07.03.2015 Aufrufe

Der Geheimbund der Wahrheit

Als ob es nicht schon schwer genug ist, ein Teenager zu sein, wird Rosalie nun auch noch zu ihrer Tante Olivia aufs Land geschickt und das gleich für die ganzen Sommerferien. Aber eigentlich ist sie auch ganz froh den ewigen Vorwürfen und Ermahnungen ihrer Mutter für eine Weile zu entkommen. Aber muss es denn gleich in diesem Provinznest sein, wo es nicht einmal drahtlosen Internetzugang gibt? Rosalies anfängliche Abneigung legt sich aber rasch, als sie merkt, dass man sie, hier was Ordnungsfragen und Tagesablauf anbelangen, weitgehend in Ruhe lässt. Auch die neue Umgebung bewirkt, dass sie ihre Welt ganz anders wahrnimmt und ihr der Verlust ihrer Freunde und des Internets gar nichts mehr ausmachen. Währen sie so einiges findet, wie zum Beispiel ein mysteriöses Amulett oder zwei neue Freunde, verliert sie aber auch beinahe den Verstand. Plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war – ihre ganze Verwandtschaft stellt sich quer. Selbst die Zeit hat es auf sie abgesehen und sie muss es tapfer mit verschiedenen Vergangenheiten aufnehmen. Eine Romanserie für Mädchen ab 12 Jahren von Emma Page, der Berner Autorin.

Als ob es nicht schon schwer genug ist, ein Teenager zu sein, wird Rosalie nun auch noch zu ihrer Tante Olivia aufs Land geschickt und das gleich für die ganzen Sommerferien. Aber eigentlich ist sie auch ganz froh den ewigen Vorwürfen und Ermahnungen ihrer Mutter für eine Weile zu entkommen. Aber muss es denn gleich in diesem Provinznest sein, wo es nicht einmal drahtlosen Internetzugang gibt?
Rosalies anfängliche Abneigung legt sich aber rasch, als sie merkt, dass man sie, hier was Ordnungsfragen und Tagesablauf anbelangen, weitgehend in Ruhe lässt. Auch die neue Umgebung bewirkt, dass sie ihre Welt ganz anders wahrnimmt und ihr der Verlust ihrer Freunde und des Internets gar nichts mehr ausmachen. Währen sie so einiges findet, wie zum Beispiel ein mysteriöses Amulett oder zwei neue Freunde, verliert sie aber auch beinahe den Verstand. Plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war – ihre ganze Verwandtschaft stellt sich quer. Selbst die Zeit hat es auf sie abgesehen und sie muss es tapfer mit verschiedenen Vergangenheiten aufnehmen.

Eine Romanserie für Mädchen ab 12 Jahren von Emma Page, der Berner Autorin.

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osalie<br />

DEVILLE<br />

ROMAN<br />

DER GEHEIMBUND DER WAHRHEIT<br />

EMMA PAGE


SONNEN<br />

WERBUNG & VERLAG<br />

1


ROSALIE DEVILLE. <strong>Der</strong> <strong>Geheimbund</strong> <strong>der</strong> <strong>Wahrheit</strong>. Band 1<br />

© SONNEN Werbung & Verlag, 2014<br />

sonnen.ch<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

ISBN 978-3-9524167-3-0<br />

milliewiesengross.ch / rosaliedeville.ch / plutotrawell.ch<br />

Emma Page hat auch geschrieben:<br />

MILLIE WIESENGROSS. Von Kühen und an<strong>der</strong>en Exoten. Band 1<br />

MILLIE WIESENGROSS. Kuhlinarische Geheimnisse. Band 2<br />

MILLIE WIESENGROSS. Stammbäume und an<strong>der</strong>e Früchtchen. Band 3<br />

ROSALIE DEVILLE. <strong>Der</strong> <strong>Geheimbund</strong> <strong>der</strong> <strong>Wahrheit</strong>. Band 1<br />

ROSALIE DEVILLE. Zwischen Zeit & Raum. Gedichte<br />

PLUTO TRAWELL. Am Rand des Universinns. Band 1


DER GEHEIMBUND<br />

DER WAHRHEIT<br />

EMMA PAGE


Vorwort<br />

Emma Page<br />

Wenn man im Voraus wüsste, wer für eine gute Geschichte<br />

wichtig ist, wen man getrost außer Acht lassen kann und wem<br />

man beson<strong>der</strong>s viel Aufmerksamkeit widmen sollte, dann würde<br />

man sich vieles ersparen können. Aber seien wir einmal ehrlich,<br />

wir wären nicht die, die wir sind. Alles, was geschieht, hat einen<br />

Grund o<strong>der</strong> eine Ursache. Und die wie<strong>der</strong>um entstand wegen<br />

irgendetwas an<strong>der</strong>em.<br />

Manchmal sind wir auf <strong>der</strong> Suche und wissen gar nicht,<br />

wonach wir suchen. Es kann aber auch sein, dass wir plötzlich<br />

auf etwas stoßen, das wir gar nicht gesucht haben. Rosalie<br />

Deville ist das passiert. Es ist noch nicht lange her und es hat ihr<br />

Leben völlig umgekrempelt.<br />

Egal, wo man mit einer Geschichte beginnt, den Anfang<br />

wird man nie genau finden, denn auch <strong>der</strong> resultiert aus einer<br />

Geschichte, die dieser schon vorausgegangen ist. Aber irgendwo<br />

muss man beginnen. Je mehr man erfährt, desto mehr macht alles<br />

einen Sinn, auch wenn es manchmal nicht den Anschein hat.


Das letzte Kapitel<br />

Vincent<br />

„Ist sie tot?“, fragt Jonathan, während Tränen <strong>der</strong> Verzweiflung<br />

über sein Gesicht rinnen.<br />

„Lass mich sehen.“<br />

Ich dränge ihn zur Seite und beuge mich über ihren reglos am<br />

Boden liegenden Körper. Sachte lege ich meinen Kopf auf ihre<br />

Brust und mache gleichzeitig mit <strong>der</strong> Hand eine Geste, welche<br />

Jonathan anweist, still zu sein. Um sich die Tränen aus den<br />

Augen zu wischen, nimmt er seinen Hemdsärmel und hält ihn<br />

sich vor den Mund. <strong>Der</strong> Ärmel ist feucht und wahrscheinlich<br />

voller Schmutz von <strong>der</strong> Kletterei über die Mauer. Trotzdem hält<br />

er die Schluchzer für einen Moment in Schach, bis ich flüstere:<br />

„Sie atmet …“<br />

„Grundgütiger Herr, gedankt sei dir“, murmelt Jonathan und<br />

erneut rinnen ihm Tränen über die Wangen, diesmal jedoch vor<br />

Erleichterung.<br />

7


„Lass uns einen Arzt holen – Nein, bleib du besser bei ihr, ich<br />

hole den Arzt, du scheinst kaum in <strong>der</strong> Lage zu sein, aufrecht zu<br />

stehen, geschweige denn zu reiten.“<br />

Ich lasse ihn mit ihr zurück im Wissen, dass er von jetzt an<br />

keine Sekunde mehr von ihr weichen wird. Nie wie<strong>der</strong>.<br />

Romilda<br />

Jonathan ist nach Hause gegangen. Endlich. Er hat zwei<br />

Nächte in diesem Sessel verbracht. Die Luft ist stickig in<br />

dem kargen, weißen Zimmer, aber ich darf die Fenster nicht<br />

selbst öffnen, und eine Schwester zu rufen, ist auch keine<br />

wünschenswerte Option, denn diese wird auch gleich meinen Puls<br />

fühlen, meinen Brustkorb abklopfen, Fieber messen und mich mit<br />

Lebertran und ähnlich üblem Gebräu quälen. Warum muss ich<br />

überhaupt hierbleiben? Es geht mir gut. Die Atmosphäre dieses<br />

Spitalzimmers trägt nicht zu meinem Wohlbefinden bei, aber<br />

meine Mutter besteht darauf, dass ich die bestmögliche Pflege<br />

erhalte. Inselspital. Mit einer Insel hat das hier rein gar nichts<br />

zu tun, eher mit einem Gefängnis.<br />

Ich bekomme noch immer Medikamente gegen meine<br />

Kopfschmerzen, aber Schmerzen sind nicht das Problem.<br />

Eigentlich sind sie ein gutes Zeichen. Es ist viel schlimmer,<br />

nichts zu fühlen, so wie davor. Das Gefühl, in einem Zustand<br />

gefangen zu sein, <strong>der</strong> alle Aktivitäten beeinträchtigt und einen von<br />

bewussten Entscheidungen fernhält. So habe ich mir vorher bloß<br />

vorgestellt, was passieren würde, wenn ich dieses o<strong>der</strong> jenes<br />

täte, und während ich mir dies überlegte, hörte ich in meinem<br />

8


Kopf die Zeit verstreichen, wie das unbarmherzige Rieseln von<br />

imaginärem Sand durch ein metaphorisches Stundenglas, das<br />

meine Lebenszeit beinhaltet. Lange Zeit war es mir unmöglich,<br />

mich auf etwas zu konzentrieren, und daher auch unmöglich<br />

zu handeln. Trotzdem habe ich es geschafft, diese innere Mauer<br />

zu durchbrechen. Es war nicht <strong>der</strong> beste und ganz sicher nicht<br />

<strong>der</strong> einfachste Weg, den ich gewählt habe, aber ich konnte die<br />

an<strong>der</strong>en Möglichkeiten einfach nicht erkennen. Ich dachte, ich<br />

hätte niemanden, mit dem ich darüber reden könnte o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

es verstehen würde, ich konnte ja selbst nicht verstehen, was<br />

mit mir passierte. Aber Tatsache ist, dass ich Mutters Schlaftabletten<br />

zusammen mit einer Flasche bittersüßem Kirschlikör,<br />

den ich zu meinem zwanzigsten Geburtstag bekommen habe,<br />

innerhalb von wenigen Minuten geschluckt habe, und ich<br />

glaube, ich werde in meinem ganzen Leben keinen einzigen<br />

Schluck Kirschlikör mehr trinken können. Wer weiß, ob ich je<br />

wie<strong>der</strong> Kirschkuchen essen kann.<br />

9


<strong>Der</strong> Aufbruch o<strong>der</strong><br />

das Durchbrechen von Mustern<br />

Rosalie<br />

„Rosie, beeil dich!“, dröhnt Mamans Stimme den Flur<br />

entlang. Sie hallt durch den langen Flur, prallt von den Wänden<br />

und sucht sich ihren Weg durch die Ritze zwischen Boden und<br />

Tür hindurch. Es ist das gleiche Phänomen wie beim Licht, das<br />

auch immer dort hindurchsickert, in umgekehrter Richtung<br />

natürlich, wenn ich spätnachts noch wach bin und lese o<strong>der</strong> im<br />

Internet surfe. In <strong>der</strong> Regel klopft Maman dann an meine verschlossene<br />

Zimmertür und flüstert mit ebenso durchdringen<strong>der</strong><br />

Stimme als würde sie laut rufen: „Rosie, schläfst du schon?“<br />

Was für eine bescheuerte Frage! Ist ja schon möglich, dass<br />

ich öfter mal bei vollem Licht o<strong>der</strong> mit Kopfhörern auf dem<br />

Kopf einschlafe. Aber was soll das denn bringen, wenn man<br />

jemanden weckt, nur um ihn zu fragen, ob er schläft?<br />

Aber so ist sie eben und es macht keinen Sinn, deswegen<br />

10


mit ihr zu streiten. Unverzüglich wird sie einen Grund finden,<br />

um vom Thema abzukommen. Sie wird irgendetwas finden, was<br />

ich vergessen o<strong>der</strong> noch immer nicht erledigt habe. Zuge geben,<br />

davon gibt es genug, aber ich habe die Nase trotzdem voll<br />

davon, mir die endlosen Reden über Zuverlässigkeit, Diszi plin<br />

und Ordnungssinn anhören zu müssen, eine wahre Tortur.<br />

Deshalb rufe ich in einem ebenso schrillen Ton zurück „Une<br />

seconde!“ und weiß gleich, dass das taktisch falsch gewesen<br />

ist. So etwas bringt sie meistens noch mehr auf die Palme, weil<br />

sie alles immer präzise und wahrheitsgetreu beantwortet haben<br />

will. Für flapsige Umgangsfloskeln hat sie we<strong>der</strong> die Toleranz<br />

noch den nötigen Humor. Ich beeile mich deshalb, diese Sekunde<br />

nicht unnötig lange zu strapazieren, aber ich kann meine<br />

bescheuerte Lieblingskette nirgends finden. Wann habe ich sie<br />

zuletzt angehabt und weshalb habe ich sie überhaupt abgenommen?<br />

Ich kann mich kein bisschen mehr daran erinnern.<br />

„Merde“, murmle ich tonlos, damit Maman nicht mitbekommt,<br />

dass ich fluche, während ich zur Zimmertür hinaus quer über<br />

den Flur ins Bad stürze. Dort finde ich die Kette auch nicht.<br />

Dafür liegt mein Handy auf dem Waschbeckenrand und mit einem<br />

erleichterten Pfeifen durch die Schneidezähne stecke ich es schnell<br />

in die hintere Jeanstasche. Fehlt noch, dass ich es vergessen hätte.<br />

Wo ist das Aufladekabel? Ich hechte zurück in mein Zimmer.<br />

„Maman, t’a vue mon collier?“, frage ich sie wenig hoffnungsvoll<br />

im Vorbeirasen.<br />

„Welche Halskette? Sprich Deutsch mit mir, Rosie. Du solltest<br />

dich langsam damit anfreunden, sonst wirst du’s schwer haben<br />

in <strong>der</strong> nächsten Zeit.“<br />

„’Alskette – bon. ’Ast du sie nun gese’en?“, erwi<strong>der</strong>e ich mit<br />

aufgesetztem Akzent, nur um sie zu ärgern.<br />

11


„H-alskette“, korrigiert sie mich prompt und ungeduldig.<br />

„Mein Gott, stell dich nicht so an, Rosie. Das ist doch schließlich<br />

deine Muttersprache. Und nein, ich hab nirgends eine Kette<br />

gesehen. Du musst endlich lernen, selber auf deine Sachen zu<br />

achten. Emilia wird dir nicht dein ganzes Leben lang hinterherräumen.<br />

Schlimm genug, dass sie es überhaupt tut.“<br />

„Dafür wird sie schließlich bezahlt“, murre ich, aber achte<br />

darauf, dass sie mich nicht hört. Maman macht immer ein solches<br />

Theater darum. Wäre es ihr lieber, die Haushälterin würde<br />

sich den ganzen Tag nur Soaps ansehen o<strong>der</strong> mit ihren Freundinnen<br />

während <strong>der</strong> Arbeitszeit telefonieren? Emilia hat ja echt<br />

nicht viel zu tun, wenn ich in <strong>der</strong> Schule bin und Maman sowieso<br />

nur zum Abendessen und Schlafen nach Hause kommt.<br />

„Rosie, wir müssen los! Ich habe keine Ahnung, wie übel<br />

<strong>der</strong> Verkehr sein wird. Oh nein, hier sieht’s ja wie<strong>der</strong> aus.<br />

Kein Wun<strong>der</strong>, dass du nie deine Sachen findest. Habe ich dir<br />

nicht gestern gesagt, du sollst alles, was du mitnehmen willst,<br />

schon bereitlegen? Hast du wenigstens eine Haarbürste dabei?<br />

Nimm doch endlich deine Haare aus dem Gesicht, Rosie. Immer<br />

versteckst du dich hinter diesem Fransenvorhang. So könnte<br />

ich auch nichts finden. Nimm einfach die Kette, die ich dir zum<br />

Geburtstag geschenkt habe, die passt zu allem, sogar zu Jeans.“<br />

Resigniert seufze ich. Ich will nicht diese Passt-zu-allem-<br />

Kette, ich will meine Lieblingskette, die von Papa, die er mir<br />

aus Irland mitgebracht hat. Aber das versteht sie nicht, genauso<br />

wenig wie sie versteht, dass ich nicht mehr drei bin.<br />

„Nenn mich nicht immer Rosie, ich bin schließlich kein<br />

Baby mehr.“<br />

„Für mich bist und bleibst du meine kleine Rosie, und solange<br />

du dich aufführst, wie eine …“<br />

12


Automatisch blende ich den Ton aus. Den Rest kenne ich<br />

schon. Ich kenne sogar den genauen Wortlaut <strong>der</strong> immer<br />

gleichen und über die Jahre gefestigten Standar<strong>der</strong>mahnungen<br />

und Vorwürfe, die sie an fast jede Unterhaltung knüpft, seit ich<br />

mich erinnern kann. Noch in hun<strong>der</strong>t Jahren wird Maman sich über<br />

meine Haare aufregen und in meinen Schubladen herumwühlen.<br />

Sie wird sich niemals än<strong>der</strong>n. Sie erwartet einfach, dass ich mich<br />

än<strong>der</strong>e, darum schickt sie mich nun weg. Es ist das allererste<br />

Mal, dass sie so etwas tut. Ich fasse es noch immer nicht! Einfach<br />

so, ganz allein und ohne einen Grund. Normalerweise lässt sie<br />

mich nicht einmal vor die Tür gehen, um bei <strong>der</strong> Boulangerie<br />

um die Ecke ein Baguette zu kaufen. Schon gar nicht, um mich<br />

mit meinen Freundinnen in <strong>der</strong> nahen Einkaufspassage zu<br />

treffen. Glücklicherweise kommt sie selten früh nach Hause. Auf<br />

Sophies Drängen hin, habe ich im letzten Schuljahr dem Fahrer<br />

des Schulbusses glaubhaft verklickern können, ich wohne jetzt<br />

zwei Stationen weiter in <strong>der</strong> Nähe des großen Einkaufstempels<br />

Les Galeries Lafayette. Das ist auch so eine Schikane. Wir hätten<br />

wirklich genug Geld für einen eigenen Chauffeur, aber Maman ist<br />

zu geizig dafür. Sie findet den Schulbus praktisch, aber das ist so<br />

unflexibel. Er wartet nicht eine winzige Minute, wenn man mal<br />

etwas spät dran ist.<br />

Jedenfalls habe ich durch diese kleine Anpassung meinen<br />

Bewegungsradius um einiges ausdehnen können. Ich kann<br />

nun mit Sophie und den an<strong>der</strong>n unbeschwert am Boulevard<br />

Haussmann abhängen und nehme später dann die Métro<br />

nach Hause. Davon hat Maman natürlich nicht den blassesten<br />

Schimmer. Sie würde schon die Nase rümpfen, wenn sie das<br />

Wort Métro nur aussprechen müsste. Sie würde mich umbringen,<br />

wenn sie wüsste, dass ich damit fahre, obschon genau das ihre<br />

13


größte Befürchtung ist, nämlich dass ich dabei umkomme.<br />

Als ob ausschließlich Massenmör<strong>der</strong> und Auftragskiller die<br />

Métro benutzen würden, zusammen mit ein paar ahnungslosen<br />

Touristen. Für mich ist es gerade deshalb ein beson<strong>der</strong>er<br />

Nervenkitzel, obschon ich dank <strong>der</strong> jahrelangen erzieherischen<br />

Ermahnungen schon automatisch darauf bedacht bin, nie<br />

die Stangen zu berühren o<strong>der</strong> mich auf einen <strong>der</strong> schäbigen,<br />

abgewetzten Sitze zu setzen. Auch Sophie findet es verwegen<br />

und cool, weil sie ständig ihren Chauffeur im Nacken hat, <strong>der</strong><br />

ihre Taschen beäugt, wenn wir wie<strong>der</strong> einmal dem Kaufrausch<br />

zum Opfer gefallen sind. Ich kann das Zeug wenigstens<br />

unbesehen zu Hause verstauen. Wenn Maman sich doch über<br />

die neuen Klamotten wun<strong>der</strong>t, die ich in letzter Zeit angehäuft<br />

habe, behaupte ich einfach, ich hätte sie im Internet bestellt. Sie<br />

toleriert es, weil sie einerseits ein schlechtes Gewissen hat, dass<br />

sie mir so wenig Zeit widmet, und an<strong>der</strong>erseits, weil sie ganz<br />

einfach keine Zeit hat, um es nachzuprüfen.<br />

Papa hingegen scheinen solche Sachen nicht zu kümmern.<br />

Er glänzt die meiste Zeit des Jahres durch Abwesenheit, die er<br />

allmonatlich kurz unterbricht, um mit weltmännischer Großzügigkeit<br />

Maman und mich mit Blumen, Ohrringen o<strong>der</strong> Parfüms<br />

zu überhäufen. Veilchen für seine blauäugige Gattin,<br />

die daraufhin für mindestens an<strong>der</strong>thalb Tage das Nörgeln<br />

reduziert, sie denkt wohl wirklich, dass Geschenke die Freundschaft<br />

erhalten, und natürlich Rosen für seine blühende Rosie.<br />

Papa ist <strong>der</strong> Einzige, bei dem ich meinen Kosenamen dulde, da<br />

er ihn mit einem gurrend rollenden R in seinem charmanten<br />

südfranzösischen Akzent erklingen lässt. Ich mache mir nichts<br />

aus Blumen. Meistens verkümmern sie unbeachtet in einer Ecke<br />

meines Zimmers, aber den Rosenduft mag ich sehr. Inzwischen<br />

14


ist es zu meinem Markenzeichen geworden, obwohl Parfüm in<br />

<strong>der</strong> Schule von den Lehrern we<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s gern gesehen noch<br />

gerochen wird.<br />

Papa ist nie verärgert o<strong>der</strong> mürrisch, er ist einfach zu selten<br />

da, als dass ihn irgendetwas aufregen könnte. An ihm kann es<br />

also nicht liegen, dass ich den Sommer über verbannt werde.<br />

Seit ich mich erinnern kann, verbringe ich die letzten Juliund<br />

die ersten Augustwochen gemeinsam mit meiner Familie in<br />

unserem Ferienhaus in Südfrankreich. Im Grunde finde ich es<br />

ziemlich öde, denn es spielt sich Jahr für Jahr das Gleiche ab.<br />

Selbst die Ferien nutzen meine Eltern, um Geschäftsbeziehungen<br />

zu pflegen. Zum Sterben langweilig, aber da es die einzige Zeit im<br />

Jahr ist, in <strong>der</strong> Papa nicht ausschließlich mit ein- o<strong>der</strong> auspacken<br />

beschäftigt zu sein scheint, ist auch Maman während dieser Zeit<br />

entspannter und weniger auf mich fixiert.<br />

Und nun auf einmal das: Sie schickt mich weg. Aus heiterhellem<br />

Himmel raus aufs Land, auf so eine Art Bauernhof in<br />

einer ’provinzigen’ Stadt in <strong>der</strong> Schweiz. Ich dachte immer,<br />

dieser Ort sei um jeden Preis zu meiden. Das war er zumindest<br />

in den vergangenen Jahren. Maman findet, es lauern dort<br />

zu viele unliebsame Erinnerungen. Papa hingegen findet, das<br />

liege nur an Mamans komplizierter Verwandtschaft. Maman hat<br />

eine jüngere Schwester, Olivia. Sie wohnt dort gemeinsam mit<br />

ihrem Mann. Ich erinnere mich nur noch anhand einiger verblasster<br />

Fotos und vagen Erzählungen aus frühen Kin<strong>der</strong>tagen<br />

an sie. Krass ist, sie arbeitet in einem städtischen Tierpark als<br />

Tier wärterin. Maman hat das bisher für eine furchtbar anrüchige<br />

Sache gehalten. Tiere sind voller Schmutz und Bakterien<br />

und vollkommen unberechenbare Kreaturen, denen man nicht<br />

mit Vernunft o<strong>der</strong> gegenseitiger Kooperation beikommen kann.<br />

