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BRIC – Aufstrebende Schwellenländer? - Philipps-Universität Marburg

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<strong>Philipps</strong>-Universität <strong>Marburg</strong><br />

Institut für Politikwissenschaft<br />

Fachbereich 03<br />

Wilhelm-Röpke-Straße 6g<br />

35032 <strong>Marburg</strong>/Lahn<br />

„<strong>BRIC</strong> – <strong>Aufstrebende</strong> Schwellenländer?“<br />

Sommersemester 2007<br />

Farina Ahäuser<br />

Hanna Al-Taher<br />

Frank Beutell<br />

Antje Clemens<br />

Paul Hoffmann<br />

Malte Lühmann<br />

Matthias Middeldorf<br />

M. Elisabeth Peters<br />

Stefan Scheuer<br />

Manuel Unger<br />

Betreut von<br />

Dr. (des) Stefan Schmalz<br />

http://www.uni-marburg.de/fb03/politikwissenschaft/bric


Inhalt<br />

<strong>BRIC</strong> – Das Jahrhundert der Peripherie? ....................................................3<br />

Einleitung .....................................................................................................3<br />

Brasilien .......................................................................................................5<br />

Einleitung..................................................................................................5<br />

Politische Voraussetzungen in Brasilien ...................................................6<br />

Strukturen und Perspektiven der brasilianischen Ökonomie...................13<br />

Sozioökonomische Faktoren...................................................................23<br />

Fazit........................................................................................................29<br />

Literaturverzeichnis.................................................................................32<br />

Russland ....................................................................................................36<br />

Einleitung................................................................................................36<br />

Russland im postsowjetischen Umbruch – von Jelzin zu Putin...............37<br />

Die wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen unter Putin – Eine<br />

nachhaltige Entwicklungsstrategie?........................................................44<br />

Russlands Märkte...................................................................................56<br />

Fazit – Rentenökonomie Russlands? .....................................................62<br />

Literaturverzeichnis.................................................................................65<br />

Indien .........................................................................................................68<br />

Einleitung................................................................................................68<br />

Das politische System ............................................................................69<br />

Wann begann das Wachstum? Entwicklung der indischen Wirtschaft und<br />

Wirtschaftspolitik.....................................................................................71<br />

Aufbau und Struktur der indischen Wirtschaft.........................................78<br />

Dauerhafter Boom? Die Grenzen des indischen Wachstums.................83<br />

Fazit........................................................................................................93<br />

Literaturverzeichnis.................................................................................95<br />

Anhang ...................................................................................................99<br />

China........................................................................................................101<br />

Einleitung..............................................................................................101<br />

Entwicklung und aktuelle Situation .......................................................104<br />

Literaturverzeichnis...............................................................................109<br />

1


Thesen .....................................................................................................111<br />

Abhängigkeit von Auslandsinvestitionen...............................................111<br />

Vergleich China und Indien...................................................................112<br />

Export und Modelle...............................................................................114<br />

Die Soziale Schere ...............................................................................116<br />

2


<strong>BRIC</strong> – Das Jahrhundert der Peripherie?<br />

Wie aufstrebende Schwellenländer den Westen herausfordern<br />

Einleitung<br />

„<strong>BRIC</strong>-Fonds kommen in Mode“ (welt.de), denn <strong>BRIC</strong>-Staaten sind ein „Synonym für<br />

Wachstum“ (manager-magazin). Hohe „Rendite mit Schwellenländern“ (banktip.de)<br />

heißt das Versprechen, das Motto: „Mit <strong>BRIC</strong>-Fonds gewinnen“ (welt.de). Es sind<br />

solche optimistischen Schlagzeilen, die die Presse dominieren seitdem die „<strong>BRIC</strong>“-<br />

Staaten in die öffentliche Debatte getreten sind. Woher rührt diese Euphorie? Was<br />

steht hinter der Abkürzung „<strong>BRIC</strong>“?<br />

Erstmals kam der <strong>BRIC</strong>-Begriff 2003 im Sensationsbericht „Dreaming with <strong>BRIC</strong>s-<br />

the path to 2050“ der Investment Bank Goldman Sachs auf. Wenn man der <strong>BRIC</strong>-<br />

Diskussion der letzten Jahre Glauben schenkt, werden die vier <strong>BRIC</strong> Staaten – Bra-<br />

silien, Russland, Indien und China – bis zum Jahre 2050 die westlichen Industriena-<br />

tionen der G7 in punkto Wirtschaftskraft überholt haben. In einer Zeitspanne von 50<br />

Jahren werden sich die Finanzbeziehungen und Investitionsflüsse in Richtung auf-<br />

strebende Schwellenländer verschieben.<br />

Auf dem Börsenparkett jedenfalls, werden die <strong>BRIC</strong>s bereits heute als Investitions-<br />

standorte der Zukunft gehandelt. Banken wie Goldman Sachs profitieren davon, dass<br />

sie Gewinn versprechende Fonds mit hohen Rendite anbieten. In die so genannten<br />

<strong>BRIC</strong>-Fonds sind in den vergangen Jahren Milliardenbeträge geflossen. Und auch in<br />

der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte ist das angekommen und wird so-<br />

wohl in den betreffenden Staaten selbst, als auch im Ausland zunehmend kontrovers<br />

diskutiert.<br />

Die These von Goldman Sachs basiert klar auf modernisierungstheoretischen An-<br />

nahmen: Wird die Wirtschaft der Entwicklungs- oder Schwellenländer modernisiert,<br />

folgt automatisch wirtschaftlicher Aufschwung und Wohlstand. Modernisierung heißt<br />

in diesem Zusammenhang insbesondere Liberalisierung der Märkte. Das Paper geht<br />

davon aus, dass das Wirtschaftswachstum in den vier <strong>BRIC</strong>-Staaten weiterhin rasant<br />

steigt, vorausgesetzt, sie schlagen den Erfolg versprechenden neoliberalen Weg ein.<br />

Wenn also, wie Goldman Sachs es formulieren „alles richtig läuft“ – „if everything<br />

goes right“. Soweit die momentane Mainstream Meinung.<br />

Was aber geschieht wenn nicht alles „richtig“ läuft? Sind die von Goldman Sachs ge-<br />

forderten Reformen tatsächlich so aussichtsreich wie behauptet wird? „Brasilien ist<br />

3


nicht das einzige Land, das darunter leidet, eine glänzende Zukunft, vielleicht eine<br />

ruhmreichen Vergangenheit, aber immer einer erbärmlichen Gegenwart zu haben.“<br />

(Desai, 2006, 60). Hohe Wachstumszahlen für sich, geben noch keine aussagekräf-<br />

tigen Angaben über den Wohlstand einer Nation. In allen <strong>BRIC</strong>-Staaten ist, trotz<br />

spektakulärer Wachstumsraten, auch ein wachsendes Auseinanderklaffen zwischen<br />

Arm und Reich zu beobachten. Diese Realität beinhaltet hohen sozialen Sprengstoff.<br />

Weiterhin stellt sie die Frage, inwiefern ist es überhaupt gerechtfertigt von den <strong>BRIC</strong><br />

Staaten als Einheit zu sprechen. Unterscheiden sich die Staaten nicht viel zu sehr<br />

von einander, um sie sinnvoll vergleichen und in eine Kategorie einordnen zu kön-<br />

nen? Wenig Berücksichtigung im Paper von Goldman Sachs findet außerdem die<br />

drohende Gefahr gewaltsamer Auseinandersetzungen um Energiequellen und ande-<br />

rer Rohstoffe. Solche, aus der Entwicklung folgenden Konflikte, könnten derselben<br />

im Wege stehen und sie verlangsamen oder sogar verhindern.<br />

In der vorliegenden Analyse der <strong>BRIC</strong> Staaten wollen wir uns mit diesen offenen<br />

Fragen kritisch auseinander setzten. Als Grundlage dient unser Verständnis von<br />

Entwicklung als die Aktivierung der spezifischen produktiven Potentiale einer Gesell-<br />

schaft um einen Zustandes gesteigerter Bedürfnisbefriedigung ihrer Mitglieder und<br />

der dafür notwendigen ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen<br />

zu erreichen. Wachstum verstehen wir nur dann als entwicklungsfördernd, wenn es<br />

sozialverträglich, umweltverträglich und arbeitsintensiv ist. Das heißt: Durch eine<br />

breite Verteilung des erwirtschafteten Produkts und unter Einbeziehung der Bevölke-<br />

rung in den Produktionsprozess, soll Entwicklung auf einer nachhaltigen und nicht<br />

destruktiven Grundlagen stehen.<br />

Unsere Analyse wird länderspezifisch stattfinden, zunächst sollen Brasilien, dann<br />

Russland, schließlich Indien und zuletzt China untersucht werden. Die Länderanaly-<br />

sen orientieren sich an der Leitfrage, ob das zukünftige Wachstum – nach den dar-<br />

gelegten Prämissen - entwicklungsfördernd oder -hemmend stattfindet. Weiter wird<br />

gefragt in welchen Bereichen und unter welchen Bedingungen es stattfindet – also<br />

beispielsweise exportorientiert, arbeitsintensiv, mit eigenem oder ausländischem Ka-<br />

pital. Abschließend werden Entwicklungspotentiale der Länder und ihrer Bevölkerung<br />

untersucht. Unsere Einzelanalysen haben wir dabei unter wirtschaftliche, wirtschafts-<br />

politische und soziostrukturelle Gesichtspunkte gegliedert. Schließlich soll dann<br />

durch Vergleiche zwischen den Ländern in einem Fazit festgehalten werden, wie die<br />

aktuelle Debatte um die Entwicklung der <strong>BRIC</strong>s, sowie die Entwicklung der <strong>BRIC</strong>-<br />

Staaten insgesamt zu bewerten sind.<br />

4


Brasilien<br />

Einleitung<br />

Gemessen an Einwohnerzahl und Fläche ist Brasilien das mit Abstand größte Land<br />

Südamerikas. Die brasilianische Ökonomie ist zudem, nach der Mexikos, die zweit-<br />

stärkste auf dem Kontinent, was zur Position Brasiliens als Regionalmacht in dieser<br />

Weltgegend beiträgt. Das politische Gewicht des Landes erstreckt sich dabei noch<br />

über Südamerika hinaus. So nimmt Brasilien zusammen mit anderen Schwellenlän-<br />

dern eine treibende Rolle bei internationalen Verhandlungen, etwa in der WTO ein. In<br />

der <strong>BRIC</strong>- Rangliste steht Brasilien jedoch bei der Fläche auf dem letzten und bei der<br />

Einwohnerzahl auf dem vorletzten Platz. Auf der Basis dieser Kennzahlen lassen<br />

sich also schon Unterschiede zwischen Brasilien und den anderen <strong>BRIC</strong>-Staaten,<br />

insbesondere Indien und China feststellen. Bei dieser Analyse der <strong>BRIC</strong>s, wie auch<br />

in der Diskussion um diese Staaten stehen allerdings die wirtschaftliche Leistung und<br />

Entwicklung im Mittelpunkt. Doch auch hier liegt Brasilien weit abgeschlagen hinter<br />

Indien und China. Das einzige Land der <strong>BRIC</strong>-Staaten, das nicht in Eurasien liegt, ist<br />

zwar wirtschaftlich und politisch gesehen führend in Lateinamerika, die Wachstums-<br />

raten der brasilianischen Wirtschaft dümpeln aber in den letzten Jahren vor sich hin<br />

und erreichen nicht Ansatzweise die Rekordmarken Chinas oder Indiens. Dieses<br />

wirtschaftliche Wachstum begründet sich zudem, wie wir noch zeigen werden, primär<br />

durch die günstigen Weltmarktpreise für die Rohstoffe, die das Land exportiert. In der<br />

Wirtschaftspolitik ist in den letzten Jahren eine Kontinuität festzustellen, die nicht ak-<br />

tiv für einen nachhaltigen Aufschwung sorgt. Weiter leidet die Republik unter einer<br />

der höchsten sozialen Spaltungen weltweit, die sich ebenfalls negativ auf das<br />

Wachstum auswirkt. Der Mangel an einer breiten Basis gut ausgebildeter Fachkräfte<br />

und die unzureichende Binnennachfrage verdeutlichen dies. Diese Aspekte konnten<br />

in der Analyse von Goldman Sachs möglicherweise aufgrund einer beschränkten<br />

Sichtweise, die nur wenige Determinanten des wirtschaftlichen Wachstumsprozesses<br />

im Blick hat, keine gebührende Würdigung erlangen. Demgegenüber soll in dieser<br />

Arbeit ein breiterer Horizont auf Basis eines Entwicklungsbegriffes, der soziale, politi-<br />

sche, ökonomische und ökologische Einflussfaktoren berücksichtigt, betrachtet wer-<br />

den.<br />

Unsere Frage dreht sich darum, ob Brasilien wirklich eines der Länder sein wird, die<br />

spätestens 2050, so Goldman Sachs, die G7 in puncto Wirtschaftsleistung überholt<br />

5


haben werden. Dabei gibt es einige Anhaltspunkte die eine erfolgreiche Perspektive<br />

für das brasilianische Entwicklungsmodell nahelegen. Zum Beispiel, dass der sehr<br />

hohe Gini-Index sich langsam zurück entwickelt und die absolute Armut im Land ab-<br />

nimmt, wodurch der Binnenmarkt eine neue Dynamik entfalten könnte. Auch die Tat-<br />

sache, dass das Land mit Embraer über einen der führenden Flugzeughersteller<br />

weltweit verfügt, deutet auf eine dynamische Entwicklung hin. Aber am Ende bleibt<br />

die Frage, ob das im Kern exportorientierte, rohstoffbasierte Entwicklungsmodell zu-<br />

kunftsfähig und nachhaltig sein kann.<br />

Für die Analyse werden wir das Land getrennt, nach einzelnen Aspekten untersu-<br />

chen. Zunächst wird sich Elisabeth Peters mit der Wirtschaftspolitik der letzten 3<br />

Jahrzehnte und ihrer Zukunftstauglichkeit auseinandersetzen. Im Anschluss unter-<br />

sucht Malte Lühmann die wirtschaftlichen Strukturen, die Exporte und Importe und<br />

speziell die Frage, worauf das aktuelle Wachstum und zukünftig mögliche Potenziale<br />

beruhen. Matthias Middeldorf schließt die Arbeit mit der Betrachtung der Sozialstruk-<br />

tur ab.<br />

Die Darstellung beginnt historisch mit der Schuldenkrise der Achtziger Jahre, da in<br />

dieser Zeit die entscheidenden Grundsteine für die heutigen wirtschaftlichen Entwick-<br />

lungen gelegt wurden. Uns ist Bewusst, dass Ursprünge und Grunddeterminanten<br />

der brasilianischen Wirtschaft in der Kolonialzeit liegen, doch scheint eine so ausge-<br />

dehnte historische Analyse in diesem Rahmen kaum möglich und gleichzeitig im<br />

Hinblick auf eine ergebnisorientierte Bearbeitung der Fragestellung wenig sinnvoll.<br />

Neben der historischen Darstellung, gliedern sich die Abschnitte nach Chancen und<br />

Risiken sowie Hemmnissen für den wirtschaftlichen Aufstieg Brasiliens. Im Einzelnen<br />

sollen Verknüpfungen zu den anderen Aspekten hergestellt werden.<br />

Politische Voraussetzungen in Brasilien<br />

Einleitung<br />

Die ehemalige Kolonie Portugals gehört zu den wirtschaftlich stärksten Ländern La-<br />

teinamerikas. Geopolitisch kann das Land auch als führend in der Region gesehen<br />

werden. Doch wie sind die politischen Voraussetzungen, um den von Goldman<br />

Sachs prophezeiten wirtschaftlichen Sprung vor die Industrieländer antreten zu kön-<br />

nen? Noch Ende des letzten Jahrhunderts gehörte Brasilien zu den am höchsten<br />

verschuldeten Ländern der Welt, litt unter einer Militärdiktatur und die Industrie war<br />

nicht weltmarktfähig. Was hat sich seitdem insbesondere auf politischer Seite geän-<br />

6


dert? Welche Impulse wurden gesetzt? Sind die Entwicklungen so nachhaltig, dass<br />

die Prophezeiungen erfüllt werden?<br />

Im ersten Teil dieser Arbeit wird das politische System Brasiliens vorgestellt und auf<br />

Chancen und Hemmnisse untersucht. Danach findet eine kritische Betrachtung der<br />

Wirtschaftspolitik inklusive der außenpolitischen und sicherheitspolitischen Faktoren<br />

statt. Im Anschluss werden noch einmal gesondert die Chancen und Hemmnissen<br />

eines möglichen Aufschwungs betrachtet und ausgewertet.<br />

Einführung in die politische Ordnung Brasiliens<br />

Brasilien ist eine föderative Republik mit Präsidialdemokratie und teilt sich in fünf Re-<br />

gionen mit insgesamt 26 Bundesstaaten auf. Die Regierung wird aufgrund der Kon-<br />

stitution von 1988 gebildet, in der viele Strukturen festlegt sind. Dadurch verlangen<br />

notwendige Strukturreformen meist eine Verfassungsänderung (Boeckh 2003). Brasi-<br />

lien zeichnet sich durch eine zersplitterte Parteienlandschaft aus. Deswegen wurde<br />

seit 2006 eine Fünf-Prozent-Hürde eingeführt, um ins Parlament zu kommen. Die<br />

Verhältniswahl, die eine absolute Mehrheit verlangt, wird über ein offenes Listen-<br />

wahlsystem ausgetragen. Die Kandidaten haben meist eine schwache Parteienbin-<br />

dung. Die Parteien sind eher als lockere Verbindungen anzusehen (mit Ausnahme<br />

der Arbeiterpartei PT) und es findet dadurch eine stark auf die einzelne Person zu-<br />

geschnittene Wahl statt (Adam 2006). Die lose Parteienbindung macht deutlich, dass<br />

brasilianische Politiker keine starren Ideologien vertreten. Boeckh bezeichnet Brasi-<br />

lien deshalb als „Kompromissstaat“ (2003). Da es seit 1985 nur Regierungskoalitio-<br />

nen gibt, so Boeckh weiter, werden jegliche Reformen „verwässert“, da sie immer<br />

Kompromissen zum Opfer fallen (2003). Weitere Defizite im Wahlsystem sind die An-<br />

fälligkeit für wirtschaftliches Marketing (Faria 2003) und der starke Einfluss von regi-<br />

7


onalen Individualinteressen auf Bundesebene (Adam 2006). Ein interessantes<br />

Merkmal im brasilianischen Wahlrecht ist die Wahlpflicht für alle 18-70 Jährigen 1 .<br />

Diese Wahlpflicht führte jedoch schon vermehrt zu Fällen von Stimmenkäufen, ins-<br />

besondere bei Menschen aus den unteren Einkommensschichten.<br />

Der aktuelle Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, Lula genannt, von der Arbeiterpartei<br />

PT ist in seinem Amt 2006 bestätigt worden. Die Amtszeit der Präsidenten ist auf<br />

zwei Legislaturperioden beschränkt. Daher wird Lula 2011 aus dem Präsidialamt ent-<br />

lassen. Im Kongress sind generell die agrarökonomisch geprägten Bundesstaaten<br />

überrepräsentiert. Diese zählen zu den alten Eliten und wirken gewichtiger als sie es<br />

tatsächlich sind, blockieren jedoch bisher erfolgreich nachhaltige Landreformen<br />

(Boeckh 2003).<br />

Nach dem Ende der Militärdiktatur 1985 schwand zunehmend der Einfluss des Mili-<br />

tärs, da die zivilen Ministerien stärker in Erscheinung traten. Im Kampf um knappe<br />

Ressourcen konnte das Verteidigungsministerium immer weniger für seine Ziele<br />

werben, so wurden Pläne für eine Atombombe bereits in den Achtzigern begraben.<br />

Zwar hat Brasilien die größte Streitmacht Lateinamerikas, doch die Militärausgaben<br />

sind marginal (2006 ca. 2,6 % des BIP (CIA). Eine gesellschaftliche Debatte um die<br />

nationale Sicherheit ist quasi nicht vorhanden (global security).<br />

Entwicklung der Wirtschaftspolitik und außenpolitische Prioritätensetzung<br />

Die große Wirtschaftskrise der siebziger Jahre fand zu Zeiten der Militärdiktatur statt.<br />

Nach dem Auslaufen der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI) Ende der<br />

fünfziger Jahre folgte ein expansiver Kurs der Militärregierung. Dieser wurde durch<br />

1 Für 16-18 Jährige und über 70 Jährige ist die Teilnahme an Wahlen freiwillig.<br />

8


ausländisches Kapital und durch Konzentration auf die obersten Einkommensgrup-<br />

pen gefahren (2003). Wie viele andere Entwicklungsländer nimmt Brasilien in den<br />

siebziger Jahren hohe Kredite bei der Weltbank auf, um Wachstums- und Einkom-<br />

mensverluste nach dem Ölpreisschock 1972/73 auszugleichen (Boeckh 2003). Als<br />

die Zinsen in der Folge des rezessiven Kurses der Bank in die Höhe schnellten, hat<br />

Brasilien Schulden, die zu einer wirtschaftlichen Krise im Land führten. Boeckh wer-<br />

tet nicht die Höhe der Schulden als Problem, obwohl Brasilien die höchsten Schulden<br />

ganz Lateinamerikas waren, sondern die fehlende internationale Konkurrenzfähigkeit<br />

der brasilianischen Wirtschaft, die aufgrund ihrer Binnenmarktorientierung fehlte. Da-<br />

durch konnte es zu keinem Exportwachstum kommen, wodurch die Schulden hätten<br />

abgezahlt werden können (Boeckh 2003). Die wirtschaftliche Krise führte zum<br />

Schwächung der Militärdiktatur und zum Erstarken der Opposition, so dass 1985<br />

erstmals wieder demokratischen Wahlen statt finden konnten (Duarte 2003). Es folg-<br />

te ein ständiger Wechsel verschiedener Stabilisierungsprogramme und Währungsre-<br />

formen (Fritz 2002). So schaukelte sich die Fiskalkrise mit über 50 Konzepten zur<br />

staatlichen Preispolitik, 6 verschiedenen Währungen und staatlichen Lohn- und<br />

Preisstopps zu ihrem Höhepunkt 1994 bei einer Inflation von 50% pro Monat hoch<br />

(Boeckh 2003). Der Grund lag, so Boeckh, an dem ungelösten Konflikt zwischen den<br />

Interessengruppen des Staatsektors, den Unternehmen und Gewerkschaften sich<br />

auf eine einheitliche Politik zu einigen (2003). Mit dem „Plano Real“ des damaligen<br />

Wirtschaftsministers F.H. Cardoso wird die Krise beendet. Daraufhin wird er 1994<br />

und 1998 zum Präsidenten gewählt. Die Ära Cardoso zeichnet sich durch die neoli-<br />

beralen Elemente, den totalen Ausverkauf des staatlichen Sektors, aus. Boris fasst<br />

die Regierungszeit als „Schritt zurück“ zusammen. Die sozialen Ungleichheiten ha-<br />

ben sich in dieser Zeit vergrößert, die Arbeitslosigkeit stieg ebenso wie die Auslands-<br />

und Inlandsverschuldung an (Boris 2003: 3ff). Auch die Bertelsmann Stiftung sieht<br />

trotz eines neoliberal agierenden Staates das geringe Wachstum des Staates (2003).<br />

Faria hält genau dieses Wirtschaftsmodell für die Ursache des geringen Wirtschafts-<br />

wachstums Brasiliens (2006).<br />

Unter diesen Bedingungen trat Lula 2003 seine Amtszeit an. Diese zeichnet sich<br />

durch eine gewisse Kontinuität aus. Das Programm des „Plano Real“ wird weiterge-<br />

führt (CIA 2007) und wie alle Regierungen vorher, hat auch die Regierung von Lula<br />

die Wirtschaftspolitik fest in der Hand, so dass nicht von einem neoliberalen Regime<br />

nach Friedmann gesprochen werden kann (Bartelt 2005: 24f). Der Regierungspartei<br />

PT sind, was Reformen betrifft, größtenteils die Hände gebunden. Einerseits findet<br />

9


die Schadensbegrenzung und –behebung der Cardoso-Regierung statt, was insbe-<br />

sondere den Abbau der Schulden betrifft. Andererseits hat die PT nur in einer Koali-<br />

tion die Mehrheit, so dass in den einzelnen Gremien und Abgeordneten-Kammern<br />

viele Kompromisse eingegangen werden müssen (Bartelt 2005). Die Regierung be-<br />

treibt eine strenge Fiskalpolitik mit hohem Leitzins, um die Inlandsschulden abbauen<br />

zu können (Bartelt 2005: 25). Dies führt jedoch zu einer niedrigen Investitionsrate<br />

und mangelndem Konsum und einer anhaltenden Stagnation, die seit 1981 andauert<br />

(Faria 2006). Weitere Schwerpunkte der Fiskalpolitik sind die Bekämpfung der Infla-<br />

tionsrate, die Durchsetzung der Steuerreform und die Erhöhung der öffentlichen<br />

Ausgaben (CIA 2007, Weil 2007: 125). Als große Errungenschaft kann sich die Re-<br />

gierung die Entschuldung beim IWF und dem Pariser Club verbuchen (Almanach<br />

2007). Der Privatisierungswahn, der unter Cardoso herrschte, wurde gestoppt und<br />

der Präsident Lula setzt jetzt verstärkt auf Public-Private-Partnership-Programme<br />

(Weil 2007: 123). Außerdem lancierte die Regierung eine Rentenreform und zahlrei-<br />

che Sozialprogramme. Zu diesen gehörte auch die Anhebung des Mindestlohnes,<br />

und trotzdem sind die Reallöhne gesunken (Bartelt 2005).<br />

Im Gegensatz zur Vorgängerregierung ist eine Veränderungen in der Prioritätenset-<br />

zung eingetreten, bei der die Industrie verstärkt gefördert wird (Weil 2007: 124). Der<br />

Exportsektor bleibt weiterhin führend in der brasilianischen Wirtschaft, trotz seiner<br />

geringen Warenbreite. Dies liegt nicht zuletzt an günstigen Weltmarktpreisen und der<br />

hohen Nachfrage aus China (Weil 2007: 123). Faria sieht das brasilianische Wirt-<br />

schaftssystem als sehr abhängig und ohne Eigendynamik (2006). Das Land ist zwar<br />

ein aufstrebendes Schwellenland, andererseits befindet es sich in einer strukturellen<br />

Abhängigkeit und ist sozio-ökonomisch höchst verwundbar (Kohlhepp 2003).<br />

Brasilien selbst sieht sich als führende Macht im geopolitischen Umfeld Lateinameri-<br />

kas. Dieser Anspruch wird bei Verhandlungen zum Mercosul und gegenüber der EU<br />

auch immer deutlich gemacht, doch sorgt dieser teilweise neoliberale Kurs auch für<br />

Verstimmungen in der Region (Bernal-Meza 2006: 86ff; Calcagnotto 2006: 67). Inter-<br />

national versucht Brasilien viele Verbündete insbesondere auf der Südhalbkugel zu<br />

finden. Das Ziel ist, eine multipolare Verhandlungsbasis zu erreichen, die das<br />

Selbstbewusstsein der Schwellenländer enorm hebt und ihre Verhandlungsbasis<br />

verbessert. In diesem Zusammenhang übernimmt Brasilien auch eine Führungsrolle<br />

in der G22 (Boris 2003: 23). Daher hat Brasilien, wie auch Deutschland, das Ziel ei-<br />

nen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu erlangen (Faria 2006).<br />

10


Calcagnotto schlussfolgerte Anfang 2006 über Lulas Amtszeit, dass es eine positive<br />

Entwicklung der Binnenwirtschaft gegeben hätte, die besonders hinsichtlich des<br />

Ausgleiches der innerstaatlichen Disparitäten sichtbar wird. Jedoch zeigt sich eine<br />

außenpolitische Schwäche vor allem im Hinblick auf die regionalen Hegemoniean-<br />

sprüche. Im Vergleich zu der Vorgängerregierung von Cardoso „bleibt die Schere<br />

zwischen Brasiliens außenpolitischen Ambitionen und innenpolitischen (Miss-<br />

)Erfolgen- allerdings nun mit umgekehrten Vorzeichen- weiterhin bestehen.“ (Cal-<br />

cagnotto 2006: 67)<br />

Hemmnisse und Risiken der politischen Impulse für den brasilianischen Auf-<br />

schwung<br />

Im Vergleich mit den anderen <strong>BRIC</strong>-Staaten schneidet Brasilien schlecht ab: Die<br />

Wachstumsraten sind weitaus geringer, das Wirtschaftssystem ist unflexibel und<br />

auch in der Politik gibt es Zeichen, die dem großen Sprung im Wege stehen können.<br />

Die Reformfähigkeit wird durch die Korruption gebremst. Erst 2006 gab es eine gro-<br />

ße Korruptionsaffäre, die die Regierung, Mitglieder vieler Parteien sowie staatliche<br />

und nicht-staatliche Unternehmen umfasste. Der Präsident selbst ist jedoch offiziell<br />

nicht verstrickt (Fischer Weltalmanach 2007). Auch regional in den Parlamenten häu-<br />

fen sich die Fälle von Korruption (Boeckh 2003: 58ff). Dieses Problem steht sicher-<br />

lich im Zusammenhang mit der Elitenproblematik des Landes, die sich noch immer<br />

aus den ländlichen Eliten formiert, die aus postkolonialen Zeiten stammen und sich<br />

bis heute reproduzieren. Diese behindern auch Reformen, wenn es um Modernisie-<br />

rungsaspekte wie z.B. der Landreform geht (Boeckh 2003: 64). Auf die Politik wirken<br />

daher Gruppen erheblich ein, die aus dem Agrarsektor stammen. Einflussreiche<br />

Lobbygruppen von Großgrundbesitzern bestimmen das Bild in Brasilia unverhältnis-<br />

mäßig mit (Faria 2003). Der Einfluss der Landlosenbewegung, die sich für eine ge-<br />

rechte Verteilung des Landes u.a. mittels Landbesetzungen einsetzt, ist nicht zu un-<br />

terschätzen (CIA 2007). Zwischen diesen Gruppen gibt es ein starkes Konfliktpoten-<br />

zial, das auch schon mehr als 1300 Todesopfer gefordert hat (Fischer Weltalmanach<br />

2007). Die Landlosenproblematik bringt die große Ungleichheit in dem Land auf den<br />

Punkt. Die Ungleichheit ist zum Teil auch Auslöser für gewaltsame Konflikte. Die Dif-<br />

ferenzen finden sich zum einen regional manifestiert im armen und rückständigen<br />

Nordosten und im reichen und modernen Süden. Deutlich wird die Ungleichheit auch<br />

in den Beschäftigungsverhältnissen und den Löhnen andererseits (Faria 2003, Kohl-<br />

hepp 2003). Als Gründe lassen sich hier Modernisierungen, die nur Teile der Wirt-<br />

11


schaft erfassen (Boeckh 2003) und das koloniale Erbe aufführen. Das Rechtssystem<br />

ist schwer zugänglich für arme Menschen da es sehr undurchsichtig ist. Es gibt Kor-<br />

ruption unter den Richtern und Prozesse sind langsam und teuer (Fleck Saibro<br />

2005). Gleichheit vor dem Gesetz gibt es quasi nur auf dem Papier.<br />

In Zukunft kann sich auch die Umweltpolitik problematisch für den Aufschwung Brasi-<br />

liens gestalten. Der Regenwald des Amazonas ist bereits zu 15% seiner Gesamtflä-<br />

che zerstört. Bei dieser Regionalplanung werden nicht nur der Lebensraum von Indi-<br />

genen und eine hohe Biodiversität zerstört. Auch der Klimawandel wird aktiv voran-<br />

getrieben, wenn der Wald als Binder von CO² verschwindet (greenpeace). Außerdem<br />

wird der illegale Holzeinschlag nicht strafrechtlich verfolgt, da im weitläufigen Ama-<br />

zonasgebiet eine Kontrolle nur sehr schwer möglich ist. Ein ständiger Konflikt zwi-<br />

schen der Bevölkerung und den Unternehmen führt dazu, dass soziale Bewegungen<br />

bedroht werden, die teilweise aktiver als der Staat, den Wald schützen (Bartelt 2005:<br />

30f; greenpeace, vgl Kids for Forest-Kampagne).<br />

Chance für den Aufstieg<br />

Aus weltwirtschaftlicher Sicht ist Brasilien die zehntgrößte Volkswirtschaft. Brasilien<br />

besitzt die Hälfte der Fläche und der Bewohner Südamerikas und ist bereits jetzt ei-<br />

ner der bedeutendsten Akteure auf der Weltbühne. Das Land gilt als Hoffnungsträger<br />

und Stabilisator in der Region (Kohlhepp 2003). Außerdem vertritt Brasilien Hege-<br />

monieansprüche für die Region (Calcagnotto 2006: 64). Die Durchsetzungskraft je-<br />

ner Ansprüche lässt sich jedoch diskutieren.<br />

Die Chancen für die Ärmsten haben sich seit dem Regierungsantritt Lulas positiv<br />

entwickelt. Sozialprogramme wie Fome Zero (Null Hunger) und die Rentenreform<br />

zeigen bereits jetzt erste Erfolge (Weil 2007: 126ff). Bartelt wertet die Armutsbe-<br />

kämpfung als positives Element, indem er argumentiert, man könne der Regierung<br />

nicht die Bemühung und die Verminderung selbiger absprechen, jedoch wäre zu fra-<br />

gen, wie weit oben jenes auf der Prioritätenliste steht (2005: 29).<br />

Auswertung<br />

Es ist sehr schwierig, der Analyse von Goldman Sachs nicht uneingeschränkt die Ro-<br />

te Karte zu zeigen und sich zu fragen, wie es Brasilien in diese Analyse geschafft<br />

hat. Doch täte man dem Land unrecht damit. Einige brasilianische Unternehmen ha-<br />

ben den Sprung an die Weltspitze geschafft und es ist einfach unmöglich, das ge-<br />

samt Land über einen Kamm zu scheren. Gerade hier liegt auch das Problem. Auf<br />

der einen Seite gibt es Wirtschaftsstandorte, die auf dem Niveau der Industrieländer<br />

12


liegen, auf der anderen Seite sind Wirtschaft, als auch Teile der Politik irgendwo im<br />

letzten Jahrhundert verhaftet. Der bereits 1974 von dem brasilianischen Ökonom<br />

Edmar Bacha geprägte Begriff „Belindía“ (Belgien und Indien zur gleichen Zeit) trifft<br />

das Problem auf den Punkt. Hier liegen die Hemmnisse für ein nachhaltiges Wachs-<br />

tum. Das Potenzial der Ressourcen zum wirtschaftlichen Wachstum wird immer wie-<br />

der von inneren Unstimmigkeiten gebremst. Seien es die stetig auftretenden Fälle<br />

von Korruption in Wirtschaft und Politik, die Ungleichbehandlung der Menschen oder<br />

auch die ungleiche Repräsentation der Bevölkerung in der Politik. Mit Präsident Lula<br />

hat die Regierung wichtige Impulse für ein stabileres Brasilien gesetzt, z.B. dass<br />

auch die Ärmsten gefördert werden müssen oder die Förderung der Industrie. Doch<br />

endet seine Amtszeit 2011. Wer auch immer dann ins höchste Staatsamt kommt,<br />

wird er/sie diese wichtigen Faktoren auch berücksichtigen? Weiterhin kann gefragt<br />

werden: What if everything won’t go right? Also was passiert z.B., wenn die Roh-<br />

stoffpreise der brasilianischen Exportprodukte ihren Wert verlieren? Was passiert,<br />

wenn China nicht mehr in Brasilien, sondern nur noch in Afrika einkauft? Dieses sind<br />

alles hypothetische Fragen, doch sprechen sie dafür, dass Brasilien noch einen lan-<br />

gen Weg vor sich hat, das Land in einen stabilen und nachhaltigen Zustand zu brin-<br />

gen.<br />

Strukturen und Perspektiven der brasilianischen Ökonomie<br />

In der Analyse von Goldmann Sachs wird von einem Durchschnitt der jährlichen<br />

Wachstumsraten des brasilianischen BIP in Höhe von 3,6% über die nächsten 50<br />

Jahre ausgegangen. Dieser Annahme wird hinzugefügt, die Leistung der brasiliani-<br />

schen Wirtschaft müsse, um diesen Durchschnitt zu erreichen, signifikante Verbes-<br />

serungen im Vergleich zur Vergangenheit aufweisen (vgl. Goldmann Sachs 2003:<br />

10ff.). Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass die Veränderungen der Wirtschafts-<br />

13


politik in den zurückliegenden drei Jahrzehnten kein bedeutendes Wachstum gene-<br />

rieren konnten. Die Wachstumsraten über 10%, die unter den Bedingungen der<br />

Militärdiktatur und unter anderen weltwirtschaftlichen Vorzeichen zwischen 1969 und<br />

1974 auftraten, scheinen unerreichbar (vgl. Schmalz 2006: 24f.). Die Zahlen der letz-<br />

ten zehn Jahre blieben demgegenüber mit durchschnittlich 3,23% (1998-2007 2 ) unter<br />

dem von Goldmann Sachs ausgegebenen Richtwert (vgl. bfai 2007a; Boris 2003: 4).<br />

Um eine Aussage darüber treffen zu können, worauf das aktuell zu beobachtende<br />

Wachstum beruht und ob es eine Chance hat über die nächsten Jahrzehnte stabil zu<br />

bleiben, soll im Folgenden die aktuelle Struktur der brasilianischen Wirtschaft unter<br />

die Lupe genommen werden. Dabei spielen die Fragen, welche Branchen sich zur-<br />

zeit am dynamischsten entwickeln und wie die strukturellen Bedingungen für die zu-<br />

künftige Entwicklung gestaltet sind, eine zentrale Rolle.<br />

Entwicklung der einzelnen Wirtschaftssektoren<br />

Primärer Sektor – Aggrobusiness auf dem Vormarsch<br />

Die Modernisierung der brasilianischen Landwirtschaft hatte neben der generellen<br />

Steigerung der Produktion eine verstärkte Ausrichtung auf den Export zur Folge. Im<br />

Rahmen der Etablierung des Agrobusiness mit kapitalstarken Agrarunternehmern<br />

und gewinnorientierten Betriebsformen hat sich die Schere zwischen Großgrundbe-<br />

sitz und subsistenzorientierten Kleinbetrieben weiter geöffnet. So besitzen die größ-<br />

ten 10% der Betriebe fast 80% der zur Verfügung stehenden Anbaufläche, während<br />

ca. 60% der Betriebe mit 5% der Anbaufläche auskommen müssen (vgl. Kohlhepp<br />

2003: 21f.). Im Agrobusiness haben sich international operierende brasilianische Un-<br />

2 2007: Prognose<br />

14


ternehmen etabliert, die einerseits maßgeblich dazu beigetragen haben, die Produk-<br />

tivität von 1991 bis 2005 um 40% zu erhöhen (vgl. Rösler 2005: 2). Andererseits hat<br />

insbesondere die Mechanisierung im Zuge dieser Rationalisierungsmaßnahmen zum<br />

Verlust zahlreicher Arbeitsplätze in der Agrarwirtschaft geführt. Waren in den 1960er<br />

