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HAUS CHRISTOPHORUS <strong>viaWALA</strong> 15<br />
Das Haus Christophorus wird getragen<br />
vom Verein Gemeinschaftshilfe und Altersheim-<br />
Berlin e. V. und ist Mitglied im Paritätischen<br />
Wohlfahrtsverband sowie im Nikodemuswerk e. V.<br />
Weitere Informationen<br />
www.haus-christophorus-berlin-mitte.de<br />
Literaturtipps (mit Kapiteln zu pflegerischen Gesten und Selbstpflege):<br />
Birgitt Bahlmann. Pflege daheim. Berlin: Salumed 2010<br />
Erich Schützendorf. Wer pflegt, muss sich pflegen. Wien: Springer 2009<br />
„Demente Menschen tun genau das Gegenteil von dem,<br />
was die Gesellschaft verlangt“, sagt Maiken Stangs.<br />
„Das ist interessant. Sie verweigern sich den Normen. “<br />
Links: Maiken Stangs ist stellvertretende Pflegedienstleiterin<br />
im Haus Christophorus, Berlin.<br />
Heute Mittag gibt es Wirsingpäckchen<br />
mit Grünkernfüllung. Aber erst nach<br />
dem Balance- und Krafttraining. Sie<br />
finden, das liest sich wie das Programm<br />
eines Kurhotels für Fitnessbegeisterte<br />
Nicht ganz. Wir befinden uns im Haus<br />
Christophorus im Berliner Stadtteil<br />
Moabit. Die Spree im Blick, das Salzufer<br />
in der Nähe – ein schöner Platz.<br />
„Zu uns kommen großteils Menschen,<br />
die schwer dement sind“, berichtet<br />
Maiken Stangs. Sie ist stellvertretende<br />
Pflegedienstleiterin und Expertin für<br />
anthroposophische Pflege. Dass im Haus<br />
Christophorus ein ganz besonderer Geist<br />
herrscht, fällt schon im Eingangsbereich<br />
auf. An den pastellgelben Wänden der<br />
Empfangshalle hängt ein holzgerahmtes<br />
Porträt Rudolf Steiners. Das Haus Christophorus<br />
wurde 1965 von Menschen<br />
mit anthroposophischer Geisteshaltung<br />
gebaut. Dieses Erbe ist immer noch<br />
in der besonderen Hinwendung zum<br />
Menschen spürbar. „Uns ist dabei sehr<br />
wichtig, dass dies völlig ohne Dogma<br />
geschieht“, betont Maiken Stangs.<br />
„Unser Haus ist offen für jeden, der<br />
zu uns kommen möchte.“<br />
Heute beherbergt das Haus Christophorus<br />
insgesamt 28 Bewohner in<br />
der Pflege und 20 Mieter im Wohnbereich.<br />
Für die ausgebildete Krankenschwester<br />
Maiken Stangs ist die Arbeit<br />
hier Berufung. Das Haus Christophorus<br />
soll für seine Bewohner zu einem<br />
Zuhause werden. Hier sollen sie<br />
ein gutes Leben führen, es aktiv mitgestalten.<br />
Dabei spielt auch die Mitarbeit<br />
von Angehörigen eine Rolle. „Wir<br />
wünschen uns, dass unsere Bewohner<br />
auch von ihren Familien gefordert<br />
und gefördert werden“, sagt Maiken<br />
Stangs. Ein offenes Haus und regelmäßige<br />
Angehörigen-Nachmittage<br />
unterstützen diesen Anspruch.<br />
Maiken Stangs sieht das Alter als einen<br />
wichtigen Abschnitt, als eine Zeit<br />
der Entwicklung. Die Körperlastigkeit<br />
des deutschen Gesundheitssystems<br />
findet sie zu einseitig. „Was ist mit<br />
der Seele“, fragt sich die 50-Jährige.<br />
Auch deshalb beschäftigt sie sich<br />
mit dem Konzept der „pflegerischen<br />
Gesten“. Dieser Ansatz verbindet<br />
Maßnahmen wie Körperpflege oder<br />
Mobilisation mit der inneren Haltung<br />
des Betreuers. „Meist stehen pro Patient<br />
ein oder zwei Bedürfnisse im Fokus“,<br />
erklärt Maiken Stangs. Ist der Betreffende<br />
ängstlich oder unruhig, braucht<br />
er Wärme und eine ruhige Umgebung.<br />
„Das ist die Geste ,Hüllen’“, erläutert<br />
die Pflegerin. Traurige oder depressive<br />
Menschen brauchen beispielsweise die<br />
Geste „Anregen“. Dann sind Waschungen<br />
oder Wickel angezeigt, aber auch<br />
Spazierfahrten oder kleine Aufgaben.<br />
Der Umgang mit den pflegerischen<br />
Gesten ist für Maiken Stangs zwar<br />
in der Praxis noch neu. Doch sie hofft,<br />
damit besonders ihre demenzkranken<br />