15


Weshalb sollte ich also an so einem Ort meine Ferien verbringen<br />

wollen? „Es wird dir gut tun und dir eine ganz neue Perspektive<br />

aufs Leben eröffnen“, hat sie mir als Begründung genannt.<br />

Trotzdem kann ich dieses Gefühl des Bestraftwerdens einfach<br />

nicht abschütteln. Sie findet anscheinend, ich bräuchte einen<br />

Tapetenwechsel. Normalerweise würde ich zustimmen. Ich hasse<br />

es, wenn ich sie dauernd sagen höre, ich könne mich glücklich<br />

schätzen, in <strong>der</strong> beliebtesten Stadt <strong>der</strong> Welt zu wohnen. Nun<br />

kann ich mich wohl auch glücklich schätzen, aufs Land verbannt<br />

zu werden. Sie dreht alles, wie es ihr gerade in den Kram<br />

passt. Ich habe schon jetzt eine leichte Tollwut im Magen. Bin<br />

ich überhaupt dagegen geimpft?<br />

Violetta<br />

Zum hun<strong>der</strong>t-und-x-ten Mal schaue ich auf meine winzige,<br />

mit Brillanten verzierte Uhr. Sie ist eines <strong>der</strong> unzähligen<br />

Präsente, die Ludovic mir in den vergangenen Jahren um den<br />

Hals o<strong>der</strong> ums Handgelenk gelegt hat, als würde einzig die<br />

Hochkarätigkeit <strong>der</strong> Masse helfen, die Anziehungskraft zwischen<br />

uns zu festigen. Die Zeiger sind vor lauter Funkeln und Glitzern<br />

kaum zu erkennen, aber es ist sicher schon viel zu spät. Entnervt<br />

sammle ich zusammengeknüllte Socken vom Badezimmerboden<br />

und zupfe die Fussel und Haare von <strong>der</strong>en Sohlen, bevor ich<br />

sie in den großen Wäschekorb stecke, wo sie hingehören. Dass<br />

Rosie nie ihre Sachen wegräumt, nervt mich genauso wie die<br />

Tatsache, dass ich Emilia diese Woche bereits in den Urlaub<br />

fahren ließ. Nun muss ich alles selber erledigen, dabei habe ich<br />

16


weiß Gott Wichtigeres zu tun. Rosie ist vierzehn und könnte<br />

schließlich auch ab und zu einen Staubsauger bedienen!<br />

Eigentlich bin ich ja selbst schuld. Meine Tochter ist eine<br />

verwöhnte Prinzessin, ein typisches Einzelkind würden meine<br />

Eltern behaupten. Es macht keinen Sinn, deswegen wie<strong>der</strong> einen<br />

Streit mit Rosie anzufangen, das wird die Prozedur des Packens<br />

nur verzögern und das kann ich im Moment wirklich nicht<br />

gebrauchen. Packen ist ohnehin schon nervenaufreibend und<br />

Rosie ist keine Hilfe. Das Wetter in <strong>der</strong> Schweiz ist in <strong>der</strong> Regel<br />

auch im Sommer so unbeständig, ich weiß beim besten Willen<br />

nicht, ob sie alles hat, was sie brauchen wird. Ich hätte Emilia<br />

bitten sollen, alles schon vorzubereiten, aber ich wollte mich<br />

wie<strong>der</strong> einmal als gute Mutter beweisen.<br />

Ich bin Olivia wirklich dankbar, dass sie sich so ohne Weiteres<br />

dazu bereit erklärt hat, Rosie den Sommer über zu sich zu<br />

nehmen. Die Sommerferien in Paris sind wesentlich länger als<br />

dort. Rosie hat zwei Monate frei, und nach dem Vorfall in den<br />

Frühlingsferien, die sie bei Sophie verbrachte, bin ich froh, wenn<br />

sie eine Zeit lang aus dem Schussfeld verschwindet. Ich habe<br />

Olivia natürlich nichts davon erzählt. Ich habe ihr nur gesagt,<br />

dass Ludovic sich im Moment auf einer längeren Reise in Asien<br />

befindet und ich dringende Angelegenheiten zu erledigen hätte,<br />

die sich nicht aufschieben lassen. Wenn sie wüsste …<br />

„Rosie!“, rufe ich nun hoffentlich ein letztes Mal durch den<br />

hallenden Flur. „Lass uns endlich fahren.“<br />

17


Rosalie<br />

Die Fahrt zum Flughafen scheint sich endlos hinzuziehen.<br />

Maman ist nervös und löchert mich ununterbrochen mit unnötigen<br />

Fragen wie: „Rosie, hast du genügend Unterwäsche<br />

eingepackt? Ich hoffe, du hast die neuen Sachen mitgenommen<br />

und nicht diese alten, verwaschenen …“<br />

„Mamaaan“, stöhne ich laut, „du hast meine Taschen<br />

selbst gepackt und seither mindestens dreimal durchgewühlt.<br />

Sag nicht, du hättest dabei nicht auch meine Unterwäsche<br />

gründlichst inspiziert.“<br />

„Und bitte sei ein wenig umgänglich zu Olivia und Max. Sie<br />

sind nicht an Kin<strong>der</strong> gewöhnt. Du willst doch sicher nicht, dass<br />

sie ihren Kin<strong>der</strong>wunsch deinetwegen überdenken müssen, sollte<br />

Olivia überhaupt einen verspüren … Gott bewahre, sie ist erst<br />

sechsundzwanzig, das hat noch ewig Zeit!“<br />

„Was willst du damit sagen? Willst du nun, dass sie Kin<strong>der</strong><br />

bekommen möchte, o<strong>der</strong> lieber doch nicht? Ich kann mich<br />

darauf einstellen“, antworte ich eine Spur zu frech, denn<br />

Maman verliert sich sogleich in einer längeren Debatte über das<br />

Pro und Kontra des Kin<strong>der</strong>kriegens und des ewigen Stresses, den<br />

die Verantwortung in <strong>der</strong> Erziehung hervorriefe, und überhaupt,<br />

die Erwartungen und Enttäuschungen im Leben, die einhergingen<br />

mit <strong>der</strong> verlorenen Jugend, die man zu wenig genutzt<br />

hätte. Sie sagt tatsächlich genutzt und nicht genossen, denn<br />

dieses Wort genießen ist ihr ebenso fremd wie das Gefühl <strong>der</strong><br />

inneren Ruhe und Zufriedenheit. Es macht mich traurig. Ihr Job<br />

ist kein Spaziergang, das hat sie mir nicht selten in den vergangenen<br />

Jahren erklärt. Die Familie und <strong>der</strong> Haushalt sind aber seit<br />

jeher ständiger Anlass zur Frustration. Irgendwann ist einfach<br />

18


eine Art Sicherung bei ihr durchgeschmort und sie kann, ähnlich<br />

wie ein Hamster in seinem Laufrad, nicht mehr aufhören,<br />

zu hetzen und zu strampeln. Sie hat sich immer mehr in eine<br />

zähe Bitterkeit gehüllt, um damit die drohende Erschöpfung in<br />

Schach zu halten, so stelle ich es mir jedenfalls vor. Maman steht<br />

mit gezücktem Schwert in Form von Vorwürfen bereit, um alle<br />

frisch sprießenden Enttäuschungen kurz und klein zu hacken,<br />

bevor sie zu etwas Großem heranwachsen. Die effektivste Art <strong>der</strong><br />

Unkrautvertilgung, jedenfalls für eine ambitionierte Anwältin.<br />

Nur mit giftigem Nachgeschmack. Lei<strong>der</strong>.<br />

Ich drehe den Kopf zum Fenster und beobachte mit gespieltem<br />

Interesse die vorbeirasende Landschaft, um einem<br />

weiteren Gespräch zu entrinnen. Maman fährt viel zu schnell,<br />

wie immer. Ich habe mich bereits daran gewöhnt, soweit<br />

das überhaupt möglich ist. Meistens bin ich gefasst auf die<br />

hektischen Lenkmanöver und die abrupten Bremsaktionen.<br />

Trotzdem ist es nervenaufreibend, auf dem Beifahrersitz festgeschnallt<br />

zu sein und immer wie<strong>der</strong> den Atem anzuhalten<br />

o<strong>der</strong> die Handtasche einzuräumen, die infolge <strong>der</strong> heftigen Turbulenzen<br />

ihren Inhalt auf den Boden gekotzt hat. Hier auf <strong>der</strong><br />

Autobahn ist es in dieser Hinsicht etwas ruhiger, dafür ist die<br />

Landschaft nicht gerade berauschend und auch meine noch so<br />

große Motivation, mich dafür zu begeistern, scheitert an dem<br />

tristen Anblick. Endlos scheint sich die Kulisse aus unbuntem<br />

Graubraun <strong>der</strong> hässlichen Industriebauten hinzuziehen.<br />

Ich nehme mein Handy und schalte den Ton auf stumm,<br />

damit Maman nicht mitkriegt, dass ich an Sophie texte.<br />

Scheißferien, schreibe ich. Sie ist online und antwortet: Schon<br />

in <strong>der</strong> Verbannung? – Schlimmer … gekidnappt :’(<br />

Doch Sophie ist bereits offline und es folgt keine Antwort mehr.<br />

19


Endlich erreichen wir die gewünschte Ausfahrt. Maman hätte<br />

sie beinahe übersehen, erst als ich rufe: „Maman, da drüben ist<br />

doch …“, schwenkt sie das Lenkrad mit einem kräftigen Ruck<br />

nach rechts und tritt gleichzeitig viel zu heftig auf die Bremse,<br />

sodass ich, schräg auf den Schalthebel gestützt, gerade noch das<br />

Buch an den Kopf geschlagen bekomme, das ich zuvor leichtsinnigerweise<br />

auf dem Armaturenbrett deponiert hatte.<br />

„Autsch!“, maule ich und reibe mir die Stirn.<br />

„Tut mir leid, Rosie. Aber du siehst ja, es ist ein Mordsverkehr<br />

und die Leute fahren wie die Irren. Ich hab dir schon hun<strong>der</strong>t<br />

Mal gesagt, du sollst dich aufrecht hinsetzen und deine Sachen<br />

in <strong>der</strong> Tasche verstauen.“<br />

Es geht schon wie<strong>der</strong> los. Warum bestand sie nur darauf,<br />

selber zum Flughafen zu fahren? Wahrscheinlich nur, um noch<br />

länger nörgeln zu können. Wären wir in einem Taxi, würde<br />

sie sich zurückhalten müssen. Ab morgen hat sie aber keinen<br />

mehr, den sie maßregeln kann, ohne Gefahr zu laufen, dass eine<br />

Kündigung ansteht. Ich kann mich glücklich schätzen, wenn<br />

ich mich in nächster Zeit nur noch mit Ziegen und Hühnern<br />

abgeben muss. Die meckern und gackern zwar auch den ganzen<br />

Tag lang, aber wenigstens geht mich das nichts an.<br />

„Nun muss ich noch Fred finden, dann haben wir’s geschafft“,<br />

höre ich Maman sagen.<br />

„Hier kannst du nicht parken, das ist Kiss and fly. Das ist<br />

übrigens optional, man kann sogar auf das Küssen verzichten,<br />

dann spart man die verlorenen Sekunden an <strong>der</strong> Schranke<br />

wie<strong>der</strong> ein. Aber Anhalten wäre praktisch. Super, du kannst<br />

mich hier rauslassen, dann suche ich deinen Frédéric.“<br />

„Sei nicht albern. Ich gehe. Du bleibst im Auto.“<br />

„Mamaaan, ich werde ihn schon finden. Ich kann lesen und<br />

20


im Zweifelsfall sogar nach ihm fragen. Ich schaff das schon, ich<br />

bin ja nicht blond.“<br />

Das war ein bewusster Seitenhieb, weil sie sich seit einiger<br />

Zeit die Haare aufhellen lässt. Sie meint, sie sehe dadurch<br />

jugendlicher aus. Inzwischen ist sie aber immun gegen solche<br />

Sticheleien. Vielleicht hört sie auch einfach nicht mehr zu.<br />

Sie hört tatsächlich nicht zu und steigt aus dem Auto. Ich<br />

bleibe allein im Wagen sitzen und beobachte missmutig die Autos<br />

vor mir in <strong>der</strong> Spur. Sie fahren <strong>der</strong> Reihe nach weg, nachdem<br />

die Leute ihr Rollköfferchen aus dem Kofferraum gefischt und<br />

sich verabschiedet haben. Kuss und Abflug, wie es sich gehört.<br />

Nun bin ich zuvor<strong>der</strong>st in <strong>der</strong> Schlange und von Maman keine<br />

Spur. Hinter mir beginnen die ersten Autos zu hupen. Gott, ist das<br />

peinlich, ich rutsche ganz nach unten auf meinem Beifahrersitz.<br />

Endlich ist Maman zurück und mit ihr Frédéric, ihr treuer<br />

Assis tent. „Es ist kein Gepäckwagen aufzutreiben, aber <strong>der</strong><br />

Check-in ist nicht weit“, sagt Maman unbeirrt. „Können Sie mir<br />

helfen, Fred? Es sind nur zwei Koffer und die beiden Taschen<br />

da. Wir nehmen die Koffer mit den Rollen. Die Taschen können<br />

Sie uns bringen, sobald Sie den Wagen geparkt haben, nicht?“<br />

Fred schaut wenig erfreut auf die beiden großen vollge<br />

stopften Taschen. Selbst <strong>der</strong> Verbundenheit heuchelnde<br />

Kosenamen kann ihn nicht darüber hinwegtäuschen, dass er<br />

gerade zum Gepäckträger degradiert worden ist. Während die<br />

Autos nun ungehalten und ohne Unterlass hupen, ruft er ein<br />

paar genervte Worte in <strong>der</strong>en Richtung und macht eine nervös<br />

fuchtelnde Geste, während er die handlichen Koffer aus dem<br />

Wagen hievt und die schweren Taschen wie<strong>der</strong> zurückstellt.<br />

„Rosie, komm schon“, sagt Maman. „Nimm diesen Koffer, <strong>der</strong><br />

ist nicht so schwer. Trödel nicht, wir sind spät dran.“<br />

21


Olivia<br />

„Wann kommen sie?“ Max blickt fragend hinter <strong>der</strong> Tageszeitung<br />

hervor. Bereits das fünfte Mal in dieser knappen Viertelstunde<br />

schaue ich auf die Wanduhr über <strong>der</strong> Küchentheke. Ich<br />

rechne nochmal nach.<br />

„Das Flugzeug landet um 16 Uhr 35, dann brauchen sie noch<br />

etwas Zeit, um ihr Gepäck zu holen, aber das wird Violetta<br />

bereits organisiert haben. Ich würde also sagen, so in etwa<br />

fünfzehn Minuten sollten sie hier sein.“<br />

Bei Violetta ist immer alles minutiös organisiert. Als ob<br />

wir nicht im Stande wären, Rosie abzuholen. Naja, ich sollte<br />

froh sein, denn ich habe bis vorhin gearbeitet, aber trotzdem<br />

ist es reine Geldverschwendung, mit dem Taxi extra hierher zu<br />

fahren. Violetta hat jedoch darauf bestanden. Anscheinend hat<br />

<strong>der</strong> Flug sie nichts gekostet, da sie den Firmenjet <strong>der</strong> Anwaltskanzlei<br />

beanspruchen konnte. Sie hätte am Abend in Zürich<br />

zu tun, informierte sie mich gestern beiläufig am Telefon,<br />

deshalb werde sie lei<strong>der</strong> umgehend weiterfliegen müssen. Dass<br />

sie trotzdem noch einen Abstecher vom Flughafen in Belp nach<br />

Bern macht, ist ein Wun<strong>der</strong>. Irgendetwas läuft außer Plan, soviel<br />

ist klar. Violetta lässt ihre behütete Tochter nicht ohne Grund<br />

bei Max und mir, wo Rosalie uns doch kaum kennt.<br />

„Natürlich, kein Problem“, habe ich geantwortet. Sie würde<br />

nicht fragen, wenn es nicht wichtig wäre. Aber als ich Max<br />

davon erzählte, hat <strong>der</strong> seine Bedenken geäußert.<br />

„Ein Teenager“, hat er gesagt. „Also ich kenn’ mich da nicht<br />

aus. Was ist, wenn sie etwas ausgefressen hat?“<br />

„Sie ist erst vierzehn“, habe ich geantwortet. „Was sollte sie<br />

schon ausgefressen haben in ihrem Alter? Außerdem ist sie ein<br />

22


liebes Kind, jedenfalls war sie das immer. Ich hab sie schon<br />

ziemlich lange nicht mehr gesehen.“<br />

„Seit du Violetta von unserer Hochzeit erzählt hast“, hat Max<br />

zielsicher die noch nicht ganz verheilte Wunde getroffen.<br />

„Das könnte aber auch an dir liegen“, habe ich scherzhaft<br />

gekontert und dabei mit einem viel zu aufgesetzten Lachen diese<br />

nicht so erfreuliche Tatsache zu überspielen versucht. „Sie war<br />

eben beschäftigt.“ Ich habe Violetta seit jeher immer in Schutz<br />

genommen. „Sie hat es nicht leicht in ihrem Job und dann noch<br />

ein Kind großzuziehen. Das ist bestimmt nicht immer die pure<br />

Harmonie. Ludovic ist ihr auch keine Hilfe mit seiner ewigen<br />

Rumreiserei. Wer weiß, was er überhaupt macht.“<br />

„Ich glaub, das weiß er selbst nicht, und es kostet ihn sicher<br />

mehr, als er je einbringen wird mit seinem Kunstkrempel“, hat<br />

Max knapp und ohne einen Hauch von Bewun<strong>der</strong>ung geäußert.<br />

„Zeitgenössische urbane Kunstlichtinstallationen, so hieß sein<br />

letztes großes Projekt. Ich hab das neulich irgendwo gelesen.<br />

Er hat verschiedene U-Bahn-Schächte in zahlreichen großen<br />

Städten <strong>der</strong> Welt fotografiert. Ich kann mir wirklich schönere<br />

Motive vorstellen. Er könnte Bäume fotografieren. Baum porträts<br />

zu verschiedenen Jahreszeiten vielleicht. Bäume in Großstädten<br />

meinetwegen. Wie die Natur ihren Platz zurückerobert.“<br />

„Das kann uns doch egal sein, was <strong>der</strong> fotografiert“, hat Max<br />

nur erwi<strong>der</strong>t.<br />

„Ich weiß, wir sind eben beide keine Experten auf dem Gebiet<br />

<strong>der</strong> Kunst.“<br />

„<strong>Der</strong> Erfolg wird zeigen, ob es Kunst ist o<strong>der</strong> nicht. Da muss<br />

man kein Experte sein. Wenn’s jemand für viel Geld kauft, ist<br />

das allein schon eine Kunst.“<br />

Beim Gedanken an dieses Statement muss ich immer noch<br />

23


lachen. Das ist typisch für Max. Früher habe ich mir gewünscht,<br />

dass er sich etwas mehr für Kunst o<strong>der</strong> Literatur begeistern<br />

könnte, aber ich habe aufgehört, ihn damit zu konfrontieren.<br />

Ich lasse Max in seiner eigenen Welt, die vorwiegend aus<br />

Motorradteilen und seiner Vorliebe für etwas eigenartige Tiere<br />

besteht. Mir ist’s recht, denn ich liebe Tiere über alles. Jedes<br />

von ihnen bringt neue und inspirierende Aspekte in unsere Vorstellung<br />

von Welt. Max findet, ich übertreibe, aber ich würde<br />

um nichts in <strong>der</strong> Welt unsere Art zu Leben eintauschen wollen,<br />

trotz <strong>der</strong> vielen Arbeit. Ich weiß, dass Max nicht begeistert ist<br />

von meiner Schwester und dem Franzosenschnösel, wie er ihn<br />

immer nennt. Nun jedoch geht es um meine Nichte und die ist<br />

schließlich noch ein Lamm und kein Aasgeier, wenn man es<br />

einmal in tierischen Metaphern ausdrücken will.<br />

„Dann stehen sie auf einmal wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Matte“, höre ich<br />

in Gedanken Max Worte nachhallen. „Wenn sie nicht mehr<br />

weiterwissen, fällt ihnen plötzlich wie<strong>der</strong> ein, dass sie noch<br />

Familie haben.“<br />

Ja, so ist Violetta. Wie ein Gewitter kann sie einen überraschen,<br />

und genauso schnell, wie es aufgezogen ist, auch<br />

wie<strong>der</strong> verschwinden.<br />

Es klingelt an <strong>der</strong> Tür.<br />

„Na endlich“, seufze ich, erleichtert darüber, den Abstecher<br />

in meine Erinnerungen unterbrechen zu können. Gemeinsam<br />

gehen wir zur Tür, Max mit langsamen, zögerlichen Schritten<br />

und ich mit geröteten Wangen und verschwitzten Händen.<br />

24


Rosalie<br />

Auf dem Flugplatz angekommen, bestätigten sich meine<br />

schlimmsten Befürchtungen. Alles, was ich sehen konnte, war<br />

eine große, grüne Ebene, umrandet von niedrigen Hügeln und<br />

ein paar vereinzelten kleinen Wohnhäusern und Bauernhöfen.<br />

Je mehr wir uns <strong>der</strong> Adresse nähern, die Frédéric umständlich<br />

in sein GPS getippt hat, desto dichter und größer<br />

werden die Häuserreihen und plötzlich sieht es sogar aus wie in<br />

einer Kleinstadt.<br />

Das Haus, vor dem er abbremst, sieht einladend aus. Es ist<br />

kein Bauernhof, wie ich es erwartet habe. Maman hat immer<br />

so geklungen, als wäre es eine heruntergekommene Hütte mit<br />

einem Stall daneben, aber hier ist keine Spur von unserer kleinen<br />

Farm. Es ist ein gemütlich aussehendes Haus mit einem hinter<br />

einer Hecke verborgenen Vorgarten. Die vielen Fenster, <strong>der</strong>en<br />

Fensterläden in den verschiedensten Grüntönen gestrichen sind,<br />

erwecken den Eindruck, als ob sich die Bewohner noch nicht<br />

schlüssig seien, welche Farbe ihnen am besten gefällt.<br />

„Es gibt keine Einfahrt zum Haus, Fred“, sagt Maman und<br />

es klingt wie eine Entschuldigung. „Halten Sie einfach auf <strong>der</strong><br />

Straße an.“<br />

Gedankenversunken steige ich aus. Wie soll ich meine Tante<br />

nennen? Tante Livi, wie ich es als kleines Mädchen getan habe,<br />

o<strong>der</strong> doch besser einfach Olivia? Und wie heißt noch gleich ihr<br />

Mann, <strong>der</strong> Bauer?<br />

Bevor ich weiter darüber grübeln kann, klingelt Maman<br />

schon. Die Tür geht auf und ein paar Sekunden lang scheint die<br />

Welt stillzustehen. Wir stehen uns alle wortlos gegenüber und<br />

schauen uns prüfend an.<br />

25


„Ich habe ein kleines Mädchen erwartet. Bist du’s wirklich?“<br />

Meine Tante lächelt. Ich stöhne innerlich.<br />

Dann, wie durch einen plötzlichen Schups in Gang gebracht,<br />

kommt sie auf uns zu und umarmt erst Maman und dann mich<br />

innig. Ich mache mich so gut es geht physisch präsent, blende<br />

mich aber für die Dauer des Augenblicks aus dieser emotionsgeladenen<br />

Szenerie aus, wie ich es bereits bis zur Perfektion<br />

beherrsche. Artig schüttle ich auch dem Bauern die Hand und<br />

überlasse die nun folgende Konversation Maman und meiner<br />

Tante. Inzwischen hat es sich bewölkt und die Hecken und<br />

Sträucher stehen düster und starr wie Wachsoldaten neben <strong>der</strong><br />