Jahren noch 50% der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig so waren es 2003<br />

noch 20,7% (vgl. IBGE 2003; Kohlhepp 2003: 23). Daraus und aus der ungerechten<br />

Landverteilung erwachsen erhebliche Konfliktpotentiale im ländlichen Raum, die sich<br />

etwa in Form des Kampfes der MST um Land niederschlagen (vgl. Kohlhepp 2003:<br />

22f.).<br />

Die Landwirtschaft trug in Brasilien 2006 5,2% zum BIP bei (vgl. bfai 2007a).<br />

Dieser Wert dokumentiert den abnehmenden Anteil des Agrarsektors, der 1985 noch<br />

11,1% des BIPs ausmachte (vgl. Faria 2006: 44). Dem steht die wachsende Bedeu-<br />

tung des Agrobusiness für den Export gegenüber, wobei auch heute noch weniger<br />

als ein Viertel der brasilianischen Agrarproduktion ausgeführt wird (vgl. Rösler 2005:<br />

1). Das wichtigste Produkt ist hier neben den alten Bekannten Kaffee und Zucker die<br />

Sojabohne, die vorwiegend als Futtermittel verwendet wird und mittlerweile das wich-<br />

tigste agrarische Exportprodukt darstellt. Die Anbaugebiete für Soja dehnen sich ra-<br />

sant aus, indem der brasilianische Mittelwesten mit riesigen Monokulturen überzogen<br />

wird. Sie hatten schon 2002 mit 16,3 Mio. ha die größte Ausdehnung aller Anbauflä-<br />

chen erreicht. So bilden sich globalisierte agroindustrielle Komplexe heraus und die<br />

Konfliktpotentiale in ländlichen Regionen verschärfen sich (vgl. Kohlhepp 2003: 23f.).<br />

Für den heimischen Markt ist die Produktion von Ethanol als alternativer<br />

Treibstoff zunehmend wichtiger geworden. Es wird aus Zuckerrohr, das in ähnlichen<br />

Monokulturen angebaut wird wie Soja, hergestellt. Brasilien nimmt hier weltweit den<br />

ersten Rang ein. Im Jahr 2006 waren schon 80% aller neu zugelassenen Fahrzeuge<br />

in Brasilien mit sog. Flex-Fuel-Motoren ausgestattet, die sowohl Benzin als auch E-<br />

thanol verbrennen können. Seine Vorreiterrolle hat Brasilien durch die frühe Förde-<br />

rung der Entwicklung dieser Technologie durch die Automobilproduzenten seit der<br />

ersten Ölkrise in den 70er Jahren erlangt (vgl. Ribeiro 2006).<br />

Im Agrarbereich hat Brasilien mit einigen Produkten den Anschluss an den<br />

Weltmarkt geschafft bzw. gesichert, sodass dieser Sektor zu den dynamischsten und<br />

wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsbereichen in Brasilien gehört (vgl. Brasilianische<br />

Botschaft 2007). Gleichwohl ist seine relative Bedeutung für die Volkswirtschaft eher<br />

rückläufig, da die Anteile am BIP und an der Beschäftigung niedrig sind und weiter<br />

sinken. Zudem sind gerade die boomenden Bereiche der Landwirtschaft, also das<br />

15


global ausgerichtete Agrobusiness und die Ethanolproduktion mit erheblichem Kon-<br />

fliktpotenzial behaftet. Die Rationalisierungsmaßnahmen in der Produktion dieser<br />

Erzeugnisse führen einerseits zum Abbau von Arbeitsplätzen und andererseits zur<br />

immer größeren Ausdehnung der monokulturellen Anbauflächen, wodurch Klein- und<br />

Mittelbetriebe, die Nahrungsmittel für den lokalen Markt produzieren, verdrängt wer-<br />

den. Schließlich erwachsen zusätzlich ökologische Probleme aus der Ausdehnung<br />

der Sojaanbauflächen in die südlichen Randgebiete des Regenwaldes am Amazonas<br />

zusammen mit Infrastrukturprojekten, die eine nördliche Verkehrsanbindung dieser<br />

Anbaugebiete zu den Überseehäfen schaffen sollen (vgl. Kohlhepp 2003: 24f.).<br />

Sekundärer Sektor – Unterbrochene Industrialisierung<br />

Die brasilianische Industrie hat seit dem Ende der ISI und der mit ihr verbundenen<br />

aktiven Industriepolitik eine lange Phase des Abbaus und der Stagnation erlebt (vgl.<br />

Boris 2003: 8f.). So hat sich der Anteil der Industrie am BIP im Zeitraum von 1985 bis<br />

2006 von 42,3% auf 30,9% verringert (vgl. bfai 2007a; Faria 2006: 44). Trotzdem<br />

nimmt sie nach dem Umfang der Produktion und der Produktdiversität weiterhin den<br />

ersten Platz in Lateinamerika ein. Ihre hervorgehobene Stellung wird auch durch die<br />

Anwesenheit fast aller globalisierten Automobilproduzenten von VW bis Toyota in<br />

Brasilien dokumentiert. Diese machen das Land zu einem der zehn größten Automo-<br />

bilproduzenten der Welt. Die Automobilbranche, die zum ehemals dynamischen Kern<br />

der brasilianischen Ökonomie zählt, litt allerdings unter der lange Zeit schwachen<br />

Binnennachfrage und der insgesamt schwachen Konjunktur der letzten Jahre (vgl.<br />

Kohlhepp 2003: 33). Seit 2004 sind die Wachstumsraten der brasilianischen Wirt-<br />

schaft wieder angezogen, auch die Industrie ist in diesem Rahmen wieder gewach-<br />

sen, wenn auch in höchst unterschiedlichem Maße je nach Branche (vgl. bfai 2007a).<br />

Die Verteilung der Industriebeschäftigten, die 2003 20,9% der brasilianischen Be-<br />

schäftigten ausmachten, ist über die einzelnen Branchen hinweg relativ ausgegli-<br />

chen. Insgesamt entfällt auf die Branchen der verarbeitenden Industrie der Großteil<br />

dieses Beschäftigungsanteils. Sie macht alleine 13,6% der brasilianischen Beschäf-<br />

tigten aus (vgl. IBGE 2003). Gerade die verarbeitende Industrie, zu der neben den<br />

Automobilkonzernen viele Klein- und Mittelbetriebe gehören, wächst aber insgesamt<br />

mit 1,6% (2006) nur sehr schwach (vgl. bfai 2007c). Diese fast stagnative Situation<br />

kontrastiert auf den ersten Blick mit der Stärkung der Binnennachfrage und insbe-<br />

sondere des privaten und staatlichen Konsums durch die Sozialprogramme der Re-<br />

16


gierung Lula und die Anhebung des Mindestlohns. Schätzungen zufolge wird die<br />

Binnennachfrage aufgrund dieser Faktoren 2007 weiter um ca. 5,8% wachsen (vgl.<br />

bfai 2007b). Anscheinend wurde der steigende Konsum bisher durch die ebenfalls<br />

wachsenden Importe kompensiert, die 2006 um 24,2% zunahmen. Hier erweist sich<br />

der Import von Konsumgütern, der vor allem aus China anwächst, mit einem Zu-<br />

wachs von 42,6% im selben Zeitraum als entscheidend (vgl. bfai 2007b). Nur größe-<br />

re Konzerne können angesichts der Schwäche der Binnennachfrage in den Export-<br />

sektor flüchten, da nur sie in der Lage sind die relativ hohen strukturellen und institu-<br />

tionellen Hürden, die einer Exportorientierung in Brasilien im Wege stehen, zu über-<br />

winden. So teilten sich die 250 führenden Exportunternehmen im Jahr 2003 68% des<br />

Exportvolumens und die absolute Zahl der exportierenden Unternehmen nahm von<br />

2004 bis 2006 um 9,4% ab (vgl. bfai 2007d; Meyer-Stamer 2003: 132). Das führt zu<br />

einer hohen Konzentration im Exportsektor und einer Benachteiligung kleiner und<br />

mittelständischer Unternehmen. Ein anschaulicher Beleg für diese Konzentration ist<br />

die Tatsache, dass der Export von Regionalflugzeugen im Jahr 2003 den größten<br />

Einzelwert im Export von Fertigprodukten darstellte. Diese Flugzeuge werden wie-<br />

derum von einem einzigen Unternehmen, Embraer hergestellt, dass pro Jahr Flug-<br />

zeuge im Wert von 1 Mrd. US$ ausführt (vgl. Kohlhepp 2003: 36; Meyer-Stamer<br />

2003: 132).<br />

Die größten Wachstumsraten des sekundären Sektors in den letzten Jahren<br />

sind nicht etwa in den Branchen der verarbeitenden Industrie sondern im Bergbau-<br />

sektor zu verzeichnen. Dieser Bereich wuchs 2005 mit 9,8% und 2006 immerhin<br />

noch mit 6% weit überdurchschnittlich (vgl. bfai 2007c). Der Grund für das starke<br />

Wachstum ist die boomende Nachfrage nach Rohstoffen wie Eisenerz, Stahl und<br />

Mangan vor allem aus China (vgl. Busch 2006). Der Aufstieg des ehemals staatli-<br />

chen Bergbauunternehmens Companhia Vale do Rio Doce (CVRD) zum zweitgröß-<br />

ten Unternehmen Brasiliens und auf den 130. Platz in der Forbes-Liste der weltweit<br />

größten Unternehmen dokumentiert diesen Boom eindrucksvoll (vgl. Forbes 2007).<br />

Nachdem CVRD Mitte der 90er Jahre privatisiert worden war und ausländische Un-<br />

ternehmen im Bergbausektor aktiv werden konnten, dürfte der Einfluss ausländi-<br />

schen Kapitals in diesem Sektor stark angewachsen sein (vgl. Brasilianische Bot-<br />

schaft 2007). Noch größer als CRVD ist in Brasilien nur der Energiekonzern<br />

Petrobras, der in ganz Lateinamerika aktiv ist und direkt an der Wall Street gehandelt<br />

wird (vgl. Busch 2006). Auch im Bergbau dominieren also letztlich wenige Großkon-<br />

zerne die Branche.<br />

17


Neben der Differenzierung in erfolgreiche, exportorientierte Großunterneh-<br />

men und eher stagnative Klein- und Mittelunternehmen weist die brasilianische In-<br />

dustrielandschaft ein weiteres Ungleichgewicht mit der regionalen Verteilung der<br />

Standorte auf. Seit dem Beginn der industriellen Entwicklung hat der Südosten des<br />

Landes und speziell die Region um São Paulo eine Schlüsselrolle in diesem Prozess<br />

eingenommen. So hat sich die Metropolitanregion São Paulo zum größten industriel-<br />

len Ballungszentrum Lateinamerikas entwickelt. Im Südosten werden mit einer Kon-<br />

zentration von 60% der Industriebeschäftigten zwei Drittel der Industrieproduktion<br />

erwirtschaftet. Seit der 90er Jahren verstärkt sich allerdings ein Trend zur Dezentrali-<br />

sierung, da Möglichkeiten, abseits der etablierten Zentren billiger zu produzieren,<br />

wahrgenommen werden (vgl. Kohlhepp 2003: 33ff.).<br />

Tertiärer Sektor – Handel und Finanzen wachsen<br />

Im Zuge des Zuwachses der urbanen Bevölkerung, die bis 2006 auf 84% der Ge-<br />

samtbevölkerung angestiegen ist hat auch der Dienstleistungssektor starke Zuwäch-<br />

se erfahren (vgl. Weltbank 2006; Faria 2006: 43f.). Der Grund für das Anschwellen<br />

des tertiären Sektors kann im unzureichenden Wachstum des Arbeitsplatzangebots<br />

in der Industrie, das nicht mit der Zunahme der urbanen Bevölkerung mithalten konn-<br />

te, gesehen werden (vgl. Faria 2006: 44). Im Jahr 2003 arbeiteten 58,1% der Be-<br />

schäftigten im Dienstleistungssektor, der 2006 einen Anteil von 63,9% des BIPs ge-<br />

nerierte (vgl. bfai 2007a; IBGE 2003). Für Wachstum sorgen in diesem Bereich der<br />

Handel und die Finanzdienstleistungen. Dabei profitiert der Handel vom anziehenden<br />

privaten Konsum seit dem Regierungsantritt von Präsident Lula und wuchs 2006 mit<br />

einer Rate von 4,8% (vgl. bfai 2007a; bfai 2007b). Ob sich solche Steigerungsraten<br />

18


in Zukunft halten können, hängt angesichts der eher stagnierenden Kernbereiche der<br />

Industrie von der weiteren Sozialpolitik ab.<br />

Auch der Markt für Finanzdienstleistungen entwickelt sich dynamisch und er-<br />

reichte zuletzt eine Wachstumsrate von 6,1%. Ein wichtiger Faktor bei der Expansi-<br />

on des Finanzsektors ist neben den ausländischen Investitionen, die nach der verflo-<br />

genen Angst vor grundlegenden Reformen durch die Regierung Lula wieder in gro-<br />

ßem Maße ins Land fließen, die wachsende Gruppe der Superreichen. Die Kategorie<br />

der sog. HNWI 3 umfasst in Brasilien nach Schätzungen 100.000 Personen, sie ist<br />

2006 um 11,3% gewachsen (vgl. von Stockhausen 2007). Die Bedeutung des Fi-<br />

nanzkapitals und damit der Finanzmärkte und -dienstleistungen sind im Zuge der<br />

Ausrichtung der Wirtschaftspolitik auf monetäre Stabilität allgemein gestiegen. Im<br />

Jahr 2005 konnten daher Finanzrentiers einen Anteil von 30% des nationalen Ein-<br />

kommens auf sich vereinigen. Diese Entwicklung wirkt sich allerdings negativ auf den<br />

Konsum und die Investitionen aus (vgl. Faria 2006: 45).<br />

Außenhandel<br />

Die Ökonomie Brasiliens wird seit einiger Zeit vom Exportsektor angetrieben, der<br />

nach dem Ende der importsubstituierenden Industrialisierung und wegen der folgen-<br />

den Strukturreformen gegenüber dem Binnenmarkt deutlich an Attraktivität gewon-<br />

nen hatte (vgl. Weil 2007: 123). Der Exportsektor stützt sich zwar nicht mehr wie<br />

noch bis Anfang der 60er Jahre zu 90% auf den Kaffeeexport, die Palette der Ex-<br />

portgüter konzentriert sich aber weiterhin auf relativ wenige Produkte (vgl. Kohlhepp<br />

2003:23; Weil 2007: 123). Produkte der verarbeitenden Industrie erreichten zwar<br />

2006 einen Anteil von 55% am Exportwert, in diesem Segment zeichnet sich aber ein<br />

3 HNWI: high net worth individuals; Personen mit einem Finanzvermögen ab 1 Mio.<br />

US$<br />

19


elativer und bei einigen Fertigprodukten sogar ein absoluter Rückgang ab. Für das<br />

Exportwachstum von 16,2% im letzten Jahr sind demgegenüber die hohen Welt-<br />

marktpreise für Rohstoffe speziell für Soja und Eisen bzw. Stahl verantwortlich. Der<br />

Anteil der Rohstoffe am Exportwert stieg denn auch von 22,8% im Jahr 2000 auf<br />

29,3% im vergangenen Jahr. Dieser Trend bedeutet zwar einerseits wachsende Er-<br />

löse aus dem Rohstoffgeschäft, andererseits besteht die Gefahr durch eine resultie-<br />

rende Aufwertung der Währung den Export von Fertigprodukten weiter zu verteuern.<br />

Ein Indikator für eine solche Entwicklung könnte der schwindende Handelsbilanz-<br />

überschuss sein, der im Laufe des Jahres 2007 voraussichtlich um 6,5% auf 43 Mrd.<br />

US$ schrumpfen wird (vgl. bfai 2007d). China, dessen Importe nach Brasilien im ers-<br />

ten Quartal 2007 um 50,4% wuchsen und das die steigende Nachfrage nach brasili-<br />

anischen Rohstoffen antreibt, hat sich zum drittwichtigsten brasilianischen Handels-<br />

partner entwickelt (vgl. bfai 2007b). In den wachsenden Handelsbeziehungen in Ver-<br />

bindung mit dem steigenden Anteil von Rohstoffen an den brasilianischen Exporten<br />

schlummert aber auch eine Gefahr, die sich im brasilianischen Importboom äußert.<br />

Insgesamt stiegen die brasilianischen Importe 2006 um 24,2%. Der Wert der impor-<br />

tierten Konsumgüter stieg sogar um 42,6%, während Kapitalgüter eine Steigerung<br />

von 23,9% erreichten (vgl. bfai 2007d). Sowohl auf dem eigenen Markt als auch in-<br />

ternational ist die brasilianische Industrie gegenüber den günstigen Produktionsbe-<br />

dingungen in China kaum konkurrenzfähig (vgl. Lehmann 2006: 2). Insgesamt kann<br />

beobachtet werden, dass die brasilianische Wirtschaft Gefahr läuft durch ihre Roh-<br />

stoffexporte von der chinesischen Konjunktur abhängig zu werden und gleichzeitig<br />

die Potenziale für die eigene Industrie an günstige Importe zu verlieren.<br />

Finanzstrukturen<br />

Die Auswirkungen der Verschuldung auf die brasilianische Ökonomie sind von gro-<br />

ßer Bedeutung. Die Brutto-Außenverschuldung des Landes lag 2006 bei 172,5 Mrd.<br />

US$ und im Jahr davor mussten fast 2% des BIP für Zinszahlungen aufgewendet<br />

werden (vgl. bfai 2007a; Schmalz 2006: 23). Ebenfalls 2006 wurden 41,4% der Ex-<br />

porterlöse für den Schuldendienst eingesetzt. Die von der brasilianischen Zentral-<br />

bank zur Abwehr von Währungsspekulationen bereit gehaltenen Devisenreserven<br />

wuchsen im selben Jahr auf 85,6 Mrd. US$ an (vgl. bfai 2007a). Auch wenn die Ge-<br />

samtverschuldung seit 2004 unter die Rekordmarke von über 220 Mrd. US$ gesun-<br />

ken ist, bleibt die Bedienung der Schulden ein bestimmender Faktor. Das zeigt sich<br />

20


insbesondere bei den Investitionen, die in Brasilien auf sehr niedrigem Niveau liegen.<br />

So zog die Investitionsnachfrage 2006 zwar kräftig um 8,6% an, die Investitionsquote<br />

konnte damit aber nur um 0,5% auf magere 16,8% des BIP gesteigert werden (vgl.<br />

bfai 2007a). Der Zufluss ausländischer Direktinvestitionen lag zuletzt bei 18,8 Mrd.<br />

US$ (2006) und steigt damit seit 2003 wieder an. Eine Erhebung der brasilianischen<br />

Zentralbank aus dem Jahr 2000 ergab zudem, dass sich 69,2% der ausländischen<br />

Investitionen im tertiären Sektor und hier insbesondere im Finanzbereich (vgl. BCB<br />

2001). Der überwiegende Teil der ausländischen Investitionen ist also nicht direkt in<br />

produktive Bereiche involviert, sondern dürfte von den extrem hohen Leitzinsen, die<br />

zur Zeit bei 12,2% liegen, angelockt worden sein (vgl. bfai 2007b). Die brasilianische<br />

Hochzinspolitik und die hohen Schulden führen zu einer Situation in der die brasilia-<br />

nische Wirtschaftsleistung vom internationalen Finanzmarkt absorbiert wird und da-<br />

durch Investitionen in produktive Bereiche nur in geringem Maße stattfinden (vgl. Alt-<br />

vater 2003: 116; Schmalz 2006: 23).<br />

Infrastruktur<br />

Während der Umstrukturierung der brasilianischen Wirtschaft ab Mitte der 90er Jahre<br />

war die Privatisierung staatlicher Infrastrukturbetriebe ein wichtiges Mittel zur Bedie-<br />

nung von Zinsen und Tilgungszahlungen für die aufgehäuften Schulden. Im Ergebnis<br />

wurden im Infrastrukturbereich die meisten Betriebe von der Telekommunikation über<br />

die Eisenbahn und die Energieversorgung bis zu Seehäfen an ausländische Investo-<br />

ren veräußert (vgl. Boris 2003: 8f.). Dabei sanken die staatlichen Investitionen in die-<br />

sem Sektor zwischen 1989 und 2003 von 1,2% des BIP auf nur noch 0,4% (vgl. CNI<br />

2005: 6). Ein Urteil über die Qualität der Infrastruktur muss im Falle Brasiliens diffe-<br />

renziert ausfallen.<br />

Einerseits konnte etwa die Telekommunikation zumindest in den Metropolen<br />

und in den umgebenden Regionen modernisiert werden, wobei die Abhängigkeit von<br />

importierten Technologien zu ihrer Bereitstellung nicht überwunden werden konnte<br />

(vgl. CNI 2005: 24). Auf der anderen Seite ist insbesondere die Verkehrsinfrastruktur<br />

veraltet und unzureichend ausgebaut. Die Eisenbahn spielt eine vergleichsweise<br />

kleine Rolle in der Verteilung der Verkehrsträger, da sie nur 25% der Transportmas-<br />

se bewegt (vgl. Erhart / Mauch Palmeira 2006: 4). Personenverkehr findet hier prak-<br />

tisch nicht statt und die Hauptfunktion der Eisenbahn liegt im Transport Exportgütern<br />

zu den Seehäfen. Dabei machten im Jahr 2003 Eisenerz und Stahl 67,1% der Ge-<br />

21


samttransporte mit diesem Verkehrsträger aus, während auf dem zweiten Platz Soja<br />

mit einem Anteil von 9,2% folgte (vgl. CNI 2005: 18f.). Das Rückgrat der brasiliani-<br />

schen Verkehrsinfrastruktur sind die Fernstraßen, die sich aber in einem ähnlich<br />

schlechten Zustand wie das Eisenbahnnetz befinden. Ihr Anteil an den Gesamttrans-<br />

porten lag 2006 bei 58%. Aufgrund des schlechten Ausbaus und der höheren Preise<br />

der anderen Verkehrswege ist das Straßennetz deutlich überlastet (vgl. Erhart /<br />

Mauch Palmeira 2006: 3f.). Der schlechte Zustand der Verkehrsinfrastruktur führt zu<br />

einer signifikanten Behinderung der ökonomischen Entwicklung im Land. Die Stand-<br />

ortdiversifizierung der Industrie und die Intensivierung der Landwirtschaft im Landes-<br />

inneren hängen dabei in besonderem Maße von einer Verbesserung der Verkehrsinf-<br />

rastruktur ab (vgl. Erhart / Mauch Palmeira 2006: 1ff.). Die Energiewirtschaft des<br />

Landes ist in einem vergleichsweise guten Zustand. Elektrizität wird zu 94% in Groß-<br />

kraftwerken aus Wasserkraft gewonnen, getrieben durch zunehmende Energie-<br />

knappheit auch im Amazonasgebiet. Daneben werden kleine, umweltverträglichere<br />

Wasserkraftwerke, regenerative Energien aber auch der Ausbau des einzigen Atom-<br />

kraftwerkes im Land vorangetrieben (vgl. Kohlhepp 2003: 36).<br />

Seit dem Beginn des Jahres 2007 existiert das staatliche Investitionspro-<br />

gramm PAC 4 mit einem Volumen von 500 Mrd. R$ verteilt über vier Jahre, was eine<br />

durchschnittliche Investitionsrate von 4,6% des BIP pro Jahr ausmacht. Diese Gelder<br />

sollen zu 54,5% in den Energiesektor, zu 34% in Wohn- und Sanitärversorgung und<br />

zu 11,5% in die Verkehrsinfrastruktur fließen (vgl. BNDES 2007). Ob damit die Prob-<br />

leme im Infrastrukturbereich, die sich in den letzten 20 Jahren angestaut haben ge-<br />

löst oder zumindest gelindert werden können bleibt fraglich.<br />

4 PAC: Programa de Aceleração do Crescimento; Programm zur Beschleunigung des<br />

Wachstums<br />

22


Sozioökonomische Faktoren<br />

Demographische Entwicklung<br />

Brasilien ist mit 190.010 Millionen Menschen das fünfgrößte Land der Welt hinter<br />

China, Indien, den USA und Indonesien; es ist durch einen hohen Grad an Urbanisie-<br />

rung gekennzeichnet. Im Jahr 2004 lebten etwa 83,4% der Einwohner Brasiliens in<br />

Städten; zum Vergleich, 1940 lebten rund 13 Millionen Menschen (damals 31%) in<br />

Städten. Nach dem die durchschnittliche Wachstumsrate in den 50er und 60er Jah-<br />

ren bei etwa 3% lag, beträgt sie heute infolge der zunehmenden Verstädterung, der<br />

Berufstätigkeit der Frau und des ländlichen Strukturwandels nur noch etwas mehr als<br />

1%. Neben dem Bevölkerungswachstum ist auch ein Rückgang bei der Geburtenrate<br />

(2007: 16,3 Geburten pro 1000 Einwohner) zu verzeichnen, was den Arbeitsmarkt<br />

und vor allem die Sozialversicherung zunehmend vor Probleme stellt, da sich die Al-<br />

tersstruktur der brasilianischen Gesellschaft ändert. (CIA) Infolge der Verbesserung<br />

der Lebens- und Gesundheitsbedingungen geht die Sterbe- und Säuglingssterberate<br />

zurück, was aber auch bedeutet, dass die Lebenserwartung der Menschen (Mann:<br />

2007: 68,3 Jahre / Frau: 2007: 76,3 Jahre) steigt. Der Anteil der über 65 Jährigen an<br />

der Gesellschaft nimmt stetig zu (2007: 6,3%), genauso der Anteil von 15-64 Jähri-<br />

gen (2007: 68,4%), jedoch geht der Anteil unter 15-Jährigen spürbar zurück; stellten<br />

sie 1995 noch 32,5%, sind es im Jahr 2007 nur noch 25,3%. (Statistisches Bundes-<br />

amt)<br />

Die regionale Verteilung über das Land ist sehr ungleich; drei Viertel der Be-<br />

völkerung konzentrieren sich auf etwa 10% der Gesamtfläche, „einen bis 400-500 km<br />

breiten Saum, der vom Nordosten bis zum Süden entlang der Küste verläuft“ (Kohl-<br />

hepp: 20). Im Jahr 2000 lebten im Südosten des Landes 43% der Bevölkerung, im<br />

Süden 14,8%, im Nordosten 28,1%, zum Vergleich im selben Jahr lebten im Norden<br />

7,6% und im Westen nur 6,9% der Gesamtbevölkerung. Allein in den Staaten Sao<br />

Paulo und Rio de Janeiro leben knapp 30% der Menschen, wobei Rio de Janeiro mit<br />

328 Ew./Km² die höchste Bevölkerungsdichte besitzt. Die fünf oben genannten Regi-<br />

onen des Landes weisen nicht nur Unterschiede in der Topographie, sondern auch<br />

enorme sozioökonomische Disparitäten auf. (Kohlhepp 2003: 17)<br />

Die brasilianische Gesellschaft: Eine Gesellschaft der Ungleichheiten<br />

„Eine Gesellschaft, die von großer Ungleichheit geprägt ist, mit einem Maß an sozia-<br />

lem Ausschluss, das ca. ein Drittel ihrer Mitglieder fernab jeder Möglichkeit zum<br />

23


Wohlstand stellt; eine Gesellschaft, in der ein sozialer Aufstieg durch Lohnarbeit seit<br />

nunmehr 25 Jahren verbaut ist, aber die im gleichen Moment ein offenes politisches<br />

System mit Bürgerrechten, demokratischen Freiheiten und freien Wahlen garan-<br />

tiert“(Faria: 45).<br />

In der Tat ist die brasilianische Gesellschaft durch ein hohes Maß an Un-<br />

gleichheit gekennzeichnet. So betrug der Gini-Koeffizient im Jahr 2005 56,7, damit ist<br />

Brasilien eines der Länder mit der ungerechtesten Einkommensverteilung der Welt,<br />

so verfügen die unteren 10% der Bevölkerung nur über 0,7% des Gesamteinkom-<br />

mens, während die oberen 10% sich über 31% des Gesamteinkommens teilen. (CIA)<br />

Jedoch muss man sagen, dass die Schere zwischen Arm und Reich etwas zurück-<br />

gegangen ist. 1998 betrug der Gini-Koeffizient noch 60,7, im Jahr 2001 59,3. Den-<br />

noch manifestiert sich dies in einer extremen Ungleichverteilung des Pro-Kopf Ein-<br />

kommens. So erhalten Lohnarbeiter nur 35,6% des nationalen Einkommens. Im Jahr<br />

2002 und 2003 gaben 58,5% der Familien an, mit weniger als 400US$ monatlich<br />

auszukommen, die Anzahl der Familien mit einem monatlichen Einkommen über<br />

2000 US$ betrug 3,6%. Diese ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung<br />

führt letztlich dazu, dass die Mehrheit der brasilianischen Gesellschaft in relativer<br />

Armut lebt (Kohlhepp 2003).<br />

Doch nicht nur hinsichtlich der Schere zwischen Arm und Reich gibt es starke<br />

Disparitäten. Auch in der Eigentumsfrage zeigt sich ein ähnliches Bild. Die Disparität<br />

in der Eigentumsfrage betrifft vor allem den Landwirtschaftsektor. Durch die zuneh-<br />

mende Technisierung und Mechanisierung gingen in der Landwirtschaft viele Ar-<br />

beitsplätze verloren. „Die Kündigung traditioneller Arbeitsplätze, die Auflösung sozia-<br />

ler Bindungen im Pachtwesen und die Ausweitung des sozial völlig ungesicherten<br />

Tagelöhner-Systems erhöhten die sozialen Spannungen im ländlichen Raum“ (Kohl-<br />

hepp 2003: 22). Die Folge war eine zunehmende Landflucht in die Elendsgürtel in die<br />

bereits ohnehin überfüllten Städte oder die Eingliederung in das Heer der landlosen<br />

ländlichen Bevölkerung, was zu der Gründung der „Bewegung der Landlosen“ (Mo-<br />

viemento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra = MST) führte. Der Anteil der Er-<br />

werbstätigen hat sei den 60er Jahren, wo noch über 50% in der Landwirtschaft tätig<br />

waren, abgenommen. Heute arbeiten in der Land- und Forstwirtschaft noch 20,3%<br />

der Gesamterwerbstätigen. Sie erwirtschafteten dabei 9,6% der Bruttowertschöpfung<br />

Brasiliens im Jahr 2004. (Statistische Bundesamt) Die Landverteilung ist auch sehr<br />

ungleich verteilt, dies wird durch den fehlenden geordneten Zugang zu Grundbesitz<br />

verstärkt, was wiederum die ländliche Entwicklung belastet. Zwei Drittel der landwirt-<br />

24


schaftlichen Betriebe (weniger als 20 ha) verfügen über 5% der gesamten landwirt-<br />

schaftlich nutzbaren Fläche, während 10% der Großbetriebe (mehr als 500 ha) fast<br />

über 80% der Agrarfläche verfügen. Im Nordosten des Landes herrscht in den Küs-<br />

tenregionen des Landes dabei immer noch Großgrundbesitz, während im trockenen<br />

Hinterland die Subsistenzlandwirtschaft und –tierzucht dominiert. Die Landwirtschaft<br />

wurde mit erheblichen staatlichen Krediten gefördert, was bevorzugt den Mittel- und<br />

Großbetrieben zugute kam, da wird auch das wesentliche Strukturproblem der brasi-<br />

lianischen Wirtschaft ersichtlich, die fehlenden Förderungsmaßnahmen für die klein-<br />

bäuerliche Landwirtschaft.<br />

Auch bezüglich der Ethnie gibt es Unterschiede. Verschiedene ethnische<br />

Minderheiten werden sozial benachteiligt, wobei die soziale Ungleichheit in Brasilien<br />

keineswegs farbenblind ist. Indianer und Afro-Brasilianer gehören zu den sozial<br />

Schwächsten. Indianische Bevölkerung, Sklaveneinfuhr und Einwanderung aus Eu-<br />

ropa und Ostasien haben zu einer ethnischen Vielfalt geführt. Während der Kolonial-<br />

zeit bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden fünf bis sechs Millionen Sklaven aus Afri-<br />

ka nach Brasilien verschleppt. Die brasilianische Gesellschaft ist somit extrem hete-<br />

rogen, dennoch ist sie insgesamt von politischer und kultureller Toleranz geprägt<br />

(Kohlhepp 2003). Es gibt heute keine offene Segregation mehr. Im sozioökonomi-<br />

schen Bereich ist dennoch eine starke Benachteiligung der Afro-Brasilianer ersicht-<br />

lich, denen ein Anteil von 45 % an der Gesamtbevölkerung zukommt. Im Jahr 2002<br />

lebten schätzungsweise 53 Millionen unterhalb der Armutsgrenze, wovon etwa 64%<br />

Afro-brasilianischer Herkunft waren (Bundeszentrale für politische Bildung).<br />

Frauen sind nach der brasilianischen Verfassung formal mit den Männern<br />

gleichgestellt. Der Gender-Related-Development-Index, welcher die Ungleichheit<br />

misst, führt Brasilien auf Platz 58. Das erwartete Jahreseinkommen der Frau im Jahr<br />

2001 betrug 4.391US$, die Männer hatten in demselben Jahr ein erwartetes Durch-<br />

schnittseinkommen von 10.410US$. Im selben Jahr waren auch nur 9,1% Frauen im<br />

Parlament vertreten. Bezüglich des Zuganges zu Bildung (Einschreibung in primärer-<br />

, sekundärer und tertiärer Bildung) haben sich im Jahr 2001 97% Frauen und 93%<br />

Männer eingeschrieben. Auch im Alphabetisierungsgrad sind Frauen und Männer<br />

gleich auf. Bei der Erwerbstätigkeit hingegen sieht das wieder anderes aus. Bei den<br />

15-Jährigen und älter arbeiten 43,8% der Frauen, im Vergleich sind das nur 52% der<br />

männlichen Erwerbstätigen. Zwischen 1995 und 2001 arbeiteten 19% aller weibli-<br />

chen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, 10% in der Industrie und 71% im Bereich<br />

der Dienstleistungen. (HDR)<br />

25


Struktur des brasilianischen Bildungssystems<br />

Der Alphabetisierungsgrad in Brasilien bei den über 15-Jährigen lag 2004 bei 88,4%.<br />

Nach Schätzungen des deutschen Auswärtigen Amtes (02.2007) können etwa 20<br />

Millionen der über 15-Jährigen weder lesen noch schreiben. (Auswärtiges Amt) Nach<br />

Statistiken des Statistischen Bundesamtes wurden 2004 43 Millionen SchülerInnen<br />

von 2,9 Millionen LehrerInnen unterrichtet, demnach kommen auf eine Lehrkraft<br />

knapp 21 SchülerInnen. (Statistisches Bundesamt) Schulpflicht besteht für alle 7 – 14<br />

Jährige. Neben der ethnischen, finanziellen Ungleichheit existieren auch regionale<br />

Ungleichheiten beim Zugang zu Bildungs-, Einkommens- und Lebenschancen. Ist<br />

der Zugang zu Bildung bei der Vorschule bei den 7-14 Jährigen noch relativ gleich,<br />

Nordosten 94,1%, Südosten 96,7%, so zeichnet sich beim Zugang zur Fundamental-<br />

und Mittelschule ein anderes Bild ab. Im Norden nur 72% der 15-17 Jährigen, im<br />

Südosten jedoch 86,5%. Dennoch hat der Südosten mit 31,2% am nationalen Anteil<br />

den größten Satz derer, die keinen Zugang zur Bildung haben (Fritsche 2003: 89).<br />

Das heutige brasilianische Bildungssystem wird zunächst grob in zwei Bil-<br />

dungsstufen unterteilt. Zum einen die Grundbildung (Educacáo Básica) und zum an-<br />

deren die Hochschulbildung (Educacáo Superior). Die Grundbildung wird weiter un-<br />

terteilt in die vorschulische Bildung oder Kindererziehung sowie in eine Fundamen-<br />

talbildung und die Mittelbildung (Fritsche 2003).<br />

Die vorschulische Bildung ist für Kinder bis sechs Jahre vorgesehen und soll<br />

vor allem der sozialen, intellektuellen, physischen und psychologischen Entwicklung<br />

zugute kommen. Übernommen wird diese Aufgaben für Kinder bis drei Jahre von<br />

Kindergärten und Horten, von vier bis sechs von Vorschulen. Neben dem regulären<br />

vorschulischen Bildungsangebot existieren noch Alphabetisierungsklassen, welche<br />

man im Norden und Nordosten des Landes vorfindet. Es handelt sich dabei um eine<br />

Art Zwischenstufe zwischen Vorschule und der Fundamentalbildung, die Mehrheit<br />

der SchülerInnen ist älter als sieben Jahre alt. Die Mindestdauer für die Fundamen-<br />

talbildung beträgt acht Jahren, wobei der Besuch obligatorisch und in öffentlichen<br />

Schulen kostenlos ist. In der Fundamentalschule lernen die SchülerInnen die Fähig-<br />

keit des Lernens, d.h. Lesen, Schreiben und Rechnen. Ziel ist es, die SchülerInnen<br />

zu mündigen Bürgern auszubilden und sie auf die Mittelbildung vorzubereiten. Die<br />

Mittelbildung dauert drei bis vier Jahre und dient der Vertiefung und Verfestigung der<br />

Kenntnisse, welche in der Fundamentalbildung erworben wurden sowie zur Vorberei-<br />

26


tung auf das Arbeitsleben. Als letzte Bildungsstufe dient die Mittelschule der Vorbe-<br />

reitung auf die Hochschulen bzw. zum Eintritt in das Erwerbsleben. Sie ist von ihrer<br />

Funktion vergleichbar mit der gymnasialen Oberstufe in Deutschland, von ihrem Auf-<br />

bau unterscheiden sie sich jedoch stark. So sind die Auswahlmöglichkeiten auf den<br />

Fremdsprachenbereich beschränkt. Es sollen eher technologische, wissenschaftliche<br />

Grundlagen des Produktionsprozesses, zu dem soll den Schülern eine ethische Bil-<br />

dung vermittelt werden. An die Mittelschule knüpft die Berufsbildung und die Hoch-<br />

schulbildung an. Die Berufsbildung gliedert sich in die vorhandene Bildungsstruktur<br />

ein, das Gesetz sieht die Existenz Berufsschulen vor, die zum einen den regulären<br />

Bildungsauftrag wahrnehmen müssen und zum anderen den Zugang zum Arbeitsle-<br />

ben ermöglichen sollen. Die Hochschulbildung unterteilt sich in vier Formen: Fortbil-<br />

dungskurse, Graduierungskurse, Graduiertenkurse sowie Weiterbildungsprogramme.<br />

(Fritsche 2003)<br />

In der Regel wählt ein Schulabgänger einen Graduierungskurs, bei diesem<br />

Abschluss handelt es sich um einen Bacharel (ähnlich dem US-amerikanischen Ba-<br />

chelor). Die Regelstudienzeit ist je nach Fachbereich zwischen drei und vier Jahren.<br />