Patienten noch besser betreuen zu<br />
können. „Demente Menschen tun genau<br />
das Gegenteil von dem, was die Gesellschaft<br />
verlangt“, sagt Maiken Stangs.<br />
„Das ist interessant. Sie verweigern sich<br />
den Normen. Deshalb müssen wir auch<br />
einen individuellen Weg zu ihnen finden.“<br />
Der Mensch in seiner Einheit steht für<br />
Maiken Stangs aber nicht nur im Bezug<br />
auf ihre Patienten im Vordergrund. „Die<br />
Fokussierung auf das rein Körperliche<br />
macht auf Dauer krank“, ist sie sich sicher.<br />
„Nicht nur die Patienten, auch uns Pflegekräfte.“<br />
Daher ist ihr Motto: Wer pflegt,<br />
muss auch sich selbst pflegen. Im Rahmen<br />
des Projektes „Selbstpflege“ hat<br />
sich das Team einen eigenen Raum eingerichtet.<br />
Ein kleines, ruhiges Zimmer<br />
mit einer Liege, Kissen, einer Kuscheldecke.<br />
„Eine Oase, ein Rückzugsort,<br />
wo wir uns bewusst kleine Auszeiten<br />
nehmen können.“ Zudem haben alle<br />
Mitarbeiter der Einrichtung – auch die<br />
Kollegen der Hauswirtschaft – seit zwölf<br />
Jahren regelmäßig die Möglichkeit, an<br />
Supervisionsterminen teilzunehmen.<br />
„Eine externe Supervisorin besucht uns<br />
alle drei Wochen“, erklärt Rita Goldscheck,<br />
Diplompsychologin und Heimund<br />
Pflegedienstleiterin. „Wer möchte,<br />
kann mit ihr sein eigenes berufliches<br />
Handeln im Gespräch reflektieren.“<br />
Indem das Team verantwortungsvoll<br />
mit sich selbst umgeht, hat es die<br />
Kraft, seinen Anvertrauten auch in<br />
schweren Zeiten zur Seite zu stehen.<br />
„Auch Sterben ist individuell“, sagt<br />
Maiken Stangs. „Jeder stirbt anders.“<br />
Viele Menschen sprechen nicht gerne<br />
darüber. Das ist nicht immer leicht<br />
für die Pflegenden. „Unser Vorteil<br />
ist allerdings, dass wir vorher in aller<br />
Regel die Gelegenheit hatten, diesen<br />
Menschen sehr gut kennen zu lernen“,<br />
so Maiken Stangs. Wichtig sei, sich<br />
sehr viel Zeit zu nehmen, um sich ganz<br />
auf den Sterbenden konzentrieren zu<br />
können. Ein ambulanter Hospizdienst<br />
unterstützt das Christophorus-Team<br />
dabei. Die Arbeit ist palliativ – es geht<br />
also hauptsächlich um Schmerzlinderung<br />
in der Endphase der Krankheit.<br />
Verstorbene können nach ihrer letzten<br />
Reise mindestens eine Nacht und einen<br />
Tag in ihrem Zimmer bleiben, damit sich<br />
sowohl Bewohner als auch Pflegepersonal<br />
verabschieden können. Ein Ritual<br />
mit Gebeten und Gedichten hilft beim<br />
Loslassen. „Wir erzählen uns auch von<br />
Erlebnissen oder Anekdoten, die uns mit<br />
diesem Menschen verbunden haben.“<br />
Im Foyer stehen in dieser Zeit eine<br />
Kerze und ein Bild des Verstorbenen.<br />
Die Kerze brennt so lange, bis er abgeholt<br />
wird. „Eine Woche später kommen<br />
wir noch mal zusammen und denken<br />
an die Lebensstationen dieses Menschen,<br />
lesen aus der Bibel und spielen<br />
Musik“, sagt Maiken Stangs. „Ich begleite<br />
diese Zeit sehr gerne. Wir haben<br />
hier schöne Möglichkeiten – das kenne<br />
ich auch anders, etwa aus der Zeit meiner<br />
Ausbildung als Krankenschwester<br />
oder aus dem Bereich der häuslichen<br />
Pflege.“ Das ist nicht überraschend.<br />
Die liebevolle Hinwendung zum Menschen<br />
ist nicht wirtschaftlich. „Wir<br />
haben Glück“, bekennt Maiken Stangs.<br />
„Der Träger unseres Hauses ist ein Verein.<br />
Der gleicht manches aus.“<br />
Als wir das Haus Christophorus verlassen,<br />
wird im Speisesaal gerade das<br />
Mittagessen serviert. Die Bewohner lassen<br />
es sich schmecken, es wird erzählt<br />
und gelacht. Nachmittags steht noch<br />
eine Stunde Sprachgestaltung auf dem<br />
Programm. Wir blicken zum Abschied<br />
auf das Bild von Rudolf Steiner. Heute<br />
steht keine Kerze im Foyer.<br />
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