Veranda. O<strong>der</strong> war da nicht ein Schatten?<br />

„Livi”, höre ich Maman säuseln, „schön, dich zu sehen. Es ist<br />

so lange her.”<br />

„Sehr lange”, bestätigt Olivia ein wenig steif.<br />

Sie reden weiter und ich starre wie gebannt auf die Hecke.<br />

Was befindet sich dahinter? Aus den Augenwinkeln sehe ich,<br />

wie Maman mit fast hysterischer Überschwänglichkeit die Hand<br />

des Bauern schüttelt, sodass man fürchten muss, er wird ein<br />

Schütteltrauma erleiden.<br />

„Rosie, kommst du?“, holt Mamans Stimme mich wie<strong>der</strong> in<br />

die Szenerie zurück.<br />

„Ich danke dir, Olivia”, sagt sie mit vor Erleichterung<br />

beschwingter Stimme. „Ich bin telefonisch immer unter dieser<br />

Nummer zu erreichen, falls etwas sein sollte.”<br />

Sie drückt Olivia eine Visitenkarte, die sie aus ihrer<br />

winzigen Handtasche hervorkramt, in die Finger und fügt<br />

überflüssigerweise an: „Rosie, sei bitte ein wenig kooperativ!<br />

Tante Livi möchte dir sicher auch nicht immer alles zweimal<br />

sagen müssen.”<br />

26


„Nenn mich nicht immer Rosie”, murre ich automatisch.<br />

„Mein Name ist Rosalie!”<br />

„Hab dich lieb, Rosie. Ich wünsche euch eine tolle Zeit. Mein<br />

Gott, ist es schon wie<strong>der</strong> spät, ich muss dringend los.”<br />

Sie haucht einen angedeuteten Kuss in Olivias Richtung und<br />

zieht mich zur Seite.<br />

„Rosie, versprich mir, dass du mich anrufen wirst. Lass mich<br />

wissen, wenn du etwas brauchst o<strong>der</strong> etwas auf dem Herzen<br />

hast o<strong>der</strong> auch, falls du mich vermisst“, fängt Maman plötzlich<br />

und ohne Ankündigung dieses Gefühlsausbruchs an. Ihre<br />

Augen glitzern verdächtig feucht, wie kurz vor einem Tränendammbruch.<br />

„Sicher“, antworte ich verdutzt. Na jetzt aber … Ich betrachte<br />

weiter angestrengt diese blöde Hecke, als wäre etwas Interessantes<br />

darin zu entdecken. Fehlt nur noch, dass sie mich zum<br />

Heulen bringt vor diesen Leuten.<br />

Da ich nichts weiter sage, steigt sie in das schon ungeduldig<br />

dumpf brummende Auto. Dieses rollt mit kaum erhöhtem<br />

Motorgeräusch den sauber asphaltierten Quartiersweg entlang<br />

und biegt in die nächste Hauptstraße ein. Frédéric fährt um<br />

einiges weniger hektisch als Maman. Sie wäre mit quietschenden<br />

Reifen davongebraust, da bin ich sicher.<br />

Das Motorengeräusch hat sich gelegt. Alles ist ruhig, bis<br />

auf meinen Herzschlag, den ich monoton durch meinen Hals<br />

pulsieren spüre.<br />

„Dann komm mal rein, Rosalie“, unterbricht Olivia mit<br />

freundlicher Stimme die sich ausbreitende Stille.<br />

Wenigstens hat sie das mit dem Namen gleich geschnallt. Ich<br />

werde sie also Olivia nennen. Aber wie zum Henker heißt nun<br />

<strong>der</strong> Bauer?<br />

27


Ohne Netz und doppelten Boden<br />

Rosalie<br />

<strong>Der</strong> Bauer hat sich alle meine schweren, le<strong>der</strong>nen Reisetaschen<br />

und Koffer, die Frédéric mühsam auf dem Trottoir aufgetürmt<br />

hat, mit einem Mal gepackt und sie die Stufen hinauf durch den<br />

engen Eingang in das Zimmer ganz am Ende des Flurs gebracht.<br />

Danach ist er wortlos verschwunden und ich stehe mit Olivia<br />

allein im Flur. Verlegen werkle ich an den Knöpfen meiner Jacke<br />

herum, ohne zu wissen, wo ich sie hinhängen soll. Normalerweise<br />

würde ich sie einfach auf die Kommode im Flur werfen, damit<br />

Emilia sie in <strong>der</strong> Ankleide aufhängt, aber es gibt keine Kommode<br />

hier in dem engen Flur und ich vermute, dass es auch keinen<br />

separaten Raum für Jacken und Mäntel gibt. Olivia deutet auf die<br />

Tür am Ende des Flurs. Schon zu früh gemeckert, denke ich, und<br />

werfe meine Jacke schwungvoll auf das schmale Tagesbett, das<br />

den kleinen Raum fast vollständig einnimmt.<br />

„Wo ist mein Zimmer?“, frage ich neugierig.<br />

28


„Äh ... das hier ist dein Zimmer, Rosalie“, meint Olivia etwas<br />

verlegen.<br />

Soviel ich sehe, hat es in dem winzigen Zimmer, in dem<br />

bereits meine Taschen und Koffern einquartiert sind, kaum<br />

mehr Platz, um sich zu drehen. Nicht einmal einen Stuhl finde<br />

ich, worauf ich meine Jacke ansonsten hätte legen können.<br />

Hier sind nur ein Bett, eine kleine Kommode und ein Wandregal<br />

mit ein paar Büchern drauf.<br />

„Komm, gib mir deine Jacke“, sagt Olivia hilfsbereit. „Ich<br />

werde sie in den Schrank im Flur hängen. Im Zimmer hat es<br />

nicht viel Platz.“<br />

„Aha“, murmle ich. Ich hatte wirklich nichts Spezielles<br />

erwartet, aber das hier ist ein Witz. Ich bin es ja gewohnt, mich<br />

mit meinem Laptop auf dem Bett zu tummeln. Nun macht es<br />

aber den Anschein, als würde ich in den nächsten Wochen<br />

meine ganze Freizeit hier verbringen, o<strong>der</strong> wird ernsthaft erwartet,<br />

dass ich mich dauernd bei ihnen im Wohnzimmer aufhalte? Wie<br />

kann man überhaupt ein so winziges Zimmer bauen? Ich werde<br />

bestimmt innerhalb weniger Tage eine schwere Klaustrophobie<br />

entwickeln.<br />

Achtlos lasse ich meine Tasche auf dem Boden liegen, nachdem<br />

ich den Computer herausgefischt habe. Es wird keinen<br />

Sinn machen auszupacken. Mein kleiner Koffer allein ist schon<br />

größer als diese Kommode da.<br />

„Kannst du mir das Passwort geben?“, frage ich schnell,<br />

bevor Olivia das Zimmer wie<strong>der</strong> verlässt.<br />

„Das Passwort wofür?“, fragt sie erstaunt.<br />

„Na, fürs Internet?“ Ich sehe sie an, um zu prüfen, ob sie<br />

scherzt. Ich habe wirklich das Schlimmste erwartet, aber es<br />

scheint, als könnten sie mich tatsächlich noch überraschen.<br />

29


„Wi-Fi. Ich muss mich einloggen …“, fange ich zu erklären an,<br />

als keine sichtbare Reaktion kommt, aber Olivias Kopfschütteln<br />

lässt mich mitten im Satz verstummen.<br />

„Oh, so etwas haben wir nicht“, antwortet Olivia mit überzeugtem<br />

Nachdruck. „Es stört den Fluss <strong>der</strong> Energie und macht<br />

die Tiere, die sehr empfänglich für solche Strahlungen sind,<br />

unnötig nervös. Du kannst aber Max fragen, ob du an seinen<br />

Computer im Arbeitszimmer darfst, wenn du etwas nachschauen<br />

willst.“<br />

Nachschauen? Das kann doch nicht ihr ernst sein. Ich starre<br />

meine Tante ungläubig an. Es geht doch nicht darum, etwas<br />

nachzuschauen. Wie soll ich hier überleben, wenn ich nicht<br />

ins Netz kann? Schnell checke ich mein Handy. Wenigstens<br />

habe ich Empfang, somit ist das mit den Strahlen sowieso eine<br />

unaufhaltsame Nebenwirkung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Zivilisation. Sie ist<br />

ziemlich naiv, wenn sie glaubt, man könne dem entgehen.<br />

Es wird den von Maman äußerst knauserig bemessenen<br />

Taschengeldrahmen aufs Gröbste sprengen, wenn ich mit<br />

meinem französischen Handy surfe o<strong>der</strong> chatte. Na super, die<br />

wollen mich hier allen Ernstes versauern lassen. Meine Freunde<br />

werden alle denken, ich sei unter einen Zug gekommen o<strong>der</strong><br />

tatsächlich gekidnappt worden. In Gedanken sehe ich schon, wie<br />

sie verwun<strong>der</strong>t nach Spuren eines digitalen Lebenszeichens von<br />

mir suchen. O<strong>der</strong> noch schlimmer, vielleicht werden sie meine<br />

Abwesenheit gar nicht bemerken. Die Schule ist schon ätzend<br />

genug, wenn man nicht die Ambitionen o<strong>der</strong> die Voraus setzungen<br />

besitzt, von sämtlichen Jungs <strong>der</strong> Schule angehimmelt zu<br />

werden. Jungs sind Idioten. Denen ist egal, ob du dich wirklich<br />

für sie interessierst. Es ist ihnen sogar egal, ob du dir die Schuhe<br />

selber zubinden kannst, solange deine Haare blond und deine<br />

30


T-Shirts eng sind. Meine Haare sind natürlich nicht blond,<br />

son<strong>der</strong>n rotbraun, und als beson<strong>der</strong>es Handicap habe ich auch<br />

noch Sommersprossen. Das ist weit schlimmer als Sophies Pickel,<br />

denn die verschwinden wenigstens nach einer Weile wie<strong>der</strong>.<br />

Die Mädchen sind noch schlimmer. Sie machen sich fortwährend<br />

gegenseitig das Leben schwer. Mein einziges Vergnügen<br />

an dieser Schule besteht darin, für die Schülerzeitung zu<br />

schreiben. Ich habe schon einige satte Treffer gelandet mit<br />

meinen Artikeln, aber das hat mir natürlich nicht nur<br />

Sympathien eingebracht. Mein Ruf hat außerdem vor kurzem<br />

einen weiteren Knick erlitten. Dummerweise gab es nach den<br />

letzten Ferien, die ich bei Sophie verbrachte, diesen peinlichen<br />

Zwischenfall mit den Fotos. Sophie und ich hatten ein paar<br />

ältere Jungs heimlich fotografiert. Um ein bisschen anzu geben,<br />

haben wir sie in <strong>der</strong> Schule herumgezeigt und behauptet, es<br />

wären unsere Freunde. Lei<strong>der</strong> ist eines <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> irrtümlich<br />

auf dem USB-Stick mit den Bil<strong>der</strong>n für meine Klassenarbeit<br />

gelandet. Ich weiß noch heute nicht, wie das passieren<br />

konnte. Zum Spaß hatten wir gefakte Liebesschwüre und<br />

Herzchen darauf gephotoshopt. Unser Lehrer fand das blöde<br />

Bild, auf dem ausgerechnet mein Name stand, und hat<br />

umgehend meine Eltern benachrichtigt. Eigentlich war es keine<br />

große Sache, aber Maman machte einen riesigen Aufstand<br />

wegen meines geschädigten Rufs und dem verletzten Datenschutz<br />

dieses Typen, den wir nicht einmal kennen. Sie hat<br />

zudem mein Zimmer durchgewühlt, was ich ihr nie verzeihen<br />

werde, und dabei die rest lichen Bil<strong>der</strong> gefunden. Nun findet sie,<br />

Sophie sei ein schlechter Umgang für mich.<br />

„Rosalie?“, höre ich Olivias Stimme vom Flur her. „Das<br />

Abendessen ist fertig.“<br />

31


Olivia<br />

„Was ist denn das?“, fragt Max verwun<strong>der</strong>t, als er in die<br />

Küche kommt.<br />

Ich blicke mich um und sehe die zwei kleinen, hübsch<br />

verpackten Geschenke auf dem Küchentisch liegen.<br />

„Hat jemand Geburtstag? Hab ich etwas nicht mitgekriegt?“<br />

Max rätselt weiter und kratzt sich den Dreitagebart.<br />

„Das habe ich euch aus Paris mitgebracht“, erklärt Rosalie.<br />

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, sage ich mit einem<br />

staunenden Blick.<br />

Rosalie drückt mir eines <strong>der</strong> Päckchen in die Hand und<br />

ich löse vorsichtig das Geschenkband. Ein kleines hellblaues<br />

Kästchen kommt zum Vorschein.<br />

„Das ist aber hübsch“, sage ich erfreut.<br />

„Schau rein“, drängt Rosalie.<br />

Neugierig öffne ich das Kästchen und finde darin ein zierliches<br />

Perlenarmband mit einigen Seesternanhängern.<br />

„Das ist … Wow … das kann ich doch nicht annehmen.“<br />

„Hauptsache, es gefällt dir“, sagt Rosalie.<br />

„Das Armband ist wun<strong>der</strong>schön“, versuche ich zu erklären,<br />

„aber es ist bestimmt ein Vermögen wert.“<br />

„Ich wage gar nicht in meines hineinzuschauen“, scherzt<br />

Max skeptisch.<br />

„Nur zu“, antwortet Rosalie. „Für dich habe ich etwas<br />

Praktischeres ausgesucht.“<br />

„Gott sei Dank“, erwi<strong>der</strong>t Max. „Perlen lassen mich immer<br />

etwas mollig aussehen.“<br />

Rosalie schaut ihn an, um zu prüfen, ob er es ernst meint. Sie<br />

ist nicht an seinen Humor gewöhnt. Ich lache etwas überdreht,<br />

32


um die Situation aufzulockern, und wünsche mir ohne große<br />

Hoffnung, Max würde den dringend neu gebrauchten Bolzenschnei<strong>der</strong><br />

und keine goldenen Manschettenknöpfe in seinem<br />

Päckchen finden.<br />

„Oh, was ist das?“, fragt er, kaum hat er das Papier entfernt.<br />

„Ein Chronometer“, erklärt Rosalie und öffnet den Deckel <strong>der</strong><br />

fein lackierten Holzbox.<br />

„Kann ich damit einen Satelliten steuern?“<br />

Rosalie schaut ihn konsterniert an.<br />

„Das ist ein Sammelstück“, erklärt sie. „Papa hat einige<br />

davon. Die sind supergenau, auf die Millisekunde.“<br />

„Weshalb ist dir das nie in den Sinn gekommen?“ Max schaut<br />

mich schelmisch an. „Das habe ich mir immer gewünscht. Ich<br />

werde ab jetzt nie mehr zu spät in den Stall kommen.“<br />

Ich seufze. Max geht mit seinem Holzkistchen in <strong>der</strong> Hand,<br />

dessen Inhalt bestimmt wertvoller ist als seine alte Karre, in<br />

Richtung Tür. Unwillkürlich verlangsamt er seinen Schritt und<br />

bleibt auf halbem Weg doch stehen und dreht sich zu Rosalie<br />

um.<br />

„Wirklich tolle Geschenke, Rosalie“, sagt er ohne falschen<br />

Unterton. „Wenn du dich umschaust, wirst du erkennen, dass<br />

wir nicht auf großem Fuß leben. Alles hier ist bestimmt viel<br />

einfacher, als du es von Zuhause kennst. Solcher Luxus ruft<br />

gewöhnlich etwas Sarkasmus in mir hervor. Das soll aber deine<br />

Großzügigkeit nicht schmälern. Vielen Dank.“<br />

Max hat es geschafft, seine Meinung über unsinnigen<br />

Reichtum rechtzeitig auszublenden. Ich bin erleichtert.<br />

33


Rosalie<br />

Eine Reihe von ungewohnt lauten Geräuschen dringt in mein<br />

Bewusstsein. Es dauert einen Moment, bis mir wie<strong>der</strong> einfällt,<br />

wo ich mich befinde. Ich habe tief und traumlos geschlafen,<br />

fast so, als wäre ich gestern Abend ins Komma gefallen. Da<br />

ich nicht wie üblich bis tief in die Nacht im Internet hängengeblieben<br />

bin, welches mich wie ein großes, klebriges Spinnennetz<br />

als Beute gefangen hält, wollte ich mich in das Buch, das<br />

ich mitgebracht habe, vertiefen. Ich habe gelesen und bin dabei<br />

gleichzeitig mit den Gedanken abgeschweift, bis die Buchstaben<br />

vor mir zu tanzen begonnen haben und ich einen Moment lang<br />

die Augen schließen musste, damit sie sich beruhigen konnten.<br />

Dabei muss ich eingeschlafen sein, denn das Buch liegt neben<br />

mir auf dem Kissen und scheint beleidigt zusammengeklappt<br />

über so viel nachlässige Behandlung.<br />

Einen Moment lang lausche ich dem Gepolter und Geklapper,<br />

und obwohl ich keine Lust habe aufzustehen, weiß ich nicht,<br />

was ich sonst tun soll. Also beschließe ich, es doch zu tun. Ich<br />

ziehe mir nur die Jeans über, duschen kann ich später noch.<br />

Schließlich bin ich hier völlig abseits jeden kritischen Blicks<br />

meiner Freundinnen o<strong>der</strong> von Maman. Es wird mit Sicherheit<br />

niemandem auffallen, wenn ich mit strähnigen Haaren und<br />

einem schlichten T-Shirt zum Frühstück erscheine. Ich sprühe<br />

mir von meinem Rosenparfüm hinter die Ohren und gehe den<br />

Flur entlang in die Küche.<br />

34


Olivia<br />

Seit einer halben Stunde stehe ich in <strong>der</strong> Küche und hoffe,<br />

dass Rosalie bald aufwachen wird. Ich müsste eigentlich schon<br />

längst los zur Arbeit. Soll ich sie mitnehmen? Ist vielleicht keine<br />

gute Idee, <strong>der</strong> Tierparkdirektor versteht keinen Spaß, wenn es um<br />

Vorschriften geht. Besser, ich lasse Rosalie hier. Max muss sich<br />

eben um sie kümmern. Er könnte sie erst einmal mit unseren<br />

Tieren vertraut machen. Mit Max zusammen die Tiere zu füttern,<br />

ist keine große Sache, das macht ihr bestimmt Spaß. <strong>Der</strong> Deckel<br />

<strong>der</strong> Pfanne fällt mir aus den Händen in die Spüle und spritzt mich<br />

mit Abwaschwasser voll.<br />

„Scheiße“, entfährt es mir, und als ich mich umdrehe, steht<br />

Rosalie in <strong>der</strong> Küchentür.<br />

„Tut mir leid“, entschuldige ich mich für das Fluchen.<br />

„Kein Problem, ich war sowieso wach von dem Gepolter“,<br />

erwi<strong>der</strong>t Rosalie und setzt sich an den gedeckten Küchentisch.<br />

„Das hingegen ist gut. Ich hätte dich beinahe aufwecken<br />

müssen“, kontere ich mit einem Augenzwinkern. „Hier, dein<br />

Frühstück. Mach dich bitte gleich fertig, ich sollte nämlich<br />

schon längst drüben im Tierpark sein. Aber vorher werde ich<br />

dir zeigen, womit du dich heute Morgen beschäftigen kannst.“<br />

„Beschäftigen?“<br />

Rosalie schaut mich erstaunt an. Natürlich hat sie nicht damit<br />

gerechnet, dass ich sie bei den anfallenden Arbeiten einspannen<br />

werde. Wahrscheinlich ist sie es gewohnt, in den Ferien den<br />

ganzen Tag vor dem Fernseher o<strong>der</strong> Computer abzuhängen.<br />

Ich reiche ihr, da sie sich nicht fürs Frühstück zu interessieren<br />

scheint, ein paar bunte Gummistiefel, die sie verwun<strong>der</strong>t betrachtet.<br />

35


„Wozu sind die?“, fragt sie.<br />

„Wirst du schon sehen“, sage ich, während ich sie ums Haus<br />

herum in den Stall führe.<br />

Rosalie weitet entsetzt die Augen, als wir den Stall betreten.<br />

„Hier stinkt’s“, bemerkt sie.<br />

„Nein, die Pinguine stinken und die Waschbären. Das hier ist<br />

nichts im Vergleich dazu, glaub mir.“<br />

Rosalie sieht mich stirnrunzelnd an und hält sich die Nase zu.<br />

„Und was soll ich nun hier?“<br />

„Ich wäre froh, wenn du die beiden Kühe und die drei Ziegen<br />

auf die Wiese lassen könntest. Max wird gleich rüberkommen,<br />

den Stall ausmisten und neues Stroh für die Tiere bereitlegen.“<br />

Rosalie starrt mich an, als würde ich ihr Hausarrest verpassen.<br />

„Du kannst mit Max das Futter zurechtmachen. Das macht<br />

Spaß, glaub mir. Tiere lieben Futter, sie werden dir aus <strong>der</strong> Hand<br />

fressen. Wasser kannst du auch nachfüllen und ein paar frische<br />

Äpfel o<strong>der</strong> Karotten für die Ziegen wären toll. Alles klar soweit?“<br />

Rosalie<br />

Mit offenem Mund starre ich auf die bunt gemischte Herde<br />

im Stall. Warum zum Henker soll ich mich mit diesen Tieren<br />

beschäftigen wollen? Schließlich habe ich Ferien! <strong>Der</strong> Gedanke<br />

allein ist schon absurd. Ich habe nicht die geringste Ahnung<br />

von Tieren. Maman erlaubte mir ja nicht einmal, einen Hamster<br />

zu haben. <strong>Der</strong> Gestank bringt mich fast um. Mein Parfüm<br />

war völlig umsonst, ich werde stinken, als wäre ich in einen<br />

Misthaufen gefallen.<br />

36


Ein seltsamer Anblick, diese Viecher. Sollte eine Herde nicht<br />

immer aus gleichen Tieren bestehen? Da stehen aber drei<br />

verschiedenfarbige Ziegen. Eine ist weiß und schaut mich scharf<br />

an. Verstehen die etwa, was man sagt? Sie sieht fast ein wenig<br />

beleidigt aus. Eine an<strong>der</strong>e ist champagnerfarben und betrachtet<br />

scheinbar ihr eigenes Spiegelbild in einem Wasserbottich. Eitle<br />

Ziege, aber hübsch ist sie mit ihrem langen, wehenden Fell. Die<br />

dritte schließlich ist bullig und schwarz, aber von <strong>der</strong> sehe ich<br />

nur das Hinterteil.<br />

Dann ist da noch eine Kuh. Sie ist ziemlich groß, so aus <strong>der</strong><br />

Nähe. Automatisch mache ich einen Schritt rückwärts. Hat<br />

Olivia nicht etwas von zwei Kühen gesagt? Ich sehe mich<br />

suchend um und entdecke hinter <strong>der</strong> ersten Kuh stehend eine<br />

kleine Version in <strong>der</strong> Größe eines frisch geborenen Kalbs.<br />

„Oh, du bist ja niedlich“, sage ich und bin überrascht, wie<br />

diese kleine Kuh mich scheinbar neugierig beobachtet. „Warum<br />

bist du denn so klein?“<br />

Die schwarze Ziege steht plötzlich vor mir und meckert mich<br />

an. Was hat sie denn? Ich will ihr doch nichts tun.<br />

Okay, alles klar, das ist nichts für mich. Olivia muss sich<br />

etwas an<strong>der</strong>es ausdenken, um mich zu beschäftigen. Ich drehe<br />

mich nach ihr um und stelle fest, dass sie bereits verschwunden<br />

ist. Sie lässt mich hier einfach alleine? Ach, du Schande. Was<br />

ist, wenn die mich als Eindringling betrachten und mich beißen<br />

und treten? Was soll ich jetzt tun? Rauslassen hat sie gesagt,<br />

aber das sieht gefährlich aus. Suchend blicke ich mich um und<br />

sehe eine große Mistgabel an <strong>der</strong> Wand hängen.<br />

Die Ziege hört nicht auf zu meckern. Ich kann nur hoffen,<br />

dass sie mehr Angst vor mir hat, als ich vor ihr.<br />

„Du bist wohl <strong>der</strong> Schüchternste hier“, sage ich in<br />

37


eruhigendem Ton. „Hab keine Angst vor mir. Ich lasse dich<br />

als Ersten heraus, dann kannst du dich im Garten verstecken.“<br />

Mit <strong>der</strong> Mistgabel dränge ich die Viecher in die gewünschte<br />

Richtung und möglichst weit weg von mir. Die verängstigte Ziege<br />

jedoch muss ich an den Hörnern zum Stalltor hinausbeför<strong>der</strong>n,<br />

abwechselnd zerrend und schiebend.<br />

Max<br />

Durch das Küchenfenster sehe ich, wie Rosalie wild mit <strong>der</strong><br />