Nur der Abschluss eines vollwertigen Graduierungskurses berechtigt die Studieren-<br />

den zur Fortsetzung ihrer akademischen Laufbahn. Die Fortbildungskurse konzent-<br />

rieren sich auf einen Spezialbereich des Fachstudiums, dauern zwei Jahre und sind<br />

keine Kurzform des Bacharel. Der Graduierung folgt die Postgraduierung, dieser wird<br />

mit dem Magister abgeschlossen, welcher wiederum Voraussetzung für das an-<br />

schließende Doktorandenstudium ist. Neben dieser Form der akademischen Lauf-<br />

bahn gibt es auf der Ebene der Postgraduierung noch zwei andere Studienformen,<br />

die Spezialisierung und die Fortbildung. Das nationale Weiterbildungsprogramm,<br />

welches noch relativ jung ist, hat einen Austausch zwischen Lehre und Forschung<br />

der Universität einerseits und den Menschen im Berufsleben andererseits zum Ziel.<br />

Dieses Programm soll vor allem ärmeren Bevölkerungsschichten zugute kommen.<br />

Grundsätzlich werden Steuereinnahmen aller Gebietskörperschaften, Ein-<br />

nahmen aus Zuweisungsmechanismen sowie der Bildungsbeitrag und andere Sozi-<br />

albeiträge als Quellen für Bildungsinvestitionen herangezogen. Dabei soll die Union<br />

jährlich nicht weniger als 18%, die Staaten, der Bundesdistrikt und die Gemeinden<br />

nicht weniger als 25% ihrer Steuereinnahmen in das öffentliche Bildungssystem in-<br />

vestieren. Während die Union ihr soll immer übertroffen hat, blieb die staatliche Ebe-<br />

ne z.T. mitunter deutlich unter dem in der Verfassung festgelegten Niveau.<br />

27


Betrachtet man die Entwicklung der Bildungsausgaben im Vergleich zum BIP,<br />

so kommt man um die Erkenntnis nicht herum, dass seit dem Plano Real 1994 die<br />

relevanten Einnahmen und somit auch die Ausgaben für Bildung und Kultur drastisch<br />

zurückgegangen sind und sich auf einem niedrigen Niveau eingependelt haben.<br />

Während der Anteil der Staaten am BIP 1993 noch 5,7% erreichte, waren es 1994<br />

nur noch 2,2%. 2000 waren es 4,5%. Somit gibt Brasilien in etwa soviel für Bildung<br />

und Kultur aus, wie die Niederlande.<br />

Eine Besonderheit am brasilianischen Bildungssystem ist die Existenz zahl-<br />

reicher privater Schulen. So betrug der Anteil an Privatschulen bei den Fundamen-<br />

talschulen im Jahr 2000 10%, bei den Mittelschulen 32%.(Fritsche 2003: 63)<br />

Die Verantwortung für die Hochschulen teilen sich die einzelnen Staaten und<br />

private Verbände. 2004 studierten etwa 3,4 Millionen StudentInnen an den Hoch-<br />

schulen Brasiliens, davon befanden sich 1,2% im Doktorandensemester. Auch gibt<br />

es 335 Forschungseinrichtungen (2004), wo es 19.470 Forschungseinrichtungen mit<br />

rund 77.700 Beschäftigten gibt (1995: 7.721 Einrichtungen: 26.799 Beschäftig-<br />

te/2000: 11.760 Einrichtungen: 48.781 Beschäftigte). Auch bei den Patentanmeldun-<br />

gen ist eine Zunahme zu verzeichnen, was zumindest die Anzahl eingereichter An-<br />

meldungen von brasilianischen Menschen oder Unternehmen belangt. Im Jahr 1995<br />

wurden 15.839 Anmeldungen (davon 45,7% von Brasilianern) eingereicht, 2000 wa-<br />

ren es 24.117 (36,8%); 2004 ging zwar die Anzahl der Anmeldungen zurück<br />

(21.742), dafür aber der brasilianische Anteil auf 50%. (Statistisches Bundesamt)<br />

Chancen<br />

Neben der Zunahme der Doktoranden, der brasilianischen Patentanmeldungen ist<br />

auch eine Zunahme an Forschungseinrichtungen zu beobachte. Schwerpunkte in der<br />

Forschung sind die Biowissenschaft (Landwirtschaft, Tierzucht, Gesundheit, Um-<br />

welt), Nukleartechnologie (6. Größtes Uranvorkommen der Welt), was sie in einem<br />

neuen Nuklearprogramm sowie in dem Projekt zur Entwicklung von Atom-U-Booten<br />

wiederspiegelt, sowie der Luft- und Raumfahrtbereich, wo Brasilien mittels einer ei-<br />

genen Trägerrakete auf dem Weg zur weitgehenden Unabhängigkeit ist, was z.B.<br />

den Start von Satelliten ins Weltall angeht. Ein Mehrjahresplan des Ministeriums für<br />

Wissenschaft und Technologie sieht Investitionen im Bereich der Erhaltung tropi-<br />

scher Regenwälder vor. Brasilien zählt zu den 10 größten Automobilproduzenten der<br />

Welt. Hunderte von ausländischen Firmen, darunter auch viele deutsche, gründeten<br />

in Brasilien Tochterfirmen. (Kohlhepp 2003)<br />

28


Vor allem der Bundesstaat Sao Paulo, wo der Urbanisierungsgrad bei etwa<br />

93% liegt, übernimmt dabei eine führende Rolle. So ist der Staat durch eine hohe<br />

Konzentration von Industrie- und Handelszentren gekennzeichnet. Er ist der am wei-<br />

testen entwickelte Bundesstaat Brasiliens, was die Ausstattung der Industrieparks,<br />

die Fachausbildung, die Infrastruktur und die Technologiezentren angeht. Sao Paulo<br />

erwirtschaftet mit 3% der Gesamtfläche Brasiliens, jedoch mit 22% der Gesamtbe-<br />

völkerung 34-40% der Industrieproduktion und knapp 35% des Sozialproduktes. Das<br />

jährliche Pro-Kopf Einkommen liegt bei 10.820 R$, und ist somit um fast achtfach<br />

höher als im Norden des Landes. 90% aller KFZ-Teile, 81% aller Maschinen und An-<br />

lagen, 67% aller Kraftfahrzeuge, 65% der Chemieprodukte und rund 53% der elekt-<br />

ronischen Geräte Brasiliens werden in Sao Paulo hergestellt. Überhaupt ist der Süd-<br />

osten des Landes der Wirtschaftsmotor Brasiliens, so werden zwei Drittel der Indust-<br />

rieproduktion und knapp 59% des BIP dort erwirtschaftet. Die Metropole Sao Paulo<br />

ist dabei nicht nur das führende Wirtschaftszentrum Brasiliens, sondern auch das<br />

größte Ballungszentrum Lateinamerikas und der Dritten Welt. Nahezu alle deutschen<br />

Firmen haben dort eine Niederlassung, von über 1.200 global agierenden Konzernen<br />

haben ca. 1.000 eine Niederlassung in Sao Paulo, welche rund 230.000 Menschen<br />

beschäftigen. (Deutsche Botschaft Sao Paulo) Sao Paulo wächst heute schon mit<br />

der Millionenstadt Campinas und der Industriestadt Sorocaba zusammen, so dass<br />

man von einer Metropolitanregion gesprochen werden kann. Durch dieses Zusam-<br />

menwachsen wird der Effekt der industriellen Dezentralisierung, der in den 80er Jah-<br />

ren begann und die Entlastungspole im Umland Sao Paulos aufwertete, relativiert. In<br />

Campinas bzw. in der Region um Campinas, wird mit rund 3% der Gesamtbevölke-<br />

rung rund 9% des BIP erwirtschaftet, mit rund 10.000 US$ ist das Pro-Kopf Einkom-<br />

men eines der höchsten Lateinamerikas. Zahlreiche global agierende Technologie-<br />

unternehmen, wie IBM, Motorola, Nortel, Samsung, Bosch, 3M, Alcatel u.A. sowie<br />

Forschungszentren, u.A. ein Forschungszentrum mit dem einzigen Teilchenbe-<br />

schleuniger südlich des Äquators, und Universitäten sind Campinas beherbergt. Die<br />

Region um Campinas wird auch als das brasilianische Silicon Valley bezeichnet.<br />

Auch pharmazeutische und petrochemische Industrie ist in der Region angesiedelt.<br />

Fazit<br />

Als die Regierung Lula 2002 die Macht im brasilianischen Staat übernahm, stand sie<br />

vor der schwierigen Aufgabe, die Hoffnungen eines großen Teils der brasilianischen<br />

Gesellschaft gegen die Interessen und Befürchtungen einer kleineren, aber umso<br />

29


mächtigeren Elite abzuwägen. Die Interessengegensätze manifestieren sich grund-<br />

sätzlich auf allen in dieser Arbeit untersuchten Ebenen. Im politischen Bereich geht<br />

es um die Demokratisierung der Strukturen, was die Bekämpfung der Korruption und<br />

des Übergewichts ländlicher Eliten in den Gesetzgebungsorganen sowie die Sicher-<br />

stellung gerechter und unabhängiger Gerichtsverfahren ohne Benachteiligung armer<br />

Bevölkerungsschichten beinhaltet. Im ersten Abschnitt konnte gezeigt werden, dass<br />

die Ergebnisse auf den genannten Gebieten noch weit von dem Ziel demokratischer<br />

Strukturen entfernt sind. Die Fortschritte, die seit 2002 erzielt wurden, liegen in einer<br />

engagierten Sozialpolitik, die ausweislich der wachsenden Konsumnachfrage Wir-<br />

kung zeigt, und einer aktiven Außenpolitik, die sich vor allem in der Kooperation mit<br />

anderen Staaten des globalen Südens ausdrückt. Im ökonomischen Bereich heißt<br />

das Stichwort „Stärkung der Dynamik einer internen Entwicklung“. Hier ist aber schon<br />

seit den 1980er Jahren die Förderung exportorientierter Wirtschaftskomplexe an die<br />

Stelle einer eigenständigen Industrialisierung getreten. Dazu kommt die parallel ge-<br />

wachsene Dominanz der Schuldenproblematik, die zur Ableitung von Wachstumspo-<br />

tentialen von den produktiven Sektoren in den inländischen und insbesondere in den<br />

internationalen Finanzsektor führt. An diesen strukturellen Defiziten der brasiliani-<br />

schen Wirtschaft hat sich auch unter Lula wenig geändert. Das aktuell zu beobach-<br />

tende Wachstum erweist sich in diesem Kontext als trügerisch, da sein Kern im Ex-<br />

port von agrarischen und mineralischen Rohstoffen u.a. für die boomende Ökonomie<br />

in China liegt. Die Strukturen der Abhängigkeit, in denen das Land seit Jahrhunder-<br />

ten gefangen ist, verlagern sich dadurch tendenziell auf die aufstrebende Macht in<br />

Asien, anstatt endlich gelockert zu werden. Die Bereiche der brasilianischen Wirt-<br />

schaft, die für den Binnenmarkt produzieren und ihren größten Teil ausmachen, wer-<br />

den von diesem Boom kaum belebt, wie die geringen Wachstumsraten in diesen Be-<br />

reichen zeigen. Im Gegenteil wird ihre Position durch wachsende Importe gefährdet.<br />

Die jüngsten Bemühungen der Regierung mit gesteigerten Investitionen (etwa dem<br />

PAC) und einer aktiveren Industriepolitik der Entwicklung unter die Arme zu greifen,<br />

scheinen unzureichend, da sie an den beschriebenen Grundstrukturen kaum zu rüt-<br />

teln vermögen. Schließlich ist Brasilien nach wie vor ein Land mit tiefen sozialstruktu-<br />

rellen Spaltungen, was in allen Teilaspekten dieser Arbeit angeklungen ist. Die Kon-<br />

zentration von Einkommen, fruchtbaren Agrarflächen, Bildungs- und Lebenschancen<br />

in den Händen eines relativ kleinen Teils der Gesellschaft steht einer nachhaltigen<br />

Entwicklung unter Einbeziehung aller Teile der Gesellschaft fundamental entgegen.<br />

Diese ungleiche Verteilung drückt sich auch in der extrem ungleichen Situation in<br />

30


verschiedenen Regionen des Landes aus. Existieren in manchen Gegenden des<br />

Südostens und Südens Verhältnisse vergleichbar denen in Westeuropa oder den<br />

USA, so herrscht im Nordosten und Norden die Unterentwicklung als bestimmendes<br />

Charakteristikum vor. Dieser Gegensatz manifestiert sich auch in jeder größeren<br />

Stadt zwischen den „favelas“ der Armen und den „condomínios fechados“ der Rei-<br />

chen. Es ist dieses Feld auf dem entschieden wird, ob die brachliegenden Potenziale<br />

einer Bevölkerung von über 180 Mio. Menschen genutzt werden können. Der Zu-<br />

stand des Bildungssektors zeigt, dass es auf diesem Weg noch einiges zu tun gibt.<br />

Wir haben gezeigt, welche Dynamiken und welche Hemmnisse in der brasili-<br />

anischen Gesellschaft zurzeit wirksam sind. Vor diesem Hintergrund muss letztlich<br />

mit Luiz Augusto E. Faria gesagt werden, dass „Brasilien, abgesehen von seiner<br />

wichtigen Präsenz auf der internationalen Bühne […], weit davon entfernt [ist, M.L.],<br />

die Weltordnung entscheidend mitzuprägen“ (vgl. Faria 2006: 50).<br />

31


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35


Russland<br />

Einleitung<br />

Russland ist mit über 17 Mio. km 2 Fläche der in der Ausdehnung größte unter den<br />

<strong>BRIC</strong>-Staaten. Hinsichtlich der Einwohnerzahl (ca. 140 Mio), erscheint es jedoch im<br />

Vergleich zu China, Indien und sogar dem viel kleineren Brasilien nahezu als<br />

„Zwerg“. Als einziges der betrachteten Länder hat Russland eine rückläufige Bevöl-<br />

kerungszahl. Das politische System ist durch semi-demokratische und autoritäre<br />

Strukturen gekennzeichnet (vgl. Bieling 2007: 235). Ähnlich wie China blickt das<br />

Land auf eine lange Epoche der staatssozialistischen Ökonomie zurück, welche<br />

1991 nach 74 Jahren unter der Last wirtschaftlicher, sozialer und politischer Proble-<br />

me zusammenbrach. Zuvor hatte Michail Gorbatschow mit der Etablierung von mehr<br />

Transparenz und Offenheit, u.a. in den Medien (Glasnost) und der wirtschaftlichen<br />

Umgestaltung, wie etwa mehr Selbständigkeit der Betriebe (Perestroika) eine Dop-<br />

pelstrategie der Erneuerung verfolgt, um nachlassenden Wachstumsraten, stagnie-<br />

render Produktivität und der Informalisierung der Ökonomie Einhalt zu gebieten. Die-<br />

se Strategie war jedoch nur von bescheidenem Erfolg gekrönt und verstärkte weiter<br />

angestaute Krisenphänomene (vgl. Bieling 2007: 235).<br />

„Was die Sowjetunion immer schneller auf den Abgrund zusteuern ließ, war das Zu-<br />

sammenspiel dreier Dinge: Glasnost, das in der Desintegration von Autorität gipfelte;<br />

Perestroika, die in der Zerstörung jenes alten Mechanismus gipfelte, der die Wirt-<br />

schaft am Leben erhalten hatte, ohne zugleich irgendeine Alternative zu ihm aufge-<br />

baut zu haben; und daraus folgend der immer dramatischere Abbau des Lebens-<br />

standards der Bürger.“ (Hobsbawm zitiert nach Bieling 2007: 236). Nichtsdestotrotz<br />

können diese Reformen Gorbatschows als der Beginn eines Wirtschaftsliberalismus<br />

gesehen werden, welcher Russland seither grundlegend verändert hat. Nach der Ära<br />

Jelzin entwickelte sich Russland bis heute wieder zu einem bedeutenden Handels-<br />

partner und Rohstoffexporteur. Die Einnahmen aus den Gas- und Ölgeschäften stie-<br />

gen in den letzten Jahren rasant an, was das Wirtschaftswachstum vergrößerte, die<br />

Löhne und Renten steigen ließ und die, nach der Wirtschaftskrise von 1998, wach-<br />

sende Verelendung vieler Bevölkerungsteile eindämmte. Russland befindet sich also<br />

in einer Phase des Aufschwungs und bildet nicht zuletzt dadurch einen Teil des<br />

<strong>BRIC</strong>-Begriffes der aufstrebenden Schwellenländer. Es ist jedoch fraglich, wie sich<br />

das Wachstum in den nächsten Jahren und Dekaden entwickeln und wie es sich auf<br />

36


die Entwicklung des Landes auswirken. Wird es gelingen, mit Hilfe der Einnahmen<br />

aus dem Rohstoffsektor die restlichen Wirtschaftssektoren zu diversifizieren und mo-<br />

dernisieren und wird dies überhaupt angestrebt? Umfasst der Aufschwung also alle<br />

Sektoren der Ökonomie? Inwieweit profitieren die verschiedenen Bevölkerungs-<br />

schichten Russlands überhaupt von diesem Aufschwung?<br />

Die zentrale Frage, die in diesem Aufsatz behandelt werden soll lautet also wie folgt:<br />

Kann man im Hinblick auf die russiche Strategie der letzten und folgenden Jahre auf<br />

eine nachhaltige sozialverträgliche Entwicklung schließen, oder befindet sich Russ-<br />

land auf dem Weg zu einer unsozialen Rentierökonomie?<br />

Zur Analyse dieser Frage soll zunächst die historische Entwicklung, vor allem die<br />

Jelzinzeit betrachtet werden. Dann soll die neue Form der Regierung unter Putin be-<br />

handelt werden sowie wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Veränderungen<br />

und Reformen in dieser Zeit. Abschließend soll dann die momentane wirtschaftliche<br />

Lage sowie die zentrale Frage genauer diskutiert werden.<br />

Russland im postsowjetischen Umbruch – von Jelzin zu Putin<br />

Die marktwirtschaftliche Schocktherapie unter Jelzin<br />

Nach den bereits in den 1980er-Jahren begonnenen Reformen zur wirtschaftlichen<br />

Liberalisierung, begann eine Reformergruppe um Boris Jelzin noch vor der Auflösung<br />

der Sowjetunion, die Errichtung einer marktwirtschaftlichen Ordnung zu erwirken.<br />

Jelzins Radikaldemokraten hatten zusammen mit den „Kommunisten für Demokra-<br />

tie“, beides Gruppierungen mit Reformplänen, im März 1990 die Wahlen in der Rus-<br />

sischen Teilrepublik (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik-RSFSR)<br />

zum so genannten Kongress der Volksdeputierten, dem zu der Zeit höchsten ge-<br />

setzgebenden Organ, gewonnen (vgl. Schröder 2003: 16). Die neue Regierung<br />

schaltete sich stark in die Reformdiskussionen ein und legte einen 500-Tage-Plan<br />

zum Übergang zur Marktwirtschaft vor. Aber erst der endgültige Wegfall der Zentral-<br />

gewalt machte den Weg für Jelzin, der mit weit reichenden Kompetenzen ausgestat-<br />

tet worden war frei. Die Transformation umfasste vier Komponenten:<br />

Die Liberalisierung umfasste die Freigabe der Preise, die Schaffung eines Kapital-<br />

marktes und die Öffnung der Märkte nach außen.<br />

Die Institutionenentwicklung sollte auf die Anpassung der Wirtschaftsgesetzgebung,<br />

die Einrichtung einer Zentralbank und den Aufbau von Kreditinstituten abzielen.<br />

37


Mit der Privatisierung sollte Staatseigentum in Privateigentum überführt werden und<br />

mit der Politik der Stabilisierung sollten die Staatsfinanzen konsolidiert sowie die In-<br />

flation bekämpft werden (vgl. Schröder 2003: 16).<br />

Es bestand nur wenig Strittigkeit darüber ob diese neuen Maßnahmen stattfinden<br />

sollten, sondern die einzige Frage war wann und in welcher Reihenfolge.<br />

Zunächst wurden 1992 die Verbraucherpreise freigegeben, was zu einer Hyperinfla-<br />

tion führte. Die russischen Banken verstärkten diese mit ihrer sehr großzügig ange-<br />

legten Kreditvergabepraxis (vgl. Bieling 2007: 236). 1993 lag die Inflationsrate bei<br />

842% (Forschungsstelle Osteuropa 2004: 5). Durch das sehr instabile makroöko-<br />

nomische Umfeld kam es dann zu einem Einbruch der Investitionstätigkeit und der<br />

gesamten wirtschaftlichen Entwicklung. Im Vergleich zum Vorjahr brach das Bruttoin-<br />

landsprodukt 1994 um 12,6% ein. Die Industrieproduktion veringerte sich um 20,9%.<br />

Der monatliche Durchschnittslohn lag bei 100 US-Dollar und die Arbeitslosenquote<br />

bei 7,5% (Forschungsstelle Osteuropa 2004: 5). Des Weiteren sanken die Steuer-<br />

einnahmen und die Staatsverschuldung stieg an. Damit wurden die Möglichkeiten<br />

des Staates, durch Struktur- und Entwicklungsmaßnahmen Einfluss auf die ökonomi-<br />

schen Verhältnisse zu nehmen weiter beschränkt (vgl. Bieling 2007: 236).<br />

Zwischen 1991 und 1993 wechselten Phasen rascher und intensiver Reformschritte<br />

mit Stagnationsperioden, je nach Situation des Kräftespiels zwischen der Jelzin-<br />

Administration und dem Obersten Sowjet. Ungeachtet dessen führte die Privatisie-<br />

rungsbehörde unter Leitung von Anatolij Tschubais ihre Tätigkeit aus. Im Oktober<br />

1992 begann die Ausgabe von Anteilsscheinen an russische Belegschaften und<br />

Manager, welche sie in Aktien eintauschen sollten. 144 Mio. Personen, also 97% der<br />

Berechtigten bekamen diese Voucher genannten Privatisierungschecks. Allerdings<br />

musste bald festgestellt werden, dass einige Betriebsdirektoren sich diese Scheine<br />

ihrer Mitarbeiter abtreten ließen und somit ein erheblicher Anteil der Aktien in die<br />

Hände von wenigen fiel, welche somit zu einflussreichen Kapitalinhabern (Oligar-<br />

chen) wurden. Bereits unter Gorbatschow war es vielen Unternehmern gelungen, mit<br />

Hilfe von staatlichen Fördermaßnahmen mit gleichzeitigen Ausnahmeregelungen um<br />

an der Planwirtschaft vorbei zu wirtschaften sowie billigen Krediten in kurzer Zeit eine<br />

riesige Menge Kapital anzuhäufen. Die Oligarchen gewannen in den 90er-Jahren<br />

einen enormen Einfluss auf die russische Wirtschaft (vgl. Adam zitiert nach Schröder<br />

2003: 19).<br />

Durch die parallel eingeleitete Privatisierung der Betriebe, waren bereits 1993 70%<br />

aller Kleinbetriebe in privater Hand und bis 1994 80% der Großbetriebe zu Aktienge-<br />

38


sellschaften geworden (vgl. Schröder 2003: 17/19). Des Weiteren wurde ein Teil der<br />

Privatisierung spontan vollzogen, also zu Gunsten von Managern und ehemaligen<br />

Parteikadern (vgl. Bieling 2007: 236).<br />

Die plötzliche Privatisierungswelle brachte jedoch nicht den erwünschten Erfolg, da<br />

sich die aufstrebenden Oligarchen häufig aus Eigeninteresse gegen gesamtökono-<br />

mische Erfordernisse verhielten. So kam es zu einem drastischen und anhaltenden<br />

Kapitalabfluss. Die Öffnung und Liberalisierung der Märkte, verbunden mit der Auflö-<br />

sung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), setzten die einheimische,<br />

sehr veraltete Industrie unter einen enormen Druck gegenüber der produktiveren<br />

ausländischen Konkurrenz (vgl. Bieling 2007: 236).<br />

Aufgrund seines neuen Kurses war Jelzin im Parlament sehr umstritten und immer<br />

wieder kamen Konflikte zwischen beiden Parteien zustande. 1993 versuchte der<br />

Volkskongress Jelzin abzusetzen, was scheiterte. Danach fuhr Jelzin seinen Re-<br />

formkurs etwas herunter, was sich jedoch, nachdem ein Volksreferendum die über-<br />

wiegende Unterstützung des Präsidenten ergeben hatte, schnell wieder änderte. Neu<br />

gestärkt überschritt Jelzin am 21. September seine Kompetenzen, indem er per Dek-<br />

ret den Volkskongress und den Obersten Sowjet auflöste. Da sich das Parlament<br />

weigerte, diesem Dekret nachzukommen, ließ Jelzin es im Oktober 1993 vom Militär<br />

angreifen und erstürmte somit wieder die Macht. Im Anschluss ließ er alle Parteien<br />

und Gruppierungen, die an den Unruhen beteiligt waren verbieten (vgl. Schröder<br />

2003: 17). Im Anschluss an diese Unruhen verabschiedete die Jelzin-Führung eine<br />

neue Verfassung, die die eigentlich unrechtmäßigen Handlungen des Präsidenten<br />

legitimieren sollte. Am 12. Dezember 1993 stimmten dann tatsächlich 57% der Be-<br />

völkerung für den Präsidenten und die neue Verfassung, was die demokratische Le-<br />

gitimierung für die bis heute grundlegende Verfassung und Stellung des Präsidenten<br />

darstellte. Die neue Ordnung konzentriert die Macht stärker in den Händen des Prä-<br />

sidenten. Die Legislative genießt nur eine schwache Machtposition und es wird sehr<br />

deutlich, dass die Verfassung im Zuge der Konfrontation zwischen Parlament und<br />

Präsident erschaffen wurde. Um in Zukunft eine ähnliche Situation zu vermeiden,<br />

wurde die rechtliche Position des Präsidenten so abgesichert, dass Parlament und<br />

Volk kaum noch in der Lage sind, eine wirksame Kontrolle über das Staatsoberhaupt<br />

ausüben zu können. Zwar wurden auch Menschenrechte, das Recht auf Privateigen-<br />

tum und die Unabhängigkeit der Justiz in der neuen Verfassung geregelt, was jedoch<br />

in der Rechtspraxis nur spärlich anerkannt und umgesetzt wurde (vgl. Schröder<br />

39


2003: 17f.). Diese Sonderrolle nutzt auch der derzeitige Präsident Putin, welcher die<br />

Kompetenzen allerdings noch erweiterte.<br />

Eine derartig legitimierte Regierung von Boris Jelzin stand bereits unter schlechten<br />

Ausgangsbedingungen. Jelzin brauchte zur Erfüllung seiner Aufgaben einen eigenen<br />

Machtapparat. Als Jelzin, ermittelt durch Umfragen, bei den Präsidentschaftswahlen<br />

1996 eine herbe Niederlage bevorstand, wich er von seinem Reformkurs ab und ent-<br />

ließ fast alle Reformer. Zudem initiierten Finanzmagnaten, die durch ihn viel Macht<br />

erhielten seine Wiederwahl in einer groß angelegten Wahlkampagne, was Jelzin<br />

schließlich eine knappe Mehrheit bei der nächsten Wahl brachte.<br />

Der Präsident war aus verschiedenen konzeptionellen Gründen aber vor allem we-<br />

gen gesundheitlichen Beschwerden mit seiner Position überfordert. Während er an<br />

Einfluss verlor, gewann sein Umfeld an politischem Gewicht. Neben politischen<br />

Weggefährten Jelzins wie Tschubajs und seiner Familie, vor allem Tochter Tatjana<br />

Djatschenko bestimmten in erster Linie Gouverneure der Regionen und Kapitalgrup-<br />

pen (Oligarchen) das System Jelzins, während die parlamentarischen Organe und<br />

die Bevölkerung selbst kaum Einfluss ausüben konnten (vgl. Schröder 2003: 18f.).<br />

Das Unvermögen der Jelzin-Regierung, der Einfluss der Oligarchen und der geringe<br />

Einfluss von demokratisch legitimierten Organen sind einige Gründe für den Zusam-<br />

menbruch der Wirtschaft.<br />

Weitere Ursachen waren „[…] die Auflösung des einheitlichen sowjetischen Wirt-<br />

schafts- und Währungsraums, die abrupte Beseitigung der wirtschaftlichen Planungs-<br />

und Leitungsorgane, Korruption und organisiertes Verbrechen, der brutale Krieg in<br />

Tschetschenien.“ (Meyer 2006: 53). Gert Meyer kritisiert zudem das Ziel der Macht-<br />

haber in der Jelzin-Ära „[…]nicht die Förderung von Wirtschaft, Kultur und sozialem<br />

Ausgleich, sondern die möglichst rasche, tiefgreifende und irreversible Privatisierung<br />

der wesentlichen Produktionsmittel.“ (Meyer 2006: 53).<br />

Zwischen 1989 und 1998 halbierte sich das BIP. Die Realeinkommen sanken und die<br />

soziale Ungleichheit nahm zu (vgl. Bieling 2007: 237) Die Kriminalitätsrate stieg und<br />

ein großer Anteil der Bevölkerung, vor allem Alte, verelendeten. Sämtliche Sozial-,<br />

aber auch Bildungsausgaben gingen zurück und waren völlig unzureichend. 1995<br />

konnte mit einem Stabilisierungsprogramm und einer lockeren Dollarankopplung die<br />

Inflation gedämpft werden, während die Probleme des Kapitalabflusses und der Ver-<br />

schuldung bestehen blieben. 1998 gilt als Tiefpunkt der russischen Ökonomie. Durch<br />

eine Währungs- und Finanzkrise stieg die Inflation wieder und das BIP sowie die<br />

Renten und Einkommen gingen noch einmal drastisch zurück. Gleichzeitig wurde<br />

40


aber die einheimische Industrie durch die Rubelabwertung und den Anstieg der Im-<br />

portpreise wieder gestärkt (vgl. Bieling 2007: 237). Seit 1998 befindet sich Russland<br />

nun wieder in einem stetigen Wachstumsprozess.<br />

Die Machtbasis Putins<br />

Als Wladimir Putin am 26. März 2000 das arg geschwächte Land übernahm, galt es,<br />

die Fehler der Vorgängerzeit zu beheben oder aber mindestens anzugehen.<br />

Putin musste vor allem die Wirtschaft des Landes stabilisieren, die zunehmende Ar-<br />

mut und Verelendung bekämpfen und die innerstaatlichen Machtverhältnisse neu<br />

organisieren. Zu Beginn seiner Amtszeit sah er sich den Kräften gegenüber, die sich<br />

in der Zeit Jelzins formiert hatten. Zum einen standen ihm die mächtigen Apparate<br />

der Präsidialverwaltung und Regierungsbürokratie gegenüber, zum anderen die Ka-<br />

pitalgruppen und schließlich die regionalen Machthaber (vgl. Schröder 2003: 21).<br />

Seine Politik zeichnete sich vor allem durch folgende Maßnahmen aus:<br />

Zunächst veranlasste er eine Föderalreform, um seine Kompetenzen auf die regiona-<br />

len Ebenen auszuweiten. Er ging gegen die Oligarchen vor, um deren enormen poli-<br />

tischen Einfluss einzudämmen und wieder die Oberhand über die wichtigsten Wirt-<br />

schaftssektoren zu erlangen. Zudem richtete er die Medienwelt und andere öffentli-<br />

che Einrichtungen in seinem Interesse aus, um sich die Rückendeckung der Bevöl-<br />

kerung zu sichern.<br />

Mit der Föderalreform wollte Putin den Machtspielraum der regionalen Machthaber<br />

eindämmen. Per Präsidialerlass schuf er sieben neue Föderalbezirke, welche von<br />

durch ihn ernannten präsidentennahen Vertretern regiert wurden. Diese sollten die<br />

Politik der Zentralregierung auf regionaler Ebene umsetzen. Außerdem wurde der<br />

Föderationsrat reorganisiert, so dass regionale Machthaber nicht mehr automatisch<br />

Mitglieder des Oberhauses waren. Wenn die Duma dem zustimmte, hatte der Präsi-<br />

dent ab diesem Zeitpunkt auch die Möglichkeit bei Rechtsbrüchen regionale Vertre-<br />

tungskörperschaften aufzulösen bzw. deren Oberhäupter zu entlassen. Diese Neu-<br />

regelung, die im Jahre 2000 durchgesetzt wurde und die Harmonisierung von Bun-<br />

des- und Regionalrecht zum Ziel hatte, drängte den Einfluss der Gouverneure auf<br />

föderale Politik zurück und weitete im Gegenzug die Rechte des Präsidenten aus.<br />

Häufig scheiterten zwar Versuche der Präsidialadministration, regionale Politiknetz-<br />

werke bei Regionalwahlen mit präsidentennahen Vertretern zu durchsetzen, da diese<br />

sich dagegen wehrten, die politischen Einflussmöglichkeiten dieser wichtigen Ver-<br />

41


handlungspartner des Präsidenten wurde jedoch erkennbar reduziert (vgl. Schröder<br />

2003: 21).<br />

Das Vorgehen gegen Oligarchen soll im späteren Verlauf des Textes noch genauer<br />

analysiert werden. Putin ging zum einen strikt gegen politisch aktive Unternehmer an.<br />

Entweder ließ er sie direkt verhaften oder sie mussten ins Ausland fliehen. Anderer-<br />

seits begab sich der Präsident mit den „unpolitischen“ und kooperativen Unterneh-<br />

mern in einen Dialog und baute somit seine Macht weiter aus. Er sicherte sich u.a.<br />

die Kontrolle über die gesamte russische Erdgasförderung und über die russische<br />

Medienwelt.<br />

Wladimir Putin sicherte sich mit Hilfe verbündeter Kapitalgruppen die Verfügung über<br />

die wichtigsten russischen Fernsehsender ORT und NTW. Auch das vorher unab-<br />

hängige Meinungsforschungsinstitut WZIOM wurde 2003 in eine staatliche Aktienge-<br />

sellschaft umgewandelt.<br />

Der neue Präsident der Russländischen Föderation hat sich in den Jahren seiner<br />

Amtszeit einen effektiven Machtapparat zusammengebaut. Putins Macht beruht grob<br />

betrachtet auf 5 Pfeilern:<br />

Erstens ist die sehr präsidentenzentrierte Verfassung der Jelzinzeit bis heute beste-<br />

hen geblieben und von Putin sogar noch erweitert worden, indem der Föderalismus<br />

eingeschränkt wurde.<br />

Zweitens hat Putin wichtige Schlüsselstellen mit Personen seines Vertrauens besetzt<br />

was auch als die „Invasion der Petersburger“ bezeichnet wird (Schröder 2003: 22).<br />

Drittens wird seine Politik aufgrund geschickter diplomatischer Züge durch einen<br />

Großteil der Großunternehmer und Kapitalgruppen gestützt und finanziert, während<br />

regierungsfeindliche Oligarchen aus dem politischen Leben, wenn nicht sogar aus<br />

dem Staat selbst verbannt wurden.<br />

Viertens genießt Putin einen sehr großen Rückhalt im Volk. Durch den wirtschaftli-<br />

chen Aufschwung, die Verbesserung der Lebensqualität, welche mit der Politik des<br />

Präsidenten verbunden wird, erreichte Putin in Umfragen stets sehr hohe Werte.<br />

2006 bescheinigten ihm über das Jahr gesehen zwischen 72 und 79% der Befragten<br />

gute Arbeit (Ria Novosti: 18.11.2006). Auch von ausländischen Medien und Politikern<br />

wurde Putin zunächst als Glücksfall für die Entwicklung Russlands und deren Bezie-<br />

hungen zum Westen gesehen, gar als „Lupenreiner Demokrat“ (Gerhard Schröder)<br />

bezeichnet. Inzwischen ist diese Ansicht zum Teil relativiert worden.<br />

Fünftens hat der Präsident die russischen Medien hinter sich, die sehr einflussreich<br />

für die Stimmung in der Bevölkerung sind. Kritische Berichte können zensiert wer-<br />

42


den, so dass niemand von bestimmten Ereignissen erfahren muss. Werden negative<br />

Nachrichten nicht ausgestrahlt, ist es natürlich auch schwer, eine größere Gruppe<br />

von Menschen gegen diese Ereignisse aufzubringen (vgl. Schröder 2003: 22f.)<br />

Letztendlich erscheint die Regierungsweise Putins als Beschneidung der Demokratie<br />

und Transparenz zu Gunsten von Machtausbau und Wirtschaftswachstum. Während<br />

demokratische Elemente, wie die föderativen Subjekte oder die Duma nur begrenz-<br />

tes Mitbestimmungsrecht in der Politik genießen und deren Rechte weiter einge-<br />

schränkt wurden, konzentriert der Präsident die Macht über die wichtigsten Wirt-<br />

schaftssektoren (Gas-, Ölproduktion) sowie über die Medien in seinen Händen. Wäh-<br />

rend politische oppositionelle Großunternehmer aus dem politischen Geschehen<br />

ausgeschlossen werden, besetzt Putin Schlüsselstellen mit Personen seines Ver-<br />

trauens und kooperiert mit gleichgesinnten und staatstreuen Kapitalgesellschaften<br />

und Unternehmern. Zudem verfügt er über die Kontrolle der Medien und Umfragein-<br />

stitute. Mysteriöse Ermordungen von politisch wirksamen Journalisten oder Geheim-<br />

dienstmitarbeitern sowie gewaltsamen Auflösungen friedlicher Demonstrationen ste-<br />

hen konträr zu der in der Verfassung festgehaltenen Achtung der Menschenrechte<br />

und können ein Indiz dafür sein, wie in Russland mit oppositionellen Bewegungen<br />

umgegangen wird. Generell ist die Rechtwirklichkeit in Russland hinsichtlich der Ver-<br />

fassung sehr kritisch zu beurteilen. Letztendlich bleibt fraglich, inwieweit die positiven<br />

Umfrageergebnisse der Bevölkerung gegenüber dem Präsidenten auf Tatsachen be-<br />

ruhen, da diese in der Regel von nicht unabhängigen Meinungsforschungsinstituten<br />

(WZIOM) erhoben werden. Meines Erachtens ist also unter Präsident Putin ein weite-<br />

rer Demokratieverlust Russlands zu verzeichnen. Putins Motto, dass die beste Sozi-<br />

alpolitik eine gute Wirtschaftspolitik ist, kann nur für wirtschaftlich starke Zeiten er-<br />

folgreich sein. Die relative Akzeptanz der Bevölkerung für die Beschneidung demo-<br />

kratischer Elemente kann mit der Verbesserung ihrer Lebenssituation durch das<br />

Wirtschaftswachstum zusammenhängen, was dann auch die Umfragewerte begrün-<br />

den würde. Sollte dieses aber einmal rückläufig sein wird sich höchstwahrscheinlich<br />

die Zufriedenheit verringern. Dann wird es aber auf demokratischer Ebene schwierig<br />

sein, gegen die Politik des Präsidenten und wirtschaftliche, politische oder gesell-<br />

schaftliche Fehlentwicklungen vorzugehen.<br />

43


Die wirtschafts- und sozialpolitischen Reformen unter Putin – Eine nachhaltige<br />

Entwicklungsstrategie?<br />

Der Machtwechsel Jelzin –Putin fand genau zu einem Zeitpunkt statt, in dem sich die<br />

russische Wirtschaft erholte und einen bis jetzt fortfahrenden Aufschwung erfährt. In<br />

den Jahren zwischen 1990 und 1996 litt die Volkswirtschaft unter dem Transformati-<br />

onsprozess, der einen ökonomischen Abschwung mit sich brachte. Durch diesen<br />

gingen Steuern und Abgaben verloren, was zu einen großen Haushaltsdefizit führte<br />

und eine sinnvolle Sozialpolitik unmöglich machte. Im August 1998 kam es dann auf<br />

