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Dieter Henrich: Die Sekundenphilosophie (PDF)

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Gespräch<br />

sicht, die Poincaré hatte, als er eine bestimmte Klasse von Funktionen<br />

entdeckte ...<br />

... das wäre also eine epistemische oder rein kognitive Einsicht ...<br />

... ja, da fehlt diese Perspektive für den Lebensweg, die bei Wittgenstein,<br />

bei Husserl oder ganz deutlich bei Nietzsche gegeben ist.<br />

Es gibt philosophische Einsichten, die dem Religiösen sehr nahe<br />

kommen. Nehmen Sie Pascal: Das ist eigentlich eine religiöse Konversion.<br />

Aber doch nicht nur, denn indem er in den zwei Mitternachtsstunden<br />

versteht, dass der Gott, dem die Philosophen nachdenken,<br />

nicht der Gott ist, von dem die Bibel spricht, dass dies ein<br />

ganz anderer Gott ist und dass man für diesen Gott keine andere<br />

Quelle der Gewissheit als die Bibel selbst hat. Das Philosophische<br />

darin ist diese Gegenposition zum Gott der Philosophen. Eine<br />

ähnliche Konversionseinsicht fi ndet sich bei Rousseau, bei dem<br />

allerdings die theoretische Komponente viel größer ist. Auch er<br />

sagt – wobei man nicht weiß, wie weit das die historische Wahrheit<br />

ist –, dass er in jener halben Stunde in größerer Intensität als<br />

jemals danach den Gehalt seiner folgenden Werke vor sich gesehen<br />

habe. Anders gesagt, die philosophischen Einsichten können dem<br />

Religiösen näher stehen, oder sie können dem Archimedischen näher<br />

stehen, aber wenn sie für ein philosophisches Werk bedeutsam<br />

geworden sind, enthalten sie beide Komponenten in einer Einheit,<br />

die in dem Moment gar nicht durchschaubar ist. In dem Moment<br />

wird dem, der diese Einsicht hat, gleichzeitig, ohne dass dies reflektiert<br />

geschieht, etwas von dem, was seine Aufgabe als Philosoph<br />

ist, bewusst, nämlich eine Theorie und eine Lebensperspektive<br />

in einem Wurf und inneren Zusammenhang zu entwickeln.<br />

In einem Wurf und nicht auf zwei distinkten Linien Ist da nicht auf<br />

der einen Seite die epistemische oder kognitive Linie und auf der anderen<br />

Seite die existenzielle, auf der es heißt, du sollst dein Leben<br />

ändern<br />

Nein, das ist eben nicht so. Man sieht das bei Descartes. Der<br />

hatte drei Träume in der Nacht, und im Traum spielt die Formel<br />

«Welchen Weg sollst du gehen» eine dominante Rolle. Aber gleichzeitig<br />

ist der Weg, der da gemeint ist, der auf Wissenschaft begründete<br />

Weg – die Konzeption einer neuen Wissenschaft, die ge-<br />

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