Mistgabel herumfuchtelt. Die Kleine sticht noch jemandem ein<br />

Auge aus, mit dem Ding. Seufzend stelle ich die Tasse Kaffee<br />

zurück auf die Theke. Besser, ich geh rüber und schau nach, was<br />

sie angerichtet hat.<br />

„Wie ich sehe, legst du dich bereits mit Egon an“, bemerke<br />

ich amüsiert.<br />

„Wer ist Egon?“<br />

„Na <strong>der</strong> bockige Ziegenbock.“<br />

„Ah, ja“, gibt sie knapp zurück.<br />

Na wenigstens ist sie keine Quasselstrippe. Reden nur um des<br />

Redens willen, ist eine nervige Angewohnheit, da ziehe ich es<br />

vor, mich mit Tieren zu beschäftigen. Olivia sieht das auch so,<br />

wenigstens was das Beschäftigen angeht. Im Gegensatz zu mir<br />

redet sie aber ununterbrochen, selbst mit den Tieren. Manchmal<br />

kommt es mir vor, als würden die sie sogar verstehen. Klar, es<br />

sind lebendige Wesen, die auf Zuwendung und Aufmerksamkeit<br />

genauso reagieren wie Menschen. Aber irgendetwas lässt mich<br />

manchmal glauben, dass Olivia eine beson<strong>der</strong>e Gabe hat. Schon<br />

38


ziemlich schrullig, das kennt man sonst eher von alternden<br />

Filmdivas als von attraktiven Mittzwanzigern.<br />

„Fertig“, bemerke ich nach kurzer Zeit. Wir sind schneller<br />

vorangekommen, als ich erwartet habe, da Rosalie kaum im<br />

Weg gestanden hat. Sie muss noch lernen, richtig anzupacken,<br />

aber erstmal ist es gut, nur zu beobachten.<br />

Es dauert noch mehr als eine Stunde bis Mittag. Womit soll<br />

ich sie weiter beschäftigen? Sie streichelt Gisèle, die langhaarige<br />

Ziege, und steckt ihr Gänseblümchen ins Fell. Diese lässt es sich<br />

bereitwillig gefallen. Mädchenkram.<br />

„Rosalie, kommst du?“, sage ich ohne weitere Erklärung.<br />

In <strong>der</strong> Garage sind ein paar Kessel Kraftfutter deponiert. Die<br />

können wir noch umfüllen in kleinere Behälter.<br />

Rosalie folgt mir wortlos über das kurze Stück Wiese zum<br />

Haus. Das Schweigen scheint ihre Laune nicht zu beeinflussen,<br />

im Gegenteil. Sie sieht versöhnlicher aus als gestern, als sie<br />

angekommen ist. Sie schaut sich in <strong>der</strong> geräumigen Garage um<br />

und bemerkt plötzlich: „Wem gehört die?“<br />

Erstaunt sehe ich, wie sie mein altes Motorrad bewun<strong>der</strong>nd<br />

umrundet.<br />

„Mir“, antworte ich nicht ohne Stolz. „Die habe ich schon<br />

etliche Jährchen. Ich hab sie mir von meinen ersten Ersparnissen<br />

gekauft.“<br />

„Ich bin noch nie mit so etwas gefahren“, bemerkt Rosalie.<br />

„Wir können eine Runde drehen, wenn du willst“, schlage<br />

ich vor und prüfe mit einem kurzen Druck auf die Reifen <strong>der</strong>en<br />

Luftdruck.<br />

„Auf keinen Fall“, ist ihre knappe Antwort darauf.<br />

39


Die Zeitenwende<br />

Rosalie<br />

Inzwischen habe ich jegliches Gefühl für Zeit verloren. Wie<br />

viele Tage ist es her, seit ich hier angekommen bin? Ich habe<br />

keine Ahnung und natürlich habe ich mein Handy wie<strong>der</strong><br />

irgendwo liegenlassen. Ich vergesse andauernd, es einzustecken,<br />

das ist nichts Neues, aber nun, da die Dämmerung anbricht, ist<br />

mir doch etwas unheimlich zumute.<br />

<strong>Der</strong> Wechsel aus meinem Leben, wie ich es bisher gekannt<br />

habe, scheint mir unwirklich. Es ging so plötzlich, als hätte<br />

mich jemand aus einem Traum gerissen. Ich fühle mich seltsam<br />

wach und lebendig. Es scheint hier alles so unkompliziert.<br />

Gut, vielleicht nicht alles. Beim Einchecken wurde mir nur die<br />

Besenkammer zugeteilt, anstelle <strong>der</strong> üblichen Suite. <strong>Der</strong> Bauer<br />

meinte, wenn ich mich nicht zwischen ihn und meine Tante<br />

legen wolle, müsse ich mich mit diesem Zimmer arrangieren,<br />

ansonsten sei <strong>der</strong> Stall die einzige Option. Immerhin habe es<br />

40


eine Tür zum Schließen und ein Fenster mit Aussicht auf Kühe<br />

und Ziegen. Das Rahmenprogramm ist auch nicht sehr verlockend<br />

auf den ersten Blick.<br />

Aber ich bin es gewohnt, allein zu sein, und eigentlich<br />

brauche ich niemanden, damit ich mich nicht langweile. Ich kann<br />

meinen Gedanken nachhängen und ich habe auch wie<strong>der</strong> angefangen,<br />

kurze Geschichten zu schreiben. Was soll ich sonst tun<br />

ohne Internet? Die Sportsendungen, die <strong>der</strong> Bauer sich ansieht,<br />

interessieren mich nicht die Spur und die beiden Bücher, die ich<br />

mitgebracht habe, bin ich durch. Olivias Bestand besteht fast nur<br />

aus Sachbüchern über Tierpflege und einigen Kochbüchern. Die<br />

Tiere sind zwar noch immer ungewohnt, aber wenigstens eine<br />

Ablenkung. Trotz des strengen Geruchs macht es schon beinahe<br />

Spaß, mich um sie zu kümmern. Heute habe ich sogar das<br />

Fell <strong>der</strong> champagnerfarbenen Ziege mit einem alten Striegel<br />

gebürstet. Aus Spaß habe ich Sophie ein Foto davon geschickt.<br />

Ihhh lol, ist alles, was ihr dazu eingefallen ist. Auch <strong>der</strong> Bauer<br />

hat schallend gelacht, als er mich dabei gesehen hat.<br />

„Hoffentlich bekommt Gisèle nun keine Flöhe“, hat er gutgelaunt<br />

gemeint. „Das ist nämlich die Hundebürste.“<br />

Manchmal bringt er mich schon zum Lachen. Natürlich kenne<br />

ich inzwischen seinen Namen. Max, das passt zu ihm. Kurz und<br />

bündig, wie die Konversation, die man mit ihm führt. Wortkarg<br />

ist keine Untertreibung, aber wenn er etwas sagt, ist er witzig.<br />

Vielleicht liegt es an <strong>der</strong> Sprache. In Paris habe ich mich immer<br />

gesträubt, Schweizerdeutsch zu sprechen, aber Maman hat es<br />

voll durchgezogen. Sie gibt nie auf, wenn sie sich etwas in den<br />

Kopf gesetzt hat, niemals.<br />

Max’ Einsilbigkeit hat einen weiteren Vorteil. Wenn ich<br />

das Heu in die falsche Ecke geschaufelt habe, schichtete er es<br />

41


einfach wortlos wie<strong>der</strong> um und pfeift dabei sogar ruhig und<br />

gelassen vor sich hin. Wenn ich am Abend meine Jacke im Flur<br />

auf dem Boden liegen lasse, ist sie am nächsten Morgen immer<br />

noch am selben Ort. Niemanden scheint es zu stören. Kann es<br />

wirklich so sein? Kein Genörgel und keine Vorwürfe? Maman<br />

ist doch Olivias ältere Schwester, warum sind die beiden nur so<br />

verschieden?<br />

Langsam und in Gedanken versunken schlen<strong>der</strong>e ich über<br />

die Wiese. Die Kühe grasen ruhig und konzentriert. Ich schaue<br />

ihnen eine Weile zu. Die kleine Kuh, Millie heißt sie, ist<br />

beson<strong>der</strong>s zutraulich und ich kraule sie zwischen den kleinen<br />

Hörnern. Vor ihr habe ich keine Angst.<br />

„Kannst du mir sagen, wie spät es ist?“, frage ich und Millie<br />

schüttelt energisch den Kopf. Ein paar Fliegen schwirren davon.<br />

„Das hab ich mir schon gedacht“, fahre ich fort, „Zeit ist nicht<br />

so wichtig hier. Bei uns ist das ganz an<strong>der</strong>s, da bist du meistens<br />

schon zu spät dran, bevor <strong>der</strong> Tag richtig begonnen hat. Es fängt<br />

mit dem blöden Schulbus an und zieht sich wie eine brennende<br />

Zündschnur durch den Tag, bis sie irgendwann hochgeht, die<br />

tickende Zeitbombe. Ich glaube zwar, dass Zeitbomben gar keine<br />

Zündschnur haben, aber wenn, dann sähe das noch verschärft<br />

viel brenzliger aus, wenigstens in Filmen. Aber du schaust dir<br />

vermutlich keine an, hab ich recht?“<br />

Millie schüttelt wie<strong>der</strong> den Kopf und weitere Fliegen schwirren<br />

umher.<br />

„Du hast es gut. Man hat echt seine Ruhe hier. Ich glaube,<br />

für Maman wäre es das Beste, wenn sie auch einmal raus aus<br />

dem Großstadtmief käme. Eigentlich sollte sie es sein, die einen<br />

Gang herunterschaltet und auf ihr ganzes Equipment verzichtet.<br />

Aber sie ist nicht so cool wie ich, sie würde glatt durchdrehen.<br />

42


Maman hält es ja nicht einmal eine Stunde hier aus, um ihre<br />

Schwester zu besuchen, die sie seit Jahren nicht gesehen hat.<br />

Weiß <strong>der</strong> Kuckuck, warum ich mit einer Kuh rede. Sophie würde<br />

sagen, dass ich langsam durchdrehe, aber was soll’s, ich werde<br />

ihr bestimmt keine Fotos davon schicken, nicht einmal, wenn<br />

ich mein Handy dabei hätte.“<br />

„Hier steckst du, Rosalie“, höre ich Olivias Stimme plötzlich<br />

hinter mir. „Ich habe dich gesucht. Willst du auf <strong>der</strong> Wiese übernachten?“<br />

„Ich hab die Zeit vergessen“, sage ich entschuldigend.<br />

„Ist nicht weiter schlimm.“ Olivia lächelt mir zu. „Ich hab<br />

mich nur gewun<strong>der</strong>t, dass du so lange draußen bleibst.“<br />

Was soll ich auch sonst tun? Schließlich ist es Sommer und<br />

eigentlich sollte ich mich am Strand <strong>der</strong> Côte d’Azur bräunen<br />

lassen und das Ferientaschengeld meines Vaters in Eiscreme<br />

und neue Sonnenbrillen investieren, was auch nicht wirklich<br />

prickelnd wäre. Ehrlich gesagt vermisse ich die langen<br />

Diners im Kreis <strong>der</strong> Schickimickigesellschaft meiner Eltern nicht<br />

beson<strong>der</strong>s. Ich genieße es, Max’ Pizza o<strong>der</strong> Olivias Kartoffelsalat<br />

auf <strong>der</strong> Veranda in <strong>der</strong> Schaukel liegend schmatzend in mich<br />

hineinzustopfen. Mit Mamans ermahnenden Blicken im Nacken,<br />

die mir bedeuten, ich möge meine Haltung kontrollieren, könnte<br />

ich das sicher nicht.<br />

„Tante Livi?“, frage ich gedankenverloren. „Warum habe<br />

ich dich nie mehr gesehen in den vergangenen Jahren? Hatten<br />

Maman und du einen Streit?“<br />

„Nein, Rosie“, Olivia streicht mir behutsam ein paar Haare<br />

aus dem Gesicht. „Es gab eigentlich nie einen richtigen<br />

Streit zwischen uns. Aber irgendwann gab es halt auch keine<br />

Gemeinsam keiten mehr und keine Verbindung zueinan<strong>der</strong>. Wir<br />

43


haben uns einfach voneinan<strong>der</strong> entfernt, ich kann mich nicht<br />

mehr genau erinnern, wie es dazu kam.“<br />

„Warum nennst du mich auf einmal Rosie?“, frage ich verwun<strong>der</strong>t.<br />

„Solange du mich Tante Livi nennst, werde ich dich mit Rosie<br />

anreden. So habe ich dich auch in Erinnerung, Violetta nennt<br />

dich doch immer noch Rosie.“ Olivia lacht. Ich überlege einen<br />

Moment und stimme dann mit ein.<br />

„Das war ein Ausrutscher“, versichere ich entschuldigend.<br />

„Ich war mit meinen Gedanken schon viel zu weit in <strong>der</strong><br />

Vergangenheit. Eigentlich mag ich keine Kosenamen. Papa ist<br />

<strong>der</strong> Einzige, bei dem ich es dulde, und Maman kann ich nicht<br />

dazu bringen, es zu lassen, du kennst sie. Sie zieht es vor, mich<br />

bis an mein Lebensende damit zu quälen.“<br />

„Sie kann die Vergangenheit wohl auch nur schwer hinter sich<br />

lassen. Ab und zu darf man schon mal dorthin zurück kehren,<br />

aber man sollte nicht zu lange verweilen. Du siehst selbst, wie<br />

schnell man den Überblick über die Zeit verlieren kann. So, ich<br />

geh zurück ins Haus. Kommst du auch?“<br />

„Gleich“, antworte ich.<br />

Ziellos streife ich durch den Garten und schaue über den Zaun<br />

hinweg zum mittlerweile ruhigen Tierparkgelände hinüber. Ich<br />

habe noch keine Lust, in das muffige kleine Zimmer zurückzugehen.<br />

Es wird sowieso mindestens eine halbe Stunde dauern,<br />

bis es Abendessen gibt, da Olivia erst etwas kochen muss. Wie<br />

können sie überhaupt ohne eine Haushaltshilfe auskommen?<br />

<strong>Der</strong> Königstiger dreht in monotonen Schritten seine Abendrunden<br />

und die Flamingos ziehen bereits die Köpfe ein und machen<br />

sich für die Nachtruhe bereit. Etwas weiter hinten sehe<br />

ich die Wölfe in ihrem weitläufigen Gehege. Tagsüber kann<br />

44


man sie kaum erkennen, aber jetzt, wo es langsam dunkel wird,<br />

sieht man ihre Augen zwischen den Bäumen und Sträuchern<br />

hervor blitzen. Gruslige Tiere, kein Wun<strong>der</strong> gibt es so viele<br />

Horrorstorys über sie. Wer ist wohl auf die Idee gekommen,<br />

sie als Haustiere zu domestizieren? Diese stechenden Augen,<br />

diese furchtein flößenden Reißzähne und wenn sie heulen,<br />

kriegt man eine Gänsehaut, die minutenlang nicht weggeht.<br />

Eine grauenvolle Szene aus einem Film kommt mir in den Sinn<br />

und instinktiv laufe ich ein paar Schritte schneller. Ich höre<br />

das dumpfe Schuhuen einer Eule. Auch das noch. Was ist denn<br />

nur los mit euch Viechern? Gehört das zum allabendlichen<br />

Einschüchterungsritual, damit kleine Kin<strong>der</strong>, die um diese Zeit<br />

nichts mehr draußen verloren haben, verängstigt zurück nach<br />

Hause laufen? Ich lasse mich doch von ein paar funkelnden<br />

Augen und dem Geschrei eines kauzigen Vogels nicht<br />

entmutigen!<br />

Während ich trotzdem meine Schritte beschleunige, löst sich<br />

die Eule von ihrem Ast und fliegt mit wenigen ruhigen Flügelschlägen<br />

über meinen Kopf hinweg auf das Gebäude am Ende<br />

<strong>der</strong> Wiese zu. Es sieht ein bisschen aus wie eine Scheune o<strong>der</strong><br />

ein Lagerhaus. Ich laufe <strong>der</strong> Mauer entlang und hinter ein paar<br />

wild wuchernden Sträuchern finde ich den Eingang in das<br />

heruntergekommene Gebäude.<br />

Im ersten Moment sehe ich gar nichts. Hier ist es dunkel wie<br />

in einem Verlies. Ich sollte von hier verschwinden, denke ich,<br />

aber während ich noch zögere, hellt sich die Umgebung allmählich<br />

auf und im spärlichen Abendlicht, das durch die trüben<br />

Fenster auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite des Raumes fällt, sehe ich ein<br />

wirres Durcheinan<strong>der</strong> an altem Krempel. Es hat zerschlissene<br />

Möbel, alte Spielautomaten, Regale mit Kisten und Büchern<br />

45


und im hinteren Teil sogar ein altes Karussell mit Tieren aus<br />

Holz, <strong>der</strong>en Lack sich spröde wie die schuppige Hornschicht von<br />

Eidechsen über ihre Körper zieht. Wahnsinn, denke ich. Das ist<br />

ja wie auf einem alten Flohmarkt.<br />

Plötzlich kommt es mir vor, als hätte ich etwas gehört. „Ist<br />

da jemand?“, flüstere ich in die düstere Stille hinein. Vielleicht<br />

eine Maus o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wind, <strong>der</strong> durch die halbgeöffnete Tür weht,<br />

versuche ich, mich zu beruhigen.<br />

Langsam schleiche ich vom Regal zum Schrank, dann zu<br />

einer Kiste und fahre dabei mit den Fingern über die trockene<br />

Staubschicht, die sich in den vergangenen Jahrzehnten gebildet<br />

hat. Ich entdecke alte Magazine und Prospekte mit son<strong>der</strong>bar<br />

verblichenen Tierbil<strong>der</strong>n. In den Schubladen des hohen Regals<br />

finde ich alte Plakate und Rollen von Eintrittskarten, die wohl<br />

nicht verkauft worden sind, weil man die Preise erhöht hat,<br />

bevor alle aufgebraucht waren. Warum bewahrt man das alles<br />

hier auf? Wenn jemand noch irgendwelche Verwendung für<br />

dieses Zeug hat, dann sollte er es sorgfältiger verstauen.<br />

Einige Zeichnungen liegen achtlos auf dem Boden. Die sind<br />

aber nicht alt. Kein Staub zu sehen, kein vergilbtes Papier.<br />

Anscheinend war vor kurzem jemand hier und hat sie liegengelassen.<br />

Ich hebe den Stapel auf und betrachte die feinen Linien.<br />

Auf allen Zeichnungen ist dieselbe Frau skizziert. Da scheint<br />

jemand schwer fasziniert zu sein. Ich finde es romantisch, dass<br />

<strong>der</strong> Zeichner das Profil seiner Angebeteten aus allen möglichen<br />

Perspektiven studiert hat. Wahrscheinlich ahnt sie nichts von<br />

seiner Obsession, denn er scheint sie lediglich aus dem Gedächtnis<br />

zu zeichnen. Einmal sind ihre Haare lang und lockig, dann sind<br />

ihre Augen etwas größer. Trotzdem scheint es immer dieselbe<br />

Frau zu sein. Auf einem <strong>der</strong> Blätter steht ein Name an den Rand<br />

46


gekritzelt, Jonathan. Vielleicht ein verschmähter Verehrer o<strong>der</strong><br />

ein heim licher Liebhaber, wer weiß, jedenfalls kann er zeichnen.<br />

Plötzlich schrecke ich auf. Ein dumpfes Knarren ist ganz<br />

deutlich zu hören. Jetzt bin ich mir sicher, da muss jemand sein.<br />

Mir reicht’s, ich will hier raus. Schnell drehe ich mich um und<br />

schlüpfe hinter ein Regal, um erst einmal in Deckung zu gehen.<br />

„Autsch!“, höre ich laut, aber das war nicht ich, obschon ich<br />

mich gestoßen habe. In Panik stoße ich einen Schrei aus. Eine<br />

Hand packt mich blitzschnell und hält mir den Mund zu. Vor<br />

Schreck bin ich wie gelähmt und wehre mich nicht. Mein Herz<br />

rast wie nie zuvor. Ich spüre es bis in meinen Kopf pochen und<br />

eiskalt fährt es mir den Nacken entlang über den Rücken. Ich<br />

kriege keine Luft. Panisch warte ich auf den Schmerz. Scheiße,<br />

denke ich plötzlich. So viel Aufwand all die Jahre, mich in<br />

Watte zu packen, um mich wohlbehütet durch den Großstadtdschungel<br />

zu schleusen, und ausgerechnet hier im Nirgendwo<br />

werde ich erdrosselt o<strong>der</strong> in hun<strong>der</strong>t Stücke zerlegt. Was für ein<br />

leichtes Opfer ich doch bin, unfähig, mich zur Wehr zu setzen.<br />

Unfähig, ein paar Wochen auf mich selbst gestellt zu überleben.<br />

Maman hat es immer gesagt, nun hat sie sogar recht, es ist aus.<br />

Ich höre ein lautes, durchdringendes Rauschen und Dunkelheit<br />

zieht sich seitlich über mein Blickfeld.<br />

47


<strong>Der</strong> <strong>Geheimbund</strong> <strong>der</strong> <strong>Wahrheit</strong><br />

Joel<br />

Das Geräusch des quietschenden Scheunentors durchdringt<br />

die Stille. Ein Gefühl von Panik macht sich in mir breit. Mir<br />

bleibt keine Zeit, meine Sachen zusammenzuräumen, ich kann<br />

nur noch knapp unbemerkt wie ein Schatten hinter dem alten<br />

Bücherregal verschwinden. Die Angst, entdeckt zu werden, ist<br />

ständig da, seit ich damals beinahe erwischt worden wäre. Wer<br />

kommt überhaupt um diese Zeit noch hierher? <strong>Der</strong> Tierpark hat<br />

bereits seit zwei Stunden geschlossen.<br />

Ein Mädchen? Langsam und zögernd bewegt sie sich<br />

durch den Raum. Ihr Haar schimmert kupferrot im Schein des<br />

spärlichen Lichtes. Ich kriege eine Gänsehaut. Es ist, als ob<br />

ich eine Locke ihres Haars schon einmal für kurze Zeit in den<br />

Fingern gehalten hätte. Sie wird sich nur kurz umsehen, sich<br />

etwas gruseln und dann wie<strong>der</strong> verschwinden, hoffe ich. Sobald<br />

sie am Regal vorbei ist, versuche ich, unbemerkt durch das halb<br />

48


geöffnete Scheunentor zu schleichen und zu verschwinden.<br />

Oh nein, falsche Richtung. Sie steuert geradewegs auf<br />

mich zu. Ich muss einfach still ausharren, dann wird sie mich<br />

hoffentlich nicht entdecken. Wenn sie mich hier findet, wird<br />

sie entwe<strong>der</strong> in panisches Geschrei ausbrechen o<strong>der</strong> mich mit<br />

Fragen löchern, die ich ihr nicht beantworten kann. Nicht hier,<br />

wo ich gar nicht sein dürfte.<br />

Ich drücke mich an die große Holzkiste hinter mir. Ein kurzes,<br />

aber deutliches Knarren durchdringt die Stille. Erst bleibt sie<br />

abrupt stehen, um gleich darauf mit einem flinken Sprung in<br />

meine Richtung direkt vor mein Schienbein zu treten.<br />

„Autsch“, zische ich.<br />

Plötzlich passiert alles Knall auf Fall. Sie stößt einen Schrei<br />

aus und mit einem Arm umschlinge ich sie und presse ihre Arme<br />

fest an ihren Körper. Mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Hand halte ich ihr den<br />

Mund zu, da ich weiß, dass sie sonst die ganze Nachbarschaft<br />

zusammenschreien wird.<br />

„Nicht schreien“, sage ich mit möglichst ruhiger Stimme. „Ich<br />

lasse dich gleich wie<strong>der</strong> los, aber du schreist nicht, versprochen?“<br />

Sie gibt keine Antwort.<br />

„Verstehst du mich? Nicht schreien“, sage ich etwas lauter. Sie<br />

aber keucht und windet sich, sodass ich sie unmöglich los lassen<br />

kann. Mir bleibt keine weitere Zeit, um zu überlegen, was ich<br />

tun soll, denn plötzlich fällt sie wie ein nasser Sack in sich<br />

zusammen. Oh Mann, das hat noch gefehlt. Sie ist tatsächlich vor<br />

Schreck ohnmächtig geworden. Ich kann sie kaum mehr halten,<br />

also lasse ich uns beide so sanft wie möglich zu Boden gleiten.<br />

Verdammt, was hab ich nun wie<strong>der</strong> angestellt? Beine hochlagern<br />