Folge des Börsencrashs in Asien auch in Russland zu einem Einbruch des Rubel-<br />

wertes. Russland überschritt die Grenze zur internationalen Zahlungsunfähigkeit und<br />

musste Kredite mit sehr hohen Zinsen auf sich nehmen. Die darauf sprunghaft an-<br />

steigende Inflation führt zu einem rückläufigen Realeinkommen. Dies stärkte jedoch<br />

die innerstaatliche Wirtschaft, da Importe aufgrund des billigen Rubels extrem teuer<br />

wurden und sich Produkte aus dem Innland durchsetzten konnten (vgl. Trawin<br />

2004:1).<br />

Durch die Krise mussten staatliche Subventionen an Unternehmen zu lasten des<br />

Haushaltes gestrichen werden und es entstand erstmals eine Vorraussetzung für ei-<br />

nen Wettbewerbs - fördernden Markt. Der gleichzeitig erfolgende Anstieg des Erdöl-<br />

preises und die an diesen angekoppelten Preis für Erdgas wirkten als „Lokomotive<br />

der russischen Wirtschaftsentwicklung“(vgl. Götz 2006:7).<br />

Im Gegensatz zu dem wirtschaftlichen Erbe, welches Putin Freiraum für Reformen<br />

ließ, sah es im Bereich der Sozialpolitik katastrophal aus. Das Haushaltsdefizit belief<br />

sich in den Transformationsjahren auf 9% des BIPs. Größtenteils konnten die Ange-<br />

stellten von staatlichen Unternehmen und Institutionen aufgrund des fehlenden Gel-<br />

des in der Staatskasse nicht ausbezahlt werden. Die Renten wurden nur mit starker<br />

Verzögerung der Inflation angepasst. Es entstand eine sogenannte „neue Armut“<br />

(vgl. Trawin 2004: 1).<br />

Wirtschaftspolitische Reformen unter Putin<br />

Putin erstellte mit seinem Wirtschaftsminister German Gref im Jahre 2000 nach sei-<br />

ner Wahl zum Präsidenten ein umfangreiches Programm zur Neuorientierung der<br />

Wirtschaftspolitik. Ziel dieses Programms war die feste Verankerung der Marktwirt-<br />

schaft in Russland durch ordnungspolitische Maßnahmen. Durch verbesserte Insol-<br />

venzregeln, dem Abbau administrativer Hemmnisse für neue Betriebe und Investitio-<br />

44


nen, der Verbesserung der Eigentumsrechte, Fortschritte beim Bodenrecht sowie die<br />

Förderung des Wettbewerbs durch Monopolkontrolle wurden das Steuer- und Bank-<br />

wesen sowie die Unternehmen reformiert (vgl. Höhmann 2003: 1). Durch diese ord-<br />

nungspolitischen Maßnahmen sollte Russland als Investitionsstandort für ausländi-<br />

sches Kapital attraktiver gestaltetet werden.<br />

a) Schuldentilgung und Kapitalzuflüsse<br />

Seit Beginn des Transformationsprozesses hatte Russland nur einen geringen Kapi-<br />

talzufluss aus dem Ausland zu verzeichnen. Nach den angestrebten Reformen Pu-<br />

tins ließ sich jedoch ein erster Erfolg verweisen. Im<br />

Jahr 2001 Betrug das Auslandskapital 19,8 Milliar-<br />

den US- Dollar. Dennoch hatten die Direktinvestitio-<br />

nen, welche in den Aufbau neuer Produktionsstät-<br />

ten und Vertriebsnetze gehen sollten, nur einen An-<br />

teil von 3,9 Mrd.US- Dollar (20,2%) an dem Aus-<br />

landskapital (Höhmann 2003: 1). Die unter Putin<br />

angestrebten Steuerreformen, die pünktlichen<br />

Schuldendienste und neue Konkurs- und Bodenrechte,<br />

welchen Ausländern den Erwerb von Grundbesitz er-<br />

lauben, wirkten als vertrauensschaffende Basis für aus-<br />

schaft, Wirtschaftsdaten - Russländische Unternehmen. So steigerten sich die auslänlanddischen<br />

Direktinvestitionen in den Jahren 2001 bis 2006 enorm.<br />

b) Steuerreform<br />

Direktes Auslands-<br />

kapital in Mrd.US-<br />

Dollar<br />

2001 3,9<br />

2004 9,420<br />

2005 13,072<br />

2006 13,678<br />

Tabelle1: Quelle: eigene Dar-<br />

stellung, Daten entnommen aus:<br />

Bundesagentur für Außenwirt-<br />

Wirtschaftsfördernde Maßnahmen und die Attraktivität des wirtschaftlichen Standort<br />

Russlands haben unter Putin eine hohe Priorität. 2001 führte Putin eine sogenannte<br />

flat-tax ein, eine niedrige Einheitssteuer, welche mit der Rückfuhr von staatlichen<br />

Subventionen und Sonderfreibeträgen gekoppelt war. Den zuvor progressiv anstei-<br />

genden Steuersatz zwischen 12 Prozent und 30 Prozent wurde 2001 durch einen<br />

einheitlichen 13 prozentigen Einkommenssteuersatz ersetzt. Auch die Sozialabgaben<br />

wurden durch einen einheitlichen, degressiven Abgabensatz festgelegt (vgl. Fischer<br />

2004: 1f). Neben der Standortattraktivität stand bei den Reformen auch die Bekämp-<br />

fung der Steuerhinterziehung im Vordergrund.<br />

2004 wurde die Reform erweitert, Unternehmen sollten steuerlich entlastet werden<br />

und die Einsparungen für Investitionen nutzen. Durch Senkung des Höchstsatzes der<br />

einheitlichen Sozialsteuer auf die Löhne und Gehälter von 35,6 % auf 26% wird nun<br />

ein großer Teil des Einkommens der Arbeitnehmer besteuert. Diese Erweiterung<br />

45


führt zu einer Umverteilung auf Kosten der Arbeitnehmer und zu der angestrebten<br />

Entlastung der Unternehmer (vgl. Fruchtmann 2004: 3) Putin rechtfertigte die Steuer-<br />

reform von 2004 mit folgenden Worten: „Die Steuerreform ist ein Instrument der Ar-<br />

mutsbekämpfung. […] durch ein angemessenes Steuersystem können wir eine Er-<br />

höhung der Löhne und Gehälter sicherstellen und gleichzeitig `graue` Schemata der<br />

Bezahlung ausschließen.“<br />

(Wladimir Putin, Auftritt vor der gemeinsamen Sitzung des Finanzministeriums und<br />

des Ministeriums für Wirtschaftsentwicklung und Handel, 19.03.2004, zitiert nach:<br />

Fruchtmann 2004: 3)<br />

c) Politik und Wirtschaftselite<br />

Putin definierte nach seiner Wahl zum Präsidenten die Beziehung zwischen ihm und<br />

den Großunternehmern neu. Das Prinzip der Äquidistanz wurde Grundlage der Be-<br />

ziehung zwischen Wirtschaft und Staat gegenüber den Interessengruppen (vgl. Sty-<br />

kow 2006: 139).<br />

Durch Putins zeitweilige Verhaftungen von Oligarchen, welche durch kurz darauf fol-<br />

gende Intervention Putins wieder entlassen wurden, signalisierte Putin seine Stärke<br />

gegenüber den Interessengruppen. Ziel dieser Machtdemonstration war die Verdrän-<br />

gung aller Oligarchen aus der „großen Politik“(Stykow 2006: 140). Im Januar 2001<br />

einigte sich Putin mit dem Russländischen Verband der Industriellen und Unterneh-<br />

men (RSPP) über eine feste Einigung neuer Spielregeln. Putin vereinbarte mit den<br />

organisierten Vertretern aus der Wirtschaft regelmäßige Quartalstreffen. Dieses wirt-<br />

schaftspolitische Privileg wurde aber auf Beharren Putins an eine „politische Abrüs-<br />

tung“ der Mächtigen der Wirtschaft gebunden, das heißt den Verzicht auf politische<br />

Ambitionen und oligarchische Einflussstrategien in politische Entscheidungen. Eine<br />

weitere Bedingung seitens Putin war die konsequente Einhaltung von Regeln des<br />

Geschäftsverkehrs, beispielsweise die Achtung der Transparenz und das vorschriftli-<br />

che Zahlen von Steuern. Hinzu kam die Kondition, dass wirtschaftliche Akteure die<br />

staatliche Priorität bei Investitionsentscheidungen berücksichtigen müssen. Eine poli-<br />

tisch-ökonomische Stabilisierung Russlands sollte durch einen sozialen Konsens ein-<br />

flussreicher und ökonomisch strukturbestimmender Großunternehmen stattfinden.<br />

Putin verpflichtete die Wirtschaftseliten zur obligatorischen Übernahme sozialer Ver-<br />

antwortung in vom Staat zu bestimmenden Formen. So beispielsweise musste die<br />

Unternehmerschaft 3 Milliarden Rubel in den Fonds zur Unterstützung von Wehr-<br />

pflichtigen einzahlen. Das Einverständnis zu diesen Bedingungen konnte politisch<br />

loyale Wirtschaftsakteuren den Zugang zur Politik eröffnen (vgl. Stykow 2006: 141).<br />

46


Durch diese Vereinbarungen wurden Interessengruppen nicht vollständig aus dem<br />

Bereich der politischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen, sondern selektiv be-<br />

rücksichtigt. Putin signalisierte durch die Festlegung seiner Spielregeln, dass er sei-<br />

ne Partner als gut informierte Wirtschaftsexperten schätzte, ihnen aber keine genui-<br />

ne politische Rolle zugestand (vgl. Stykow 2006: 145). Die unter Jelzin geführten ad-<br />

hoc Begegnungen mit den Oligarchen wandelten sich damit in offizielle Spitzentref-<br />

fen von Politik und Wirtschaft.<br />

d) Forschungs- und Innovationsförderung<br />

Wissenschaft und Forschung sind in Russland hauptsächlich von staatlicher Förde-<br />

rung abhängig. Im Gegensatz zu wirtschaftlich starken und entwickelten Ländern, in<br />

denen die Innovations- und Technologieförderung bis zu 50% von der Wirtschaft fi-<br />

nanziert wird, ist dies in Russland nicht der Fall. Die wirtschaftlich erfolgreichsten<br />

Firmen in Russland sind die Erdöl und Erdgas fördernden und exportierenden Unter-<br />

nehmen. Diese sind jedoch nicht sehr forschungsintensiv und haben kein großes In-<br />

teresse an neuen Technologien und Innovationen. Forschung und Innovation sind<br />

aber zentrale Vorraussetzungen für einen anhaltenden Wirtschaftsaufschwung und<br />

sind für die internationale Wettbewerbsfähigkeit unumgänglich. In den Transformati-<br />

onsjahren behielt Russland die Ausgabenstruktur für Wissenschaft aus der Sowjet-<br />

zeit bei. Ein Vielfaches wurde für die Forschung und den Verteidigungsbereich aus-<br />

gegeben, erheblich mehr als für den sozialen Bereich. Allerdings wird in der For-<br />

schung vorallem in die Bereiche der technischen Wissenschaft investiert, nicht in die<br />

Biowissenschaften (vgl. Beketov 2003:1). Die staatlichen Investitionen in „wissen-<br />

schaftliche Forschung für die nationale Wirtschaft“ lagen 2005 bei nur 0,2% des BIPs<br />

(Federal State Statistic Service: 22.1), ungefähr so hoch wie in der Sowjetzeit. Der<br />

Anteil von Firmen die aktiv Innovation in der Industrie betreiben lag 2004 erst bei 4<br />

bis 5 Prozent (Beketov 2003:1f). Die Diversifizierung der russischen Exportprodukte<br />

nennt Putin in seiner Amtsansprache 2006 als ein vorrangiges Projekt Russlands:<br />

“Russia must realise its full potential in high-tech sectors such as modern energy<br />

technology, transport and communications, space and aircraft building. Our country<br />

must become a major exporter of intellectual services.”<br />

(Wladimir Putin: Jährliche Ansprache zur Bundesversammlung, Moskau, 10. Mai<br />

2006)<br />

Ob eine langfristige Forschungs- und Innovationsförderung zukünftig auch von der<br />

Wirtschaft getragen wird, muss sich in den kommenden Jahren herausstellen. Die<br />

Notwendigkeit dieser Investitionen in Forschung, Wissenschaft und Bildung für die<br />

47


ussische Entwicklung hat Putin bereits angesprochen und die Wirtschaftseliten zur<br />

Übernahme von Verantwortung in der wissenschaftlichen Forschung aufgefordert.<br />

e) Korruption in Russland<br />

Die Alltäglichkeit von Korruption in Russland belegt Petra Stykow (2004) kurz aber<br />

eindrucksvoll: 90%-80% der Manager in Russland 2001 gaben an regelmäßig Beste-<br />

chungszahlungen zu leisten. Derzeit liegt Russland auf Platz 121 von 142 des<br />

Transparency International Rankings zusammen mit Honduras, Swasiland und Ru-<br />

anda (TI 2006:6). Interessant ist, dass in der Untersuchung Stykows nur die Hälfte<br />

jener die sich als betroffen von korrupten Praktiken bezeichneten dies als schwer-<br />

wiegendes Problem angaben, Korruption nimmt trotz der offenbar weitgehenden<br />

Durchdringung der Gesellschaft nur eine mittelmäßige Position bei den wahrgenom-<br />

menen Problemen ein. Dies deutet auf zwei Sachverhalte hin: Zum einen Gewöh-<br />

nungseffekte, die aus der traditionell engen und undurchsichtigen Verknüpfung von<br />

Politik und Wirtschaft in Russland hervorgehen und zum anderen der Verdacht das<br />

Korruption als ein Problem „zweiter Ordnung“ (Stykow 2004:248) zur Umgehung o-<br />

der Milderung von Problemen erster Ordnung genutzt wird: Dies wären vor allem<br />

Steuern und staatliche Regulierungen.<br />

Damit rückt die Bestechung als Mittel zur Beeinflussung der Bürokratie in den Mittel-<br />

punkt: Untersuchungen der Weltbank zufolge findet diese zu 75% auf lokaler Ebene<br />

statt und beziehen sich dabei mit gut 70% auf Kontrollinspektionen, Lizenzerteilun-<br />

gen und die Steuererhebung. Begrifflich wird diese Form der Korruption als bürokra-<br />

tische `bribe extortion´ erfasst, d.h. die Behörde stellt gezielt Sperren im Verwal-<br />

tungsprozess auf die Unternehmen zur Zahlung dieser Bestechungsteuer zwingt<br />

(Pleines 2005:250f). Ein Problem solcher Studien ist die verwendete Definition von<br />

Korruption: Stykow (2004: 253) weißt darauf hin, dass die Weltbank vor allem mone-<br />

täre Bestechung erfasst und Elemente klientelistischer und parochialer Korruption<br />

nicht gewürdigt werden. Eine für die weitere Entwicklung relevante These ist das die<br />

derzeit virulenten Formen monetärer Korruption vielleicht nur eine für die Transfor-<br />

mation kennzeichnende Übergangsphase darstellt. Das bedeutet aber keine Ten-<br />

denz zum Besseren, denn diese Übergangsformen haben sich aus anderen zwar<br />

nicht geldzahlungsbasierten aber dennoch hoch problematischen Koordinierungs-<br />

formen entwickelt, sind gewissermaßen Zerfallsprodukte des ‚Gefälligkeitentauschs’<br />

in engen Personennetzwerken zu Zeiten der Sowjetunion. Der Verdacht lautet nun<br />

dass ein Rückgang offener Formen der Bestechung auch in Zukunft nicht mit einem<br />

Verschwinden der Korruption verwechselt werden darf sondern Prozesse der „Retra-<br />

48


ditionalisierung“ (ebd.:256) stattfinden in denen subtilere Formen der Beeinflussung<br />

und Interessendurchsetzung sich durchsetzen. Der übermäßig hohe Anteil ‚primitiver’<br />

Bestechung auf niedriger Verwaltungsebene sollte daher nicht als Zeichen gewertet<br />

werden das die Spitze des Systems weniger korrupt ist. Möglicherweise Fallen deren<br />

Formen nur aus der statistischen Erfassung.<br />

Die sozialpolitische Konzeption Russlands<br />

Die wirtschaftspolitischen Reformen Putins werden von seiner sozialpolitischen Re-<br />

form flankiert. Seine Konzeption stützt sich auf drei Hauptelemente, der Sicherung<br />

des Bestands und der Loyalität der russischen Bevölkerung, der Monetarisierung so-<br />

zialer Hilfe und der Eliminierung von aus der Sowjetzeit stammenden Sozialhilfsleis-<br />

tungen sowie steuerpolitischen Maßnahmen. Eine konsequente und erfolgreiche So-<br />

zialpolitik hält Putin nicht nur für den Garant des sozialen Friedens, sondern auch als<br />

Basis der Sicherung des loyalen Verhältnisses des Volkes zum Staat (vgl. Frucht-<br />

mann 2004:1). Seit Beginn seiner Amtszeit kritisierte Putin die mangelnde Realisie-<br />

rung der sozialpolitischen Verpflichtungen des Staates gegenüber der Bevölkerung.<br />

Um diese Missstände zu beseitigen reduzierte Putin die sozialpolitischen Verpflich-<br />

tungen des Staates, um diese, gegenüber bisheriger Praxis, auch einzuhalten.<br />

„Denn,“ so Putin auf einem Treffen mit Gewerkschaftsvertretern 2001, „durch die<br />

Einhaltung der bescheidenen Verpflichtungen, […] geht wenigstens nicht das Ver-<br />

trauen des Volkes in die Staatsmacht und alle anderen Institutionen, die eng mit der<br />

Staatsmacht verbunden sind, verloren.“ (Putin; zitiert nach. Fruchtmann 2004:1)<br />

a) Monetarisierung der Sozialpolitik<br />

Putin strebte eine Gesetzesform an, welche eine Umwandlung der sozialen Hilfe<br />

durch Sachleistungen in reine Geldleistungen vorsah. 27% der Bevölkerung hatten<br />

bis dahin Anspruch auf freie Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, verbilligte öffent-<br />

liche Versorgungsleistungen, kostenloses Telefon, kostenlose medizinische Betreu-<br />

ung sowie einer Vielzahl von weiteren Hilfsleistungen. Diese materiellen Nutzungs-<br />

rechte wurden in Form von monatlichen Geldzahlungen in Höhe von 300 bis 1.550<br />

Rubel ersetzt (Wolkow/Peters 2004: 1). Zusätzlich stellt die Regierung den Bedürfti-<br />

gen ein sogenanntes „Sozialpaket“ zur Verfügung, welches die Betroffenen für mo-<br />

natlich 450 Rubel erwerben können. In diesem Paket sind kostenlose ärztliche Be-<br />

handlungen, Sanatoriumsbesuche und freie Benutzung des öffentlichen Nahverkeh-<br />

res enthalten. Jedoch können nur wenige Russen dieses Paket in Anspruch nehmen,<br />

da die Ausgaben für dieses Paket das monatliche Budget der Bedürftigen überstei-<br />

49


gen würden (vgl. Wolkow/Peters 2004: 1) Die von der Regierung angebotenen Geld-<br />

leistungen müssen zudem in Relation der stetig steigenden Preise für Dienstleistun-<br />

gen – Gesundheitspflege, Versorgungsleistungen, Transport und Kommunikation -<br />

gesehene werden. Die Betroffenen starteten eine Reihe wütender Proteste, worauf<br />

zahlreiche Regionen die neue Regelung schlichtweg rückgängig machten (vgl.<br />

Schwethelm 2005: 6f) Russlands Präsident sieht in den Geldleistungen aber vor al-<br />

lem einen Wachstums fördernden Effekt, da die Geldzahlungen die zahlungsfähige<br />

Nachfrage steigern würden (vgl. Fruchtmann 2004: 2). Im Zuge der Monetarisierung<br />

wurde auch festgelegt, dass ein Teil der Geldleistungen von den russischen Provin-<br />

zen übernommen werden sollten. Der Anteil der Transfers vom föderalen Haushalt<br />

an die regionalen Haushalte sank von 31,1% auf 29,8%. Viele dieser Provinzen sind<br />

jedoch insolvent, haben kein ausreichendes Steuereinkommen und kommen mit den<br />

gesunken Finanzspritzen aus Moskau nicht aus.<br />

b) Privatisierung des Staatsbetriebes am Beispiel der Gesundheits- und<br />

Rentenpolitik<br />

In den Transformationsjahren hat sich eine Zweiklassen- Medizin herausgebildet.<br />

Das Personal im Gesundheitswesen ist unterbezahlt, was einen Schwarzmarkt für<br />

medizinische Dienstleistungen begünstigte. Da 95 Prozent der Russen vom staatli-<br />

chen Gesundheitssystem abhängig sind, waren diese darauf angewiesen durch Be-<br />

stechungsgelder und extra Zahlungen eine medizinische Versorgung zu bekommen.<br />

Ohne diese Art von Bezahlung war nur eine medizinische Basisvorsorge zu erhalten.<br />

Nur fünf Prozent der Bevölkerung sind privat versichert und haben so Zugang zu<br />

medizinischen Versorgung westlichen Standards in Privatkliniken (vgl. Schwethelm<br />

2005:7). Durch eine Trennung von staatlicher medizinischer Grundversorgung und<br />

darüber hinausgehenden privat zu bezahlenden Leistungen sollte dem „Schwarz-<br />

markt“ im Gesundheitswesen einen Riegel vorgeschoben und gleichzeitig das unter-<br />

finanzierte Gesundheitssystem entlasten werden.<br />

Ähnlich sahen auch die Reformen in der Rentenpolitik aus. Viele Arbeitnehmer las-<br />

sen sich einen Teil ihres Lohnes inoffiziell auszahlen, so müssen die Arbeitgeber<br />

weder Steuern noch Rentenbeiträge für ihre Arbeitnehmer bezahlen. Ein Ergebnis<br />

der Rentenreform soll sein, dass die Arbeitnehmer bei ihren Arbeitgebern darauf be-<br />

stehen, ihren Lohn zu deklarieren um so höhere Renten zu bekommen (vgl. Schaki-<br />

na 2003).<br />

„Der heutige Mitarbeiter ist wegen seiner zukünftigen Rente daran interessiert, „sau-<br />

ber“ bezahlt zu werden, nicht im Umschlag, sondern direkt. […]“<br />

50


(Putin, Gespräch mit der Bevölkerung, 18.12.2003, zitiert nach: Fruchtmann 2004:4)<br />

Die Rentenreform Putins sah einen partiellen Umstieg vom Umlageverfahren zum<br />

Kapitaldeckungsverfahren zur langfristigen Entlastung des staatlichen Rentenfonds<br />

vor (vgl. Schwethelm 2005: 3). Die bisherige „Einheitsrente“ wurde so in eine staat-<br />

lich finanzierte Grundrente und einen Anteil der privaten Vorsorge aufgeteilt. Durch<br />

diesen neuen Ansatz soll ein Markt für private Versicherungsgesellschaften und<br />

Banken geschaffen werden und Rentengelder zur Grundlage finanzwirtschaftlicher<br />

Geschäfte gemacht werden. (vgl.: Fruchtmann 2004: 3). Eine private Vorsorge ist<br />

jedoch teuer und kann nicht von allen Arbeitnehmern in Anspruch genommen wer-<br />

den.<br />

51


c) Armutsbekämpfung<br />

1989 147,0<br />

2001 146,3<br />

2006 142,8<br />

profiles: Russia<br />

Gebur-<br />

199<br />

2<br />

200<br />

1<br />

200<br />

6<br />

Eines der schwerst zu lösenden Probleme<br />

Russland ist der Bevölkerungsrückgang.<br />

Russland hat als einziger <strong>BRIC</strong>-Staat ein rück-<br />

läufiges Bevölkerungswachstum. Seit den<br />

neunziger Jahren sinkt die Bevölkerungszahl<br />

beständig. Zum einem resultieren diese Daten<br />

von den Auswanderungen der Russen Rich-<br />

tung Westen in den Jahren nach der Grenz-<br />

öffnung. Die Auswanderungen konnten je-<br />

doch relativ lange durch die Einwanderung<br />

zurückkehrender Russen aus den angren-<br />

zenden ehemaligen Sowjetstaaten kompen-<br />

siert werden, welche aber immer weniger<br />

werden. Langfristige Auswirkungen wird zu-<br />

dem die sinkende Geburtenrate haben.Zwar<br />

hat sich das negative Bevölkerungswachs-<br />

tum von Tiefstand 2001 mit -0.66 % verbes-<br />

sern können, dennoch wird die weiterhin ne-<br />

gative Entwicklung von momentan -0.48%<br />

schwerwiegende Probleme aufwerfen.<br />

„In diesem Jahr ist die Geburtenrate weiter<br />

gestiegen. […] Mehr als 31 Millionen [Bürger]<br />

leben unterhalb der [Armuts]grenze. Solange<br />

wir derartige Probleme nicht gelöst haben, können wir nicht sagen, dass wir unsere<br />

Aufgabe gelöst haben. „<br />

(Putin Gespräch mit der Bevölkerung, 18.12.2003, nach: Fruchtmann 2004:1)<br />

Die negative Tendenz in der Bevölkerungsentwicklung sieht Putin als eine Folge des<br />

hohen Grades der Verarmung der Bevölkerung und dem Mangel an sozialer Sicher-<br />

heit (vgl. Fruchtmann 2004:1), welche vom russischen Staat bekämpft werden müs-<br />

sen. <br />

ten<br />

Pro<br />

1000<br />

Einw.<br />

Bevölkerung<br />

d) Armut in Russland<br />

in Mil. Personen<br />

Tabelle2: Eigene Darstellung, Daten ent-<br />

nommen aus:OECD: country statistical<br />

Todes-<br />

Fälle<br />

Pro.<br />

1000<br />

Einw.<br />

Bevölke<br />

rungs-<br />

zunah-<br />

me<br />

10,7 12,2 -1,5<br />

9,0 15,6 -6,6<br />

10,4 15,2 -4,8<br />

Tabelle3: Eigene Darstellung, Daten<br />

entnommen aus: Federal Statistic Service:<br />

5.5<br />

Der Wirtschaftseinbruch im Jahre 1998 und die fehlenden Reformen sowie der Weg-<br />

bruch des sowjetischen Sozialsystems trugen dazu bei, dass in Russland je nach<br />

Studie 20- 25 % der Bevölkerung in Armut leben. Einer Studie von Tatjana Malewa,<br />

52


in der das Einkommen der Haushalte mit den Ausgaben zusammen mit einer Selbst-<br />

einschätzung der Betroffenen ausgewertet wurde, fand heraus, dass 1999 knapp<br />

25% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebten, 2002 waren es „nur noch“<br />

19,6% (vgl. Schwerthelm 2005:2).Von der Armut betroffen sind vor allem Familien,<br />

Arbeitslose und Rentner. Über die Hälfte der Armen geht jedoch einer Arbeit nach,<br />

kommt mit dem Lohn aber nicht aus. Für viele Experten liegt deshalb die Lösung des<br />

Problems in der Erhöhung der Löhne (vgl. Schwethelm 2005: 4). Schaut man sich<br />

die Entwicklung der Löhne in dem Zeitraum von 1995 bis 2006 an so sieht man, dass<br />

schon eine enorme Lohnsteigerung stattgefunden hat. Besonders auffallend ist, dass<br />

Bedienstete in den öffentlichen Bereichen wie Bildungswesen, Gesundheits- und So-<br />

zialwesen zu der einkommensschwächsten Gruppe gehören.<br />

1995 2001 2006<br />

Total 472,4 3240,4 10727,7<br />

Landwirtschaft,<br />

Forstwirtschaft und Jagd<br />

Schürfung und Gewinnung von E-<br />

nergierohstoffen<br />

259,4 1434,6 4577,7<br />

752.6 5386,5 15527,2<br />

Bildungswesen 309,3 1833.0 6984,3<br />

Gesundheits- und Sozialwesen 345.0 1959.9 8092.0<br />

Tabelle4. eigene Darstellung, Daten entnommen aus: Federal State Statistic Service, 7.7<br />

Parallel zu der Lohnentwicklung sind aber auch die Kosten des Existenzminimums<br />

gestiegen. Das Existenzminimum setzt sich aus den eingeschätzten Kosten der mi-<br />

nimalen Menge an Lebensmittel und aus Kosten für Waren und Dienstleistungen<br />

zum Schutz der Gesundheit und Lebenserhaltung sowie anderer notwendiger Ge-<br />

bühren - Kosten für Wohnen, Sozialausgaben, Steuern - zusammen (vgl. Erdmann-<br />

Kutnevic 2006: 34).<br />

Lagen die monatlichen Durchschnittskosten im Jahr 2000 noch bei 1210 Rubel, so<br />

stiegen sie jährlich um ungefähr 300 Rubel. 2004 betrugen die Kosten im Durch-<br />

schnitt 2376. Für Kinder liegen diese Kosten generell etwas niedriger, für Menschen<br />

im altersfähigem Alter etwas höher.<br />

2001 2002 2003 2004<br />

Existenzminimum RUR/Mon. 1500 1808 2112 2376<br />

Tabelle 5: eigene Darstellung; Daten entnommen aus: Federal Statistic Service: 7.11<br />

53


Besonders stark sind die regionalen Unterschiede in der Armutsverteilung in Russ-<br />

land. Im Jahre 2002 variierte der Anteil der Bevölkerung, welcher unterhalb der von<br />

der Weltbank festgelegten Armutsgrenze von 3,1 % in St. Petersburg/ Stadt bis zu<br />

55,6% im süd-östlichen Russland, in der Republik Dagestan. Knapp 1/3 der Bevölke-<br />

rung auf dem Land lebt unterhalb der Armutsgrenze (vgl. Schwethelm 2005: 4). Aber<br />

auch die regionalen, ländlichen Gebiete differieren stark. So liegt der Anteil der an<br />

Armut leidenden Bevölkerung in dem Gebiet Kamtschatka/ Förderalgebiet Fernost<br />

„nur“ bei 13,8% Prozent. In dieser Region sind große Erdölvorkommen, welche ge-<br />

fördert werden (russlandanalysen 49/2004:9f).<br />

e) Bildungspolitik<br />

Obwohl relativ viel Arme in Russland leben liegt die Alphabetisierungsquote bei 99%,<br />

im Vergleich zu Brasilien, Indien und China sehr hoch. Trotz der sehr hohen Alpha-<br />

betisierung der Bevölkerung ist das Bildungssystem schlecht und unterfinanziert.<br />

Zum einem fand nach der Öffnung der Grenzen ein regelrechter „Brain- drain“ statt,<br />

eine Auswanderungswelle von Akademikern gen Westen. Die Zahl der in Russland<br />

tätigen Wissenschaftlern halbierte sich zwischen 1992 und 2004 von 804.000 auf<br />

410.000 (Meyer:2006:1). Um die Zerfallstendenzen im Bildungs- und Wissenschafts-<br />

bereich zu bekämpfen erklärte Putin im September 2005 Bildung und Wissenschaft<br />

als „national vorrangiges Projekt“. Dieses Projekt sieht vor allem die finanzielle Un-<br />

terstützung von Schulen und Hochschulen vor. Die Bildungsausgaben beliefen sich<br />

2006 auf 0,8% des BIPs und wurden 2007 auf 0,9% des BIPs erhöht (vgl. Auswärti-<br />

ges Amt 2007: Russlands Bildungs- und Kulturstruktur).<br />

f) Umweltpolitik<br />

Ein Großteil der Menschen in Russland leidet unter starkenUmweltverschmutzungen.<br />

70% des von russischer Bevölkerung genutzten Trinkwassers liegt der Qualität nach<br />

unterhalb des international festgelegten Mindeststandards. Auch der von landwirt-<br />

schaftlichen Betrieben genutzte Boden ist zum größten Teil mit Schadstoffen verun-<br />

reinigt. Die Lufterschmutzung in Russland ist gravierend. 67% der Bevölkerung<br />

(Neidlin 2002: 1) leben in Gebieten mit einer sehr hohen Schadstoffbelastung der<br />

Luft. Ungefähr 19% der Siedlungsfläche weisen Schwermetallkonzentrationen auf,<br />

die Entsorgungssysteme für Industrie- und Haushaltsabfälle sind überbelastet –2002<br />

hatten sich bereits 1,8 Milliarden Tonnen Giftmüll angesammelt, die Zuwachsrate<br />

liegt bei 108 Mil. Tonnen- und Dutzend alter Atom-U-Boote produzieren jährlich 3500<br />

Kubikmeter radioaktiven Müll (vgl. Neidlin 2002:1).<br />

54


Putin verabschiedete 2002 das „Mittelfristige Wirtschaftsentwicklungsprogramm für<br />

die Russische Förderation 2002 bis 2004“, in welchem unter anderen die umweltpoli-<br />

tischen Ziele formuliert sind. Als Ziele in der Umweltpolitik wurden der Ausbau öko-<br />

nomischer Anreize für den Umweltschutz, die Durchsetzung des Verursacherprinzips<br />

und die Förderung der ressourcen- und energiesparenden Technik formuliert (vgl.<br />

Neidlin 2002:1).<br />

Dennoch reichen diese Absichten nicht aus, um die ökologischen Schäden zu redu-<br />

zieren geschweige denn zu beseitigen. Die von Russland verursachte Umweltver-<br />

schmutzung hat in vielen Fällen bereits eine grenzüberschreitende Dimension er-<br />

reicht. Eine Bekämpfung dieser Umweltprobleme ist deswegen unumgänglich, findet<br />

aber unter Putin noch nicht genügend Beachtung. Putin gliedert den Umweltschutz in<br />

sein Wirtschaftsentwicklungsprogramm ein, ordnet diesen jedoch der wirtschaftlich-<br />

erfolgreichen Entwicklung unter.<br />

Reformen zur nachhaltigen Entwicklung?<br />

Putins sozialpolitische Reformen sind eine Verlängerung seiner markt- und wachs-<br />

tumsorientierten Wirtschaftspolitik. Eine funktionierende Wirtschaftspolitik bleibt für<br />

Putin die beste Sozialpolitik. Durch die Wirtschaftsförderung sollen sich auch Mög-<br />

lichkeiten zur Lösung von sozialen Problemen ergeben. Seine Strategie konnte je-<br />

doch nur im bedingten Maße die Verarmung der Bevölkerung verringern. In der<br />

Amtszeit Putins konnte sich zwar eine neue Oberschicht herausbilden, jedoch ist<br />

Diskrepanz zwischen den Einkommen dieser neuen Oberschicht und der unteren<br />

Schichten der Bevölkerung stark gewachsen. Der Gini- Koeffizient des Einkommens,<br />

welcher die soziale Ungleichheit misst, ist in den Jahren nach dem Zusammenbruch<br />

und auch unter Jelzin und Putin in die Höhe geschnellt. Auf 40% der Bevölkerung<br />

entfielen im Jahre 2004 67,1% des gesamten Einkommens Russlands, die Hälfte<br />

dieser erwirtschaftete allein 46,4 % des Gesamteinkommens Russlands. Der Gini-<br />

Koeffizient des Einkommens ist unter Putin von 0,395 auf 0,406 angestiegen (vgl.<br />

Meyer 2006: 8).<br />

Ein funktionierendes Sozialsystem konnte sich unter Putin noch nicht etablieren.<br />

Durch die an die marktwirtschaftlichen Prinzipien angepasste Sozialpolitik entstand<br />

eine neue Unterschicht. Der Anteil der unter dem Existenzminimum lebenden Bevöl-<br />

kerung ist unter Putin auf unter 20% gesunken, jedoch konnte die Diskrepanz zwi-<br />

schen den zentralen und den süd-östlichen Gebieten nicht verringert werden. Die<br />

Bekämpfung der Armut gilt als grundlegende Bedingung für eine steigende Bevölke-<br />

55


ungszahl. Das negative Bevölkerungswachstum könnte eines der größten Probleme<br />

für die russische Wirtschaft und Sozialpolitik in den kommenden Jahren darstellen.<br />

Bedingt bestünde die Möglichkeit mit einer vereinfachten Einwanderungspolitik Ar-<br />

beitskräfte in das Land zu holen, jedoch stoßen Überlegungen dieser Art auf nationa-<br />

listischen Widerstand und auf Integrationsprobleme der ausländischen Arbeiter in die<br />

russische Gesellschaft.<br />

Für eine ökonomische Entwicklung hat Putin in seiner Amtszeit grundlegende Re-<br />

formen verabschiedet und auf kommende Probleme der Wirtschaft hingewiesen. Vor<br />

allem die Diversifizierung der Wirtschaft muss voran getrieben werden um den öko-<br />

nomischen Aufschwung zu erhalten.<br />

Russlands Märkte<br />

Binnenmarkt und Importe<br />

Mit Blick auf die Ergebnisse der Weltbank (2006) in ihrem Russian Economic Report<br />

und die Angaben des Federal State Statistic Service (GKS) stellt sich die Lage der<br />

russischen Wirtschaft im Jahr 2006 wie folgt dar: Lohnsteigerungen auch durch die<br />

Gewinne des Öl und Gasexports haben die Binnennachfrage gestärkt, dies ging ein-<br />

her mit steigenden Investitionen in fixes Kapital und einem Anstieg der ausländi-<br />

schen Direktinvestitionen. Schwerpunkt des Wachstums lag bei den nicht handelba-<br />

ren Gütern, insbesondere das Baugewerbe mit 13,2% Zuwachs, in der Mehrzahl<br />

durch privaten Wohnungsbau, und dem Handel mit 12,5%. Beide machten 2006 gut<br />

die Hälfte des BIP-Zuwachses von 6,6% aus. Das verarbeitende Gewerbe fiel im<br />

Vergleich zurück, besonders Betroffen war die Produktion von Maschinen und Aus-<br />

rüstungen die stagnierte und die Elektroindustrie die 1,5% schrumpfte. Ausnahme<br />

waren die Gas-, Wasser und Energieversorger die um knapp 5% wuchsen. Über die<br />

nächsten Jahre sollen mit sukzessiven Preissteigerungen (bis 2010 für Gas sind 90-<br />

100% vorgesehen) ausstehende Investitionen finanziert werden. Im Gassektor ist<br />

das Ziel die Profitabilität des Binnenhandels der des Exports anzugleichen – die Ge-<br />

winne werden benötigt um bisher ungenutzte Vorkommen auszubeuten und einem<br />

steigenden Bedarf gerecht werden zu können. Dies alles kann als Folge der fortlau-<br />

fenden Aufwertung des Rubels (8% in den ersten drei Quartalen 2006) betrachtet<br />

werden: Von dem Wachstum profitieren Branchen die keiner internationalen Konkur-<br />

renz ausgesetzt sind (Weltbank 2006:3).<br />

56


Die Investitionen in fixes Kapital sind weiterhin auf den Energiesektor, die Logistik<br />

und den Immobilienhandel konzentriert. Zieht man die Metallindustrie ab verblieben<br />

im verarbeitenden Sektor nur 13% dieser Investitionen. Für ausländische Direktin-<br />

vestitionen ergibt sich ein ähnliches Bild, hier bleiben nach Abzug der metall-, koks-<br />

und ölproduzierenden Betriebe nur 17,1% der Gelder im verarbeitenden Gewerbe.<br />

