Dieter Henrich: Die Sekundenphilosophie (PDF)
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Gespräch<br />
deutung und dem banalen Einfall, der erledigt ist und vergessen<br />
wird, sobald ich gemacht habe, was mir einfiel – gemeinsam ist<br />
ihnen, dass sie stationär sind: Eine momentane Einsicht tritt ein,<br />
die mir eine Welt erschließt. Rousseau sagt, alle seine Werke habe<br />
er in einer halben Stunde, viel tiefer als er sie hätte schreiben können,<br />
vor Augen gehabt. Da ereignet sich ein Durchblick, der sich<br />
in der Erfahrung auch irgendwie weiter entfaltet und vertieft, aber<br />
dabei vollzieht sich kein Fortschritt in der Entwicklung eines Gedankens.<br />
Im Einfall passiert etwas Ähnliches, nur Banaleres: Mir<br />
fällt etwas heiß ein, und dann fällt mir dazu vielleicht noch weiter<br />
ein, was alles passieren könnte, wenn ich jetzt nicht das und<br />
das gleich mache. Aber der Einfall ist momentan, stationär und<br />
isoliert, während das, was ich mir zur <strong>Sekundenphilosophie</strong> getauft<br />
habe, wesentlich ein Ablauf ist, eine Sequenz über manchmal<br />
ganz neue Stufen und Aspekte. In einer Situation kommt mir<br />
zunächst ein Gedanke, der auf diese Situation, sie auslotend, Bezug<br />
hat. Dann kommt mir sogleich ein Einwand: So kann es gar<br />
nicht sein, denn das und das und das spricht dagegen, dann wird<br />
die erste These wieder aufgenommen und dem Einwurf ein Gegenzug<br />
entgegengestellt, schließlich folgt wieder eine Einwendung<br />
dagegen. Also, es gibt ein Für und Wider im Moment, bis es<br />
zu einer Schlusspointe kommt, einer Art Schlussformulierung,<br />
die das Ganze zunächst einmal abbricht. <strong>Die</strong>se Sequenz, und das<br />
ist das eigentlich Erstaunliche daran, ist aber nur sekundenlang:<br />
Das, was man sich etwa als einen Dialog ausgearbeitet vorstellen<br />
könnte, einen Dialog zwischen einem Materialisten und einem<br />
Theosophen zum Beispiel, das vollzieht sich hier in drei Sekunden.<br />
Und der Verlauf ist auch nicht ausdehnbar: Der Zustand, in dem<br />
so etwas intensiv und in großer Klarheit abläuft, ist auf eine ganz<br />
knappe Zeit beschränkt. Gelegentlich dauert es ein bisschen länger,<br />
aber immer passiert es in rasanter Geschwindigkeit und zugleich<br />
im Modus distinkter Durchsicht.<br />
Hat dieser Ablauf in jedem Fall die eben beschriebene rhetorische<br />
Struktur von Rede und Widerrede<br />
Das ist jedenfalls die Form, die ich am auffälligsten fi nde. Es<br />
gibt auch andere Verlaufsformen, bei mir jedenfalls – ich habe ja<br />
noch nie mit jemandem darüber gesprochen, kann also jetzt nur<br />
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