… Hätte ich im Nothelferkurs nur besser aufgepasst. Puls<br />

hat sie jedenfalls noch. Gott sei Dank, sie öffnet die Augen.<br />

49


„Ein Mord würde sich ziemlich schlecht in meinem Lebenslauf<br />

machen. Ladendiebstahl wäre besser. Ich möchte Medizin<br />

studieren, da würden sie einen Mord schon etwas krumm nehmen“,<br />

versuche ich zu scherzen, um die Peinlichkeit <strong>der</strong> Situation<br />

zu entschärfen.<br />

Langsam kneift sie die Augen zusammen, windet zittrig<br />

ihren Oberkörper aus meinen Armen und schlägt in <strong>der</strong> nächsten<br />

Sekunde auch schon wild auf mich ein, als müsse sie um ihr<br />

Leben kämpfen.<br />

„Hau bloß ab, du Vollidiot!“ Tränen <strong>der</strong> Wut schießen ihr in<br />

die Augen.<br />

„Tut mir leid, ich kann doch nichts dafür“, versuche ich sie zu<br />

beschwichtigen, aber sie scheint fuchsteufelswild zu sein.<br />

„Nichts dafür?“, schreit sie mich wütend an, während Farbe<br />

in ihr blasses Gesicht zurückkehrt. „Das ist alles deine Schuld.<br />

Hörst du, alles! Wegen dir bin ich vor Angst fast gestorben, und<br />

du findest das auch noch komisch? Dich sollte man einbuchten!“<br />

Sie kann sich nur schwer wie<strong>der</strong> beruhigen, aber immerhin<br />

lässt sie kurz von mir ab. Ich stolpere nach hinten und falle<br />

rückwärts über einen alten Koffer. Nun findet sie es komisch<br />

und beginnt zu lachen.<br />

„Hey, beruhige dich“, sage ich, am Boden sitzend. „Ich habe<br />

ja nicht geplant, dich zu erschrecken. Siehst du, ich komme von<br />

selbst zu Fall, du brauchst nicht gleich die Polizei zu rufen.“<br />

„Geh einfach“, sagt sie und lacht immer noch.<br />

„Wollte ich gerade tun, aber du hast mich nicht gelassen“,<br />

sage ich seufzend. „Jetzt ist es zu spät.“<br />

„Zu spät wofür?“<br />

„Zu spät, um unbemerkt zu verschwinden o<strong>der</strong> um einen<br />

positiven ersten Eindruck zu hinterlassen.“<br />

50


„Zu spät, um sich zu entschuldigen“, entgegnet sie mit nun<br />

wie<strong>der</strong> gefasster Stimme.<br />

Im spärlich flackernden Licht stehen wir uns gegenüber.<br />

Alles ist still um uns herum. Ihre Augen funkeln grün. Ich versuche,<br />

ihren Blick zu halten, aber er dringt durch mich hindurch.<br />

„Was suchst du eigentlich hier?“, frage ich unbedacht, da ich<br />

selbst nicht weiß, ob ich das beantworten könnte.<br />

„Ich hab mich zufällig hierher verirrt. Ist ganz cool hier, wenn<br />

man gerne in altem Krempel herumstöbert und sich den Spaß<br />

nicht von gelegentlichen Überfällen vermiesen lässt“, entgegnet<br />

sie und lächelt tatsächlich, wenn auch etwas zurückhaltend.<br />

„Soso, zufällig“, sage ich spöttisch. Sie sieht nicht aus wie<br />

eine, die Sachen stiehlt o<strong>der</strong> demoliert, im Gegenteil. Unwillkürlich<br />

muss auch ich lächeln. Es sieht sicher ziemlich blöd aus,<br />

aber ich kann nicht an<strong>der</strong>s, wahrscheinlich ist es pure Verlegenheit.<br />

Sie sieht absolut süß aus und scheint ein wenig jünger zu<br />

sein. Ich bin froh, dass ihre Angst verflogen ist.<br />

„Wie heißt du denn? Nur falls ich dich zufällig wie<strong>der</strong> einmal<br />

beim Herumschleichen treffen sollte.“<br />

Sie mustert mich zweifelnd. „Wie heißt du denn?“<br />

„Ich habe zuerst gefragt“, antworte ich.<br />

„Rosalie“, sagt sie. „Du bist Jonathan, nicht wahr?“, fügt sie<br />

an, als ich keine Anstalten mache, ihr zu antworten.<br />

Es klingt komisch, als würde ich diesen Namen zum ersten<br />

Mal ausgesprochen hören.<br />

„Ich muss jetzt gehen“, sage ich. Unentschlossen stehen wir<br />

uns gegenüber.<br />

„Wir sehn uns, Jonathan.“<br />

„Wenn du willst“, antworte ich. „Aber nur, wenn du es<br />

niemandem verrätst.“<br />

51


„Warum sollte ich?“ Sie scheint überrascht.<br />

„Also dann, bis demnächst“ Ich nehme meine Zeichnungen<br />

vom Boden und verschwinde durch die Scheunentür, bevor sie<br />

fragen kann, wann demnächst sein wird.<br />

Rosalie<br />

<strong>Der</strong> Koffer, über den Jonathan vorhin gefallen ist, liegt noch<br />

immer auf dem Boden. Er sieht aus, als wäre er aus dem vorletzten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t. Ich sollte ihn wegräumen, bevor ich von<br />

hier verschwinde, damit niemand Verdacht schöpft. Ich bin<br />

immer noch völlig neben <strong>der</strong> Spur. Diese Begegnung mit<br />

Jonathan war ja endlos peinlich. Ich muss mich von meinen<br />

Gedanken ablenken und zerre den Koffer in die Ecke neben das<br />

Regal, wo ein wenig Platz ist und keine kaputten Möbel herumliegen.<br />

Er ist ziemlich schwer. Vielleicht sind ein paar alte Hemden<br />

o<strong>der</strong> Westen darin, das wäre cool. Ich lege ihn vor mir auf<br />

den Boden. Die beiden Verschlüsse sind rostig und verbogen.<br />

Es ist nicht einfach, sie aufzukriegen, und ich mühe mich beim<br />

zweiten Schloss beinahe vergebens ab.<br />

Nach kurzem Stöbern bin ich enttäuscht. Nur eine Menge<br />

alter Dokumente und Akten liegen darin. Nichts davon scheint<br />

persönlich zu sein. Ich werfe den Aktenordner achtlos wie<strong>der</strong><br />

hinein. Es scheppert blechern aus dem Koffer zurück. Erneut<br />

nehme ich den Ordner heraus und mit ihm einige weitere Dokumente.<br />

Darunter finde ich eine metallene Schachtel mit einem<br />

roten Schriftzug einer längst vergriffenen Kekssorte. Behutsam<br />

öffne ich den Deckel und finde zwischen ein paar alten Post-<br />

52


karten einen Umschlag, auf dem handgeschrieben in großen<br />

Buchstaben steht: <strong>Der</strong> <strong>Geheimbund</strong> <strong>der</strong> <strong>Wahrheit</strong>.<br />

Neugierig öffne ich ihn. Meine Augen streifen über eine<br />

blasse Schwarz-Weiß-Fotografie und eine angelaufene, feine<br />

Silberkette mit einem Amulettanhänger. Eine Uhr in Form einer<br />

Eule, die zu meiner Überraschung noch funktioniert. Auch ein<br />

handgeschriebener Brief kommt zum Vorschein.<br />

Eine Eule, denke ich, das ist schon ein seltsamer Zufall. Es war<br />

die Eule, die mich auf die Scheune aufmerksam gemacht hatte.<br />

Zögernd ziehe ich die Kette über meinen Kopf, schließlich<br />

weiß ich nicht, ob sie jemandem gehört. Verstohlen stecke ich<br />

sie unter meinen Pulli. Es wird sie schon keiner vermissen, versuche<br />

ich mir einzureden, das Zeug liegt schließlich schon Jahrzehnte<br />

hier herum. Den Umschlag stecke ich mitsamt des Fotos<br />

in die Jeanstasche, denn es ist bereits zu dunkel zum Lesen.<br />

Ich fühle mich seltsam. Dieser Überfall-Zwischenfall – bin ich<br />

tatsächlich vor Schreck in Ohnmacht gefallen o<strong>der</strong> war das so<br />

etwas wie eine Panikattacke? Sophies Maman hatte kürzlich so<br />

eine Attacke. Letzten Monat an <strong>der</strong> Kasse einer Modeboutique<br />

mitten in <strong>der</strong> Innenstadt. Sophie und ich wollten denselben<br />

beige farbenen Kaschmirpullover kaufen. Als wir an <strong>der</strong> Kasse<br />

noch immer darüber diskutierten, zu wem er nun besser passe,<br />

ist sie plötzlich und ohne Vorwarnung aus dem Laden gestürmt.<br />

Wir sind beide hinterher, mit <strong>der</strong> aufgelösten Verkäuferin im<br />

Schlepptau, da wir den unbezahlten Pulli in <strong>der</strong> Hektik einfach<br />

mitgenommen haben. Sophies Maman kniete mit geschlossenen<br />

Augen zitternd auf dem Trottoir. Dann aber stand sie auf,<br />

noch immer bleich, aber gefasst, und meinte zur Verkäuferin:<br />

„Madame, anstatt sinnlos herumzufuchteln, bringen Sie uns<br />

lieber drei Gläser Champagner.“<br />

53


So kamen Sophie und ich zu unserem ersten offiziellen<br />

Champagnershopping. Den Pulli haben wir allerdings nicht gekauft.<br />

Was den Ohnmachtsanfall vorhin anbelangt, bin ich mir<br />

nicht im Klaren. Es könnte auch an meinem niedrigen Blutdruck<br />

gelegen haben, o<strong>der</strong> daran, dass ich noch nichts gegessen habe.<br />

Verdammt, das Abendessen, das habe ich ja vollkommen<br />

vergessen!<br />

Romilda<br />

<strong>Der</strong> <strong>Geheimbund</strong> ist meine Rettung und mein Ver<strong>der</strong>ben.<br />

Ob ich daran glaube, kann ich nicht sagen, aber es hat etwas<br />

Beruhigendes, an irgendetwas glauben zu können. Die Welt ist<br />

seltsam genug und bei Weitem noch nicht bereit, die Launen <strong>der</strong><br />

Natur mit <strong>der</strong> Intoleranz <strong>der</strong> Gesellschaft zu versöhnen.<br />

Jonathan hat unseren <strong>Geheimbund</strong> ins Leben gerufen und mir<br />

damit ein geheimes Hintertürchen geschaffen, das mich fern von<br />

Zeit und Raum existieren lässt.<br />

Ich fliehe nicht vor <strong>der</strong> <strong>Wahrheit</strong>, im Gegenteil. Die <strong>Wahrheit</strong><br />

steht immer im Mittelpunkt. Sie ist mein Elixier, meine Religion.<br />

Wir stellen uns gegenseitig die essentiellen Fragen des Lebens<br />

und diskutieren über die Wahrhaftigkeit und die Legitimität <strong>der</strong><br />

Antworten, welche die <strong>Wahrheit</strong> umkreisen, wie hungrige Wölfe<br />

ihre Beute. Wir teilen die Beute, die Gedanken und die Zeit miteinan<strong>der</strong>.<br />

Zeit, die ich kaum aufbringen kann. Es beruhigt mich<br />

und macht mich glücklich, dass die beiden sich so gut verstehen.<br />

Ich werde mein Geheimnis nicht mehr lange vor <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

verbergen können. Die Zeit läuft davon.<br />

54


Wie lange werde ich im <strong>Geheimbund</strong> bleiben können, wenn<br />

er einzig dazu erschaffen wurde, das Geheimnis vor einer<br />

großen Lüge zu schützen? Es dauert nur noch sieben, im besten<br />

Fall siebeneinhalb Monate, bis die <strong>Wahrheit</strong> ein neues Gesicht<br />

kennt, und es wird das meines Kindes sein. Das Schicksal wird<br />

entscheiden müssen, wenn die Zeit mich im Stich lässt.<br />

Jonathan<br />

„Was willst du tun?“, frage ich so unbeteiligt wie möglich,<br />

um nicht den Eindruck zu erwecken, es könne weitreichen<strong>der</strong>e<br />

Konsequenzen haben, als meine Arbeitsstelle zu verlieren.<br />

„Ich werde sie zur Frau nehmen“, antwortet Vincent mit<br />

<strong>der</strong> selbstbewussten Stimme eines Mannes, <strong>der</strong> sich über sein<br />

Handeln und dessen Konsequenzen im Klaren ist.<br />

„Hast du sie schon gefragt?“<br />

Vincent lächelt und ich schließe daraus, dass er es bereits<br />

getan hat. Warum hat Romilda mir nichts davon gesagt, frage<br />

ich mich stirnrunzelnd.<br />

„Du solltest deinen Gesichtsausdruck sehen“, entgegnet<br />

Vincent lachend anstelle einer Antwort. „Meinst du, ich weiß<br />

nicht, dass du sie selbst gern zur Frau hättest? Nein, ich habe<br />

sie noch nicht gefragt, aber sie wird nicht ablehnen. Hast du<br />

nicht gemerkt, dass sie es förmlich darauf anlegt? Sie findet<br />

mich unwi<strong>der</strong>stehlich.“<br />

O<strong>der</strong> bloß dein Geld, denke ich bitter, während ein Stich<br />

<strong>der</strong> Eifersucht meine Gesichtszüge verhärtet. Aber es ist nicht<br />

klug, den sorgfältig eingefädelten Plan jetzt selbst zu sabotieren.<br />

55


Vincent soll ruhig glauben, was er glauben will, obwohl es ihm<br />

in seiner Situation egal sein kann. Er hat die Heiratswillige<br />

gefunden, ohne selbst je den Hof o<strong>der</strong> auch nur den Vorgarten<br />

einer Dame gemacht haben zu müssen. Und ein Beweis seiner<br />

erfolgreichen Balz und Schürzenjagd ist auch bereits unterwegs.<br />

„Sie wird sicher hingerissen sein“, sage ich deshalb. „Und ich<br />

bin es auch. Ihr seid füreinan<strong>der</strong> geschaffen. Ich würde mir nie<br />

anmaßen, eine Frau ihres Standes als die Meine anzusehen.“<br />

„So viel Standesdünkel lässt du doch sonst nicht auf kommen“,<br />

entgegnet Vincent mit einem fragenden Blick in meine Richtung.<br />

Ich habe keinen, aber dein Vater hat gewiss welchen zu<br />

vererben, denke ich insgeheim und senke den Blick, um dem<br />

Pferd den Sattel fester umzuschnallen.<br />

56


Versteckte Qualitäten<br />

Rosalie<br />

Eigentlich vermisse ich meine Freunde nicht allzu sehr. Ich<br />

texte o<strong>der</strong> telefoniere fast ausschließlich mit Sophie. Sie ist meine<br />

beste Freundin, seit sie mit ihrer Familie vor vier Jahren nach<br />

Paris gezogen ist. Ich wusste, es ist nicht einfach, in eine neue<br />

Klasse zu wechseln, und ich hatte bis dahin keine beste Freundin,<br />

also habe ich mich um sie gekümmert. Sophie ist es gewohnt,<br />

dass man sich um sie kümmert, also hat unsere Freundschaft<br />

bisher ziemlich gut funktioniert. Vor zwei Jahren habe ich sie<br />

sogar überreden können, auch den Schulbus zu benutzen. Viele<br />

Schüler in meiner Klasse werden von ihrem eigenen Chauffeur<br />

zur Schule gefahren. Ich habe Sophie bequatscht, dass es doch<br />

besser sei für die Umwelt und so, wenn sie auch den Bus nimmt.<br />

Aber schlussendlich war es die Tatsache, dass sie sich näher an<br />

<strong>der</strong> Quelle des täglichen Schultratsches befindet, die sie vom<br />

Busfahren überzeugt hat, denn ihr Chauffeur fährt nun jeden<br />

57


Morgen hinter dem Schulbus her und bringt ihr die vergessenen<br />

Bücher und Lunchboxen mit. Von ihr erfahre ich ausführlicher<br />

als mir lieb ist, was ich gerade alles verpasse.<br />

Sophie verbringt ihre Sommerferien meist auch mit ihren<br />

Eltern in einem Strandhaus in Südfrankreich. Dieses Jahr hat<br />

sie sich in einen Jungen aus <strong>der</strong> Gegend verliebt und ist nun<br />

damit beschäftigt, dessen Aufmerksamkeit und Zuwendung zu<br />

gewinnen. Sie erzählt mir jedes Detail aller mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

aufregenden Begegnungen.<br />

Unvermittelt fragt sie: „Und was tut sich bei dir so?“<br />

„Nichts“, antworte ich automatisch. Ich habe irgendwie keine<br />

Lust, Sophie Einzelheiten über das Landleben, wie sie es nennt,<br />

zu erzählen. Nicht, dass es beson<strong>der</strong>s aufregend wäre, aber<br />

langweilig ist es hier wirklich nicht. Es ist nur nicht das, was<br />

uns beide sonst so beschäftigt und worüber wir normalerweise<br />

sprechen und ich weiß nicht, ob Sophie sich ernsthaft in meine<br />

Lage versetzen könnte, um sich die Situationen, mit denen ich<br />

es hier zu tun habe, auszumalen.<br />

„Ach, du Arme“, bemitleidete sie mich. „Deine Maman hat<br />

dich ja echt aufs Abstellgleis verfrachtet, so wie’s aussieht.“<br />

„Ja, hat sie“, antworte ich und höre mich genauso weit<br />

entfernt an, wie ich gedanklich bereits abgedriftet bin.<br />

„Soll ich meinen Papa beknien, damit du den Rest des<br />

Sommer mit uns verbringen kannst? Ich kann ihn sicher dazu<br />

überreden. Ist ja eine Zumutung, wie man dich aus dem Verkehr<br />

gezogen hat. Soll ich?“<br />

„Lass nur“, sage ich lustlos. „Maman erlaubt es ohnehin<br />

nicht.“<br />

Das ist die <strong>Wahrheit</strong>, aber selbst wenn sie es erlauben würde,<br />

ich hätte im Augenblick sowieso keine Lust, mich für den Rest<br />

58


<strong>der</strong> Ferien in Sophies Schatten aufzuhalten. Denn wenn Sophie<br />

eines noch weniger leiden kann, als wenn man sich zu wenig<br />

um sie kümmert, ist, wenn man sich um mich kümmert.<br />

Erleichtert nehme ich wahr, dass sie bereits dabei ist, sich zu<br />

verabschieden. Komisch, noch vor einer Woche hätte ich wer<br />

weiß was für eine Wahnsinnsstory erfunden, nur um einigermaßen<br />

interessant zu klingen. Doch jetzt, wo ich tatsächlich<br />

etwas zu erzählen hätte, was Sophie an den Rand des Wahnsinns<br />

bringen könnte, verspüre ich nicht den geringsten Wunsch,<br />

ihr von meinem seltsamen Zusammentreffen mit Jonathan zu<br />

erzählen.<br />

Lei<strong>der</strong> habe ich ihn seit dieser ersten Begegnung in <strong>der</strong><br />

Scheune nicht wie<strong>der</strong>gesehen. Ich habe mich gefragt, ob er<br />

vielleicht ein Praktikum als Tierpfleger o<strong>der</strong> etwas Ähnliches<br />

macht, da er von <strong>der</strong> Seite des Tierparks in die Scheune gekommen<br />

war. Ich könnte Olivia fragen, ob sie ihn kennt, aber<br />

das kommt mir albern vor. Seit unserer Begegnung halte ich<br />

mich so oft wie möglich auf dem Tierparkgelände auf, ganz zur<br />

Freude meiner Tante. Doch es sind weniger die Seehunde und<br />

Gnus, die mich magisch anziehen, als vielmehr die Hoffnung,<br />

ihm irgendwo wie<strong>der</strong>zubegegnen.<br />

Vielleicht hätte ich doch Sophie um Rat fragen sollen. Aber<br />

ihre Ratschläge haben mich schon oft in missliche Lagen<br />

gebracht, also sollte ich nicht allzu viel darauf geben. Was<br />

soll’s, damit muss ich alleine klarkommen. Ich finde es sowieso<br />

unreif und lächerlich, dass jegliche Art <strong>der</strong> Kommunikation<br />

zwischen einem Mädchen und einem Jungen immer gleich zum<br />

kollektiven Anlass einer allgemeinen Belustigung verkommen<br />

muss.<br />

59


Olivia<br />

Ich bin froh, dass Rosalie sich so schnell eingewöhnt hat. Am<br />

Anfang machte es nicht den Anschein, als wäre sie sehr erfreut<br />

über ihren Aufenthalt bei uns. Kann man ja verstehen, sie kennt<br />

uns kaum und unser Leben ist vollkommen an<strong>der</strong>s, als sie es<br />

gewohnt ist. Sie scheint aber ein unkompliziertes Mädchen zu<br />

sein. Mich stört ihr Chaos nicht. Max schüttelt jeweils nur den<br />

Kopf, wenn er ihren Pulli im Stall auf dem Heu liegend findet<br />

o<strong>der</strong> ihr Handy ihm auf dem Klo begegnet. Er macht sich beim<br />

Frühstück dann einen Spaß daraus, sie zu fragen, an wie viele<br />

Dinge sie sich erinnern kann, die er am Vortag irgendwo deplatziert<br />

vorgefunden hat.<br />

„Lass gut sein, Max“, schalte ich mich meist ein und erzähle<br />

Rosalie eine Anekdote, zum Beispiel als Max sich unfreiwillig<br />

im Affengehege eingesperrt hat, weil er den Schlüssel an <strong>der</strong><br />

Tür des Geheges stecken ließ und einer <strong>der</strong> Affen ihn unbemerkt<br />

geklaut und ganz weit oben im Baum versteckt hatte. Max hat<br />

eine halbe Ewigkeit mit Warten und Suchen zugebracht, bis<br />

ich ihn endlich fand und befreien konnte. Natürlich habe ich<br />

Max’ Schlüssel zurückerhalten, nachdem ich mit dem Affen<br />

geschimpft hatte.<br />

O<strong>der</strong> wie er vergaß, den Wagen zu tanken und mit den beiden<br />

Ziegen, die zum Tierarzt sollten, die letzten an<strong>der</strong>thalb Kilometer<br />

zu Fuß quer durch die Stadt laufen musste. Das wäre<br />

nicht weiter schlimm gewesen, wenn Egon, das störrische Vieh,<br />

nicht im Vorbeigehen einen Zeitungsstand verwüstet hätte<br />

und <strong>der</strong> Besitzer einen solchen Wutanfall bekam, dass er Max<br />

mit <strong>der</strong> Polizei drohte, während Egon seelenruhig eine weitere<br />

Cosmopolitan verspeiste.<br />

60


Rosalie lacht über diese Geschichten und Max grummelt<br />

beleidigt, bis ich ihm ein Marmeladenglas zum Öffnen gebe<br />

o<strong>der</strong> sonst eine nützliche und zweifelsfrei einzig durch ihn zu<br />

bewältigende Aufgabe.<br />

Rosalie<br />

Gelassen schlen<strong>der</strong>e ich den Weg zum Terrarium empor, um<br />

mir im subtropischen Klima unter den Palmen und Farnen einen<br />

ruhigen Platz zum Lesen zu suchen. Im Haus besteht ständig<br />

die Gefahr, irgendeiner nützlichen Beschäftigung in die Arme<br />

zu laufen.<br />

Auf dem kurzen Stück Weg komme ich an dem kleinen Laden<br />

vorbei, <strong>der</strong>, etwas größer als ein durchschnittlicher Bahnhofskiosk,<br />

auch Eis, Plüschtiere und ein eigenartig kitschiges Sortiment<br />

an Romanen führt. Da ich so gut wie nie ins Stadtzentrum<br />

komme, habe ich das Sortiment schon ziemlich oft durchstöbert.<br />

Es ist auch heute nichts Neues dabei und ich wiege gerade<br />

zweifelnd ab, ob Das Schicksal mischt die Karten neu wohl das<br />

Geld und den Versuch wert sei. Dabei sehe ich aus den Augenwinkeln<br />

zu, wie die junge Verkäuferin einem schlaksigen blonden<br />

Jungen ein Comicheft verkauft. Er streckt ihr gedankenversunken<br />

einen Zwanziger entgegen. Sie nimmt ihn, fragt aber, ob<br />

er kein Kleingeld habe, und als er seine Taschen durchstöbert,<br />

wechselt sie seinen Zwanziger flink in einen Zehner. Als <strong>der</strong><br />

Junge das Kleingeld zusammengesucht hat, gibt sie ihm ohne<br />

mit <strong>der</strong> Wimper zu zucken den Zehner zurück und nimmt das<br />

Kleingeld. <strong>Der</strong> Junge schaut einen Moment lang verdutzt auf<br />