Die Energieträgergewinnung ist hier insgesamt dominant.<br />

Goskomstat gibt außerdem den Anteil der langfristigen Investitionen mit 30% am Ge-<br />

samtaufkommen an. Diese sind auf den Bergbau, d.h die Energieträgerförderung,<br />

und die Gas-, Wasser und Energieversorgung konzentriert. Verarbeitendes Gewerbe<br />

und Chemieindustrie zeigen hier eine gemischt Bilanz, d.h. einen beträchtlichen An-<br />

teil kurzfristiger und damit volatiler Investitionen.<br />

Schließt man sich der Analyse von Hermann Clement (2005:62f) über den Beitrag<br />

der Außenwirtschaft zum russischen Aufschwung an dann gilt es zuerst festzustellen<br />

das der schnelle Anstieg des Außenhandelsüberschusses seit 1999 nicht der Anstoß<br />

für diese Entwicklung war. Unstrittig ist allerdings das es sich hier um einen massiv<br />

stabilisierenden Faktor handelt. Ich werde hier die Entwicklung des Außenhandels<br />

der russischen Förderation kurz darstellen und zentrale Elemente und Besonderhei-<br />

ten dieser Entwicklung diskutieren.<br />

Mrd. USD<br />

140<br />

120<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

Handelsbilanz<br />

1995 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006<br />

(Daten: www.gks.ru)<br />

57<br />

GUS<br />

Nicht GUS<br />

Zuerst ist der bemerkenswerte Anstieg des Außenhandelsüberschusses an sich, das<br />

sich von 19,5 Mrd. $ 1995 auf 140,7 Mrd. $ im Jahr 2006 mehr als versiebenfacht hat<br />

und dabei allein gegenüber 2005 um 27% zugenommen hat (GKS-Online). Haupt-<br />

partner sind dabei Staaten außerhalb des Kreises der GUS mit besonderem


Schwerpunkt bei der EU, die Ziel von gut 50% der russischen Exporte ist und aus der<br />

45% der Importe stammen (vgl. Clement 2005:73).<br />

Bezüglich der Art der Waren die im- oder exportiert werden hat sich eine über den<br />

gesamten hier erfassten Zeitraum erkennbare Struktur herausgebildet die Anhalts-<br />

punkte für die weitere Entwicklung der russischen Wirtschaft liefert. Der Export mine-<br />

ralischer Rohstoffe war schon 1995 mit 42,5% des Gesamtexports der größte Pos-<br />

ten und ist seitdem konstant gewachsen auf 62,7% im Jahr 2006. Außer den land-<br />

wirtschaftlichen Produkten, deren Exportvolumen sich in diesem Zeitraum vervier-<br />

facht hat, haben alle anderen Exportgüter demgegenüber prozentual an Anteilen ver-<br />

loren. Die Kategorie der mineralischen Rohstoffe erfasst zu einem Großteil nur die<br />

Förderung von Energieträgern, Clement gibt den Anteil des Energieträgerexports am<br />

BIP für 2004 mit etwa 25% an (ebd.:64).<br />

Auf der Importseite bildet die Einfuhr von Maschinen und Ausrüstungen dazu das<br />

Spiegelbild. War diese Art von Gütern mit einem Drittel der Importe 1995 schon do-<br />

minant so hatte sich ihr Volumen bis 2006 vervierfacht und ihr Anteil war auf 47,7%<br />

gestiegen. Die Einfuhr von chemischen und Gummiprodukten hat ebenfalls ihren An-<br />

teil steigern können, hier auf 15,8%. Diese Importe haben insgesamt einen substitu-<br />

tiven Charakter, sie bedienen also eine Nachfrage die von keinem inländischen An-<br />

bieter gedeckt werden könnte. Ein Hinweis hierauf ist dass der beim Import so stark<br />

vertretene Maschinenbau nur weniger als 6% des Exportes stellt. Für die Bewertung<br />

ist das interessant weil substitutivem Handel im Gegensatz zu komplementärem auf<br />

Dauer geringere Wachstumsperspektiven zugerechnet werden (ebd.:72). Diese spe-<br />

zielle Versorgungslücke im Maschinenbau könnte für eine weitere Modernisierung<br />

des notorisch veralteten Maschinenparks der russischen Industrie, geschätzt wird<br />

das nur ca. 5% der Maschinen jünger als 15 Jahre sind (vgl. ICM 2006:5), von Nach-<br />

teil sein wie der sehr hohe Anteil von Importware in strategisch wichtigen Betrieben<br />

andeutet. Hohe Investitionen hier gehen an der russischen Volkswirtschaft vorbei.<br />

Probleme des Außenhandels<br />

Vieldiskutierter und vielleicht auch problematischer ist die Einseitigkeit der Exporte,<br />

die zunehmende Bedeutung fossiler Energieträger. Zunächst ist klar dass diese Res-<br />

sourcen endlich sind, ihr Ende ist wohldokumentiert und absehbar. Doch selbst so-<br />

lange die Förderung noch aufrecht erhalten werden kann ist festzuhalten dass das<br />

Verhältnis von investiertem Kapital und Wertschöpfung pro Arbeiter in anderen In-<br />

dustriezweigen wie im Metallverarbeitenden Gewerbe und dem Maschinenbau güns-<br />

58


tiger ausfällt als im Rohstoffsektor. Hier kann die Produktivität durch weitere Investiti-<br />

onen mehr gesteigert werden als in der Förderung von Energieträgern (vgl. Hishow<br />

2005:88). Dies steht in einem engen Zusammenhang mit der enormen Kapitalinten-<br />

sivität dieses Sektors was besonders in den Problemen des Pipelinenetzes deutlich<br />

wird. Der Ausbau von Transportinfrastruktur die eine Verbreiterung des Abnehmer-<br />

kreises für russisches Öl und Gas gen Osten ermöglichen soll erweist sich als enorm<br />

kostenintensiv. Auch diese Bindung an Kunden durch einmal gebaute Pipelines stellt<br />

für sich ein Risiko dar. Eine andere Frage ist die nach einer Wirkung von Preis-<br />

schwankung auf den Rohstoffmärkten auf das russische Wachstum. Anschaulich ist<br />

hier die Schätzung, dass ein Anstieg des Ölpreises um einen Dollar pro Barrel mit<br />

zusätzlichen Einnahmen für die russische Wirtschaft von 2 Mrd. $ und einer Zunah-<br />

me des Budgets der Förderation um 1 Mrd. $ verbunden ist (Clement 2005:71fn).<br />

Das wären zwar nur 0,25% des Hauhaltes 2007, doch allein in der Zeit der Entste-<br />

hung dieser Arbeit zwischen Mitte August und Mitte Juli schwankte der Rohölpreis<br />

um 7$ pro Barrel. Es muss davon ausgegangen werden, dass Veränderungen im<br />

Ölpreis spürbare Konsequenzen hätte – im positiven wie auch im negativen. Eben-<br />

falls diskutiert wird die Gefahr einer für die bereits unterentwickelte Exportindustrie<br />

verheerenden Aufwertung des Rubels aufgrund sprudelnder Devisenquellen auf dem<br />

Rohstoffmarkt, die “Dutch Desease”. Ein verlässlicher Nachweis der „Holländischen<br />

Krankheit“ in Russland konnte allerdings noch nicht erbracht werden. Obwohl einige<br />

der zu erwartenden Symptome, Wechselkursaufwertung, Lohnniveausteigerung und<br />

ein Rückgang des verarbeitenden Gewerbes zugunsten des Dienstleistungssektors<br />

erfüllt werden. Das Problem bei der Diagnose ist das Phänomene wie die Lohnni-<br />

veausteigerungen der letzten Jahre auch von anderen Prozessen verursachte wer-<br />

den, wie bspw. einer Erholung gegenüber den Einbrüchen von 1998, die Formalisie-<br />

rung von zuvor in die Schattenwirtschaft abgewanderten Arbeitsverhältnissen oder<br />

auch von den real stattfindenden Produktivitätszuwächsen. Das Verhältnis von ver-<br />

arbeitendem Gewerbe zur Dienstleistungsbranche ist ebenfalls zwiespältig: Das be-<br />

obachtbare schnellere Wachstum im Dienstleistungssektor könnte ein Hinweiß auf<br />

eine relative Deindustrialisierung sein, könnte aber auch andererseits ein Aufholpro-<br />

zess typisch für die Vernachlässigung dieses Bereiches im sowjetischen System sein<br />

oder auf Fehlern der offiziellen Statistik basieren. Besonders problematisch ist dass<br />

das ausweisen von Geschäftsteilen als Dienstleistung mit Steuervorteilen verbunden<br />

ist, weshalb dieser Bereich vermutlich überrepräsentiert ist (vgl. Höhl 2007:5f). Trotz<br />

einzelner erfüllter Indikatoren ist aufgrund dieser Überdeterminierung ein klarer empi-<br />

59


ischer Beweis von gesamtwirtschaftlich negativen Konsequenzen des Ölexports<br />

nicht möglich. Dies kann zumindest insofern als Bestätigung der Initiative der russi-<br />

schen Regierung zur Einrichtung des Stabilisationsfonds gewertet werden als die<br />

Folgen die durch diesen Fond eingedämmt werden sollen zumindest nicht offensicht-<br />

lich eingetreten sind. Dennoch wird praktisch überall die Empfehlung einer Verbreite-<br />

rung der Exporte und vor allem einer Diversifizierung der Industrie, vor allem in den<br />

bei der Diskussion der Im- und Exporte aufgezeigten länger bestehenden Schwach-<br />

stellen, aufrecht erhalten (vgl. Höhmann et.al. 2005).<br />

Die Exportabhängigkeit der Rüstungswirtschaft<br />

Eine Besonderheit der russischen Exportwirtschaft ist die Rüstungsindustrie, die in<br />

den letzten Jahren dank eines wachsenden Verteidigungsetats ihre Produktion mas-<br />

siv steigern konnte. Interessant am Fall Russland ist allerdings vor allem das Ver-<br />

hältnis von Produktion für den Bedarf der eigenen Streitkräfte zu dem Verkauf an an-<br />

dere Nationen. Russland ist der weltweit zweitgrößte Exporteur von Militärgütern mit<br />

einem geschätzten Exportvolumen von ca. 6 Mrd. $ für das Jahr 2006. Das sind un-<br />

ter Abzug des Exports von Energieträgern gute 6% der russischen Gesamtausfuhren<br />

dieses Jahres und im Verhältnis zur Gesamtwirtschaft 14,9% des BIP (eigene Be-<br />

rechnungen, SIPRI-Online). Zum Vergleich beträgt dieses Verhältnis im Fall der USA<br />

als weltgrößtem Exporteur von Rüstungsgütern nur 0,35%. Berechnet wurden hier<br />

die vergebenen Exportlizenzen nach Angaben des US-Verteidigungs-ministeriums.<br />

Auch unter Bezugnahme auf die Verteidigungsausgaben bestätigt die Exportlastig-<br />

keit der russischen Rüstungsindustrie: Die Ausfuhren 2006 hatten einen Wert von<br />

17,3% des Rüstungsetats, für die USA beträgt dieser Wert im selben Zeitraum 5,3%.<br />

Das hohe Rating Russlands in der SIPRI-Statistik für Waffentransfers verdankt sich<br />

allerdings nicht nur diesen Zahlen. Rüstungsexporte haben die Eigenheit das die ge-<br />

zahlten Beträge nicht zuverlässig den `Gebrauchswert´ der gelieferten Waren wider-<br />

spiegeln Das Problem sind hier nicht nur politisch motivierte Rabatte oder Aufschlä-<br />

ge oder die Bewertung des technischen Standes des gelieferten Materials sondern<br />

auch mehr oder weniger `geldwerte´, mit den Lieferungen eng verknüpfte Leistun-<br />

gen. Zu nennen wären hier die Regelung von Dienstleistungen wie Wartung und In-<br />

standhaltung, die Möglichkeit der Lizenzproduktionen im eigenen Land oder auch<br />

sehr weitreichende Anpassungen der zum Verkauf angebotenen Systeme nach<br />

Wünschen des Kunden bis hin zu einer gemeinsamer Forschung und Entwicklung.<br />

Russland hat in diesem Bereich über die letzten Jahre eine außergewöhnlich kun-<br />

60


denfreundliche Politik betrieben und so mehrfach europäische und amerikanische<br />

Konkurrenzunternehmen im Wettbewerb um Beschaffungsausschreibungen ausge-<br />

stochen. Das die SIPRI-Statistik über Rüstungstransfers zumindest Teile dieser be-<br />

sonderen Faktoren würdigt ist ein Grund für hohe Wertung Russlands direkt unter<br />

den USA.<br />

Hauptziele der russischen Exporte 2006 waren China mit 47%, Indien mit 18,5% und<br />

der Iran mit 12,3% (SIPRI-Online). Von 1992 bis heute gerechnet erhielten diese drei<br />

Länder knapp über zwei Drittel der russischen Ausfuhren. Indien erweißt sich dabei<br />

als ein Paradebeispiel: Auf Basis langfristiger Zusammenarbeit erhielt das Land<br />

hochwertige Flugzeuge zu ausnehmend günstigen Konditionen wie Produktionsli-<br />

zenzen und umfassenden Modifikationen unter Mithilfe von israelischen und franzö-<br />

sischen Rüstungsfirmen. Flugzeuge bilden auch insgesamt den Schwerpunkt der<br />

russischen Exporte und eben deswegen ist die differenzierte Wertung der SIPRI-<br />

Daten von Vorteil: Gerade hier sind Fragen der Ersatzteillieferung oder -<br />

eigenproduktion, Wartung und Modernisierung besonders kostenintensiv und wegen<br />

ihres technischen Niveaus begehrt, da der Erwerb des entsprechenden Know-Hows<br />

für die Käufernation prestigeträchtig und auch real lohnenswert für Entwicklung einer<br />

eigenen Hochtechnologiebranche sein kann. Es bleibt also festzuhalten, dass der<br />

russische Staat große Mengen von Rüstungsgütern verkauft und dass diese von<br />

technisch ungewöhnlich hohem Niveau sind.<br />

Die russische Rüstungsindustrie befindet sich dementsprechend in einem deutlichen<br />

Wachstumsschub, von 1999 bis 2006 konnte der Output um 80% gesteigert werden<br />

und staatliche Investitionen in dem Sektor haben sich in diesem Zeitraum veracht-<br />

facht (vgl. SIPRI 2006:441f). Dies sollte allerdings nicht als ein Ausbau der Kapazitä-<br />

ten zur Waffenproduktion interpretiert werden. Vielmehr handelt es sich um die prak-<br />

tisch nachholende Finanzierung eines immer noch bestehenden Forschungs-, Ent-<br />

wicklungs- und Produktionsoverheads der die mageren Jahre gewissermaßen über-<br />

wintern konnte. Die Reaktivierung solcher Kapazitäten ist bei weitem nicht abge-<br />

schlossen was sich momentan in rapide steigenden Stückzahlpreisen ausdrückt die<br />

aus dem Instandhaltungskosten nicht genutzter Einrichtungen resultieren (vgl. ebd.:<br />

444fn). Wenn ich oben auf den Wert des mit den eigentlichen Systemen exportieren<br />

Know-Hows hingewiesen haben dann lässt sich daran anschließend feststellen dass<br />

in diesem Bereich des Technologietransfers ähnliche Entwicklungen vonstattenge-<br />

hen. Die derzeit exportierten Rüstungstechnologien, wie beschrieben größtenteils im<br />

Flugzeugsektor aber zunehmend auch maritime Technik, sind Entwicklungen der<br />

61


achtziger Jahre, also ebenfalls Überbleibsel des sowjetischen Militärapparats die in<br />

der Zwischenzeit in den Schubladen verschwunden waren oder von den einzelnen<br />

Unternehmen auf eigene Kosten weiterentwickelt wurden.<br />

Das die neuen staatlichen Mittel eher dem Erhalt der bestehenden Strukturen dienen<br />

als dem Aufbau neuer zeigt sich noch deutlicher im Folgenden: Der Etat für Anschaf-<br />

fungen (procurement) betrug 2006 zwar nominell 70% des Budgets, das sind immer-<br />

hin 6,3 Mrd. $, doch der Hauptteil dieser Gelder wird für Instandhaltung und zaghafte<br />

Modernisierung bestehender Systeme verwendet. Wirkliche Neubeschaffungen sind<br />

in dieser Sicht erst für den nächsten Finanzierungszyklus ab 2010 eingeplant (vgl.<br />

ebd.: 443). Vorsichtig geschätzt hätten damit die derzeitigen Rüstungsexporte den<br />

doppelten Wert der Neubeschaffungen für die russischen Streitkräfte. Auch mit den<br />

Einschränkungen einer schwierigen Abschätzung ergibt sich daraus ein eigenartiges<br />

Bild: Im internationalen Vergleich erfolgen quantitativ wie qualitativ überproportionale<br />

Ausfuhren von Kriegsgerät die zwar auch den üblichen politischen Linien folgen (In-<br />

dien, neuerdings Venezuela) aber auch in potentielle Krisengebiete wie den Iran ge-<br />

hen. Eine unangenehmer Nachgeschmack, selbst für den Waffenhandel, bleibt dabei<br />

dass es möglicherweise ebendiese Exporte sind die es ermöglichen eine so große<br />

und technisch fortgeschrittene Rüstungsindustrie zu erhalten. Um den Sektor für na-<br />

tionale Ansprüche zu erhalten muss exportiert werden und es wird exportiert was<br />

verlangt wird – der Verkauf von Luftabwehrsystemen an den Iran während des A-<br />

tomstreits zeigt dies.<br />

Fazit – Rentenökonomie Russlands?<br />

Grundbezugspunkt des Rentenbegriffs ist immer die Theorie der Preisbildung auf<br />

freien Märkten: Renten werden dabei verstanden als eine Abweichung von dieser<br />

Regel, gewissermaßen ein Fehlverhalten welches die optimale Verteilung knapper<br />

Güter verhindert, sie sind die Differenz zwischen einem unter idealen Bedingungen<br />

vollständiger Konkurrenz entstandenen Preis und einem höheren realen Marktpreis.<br />

Ein Akteur ist demnach in der Lage ein benötigtes Gut künstlich zu verknappen und<br />

damit seinen Preis durchzusetzen - worauf diese Marktverzerrende Kontrolle genau<br />

beruht ist dabei erst einmal offen.<br />

Wendet man den Begriff politisch und bezieht ihn wie für diese Arbeit nötig auf das<br />

internationale System bleibt der Kern einer Umgehung des Marktes zum einstreichen<br />

eines Zusatzgewinns erhalten, doch werden die getätigten Geschäfte nun als zwi-<br />

62


schenstaatliche gedacht womit die Regierungen der einzelnen Länder als zentrale<br />

Akteure erscheinen. Die fungieren als „Gatekeeper“ (Neelsen 1997:124) zwischen<br />

nationalen und internationalen Märkten und stehen damit in dem Verdacht auch die<br />

ersten Profiteure dabei abfallender Renten zu sein. Die Macht solcher Akteure über<br />

vitale Ressourcen besteht zumeist aus dem exklusiven Nutzungsrecht ihres Staats-<br />

gebiets, sei es für Landwirtschaft, Bergbau oder Transit. Neelsen (ebd.) schlägt vor<br />

bei diesen Vorgängen von Ausbeutung zu sprechen, die Erwirtschaftung von Extra-<br />

gewinnen ohne gleichwertige Gegenleistung die von ihrem Empfänger frei verwendet<br />

werden können. In der Betrachtung des Rentierstaat werden einige, sich teils wider-<br />

sprechende negative Effekte dieses Prozesses hervorgehoben:<br />

Die Distanz von Staat und Bürger wächst, da der Staat nicht mehr auf Steuerein-<br />

nahmen angewiesen ist es so leichter hat über deren Kopf hinweg zu handeln. Dem<br />

entgegen kommt ein politisches Desinteressen der rundum abgesicherten Bürger,<br />

die deswegen auch nur eine geringe individuelle Leistungsbereitschaft aufweisen.<br />

Dies beides legt die Entwicklung zentralistischer und paternalistischer Systeme nahe.<br />

Die entscheidende Rolle staatlicher Institutionen bei der Vergabe der Gewinne legt<br />

die Vorstellung nahe, dass Kräfte aus Gesellschaft und Wirtschaf hart um den Zu-<br />

gang zu Schlüsselpositionen im Vergabesystem kämpfen werden und dies zu einem<br />

hohen Maß von Klientelismus , Korruption und Diskriminierung führen kann.<br />

Der Blick der Politik liegt eher auf dem Ausland, eben dem Ursprungsort ihrer Haupt-<br />

einnahmen. Dabei entziehen sich viele für die Realisierung der Renten wichtige Pro-<br />

zesse auf den Märkten den Einflussmöglichkeiten des Staates. Eine letzte Garantie<br />

für den Fluss der Renten kann es nicht geben, die Anfälligkeit gegenüber äußeren<br />

Krisen wächst.<br />

Die Entwicklungstheorie hat diese Ansatz verwendet um Unterentwicklung als primär<br />

innergesellschaftlich bedingt zu erklären: Ressourcenreiche Staaten in der dritten<br />

Welt hätten demnach ihren kurzfristigen Reichtum mit einer lücken- und fehlerhaften<br />

Modernisierung von staatlichen Institutionen und Wirtschaft sowie einer Lähmung<br />

gesellschaftlicher Energien durch „Luxuskonsum“ (ebd.:126) bezahlt. Der Staat ist<br />

das Zentrum der Kritik, sein Eingreifen in die Ökonomie, sein ausspielen exklusiver<br />

Verfügungsmacht über knappe Güter gegenüber den internationalen Märkten hat<br />

diese Konsequenzen heraufbeschworen. Dementsprechend ist die Handlungsauffor-<br />

derung dieser Theorie eindeutig: Der Marktlogik muss Weg gegeben werden, es<br />

müssen dem Regierenden die Möglichkeiten genommen werden Interventionen in<br />

den Markt durchzuführen und Renten zu realisieren.<br />

63


Was bedeutet diese Prognose für die Russische Förderation? Inwieweit und mit wel-<br />

chen Ergebnissen folgt die aktuelle Wirtschaftspolitik diesen Empfehlungen? Der<br />

russische Staat nimmt über die Vergabe von Förder- und Exportlizenzen Renten ein,<br />

ihre Verwendung und die Folgen ihrer Verwendung entsprechen aber nur in Teilen<br />

den Kriterien eines Rentierstaats. Erstens kann von einer freien Verfügung über die<br />

Gelder nicht gesprochen werden da große Teile in dem so genannten Stabilitätsfond<br />

gebunden sind und die Verwendung dieser Beträge hartnäckig umstritten ist. Zwei-<br />

tens basiert die obige Vorhersage einer Rundumversorgung für die Staatsbürger auf<br />

der Annahme eines relativ Bevölkerungsarmen oder kleinen Landes, dies sind si-<br />

cherlich keine Eigenschaften Russlands. Doch eine solche expansive Sozialpolitik ist<br />

(Siehe Sozialpolitik, S. 14) gar nicht gewünscht wenn Putin eine erfolgreiche Wirt-<br />

schaftspolitik als beste Sozialpolitik bezeichnet.<br />

Damit fällt der Blick auf andere Fragen: Inwieweit wird gegen die Gefahren von Klien-<br />

telismus, Korruption, Einflussnahme und `state capture´ vorgegangen, die eine<br />

gleichmäßige Verteilung der Renten durch Vorteilsnahme verhindern würden? Die<br />

gemischte bis schlechte Bilanz der letzten Jahre in diesem Bereich wirft deutliche<br />

Schatten auf die These der Wirtschaftspolitik als bester Sozialpolitik. Sie bedeutet,<br />

dass der exklusive Zugang zu den Verteilstellen in Regierung und Administration<br />

Merkmale einer herrschenden Elite werden die in Selbstbedienung Renten abschöp-<br />

fen kann.<br />

Die Frage einer zunehmenden Distanzierung von Bürgern und Staat, insbesondere<br />

in Form eines zurückgehenden zivilgesellschaftlichen und aktiv politischen Engage-<br />

ments scheint im System Putin nicht als Problem angesehen zu werden. Die weitere<br />

Stärkung des Präsidenten unter der Losung der gelenkten Demokratie macht dies<br />

klar.<br />

Aus all dem folgt: Selbst wenn die Entwicklung in Russland nach den Begriffen der<br />

<strong>BRIC</strong>-These `gut läuft´ werden die Ergebnisse nicht den Ansprüchen des von uns<br />

formulierten Entwicklungsbegriffs genügen. Weder sozialer Ausgleich, breite politi-<br />

sche Beteiligung noch die Nachhaltigkeit des Wachstums wurden ausreichend be-<br />

achtet. Mehr noch: Wenn es nach den Kategorien von Goldman-Sachs `schlecht lau-<br />

fen´ sollte – und das könnte es im Fall eines Scheiterns der Reform des öffentlichen<br />

Sektors, durch einen Einbruch der Außenhandelsüberschüsse als Wachstumstütze<br />

oder eines Durchschlagend der ökonomischen Nebeneffekte der Einseitigen Export-<br />

struktur – dann könnten die jetzt erreichten Erholung von Einkommen und Lebens-<br />

64


standard nach der Transformationskrise ebenso schnell verloren gehen wie sie er-<br />

reicht wurde.<br />

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tern 4.8.2003, http://russland.ru/ruwir0010/morenews.php?iditem=26<br />

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letzter Zugriff: 19.08.07<br />

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67


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letzter Zugriff: 19.08.07<br />

Indien<br />

Einleitung<br />

Alexander der Große, die Mongolen, Portugal, England, die UDSSR, die USA und<br />

nun Goldman Sachs? Schon viele haben über die Jahrhunderte ein Auge auf Indien<br />

geworfen. Bereits im Mittelalter und früher waren Gerüchte von einem magischen<br />

Reich der Sinne, welches unermesslichen Reichtum barg, in aller Munde. Ein Schalk,<br />

wer sich beim Lesen des Papers „Dreaming with <strong>BRIC</strong>’s“ von der Investmentbank<br />

Goldman Sachs daran erinnert fühlt. Doch was hat es auf sich mit diesem „Honig-<br />

topf“ um den kontinuierlich neue Fliegen schwirren, mit der Absicht teilzuhaben?<br />

Im Folgenden wollen wir ergründen wie es Indien möglich war nach über 150 Jah-<br />

ren Kolonialzeit unter der Englischen Krone wieder zu einem Staat zu werden, von<br />

dem behauptet wird, er wäre einer der Wachstumsmotoren der Weltwirtschaft. Denn<br />

es ist nicht so, dass diese Entwicklung vorbestimmt gewesen wäre, man betrachte<br />

nur die Negativbeispiele des Postkolonialismus in Afrika.<br />

Auch ist ein Vergleich mit dem anderen großen Buchstaben des Begriffes „<strong>BRIC</strong>“<br />

interessant: China. Die beiden mit Abstand bevölkerungsreichsten Länder der Erde,<br />

zwei vollkommen unterschiedliche politische Systeme, zwei grundverschiedene Wirt-<br />

schaftsstrukturen: zwei Erfolgsgeschichten? Der Faktor, der beiden Ländern gleich<br />

ist, sind die Heerscharen von billigen Arbeitern, schließlich beherbergen sie allein<br />

knapp 40 Prozent der Weltbevölkerung. Aber ist Demographie gleich Schicksal? Sind<br />

68


evölkerungsreiche Länder allein der Demographie geschuldet, zum Wirtschafts-<br />

wachstum und damit einhergehenden Wohlstand „verdammt“?<br />

In unserer Ausarbeitung haben wir uns an den Leitfragen und Prämissen unseres<br />

<strong>BRIC</strong>-Projekts orientiert. Schlichtes Wirtschaftswachstum, so lautet unsere These, ist<br />

nicht zwangsweise entwicklungsfördernd. Wachstum trägt nur dann zur Entwicklung<br />

bei, wenn es umweltverträglich ist und die Bevölkerung in den Entwicklungsprozess<br />

einbezieht. Wer sind die GewinnerInnen, wer sind die VerliererInnen und wie lange<br />

noch? Ein dauerhafter Verlierer, der oft in Vergessenheit gerät, scheint schon jetzt<br />

festzustehen: die Natur. Wenn in den nächsten Jahren nicht gehandelt wird, könnte<br />

es zum Desaster kommen, sozial und ökologisch.<br />

Zum Einstieg soll ein kurzer Überblick über das politische System Indiens gegeben<br />

werden, spielt doch die politische Einbettung des Wachstums eine wichtige Rolle.<br />

Anschließend folgt ein Abriss über die geschichtliche Entwicklung der indischen Wirt-<br />

schaftspolitik. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob die geläufige Annahme, das<br />

indische Wachstum habe mit den neoliberalen Reformen in den neunziger Jahren<br />

eingesetzt, zutrifft. Ein Überblick über die Beschaffenheit der indischen Wirtschaft<br />

und die Positionierung im Welthandel folgt im nächsten Teil. Anschließend soll näher<br />

auf die Frage eingegangen werden, welche Grenzen dem indischen Wachstum ge-<br />

setzt sind. Dabei werden sowohl ökologische als auch soziale Grenzen aufgezeigt.<br />

Es wird sich zeigen wie die, ihrer enormen Vielfältigkeit geschuldete, tiefst säkula-<br />

re und föderale Demokratie mit den Folgen des Wirtschaftswachstums umgeht. Nur<br />

so lässt sich schlussendlich die Frage beantworten, ob die optimistischen Wachs-<br />

tumsprognosen – geäußert nicht nur von Goldman Sachs – der Wahrheit entspre-<br />

chen oder doch nur einen kurzzeitigen Trend wiedergeben.<br />

Das politische System<br />

Indien ist ein Potpourri der verschiedenen Kulturen und Religionen aus Hindus, Mus-<br />

limen, Sikhs, Jains, Christen und noch unzähligen mehr. Trotz allem entschied sich<br />

Indien nach dem Ende der 150jährigen Kolonialzeit für den schwierigen Weg einer<br />

Vielparteiendemokratie. Die neuere indische Politik ist gekennzeichnet von Koaliti-<br />

onsregierungen, in die selbst kleinere regionale Parteien eingebunden sind (vgl. Ha-<br />

rald Müller 2006: 151, 156-159).<br />

Dies ist wohl die beste Entwicklung, die die eigentlich auf dem britischen West-<br />

minstersystem basierende Demokratie nehmen konnte. Denn die indische Demokra-<br />

tie ist ein Beispiel dafür, wie sich trotz hoher Diversität der Bevölkerung in Bildung,<br />

69


Religion und sozialem Status über eine Milliarde Menschen stabil regieren lassen.<br />

Zwar wird dadurch eine einheitliche und stabile Wirtschaftspolitik erschwert, dafür<br />

aber rechtliche Sicherheit und Stabilität erkauft (vgl. Oliver Müller 2006: 7). In dem<br />

indischen Parlament sind über 40 verschiedene Parteien vertreten, welche nach dem<br />

Niedergang der Kongresspartei in Teilen die Regierung stellen. Durch ihre große<br />

Menge, die verschiedenartigen Hintergründe, Motivationen und Ziele, ist die Politik<br />

die von ihnen ausgeht eine pluralistische, kompromissorientierte Politik der Mitte.<br />

Durch die Vielfalt der Parteien, welche die Mannigfaltigkeit des Landes widerspie-<br />

geln, wäre es einer einzelnen Mehrheitspartei nicht mehr möglich innerhalb der de-<br />

mokratischen Grenzen von Neu Delhi aus den Kurs des Landes zu diktieren (vgl. Ha-<br />

rald Müller 2006: 164f). Viele der kleinen Parteien fühlen sich einer bestimmten Min-<br />

derheit oder Region verpflichtet, nur sieben Parteien engagieren sich indienweit (vgl.<br />

Harald Müller 2006: 153f).<br />

In dem stark föderalistisch orientierten Land klaffen teils riesige Lücken zwischen<br />

den einzelnen Bundesstaaten. Nicht nur in Sprache – es gibt mehr als 18 Hauptspra-<br />

chen - Religion und Klima unterscheiden sich die einzelnen Staaten. Das südliche<br />

Kerala beispielsweise ist einer der erfolgreichsten Nutznießer der Wirtschaftsbooms<br />

während die Menschen in Bihar in Apathie verharren. Nicht einmal 40 Prozent der<br />

Menschen dort können lesen oder schreiben (vgl. Ihlau 2006 a: 107; Atlas der Globa-<br />

lisierung 2006: 171).<br />

Die indische Gesellschaft ist von tiefen sozialen Gräben der Ungleichheit durchzo-<br />

gen: die Emanzipation der unteren Gesellschaftsschichten stellt dadurch die größte<br />

Hoffnung auf dauerhafte Stabilität dar. Denn nur durch Teilhabe der unteren Gesell-<br />

schaftsschichten können innergesellschaftliche Spannungslinien dauerhaft und<br />

nachhaltig abgebaut werden (vgl. Harald Müller 2006: 51/52, 86).<br />

Die Schatten zum Licht der Erfolge der indischen Demokratie finden sich vor allem<br />

auf dem Land. Die Beteiligung der Legislative ist zumeist nur in engen Grenzen<br />

spürbar, organisierte Kriminalität nimmt Einfluss auf die örtliche Politik – Klientelis-<br />

mus und Patronage sind allgegenwärtig. Die Polizei wird zumeist von den mittleren<br />

Kasten beherrscht.<br />

Auch die überall sichtbare, schon oft zu beschneiden versuchte, Bürokratie stellt<br />

ein starkes Hemmnis für die weitere Entwicklung, besonders der ländlichen Regio-<br />

nen dar. Nicht nur, dass das Geld zumeist auf dem Weg von Neu Delhi verschwin-<br />

det, durch die Mühlen der Bürokratie braucht es zudem oft kleine Ewigkeiten bis es<br />

70


an seinem Bestimmungsort gelangt. Im Korruptionsindex von Transparency Interna-<br />

tional belegt Indien Platz 88 von 192 Staaten (vgl. Harald Müller 2006: 96).<br />

Ein Phänomen, welches auch auf nationaler Ebene sichtbar wird, ist die Schwäche<br />

des Parlamentes gegenüber der Regierung. Viele Gesetze werden ohne Debatte im<br />

Parlament direkt durch die Exekutive beschlossen. Im Gegensatz dazu ist die ge-<br />

samte Judikative weitgehend unabhängig und eines der Vorzeigeobjekte Indiens<br />

(vgl. Harald Müller 2006: 150 ff.).<br />

In den letzten Jahrzehnten sieht sich die indische Demokratie zunehmen mit der<br />

Gefahr des Hindu – Nationalismus konfrontiert. Diese stärkste religiöse Bewegung,<br />

welche Moslems und Christen als nichtindisch ablehnt, nagt mit hohlem Zahn an<br />

dem säkularen Staat. Die strikte Trennung von Staat und Region hat zum Zweck,<br />

Konflikte in der Gesellschaft entschärfen und vor allem Indien als ganzes zusam-<br />

menhalten. Nur so ist die Neutralität des Staates, das Schützen von Eigentumsrech-<br />

ten, religiösen und sozialen Praktiken, garantiert. Bei genauerem Hinsehen fällt je-<br />

doch auf, dass Minderheiten den Hindus gegenüber im Konfliktfall meist zurückste-<br />

cken müssen (vgl. Harald Müller 2006: 101 ff). Weitere Ursachen für soziale Konflikte<br />

in Indien, werden in Kapitel V. detaillierter betrachtet. Zunächst jedoch ein Blick auf<br />

die historische Entwicklung der indischen Wirtschaft.<br />

Wann begann das Wachstum? Entwicklung der indischen Wirtschaft und Wirt-<br />

schaftspolitik<br />

Um die Politik Indiens und besonders die indische Wirtschaftspolitik nachvollziehen<br />

zu können, ist eine historische Einbettung unerlässlich. Deshalb wird im Folgenden<br />

zunächst Indiens Wirtschaft vor dem Beginn der britischen Herrschaft betrachtet, um<br />

selbige dann während der Kolonialzeit genauer zu beleuchten. Anschließend werden<br />

die wirtschaftlichen Entwicklungen und Entscheidungen seit der Unabhängigkeit ana-<br />

lysiert.<br />

Kolonialgeschichte: Indien unter den Britten<br />

Null Uhr am 14. August 1947: Indien wird unabhängig! Das Jahrhundert der briti-<br />

schen Herrschaft ist endlich Geschichte. Aber ist auch der Schatten den sie wirft<br />

Vergangenheit?<br />

Ein kurzer Blick auf das Indien der Vorkolonialzeit soll veranschaulichen, wie sich die<br />

britische Regentschaft auf Indiens ökonomisches, sowie politisches System auswirk-<br />

71


te, und ob diese Auswirkungen sogar noch über den Zeitpunkt der Unhabhängigkeit<br />

hinausreichen.<br />

Indien war in vorkolonialer Zeit ein überwiegend landwirtschaftlich geprägtes Land:<br />

90 Prozent der Bevölkerung lebte auf dem Land und baute vor allem Weizen sowie<br />

Baumwolle an. Trotzdem waren auch die nicht-landwirtschaftlichen Erzeugnisse viel-<br />

fältig und wurden in die übrige Welt exportiert. Indien verfügte weithin über eine posi-<br />

tive Außenhandelsbilanz, und konnte dementsprechend das als Zahlung erhaltene<br />

Gold und Silber im Land anhäufen (vgl. Lohaus 2006: 31 f). Insgesamt hatte Indien<br />

einen der gegebenen Entwicklungsstufe entsprechenden, gut ausgebildeten indus-<br />

triellen Sektor, sowie ein hinreichend ausgeprägtes Handels-, Transport-, sowie Ban-<br />

kenwesen (vgl. Lohaus 2006: 31). Eigentlich waren die Voraussetzungen für indus-<br />

trielle Entwicklung sowie für Wachstum somit eher günstig und förderlich, als das<br />

Gegenteil.<br />

In hundert Jahren britischer Herrschaft stagnierten die wirtschaftliche und indus-<br />

trielle Entfaltung, sowie das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Inder und<br />

Inderinnen dennoch. Anstatt sich weiter zu entwickeln, wurde Indien ein, aus ökono-<br />

mischer Sicht, unterentwickeltes Land (vgl. Lohaus 2006: 33). In den Jahren vor der<br />

Unabhängigkeit betrug die indische Wachstumsrate in der Volkswirtschaft 0,7 Pro-<br />

zent, und lag somit unter der Bevölkerungswachstumsrate (vgl. Lohaus 2006: 32).<br />

Angesichts der positiven Voraussetzungen überrascht diese Entwicklung. Warum fiel<br />

Indien in seiner Entwicklung zurück? Welche Kräfte führten dazu, dass vorhandenes<br />

