bekannten Gefängnisinsassen<br />

denke, Dietrich Bonhoeffer. Am 1. Advent 1943 schreibt er an einen Freund:<br />

„Gestern Abend im Bett habe ich zum ersten Mal unsere neuen Adventslieder aufgeschlagen.<br />

Kaum eines kann ich vor mich hinsummen, ohne an Finkenwalde.. erinnert zu werden“. Zwei<br />

Wochen später folgt das Eingeständnis, „dass es trotz allem, was ich geschrieben habe, hier<br />

scheußlich ist, dass mich die grauenhaften Eindrücke oft bis in die Nacht verfolgen und dass<br />

ich sie nur durch das Aufsagen unzähliger Liedverse verwinden kann und dass dann das Aufwachen<br />

manchmal <strong>mit</strong> einem Seufzer statt <strong>mit</strong> einem Lob Gottes beginnt.“ (Prdstd.41). Bonhoeffer<br />

wurde leider nicht vor der Hinrichtung bewahrt, aber war dank des Glaubens sicher<br />

doch, was wir „selig“ nennen dürfen. Ein Wunder wie in Thyatira hat ihn nicht gerettet, aber<br />

es ist ein Wunder, dass wir seine Texte kennen und das schöne Lied, das 1 Jahr später im Ge-


fängnis verfasst ist, aber so viel Freiheit atmet, dass es uns helfen kann, im Glauben an Christus<br />

unseren Weg ins Leben zu finden. Amen EG 65: Von guten Mächten, 1 – 3, 6.7

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