61


den Geldschein, scheint sich aber nicht sicher zu sein, ob er sich<br />

vertan hat, und geht von dannen.<br />

So ein Biest, denke ich, die betrügt also ihre Kundschaft. Ganz<br />

schön dreist. Entschlossen nehme ich den Roman, fische einen<br />

Hun<strong>der</strong>ter aus meiner Tasche und gehe zur Verkäuferin hinüber.<br />

„Nein, ich hab kein Kleingeld und das hier ist kein Fünfziger“,<br />

sage ich barsch und knalle das Taschenbuch auf die Kaugummiauslage.<br />

„Gut, dass du dich mit Zahlen besser auskennst als mit<br />

Literatur“, antwortet die Verkäuferin unbeeindruckt.<br />

„Dieses Sortiment hier kann man wohl kaum als Literatur<br />

bezeichnen“, setze ich kampfbereit an. Aber ich bin zu erstaunt<br />

über so viel Schlagfertigkeit und gleichzeitig auch beleidigt<br />

über das Urteil, das die Verkäuferin anhand meiner Bücherwahl<br />

über mich getroffen hat, um angemessen kontern zu können.<br />

Trotzdem füge ich noch an: „Mangels eines besseren Angebots.“<br />

„Wenn du etwas Tolles lesen willst, empfehle ich dir<br />

Zwischen Zeit und Raum von Romilda Darkling“, spricht die<br />

junge Verkäuferin unbekümmert weiter.<br />

„Und wo kriege ich das her? Ich nehme nicht an, dass dieses<br />

Buch hier zu finden ist“, frage ich skeptisch.<br />

„Nein, ganz sicher nicht. Es ist ziemlich alt, doch wenn du<br />

mir versprichst, dass du sorgfältig damit umgehst, werde ich es<br />

dir ausleihen.“<br />

Sie wühlt in einer großen, bunt gemusterten Tasche, die<br />

unter dem Tresen verstaut war, und streckt mir dann ein kleines,<br />

abgewetztes Buch hin. Erstaunt nehme ich es, obwohl ich nicht<br />

sicher bin, ob ich überhaupt etwas mit ihr zu tun haben will.<br />

Vielleicht ist es ein Trick.<br />

„Wie gesagt, es ist ein altes Buch und daher hat es Selten-<br />

62


heitswert. Du kannst es mir bei Gelegenheit zurückgeben, ich<br />

seh dich ja dauernd hier. Ich bin übrigens Lily“, fügt sie hinzu<br />

und lächelt mich gewinnend an.<br />

„Ich bin Rosalie“, antworte ich, und immer noch misstrauisch<br />

füge ich an: „Aber hey, entschuldige, wenn ich dich so direkt<br />

frage: Warum bist du so nett zu mir, wo ich dir doch gerade zu<br />

verstehen gegen habe, dass ich weiß, dass du Leute bescheißt?“<br />

„Nicht Leute“, sagt Lily, „aber kleine, fiese Jungs, die ständig<br />

etwas klauen und denken, ich wäre zu blöd, es zu bemerken.“<br />

„Du hast dich gerächt?“, frage ich ungläubig. „Warum stellst<br />

du den Jungen denn nicht zur Rede, wenn du ihn beim Klauen<br />

erwischst? Wäre das nicht einfacher und außerdem legal?“<br />

„Schon.“ Lily zuckt mit den Achseln. „Hab ich auch erst<br />

versucht, aber er streitet es ab.“<br />

„Dann melde es deinem Chef o<strong>der</strong> besser gleich <strong>der</strong> Polizei.“<br />

„Das Dumme ist“, meint Lily etwas leiser, „er ist <strong>der</strong> Sohn des<br />

Tierparkdirektors und <strong>der</strong> hat mir gesagt, dass ich mich geirrt<br />

hätte. Hab ich aber nicht, er klaut andauernd.“<br />

„Warum macht er das wohl?“, überlege ich laut.<br />

„Einfach weil er es hier tun kann, ohne dass es Konsequenzen<br />

hat. Er ist nämlich nicht gerade raffiniert dabei. Und rechnen<br />

kann er auch nicht beson<strong>der</strong>s gut. Jedenfalls hat er nicht mit<br />

mir gerechnet.“ Lily lacht in einem ansteckend heiteren Ton.<br />

„Und du? Bist du neu in <strong>der</strong> Gegend o<strong>der</strong> warum seh ich dich<br />

dauernd hier herumlungern?“<br />

„Ich verbringe die Sommerferien hier bei meiner Tante. Ich<br />

wohne gleich in dem Haus da drüben.“ Ich deute mit dem Kinn<br />

die Richtung an.<br />

„Olivias Nichte?“ Lilys Gesicht hellt sich auf. „Hey, jetzt wo<br />

du’s sagst, seh ich sogar, dass ihr euch ein bisschen ähnelt. Sie<br />

63


ist supernett, alle hier mögen sie. Sie erzählt immer haufenweise<br />

lustige Geschichten, die sie mit den Tieren erlebt. Ich arbeite<br />

nur in den Ferien hier, zur Taschengeldaufbesserung neben dem<br />

Gymnasium. Es ist abgesehen von solch kleinen Zwischenfällen<br />

ein ganz ruhiger Job.“<br />

„Ist nicht viel los“, bemerke ich und sehe mich im leeren<br />

Laden um.<br />

„<strong>Der</strong> Ansturm kommt immer in Wellen, wie Ebbe und Flut.<br />

Wenn ein Bus mit einer Schulklasse o<strong>der</strong> einer Horde Touristen<br />

ankommt, dann herrscht hier Hochbetrieb. Aber wenn’s ruhig ist,<br />

habe ich genug Zeit, um die zoologischen und sozio logischen<br />

Vorgänge, die sich hier so abspielen, zu studieren und zu<br />

vergleichen. Eins kann ich dir sagen: Menschen und Tiere<br />

sind in ihren Verhaltensweisen evolutionär doch nicht so weit<br />

voneinan<strong>der</strong> entfernt, wie man es uns in Biologie und Geschichte<br />

in <strong>der</strong> Schule verklickern will.“<br />

Ich sehe sie fragend an.<br />

„Schau dich nur mal um. Du kannst genau feststellen,<br />

welchen Grundbedürfnissen sie unterliegen. Siehst du die<br />

beiden plärrenden Kin<strong>der</strong> da? Sie streiten sich um Kekse. Das<br />

sind sicher Geschwister, und was da abläuft, ist <strong>der</strong> typische<br />

Futterneid, den man in freier Wildbahn auch bei jungen Wölfen<br />

beobachten kann. Die Rangordnung und somit die gesellschaftliche<br />

Stellung wird so schon vor <strong>der</strong> Pubertät festgelegt.“<br />

Ich betrachte die Szene genauer. „Stimmt wohl.“ Ich staune.<br />

„Aber es sieht so aus, als würde <strong>der</strong> Kleinere gewinnen. Bei den<br />

Wölfen wäre das wohl nicht <strong>der</strong> Fall.“<br />

„Nicht unbedingt“, entgegnet Lily. „Es gewinnt immer <strong>der</strong><br />

Stärkere. <strong>Der</strong>jenige, <strong>der</strong> sich irgendwie einen Vorteil verschaffen<br />

kann, hat die besseren Überlebenschancen. Dabei spielt alles<br />

64


eine Rolle, Größe, Kraft, Ausdauer, aber auch Intelligenz, List<br />

und Erfahrung.“<br />

Ich nicke stumm und betrachte Lily mit einer Mischung<br />

aus Bewun<strong>der</strong>ung und Interesse von <strong>der</strong> Seite. Sie ist ziemlich<br />

schlau und offensichtlich eine gute Beobachterin. Könnte gut<br />

sein, dass sie Jonathan kennt. Kann ich es wagen und Lily jetzt<br />

schon nach ihm fragen? Nein, besser nicht, schließlich haben<br />

wir uns eben erst kennengelernt, ich werde damit lieber noch<br />

etwas warten. Gut möglich, dass sie sogar befreundet sind.<br />

Vielleicht ist er sogar ihr Freund, sie scheinen ungefähr im<br />

selben Alter zu sein.<br />

Stattdessen verlasse ich den Laden und schlen<strong>der</strong>e mit<br />

Lilys Buch in <strong>der</strong> Hand weiter, den Weg entlang zum Terrarium<br />

empor. Ein ganz schön mickriges Teil, dieses Buch, denke<br />

ich enttäuscht. Nach kurzem Durchblättern habe ich bereits<br />

gesehen, dass es nur aus kurzen, gedichtartigen Texten besteht.<br />

Nicht gerade eine abendfüllende Story, aber ich habe nicht<br />

unhöflich sein wollen, und ö<strong>der</strong> als die billigen Schundromane<br />

kann es auch nicht sein.<br />

Scheinbar desinteressiert halte ich den Kopf gesenkt, aber<br />

meine Augen spähen wachsam suchend die Gegend nach<br />

Jonathan ab. Immer noch keine Spur von ihm.<br />

Am Terrarium angekommen, sehe ich mich um. Alle guten<br />

Plätze unter den ausladenden Blättern scheinen belegt zu sein.<br />

Auch ein wenig weiter hinten ist alles mit Besuchern überfüllt,<br />

die sich mit einem Picknick und einer Schar lärmen<strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong> ein großes Revier des Tropenparadieses gesichert haben.<br />

Verdammt, fluche ich innerlich, ich bin wie<strong>der</strong> einmal zu spät<br />

dran. Ich schaue mich weiter suchend um. Am Eingang zum<br />

Terrarium fällt mir plötzlich eine Tür auf, die mit Zutritt nur<br />

65


für Personal beschriftet ist. Ich überlege, ob ich nicht eigentlich<br />

auch zum Personal zähle. Was soll’s, ich suche ja nur einen<br />

ruhigeren Platz. Vielleicht ist es auch eine Abkürzung zum<br />

Hauptgebäude zurück.<br />

Vorsichtig öffne ich die Tür und stehe zu meinem Erstaunen<br />

in einem kleinen, lauschigen Innenhof mit einem Baum und<br />

einer kleinen Sitzbank darunter. Na, wer sagt’s denn? Schnell<br />

schließe ich die Tür hinter mir und augenblicklich befinde ich<br />

mich jenseits des Trubels, <strong>der</strong> Hektik und <strong>der</strong> Geschäftigkeit des<br />

Tierparkbetriebs. Wow, meine eigene Ferieninsel. Ich setze mich<br />

mit dem Buch auf die kleine Bank in den Schatten. Jetzt fehlen<br />

nur noch das Kissen und ein großes Sandwich, aber morgen<br />

werde ich auch diese Details meiner ansonsten perfekten<br />

Ent deckung optimiert haben.<br />

Entspannt schlage ich das Buch auf und lese die erste Seite,<br />

dort, wo sonst die Widmungen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Kalen<strong>der</strong>sprüche<br />

notiert sind.<br />

Hier ist <strong>der</strong> Schlüssel zum Versteck all <strong>der</strong> kostbaren Momente,<br />

die ich insgeheim für dich gespart und aufbewahrt habe. Ich<br />

träume davon, wie sie eines Tages ihren Weg ans Licht finden<br />

werden, damit du sie so erleben kannst, wie ich sie mir für uns<br />

beide ausgedacht habe. Meine Liebe währt immerfort.<br />

In ewig dein, R. D.<br />

Wie schnulzig ist das denn? Erneut lese ich die Zeilen.<br />

Kostbare Momente, Schlüssel zum Versteck, immerwährende<br />

Liebe – das klingt ja doch nach bittersüß tragischem Liebesgesülze.<br />

Hat Lily nicht gesagt, es sei ein faszinierendes Buch? Die<br />

Geschmäcker sind halt verschieden.<br />

66


Ich blättere die Seite um, doch als ich mit Lesen beginnen<br />

will, weht <strong>der</strong> Wind die Seite wie<strong>der</strong> zurück, sodass ich die<br />

Zeilen nochmal überfliege.<br />

… in ewig dein, R. D.<br />

Das ist mir vorhin nicht aufgefallen. Meine Initialen sind<br />

genau dieselben wie die <strong>der</strong> Autorin Romilda Darkling. R. D.<br />

für Rosalie Deville. Ich benutze sie, um meine Artikel für die<br />

Schüler zeitung zu unterzeichnen. Sophie hat mich einmal<br />

gefragt, warum ich das tue, mein Name sei doch wun<strong>der</strong>bar<br />

selbstredend und äußerst treffend für ein Großstadtkind. Allerdings<br />

meinte sie nach kurzem Überlegen auch, sie würde, wenn<br />

es ihr Name wäre, das le am Ende weglassen, dann hieße es<br />

Rosalie Devil, das englische Wort für Teufel.<br />

Später schickte sie mir den Link einer Internetseite mit dem<br />

Namen Nomen est Omen. Dort stand: <strong>Der</strong> Name jedes Menschen<br />

ist zutiefst mit seinem seelischen Wesen und seinem Schicksal<br />

verbunden. Er ist, wie das Leben, ein Geschenk seiner Eltern<br />

und Vorfahren und zeigt deutlich Aufgabe und Auftrag in dieser<br />

Welt.<br />

Ich hatte mich nur kurz mit diesem Thema befasst, aber dieser<br />

Satz hat sich mir eingeprägt.<br />

Ich beschließe, trotzdem weiterzulesen. Die Einleitung ist<br />

etwas kitschig, aber vielleicht ist sie nur <strong>der</strong> Ausbruch einer<br />

zutiefst verletzten Seele, die sich an einen mystischen Gedanken<br />

klammert, in <strong>der</strong> Hoffnung auf Erlösung und Unsterblichkeit.<br />

Natürlich passt das in dieser Kombination nicht wirklich zusammen,<br />

überdenke ich meinen letzten Gedankengang. Erlösung ist<br />

ja letztlich <strong>der</strong> Tod. Die Unsterblichkeit hingegen dichtet man<br />

eher den Vampiren und Zombies an. Aber hier geht es wohl um<br />

die Unsterblichkeit <strong>der</strong> Seele und <strong>der</strong> Erinnerung an die Person.<br />

67


Jedenfalls ist R. D. in diesem Buch verewigt, und das ist mehr,<br />

als von den meisten Seelen dieser Welt übrig bleibt.<br />

Ich versuche, diesen Gedanken wegzublättern, und fahre mit<br />

dem Lesen fort.<br />

Die Gedanken<br />

Meine Gedanken sind in ständiger Unordnung.<br />

Manchmal schweifen sie einfach ab<br />

o<strong>der</strong> machen sich selbstständig.<br />

Oft suche ich nach dem beson<strong>der</strong>en Gedankenblitz<br />

und genauso oft verliere ich meine Gedanken.<br />

In Gedanken schlafe ich ein,<br />

weil sie dann bei mir sind, wenn ich meine Ruhe haben möchte.<br />

Es erfor<strong>der</strong>t höchste Konzentration,<br />

die Gedanken zu bündeln, zu interpretieren,<br />

und manchmal lassen sie sich einfach nicht bändigen.<br />

Es ist schwer, die Gedanken an<strong>der</strong>er zu verstehen,<br />

es ist unmöglich, sie zu lesen.<br />

Es erfor<strong>der</strong>t Geschick, zwei Gedanken in Einklang zu bringen.<br />

Es ist so viel Arbeit, sie in Ordnung zu halten.<br />

Joel<br />

„Ich muss aufs Klo“, drängt Julie. „Dringend.“<br />

„Hier ist keins“, antworte ich. Mädchen. Immer im ungünstigsten<br />

Moment müssen sie aufs Klo.<br />

„Vielleicht ist da eins drin?“, quengelt sie weiter.<br />

68


„Glaub ich kaum. Hier steht Zutritt nur für Personal.“<br />

„Eine Toilette nur für Personal. Bitte schau nach, Joel.“<br />

„Schau doch selbst“, antworte ich genervt.<br />

„Ich trau mich nicht. Was ist, wenn jemand drin ist?“<br />

„Dann wird er dir sagen, dass du keinen Zutritt hast, was<br />

sonst? Es wird dich schon keiner verhaften, deswegen.“<br />

„Ich trau mich nicht. Mach du es.“<br />

Ich stöhne und verdrehe die Augen. Mädchen sind ja solche<br />

Nervensägen. Also bitte. Ich schiebe sie zur Seite und öffne die<br />

Tür einen Spalt weit.<br />

Hinter <strong>der</strong> Tür ist ein sonniger Innenhof mit einem kleinen<br />

Rasenplatz in <strong>der</strong> Mitte. Unter einem alten Baum in <strong>der</strong> Mitte<br />

steht eine Holzbank, auf <strong>der</strong> eine feenhafte Gestalt sitzt und ein<br />

Buch liest. Das Sonnenlicht fällt durch die Blätter des Baums<br />

auf ihr rot schimmerndes Haar und helle Lichtflecken tanzen<br />

über ihr Gesicht. Sie ist ganz in ihre Gedanken vertieft und sieht<br />

unbeschreiblich schön aus.<br />

„Was ist?“, drängt Julie.<br />

Schnell und lautlos schließe ich die Tür wie<strong>der</strong>.<br />

„Kein Klo“, sage ich. „Und es ist jemand drin.“<br />

„Mist“, mault Julie.<br />

Ja, Mist, denke ich. Das wäre <strong>der</strong> perfekte Ort für ein Treffen<br />

gewesen.<br />

69


Das Gleichgewicht <strong>der</strong> Kräfte<br />

Lily<br />

Gedankenversunken räume ich den Zeitungsstän<strong>der</strong> auf und<br />

entferne die im Verlauf des Tages veralteten Zeitungen. Automatisch<br />

nehme ich eine davon zur Hand und blättere ein paar<br />

Seiten durch, aber in Gedanken schweife ich zurück zu diesem<br />

Mädchen. Die Kleine ist irgendwie cool. Sie ist bestimmt ein<br />

o<strong>der</strong> zwei Jahre jünger als ich, aber trotzdem war die kurze<br />

Unterhaltung mit ihr spannend und erstaunlich direkt. Es<br />

braucht ziemlichen Mut, jemanden zur Rede zu stellen, von dem<br />

man denkt, er o<strong>der</strong> sie habe sich nicht korrekt verhalten. Ich<br />

weiß das aus eigener Erfahrung, ich bin da etwas indirekter.<br />

Das ist wohl eine übertrieben harmlose Umschreibung dessen,<br />

wie ich es für gewöhnlich handhabe, das weiß ich selbst. Ich<br />

bringe mich dauernd in Schwierigkeiten damit. Was aber<br />

kann ich dafür, dass ich immer in solch unlösbar verworrene<br />

Geschichten verstrickt werde wie die mit dem fiesen Jungen?<br />

70


Lei<strong>der</strong> ist das nur eines von vielen Beispielen. Meine Mutter<br />

schüttelte immer den Kopf, wenn sie sich früher in <strong>der</strong> Unterstufe<br />

bei den Müttern meiner Klassenkameraden entschuldigen<br />

musste, weil ich jemandem mal wie<strong>der</strong> die Luft aus dem Fahrrad<br />

gelassen o<strong>der</strong> die Klei<strong>der</strong> nach dem Sportunterricht versteckt<br />

hatte. Damals war ich meistens uneinsichtig.<br />

„<strong>Der</strong> hat es doch verdient“, erklärte ich ihr dann trotzig. „Ich<br />

hab selbst gesehen, wie Tom dem Drittklässler aufgelauert ist<br />

und ihm sein ganzes Taschengeld abgenommen hat!“<br />

„Das ist aber nicht dein Problem“, entgegnete meine Mutter<br />

immer. Es kam zu oft heftigen Auseinan<strong>der</strong>setzungen mit den<br />

Eltern, den Lehrern und auch den Mitschülern. Über die Jahre<br />

habe ich mir den zweifelhaften Ruf eines weiblichen Robin Hoods<br />

zugelegt. So wurde ich von den vermeintlich starken Mit schülern<br />

gehasst und gefürchtet, zog aber dafür einen Rattenschwanz<br />

von Schwächlingen hinter mir her, die an<strong>der</strong>e bei mir verpetzten,<br />

damit ich es denen heimzahlte. Anfangs half ich ihnen, aber da es<br />

ausnahmslos immer an mir hängen blieb, die Sache auszu baden,<br />

hielt ich mich irgendwann von beiden Lagern so gut es ging<br />

fern, was bedeutete, dass ich nicht gerade einen Überschuss an<br />

Freunden hatte. Aber ich war nicht betrübt darüber. Ich verstehe<br />

mich seither bestens aufs Beobachten und Einschätzen von<br />

Situationen und ich hatte eine Menge Zeit zum Lesen. Das<br />

verschafft mir gute Noten in <strong>der</strong> Schule und den Überblick<br />

über die sozialen Zusammenhänge und Verstrickungen meiner<br />

Mitschüler, was ich oft zu meinem Vorteil nutzen kann.<br />

Als Letztes vergleiche ich die eingetippten Beträge mit dem<br />

Inhalt <strong>der</strong> Kasse und stecke den überschüssigen Zehner ohne die<br />

Spur eines schlechten Gewissens ein. Schließlich habe ich schon<br />

zu oft Tadel eingesteckt, wenn die Kasse am Ende <strong>der</strong> Woche<br />

71


nicht mit <strong>der</strong> Inventurliste übereinstimmte. Es ist alles nur eine<br />

Frage des Gleichgewichts. Gerechtigkeit muss man sich eben<br />

erkämpfen, die gibt’s nirgends umsonst.<br />

Rosalie<br />

Inzwischen habe ich mir angewöhnt, meine Zeit draußen zu<br />

verbringen. In Paris hatte ich dazu bislang wenig Gelegenheit.<br />

Meistens hänge ich bei Lily im Laden herum o<strong>der</strong> schlen<strong>der</strong>e<br />

durch das Tierparkgelände, um nach Jonathan Ausschau zu<br />

halten, <strong>der</strong> mysteriöserweise wie vom Erdboden verschluckt zu<br />

sein scheint.<br />

Heute aber habe ich fast den ganzen Nachmittag in <strong>der</strong> Scheune<br />

verbracht. Es gibt so vieles zu entdecken. Ich liebe es, in den<br />

alten Kisten zu stöbern. Im hinteren Teil <strong>der</strong> Scheune habe ich<br />

mir bereits einen gemütlichen Platz eingerichtet, gut verborgen<br />

hinter dem alten Karussell und dem großen Bücherschrank. Ein<br />

alter, etwas zerschlissener roter Teppich dämmt das Knarren des<br />

zerfurchten Holzbodens und ermöglicht es mir, auf dem Boden<br />

zu sitzen, denn die wenigen vorhandenen Stühle sind allesamt<br />

entwe<strong>der</strong> rostig o<strong>der</strong> die Stuhlbeine sind nicht mehr vollzählig.<br />

Vor kurzem entdeckte ich einen intakten Gasofen, den ich<br />

ohne Weiteres zum Laufen bringen konnte. Dank diesem kann<br />

ich nun die halbe Nacht hier verbringen, das heißt, ich muss<br />

spätestens um elf im Haus sein, weil Olivia sich sonst Sorgen<br />

macht, aber das ist okay. Ich bin an strengere Regeln gewöhnt.<br />

Alles wäre perfekt, bis auf die Tatsache, dass Jonathan nie<br />

wie<strong>der</strong> aufgetaucht ist. Ich bin mir sicher, dass auch er oft<br />