Potential nicht genutzt wurde, oder nicht genutzt werden konnte?<br />

Einige Intellektuelle sehen den wichtigsten Grund in der Politik der britischen Ko-<br />

lonialherren. Immerhin: Unter britischer Herrschaft wurden Justizwesen und Verwal-<br />

tungsapparat samt ihren Gesetzen, sowie ein System öffentlicher Sicherheit aufge-<br />

baut. An sich förderlich für ökonomische Entwicklung und Wirtschaftswachstum. Tat-<br />

sächlich nutzten diese Strukturen aber vor allem britischen Händlern und richteten<br />

sich gegen das Interesse Indiens. Im Groben kann die von den Briten verfolgte Politik<br />

wie folgt zusammengefasst werden: Sie zielte auf den Abtransport indischer Rohstof-<br />

fe nach Großbritannien und den Import britischer Produkte nach Indien ab. Indische<br />

Produkte waren in Großbritannien mit hohen Einfuhrzöllen belegt. Gleichzeitig waren<br />

die nach Indien eingeführten Produkte oft günstiger als einheimische Erzeugnisse.<br />

Insofern war diese Politik so angelegt, dass sie die einheimische Industrie zerstörte,<br />

beziehungsweise verhinderte, dass neue Industrien entstehen konnten.<br />

72


Ein weiteres Element der britischen Politik war die Erhebung einer Salzsteuer. Da<br />

der Verzehr von Salz gerade im heißen Klima Indiens von lebenswichtiger Bedeu-<br />

tung ist, bedeutete das Salzmonopol der Briten eine sichere, beständige Geldquelle<br />

für das Vereinigte Königreich. Für die indische Bevölkerung bedeutete es hingegen<br />

die Abhängigkeit von britischer Willkür. Salz durfte nur von Vertragshändlern gekauft<br />

werden, welche die entsprechende Steuer zahlten. Privates Salzsieden, selbst für<br />

den eigenen Haushalt, war strafbar (vgl. Rothermund 2005). Als Gandhi und seine<br />

Anhänger mit dem Salzmarsch im Frühjahr 1933 am Monopol der Briten rüttelten,<br />

quollen die Gefängnisse bald über.<br />

Anders formuliert, betrieb das Vereinigte Königreich ein ausbeuterisches System.<br />

Indien unterstützte dabei, gezwungener Maßen und auf eigene Kosten, Großbritan-<br />

niens wirtschaftliche Entwicklung. Wäre das nach Großbritannien transferierte Kapi-<br />

tal, immerhin circa drei Prozent des indischen Nationaleinkommens, im Land selbst<br />

produktiv angelegt worden – Indien hätte vermutlich aussichtsvoller da stehen kön-<br />

nen. So aber wird deutlich, warum Indien zum Zeitpunkt seiner Unabhängigkeit öko-<br />

nomisch rückständig war. Vor diesem Hindergrund ist auch die Symbolkraft des<br />

durch Gandhi populär gewordenen, indischen Spinnrads einleuchtend; stand es doch<br />

für eine indische Selbständigkeit und das Recht auf Unabhängigkeit. Vor allem je-<br />

doch für wirtschaftliche Autarkie!<br />

Indiens koloniales Erbe: Ökonomie und Wirtschaftspolitik nach der Unabhän-<br />

gigkeit<br />

Tief von der kolonialen Erfahrung geprägt, schrieben die Väter der indischen Unab-<br />

hängigkeit diese im wahrsten Sinne des Wortes in der Ordnung ihres Landes fest.<br />

Die Selbstständigkeit gegenüber dem Ausland wurde emphatisch betont (vgl. Lohaus<br />

2006: 35). In Folge waren Abschottung und Schutz der nationalen Märkte die prä-<br />

genden Elemente der auf die Unabhängigkeit folgenden Jahre. Dabei erschwerten<br />

hohe Importzölle die Einfuhr ausländischer Waren, und Importgebühren um die 300<br />

Prozent und mehr waren keine Ausnahme (vgl. Tharoor 2005: 203). Autarkie war die<br />

Richtlinie, Gandhi und sein Spinnrad das Leitsymbol.<br />

Nicht nur der Import ausländischer Produkte, auch die Einfuhr von Technologie<br />

und Kapital aus dem Ausland sollte verhindert werden. Denn in leidvoller Erinnerung<br />

an die East India Company fürchtete die politische Elite in Indien, dass aus Investo-<br />

ren abermals Beherrscher werden könnten. Somit ist die Festlegung Indiens auf<br />

möglichst völlige Selbstversorgung, sowie eines im weitesten Sinne sozialistischen<br />

73


Wirtschaftssystems, auch auf die Erfahrungen mit der kolonialen Vergangenheit zu-<br />

rückzuführen.<br />

Vor allem die Ernährung der indischen Bevölkerung sollte vollständig und aus-<br />

schließlich durch inländische Produktion gewährleistet sein. Die produzierten Nah-<br />

rungsmittel reichen im Wesentlichen auch für die Bevölkerung aus. Und obwohl Ar-<br />

mut, Hunger und Mangelernährung in weiten Teilen des Landes ein ungelöstes Prob-<br />

lem bleiben, gab es seit der Unabhängigkeit keine mit der Zeit unter den Briten ver-<br />

gleichbaren Hungerkatastrophen in großem Ausmaß mehr (vgl. Lohaus 2006: 37).<br />

Diese ersten Jahre werden mit dem als Sozialisten bezeichneten Jawaharlal Nehru<br />

in Verbindung gebracht – dem ersten Premierminister Indiens. Nehru führte Indien in<br />

die Selbstständigkeit und setzte sich für ein sozialistisches System in seinem Land<br />

ein, welches dem Großteil der Bevölkerung bessere Verhältnisse bringen sollte.<br />

Der indischen Elite wird indessen häufig vorgeworfen, die von den Briten hinter-<br />

lassene Struktur beibehalten und lediglich deren Platz übernommen zu haben, so<br />

dass letztlich nur die oberen Klassen und Kasten Indiens, Vorteile durch die Unab-<br />

hängigkeit erwarben. Für den Großteil der Bevölkerung habe sich an der Gesamtsi-<br />

tuation nichts verändert, die britischen Herrscher seien lediglich durch indische er-<br />

setzt worden. Bei Betrachtung der Situation auf dem Land wird diese Sichtweise bes-<br />

tätigt: Nur Großgrundbesitzer profitieren von subventionierten Düngemitteln und sub-<br />

ventionierter Elektrizität! Außerdem werden weiterhin große Teile der Ernte von<br />

staatlichen Aufkauf-Organisationen abgenommen (vgl. Amin 2007: 705 ff). Die einfa-<br />

chen Bauern indessen, kommen nicht in den Genuss dieser Privilegien.<br />

Trotz vieler Hindernisse und schlechter Voraussetzungen lässt sich nach 1947, im<br />

Gegensatz zu der Zeit unter den Briten, wirtschaftliches Wachstum feststellen. Und<br />

zwar mit stabilen 3,5 Prozent, der so genannten Hindu-Wachstumsrate. Diese Zahl<br />

veranlasst beispielsweise den UNO Mitarbeiter Shashi Tharoor von Stagnation zu<br />

sprechen: „In den mehr als fünf Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit hat Indien die<br />

meiste Zeit eine Wirtschaftspolitik betrieben, bei der die Unproduktivität staatlich un-<br />

terstützt, die Stagnation verwaltet und die Armut umverteilt wurde. Wir nannten das<br />

Sozialismus“ (Tharoor 2005: 199).<br />

Wenn auch vieles an dieser Auffassung zutreffend ist, so berücksichtigt sie doch<br />

nicht, dass 3,5 Prozent Wachstum, angesichts der 0,7 Prozent zur Zeit der Briten,<br />

eine enorme Steigerung sind. Zudem gab es Fortschritte bei der Alphabetisierung,<br />

genauso wie bei allen wichtigen Sozialindikatoren (vgl. Lohaus 2006: 37). Trotzdem<br />

gab und gibt es industrielle Arbeitsplätze nur in geringem Umfang, da die indische<br />

74


Industrie nicht so schnell wächst, weshalb sich die indische Arbeiterklasse auch nach<br />

der Unabhängigkeit nur relativ langsam entwickelte. 1990 waren nur elf Prozent der<br />

Erwerbstätigen im industriellen Sektor beschäftigt. Im Vergleich zu China, dessen<br />

Wachstum auf Schwerindustrie aufbaut, ist das extrem wenig.<br />

Insgesamt ist für die ganze Zeit von der Unabhängigkeit bis Anfang der neunziger<br />

Jahre eine führende Rolle des Staates zu verzeichnen. Die Wirtschaft sollte mittels<br />

Fünf- Jahres- Plänen reguliert werden. Preis- und Außenhandelskontrollen, Subven-<br />

tionen, und Vorschriften für private sowie für ausländische Unternehmen waren Be-<br />

standteil dieser Wirtschaftspolitik (vgl. Amin 2007: 709). Die Wirtschaftskrise Anfang<br />

der Neunziger, welche Indien dazu zwang, seine Goldreserven zu verpfänden, war<br />

ein Schock für die indische Nation. Diese nationale Demütigung führte zu einer Ab-<br />

kehr von der bisherigen Politik hin zu einer zunehmenden Liberalisierung der Märkte,<br />

was zu erhöhten Auslandsinvestitionen führte (vgl. Tharoor 2005: 213 f; Schmalz<br />

2006: 26). Diese Maßnahmen hatten, obwohl sie bewusst behutsam eingeführt wur-<br />

den, Einwände, aber auch Proteste zur Folge.<br />

Der Boom seit den 90er Jahren: Liberalisierung und Wachstum<br />

In Wirtschaftskreisen wird Indien derzeit hoch gehyped: Der Mainstream vertritt die<br />

Auffassung, dass die Liberalisierung der indischen Märkte in den 1990er Jahren den<br />

derzeitigen Boom der indischen Wirtschaft verursacht hat. Indien wird als Wirt-<br />

schaftswunder gehandelt, gewissermaßen, das neue und bessere China der Zukunft<br />

(vgl. Ihlau 2006 a: 10).<br />

Die Wirtschaftspolitik Indiens sei bis zum Jahre 1990 zum Scheitern verurteilt ge-<br />

wesen. Die Öffnung der Märkte in den 1990ern wird zum Wendepunkt in eine besse-<br />

re Zukunft gewertet. Auch der Beginn des indischen Wachstums wird auf das Jahr<br />

1991 datiert. Der Schock, dass Indiens Goldreserven verkauft werden mussten, hätte<br />

Indien aufgeweckt. In Folge der Marktliberalisierung sei auch ein Abbau der Bürokra-<br />

tie, welche Indiens Wirtschaft lähme, zu konstatieren.<br />

Die US- Investmentbank Goldman Sachs sagte 2003 in ihrem Global Economics<br />

Paper No: 99 die Wachstumszahlen der <strong>BRIC</strong>s bis zum Jahre 2050 voraus. Indien<br />

schaut demnach einer rosigen Zukunft entgegen: „India hast the potential to show<br />

the fastest growth over the next 30 an 50 years“ (Wilson/ Purushothaman 2003: 4).<br />

Indiens Wachstum könnte in den nächsten 30 Jahren höher als fünf Prozent sein,<br />

und sogar danach noch bei fast fünf Prozent. Als einziges Land der Welt wird es bis<br />

2050 Wachstumsraten von deutlich über drei Prozent aufweisen können (vgl. Wilson/<br />

75


Purushothaman 2003: 2 u. 4). In den Jahren zwischen 2015 und 2025 wird Indien<br />

laut Goldman Sachs, sowohl Italien, als auch Frankreich und Deutschland gemessen<br />

an ihrer Wirtschaftsleistung überholen (vgl. Wilson/ Purushothaman 2003: 3).<br />

Diese Projektionen beruhen auf der Annahme, dass eine junge Bevölkerung und<br />

hohe Bevölkerungswachstumsraten auch zu entsprechend hohen Raten beim Wirt-<br />

schaftswachstum führen. Da Indiens Bevölkerung, die jetzt schon extrem jung ist,<br />

dem Forschungspapier zufolge, als einzige der <strong>BRIC</strong>s auch in den nächsten Jahren<br />

noch rasant wachsen wird, leiten die Ökonomen von Goldman Sachs daraus auch<br />

das Potential ab, dass auch das Pro-Kopf- Einkommen in Indien 35 Mal so hoch sein<br />

wird wie heute. Aufgrund des stetigen Bevölkerungszuwachses trauen sie Indien so-<br />

gar zu, den anderen Giganten, China, zu überrunden (vgl. Wilson/Purushothaman<br />

2003: 10; Ihlau 2006 a: 68). Auch sonst soll Indien innerhalb der nächsten 50 Jahre<br />

rasant aufholen und dadurch den Westen herausfordern. Wenn China die Werkbank<br />

der Welt ist, dann wird Indien zum größten „back office“ der Welt, die Zuwachsquoten<br />

im Outsourcing-Geschäft ist gewaltig, die IT-Branche boomt, die Anzahl der Millionä-<br />

re steigt pro Jahr um 20,5 Prozent. Das klingt jedenfalls beeindruckend (vgl. Matern<br />

2007: 2; Ihlau 2006 a: 69).<br />

Allerdings wird dieses Wunder nur dann fortgesetzt, wenn Indien weiterhin auf<br />

dem neoliberalen Zug fährt. Dass dieser Zug womöglich gegen die Wand fahren<br />

kann, weil ein Großteil der indischen Bevölkerung nicht mitfährt, wird nicht in Be-<br />

tracht gezogen.<br />

Sind die 90er der Wendepunkt? Eine Alternative zur Mainstream-Annahme<br />

Die erläuterte Auffassung wird von einem großen Teil der indischen und westlichen<br />

Ökonomen gleichermaßen geteilt. Für Börsenmakler und Investment- Berater zumin-<br />

dest bieten die Projektionen von Goldman Sachs wunderbare Gewinnchancen. Es ist<br />

ja auch tatsächlich ein Aufschwung zu beobachten. Aber ist er wirklich so spektaku-<br />

lär? Ist die Ursache tatsächlich die Marktliberalisierung in den 1990er Jahren?<br />

Entgegen der dargelegten Auffassung werden vermehrt kritische Stimmen laut.<br />

Ihrer Ansicht nach beruhen die Annahmen von Goldman Sachs und Konsortien be-<br />

züglich Indiens zukünftigem Wohlstand im Rahmen der <strong>BRIC</strong>-Debatte auf falschen<br />

Annahmen -sowohl was die indische Wirtschaft angeht, als auch bezogen auf die<br />

Weltwirtschaft insgesamt (vgl. Desai 2006: 62). Die Vertreter dieser Auffassung<br />

sprechen von einem Wachstum welches bereits in den siebziger Jahren begonnen<br />

76


hat. Das von ihnen entworfene Modell unterscheidet sich grundlegend von den „um-<br />

werfenden Prognosen“ (Desai 2006: 63) der Investmentbank.<br />

Wenn man die Projektionen des Sensationsberichts, die auf der These „Demogra-<br />

fie ist Schicksal“ basieren auf die Jahre zwischen 1960 und 2000 anwendet, produ-<br />

ziert das Modell irrige Ergebnisse. Zum Beispiel wird das Wachstum in Indien, sowie<br />

in Brasilien überschätzt. Gleichzeitig wird das Wachstum Hong Kongs und Südkore-<br />

as unterschätzt. Anhand dieser Irrtümer wird deutlich, dass das Modell weder die be-<br />

sonders günstigen Voraussetzungen in den als Tigerstaaten bekannten Ökonomien<br />

in Rechnung stellen konnte, noch Faktoren wie Abhängigkeit, Unterentwicklung und<br />

Imperialismus, welche Wachstumshindernisse in Indien darstellen, berücksichtigen<br />

kann. In dieser Zeit war die Demografie also nicht der bestimmende Faktor! (vgl. De-<br />

sai 2006: 63; Wilson/ Purushothaman 2003: 12 u. 14).<br />

Da die aufgestellten Annahmen also fehlerhaft sind, erscheint die Kritik daran in<br />

weiten Teilen plausibler als die Annahmen des Papers. Dass die Prognosen des Mo-<br />

dells für die westlichen Industrienationen, zutreffend waren, macht umso deutlicher,<br />

dass das Modell nicht geeignet ist, die Zukunft der <strong>BRIC</strong>s oder anderer Entwick-<br />

lungsländer vorherzusagen (vgl. Desai 2006: 64). In dieser Periode hatte die Demo-<br />

grafie also keineswegs die ihr zugesprochenen, positiven Eigenschaften. Zudem sind<br />

die demografischen Prognosen für die Aufstiegsländer eher problematisch, „denn bei<br />

ihnen ticken soziale Zeitbomben, sollte es für die Millionen-Massen nicht genügend<br />

Arbeit geben“ (Ihlau 2006 a: 67).<br />

Betrachtet man die indische Wirtschaft im gesamten 20 Jahrhundert, lässt sich<br />

feststellen, dass es zwei entscheidende Wendepunkte in der indischen Wirtschaft<br />

gab: Der erste Wachstumsschub fand in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, also<br />

unmittelbar nach der Unabhängigkeit und mit dem Inkrafttreten der indischen Verfas-<br />

sung statt. Der zweite Wendepunkt ist Ende der 60er, Anfang der 70er sichtbar. Auf<br />

dem Schaubild im Anhang ist diese Entwicklung deutlich zu erkennen. Das heißt,<br />

selbst wenn nur die Entwicklung nach der Unabhängigkeit betrachtet wird, ist ein<br />

wirtschaftlicher Aufschwung bereits vor den angeblich so phänomenalen 90ern fest-<br />

zustellen. Was wir heute beobachten, ist die Fortsetzung oder Folge der Entwicklung<br />

in den 70ern (vgl. N2007: 1452 ff).<br />

Wenn der Beginn des Wachstums heute auf die Liberalisierung der 90er datiert<br />

wird, so hat das politische Hintergründe. Man will der Marktliberaliserung und der mit<br />

ihr verbundenen Politik positive, für Indien förderlich Eigenschaften zusprechen.<br />

Zieht man in Betracht aus welchem Bereich solche Annahmen kommen, werden<br />

77


noch andere Hintergründe sichtbar: Banken wie Goldman Sachs fahren große Ge-<br />

winne ein, wenn sie Geschäftsleute davon überzeugen in ihre <strong>BRIC</strong>-Fonds zu inves-<br />

tieren. Dabei wird geflissentlich übersehen, dass seit der Liberalisierung die Wirt-<br />

schaft zwar weiterhin wächst, mit ihr aber zunehmend auch die soziale Ungleichheit<br />

in Indien. Die Frage bleibt, wie Indien damit umgehen wird.<br />

Im folgenden Kapitel wird zunächst auf die Situation der indischen Wirtschaft zum<br />

heutigen Zeitpunkt eingegangen: Welche Sektoren tragen das Wachstum und worauf<br />

baut es auf? Anschließend werden die hemmenden sozialen Auswirkungen genauer<br />

betrachtet. Denn unabhängig davon, wann das Wachstum eingesetzt hat, stellt sich<br />

die Frage, welche Faktoren dazu in der Lage sind, es positiv oder negativ zu beein-<br />

flussen.<br />

Aufbau und Struktur der indischen Wirtschaft<br />

Indien: das bessere China (vgl. Ihlau 2006 b: 26), Neuer Motor der Weltwirtschaft<br />

(vgl. Oliver Müller 2006: 2), Weltmacht und neue Herausforderung des Westens (vgl.<br />

Ihlau 2006 a). Das sind Schlagwörter, welche uns im letzten Jahr immer öfter zuweh-<br />

ten. In der Tat sind die jährlichen Zuwachsraten von sieben bis acht Prozent (vgl. O-<br />

liver Müller 2006: 2) sehr beeindruckend. Wenn man sich jedoch gleichzeitig vor Au-<br />

gen hält, dass sich Indien mit einem Bruttosozialprodukt von 728$ pro Kopf auf dem<br />

118. Platz weltweit befindet (vgl. Ihlau 2006 a: 67), stellt sich die Frage, worauf die-<br />

ses Wachstum sich gründet. Um zu verstehen wo und wie die Gräben in der indi-<br />

schen Gesellschaft verlaufen, richtet sich das Augenmerk zunächst auf den Aufbau<br />

und die Struktur der indischen Wirtschaft.<br />

Indien sei eine „Supermacht des Wissens“ werden JournalistInnen und Wissen-<br />

schaftlerInnen nicht müde zu betonen (Ihlau 2006 a: 9). Tatsächlich sind 25 Prozent<br />

der Menschen im Bereich der Dienstleistung tätig, also dem Bereich der Wirtschaft<br />

welcher die höchste Qualifikation von seinen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern<br />

voraussetzt und über 50 Prozent der Gesamtwirtschaftsleistung Indiens generiert.<br />

Wenn man sich aber nun vor Augen hält, dass nicht einmal 20 Prozent in der Indust-<br />

rie und immer noch 60 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft arbeiten (vgl. Ha-<br />

rald Müller 2006: 96) stellt man sich schnell die Frage: Warum hat die Supermacht<br />

des Wissens keine Werkbank?<br />

Dass diese Werkbank angesichts der stetig wachsenden Bevölkerung, der immer<br />

größer werdenden sozialen Probleme und des derzeitigen Bildungssystem mehr ge-<br />

braucht wird denn je ist offensichtlich.<br />

78


Industrieller Sektor<br />

Für das Verständnis über die vermeintliche Schwäche des industriellen Sektors ist<br />

ein Überblick über die natürlichen Ressourcen Indiens hilfreich. Trotz der immensen<br />

Größe von fast 3,3 Million km 2 Landfläche ist Indiens einziger fossiler Energieträger<br />

welcher ausreichend vorhanden ist: Steinkohle. Indien ist der drittgrößte Produzent<br />

von Steinkohle weltweit. Es gibt zwar kleinere Ölvorkommen welche jedoch nicht<br />

einmal ein Drittel des aktuellen Bedarfs decken. Die massive Förderung von Stein-<br />

kohle und die anschließende Verfeuerung in indischen Kraftwerken, welche 82 Pro-<br />

zent der indischen Energieerzeugung stemmen (vgl. Harald Müller 2006: 78), führen<br />

zu massiven ökologischen Problemen. Weitere Bodenschätze, welche im größeren<br />

Stil gefördert werden, sind Bauxit, Eisen- und Manganerz sowie Chrom. Es kann je-<br />

doch gesagt werden, dass die Menge an natürlichen Rohstoffen nicht ausreicht um<br />

allein auf ihnen ein solides Wirtschaftswachstum fußen zu lassen.<br />

Die noch immer vorherrschende Schwerindustrie, ein Erbe der Autarkiepolitik der<br />

postkolonialen Zeit, hat mit zahlreichen Hindernissen zu kämpfen. Zum einen wären<br />

da omnipräsente Stromausfälle welche dazu führen, dass fast jedes Unternehmen,<br />

ob klein oder groß, eigene Stromgeneratoren unterhält. Fast ein Drittel der gesamten<br />

in erzeugten Energie verschwindet in maroden Leitungen, was zu enormen Leis-<br />

tungsverlusten führt (vgl. Ihlau 2006 a: 81). Allein das raubt Indien nach Schätzun-<br />

gen ein bis drei Prozent seines Bruttosozialprodukts. Indiens Autobahnnetz hat 25<br />

Prozent des Umfangs des deutschen bei der neunfachen Landesgröße. Von dem<br />

miserablen Zustand der meisten anderen Überlandstraßen ganz abgesehen (vgl. Ha-<br />

rald Müller 2006: 75 ff.).<br />

Ein weiteres großes Problem, welches sich der exportierenden Industrie in den<br />

Weg stellt, ist, neben den meist veralteten See- und Flughafenanlagen, die schwer-<br />

fällige Exportbürokratie. So benötigen die Waren indischer Händler allein für die Zoll-<br />

abfertigung 50 Prozent länger als die ihrer südkoreanischen Kollegen (vgl. Harald<br />

Müller 2006: 75). All diesen Problemen zum Trotz, entwickelte sich auch Indiens In-<br />

dustriesektor in den letzten Jahren in zunehmendem Maße. Der indische Konzern<br />

Mittal ist unlängst durch den de-facto-Aufkauf von Arcelor zum weltgrößten Stahlkon-<br />

zern herangewachsen (vgl. Kazim 2006). Außerdem bergen die Modernisierungsan-<br />

strengungen seit Anfang der 90er großes Wachstumspotential gerade für den Indust-<br />

riesektor.<br />

79


Es bleibt zu hoffen, dass dieses Wachstum ausreicht um die Heerscharen des<br />

jungen Indiens beschäftigen zu können. Die Agrarwirtschaft wird dies in einem Indien<br />

des globalen Wettbewerbs und des stetigen Bevölkerungswachstums nicht mehr<br />

leisten können (siehe Kapitel V.).<br />

Dienstleistungssektor<br />

Obwohl die Ostküste der USA und Indien etwa zwölf Zeitzonen trennen, gehen auf<br />

beiden Seiten des Globus zeitgleich die Lichter in den Büros an. Indiens Dienstleis-<br />

tungsindustrie ist schon lange in einer globalen Welt angelangt. Damit die circa<br />

250.000 Beschäftigten in Indiens zahlreichen Callcentern auch weltweit beraten kön-<br />

nen, stehen sie bereit wenn ihre Kunden sie benötigen. Dieser als Prestigejob für<br />

Jungakademiker gehandelte Beruf bringt ihren Arbeitnehmern ungefähr 200-450€<br />

pro Monat (vgl. Ihlau 2006 a: 20f) und zeigt worauf der Boom des Indischen Dienst-<br />

leistungssektors basiert: Outsourcing.<br />

Nachdem der Dienstleistungssektor Mitte der 80er exemplarisch von Rajiv Gandhi<br />

geöffnet wurde, kam zu einem Boom der sich heute in der Spezialisierung vieler indi-<br />

scher Firmen auf die kostengünstige Übernahme von Diensten für ausländische Fir-<br />

men manifestiert (vgl. Oliver Müller 2006: 4). Die niedrigen Löhne und der hohen<br />

Ausbildungsstand der indischen Eliten ermöglichte das Heranwachsen solch großer<br />

Unternehmen wie Infosys mit über 75.000 Angestellten welche von Indien aus welt-<br />

weit operieren (vgl. Infosys 2007). Die meisten Software- und Callcenterfirmen kon-<br />

zentrieren sich auf den Bereich Bangalore, dessen Industriegebiete sich heute<br />

schon, abgesehen von den Stromausfällen, mit westlichen vergleichen lassen kön-<br />

nen (vgl. Ihlau 2006 a: 14f)<br />

Zwar werden heute nicht mehr Wachstumssteigerungen von über 50 Prozent wie<br />

in den ersten Boomjahren erreicht, trotz allem ist der Dienstleistungssektor aber Trä-<br />

ger des indischen Wirtschaftswachstums (vgl. Harald Müller 2006: 72). Zu erklären<br />

ist dies mit dem weltweiten Aufschwung der Telekommunikation, des Internets und<br />

auch zuletzt der immer globaler agierenden Wirtschaft.<br />

Für europäische und US-amerikanische Firmen ist es opportun, die kostenintensi-<br />

ve Wartungs- und Anpassungsarbeit von Firmensoftware, welche 80 Prozent des<br />

eigentlichen Kaufpreises ausmacht, nach Indien zu verlagern. Da ein indischer Soft-<br />

wareentwickler gerade einmal 10 Prozent des Gehalts seines westlichen Kollegen<br />

verdient, hat sich die indische Softwareindustrie besonders auf diesen Bereich spe-<br />

zialisiert (vgl. Harald Müller 2006: 96). Da ein indischer Ingenieur also zehn Prozent<br />

80


weniger kostet, ist er für ausländische Firmen gewinnbringend. Was aber geschieht,<br />

wenn die indischen Spezialisten ein vergleichbares Gehalt fordern, weiß keiner und<br />

es scheint sich auch niemand Gedanken darüber zu machen. Das europäische Ar-<br />

beitnehmerInnen auf Lohndumping in Verbindung mit der Drohung, Arbeitsstellen in<br />

so genannte „Billig-Lohn-Länder“ wie zum Beispiel Indien zu verlegen, nicht erfreut<br />

reagieren, dürfte hingegen hinreichend bekannt sein.<br />

Ein weiterer Sektor, in dem gerade in der letzten Zeit Erfolge zu verzeichnen sind,<br />

ist die Bioindustrie. Dies wiederum fördert die Entwicklung der westlichen Pharmain-<br />

dustrie welche seit Mitte/Ende der 90er verstärkt nach Indien expandiert. Trotz des<br />

Faktes, dass Patente von in Indien geleisteter Forschungsarbeit zumeist in den USA<br />

eingereicht werden, ist damit zu rechnen, dass durch die Kompetenzgewinne in die-<br />

sen Hochleistungsbranchen der Trend zum „Outsourcing nach Indien“ weiter anhält<br />

(vgl. Harald Müller 2006: 72).<br />

Durch den hohen Wertschöpfungsgewinn dieser Prozesse ist es erst möglich,<br />

dass der Dienstleistungssektor 50 Prozent der indischen Wirtschaftsleistung mit nur<br />

20 Prozent der Arbeiter und Arbeiterinnen stemmt. Es muss jedoch gesehen werden,<br />

dass diese Situation hohen sozialen Sprengstoff beinhaltet, da sie den Massen von<br />

ungelernten ArbeiterInnen keine Beschäftigung verschaffen kann. Dies kommt den<br />

konventionellen Wirtschaftsbranchen zu. Denn die oft existenzwirtschaftliche Land-<br />

wirtschaft wird dazu nicht in der Lage sein. Auf diesen Bereich wird in Kapitel V. über<br />

die sozialen Aspekte des indischen Wachstums genauer eingegangen.<br />

Es bleibt zu hoffen, dass sich auch bei einer Konzentration des Wachstums auf die<br />

modernsten Sektoren der Wirtschaft, der Binnenmarkt entfalten kann und so auch<br />

die unteren Gesellschaftsschichten mit einbindet. Auch wenn inzwischen die Spar-<br />

quote bei 29 Prozent liegt, und somit fast die Grenze für ein nachhaltiges Wachstum<br />

erreicht hat, ist der Weg, welcher vor Indien liegt, noch ein langer und vermutlich<br />

steiniger. Die Liste der Probleme ist lang und neben den ökologischen und sozialen<br />

Schwierigkeiten, schwebt eine „bedrohliche Gewitterwolke am Horizont: AIDS (vgl.<br />

Harald Müller 2006: 92 ff) Die World Health Organisation (WHO) schätzt, dass sich in<br />

Indien zwischen 2.2 – 7.6 Millionen Menschen infiziert haben. Das scheint angesichts<br />

der 1.08 Milliarden Einwohner vielleicht noch im Rahmen, der Trend tendiert jedoch<br />

zu einer stark steigenden Anzahl von HIV-positiven Menschen. Kulturelle Vorbehalte,<br />

Analphabetismus und mangelnde Hygiene begünstigen eine schnelle Ausbreitung<br />

besonders in den armen Bevölkerungsschichten (vgl. WHO Country Profile India<br />

2006: 1ff)<br />

81


Internationale Einbindung<br />

Mit der Öffnung der Märkte hat sich Indien Richtung internationale Einbindung orien-<br />

tiert. Es ist aktiv in seiner regionalen Nachtbarschaft sowie auf den Märkten der USA,<br />

Europas und Asiens. Indiens Aktivitäten erstrecken sich auch auf andere Entwick-<br />

lungsländer.<br />

Dies wird deutlich durch das Engagement in wirtschaftlichen Verbünden wie der<br />

Association of Southeast Asian Nation (ASEAN). Ebenso ist Indien Mitglied der<br />

World Trade Organisation (WTO) und anderen internationalen Wirtschaftsgremien.<br />

Viele der Ausnahmereglungen, auf welche Indien in der Vergangenheit zum Schutz<br />

seiner Märkte bestand, sind inzwischen zum großen Teil abgebaut (vgl. Harald Mül-<br />

ler 2006: 89 ff). Mittlerweile liegt Indiens Anteil am Welthandel bei 1,4 Prozent und<br />

steigt. Anfangs wurde diese positive Entwicklung, wie bereits erwähnt, besonders<br />

von der IT-Branche getragen, aber inzwischen diversifiziert sich die Entwicklung. Be-<br />

sonders werden inzwischen vermehrt Elektrogeräte, Raffinerieprodukte sowie orga-<br />

nische Chemikalien weltweit abgesetzt. Der Trend geht dahin, dass Indien seine<br />

Rohstoffe selbst verwertet und somit höherwertige, verarbeitete Produkte exportiert.<br />

Diese Streuung der Exporte auf verschiedene Bereiche stabilisiert die indische<br />

Volkswirtschaft und schützt sie vor Wirtschaftsschwankungen.<br />

Dies alles verbunden mit der langen politischen Stabilität der indischen Demokra-<br />

tie, welche zum Beispiel Patentsicherheit garantiert, führte zu der Entwicklung, dass<br />

drei Viertel aller multinationalen Konzerne neue Investitionen in Indien planen (vgl.<br />

Ihlau 2006 a: 68). Diese befindet sich heute schon bei über vier Milliarden Dollar pro<br />

Jahr (vgl. Harald Müller 2006: 94). Die weitergehenden von der Industrie geforderten<br />

Reformen, wie zum Beispiel Sonderwirtschaftszonen, Privatisierung von staatlichen<br />

Sektoren wie Energieversorgung und Bankenwesen setzen die Politik unter Druck.<br />

Es wird sich zeigen wie künftige indische Regierungen mit dieser Herausforderung<br />

umgehen. Zudem sind die „Demographie ist Schicksal“ - Prognosen à la dem Paper<br />

Dreaming with <strong>BRIC</strong>’s von Goldman Sachs mit Vorsicht zu genießen. Wie weiter o-<br />

ben schon deutlich geworden ist (siehe Kapitel III), beruhen deren Annahmen näm-<br />

lich einzig auf einer simplen Verlängerung der aktuellen demographischen und öko-<br />

nomischen Trends (vgl. Desai 2006: 63). Diese Vorgehensweise darf mehr als kri-<br />

tisch hinterfragt werden. Im folgenden Kapitel sollen deshalb auch die ökologischen<br />

und vor allem sozialen Faktoren betrachtet werden, welche die Annahmen der In-<br />

vestmentbank stark relativieren.<br />

82


Dauerhafter Boom? Die Grenzen des indischen Wachstums<br />

„Es ist kein Klischee, es stimmt wirklich: Indien ist ein Land der Extreme. Und zwar<br />

nicht nur in geographischer Hinsicht. Kaum irgendwo auf der Welt treffen Reichtum<br />

und Armut, Modernität und Traditionalität oder Urbanität und Ländlichkeit so scharf<br />

aufeinander wie in diesem von sozialen und politischen Gegensätzen zerrissenen<br />

Bundesstaat.“ (Informationszentrum Dritte Welt 2005: 19)<br />

Die Sorge vor einer Spaltung des Landes ist so alt wie die indische Union selbst. Als<br />

sich Indien 1947 nach 150 Jahren Fremdherrschaft von der britischen Kolonialbeset-<br />

zung befreite, sahen ihre politischen Führer die größte Gefahr für die junge indische<br />

Union in der Fragmentierung ihrer Gesellschaft. Groß war die „Urangst des Separa-<br />

tismus“ (Ihlau 2006 a: 94), kein Wunder bei den 18 offiziellen Sprachen, über 1600<br />

Dialekten, sechs Religionen und 3600 Kasten und Unterkasten des Hinduismus (vgl.<br />

Harald Müller 2006: 136). „Indien“, sagte Winston Churchill, „ist nur ein geographi-<br />

scher Ausdruck. Es ist so wenig ein Land wie der Äquator.“ (zitiert nach Tharoor<br />

2005: 27) Regionale Autonomiebestrebungen und Abspaltungsversuche waren keine<br />

Seltenheit in diesem stark fragmentierten Land. Wie geht Indien damit um? Sind die<br />

Gemeinsamkeiten groß genug um das Land zusammenzuhalten?<br />

Nicht nur die sprachlichen, ethnischen und religiösen Zerklüftungen in Indien sind<br />

massiv. Auch die Unterschiede zwischen den armen, ungelernten Massen und einer<br />

aufsteigenden Mittelschicht, zwischen Stadt- und Landbevölkerung sind groß und<br />

werden größer. Seit der Liberalisierung der Wirtschaft haben sich die Löhne ausein-<br />

ander entwickelt, der Kampf um Arbeitsplätze ist härter geworden, regionale Unter-<br />

schiede verschärfen sich. So stellt sich die zentrale Frage, „ob angesichts von Bevöl-<br />

kerungsexplosion und verbreiteter Armut das Land überhaupt zusammengehalten<br />

werden kann“ (Betz 2006: 52).<br />

Unbestritten: Mit Wachstumsraten von sieben bis acht Prozent im Jahr holt Indiens<br />

Ökonomie auf. Doch kommt dieses Wachstum allen zu Gute? Und wo sind seine<br />

Grenzen? Im kommenden Abschnitt soll es um die Frage gehen, wer die Profiteure<br />

des indischen Aufschwungs sind und wer die Verlierer. Wachstum, so heißt es in den<br />

Prämissen unseres Projekts, muss sozialverträglich, umweltverträglich und arbeitsin-<br />

tensiv sein, um entwicklungsfördernd zu wirken. Wird die Bevölkerung nicht mit ein-<br />

bezogen, muss sich die politische Elite darüber im Klaren sein, dass Miss- und Auf-<br />

stände wahrscheinlicher werden – und die Gefahr sozialen Sprengstoffs größer. So<br />

könnte das indische Wachstum so schnell gestoppt werden, wie es begonnen hat.<br />

83


Und auch ökologisch betrachtet, könnte das Wachstum an seine Grenzen geraten.<br />

Dieser Aspekt soll zunächst betrachtet werden, bevor anschließend näher auf die<br />

sozialen Konsequenzen des Wirtschaftswachstums eingegangen wird.<br />

Ökologische Grenzen<br />

Die Umweltpolitik in Indien ist seit der Verfassung von 1950 zu einem großen Teil<br />

Sache der Unionsstaaten, somit ist die Situation häufig unterschiedlich (vgl. Zingel<br />

1998). Trotzdem soll ein kurzer, allgemeiner Überblick über die ökologischen Auswir-<br />

kungen des Wachstums versucht werden.<br />

Seit der Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft wurden die historischen sozia-<br />

len Bewegungen in Indien, etwa der Kleinbauern, durch Frauen-, Friedens-, und<br />

auch Umweltbewegungen ergänzt (vgl. Raina 2005: 21). Offensichtlich gibt es also,<br />

angesichts der seit der Unabhängigkeit wachsenden Wirtschaftskraft, noch Defizite in<br />

der Umsetzung umweltverträglichen Wachstums.<br />

Da Indien nach wie vor ein Agrarland ist, findet die meiste Ressourcennutzung,<br />

außer in der Produktion, noch immer in der Landwirtschaft statt, wo auch die gravie-<br />

rendsten Umweltprobleme vorliegen. Künstlich Bewässerung und Düngung führten<br />

zwar zu höheren Erträgen, verstärken und beschleunigen aber die Bodenversalzung.<br />

Ebenso werden Indiens Flüsse zunehmend versalzt und vergiftet. Zum einen dringt<br />

verstärk Meerwasser ein, da die Flüsse aufgrund der Wasserentnahme für künstliche<br />