72


hier herumstöbert. Er wollte doch demnächst wie<strong>der</strong>kommen.<br />

So habe ich ihn zumindest verstanden. Vielleicht haben wir<br />

uns immer verpasst. Um das zu prüfen, habe ich ein paar Mal<br />

irgendwelche Gegenstände so hingelegt, dass ich tags darauf<br />

sehen würde, ob sie bewegt o<strong>der</strong> sogar entfernt worden sind. Ich<br />

konnte jedoch nie etwas Eindeutiges feststellen, was ent we<strong>der</strong><br />

an meinem fahrigen Gedächtnis liegt o<strong>der</strong> eben daran, dass<br />

niemand hier gewesen ist. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht<br />

los, dass ich nicht die Einzige bin, die sich hier aufhält.<br />

Die Eule draußen in den Baumwipfeln beginnt mit ihren<br />

abendlichen Rufen. Ich versuche noch immer, das Aufkommen<br />

einer Gänsehaut bei diesem Schuhuen zu unterdrücken. Vielleicht<br />

spukt es hier wirklich.<br />

„Sei nicht kindisch“, sage ich tonlos in die Stille und es hört<br />

sich an wie das Flüstern einer längst verstorbenen Seele aus<br />

dem Jenseits.<br />

Kaum bin ich zurück beim Haus angelangt, bemerke ich, dass<br />

ich Lilys Buch in <strong>der</strong> Scheune vergessen habe. Mist, muss ich<br />

denn immer alles verlegen? Es ist ganz schön unheimlich, wenn<br />

es dämmert, aber ich will auch nicht das Buch herumliegen lassen,<br />

es könnte geklaut werden und dann hätte ich Zoff mit Lily.<br />

Das Tor ist noch einen Spalt offen, wie ich es verlassen habe.<br />

Ich mache kein Licht an und so sehe ich sofort, dass <strong>der</strong> Gasofen<br />

noch brennt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich ihn ausgemacht<br />

habe, bevor ich ging. O<strong>der</strong> doch nicht?<br />

„Hallo?“, rufe ich zögerlich in die Stille. „Ist da jemand?“<br />

Jonathan würde sich doch zeigen, wenn er hier wäre. Aber es<br />

antwortet niemand.<br />

Ich erschrecke, als plötzlich mein Handy klingelt. Es ist<br />

Sophie, stelle ich erleichtert fest.<br />

73


„Salut, Sophie“, grüße ich sie erleichtert, „ich bin gerade<br />

draußen in <strong>der</strong> Scheune und ich glaube, hier spukt’s. Ich hab’s<br />

mir am Nachmittag etwas gemütlich gemacht, damit ich in Ruhe<br />

lesen kann. Dummerweise hatte ich mein Buch vergessen. Jetzt,<br />

wo ich’s holen will, sehe ich, dass <strong>der</strong> Ofen brennt, dabei habe<br />

ich ihn ganz sicher ausgemacht. Ja, ich bin sicher … Ziemlich<br />

sicher … Nein, ich bilde mir das nicht ein … Natürlich gibt es<br />

keine Geister, das weiß ich doch auch, aber wir leben hier total<br />

abgelegen … Du hast ja keine Ahnung … Bleibst du bitte noch<br />

dran, bis ich wie<strong>der</strong> im Haus bin?“<br />

Sorgfältig lösche ich den Ofen und mache mich mit Lilys<br />

Buch in <strong>der</strong> Hand und Sofies Stimme im Ohr davon.<br />

Romilda<br />

Es ist <strong>der</strong> schönste und <strong>der</strong> traurigste Tag in meinem bisherigen<br />

Leben. Natürlich habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als<br />

endlich Vincents Antrag zu erhalten. Wie es sich gehört, hat er<br />

bei meinen Eltern vorgesprochen und meinen Vater mit Honig im<br />

Bart und meine Mutter mit einer glitzernden Halskette um den<br />

Hals in grenzenloser Hochstimmung zurückgelassen. <strong>Der</strong> Ring<br />

allein könnte meine Zukunft über einige Jahre absichern,<br />

aber nun ist auch mein Ansehen gerettet, und mit ihm das<br />

meiner Familie. Trotzdem ist mein Herz schwer. Mein armer<br />

Jonathan wird nun mein Pferd mit ebensolcher Hingabe versorgen<br />

müssen, wie er mich versorgt weiß. Ich hoffe, dass er <strong>der</strong> Eifersucht<br />

und dem Neid trotzen und sich mit <strong>der</strong> Sicherheit unserer<br />

bei<strong>der</strong> Existenzen trösten kann.<br />

74


Es bleibt mir ein letzter schwerer Schritt zu tun. Ich muss<br />

Vincent zu einem vorehelichen Liebesakt verführen und<br />

hoffen, dass er danach nicht so genau rechnet wie meine Mutter,<br />

wenn sie erfährt, dass die Tatsache meiner spontan erfolgten<br />

Empfängnis den Termin für die Hochzeit vor die Ankunft ihrer<br />

Schwester legt.<br />

Vincent<br />

„Du bereust doch nicht, was wir getan haben?“<br />

„Warum sollte ich, Liebste?“, frage ich anstelle einer Antwort.<br />

„Glaubst du, ich würde meinen Entschluss, dich zu ehelichen,<br />

dadurch än<strong>der</strong>n?“<br />

„Um Himmels willen“, stößt Romilda hervor. „Damit hättest<br />

du nicht nur meinen Ruf, son<strong>der</strong>n auch mein Seelenheil auf dem<br />

Gewissen.“<br />

„Das kann ich auf keinen Fall verantworten“, erwi<strong>der</strong>e ich<br />

lachend.<br />

Natürlich weiß ich genau, was ich soeben getan habe. Ich<br />

habe mit diesem Akt ihren Ruf nicht ruiniert, son<strong>der</strong>n erst<br />

gerettet. Und meinen noch dazu, um ehrlich zu sein. Die<br />

Leute werden sich ohnehin das Maul zerreißen, aber sie<br />

werden es tolerieren, o<strong>der</strong> besser noch, bald vergessen haben, da<br />

es in das übliche enge Zeitraster zwischen Hochzeit und Nie<strong>der</strong>kunft<br />

passt. Ich werde ihr dieses Hochzeitsgeschenk bereitwillig<br />

machen und den erfreut Überraschten mimen, wenn sie mich<br />

in etwa einem Monat davon in Kenntnis setzen wird. Ich werde<br />

es tun, weil ich sie gern habe und weil ich Jonathan liebe. Und<br />

75


das ist mein Geheimnis, welches ich schützen werde, ebenso wie<br />

die Familie, die wir künftig sein werden und welche nun bis in<br />

alle Ewigkeit besiegelt ist, o<strong>der</strong> jedenfalls so lange, wie wir uns<br />

einan<strong>der</strong> unsere kleinen Geheimnisse zugestehen werden.<br />

Rosalie<br />

Heute Morgen ist Max bereits weg und ich finde zur<br />

Abwechslung Olivia beim Frühstück vor. Da Max und ich<br />

meist keine Lust zu einem längeren Austausch von Worten in<br />

zusammenhängen<strong>der</strong> Reihenfolge haben, beschränkt sich<br />

unsere Unterhaltung meistens auf: „Morgen“ – „Salut“ – „Alles<br />

klar?“ – „Bestens.“<br />

Damit ist das Wichtigste gesagt und ich kann mich mit einem<br />

Toast und einem Joghurt bestückt an einer Ecke des Küchentischs<br />

in ein Buch vertiefen.<br />

Olivia aber beginnt ohne Umschweife einen ausgedehnten<br />

Monolog, <strong>der</strong> es mir verunmöglicht, mich auf das neue Buch zu<br />

konzentrieren. Ich versuche, meine Tante mit einsilbigen Antworten<br />

dazu zu bringen, das Thema zu verkürzen, aber das scheint sie<br />

nicht im Geringsten zu irritieren. Ich seufze und klappe demonstrativ<br />

das Buch zu, während ich den Brief, den ich in <strong>der</strong> Scheune<br />

gefunden habe, als Buchzeichen zwischen die Seiten lege.<br />

„Oh, du hast Post bekommen?“, ruft Olivia aus und freut sich<br />

über ein neues Thema.<br />

„Nein, heutzutage schreibt doch niemand mehr Briefe“, entfährt<br />

es mir unbedacht. „Falls es dir entgangen ist, wir befinden<br />

uns im Zeitalter <strong>der</strong> elektronischen Botschaften.“<br />

76


„Das finde ich schade“, entgegnet Olivia. „Ich finde, die<br />

Handschrift eines Menschen zeigt uns einen großen Teil seines<br />

Charakters. Du kannst viel herauslesen, zum Beispiel, ob jemand<br />

großzügig ist, wenn er mit großen Anfangsbuchstaben und<br />

Bögen …“<br />

Ich hänge bereits wie<strong>der</strong> meinen eigenen Gedanken nach.<br />

Mir ist gerade klar geworden, dass es mir bisher nicht einmal<br />

entfernt in den Sinn gekommen ist, den Brief zu lesen, seit ich<br />

ihn eingesteckt habe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich<br />

je einen handschriftlichen Brief bekommen habe, seit jeher bin<br />

ich auf das Blinken des E-Mail-Symbols konditioniert, wenn es<br />

um Nachrichten geht. Nun ist Olivia neugierig auf diesen Brief.<br />

Warum habe ich ihr auch gleich verraten, dass <strong>der</strong> Brief nicht an<br />

mich gerichtet ist? Was soll ich jetzt sagen, wo ich ihn herhabe?<br />

Ich will auf keinen Fall, dass sie erfährt, dass ich in <strong>der</strong> alten<br />

Scheune herumgestöbert habe.<br />

„… und ich wäre froh, wenn du mir damit heute helfen<br />

könntest“, beendet Olivia plötzlich ihren Monolog.<br />

Helfen? Wobei denn, überlege ich angestrengt.<br />

„Kein Problem“, antworte ich schnell und mustere den<br />

Küchentisch. Es geht sicher darum, die Küche aufzuräumen, und<br />

das befreit mich von <strong>der</strong> Verlegenheit, nach einer Erklärung für<br />

den Brief zu suchen.<br />

„Also gut“, sagt Olivia erleichtert, „dann ziehst du am besten<br />

die ältesten Klamotten an, irgendwas, das nicht zu schade ist,<br />

und ich warte am Eingang des Geheges auf dich.“<br />

„Welchem Gehege?“ Ich bin zu verwirrt, um zu überspielen,<br />

dass ich keine Ahnung habe, wovon die Rede ist.<br />

„Vor dem <strong>der</strong> Pinguine natürlich.“ Olivia schüttelt ver wun<strong>der</strong>t<br />

den Kopf.<br />

77


Einen kurzen Moment später zwänge ich mich in ein paar<br />

schon etwas zu kurze Jeans. Das ist das Älteste, was ich dabeihabe.<br />

Es waren vor kurzem meine Lieblingsjeans, aber ich muss<br />

zugeben, dass sie mir inzwischen nicht mehr optimal passen.<br />

Was soll’s, den Pinguinen wird’s nicht auffallen. Ich suche nach<br />

einem Haargummi in meiner Tasche und binde meine Haare<br />

prophylaktisch zu einem Pferdeschwanz zusammen. Missmutig<br />

betrachte ich mich im Spiegel. Jetzt ist es also so weit. Ich bin<br />

zu einem Gretchen mutiert. Wenn ich nur richtig zugehört hätte,<br />

dann wäre mir sicher eine Ausrede in den Sinn gekommen. Was<br />

soll’s, sie wird mir sicher nichts allzu Schwieriges aufbrummen.<br />

Lilys Buch werde ich unter meinem Kopfkissen verstecken.<br />

Irgendwie kommt es mir vor wie ein Tagebuch. Ich will nicht,<br />

dass jemand an<strong>der</strong>es darin liest, was natürlich albern ist, da es<br />

ja Lilys Buch ist und außerdem kein richtiges Tagebuch. Ein<br />

Buch, das schon viele vor mir gelesen haben, aber trotzdem. Die<br />

Widmung mit den Initialen hat mich seltsam in seinen Bann<br />

gezogen und das Kapitel über die Gedanken ebenso.<br />

Doch bevor ich das Kissen darauf platziere, erinnere ich mich<br />

wie<strong>der</strong> an den Brief. Ich öffne den Umschlag und nehme ihn<br />

und die Fotografie heraus. Vor Staunen bleibt mir <strong>der</strong> Mund<br />

offen. Auf dem Foto sind zwei junge Männer abgebildet. <strong>Der</strong><br />

eine neben dem Pferd kommt mir bekannt vor. Neugierig drehe<br />

ich das Foto um und versuche die altertümliche Handschrift zu<br />

entziffern: Jonathan Marsen, Vincent Berchtold.<br />

Mein Herz bleibt beinahe stehen vor Entsetzen. Es kann<br />

unmöglich sein, dass <strong>der</strong> Junge, dem ich in <strong>der</strong> Scheune<br />

begegnet bin, auf einer Fotografie abgebildet ist, die wahrscheinlich<br />

anfangs des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts aufgenommen worden<br />

ist. Zittrig falte ich den Brief auseinan<strong>der</strong> und sehe enttäuscht,<br />

78


dass die Handschrift so alt und krakelig ist, dass ich kaum ein<br />

Wort entziffern kann. Vorsichtig stecke ich beides zurück in den<br />

Umschlag und schiebe ihn unter das Kissen zurück, wo bereits<br />

das Buch liegt. Mein Herz schlägt wie wild. Ich versuche, ruhig<br />

zu atmen. Wie ist das alles zu erklären?<br />

Olivia ist nicht vor dem Pinguingehege, als ich ankomme. Also<br />

gehe ich durch den Eingang und finde sie hinter <strong>der</strong> Absperrung<br />

auf einem Felsen sitzend und Fische ins Wasser werfend. Wenig<br />

motiviert winke und rufe ich gegen das Geschnatter an. Olivia<br />

schaut kurz auf und deutet mit einem Fisch in <strong>der</strong> Hand auf das<br />

gegenüberliegende Ende des Geheges. Ich gehe an <strong>der</strong> Mauer<br />

entlang Richtung Tor und sie lässt mich ein.<br />

„Wun<strong>der</strong>bar“, freut sie sich. „Pinguine, hört einen Moment<br />

zu! Das ist Rosalie, sie wird sich heute um euch kümmern,<br />

euern Fels abspritzen und das Wasserbecken schrubben. Ihr seid<br />

bitte so lange artig und macht keinen Blödsinn. Es wird nicht<br />

gespritzt o<strong>der</strong> geschubst! Wenn ich irgendwelche Klagen höre,<br />

gibt’s eine Woche lang keinen Lebertran mehr, habt ihr das alle<br />

verstanden? Henry, du auch?“<br />

Ein wenig angewi<strong>der</strong>t verziehe ich das Gesicht und sehe<br />

verwun<strong>der</strong>t, wie <strong>der</strong> Pinguin, den Olivia mit Henry angesprochen<br />

hat, seinen Schnabel mit dem Flügel reibt, als wäre es ihm<br />

peinlich. Wäre mir auch unangenehm, wenn ich stinken würde<br />

wie ein gammeliger Hering, denke ich wenig amüsiert. Dass sie<br />

das wirklich durchzieht mit dieser Ansprache. Entwe<strong>der</strong> denkt<br />

sie, ich sei komplett naiv und nehme ihr dieses Theater ab, o<strong>der</strong><br />

sie glaubt, es sei witzig.<br />

Ich lächle matt, denn im Moment beschäftigt mich ein ganz<br />

an<strong>der</strong>es Thema.<br />

79


„Ich bin sicher, du wirst keine Schwierigkeiten mit ihnen<br />

haben“, fährt Olivia gutgelaunt fort, „sie lieben Lebertran über<br />

alles, das werden sie bestimmt nicht aufs Spiel setzen.“<br />

„Du nimmst mich auf den Arm“, sage ich skeptisch.<br />

„Natürlich nicht“, versichert Olivia in leicht entrüstetem Ton.<br />

„Die wissen, dass ich keine leeren Drohungen ausspreche.“<br />

Ich sehe sie konsterniert an, aber sie drückt mir bereits den<br />

Schlauch und einen Schrubber in die Hand und macht Anstalten<br />

zu verschwinden. Langsam zweifle ich nicht mehr, dass sie einen<br />

leichten Hick hat. Jedenfalls hat Maman das immer behauptet.<br />

„Wenn ich fertig bin …“, fange ich an.<br />

„Da mach dir keine Sorgen. Ich werde ganz sicher schon<br />

vorher wie<strong>der</strong> zurück sein“, prophezeit Olivia. „Du wirst hier<br />

eine ganze Weile beschäftigt sein, glaub mir.“<br />

Damit hat sie natürlich Recht. Pinguindreck ist furchtbar<br />

hartnäckig und stinkt wie die Pest. Ich fange da an, wo ich<br />

stehe, und arbeite mich langsam in Richtung des großen Felsens<br />

in <strong>der</strong> Mitte vor. Schon kurz darauf bin ich völlig erschöpft. Es<br />

ist wi<strong>der</strong>lich und grenzt an Sklavenarbeit. Erst einmal mache<br />

ich Pause. Ich hole das Eulenamulett hervor, um zu sehen, wie<br />

spät es ist. Oh nein, heute wird es nichts mehr mit einem Besuch<br />

bei Lily. Das kann ich wohl knicken.<br />

„Wäre es nicht sinnvoller, du würdest erst einmal ganz oben<br />

beginnen?“, höre ich eine Stimme vom Besucherfelsen her herüberrufen.<br />

Überrascht sehe ich mich um und erstarre. Jonathan<br />

steht auf <strong>der</strong> Mauer gegenüber und schaut mir amüsiert bei <strong>der</strong><br />

Putzaktion zu. Völlig aus dem Konzept gebracht, entgleitet mir<br />

<strong>der</strong> Schlauch und spritzt unkontrolliert in sämtliche Himmelsrichtungen.<br />

Auch Jonathan bekommt eine kurze Dusche ab,<br />

bevor ich den Schlauch endlich zu fassen bekomme. Als wir<br />

80


uns beide triefend gegenüberstehen, bereue ich augenblicklich<br />

die zu kurzen Jeans und den alten Pulli, <strong>der</strong> mir nass über die<br />

Schulter hängt. Beruhigen<strong>der</strong>weise sieht Jonathan auch eher<br />

aus wie frisch geschlüpft als wie frisch aus dem Ei gepellt.<br />

„Hast du mich erschreckt“, keuche ich völlig außer Atem.<br />

„Tut mir leid, das soll nicht zur Gewohnheit werden.“ Er<br />

schüttelt seine nassen Stirnfransen und schneidet dabei eine<br />

Grimasse. „Darf ich dir einen gut gemeinten Tipp geben?“<br />

„Nur zu“, erwi<strong>der</strong>e ich knapp.<br />

„Fang doch zuoberst mit dem Reinigen an, sonst machst du<br />

unten gleich alles wie<strong>der</strong> voller Dreck.“<br />

„Wirklich“, erwi<strong>der</strong>e ich misslaunig, „glaub mir, egal wo ich<br />

anfange, sobald ich fertig bin und mich umdrehe, haben die<br />

Pinguine hinter mir schon wie<strong>der</strong> alles verwüstet. Damit werde<br />

ich in diesem Leben garantiert nicht mehr fertig!“ Entmutigt<br />

schaue ich auf den scheinbar aus dem Boden wachsenden Felsen,<br />

<strong>der</strong> sich einem Berg gleich vor mir auftürmt.<br />

„Ach, komm schon.“ Jonathan lacht unbeschwert. „Ich<br />

glaube, du machst das viel zu umständlich. Du musst mehr<br />

Wasser nehmen, um das Ganze richtig aufzuweichen, und dann<br />

erst schrubben. Lass mich dir helfen.“<br />

Leichtfüßig springt er auf die Mauer, balanciert ein paar<br />

Schritte in meine Richtung und hüpft wie eine Raubkatze in<br />

einem Satz auf den Vorsprung des Pinguinfelsens. Ich bin baff<br />

und starre ihn an, als wäre er gerade einem Ufo entstiegen.<br />

Jonathan nimmt mir den Schrubber ab, zieht mich hoch auf<br />

den obersten Punkt des Felsens und weist mich an, mit dem<br />

Schlauch dieses Stück zu bearbeiten. Währenddessen macht<br />

er sich mit dem Schrubber an die Arbeit. Es dauert nicht allzu<br />

lange und <strong>der</strong> Fels ist blanker als ein Bachkiesel.<br />

81


Während wir schweigend arbeiten, betrachte ich ihn fortwährend<br />

aus den Augenwinkeln. Sein Haar ist an den Seiten<br />

kurz geschnitten, nur die Stirnfransen sind lang und fallen ihm<br />

immerzu in die Augen und er wischt sie mit dem Handrücken<br />

wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> fort. Ich überlege fieberhaft, ob ich ihn auf<br />

die Fotografie und den Brief ansprechen soll, aber ich habe<br />

keine Ahnung, wie ich es einfädeln könnte, dass es nicht<br />

komplett durchgeknallt klingt.<br />

Ich habe keine Ahnung, wie lange wir schon zusammen auf<br />

diesem Felsen stehen. Die Zeit scheint nicht mehr zu existieren.<br />

Ich krame die Kette unter meinem Pulli hervor, klappe die<br />

Eulenflügel beiseite und werfe einen kurzen Blick auf das<br />

Zifferblatt.<br />

„Ich muss jetzt los“, sagt Jonathan abrupt und ohne eine<br />

lange Erklärung. Er schaut mich kurz unter seinen Fransen<br />

hervor an. So sieht es also aus, wenn man die Augen seines<br />

Gegenübers nur angedeutet wahrnimmt. Ich kann nicht einmal<br />

seine Augenfarbe zweifelsfrei erkennen.<br />

„Ja, klar doch“, sage ich. „Danke für deine Hilfe.“<br />

„War mir ein unerwartetes Vergnügen“, entgegnet Jonathan,<br />

und mit einem Satz über die Mauer ist er verschwunden.<br />

Bevor ich mich wun<strong>der</strong>n kann, höre ich Olivias Stimme<br />

hinter mir ertönen. „Du bist ja flink. Ich hätte nie gedacht, dass<br />

du das so schnell und gründlich schaffst“, sagt sie anerkennend.<br />

„Ich hatte ja auch Hilfe“, gebe ich zu, „dein Praktikant hat<br />

mir beim Schrubben geholfen.“<br />

„Welcher Praktikant?“, fragt Olivia erstaunt.<br />

„Jonathan“, erkläre ich. „Er ist groß, gut aussehend, hat<br />

hellbraunes Haar, das ihm andauernd ins Gesicht fällt, und ist<br />

superfreundlich.“<br />

82


„Oh, du meinst <strong>der</strong>, <strong>der</strong> so aussieht, als hätte man ihn gerade<br />

aus einem Hollywoodfilm entführt?“<br />

“Ja genau“, murmle ich verlegen. „Du kennst ihn?“<br />

“Tut mir leid„, fährt Olivia fort, „das klingt nicht nach<br />

einem unseren Praktikanten. Aber vielleicht bin ich auch nicht<br />

mehr ganz so anfällig für den jugendlichen Charme dieser<br />

heranwachsenden Romeos.“<br />

Ich registriere, dass Olivia offenbar nicht über das gesamte<br />

Personal des Tierparks im Bilde ist. Ich bin mir sicher, dass er<br />

ein Praktikant ist, warum hätte er mir sonst beim Putzen helfen<br />

sollen? Wenn er Olivia nicht aufgefallen ist, dann nur, weil sie<br />

sich entwe<strong>der</strong> zu sehr auf ihre Arbeit konzentriert, o<strong>der</strong> einen<br />

absolut fehlfunktionierenden Maßstab ansetzt, was die Klassifizierung<br />

<strong>der</strong> Attraktivität bei Männern angeht. Max ist da keine<br />

gültige Referenz, die das Gegenteil belegt. Er ist ganz passabel<br />

für sein Alter, aber nur, wenn man die verwaschenen Flanellhemden<br />

und die Gummistiefel mental ausblenden kann, was<br />

jedoch ein gewisses Maß an Übung erfor<strong>der</strong>t.<br />

Später beim Abendessen scheitere ich gnadenlos daran, meine<br />

aufgekratzte Laune unter Kontrolle zu halten. Meine Haare sind<br />

noch immer zusammengebunden und Olivia und Max blicken<br />

mich verwun<strong>der</strong>t an. Entwe<strong>der</strong>, weil sie es nicht gewohnt sind,<br />