Bewässerung weniger Wasser führen. Zum anderen werden industrielle Abwässer in<br />

die Flüsse geleitet. Schon in der 80ern war der Ganges hochgradig verseucht. „Eine<br />

wirkungsvolle Abwasserbereitung gibt es kaum“ (Zingel 1998), somit ist die Trink-<br />

wasserqualität für die meisten Inderinnen und Inder schlecht. Zudem fällt im Kon-<br />

sumbereich (Indiens Ober- und Mittelschicht hat Konsumieren scheinbar zu ihrer<br />

neuen Lieblingsbeschäftigung erklärt) zunehmend Verpackungsmüll wie Plastiktüten,<br />

an.<br />

Seinen steigenden Energiebedarf bezieht Indien vornehmlich durch Kohle, Was-<br />

serkraft und Atomenergie. Da in allen Fällen immer mit erheblichen Umweltbelastun-<br />

gen verbunden, steht das Land diesbezüglich vor einigen Problemen.<br />

Ein weiteres Problem stellt das Ausmaß der Einfuhr von Gift und Sondermüll<br />

(„Mülltourismus“) vor allem aus westlichen Ländern dar. Schon in den 90er Jahren<br />

wurden mehr als 15 Tausend Tonnen Blei nach Indien transportiert (vgl. Zingel<br />

1998).<br />

84


Eine Tatsache, welche ökologische, und zugleich soziale Komponenten aufzeigt<br />

und verbindet, ist der CO2-Ausstoß; hier belegt Indien einen der ersten Ränge (1.1<br />

Mrd. Tonnen pro Jahr). Wegen der hohen Bevölkerungszahl, ist der pro Kopf<br />

Verbrauch dennoch einer der niedrigsten in der Welt. Indiens Eliten verweisen gerne<br />

auf diesen niedrigen Verbrauch und verstecken sich so gewissermaßen hinter dem<br />

Rücken der Armen. Dauerhaft bietet diese Situation extremen sozialen Sprengstoff,<br />

wodurch Wachstum und Stabilität gefährdet werden.<br />

Die indische Wirtschaftsstruktur – Wachstum nur im modernsten Sektor<br />

Das indische Wachstum hat etablierte Entwicklungsmodelle auf den Kopf gestellt, ist<br />

das Land doch einen ganz anderen Entwicklungspfad gegangen als seine asiati-<br />

schen Nachbarn. Zu Beginn des Aufschwungs von Japan, den „Tigerstaaten“ und<br />

China stand die exportorientierte Massenanfertigung einfacher Produkte, häufig un-<br />

terstützt durch ausländische Investoren (vgl. Oliver Müller 2006: 88). Indien bricht mit<br />

diesem Weg: „Als einziges Schwellenland ist es in den vergangenen zwei Jahrzehn-<br />

ten vom ‚primären’ Agrarsektor direkt in den ‚tertiären’ Dienstleistungssektor ge-<br />

sprungen.“ (Oliver Müller 2006: 87)<br />

Eine industrielle Revolution bleibt bisher aus – noch immer kommt Indiens Indust-<br />

riesektor für nur etwa 25 Prozent des Bruttosozialprodukts auf, ähnlich wie bereits<br />

zwanzig Jahre zuvor (vgl. Oliver Müller 2006: 87; Harald Müller 2006: 96). Der<br />

Dienstleistungssektor hingegen, dessen Beitrag zur Wirtschaftskraft 1980 noch bei<br />

37 Prozent lag, erwirtschaftete 2005 bereits 54 Prozent – über die Hälfte! – des Brut-<br />

tosozialprodukts (vgl. Oliver Müller: 87). Der Anteil der Landwirtschaft am Bruttosozi-<br />

alprodukt hat sich hingegen seit 1980 nahezu halbiert: Bei etwa 22 Prozent lag er<br />

2005 (vgl. Harald Müller 2006: 96).<br />

Die Zahlen zeigen: Die These, dass die marktliberalen Reformen das indische<br />

Wirtschaftswachstum grundsätzlich beschleunigt hätten, ist ein weit verbreitetes<br />

Missverständnis: […] both the material productive sectors have stagnated or decli-<br />

ned, and the only sector which has ballooned in an abnormal manner is the tertiary or<br />

services sector which now accounts for over half of GDP.“ (Patnaik 2007: 9) Es war<br />

und ist vor allem die Dynamik im Dienstleistungssektor, die zu Wachstumsraten von<br />

zuletzt acht Prozent geführt hat. Für die traditionellen Industriesektoren, allen voran<br />

der Landwirtschaft, hat die marktliberale Reformpolitik dagegen keine signifikanten<br />

Investitions- und Wachstumsschübe gebracht.<br />

85


Liegt Oliver Müller, Korrespondent des Handelsblatts, also richtig mit seiner Beo-<br />

bachtung, dass sich Indien „in Rekordzeit von einer rückständigen Agrargesellschaft<br />

in eine wissensbasierte Dienstleistungsgesellschaft verwandelt“ (2006: 1) hat? Wenn<br />

ja, so hatte die Masse der Bevölkerung nicht Teil an dieser ‚Wandlung’. Denn ein<br />

Blick auf die Beschäftigungszahlen zeigt: 25 Prozent der Beschäftigten arbeiten im<br />

Servicebereich, davon nur 700.000 im boomenden Dienstleistungssektor. Weniger<br />

als zwanzig Prozent verdienen ihren Unterhalt in der Industrie. Die große Masse –<br />

etwa 60 Prozent – arbeitet noch immer in der Landwirtschaft (vgl. Harald Müller<br />

2006: 96). Die Wirtschaftsstruktur Indiens mag modern und auf qualifizierte Arbeits-<br />

kräfte ausgerichtet sein. Den Beschäftigungszahlen nach ist Indien trotzdem noch<br />

immer ein Agrarland.<br />

In großen Teilen der Literatur wird die These vertreten, dass das Wachstum des<br />

Dienstleistungssektors schlussendlich auch zu einem Wachstum der anderen Sekto-<br />

ren führen werde. Wird die Informationstechnologie einen grundlegenden Wandel in<br />

Indien hervorrufen? Werden davon auch die Massen der verarmten Bevölkerung pro-<br />

fitieren? Um sich dieser Frage anzunähern, soll zunächst die Situation der Landwirt-<br />

schaft näher betrachtet werden.<br />

Landwirtschaft in der Dauerkrise<br />

Die Krise der Landwirtschaft ist das „drängendste Strukturproblem“ (Müller, Oliver<br />

2006: 6) Indiens – und eines der Hauptgründe, warum die Masse der Bevölkerung in<br />

einer Armutsfalle steckt, aus der es keinen Ausgang zu geben scheint. Nahezu 700<br />

Millionen Inder leben auf dem Land (vgl. Ihlau 2006 a: 46): „Eingezwängt in das sozi-<br />

ale Korsett der Kastenhierarchie“ (Ihlau 2006 a: 46), ohne ausreichende Bildung, und<br />

in nahezu feudalen Verhältnissen lebend, spüren sie wenig vom Boom in den indi-<br />

schen Metropolen. Seit Jahren befindet sich die indische Landwirtschaft in einer<br />

Dauerkrise. Während sich der Anteil des Agrarsektors am Bruttosozialprodukt stetig<br />

verkleinert hat, ist die Masse der Menschen, die von landwirtschaftlichen Erträgen<br />

abhängig sind, kaum zurückgegangen (vgl. Patnaik 2007: 6).<br />

Dabei sah es nicht immer so düster aus. In den Jahren nach der Unabhängigkeit<br />

1947, als die nationale Eigenständigkeit das Leitbild indischer Wirtschaftspolitik war,<br />

wurde alles getan, um das Land in der Produktion von Gütern völlig autark zu ma-<br />

chen (vgl. Harald Müller 2006: 60, siehe auch Kapitel III). So betrieb die Elite eine<br />

binnenmarktzentrierte Importsubstitutionspolitik, die dafür sorgte, dass die Produktivi-<br />

tät im Agrarsektor erheblich gesteigert werden konnte. Jawaharlal Nehru führte eine<br />

86


Landreform durch, die einige Teile der Bauernschaft aus einer praktisch feudalen<br />

Abhängigkeit befreite: Traditionelle Großgrundbesitzer mussten einen Teil ihrer Nutz-<br />

flächen an ärmere Bauern abtreten (vgl. Harald Müller 2006: 52). Die in den sechzi-<br />

ger Jahren einsetzende „Grüne Revolution“, die Einführung moderner Agrotechnik in<br />

der landwirtschaftlichen Produktion, tat ihr übriges: Die landwirtschaftlich genutzte<br />

Fläche konnte erweitert, die Erträge pro Hektar nahezu verdoppelt werden (vgl. Ha-<br />

rald Müller 2006: 82). In dieser Zeit schrumpften die Importe landwirtschaftlicher Gü-<br />

ter von vier Prozent der Eigenproduktion auf beinahe null. Kurzum: Auch wenn durch<br />

die „Grüne Revolution“ die Unterernährung und Armut der ländlichen Bevölkerung<br />

nicht beseitigt worden war, so sorgte sie zumindest dafür, dass das Land sich mit<br />

Nahrungsmitteln selbst versorgen konnte (vgl. Desai 2006: 69).<br />

Das heutige Wachstum in der Landwirtschaft wird unterschiedlich eingeschätzt.<br />

Während Olaf Ihlau (2006 a: 67) von einem Wachstum von drei Prozent und Oliver<br />

Müller (2006: 154) von zwei Prozent ausgehen, beobachten andere AutorInnen seit<br />

Jahren stagnierende Werte im Wachstum des Agrarsektors (Ghosh 2004, Chandra-<br />

sekhar/Ghosh 2007, Patnaik 2007, Desai 2006). Egal, von welchen Zahlen ausge-<br />

gangen wird – fest steht: Der Agrarsektors ist an einem historischen Tiefpunkt ange-<br />

langt. „Rural India is in the grip of an agrarian crisis that is unprecedented in its<br />

spread and severity, in these past fifty years.” (Ghosh 2004 a)<br />

Die zunehmende Einbindung Indiens in die Weltwirtschaft sowie die steigende Ex-<br />

portproduktion hat der indischen Nahrungsmittelerzeugung immer mehr Land entzo-<br />

gen (vgl. Desai 2006: 73). Die Getreideproduktion sinkt, seit den neunziger Jahren<br />

haben sich die Ernte-Erträge, verglichen mit denen der achtziger Jahre, nahezu hal-<br />

biert (vgl. Patnaik 2007: 2). Auch der Getreidekonsum pro Kopf sinkt stetig – und das<br />

in einem Land, in dem ein großer Bevölkerungsteil noch immer unterernährt ist (vgl.<br />

Desai 2006: 73) Die Abschaffung landwirtschaftlicher Subventionen und die Ver-<br />

knappung von Krediten hat zahlreiche Bauern in die Verzweiflung gestürzt: „Moun-<br />

ting un-repayable farm debts have led to loss of land reflected in a sharp rise in land-<br />

lessness, and to the historically unprecedented situation of many thousands of far-<br />

mer suicides.“ (Patnaik 2007: 2)<br />

Strukturelle Heterogenität<br />

Indien ist damit nicht alleine. Alle <strong>BRIC</strong>-Staaten sind durch ein Phänomen gekenn-<br />

zeichnet, welches Abhängigkeitstheoretiker strukturelle Heterogenität nennen – „ei-<br />

nem Flickenteppich marginalisierter und eingeschlossener Sektoren, einem Neben-<br />

87


einander verschiedener Produktionsweisen und der Nichtexistenz eines auf den Bin-<br />

nenmarkt ausgerichteten kohärenten Produktionsapparats.“ (Schmalz 2006: 33) Wie<br />

kommt es dazu? Das indische Wachstumsmuster beruht maßgeblich auf der Nach-<br />

frage der Mittelklasse (vgl. Desai 2006: 71). Diese aufstrebende wohlhabende<br />

Schicht imitiert westlichen Luxus – ihre Nachfrage nach Konsumgütern und der tech-<br />

nischen Ausrüstung zu ihrer Herstellung wird stetig größer. Dies bleibt nicht folgenlos<br />

für die Wirtschaftsstruktur des Landes: „Der hohe Kapitalfluss in den modernen Sek-<br />

tor spiegelt sich in einer geringen Investitionsquote in die übrigen Wirtschaftssekto-<br />

ren wieder, deren Aufbau eher den Anforderungen einer umfassenden nationalen<br />

Entwicklung entsprochen hätte.“ (Franke 2004: 206) So werden die Entwicklungsun-<br />

terschiede zwischen dem modernen und traditionellen Sektor größer. Das Ergebnis:<br />

eine „gesellschaftliche Spaltung, die sich am deutlichsten in der Marginalität großer<br />

Teile der Bevölkerung zeigt“ (Franke 2004: 207).<br />

Neolieberale Reformen – verstärkte Ungleichheit?<br />

„You need only to look out onto the streets, to see the enormous increase in con-<br />

spicuous consumption by the rich […], and also to see side by side how the lives of<br />

the poor have become even more vulnerable and precarious.“ (Ghosh 2004 b) Der<br />

Schein dieser Alltagsbeobachtung trügt nicht. Indien hat, nach Japan, die meisten<br />

Milliardäre Asiens, aber auch die meisten seiner Armen (vgl. Ihlau 2006 a: 8). Nach<br />

Harald Müller (2006: 143) verfügen die ärmsten zwanzig Prozent der indischen Ge-<br />

sellschaft über 8,9 Prozent, das reichste Bevölkerungszehntel hingegen über 28,5<br />

Prozent des Einkommens. Bereits seit Jahrzehnten klafft eine Lücke zwischen dem<br />

Wohlstand der indischen Mittelklasse und der Armut der Massen.<br />

Fahrstuhleffekt?<br />

Die Frage, ob sich Ungleichheiten seit den neoliberalen Reformen verstärkt haben,<br />

wird sowohl in der indischen Politik als auch in der Literatur kontrovers diskutiert.<br />

Zahlreiche Ökonomen nehmen den Anstieg des indischen Pro-Kopf-Einkommens<br />

zum Anlass, der gesamten indischen Bevölkerung materiellen Wohlstand zu prophe-<br />

zeien. So sei das indische Bruttosozialprodukt pro Kopf in den vergangenen 15 Jah-<br />

ren um etwa vier Prozent pro Jahr gewachsen (vgl. Harald Müller 2006: 94), die In-<br />

vestmentbank Goldman Sachs spricht von einem Wachstum des Bruttoinlandspro-<br />

dukts pro Kopf um 58 Prozent seit 1995 (vgl. Struve 2007). Das steigende Pro-Kopf-<br />

Einkommen, so die Goldman Sachs ÖkonomInnen, beweise, dass die absolute Ar-<br />

88


mut unter der Bevölkerung geringer werde: Einem Fahrstuhl gleich, bewege sich die<br />

gesamte Bevölkerung – mit all ihren Ungleichheiten – einige Stockwerke höher, in<br />

Richtung Wohlstand der Industrienationen.<br />

Was aber ist wenn Arme und Reiche in unterschiedlichen Fahrstühlen sitzen?<br />

Wenn es – während die einen nach oben fahren – für die anderen unermüdlich nach<br />

unten geht? Viele kritische Ökonomen argumentieren, dass trotz Wachstum und<br />

steigendem Pro-Kopf-Einkommen reale Armutsprobleme in Indien nicht gelöst wur-<br />

den: „[…] in spite of higher overall growth, the extent of decline in poverty in the post-<br />

reform period has not been higher than in the pre-reform period. […] inequality has<br />

increased significantly in the post-reform period and seems to have slowed down the<br />

rate of poverty reduction.“ (Mahendra/Ravi 2007: 509) Im Widerspruch zum postulier-<br />

ten steigenden Wohlstand, stehen vor allem die Angaben zum Pro-Kopf-Verbrauch.<br />

Nach einer Studie von Jayati Ghosh (2004 b) sind die Konsumausgaben vor allem<br />

unter den reichsten 20 Prozent der Stadtbevölkerung gestiegen, also bei denjenigen,<br />

die vorher schon genug hatten. Ihr Konsumverbrauch stieg seit 1990 um rund 40<br />

Prozent. Bei den unteren 80 Prozent der ländlichen Bevölkerung – 600 Millionen<br />

Menschen – ist der Pro-Kopf-Verbrauch jedoch seit 1990 zurückgegangen: […] more<br />

than half of India has lower consumption per person than more than ten years ago“<br />

(Ghosh 2004 b).<br />

Und das bei steigendem Pro-Kopf-Einkommen? Auch wenn die indische Regie-<br />

rung und einige Investmentbanken das Gegenteil behaupten: Große Teile der Litera-<br />

tur sind sich einig, dass seit den neunziger Jahren die Verteilung des Einkommens<br />

ungleicher und der Kampf um Arbeitsplätze härter geworden ist. Ein Blick auf den<br />

Gini-Koeffizienten bestätigt dieses Bild: Dieser, die Einkommensverteilung messen-<br />

der Wert ist für Indien in den vergangenen zehn Jahren von 30,6 auf 36,8 gestiegen,<br />

wobei 0,0 absoluter Gleichheit und 100 absoluter Ungleichheit entspricht (vgl. Struve<br />

2007).<br />

Armut<br />

In ein Dickicht aus völlig unterschiedlichen Angaben, begibt sich, wer den realen Ar-<br />

mutszahlen in Indien auf die Spur kommen möchte. Die indische Regierung rühmt<br />

sich damit, dass die Armut seit den neunziger Jahren stetig zurückgegangen sei. Die<br />

Ökonomin Jayati Ghosh (2004 a) jedoch hält dies für reine Augenwischerei: „It is not<br />

surprising that the current government […] is trying to put the best possible gloss on<br />

what is at best a very mixed economic picture, and at worst, a story of stagnation,<br />

89


decline, neglect and even deterioration for a substantial part of India’s population.“<br />

Auch die Volkswirtin Utsa Patnaik hält einen Rückgang der Armutszahlen für un-<br />

wahrscheinlich, sprechen doch die steigenden Nahrungsmittelpreise und das Zurück-<br />

fahren von Beschäftigungsprogrammen, wie „Food for Work“, für ein Ansteigen der<br />

Armut (vgl. Patnaik 2007: 6 f.). Fest steht: Zur Masse der Armen auf der Welt trägt<br />

Indien den größten Anteil bei. Offizielle Zahlen besagen, dass 26 Prozent der Inder,<br />

300 Millionen, mit einem Tageseinkommen unterhalb der Armutsgrenze von einem<br />

Dollar pro Tag leben müssen (vgl. Ihlau 2006 a: 77). Tatsächlich dürfte die Zahl der-<br />

jenigen, die unter bitterster Armut leiden, bei 400 bis 500 Millionen liegen (Harald<br />

Müller 2006: 143; Ihlau 2006: 77).<br />

Nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser und<br />

Strom. Kinderarbeit ist weit verbreitet – sowieso ist die Hälfte aller Kinder unterer-<br />

nährt, jedes Vierte geht nicht zur Schule (vgl. Ihlau 2006 a: 183). Trotz rechtlicher<br />

Gleichberechtigung ist die Frau in der indischen Männergesellschaft noch immer<br />

marginalisiert - reproduziert wird diese Ungleichheit durch die Mitgiftpraxis, die „viel-<br />

leicht finsterste Rückständigkeit der indischen Gesellschaft“ (Harald Müller 2006:<br />

144). Indien hat 60 Prozent aller Leprösen der Welt (vgl. Ihlau 2006 a: 167) und ist,<br />

nach Südafrika, das Land mit der zweithöchsten Zahl der am HI-Virus infizierten<br />

Menschen (vgl. Harald Müller 2006: 87; siehe auch. Kapitel IV). Diese Liste an Indi-<br />

zien für die Armut der Bevölkerungsmasse ließe sich noch lange weiterführen.<br />

Was die Ungleichheit reproduziert: Indiens elitäres Bildungssystem<br />

Indien, das werden Wissenschaftler und Politiker nicht müde zu betonen, ist auf dem<br />

Weg zu einer „Supermacht des Wissens“ (Ihlau 2006 a: 9), seine „Wissensrevolution<br />

[macht] es zur verlängerten Denkfabrik der Welt“ (Oliver Müller 2006: 3). Immerhin ist<br />

jeder dritte Software-Ingenieur der Welt ein Inder (vgl. Ihlau 2006 a: 18) und jedes<br />

Jahr wird an den indischen Universitäten ein Heer von über 500.000 Technikern, In-<br />

genieuren und Informatikern ausgebildet – das Rückgrat der enormen Entwicklung<br />

im IT-Sektor.<br />

Der Grundstein des indischen Bildungssystems wurde 1951 unter Jawaharlal Neh-<br />

ru gelegt: Hunderte Colleges, darunter die renommierten Indian Institutes of Techno-<br />

logy, wurden in den fünfziger Jahren gegründet (vgl. Ihlau 2006 a: 18). Mit dieser<br />

Entscheidung verfestigte die Kongresspartei eine Struktur, die bereits von der briti-<br />

schen Kolonialmacht aufgebaut wurde: Das Land übernahm ein Bildungssystem, das<br />

auf die Förderung der Eliten ausgerichtet war (vgl. Harald Müller 2006: 63 f.). Nur so<br />

90


lässt sich erklären, warum in Indien, das eine überdurchschnittliche Zahl an Wissen-<br />

schaftlern und Technikern ausbildet, etwa 43 Prozent der Männer und 55 Prozent der<br />

Frauen weder lesen noch schreiben können (vgl. Ihlau 2006 a: 150 f). Und nur so<br />

lässt sich auch erklären, dass die höhere Bildung in Indien zu den international Bes-<br />

ten gehört, die Grundschulausbildung und Lehre an den staatlichen Schulen hinge-<br />

gen häufig katastrophal ist.<br />

Indien gibt seit der Unabhängigkeit pro Jugendlichem in der höheren Bildung<br />

sechsmal so viel aus wie für die Kinder in der Primärausbildung (vgl. Harald Müller<br />

2006: 64). Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass die indische Elite bewusst vor einer<br />

breiten Volksbildung zurückschreckt, würde diese doch den unteren Kasten zuviel<br />

Aufwärtsmobilität verschaffen. 2004 kamen nur 21,1 Prozent der Männer und 10,2<br />

Prozent der Frauen auf dem Land in den Genuss der Bildung einer weiterführenden<br />

Schule (Chandrasekhar/Ghosh 2007: 33). So kommen Chandrasekhar und Gosh<br />

(2007: 33) zu dem Schluss: „[…] by no stretch of imagination can India currently be<br />

characterised as a knowledge economy in any meaningful sense.”<br />

Trickle-Down von Wachstumseffekten?<br />

So gering ist die Zahl der Hochausgebildeten im Vergleich zu den armen, ungelern-<br />

ten Massen, dass die Annahme, Wirtschaftswachstum führe früher oder später auch<br />

zum Wohlstand der gesamten Bevölkerung, in Bezug auf Indien deutlich relativiert<br />

werden muss: „Es gibt im indischen Fall keinen Beleg für ein ‚trickle-down’ von<br />

Wachstumseffekten.“ (Desai 2006: 74) So hilft auch der Aufschwung in der Informa-<br />

tionstechnologie, mag er auch noch so beeindruckend sein, der Masse der Bevölke-<br />

rung kaum: „It is true that the software and IT-enabled services sector is witnessing<br />

high rates of growth […]. But that occurs on a low base in a sector which remains an<br />

enclave and cannot compensate for the slow growth in the commodity producing sec-<br />

tors.” (Chandrasekhar 2004)<br />

Der IT-Sektor bleibt eine Enklave, von dessen Boom nur eine Minderheit profitiert.<br />

Diesen hegemonialen Block schätzt Jayati Ghosh (2004 a) auf etwa zehn Prozent.<br />

Gut ausgebildet wie sie ist, profitiert diese aufstrebende Mittelschicht vom Boom im<br />

Informationstechnologie-Sektor: „[…] global integration has increased the job oppor-<br />

tunities for this favoured group, as financial and other services and IT-enabled activi-<br />

ties have expanded.” Bis 2009 werden rund vier Millionen Inder im Informationstech-<br />

nologie-Sektor beschäftigt sein (vgl. Schmalz 2006: 26), ein Bruchteil bei einer Be-<br />

völkerungszahl von 1,1 Milliarden.<br />

91


Gesamtwirtschaftlich gesehen wird der Einfluss des IT-Sektors also begrenzt blei-<br />

ben – zumindest solange Armut und Analphabetismus auf ihrem jetzigen Stand ver-<br />

harren. Die Frage des britischen Historikers Paul Kennedy nach der Stabilität des<br />

indischen Wachstums scheint vor diesem Hintergrund durchaus berechtigt: Kann In-<br />

dien „die Belastung aushalten, auf globalem Niveau konkurrenzfähige Hightech-<br />

Enklaven mitten unter Millionen verelendeten Landsleuten aufzubauen?“ (Kennedy,<br />

zitiert nach Ihlau 2006 a: 152)<br />

Herausforderung Demographie – Arbeit schaffen für die Massen<br />

Indien ist die zweitgrößte Nation der Welt und wird wahrscheinlich bald ihre größte<br />

sein. Bis zur Jahrhundertmitte, so rechnen Ökonomen, wird die Bevölkerungsanzahl<br />

Indiens – derzeit 1,1 Milliarden – auf 1,6 Milliarden anschwellen und damit China ü-<br />

berholen (vgl. Ihlau 2006 a: 65/66). Es sind diese demographischen Aussichten, wel-<br />

che Ökonomen häufig als Wettbewerbsvorteil Indiens gegenüber China werten: In-<br />

dien, so die Argumentation, wird auf Grund seiner jungen Bevölkerung eine kreative,<br />

dynamische Volkswirtschaft auf die Beine stellen. China hingegen wird – als Konse-<br />

quenz seiner „Ein-Kind-Politik“ – mit Problemen der Alterssicherung zu kämpfen ha-<br />

ben (vgl. Harald Müller 2006: 95).<br />

Indien ist eine junge Nation, die jüngste der <strong>BRIC</strong>-Staaten: eine halbe Milliarde<br />

Inder sind unter 25 Jahre alt (vgl. Oliver Müller 2006: 3). Doch reichen demographi-<br />

sche Faktoren, um Wachstumsprognosen zu erstellen? Nicht jede Prognose ist so<br />

optimistisch wie die der Investmentbank Goldman Sachs. Tatsächlich wittern zahlrei-<br />

che Ökonomen hinter der steigenden Beschäftigungszahl nicht nur eine Wirtschafts-<br />

chance, sondern vor allem enormes internes Konfliktpotential.<br />

Bis 2010 wird der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter um 83 Millionen<br />

anschwellen (vgl. Oliver Müller 2006: 166). Zur Jahrhundertmitte wird Indien etwa<br />

800 Millionen Menschen zwischen zwanzig und sechzig Jahren haben (vgl. Ihlau<br />

2006 a: 67). Nach einer Studie von Chandrasekhar und Ghosh (2007: 30 f.) ist die<br />

Jugendarbeitslosigkeit schon jetzt höher als die anderer Altersgruppen. “[…] the<br />

youth face bleak and shaky futures, with little hope of secure employment, as job op-<br />

portunities have simply not kept pace with the growth of the labour force.” (Ghosh<br />

2004 a) Die Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation ohne Arbeit könnte dem<br />

Wirtschaftswachstum zum Verhängnis werden. International gesehen mögen viele<br />

junge Menschen mehr Macht bedeuten, intern aber sind sie sozialer Sprengstoff, fin-<br />

det sich für sie keine Beschäftigung: „If the economy does not generate adequate<br />

92


employment of a sufficiently attractive nature, the demographics could deliver not a<br />

dividend but anarchy.“ (Chandrasekhar/Ghosh 2007: 32)<br />

Wie kann Indien seine demographische Dividende nutzen? Nach Oliver Müller<br />

(2006: 166) bräuchte es „das größte Arbeitsbeschaffungsprogramm der Welt“ um für<br />

die Millionen-Massen Arbeitsplätze zu schaffen. Der Dienstleistungssektor hilft hier<br />

nur begrenzt weiter. Nur durch den Aufbau einer arbeitsintensiven Produktion – ähn-<br />

lich der in China – kann Arbeit für die Massen geschaffen und die ihre Binnenkauf-<br />

kraft gestärkt werden. „Tatsächlich gibt es nur einen Weg um die demografische<br />

Stärke Indiens in effektive Nachfrage zu verwandeln: Erhöhung der Einkommen der<br />

Millionen von ländlichen Armen.“ Höhere Löhne, aber auch bessere Sozialleistungen<br />

und regionale Entwicklungsprogramme, würden nicht nur helfen, politische Stabilität<br />

zu gewährleisten. Sie würden auch die Binnenökonomie fördern und damit die natio-<br />

nale Autonomie des Landes vergrößern (vgl. Franke 2004: 204)<br />

Fazit<br />

In Indien leben Asiens meisten Millionäre, aber auch die meisten seiner Armen.<br />

Indien – Endlich ein Land mit sozialverträglicher Zukunft?<br />

Dieser Tage feiert Indien den sechzigsten Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Die bri-<br />

tische Kolonisierung hatte Indien in ein abhängiges, agrarkapitalistisches Land ver-<br />

wandelt, in welchem die Mehrheit der Bevölkerung von Bodenbesitz, sowie<br />

Wohlstand ausgeschlossen war (vgl. Amin 2007: 703). Wie oben gezeigt wurde, wa-<br />

ren die Wachstumszahlen unter den Briten kümmerlich und die Situation der Mehr-<br />

heit der indischen Bevölkerung erbärmlich. In die Unabhängigkeit wurden große<br />

Hoffnungen gesetzt. Was ist heute davon geblieben?<br />

Die Wachstumszahlen in Indien sprechen scheinbar für sich; Indien zählt zu den<br />

aufstrebenden Schwellenländern und ist eine der kommenden Großmächte. Indien<br />

ist auf dem Weg in eine glanzvolle Zukunft. Aber nein! Nicht Indien, sondern nur eini-<br />

ge privilegierte Inderinnen und Indern. Der Großteil der Bevölkerung lebt weiter in<br />

tiefster Armut und merkt nichts vom indischen Wirtschaftswunder, welches den Eu-<br />

ropäern solche Angst um ihre Position in der Welt einjagt.<br />

Natürlich sind die indischen Wachstumsraten von circa acht Prozent beeindru-<br />

ckend. Resultierten daraus automatisch Wohlstand und Stabilität, wäre die momen-<br />

tane Euphorie angebrachter. Das größte Problem Indiens ist jedoch, dass das<br />

Wachstum nicht zum Wohle der gesamten Bevölkerung genutzt wird, und unter den<br />

derzeitigen Voraussetzungen vielleicht auch gar nicht dazu genutzt werden kann.<br />

93


Samir Amin zufolge hat Indien seit es unabhängig wurde, seine Hauptaufgabe nicht<br />

geschafft, „nämlich die radikale Transformation der vom kolonialen Kapitalismus er-<br />

erbten Strukturen“ (Amin 2007: 703). Diese Strukturen erkennt man in der beschrie-<br />

benen Situation auf dem Land genauso wie in der Spaltung des indischen Volkes –<br />

ein Folge der britischen Devise part and rule, welche den lokalen Widerstand<br />

schwächte indem einzelne Gruppierungen gegeneinander ausgespielt wurden.<br />

Das unabhängige Indien hat es versäumt, diese Strukturen zu überwinden, und die<br />

führenden Köpfe Indiens scheinen sich mit der Ausbreitung eines abhängigen und<br />

peripheren Kapitalismus zu begnügen (vgl. Amin 2007: 707). Dieser ist gekennzeich-<br />

net durch die Abhängigkeit der Peripherie, also Indien, vom Zentrum Großbritannien<br />

erweitert durch die anderen westlichen Industrienationen. Dependenztheoretische<br />

Ansätze gehen davon aus, dass diese Abhängigkeit so angelegt ist, dass sich die<br />

Peripherie nicht ohne weiteres daraus befreien kann. Hinzu kommt, dass die Barrie-<br />

ren des kolonialen Erbes, welche dem Fortschritt im Wege stehen, durch das Fortbe-<br />

stehen des Kastensystems noch verstärkt werden.<br />

Indien hat zwar mit der IT-Branche einen wettbewerbs- und zukunftsfähigen Wirt-<br />

schaftssektor, trotzdem kann der Aufschwung nur fortgesetzt werden, wenn auch ein<br />

arbeitsintensiver Sektor aufgebaut wird, welcher einer wachsenden Bevölkerung ge-<br />

nügend Arbeitsplätze bietet. Indiens Zukunft hängt nicht ausschließlich an Innovatio-<br />

nen im IT- und Biotechnologie- Bereich. Indien muss vor allem Arbeitsplätze schaf-<br />

fen, um mehreren Millionen Menschen ein ausreichendes Einkommen und Mindest-<br />

maß an Sicherheit bieten zu können. Die Voraussetzung für anhaltendes, langfristi-<br />

ges und stabiles Wachstum in Indien ist also nicht eine weitere Liberalisierung der<br />

Wirtschaft, sondern die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten für die Massen.<br />

94


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98


Anhang<br />

Quelle: Nayya, Deepak: 2007, S. 1452 und S. 1453<br />

99


Quelle: Nayya, Deepak: 2007, S. 1452 und S. 1453<br />

100


China<br />

Einleitung<br />

Seit den frühen 80er Jahren gehört die Volksrepublik (VR) China zu den am schnells-<br />

ten wachsenden Ländern der Erde. Zwischen 1978 und 2005 lag das durschnittliche<br />

Wachstum bei 10 %. Zusammen mit einer Bevölkerung von über 1,3 Milliarden Men-<br />

schen im Jahr 2004 ist schon länger über das Potenzial der VR China für die Welt-<br />

wirtschaft gesprochen worden. (vgl. Naughton 2007: 3) Schließlich avancierte die VR<br />

China 2005 zur viertgrößten Volkswirtschaft hinter den USA, Japan und Deutschland<br />

und zur drittgrößten Handelsnation hinter Deutschland und den USA. Die Wachs-<br />

tumsdynamik des Reiches der Mitte ist zu einem wichtigen Faktor in der internationa-<br />

len Wirtschaft geworden zu sein. (vgl. Cho 2006: 76) Es scheint sogar in der popu-<br />

lärwissenschaftlichen Literatur ein regelrechter Chinaboom ausgebrochen zu sein.<br />

(exemplarisch siehe Sieren 2005, Hirn 2006 und Schoettli 2007) Der Tenor viele<br />

Publikationen lautet, dass die Verlagerung der Weltwirtschaft nach Asien und insbe-<br />

sondere China zu einer unausweichlichen Tatsache geworden ist. Es gelte nun für<br />

die westlichen Staaten sich darauf einzustellen. (vgl. Sieren 2005: 336) Neuen Auf-<br />

schwung erhielt diese Diskussion durch die Prognosen der Investmentbank Goldman<br />

und Sachs zum Aufstreben der <strong>BRIC</strong>-Staaten. Ihren Darstellungen zufolge werden<br />

die <strong>BRIC</strong>-Staaten ab 2050 an der Spitze der Weltwirtschaft stehen und die etablier-<br />

ten Wirtschaftsnationen hinter sich lassen. Allen vorran: Die VR China. (Vgl. Gold-<br />

man und Sachs 2003: 2 ff.)<br />

Insgesamt scheint der VR China den Prognosen nach eine glänzende Zukunft be-<br />

vorzustehen. Doch was sagen die makroökonomischen Daten über die wirkliche<br />

Entwicklung des Reiches der Mitte aus? Reicht es aus, sich auf Indikatoren, wie das<br />

Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu beziehen, um die Zukunft eines Lan-<br />

des vorauszusagen? Richtet man den Blick stärker auf die politische und ökonomi-<br />

sche Entwicklung der Volksrepublik China, bietet sich ein spannendes Bild voller Wi-<br />

dersprüche. Hyekyung Cho gliedert diese Betrachtung in drei Kategorien. So befinde<br />

sich erstens die VR China seit 1978 in einem Übergangsprozess von einem planwirt-<br />

schaftlichen hin zu einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, in dem die Kommunis-<br />

tische Partei Chinas (KPCh) weiterhin ein Herrschaftsmonopol besitzt. Die KPCh be-<br />

hielt auch nach Beginn der Öffnungspolitik die Kontrolle über den zunehmend<br />

marktwirtschaftlich gestalteten Wirtschaftsablauf (Cho 2005: 11). Eine These, die<br />

101


auch durch andere Wissenschaftler gestützt wird, wie durch den in Trier lehrenden<br />

Politikwissenschaftler Sebastian Heilmann (2004: 120 ff.).<br />

Die zweite These von Cho bezieht sich auf die Wachstums- und Modernisierungser-<br />

folge der vergangenen zwei Jahrzehnte. In den 90er Jahren habe der Aufstieg der<br />

VR China großes Interesse in der internationalen Geschäftswelt erregt, die in ihr ei-<br />

nen gigantischen und lukrativen Zukunftsmarkt sehen. "Im Grunde kann es sich kein<br />

Mittelständler mehr leisten, nicht im China-Geschäft aktiv zu sein", sagte Sabine<br />

Hepperle vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) der Frankfurter<br />

Allgemeinen Zeitung und beschreibt damit die Sicht vieler Deutscher Unternehmer<br />

(Vgl. FAZ vom 06.02.2007: 16). Für Cho liegt hier der Grund für den „Mythos von der<br />

‚Supermacht China’“ (Cho 2005: 11), der zunächst von Westen kreiert und dann von<br />

der chinesischen KP-Führung als neue Grundlage ihrer Herrschaftslegitimation in der<br />

Reformära übernommen worden sei. Dieser Mythos prophezeie den Anbruch eines<br />

chinesischen Jahrhunderts, in dem die aufstrebende VR China die im Niedergang<br />

begriffenen USA überholen würde. Eine These, die insbesondere durch die darge-<br />

stellten Analysen von Goldman und Sachs, aber auch durch die populärwissen-<br />

schaftlichen Publikationen von Hirn und anderen gestützt wird. (Vgl. Sieren 2005,<br />

Hirn 2006 und Schoettli 2007)Allerdings ist hierbei der Begriff Mythos mit Vorsicht zu<br />

gebrauchen. Cho erklärt ihre These mit der Tatsache, dass die euphorischen Mel-<br />

dungen über den Anbruch des pazifischen Zeitalters und den märchenhaften Auf-<br />

stieg wichtige Faktoren ausblenden würden. Die VR China würde nach dem Pro-<br />

Kopf-Einkommen zu einem der armen Entwicklungsländer gehören. Zudem sei das<br />

Land mit einer Fülle von Entwicklungsproblemen konfrontiert. Cho verweist hier auf<br />

den Gegensatz von Arm und Reich. Ein Index zu Überprüfung dieses Unterschiedes<br />

ist der Gini-Index. Mit einem Wert von 0,44 im Jahr 2007 hat die Volksrepublik hier<br />

ein vergleichsweise hohes Niveau. In Deutschland liegt der Wert aktuell bei 0,28,<br />

wobei 0 eine gleiche Einkommensverteilung bedeutet und 1 eine vollkommen unglei-<br />

che Verteilung. (Vgl. WirtschaftsWoche vom 26.05.2007: 22). Dies ist ein wichtiger<br />

Befund bei der Beurteilung der Zukunft Chinas. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt in<br />

China aktuell bei 1.740 US $ pro Jahr. In Deutschland sind es 34.580 US $. (Vgl.<br />

WirtschaftsWoche vom 26.05.2007: 22). Wobei es unterschiedliche Angaben zu die-<br />

sen Zahlen gibt. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ war von einem Pro-Kopf-<br />

Einkommen von 1484 € im Jahr 2006 die Rede. (Vgl. Die Zeit vom 16.05.2007: 27)<br />

Auch die aktuellen Daten bestätigen damit Chos Vermutung. Allerdings reichen diese<br />

Befunde nicht aus, um das Chinabild als Mythos zu bezeichnen. Ein kritischer Ver-<br />

102


weis auf das Pro-Kopf-Einkommen und die Einkommensverteilung ist dennoch hilf-<br />

reich und sinnvoll.<br />

In ihrer dritten These greift Cho die nationalistischen Tendenzen innerhalb der chine-<br />

sischen Gesellschaft auf. In der Reformära habe sich die VR China aus ihrer maois-<br />

tischen Selbstisolation herausgelöst. Die Weltmarktintegration ist auch für Cho ein<br />

entscheidendes Moment für die nachholende Entwicklung mit kapitalistischer Prä-<br />

gung der VR China seit 1978. Mit dem vollzogenen WTO-Beitritt vervollständige sich<br />

der Anschluss an den Weltmarkt. Gleichzeitig nähmen jedoch nationalistische Aufru-<br />

fe in den politischen Diskursen besonders der 90er Jahre zu. (Vgl. Cho 2005: 11) Die<br />

nationalistischen Tendenzen innerhalb der chinesischen Gesellschaft sind auch von<br />

anderen Autoren thematisiert worden. (Vgl. Heberer/Senz 2006: 163 ff.) Die Auswir-<br />

kungen auf die zukünftige Entwicklung sind zwar nur sehr schwer zu erfassen, doch<br />

sie stellen einen wichtigen Faktor für die zukünftige Bewertung dar.<br />

Es gibt also durchaus Tendenzen, die einer positiven Entwicklung des Reiches der<br />

Mitte entgegenstehen können. Auch Goldman und Sachs verwiesen auf mögliche<br />

Probleme mit ihrer einschränkenden Formulierung „If things go right“ (Vgl. Goldman<br />

und Sachs 2003: 2). Doch worin genau bestehen diese Risiken und Probleme? Die<br />

Merkmale des chinesischen Wirtschaftswachstums, mit der staatlichen Lenkung der<br />

Wirtschaftsabläufe, zeigt viele Parallelen zu dem Profil der kapitalistischen nachho-<br />

lenden Entwicklung in anderen Ländern in der ostasiatischen Region nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg. Die chinesische Führung erklärt es zum Ziel ihrer Reform- und<br />

Öffnungspolitik, die entwickelten Industrieländer mit Hilfe von deren Technologie ein-<br />

zuholen und sogar zu überholen, um so China ins Zentrum der Weltwirtschaft aufrü-<br />

cken zu lassen. Der Welthandelsstatistik zufolge, in der die VR China zu den zehn<br />

größten Handelsnationen der Welt gezählt wird, befindet sich das Reich der Mitte auf<br />

einem guten Weg. Die vier kleinen Tiger – Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singa-<br />

pur – und die neuen Schwellenländer – Malaysia, Thailand und Indonesien – schlu-<br />

gen einen ähnlichen Weg ein und bildeten die Basis für die These vom „Ende der<br />

Dritten Welt“ (Menzel 1992: 20 ff.). Auch die Weltbank lobte die Entwicklung in ihren<br />

Publikationen als „asiatisches Wirtschaftswunder“. (Vgl. World Bank 1993: 2 ff.).<br />

Durch die Asienkrise von 1997/98 erhielt diese Vorstellung jedoch einen herben<br />

Rückschlag. Die einstige Begeisterung über die asiatische Entwicklung erlosch<br />

schnell. (Vgl. Cho 2005: 13). Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen muss auch<br />

das chinesische Wirtschaftswachstum beurteilt werden.<br />

103


Entwicklung und aktuelle Situation<br />

Chinas Wandlung von einem Staatssozialismus zu der heutigen Wirtschaftsform be-<br />

gann 1978. Auf der Plenarsitzung des Zentralkomitees der KP wurde das Ende der<br />

„Ära des turbulenten Klassenkampfes“ deklariert und eine neue Ära der „Reform und<br />

Öffnung“ eingeleitet (zit. n. Cho 2005: 76). Damit war es die Partei, die entschied,<br />

dass durch den schrittweise Einsatz von mehr Markt in der Wirtschaft die bestehen-<br />

den Probleme besser gelöst werden können: „It was the party’s decision to marketize<br />

the Chinese economy.“(Bukett/Hart-Landsberg 2004: 30). Hier werden die Unter-<br />

schiede zur Schocktherapie in der Transformation der Russischen Wirtschaft deut-<br />

lich. Die VR China setzte ab 1978 auf eine langsame Außenöffnung der Ökonomie<br />

und auf eine Stärkung des Privatsektors. (Vgl. Schmalz 2006: 26) Diese Öffnungs-<br />

strategie kann in mehrere Phasen unterschieden werden:<br />

Eine erste Phase bilden die Jahre von 1978 bis 1983. In dieser Zeit wurden den Lo-<br />

kal- und Provinzebenen mehr Rechte zugeteilt. Gleichzeitig bekamen die Manager<br />

der staatlichen Firmen mehr Freiheiten. (vgl. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 31f.) An-<br />

fang 1979 wurden zudem Sonderwirtschaftszonen für ausländische Investoren ein-<br />

gerichtet. Diese ausgewählten Bereiche an der Südküste der Provinzen Guangdong<br />

und Fujian sollte neben ausländischen Direktinvestitionen auch neue Technologien in<br />

die Volksrepublik holen. (vgl. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 33) Zudem wurde in die-<br />

ser Phase der Umstrukturierung die Schaffung eines Markes für Arbeitskräfte voran-<br />

getrieben. Kleine private Unternehmen werdenzugelassen, deren Mitarbeiterzahl auf<br />

sieben plus Lehrlinge begrenzt war. Damit stieg der Anteil von Arbeitern im Privat-<br />

sektor rasant an. Waren Ende der 1970er Jahre gerade einmal 240.000 Arbeitneh-<br />

mer im Privatsektor beschäftigt, so stieg ihre Zahl auf 1,1 Millionen 1981 und auf 3,4<br />

Millionen 1984. Eine besondere Rolle spielte auch der Agrarsektor. Die staatlich ga-<br />

rantierte Ertrag wurde von 20 auf 50 % erhöht, wenn die Produktion die vorgegeben<br />

Quoten überschritt. Außerdem wurden die staatlichen Reglementierungen gedrosselt<br />

und ab September 1980 die Dekollektivierung der Landswirtschaft eingeleitet. Da-<br />

durch erhöhte sich die landwirtschaftliche Produktion erheblich. Die jährliche Wachs-<br />

tumsrate betrug 9 %. Das ist, verglichen zu 4 % in der Mao-Ära, sehr viel. Zudem<br />

verdoppelte sich das Pro-Kopf-Einkommen in der ländlichen Region zwischen 1978<br />

und 1984. (vgl. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 33 ff.)<br />

In der nächsten Phase von 1984 bis 1991 wurde vor allem die ökonomische Liberali-<br />

sierung in den Städten vorangetrieben. 1984 begann die Regierung den Staatskon-<br />

zernen und Provinzregierungen mehr Freiheiten einzuräumen. Während zuvor staat-<br />

104


liche Zuschüsse den Konzernen zugeteilt wurden und später die Einkünfte an den<br />

Staat zurückflossen, wurde dieses Verhältnis nun beendet. Die Firmen mussten von<br />

nun an ihre Investitionen aus ihren eigenen Einkünften bestreiten. Ebenso mussten<br />

die Provinzregierungen ihre Handlungen nun aus ihren Steuereinnahmen bestreiten.<br />

(vgl. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 37) Diese Liberalisierungsmaßnahmen wurden<br />

durch die Freigabe der Preise für einige Konsumgüter und landwirtschaftliche Güter<br />

freigegeben. Lediglich der Preis für wichtige Industriegüter, wie Stahl, Kohle und Öl<br />

blieb weiterhin staatlich fixiert. Allerdings wurde die Inflation zu einem immer größe-<br />

ren Problem. Zwischen 1985 und 1987 lag sie bei geschätzten 8 %. In den beiden<br />

folgenden Jahren stieg sie jedoch auf 18 %. In großen Städten wie Peking sogar auf<br />

30 %. In der Landwirtschaft kam es in Folge der Inflation und steigender Preise für<br />

landwirtschaftliches Material zu einer Stagnation. Die Einkommen der ländlichen Be-<br />

völkerung stiegen 1989 bis 1991 nur um 2 %. 1978 bis 1984 waren es 15 %. Die<br />

Städtische Bevölkerung war zwar auch betroffen, doch in gleichem Maße. (vgl. Bu-<br />

kett/Hart-Landsberg 2004: 38 ff.) So begann bereits in dieser Zeit die gewaltige Be-<br />

völkerungsverschiebung aus ländlichen Regionen in die Städte. Der Versuch der<br />

chinesischen Regierung durch die Begrenzung der Geldausgabe und der Bankkredi-<br />

te für Investitionen die Inflation zu bekämpfen, führte 1989 zu einer Rezession. (vgl.<br />

Bukett/Hart-Landsberg 2004: 41)<br />

Zu Beginn der Reformära durch Deng Xiaoping 1978 waren noch 71 % der arbeiten-<br />

den Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig. 2004 sank ihr Anteil jedoch erstmals un-<br />

ter die Grenze von 50 %. Dieser Wandel vollzog sich im Wesentlichen in drei Pha-<br />

sen. Von 1983 bis 1987 zog es viele ehemalige Bauern in nicht-landwirtschaftliche<br />

Betriebe. Viele verarmte Bauern, die in den Jahren zuvor noch von der Reformpolitik<br />

profitiert hatten, erhofften sich bessere Perspektiven in den Städten. Als Wanderar-<br />

beiter versuchten sie sich eine bessere Zukunft zu erarbeiten. Von 1991 bis 1996<br />

sank ihr Anteil nochmals ab, da das Wirtschaftswachstum neue Arbeitsplätze in den<br />

Städten schuf und die Beschränkungen für Landarbeiter in den Städten gelockert<br />

wurden. Die letzte Phase ist ab 2003 mit dem investitionsgetriebenen Wirtschafts-<br />

wachstum auszumachen. (vgl. Naughton 2007: 151 f.) Obwohl noch fast die Hälfte<br />

der arbeitenden Bevölkerung 2006 in der Landwirtschaft tätig ist, macht dieser Sektor<br />

mit unter 25 % den geringsten Anteil am BIP aus. Hingegen dominiert der tertiere<br />

Sektor mit über 50 % vom BIP. (vgl. Naughton 2007: 153ff.) Aktuell wird die Zahl der<br />

Wanderarbeiter auf 200 Millionen geschätzt. Der Handelsüberschuss der VR China<br />

ist 2006 im Vergleich zum Vorjahr um 10 % gestiegen. Eine beachtliche Zahl, an der<br />

105


die billigen Arbeitskräfte einen großen Teil zu beigetragen haben. Schätzungen zu-<br />

folge tragen sie rund ein Fünftel zum chinesischen Bruttoinlandsprodukt bei. (Vgl.<br />

FAZ vom 06.02.2007: 46) Die geringen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen<br />

bilden die Voraussetzung für die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft, doch<br />

gleichzeitig stellt ihre Situation ein großes Potential für soziale Unruhen dar. Nach<br />

Angaben der chinesischen Regierung wurden 2006 87000 Proteste von Arbeitern<br />

registriert. (Vgl. Munro/Zhang 2006: 98). Die Grundlage für die heutige Entwicklung<br />

ist bereits in der frühen Phase der Umstrukturierung gelegt worden.<br />

Ab Anfang der 1990er Jahre konnte die wirtschaftliche Stabilität wieder hergestellt<br />

werden. In dieser Zeit fällt auch die Reise Deng Xiapings in die südlichen Küstenre-<br />

gionen. Bei dem Besuch einer Sonderwirtschaftszone erklärte er: „solange es Geld<br />

bringt, ist es gut für China.“ (zit. n. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 41) Damit beginnt<br />

die nächste Phase ab 1991. In dieser Zeit wurde auch der Begriff der „Sozialen<br />

Marktwirtschaft Chinesischer Prägung“ (zit. n. Bukett/Hart-Landsberg 2004: 41) ge-<br />

legt. Eine wichtige Entwicklung stellt die Privatisierung von Staatsbetrieben dar. Ab<br />

1993 wurden 1000 zentrale und 2500 lokale Staatsbetriebe ausgewählt, die bis 1998<br />

privatisiert wurden. Gleichzeitig wurde die Privatisierung ausgeweitet. Das Ziel be-<br />

stand darin die 1000 größten Konzerne weiterhin in staatlicher Hand zu behalten und<br />

die restlichen zu privatisieren. Aktiengesellschaften (AG) wurden zur dominanten Or-<br />

ganisationsform für Unternehmen. 1997 gab es über 9200 dieser AGs. . (vgl. Bu-<br />

kett/Hart-Landsberg 2004: 47 ff.)In den außenwirtschaftlichen Beziehungen verfolgt<br />

die Regierung der VR China dabei eine konkrete Strategie. Exklusive Handelsrechte<br />

wurden an einzelne Unternehmen vergeben, mit dem Ziel nur einer kleinen Anzahl<br />

von Außenhandelsgesellschaften Rechte zu erteilen. So wurden die Konzentrations-<br />

prozesse im Wirtschaftsbereich gesteuert. Auf diese Weise förderte die chinesische<br />

Regierung industrielle Konzentration, um so die internationale Wettbewerbsfähigkeit<br />

zu steigern. Die Chinesische Regierung hat das Ziel ausgegeben die Anzahl der<br />

Chinesischen Konzerne unter den 500 größten der Welt bis 2015 auf 50 zu erhöhen.<br />

(Vgl. Cho 2006: 84) 2007 sind 20 Konzerne unter den Forbes Global 500 (Vgl. For-<br />

bes Magazine 2007:<br />

http://money.cnn.com/magazines/fortune/global500/2006/countries/C.html)<br />

Während der Asienkrise 1997/98 zeigte sie die Krisenanfälligkeit der asiatischen Ti-<br />

gerstaaten. China erhält im Gegensatz zu diesem asiatischen Wirtschaftsmodell wei-<br />

terhin die staatliche Kontrolle über den Kapitalverkehr und die Währungsregime auf-<br />

recht – allerdings mit Einschränkungen. Die chinesische Verweigerung der sofortigen<br />

106


Liberalisierung der Kapitalmärkte wird jedoch international geduldet. (Vgl. Cho 2006:<br />

81)<br />

Die aktuelle und letzte Phase lässt sich mit dem Beitritt der VR China zur WTO 2001<br />

ausmachen. Die Außenzölle wurden reduziert und der Investitionsverkehr weiter libe-<br />

ralisiert. Diese Entwicklung zog einen sprunghaften Anstieg der Exporte nach sich<br />

von 22,3% (2002), 34,6 % (2003) und 35,4 % (2004). Gleichzeitig stieg die Investiti-<br />

onsrate von 36,3 % im Jahr 2000 auf 48,6 % im Jahr 2005. (Vgl. Schmalz 2006: 27)<br />

Für 2006 wird die Investitionsrate mit 43,5 % des BIP angegeben. (Vgl Die Zeit vom<br />

10.04.2007: 27) Dieser Anstieg ist auch im Vergleich zu den anderen <strong>BRIC</strong>-Staaten<br />

gewaltig. In Russland liegt die Quote für 2006 bei 20,9 %, in Brasilien bei 20,6 % und<br />

in Indien bei 33,4 %. (Vgl. Die Zeit vom 10.04.2007: 26 f.). Diese Zahlen belegen<br />

gleichzeitig die hohe Außenabhängigkeit des chinesischen Wachstums. Die Export-<br />

abhängigkeit ist durch die Größe des Binnenmarktes extrem hoch. Zudem wächst<br />

der Anteil ausländischer Unternehmen am chinesischen Außenhandel stetig. Im Jahr<br />

1986 lag er bei 0,4% bis 1,2% der Exporte und 1,9% der Importe. Bis 2005 stieg er<br />

auf atemberaubende 58,2 % bis 58,5% der Exporte und 58,7 % der Importe. (Vgl.<br />

Cho 2006: 82) Bis Mitte der 1990er Jahre kamen die Investitionen aus den asiati-<br />

schen Schwellenländern, besonders Hongkong, Taiwan, Korea und Singapur. Sie<br />

zielten dabei hauptsächlich auf die Billigproduktion von arbeitsintensiven Gütern, wie<br />

Schuhe, Sportartikel und Bekleidung Dann wurde jedoch auch die Produktion von<br />

Industriegütern aus diesen Ländern nach China verlagert, dabei zunächst in die<br />

Sonderwirtschaftszonen in der chinesischen Küstenregion. (Vgl. Cho 2006: 82)<br />

Während der 1990er Jahren wurden in China hauptsächlich arbeitsintensive Billiggü-<br />

ter produziert. In den letzten kommen in zunehmendem Maße auch Hochtechnolo-<br />

giegüter hinzu. Im Jahr 2004 lag der Anteil von Hochtechnologiegütern am Gesamt-<br />

export bei 28 %. 87,3 % davon entfielen auf ausländische Unternehmen. (Vgl. Cho<br />

2006: 82) Für die Produktion sind die Unternehmen allerdings auf Importe von dafür<br />

notwendigen Vorprodukten und Kapitalgütern angewiesen. Diese sind auf dem Bin-<br />

nenmarkt nicht verfügbar. Der Import von Vorprodukt- und Kapitalgütern lag im Jahr<br />

2005 bei 74,7% und 19,4% der Gesamtimporte. Konsumgüterimporte lagen hinge-<br />

gen bei einem Anteil von 3,3%. Dabei gehen 43,6% der Exportwerte auf den Import<br />

von Vorprodukten zurück. In ausländischen Exportunternehmen liegt dieser Wert so-<br />

gar bei 80%. (Vgl. Cho 2006: 83) Die Abhängigkeit Chinas vom Außenhandel und<br />

ausländischer Technologie ist demnach sehr hoch. Das chinesische Wachstum ist<br />

107


also zu einem sehr großen Teil von ausländischen Direktinvestitionen und dem Im-<br />

port von Technologie abhängig. (Vgl. Cho 2006: 83)<br />

Die moderne chinesische Infrastruktur gehört zu den Kostenvorteilen und damit<br />

Wettbewerbsvorteilen des Standortes gegenüber anderen Billiglohnländern und auch<br />

den anderen <strong>BRIC</strong>-Staaten. Allein zwischen 2001 und 2005 entstanden über 24.000<br />

Autobahnkilometer. Das ist mehr als doppelt so viel, wie es in ganz Deutschland gibt.<br />

Bis 2011 sollen weitere 17.000 Kilometer Schienennetz gebaut werden. Das ent-<br />

sprich etwa der Hälfte des Deutschen Netzes. (Vgl. Die Zeit vom 10.04.2007: 27) Mit<br />

den niedrigen Arbeitskosten, niedrigen Umwelt- und Sozialstandards sowie den weit-<br />

gehend stabilen Wechselkursen ist China im Vergleich zu anderen Ländern un-<br />

schlagbar. (Vgl. Cho 2006: 83)<br />

Die Zukunft ist allerdings vom Absatz Chinesischer Güter auf dem Weltmarkt abhän-<br />

gig. Dabei spielen die entwickelten Industriestaaten die wichtigste Rolle. Die USA<br />

und die EU sind hier sehr wichtig. In beide Märkte flossen im Jahr 1995 etwa 30 %<br />

der chinesischen Exporte. 2005 waren es 42% in die USA und 22,8% in die EU. Da-<br />

bei ging die Bedeutung des asiatischen Raumes als Empfänger chinesischer Exporte<br />

zurück. (vgl. Cho 2006:83) Neben den Investitionen ist China also auch entscheidend<br />

von der Absatzmöglichkeiten im Ausland abhängig, solange es keinen entsprechen-<br />

den Binnenmarkt gibt.<br />

108


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land verändert. 2. Aufl. Berlin: Econ Verlag.<br />

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Washington D.C.: World Bank.<br />

110


Thesen<br />

Abhängigkeit von Auslandsinvestitionen<br />

Generell stützen sich die wachsenden Ökonomien der <strong>BRIC</strong>-Staaten stark auf aus-<br />

ländische Investitionen. Die Öffnungs- und Liberalisierungspolitiken in den einzelnen<br />

Ländern hatten zu einem großen Teil die Anziehung ausländen Kapitals zum Ziel.<br />

Die Investitionen fungieren als Antrieb der ökonomischen Erneuerung. Die Abhän-<br />

gigkeit ist aber nicht in allen <strong>BRIC</strong>-Staaten gleich. China und Brasilien sind stark auf<br />

ausländische Investitionen angewiesen, während Russland und Indien weniger aku-<br />

ten Bedarf haben. Brasilien ist sehr stark auf ausländischen Kapitalzufluss angewie-<br />

sen, da das Land nicht genügend Kapital und Investitionen mobilisieren kann. Das<br />

hohe Leistungsbilanzdefizit und die große Verschuldung Brasiliens erzeugen den<br />

Kapitalbedarf (vgl. Bieling; 233).<br />

In Russland werden Kapitalströme von Außen hauptsächlich in die Modernisierung<br />

und Instandhaltung der Rohstoffförderanlagen sowie in die Erschließung neuer Roh-<br />

stofffelder investiert. Durch den Leistungsbilanzüberschuss ist die Außenabhängig-<br />

keit aber nicht so groß. Seit Putins Reformen stiegen die Auslandsinvestitionen stark<br />

an.<br />

In Indien werden hauptsächlich in der IT-, Pharmazie- und Chemiebranche Investiti-<br />

onen benötigt. Durch starke Zuströme in diesen Bereichen konnte die zuvor negative<br />

Leistungsbilanz relativ ausgeglichen werden (vgl. Bieling; 241).<br />

China entwickelt den größten Bedarf an Kapitalzuflüssen. Hier werden vor allem Di-<br />

rektinvestitionen und der Import von Know-How zur Erneuerung der ökonomischen<br />

Struktur benötigt.<br />

In China liegt die Investitionsrate 2006 bei 43,5 % des BIP. In Russland liegt die<br />

Quote für 2006 bei 20,9 %, in Brasilien bei 20,6 % und in Indien bei 33,4 %. (Vgl. Die<br />

Zeit vom 10.04.2007: 26 f.).<br />

Die Abhängigkeiten von ausländischem Kapital waren hauptsächlich in den Um-<br />

bruchszeiten sehr stark gegeben. Mit zunehmender Entwicklung der Länder sinkt<br />

jedoch mittlerweile diese Abhängigkeit wieder. China z.B. ist in den letzten Jahren<br />

sogar selbst zu einem großen Investor, vor allem in die US-Wirtschaft geworden.<br />

111


Vergleich China und Indien<br />

Bei der Diskussion über die <strong>BRIC</strong>-Staaten wird immer wieder auf die zentrale Funkti-<br />

on der beiden Länder China und Indien verwiesen. Mit einem Wirtschaftswachstum<br />

im Jahr 2006 von 10,7 Prozent in China und 9,2 Prozent in Indien liegen sie, zumin-<br />

dest was die Wachstumszahlen angeht, weit vor den 6,7 Prozent in Russland und<br />

den 3,7 Prozent in Brasilien (vgl. Die Zeit vom 10.04.2007: 26 f.). Aber lässt sich die<br />

Entwicklung in Indien und China überhaupt sinnvoll vergleichen, oder gar gleichset-<br />

zen? Es scheint, vor allem nach der vorangegangenen Analyse, viel mehr als würden<br />

den beiden Nationen völlig unterschiedliche Entwicklungsmodelle zu Grunde liegen,<br />

welche aber trotzdem, zumindest in letzter Zeit, ähnlich hohe Wachstumszahlen pro-<br />

duzieren. Wo liegen die Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede? Ist eines der bei-<br />

den Modelle dem anderen überlegen?<br />

Der augenscheinlichste Unterschied zwischen beiden Ländern ist ihr politi-<br />

sches System und die Wirtschaftspolitik. China befindet sich in einem Übergangs-<br />

prozess von einem planwirtschaftlichen hin zu einem kapitalistischen Wirtschaftssys-<br />

tem, in dem die KPCh nach wie vor dominant ist. Die KPCh behielt auch nach Beginn<br />

der Öffnungspolitik die Kontrolle über den zunehmend marktwirtschaftlich gestalteten<br />

Wirtschaftsablauf. (vgl. Cho 2005: 11) Im parlamentarischen Bundesstaat Indien wird<br />

der Aufschwung dem Boom in der IT-Branche, und häufig auch einem marktgetrie-<br />

benen Wandel zugeschrieben. Hier seien es die einzelnen Wirtschaftsakteure und<br />

nicht eine Partei, die wirtschaftliche Abläufe gestalten. Die treibende Kraft des wirt-<br />

schaftlichen Aufschwunges seien die freien kreativen Unternehmen. (vgl. Oliver Mül-<br />

ler 2006: 4). Eine weitere Besonderheit des indischen Modells ist die Tatsache, dass<br />

Indien scheinbar eine Industrielle Revolution übersprungen hat und sein Wachstum<br />

schon heute auf dem tertiären, oder Dienstleistungs-, Sektor aufbaut.<br />

In beiden Ländern fällt der hohe Investitionsanteil am BIP auf, der in China<br />

bei 43,5 Prozent und in Indien bei 33,4 Prozent im Jahr 2006 liegt (vgl. Die Zeit vom<br />

10.04.2007: 27). Die Außenverflechtung ist dabei in beiden Ländern sehr hoch. Ex-<br />

perten schätzen hierbei das Risiko für Indien höher ein als das für China. Der Grund<br />

hierfür seien mangelnde Arbeitsplätze für Millionen von jungen Inderinnen und In-<br />

dern. In China hingegen sei dieses Problem aufgrund der exportorientierten Leichtin-<br />

dustrie nicht so groß. Hinzu kommt, dass der Anteil der unter 30-Jährigen in Indien<br />

mit 450 Millionen über den 400 Millionen dieser Altersgruppe in China liegt. Und In-<br />

diens junge Bevölkerung wächst rasant weiter. Für China wird dagegen ab dem Jahr<br />

2050 sogar von einer Vergreisung der Bevölkerung gesprochen, da nach Schätzun-<br />

112


gen ein Drittel der Bevölkerung über 60 Jahren alt sein wird (vgl. FAZ.net vom<br />

23.04.2006). Zwar müssen Prognosen über einen derartig langen Zeitraum mit gro-<br />

ßer Vorsicht genossen werden, bedingt durch die Ein-Kind-Politik liegt das Bevölke-<br />

rungswachstum in China allerdings jetzt schon bei 0,85 Prozent. In Indien hingegen<br />

bei 1,45 Prozent. Daher wird von Harald Müller die These vertreten, dass Indien in<br />

Zukunft eine kreative und dynamische Volkswirtschaft haben wird, während China<br />

mit Problemen der Alterssicherung zu kämpfen hat (vgl. Harald Müller 2006: 95)<br />

Ein immer wieder angeführtes Problem in China ist die große Anzahl fauler<br />

Kredite bei den Staatsbanken. Schätzungen zufolge sollen sogar 50 Prozent der<br />

Kredite chinesischer Banken „faul“ sein. In Indien spricht man hingegen von nur 15<br />

Prozent. Die aktuellen Börsengänge Chinesischer Banken könnten allerdings neue<br />

Bewegung in diese Entwicklungen bringen. Wie sich dies allerdings konkret auf die<br />

Praxis der Kreditvergabe auswirken wird, lässt sich noch nicht abschätzen (vgl. Ha-<br />

rald Müller 2006: 95 f.)<br />

Obwohl in beiden Ländern eine hohe Außenabhängigkeit herrscht, gibt es ei-<br />

nen entscheidenden Unterschied: Das indische Wirtschaftswunder speist sich über-<br />

wiegend aus heimischem Kapital. Indien ist dadurch nicht so stark von ausländischen<br />

Investoren abhängig. Zudem ist die Wirtschaftsstruktur in beiden Ländern verschie-<br />

den verteilt. Der Anteil der Landwirtschaft am BIP liegt in Indien bei 22,7 Prozent und<br />

in China bei 14,4 Prozent. In Indien wird allerdings über die Hälfte des Bruttosozial-<br />

produkts im Dienstleistungssektor erwirtschaftet. Das ist ein untypischer Befund für<br />

ein Entwicklungsland. In China liegt der Anteil hingegen bei 32,5 Prozent (Harald<br />

Müller 2006: 97).<br />

Die Liste der Unterschiede und Gemeinsamkeiten ließe sich für bei Länder si-<br />

cherlich noch weiterführen. Festzustellen ist allerdings, dass den Aufschwung in In-<br />

dien und China spezifische, und völlig unterschiedliche Entwicklungsmodelle zugrun-<br />

de liegen. Beide Länder haben ein großes Potenzial und doch lassen sich keine ge-<br />

meinsamen Prognosen abgeben. Beide Länder haben aber auch große Probleme,<br />

soziale wie politische, welche ihrer Entwicklung trotz Potential im Wege stehen kön-<br />

nen. Vielleicht kann man sagen, dass Indiens Wachstumsmodell zukunftsorientierter<br />

ist, allerdings über keine stabile Basis verfügt die dieses Wachstum dauerhaft stüt-<br />

zen kann. Wohingegen China seinen Massen zwar Arbeitsmöglichkeiten bietet, aber<br />

dringend Innovation zulassen muss um zukunfts- und wettbewerbsfähig zu bleiben.<br />

Es bleibt also spannend zu beobachten, wie diese Länder in Zukunft Einfluss auf die<br />

Weltwirtschaft ausüben werden.<br />

113


Export und Modelle<br />

Die vier <strong>BRIC</strong>-Staaten weisen, wie im Laufe unserer Arbeit dargestellt worden ist,<br />

erhebliche Unterschiede in ihren wirtschaftlichen und politischen Strukturen sowie in<br />

den sozialen Verhältnissen auf. Gemein sind ihnen die tendenziell wachsende Be-<br />

deutung in der Weltwirtschaft und in der internationalen Politik, aber auch zuneh-<br />

mende Konfliktpotentiale. Die ökonomischen Wachstumsprozesse, die in den einzel-<br />

nen Staaten beobachtet werden können und durch die solche Prognosen gestützt<br />

werden, basieren jeweils auf anderen Boom-Sektoren. Hier kann auch ein Grund für<br />

die unterschiedlich starke Wachstumsdynamik in den vier Ländern gesehen werden.<br />

Das Wirtschaftswachstum in Brasilien und Russland, die beiden an Bevölkerungs-<br />

zahl und BIP gemessen kleinsten Staaten der Gruppe, baut weitgehend auf die Ge-<br />

winnung und den Export von Rohstoffen auf. Im Falle Brasiliens sind es minerali-<br />

sche, allen voran Eisenerz, und agrarische Rohstoffe, insbesondere Soja, die ab-<br />

bzw. angebaut und exportiert werden. Steigende Weltmarktpreise und die wachsen-<br />

de Nachfrage aus China nach Eisenerz und Soja sowie der gesteigerte Import von<br />

Soja in der EU befördern diese Entwicklung. Der Rohstoffexport wirkt sich für die<br />

brasilianische Ökonomie allerdings nicht unbedingt positiv aus. So trägt die damit<br />

einhergehende Aufwertung des Reals zu einer schwindenden Wettbewerbsfähigkeit<br />

der stagnierenden verarbeitenden Industrie bei. Da gleichzeitig mit 41,4% ein großer<br />

Teil der Exporterlöse für den Schuldendienst aufgewendet werden müssen, bleiben<br />

Investitionsimpulse für die heimische Wirtschaft eher aus und die Gewinne fließen<br />

entweder ins Ausland oder konzentrieren sich in der Hand weniger vom Export profi-<br />

tierender Unternehmen.<br />

Die russische Wirtschaft wird ebenfalls durch den Export von Rohstoffen gestützt,<br />

hier werden aber überwiegend die Energieträger Öl und Gas ausgeführt. Es werden<br />

durch diese Exporte mittlerweile 25% des russischen BIP erwirtschaftet, was die e-<br />

norme Bedeutung des Wirtschaftszweigs illustriert. Auch der Großteil der in- und<br />

ausländischen Investitionen entfällt auf diesen Sektor. Während hohe Wachstums-<br />

zahlen außerdem auch im Baugewerbe und im Handel zu beobachten sind, stagniert<br />

die verarbeitende Industrie mit Ausnahme der Rüstungsbetriebe. Der Niedergang der<br />

Industrie, die im Zentrum der sowjetischen Wirtschaftspolitik stand begann mit der<br />

radikalen Öffnung und Reform der russischen Ökonomie seit dem Beginn der 90er<br />

Jahre. Analog zur brasilianischen Situation besteht die Gefahr negativer Konsequen-<br />

zen des Rohstoffexports für die Mehrzahl der heimischen Unternehmen, indem eine<br />

114


Aufwertung der Währung und die Konzentration der Gewinne Investitionen und Bin-<br />

nenmarktentwicklung behindern.<br />

Anders sieht die Situation in China aus, das seit 1978 eine schrittweise und kontrol-<br />

lierte Öffnung seiner Wirtschaft für den Weltmarkt vollzogen hat. Die geringen Löhne,<br />

gute Infrastruktur und gezielte Fördermaßnahmen haben dazu geführt, dass China<br />

die Position einer Produktionshalle der Weltwirtschaft eingenommen hat. Das chine-<br />

sische Wachstumsmodell, das auf die Industrieproduktion für den Export setzt, ist<br />

dabei stark von ausländischen Investitionen und Unternehmen mit Produktions-<br />

standorten im Land geprägt. Im Hochtechnologiesektor entfallen z.B. über 85% der<br />

Exporte auf ausländische Unternehmen. Gleichzeitig müssen Vorprodukte und Kapi-<br />

talgüter für die Produktion importiert werden, was die andere Seite der Außenabhän-<br />

gigkeit der chinesischen Wirtschaft ausmacht.<br />

Der indische Wirtschaftsboom wiederum wird nicht durch Rohstoffe oder die Indust-<br />

rieproduktion sondern den Dienstleistungssektor und insbesondere die globalisierte<br />

IT-Dienstleistungsbranche getragen. Seit der Öffnung dieses Sektors in den 80er<br />

Jahren profitiert die Branche vom Outsourcing insbesondere in der US-<br />

amerikanischen IT-Industrie. Niedrige Löhne und die gute Ausbildung der indischen<br />

Eliten haben diese Entwicklung ermöglicht. Das Outsourcing hochqualifizierter Ar-<br />

beitsplätze nach Indien greift mittlerweile auch auf andere Bereiche, wie die Bio- und<br />

Pharmaindustrie über. Eine Tendenz zum Übergreifen der Entwicklungsdynamik auf<br />

benachbarte Sparten der heimischen Industrie findet vereinzelt statt, etwa in der E-<br />

lektroindustrie beobachten. Eine tiefgreifende Industrialisierung bleibt aber weiterhin<br />

aus. Außerdem sind die Lage in der Agrarwirtschaft und damit die Situation der Mas-<br />

se der Bevölkerung, die aufgrund mangelnder Bildung nicht an der Entwicklung teil-<br />

haben kann, weiterhin das Hauptproblem der indischen Ökonomie.<br />

Insgesamt hat sich gezeigt, dass in den vier <strong>BRIC</strong>-Staaten sehr unterschiedliche<br />

Wachstumsdynamiken und -modelle wirksam sind. In allen Ländern findet die Ent-<br />

wicklung aber auf den Export zentriert statt, mit den daraus resultierenden Verwer-<br />

fungen und wachsenden Ungleichheiten zwischen den profitierende Wirtschaftsbe-<br />

reichen und den binnenorientierten Bereichen der Ökonomie, die im Vergleich stag-<br />

nieren. Daraus resultiert außerdem eine starke Außenabhängigkeit von den Märkten<br />

und der ökonomischen Entwicklung anderer Staaten und von ausländischen Investi-<br />

tionen und Krediten. Besonders interessant ist hier auch die zunehmende Verflech-<br />

tung der Staaten untereinander, die sich als Quellen und Empfänger gegenseitiger<br />

115


Exporte und Investitionen zunehmend hervortun. Bisher sind die Waren- und Kapital-<br />

ströme allerdings primär auf die westlichen Industriestaaten konzentriert.<br />

Die Soziale Schere<br />

In allen vier <strong>BRIC</strong>- Staaten etablierte sich aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwun-<br />

ges in den letzten Jahren eine neue Ober- und Mittelschicht. Gleichzeitig entstand<br />

jedoch eine neue Unterschicht. In Russland verbesserte sich zwar die finanzielle La-<br />

ge der am Existenzminimum lebenden Bevölkerung. Durch die wirtschaftliche Öff-<br />

nung gen Westen stiegen jedoch auch die Lebenserhaltungskosten. Die Differenz<br />

zwischen den Profiteuren des Wachstums der Wirtschaft und der armen Bevölke-<br />

rungsschicht wuchs. In Russland lag der Gini- Koeffizient bei 0,41. Auch in China be-<br />

trug der Wert 0,44, damit klafft die Lebensweise der zwei Bevölkerungsschicht sogar<br />

noch stärker als in Russland auseinander<br />

In Indien leben nach offiziellen Angaben über 26 Prozent der Bevölkerung unter der<br />

Armutsgrenze, Brasilien sind es ähnlich so viele. Soziale Unruhen, Arbeitsstreik der<br />

zu unzureichenden Löhne arbeitenden Bevölkerung und Schwarzarbeit sowie die<br />

Verbreitung illegaler Geschäfte sind Folgen dieser Armut und ungleichen Lebenswei-<br />

se, mit denen die Staaten konfrontiert werden.<br />

Ein Grund für die starke sozialen Ungleichheiten sind die regionalen Entwicklungsun-<br />

terschiede innerhalb der Länder. Die Faktoren dieser regionalen Ungleichheit sind<br />

länderspezifisch. In Indien sind die Differenzen zwischen dem entwickelten Südosten<br />

und dem armen Nordosten auf postkoloniale Ursachen zurückzuführen. In China und<br />

Brasilien entstanden Wirtschaftszonen rund um die Ballungszentren der Länder. In<br />

China leben ungefähr 200 Millionen Menschen als Wanderarbeiter, da sie in ihren<br />

Herkunftsregionen keine Arbeit finden. Das südliche Kerala beispielsweise ist einer<br />

der erfolgreichsten Nutznießer der Wirtschaftsbooms während die Menschen in nörd-<br />

lichen Bihar in Apathie verharren. Brasiliens Wirtschaft findet sich ebenfalls in süd-<br />

westlichen Landesteilen. Im Nordosten des Landes herrscht in den Küstenregionen<br />

des Landes immer noch Großgrundbesitz, im halbtrockenen Hinterland dominiert<br />

Subsistenzlandwirtschaft und –tierzucht. Der Südosten Brasilien stieg hingegen zum<br />

wirtschaftlichen Zentrum des Landes auf. In Russland besteht ein West- Ost Gefälle.<br />

Wirtschaftliche Ballungszentren sind dabei auch Moskau und St. Petersburg. Aber<br />

auch in ländlichen Gebieten konnten sich wirtschaftliche Zonen etablieren. Jedoch<br />

sind diese abhängig von den dortigen Bodenschätzen.<br />

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