Blickkontakt mit mir zu haben, o<strong>der</strong> weil ich plappere wie ein<br />

aufgedrehter Wasserhahn.<br />

„Da steckt also doch eine ungebändigte Euphorie in diesem<br />

wortkargen Mauerblümchen“, neckt mich Max.<br />

„Und die Pinguine? Haben die sich anständig benommen?“,<br />

fragt Olivia, wohl um endlich das Thema auf den eigentlichen<br />

Grund des Felsenschrubbens zu lenken, um das meine Gedanken<br />

seit heute Nachmittag unentwegt schwirren.<br />

83


„Ja, beson<strong>der</strong>s Henry“, bestätige ich übermütig und lache<br />

schallend, als ich Olivias verdutztes Gesicht sehe.<br />

„Du machst Witze.“ Olivia verzieht ihr Gesicht zu einer<br />

Grimasse. „Henry hat nämlich gepetzt und mir gezwitschert,<br />

dass du deinem Zauberlehrling eine unfreiwillige Dusche<br />

verpasst hast. Das nicht spritzen galt übrigens auch für dich.“<br />

Ich habe keine Ahnung, woher Olivia das nun wie<strong>der</strong> weiß,<br />

aber wenn sie mir weismachen will, dass sie den absoluten Draht<br />

zu Tieren hat und Henry ihr das tatsächlich verraten hat, dann<br />

soll mir das Recht sein. Damit bin ich gedanklich wie<strong>der</strong> zurück<br />

im Pinguingehege, aber diesmal ist <strong>der</strong> Fischgeruch eliminiert,<br />

<strong>der</strong> Felsen mit weichem Gras überzogen und die Pinguine niedliche<br />

Schwalben, die Pirouetten in <strong>der</strong> Luft drehen. Ich muss<br />

mich ganz dringend mit etwas an<strong>der</strong>em beschäftigen, bevor ich<br />

noch irgendwo kleben bleibe vor lauter Zuckerguss.<br />

Sophie hat mir heute Abend bereits dreimal eine SMS geschickt<br />

und Maman sollte ich auch dringend zurückrufen. Ich werde es<br />

erst bei Maman versuchen, das wird weniger lange dauern. Ich<br />

bin für beides nicht in <strong>der</strong> richtigen Stimmung, denn die ist viel<br />

zu euphorisch für das endlose Lamentieren über den unabän<strong>der</strong>lichen<br />

Lauf <strong>der</strong> Weltgeschichte und <strong>der</strong>en Auswirkungen auf das<br />

individuelle Befinden meiner überspannten Mutter o<strong>der</strong> die Interpretation<br />

<strong>der</strong> kosmischen Vorhersehung und <strong>der</strong>en Bedeutung<br />

für das imaginäre Liebesleben meiner Freundin. Es ist trotzdem<br />

besser, es nicht zu lange aufzuschieben, damit die Stimmung <strong>der</strong><br />

beiden nicht vollends kippt. Sie sind eh schon ziemlich verwun<strong>der</strong>t,<br />

dass ich mich so gar nicht mehr über das öde Landleben<br />

beschwere. Maman reagiert mit einem Stich von Eifersucht und<br />

Sophie mit einer Mischung aus Misstrauen und dem Verdacht,<br />

dass ich langsam, aber sicher zum Landei werde.<br />

84


„Salut Maman“, sage ich freundlich und überrascht, dass sie<br />

schon nach dem zweiten Klingeln abnimmt. Wie erwartet, übernimmt<br />

sie gleich das Gespräch und lässt mich kaum zu Wort<br />

kommen.<br />

„Ja, mir geht’s gut … Alles bestens … Ich hab mich heute im<br />

Tierpark nützlich gemacht und das Pinguingehege geschrubbt …<br />

Nein, das ist nicht gefährlich, die sind harmlos, und außerdem<br />

kann man sie gut unter Kontrolle halten, wenn man ihnen mit<br />

Lebertranentzug droht … Das war ein Scherz, Maman.“<br />

Dass sie immer gleich jedes Wort auf die Goldwaage legen<br />

muss. Ich erzähle noch vom Wetter und was es zu Essen gibt<br />

und will mich dann mit <strong>der</strong> Ausrede verabschieden, dass ich sehr<br />

müde von <strong>der</strong> ungewohnten körperlichen Arbeit bin. Das bereue<br />

ich aber augenblicklich, weil Maman gleich anfängt, sie werde<br />

mit Olivia reden müssen, damit diese mich nicht <strong>der</strong>maßen überfor<strong>der</strong>e,<br />

sodass ich danach kaum noch in <strong>der</strong> Lage wäre, mich mit<br />

ihr auch nur fünf Minuten vernünftig zu unterhalten, wenn ich<br />

dann überhaupt endlich mal Zeit für sie hätte.<br />

„Mamaaaan“, maule ich ungehalten, „so ist es doch gar<br />

nicht!“<br />

Es ist keineswegs so, aber ich will unbedingt vermeiden, dass<br />

sie weiter Fragen stellt und mir den eigentlichen Grund für<br />

meine gute Laune entlockt. Die ist nämlich zu meinem eigenen<br />

Erstaunen weiterhin ungetrübt.<br />

Maman seufzt und entschuldigt sich, was mich mehr verwirrt<br />

als die ungerechtfertigten Vorwürfe an Olivias Adresse. Ganz<br />

unverfänglich frage ich also: „Und wie läuft’s bei dir so?“ Damit<br />

bin ich hoffentlich wie<strong>der</strong> auf sicherem Terrain.<br />

„Ach, ganz gut“, kommt die unerwartete Antwort, „langsam<br />

komme ich ein wenig zur Ruhe.“<br />

85


„Toll“, sage ich verwun<strong>der</strong>t, aber das Thema scheint damit<br />

noch nicht erschöpft zu sein.<br />

„Ich werde mir allmählich klar darüber, dass ich so einiges verän<strong>der</strong>n<br />

muss. Meine Prioritäten haben sich in den vergangenen<br />

Jahren etwas einseitig entwickelt. Ich habe einfach meine innere<br />

Balance verloren. Aber ich bin jetzt auf dem richtigen Weg, mein<br />

Karma neu zu definieren.“<br />

Das kam jetzt unerwartet und passt so gar nicht zu ihr.<br />

Maman ist doch <strong>der</strong> rationale, speditive und vernunftgesteuerte<br />

Typ, diejenige, die sich niemals für irgendwelchen esoterischen<br />

Kram interessiert hat. Sie ist nicht einmal religiös.<br />

„Maman“, sage ich mit angestrengt ruhiger Stimme, „ich bin<br />

froh, das zu hören. Genieß die Zeit und mach dir keine Sorgen<br />

um mich. Ich komme hier gut klar mit Olivia und Max. Und ich<br />

hab auch schon ein Mädchen kennengelernt. Sie arbeitet im<br />

Souvenirladen des Tierparks, nur in den Ferien natürlich … Ja,<br />

ich passe auf … Ja …“<br />

Das Gespräch ist nicht so verlaufen, wie ich es erwartet habe.<br />

Nun bin ich es, die sich Sorgen macht. Steckt meine Mutter<br />

etwa in einer Midlifekrise? Sie ist doch erst zweiunddreißig. Soll<br />

ich Papa kontaktieren und ihm sagen, dass Maman so schräg<br />

drauf ist? Besser nicht, Papa hat nicht gerade das Talent, sie zu<br />

beruhigen, meistens ist eher das Gegenteil <strong>der</strong> Fall. Ich kann ihn<br />

im Moment sowieso nicht anrufen, weil er irgendwo in Asien<br />

steckt. Er ist nur via E-Mail erreichbar und das Problem hier ist<br />

nicht so klar zu definieren, als dass ich es, in ein paar lockere<br />

Zeilen verpackt, hätte in die Weltgeschichte hinaussenden wollen.<br />

Vielleicht hat Maman auch nur einen tiefen Abstecher nach<br />

Bordeaux im Untergeschoss gemacht. Das würde zumindest das<br />

kurzfristige Aufflackern ihres Karmas erklären.<br />

86


Zwischenräume<br />

Rosalie<br />

Ich habe das dringende Bedürfnis, allein zu sein. Olivia hat<br />

mir heute noch keine Arbeit aufgetragen, also mache ich großmütig<br />

die Küche einigermaßen sauber und mich dann eilig aus<br />

dem Staub, bevor ihr doch noch etwas in den Sinn kommt. Mit<br />

Lilys Buch unter dem Arm schlen<strong>der</strong>e ich den Spazierweg entlang,<br />

erneut in <strong>der</strong> Hoffnung, zufällig auf Jonathan zu treffen.<br />

Als ich bereits am Kioskladen vorbeigegangen bin, höre ich<br />

unwillkürlich Lilys ansteckendes Lachen. Ich zögere einen kurzen<br />

Moment, bleibe dann aber stehen und sehe auf dem Amulett<br />

nach, wie spät es ist. Es ist noch ziemlich früh. Normalerweise<br />

kommen die ersten Kunden erst nach elf Uhr. Von drinnen höre<br />

ich Lily, wie sie sich über die mit Süßigkeiten und Zeitschriften<br />

bedeckte Theke hinweg mit jemandem unterhält.<br />

„Hast du das Video von den Nova Charms schon gesehen?<br />

Sind echt tolle Ausschnitte aus dem neuen Film, <strong>der</strong> gerade im<br />

87


Kino angelaufen ist. Hast du den auch schon gesehen?“ Sie sagt<br />

es heiter und aufgedreht.<br />

„Nein“, antwortet eine vertraut klingende Jungenstimme.<br />

„Den werde ich mir aber so bald wie möglich ansehen. Also geh<br />

weg mit deinem Ding da, ich will nicht schon all die Highlights<br />

kennen, bevor ich den Film im Kino gesehen habe.“<br />

Lily hält ihm ihr Smartphone wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> vor die Nase,<br />

auf dem sie sich gerade das Video angesehen hat, und er versucht,<br />

sie davon abzuhalten, ihm die Szenen zu zeigen. Das Gerangel<br />

und Gekicher, das dabei zu hören ist, lässt die Situation<br />

wie eine Filmszene vor meinem innerem Auge abspielen.<br />

Es versetzt mir einen Stich, die beiden so vertraut miteinan<strong>der</strong><br />

lachen zu hören. Hätte ich mir ja denken können, dass die<br />

sich kennen. Doch dass sie sich gleich so gut verstehen, habe<br />

ich nicht erwartet. Aber sie passen ja auch optimal zusammen.<br />

Lily ist schlank, hochgewachsen und blond, mit einer samtenen<br />

Mädchenstimme, und er ist … er ist einfach perfekt in je<strong>der</strong><br />

Hinsicht. Was soll er schon an mir finden, denke ich düster. Ich<br />

ziehe mir das Haargummi vom Kopf und meine langen Stirnfransen<br />

verbergen hoffentlich das verdächtig feuchte Glitzern<br />

in meinen Augen, während ich mich im Schatten des Eingangs<br />

hinter einem Postkartenstän<strong>der</strong> unsichtbar mache.<br />

„Alles klar?“, fragt Lily, als sie mich schließlich dort findet.<br />

„Salut.“ Ich versuche, ebenso fröhlich zu klingen, wie Lily aussieht.<br />

Aber mein aufgesetztes Lächeln gerät ein wenig zu steif auf<br />

meinem Gesicht. Das ist dann doch zu viel des Guten, denke ich<br />

seufzend und verwerfe die Maske <strong>der</strong> guten Laune wie<strong>der</strong>.<br />

„Was ist denn mit dir los?“, fragt Lily. Natürlich ist ihr das<br />

Wechselspiel meiner Gesichtsmimik nicht entgangen.<br />

„Ach, es ist nichts“, weiche ich aus.<br />

88


„Erzähl mir keine Märchen.“ Lily schubst mich spielerisch<br />

entrüstet an <strong>der</strong> Schulter. „Du redest hier mit einem Naturtalent<br />

<strong>der</strong> Entschlüsselung <strong>der</strong> Umkehrpsychologie.“<br />

„Was soll das sein?“, frage ich nicht son<strong>der</strong>lich interessiert.<br />

„Zum Beispiel wenn ich dem fiesen Direktorensöhnchen sage,<br />

dass er diesen Comicband, <strong>der</strong> seit Monaten unbeachtet hier<br />

herumliegt, nicht kaufen soll, da es eine völlig überteuerte Son<strong>der</strong>ausgabe<br />

ist. Er wird ihn daraufhin garantiert kaufen.“<br />

„Dann schicke ich dich am besten einmal zu meiner Mutter“,<br />

antworte ich missgelaunt. „Die kann nämlich sämtliche Tatsachen<br />

und Situationen innert Sekunden komplett umkehren.“<br />

„Ohje“, seufzt Lily, „du hattest also Streit mit deiner Mutter?“<br />

Ich schüttle nur den Kopf. Es ist viel komplizierter als je<strong>der</strong><br />

Streit, den ich jemals mit Maman gehabt habe. Beim Streiten<br />

kenne ich mich aus. Ich weiß genau, welche Waffen ich einsetzen<br />

muss, wann ich offensiv zum Schlag ausholen kann und<br />

wann es besser ist, in Deckung zu gehen. Es ist wie ein jahrelang<br />

eingeübter Kampfsport, bei dem man es nur bis zur Erschöpfung<br />

kommen lässt, niemals darüber hinaus. Aber dieses Spiel, das<br />

jetzt begonnen hat, kenne ich nicht. Wie soll ich da eine Chance<br />

haben, denke ich kopfschüttelnd. Genauso ist es auch im Kampf<br />

um die Gunst dieses Jungen, in den ich blödsinnigerweise verschossen<br />

bin. Natürlich habe ich nicht die geringste Chance gegen<br />

Lily. Ich werde ihr das aber bestimmt nicht erzählen, das<br />

würde unserer neu geschlossenen Freundschaft gleich einen<br />

satten Dämpfer verpassen. Auch hier kenne ich mich mit den<br />

Regeln nicht so genau aus. Ich weiß nur, wenn er wirklich ihr<br />

Freund ist, dann ist er für mich absolut tabu und somit kann ich<br />

ihn gleich abschreiben. Resigniert schüttle ich erneut den Kopf.<br />

„Dein Kopfschütteln ist ja vielsagend“, bemerkt Lily trocken,<br />

89


aber trotzdem mit einem aufmunternden Lächeln. „Ich komme<br />

nur lei<strong>der</strong> nicht dahinter, was genau du damit sagen willst.“<br />

„Entschuldige“, sage ich aus meinen Gedanken gerissen, „ich<br />

kann es mir im Moment selber nicht erklären. Also lassen wir<br />

das besser. Was machst du gerade?“<br />

„Ich?“, fragt Lily. „Gar nichts. Ist nichts los heute.“<br />

Erstaunt spähe ich in den Kioskladen. Er ist vollkommen leer.<br />

Olivia<br />

Rosalies Wandlung ist mir nicht entgangen. Zwischen dem<br />

unselbständigen und verschlossenen Teenager, <strong>der</strong> noch vor<br />

Kurzem etwas verloren in unserem Vorgarten angekommen ist,<br />

und dem aufmerksamen und liebenswürdigen jungen Mädchen<br />

liegen Welten. Ich staune über diese Verän<strong>der</strong>ung, man könnte es<br />

fast schon eine Metamorphose nennen. Rosalie ist sichtlich aufgeblüht,<br />

seit sie sich mit Lily und dem Jungen angefreundet hat.<br />

Ich kenne Lily vom Souvenirladen. Ein aufgewecktes Mädchen,<br />

soweit ich es beurteilen kann, allerdings ist sie bekannt dafür,<br />

dass sie es mit Regeln nicht so genau nimmt.<br />

Den Jungen allerdings habe ich noch nie gesehen, obwohl<br />

Rosalie meint, er wäre ein Praktikant im Tierpark. In den Ferien<br />

hat es oft Praktikanten, die etwas Feriengeld verdienen wollen,<br />

doch einen Jonathan habe ich nirgends auf dem Arbeitsplan gefunden.<br />

Seltsam, aber das wird sich sicher bald aufklären. Sie<br />

scheint richtig angetan von ihm zu sein. Ich will sie jedoch nicht<br />

drängen, ihn mir vorzustellen, ich bin ja schließlich nicht ihre<br />

Mutter. Es wird sich sicher irgendwann die Gelegenheit ergeben.<br />

90


Rosalie<br />

Ich brauche dringend eine Ablenkung, meine Gedanken<br />

drehen sich seit heute Vormittag nur noch im Kreis und lassen<br />

sich nicht einordnen.<br />

Wie ist Lily nur zu diesem Buch gekommen? Es ist schon<br />

seltsam geschrieben. Es besteht aus kurzen Abhandlungen über<br />

die abstrakten Dinge des Lebens, die man normalerweise gar<br />

nicht hinterfragt. Aber das macht es interessant.<br />

Ich schlage das Buch auf, nehme den Brief, den ich als Buchzeichen<br />

benutze, zwischen den Seiten heraus, und betrachte ihn<br />

einmal mehr. Das Buch klappt zu. Herrgott bin ich heute schusselig.<br />

Erneut suche ich nach den Seiten und beginne zu lesen.<br />

Die Zeit<br />

Ich würde gern die Zeit in Ordnung halten.<br />

Ich würde die Wartezeit verkürzen.<br />

Ich würde den Zeitvertreib vertreiben<br />

und durch Freizeit ersetzen.<br />

Ich würde genügend Auszeit planen<br />

und die verpasste Zeit mit Zeitfenstern versehen,<br />

damit ich je<strong>der</strong>zeit einen Blick darauf werfen könnte.<br />

In Zeitlupe würde ich Glücksmomente ablegen<br />

und Trauerzeiten ins Zeitalter <strong>der</strong> Dunkelheit verbannen.<br />

Ich würde die Zeit hochschätzen<br />

und ihre höchsten Momente zur Hochzeit erklären.<br />

Und ab und zu würde ich eine Zeitenwende einbauen,<br />

um zurückkehren zu können,<br />

und alles noch einmal neu zu erleben.<br />

91


Das ist genau, was ich mir wünsche. Ich wünsche mir<br />

nichts sehnlicher, als die Zeit zurückdrehen zu können, um die<br />

beiden Begegnungen mit Jonathan noch einmal zu erleben. In<br />

den vergangenen Tagen bin ich so oft ich konnte im Tierpark<br />

gewesen und habe Ausschau nach ihm gehalten, aber vergebens.<br />

Ich möchte mir endlich Gewissheit verschaffen, was es<br />

mit dem Foto auf sich hat. Er scheint sich in Luft aufgelöst zu<br />

haben, bis auf vorhin bei Lily. Doch am liebsten würde ich diese<br />

Erkenntnis ungeschehen machen und das Rad einfach zurückdrehen.<br />

Ich habe mir die Zeit mit sinnlosem Warten vertrieben,<br />

in <strong>der</strong> Hoffnung, ich könne endlich erfahren, ob er tatsächlich<br />

ein Praktikum hier macht. Je mehr Zeit vergeht, desto unwirklicher<br />

kommen mir unsere Begegnungen vor.<br />

Schon komisch, dass die Zeit einen scheinbar straft mit <strong>der</strong><br />

Geschwindigkeit, in <strong>der</strong> sie vorübergeht. Viel zu schnell, wenn<br />

man glücklich ist, und quälend langsam, wenn man sich nach<br />

etwas sehnt. Warum kann man sie nicht beeinflussen? Wenn<br />

sie verstrichen ist, ist sie unwie<strong>der</strong>bringlich weg und nichts von<br />

dem, was passiert ist, hat einen realen Bezug zur Gegenwart.<br />

Wenn sich nun auch noch herausstellt, dass Jonathan Lilys<br />

Freund ist, dann ist das super kompliziert. Wie soll ich mich<br />

dann verhalten? Kann ich dann weiter mit ihr befreundet sein?<br />

Und was, wenn ich ihm wie<strong>der</strong>begegne? Mit dieser Gegenwart<br />

kann ich mich absolut nicht anfreunden.<br />

Aber eigentlich habe ich Jonathan gar nicht direkt mit ihr gesehen.<br />

We<strong>der</strong> seine Anwesenheit im Laden, noch sein Weggehen<br />

habe ich mit eigenen Augen sehen können, dabei habe ich die<br />

ganze Zeit davorgestanden. Es könnte theoretisch irgendein Typ<br />

gewesen sein, <strong>der</strong> zufälligerweise eine ähnliche Stimme hatte.<br />

Es kommt mir alles wie ein seltsamer Traum vor, in dem man<br />

92


sich sicher ist, nicht zu träumen, aber trotzdem alles keinen Sinn<br />

ergibt. Alles könnte eine Erinnerung sein o<strong>der</strong> nur ein Wunschtraum.<br />

Das Gedächtnis entscheidet, wie man es deklariert. Das<br />

hat mit <strong>der</strong> Realität nicht viel zu tun.<br />

Immer wie<strong>der</strong> sehe ich mir das Foto an und kann es mir nicht<br />

erklären. Die Ähnlichkeit ist mehr als verblüffend, auch wenn<br />

das Foto alt und vergilbt ist. Und beide heißen Jonathan, das<br />

kann doch kein Zufall sein. Das Unsinnigste erscheint mir plötzlich<br />

am plausibelsten. Wie ist ein Sprung durch Zeit und Raum<br />

zu erklären? Existiert Jonathan etwa in verschiedenen Zeiten?<br />

Kann er durch die Zeit reisen? Gibt es ihn vielleicht sogar mehrfach,<br />

und nur einer davon ist Lilys Freund?<br />

Romilda<br />

„Die Amulette …“, fange ich zögernd an.<br />

„Was ist damit?“, fragt Jonathan, ohne aufzublicken.<br />

„Wieso hast du sie gewählt?“<br />

„Es war Zufall“, antwortet Jonathan lächelnd. „Ich hab sie<br />

von einem Straßenhändler erstanden, du weißt schon, sie sind<br />

nicht viel wert, aber sie haben mir gefallen.“<br />

„Das hab ich nicht gemeint“, entgegne ich. „Warum hast du<br />

die Eule für mich ausgewählt und nicht den Fuchs? <strong>Der</strong> hätte<br />

doch besser zu mir gepasst, wegen meiner Haarfarbe.“<br />

„Die Eule passt perfekt zu dir“, unterbricht mich Jonathan.<br />

„Erstens bist du eine Langschläferin und zweitens steckst du<br />

dauernd deinen Schnabel bis spät in die Nacht in Bücher hinein.<br />

Außerdem machst du komische Geräusche, wenn du …“<br />

93


„Untersteh dich, diesen Satz zu beenden, du Scheusal!“<br />

Lachend werfe ich ein zusammengeknülltes Blatt Papier nach<br />

ihm, das er gekonnt auffängt und prompt auseinan<strong>der</strong>faltet.<br />

„Du weißt, dass du nichts davon lesen darfst, solange ich es<br />

nicht sauber ins Buch geschrieben habe“, sage ich vorwurfsvoll.<br />

„Wenn du es mir förmlich an den Kopf wirfst …“<br />

„Auch dann nicht.“ Ich sehe ihn mit hochgezogenen Augenbrauen<br />

an.<br />

„Dann sag mir wenigstens, was du da schreibst“, bettelt er,<br />

um mir ein Lächeln zu entlocken.<br />

„Gedanken“, erwi<strong>der</strong>e ich knapp, aber das Lächeln kann<br />

ich ihm nicht verwehren. Ich liebe es, wenn er sich für mein<br />

Geschreibsel interessiert. Ich liebe ihn und davon handeln auch<br />

die Texte.<br />

Joel<br />

Inzwischen hat sie die Scheune völlig in Beschlag ge nommen.<br />

Ihr süßlicher Rosenduft hängt wie ein unsichtbarer Schleier über<br />

dem staubigen Dunst, <strong>der</strong> durch den spärlichen Lichteinfall <strong>der</strong><br />

Fenster über <strong>der</strong> Szenerie schwebt. Wahrscheinlich geht es ihr<br />

wie mir, <strong>der</strong> Bann dieser alten Sachen lässt sie nicht mehr los.<br />

Eigentlich sollte ich mich besser von hier fernhalten. Sie hat das<br />

dritte Amulett bereits gefunden. Ich habe gesehen, wie sie es<br />

unter ihrem Pulli hervorgezogen hat. Es ist <strong>der</strong> Schreck gewesen,<br />

<strong>der</strong> mich dazu bewogen hat, so überstürzt zu verschwinden.<br />

Irgendetwas ist beson<strong>der</strong>s an diesen Anhängern. Natürlich, sie<br />

sind alt, die Zeit hat ihren Wert verän<strong>der</strong>t. Es liegt immer etwas<br />

94


Mystisches in <strong>der</strong> Vergangenheit. Offenbar steckt eine Geschichte<br />

dahinter, ein Geheimnis vielleicht.<br />

Ich habe ein seltsames Gefühl, aber ich muss herausfinden,<br />

was es damit auf sich hat. Wie aber soll ich sie danach fragen?<br />

Kann ich mir dein Amulett ausborgen, ich möchte kurz die<br />

kosmischen Gesetze auf ihre Gültigkeit prüfen? Das hört sich<br />

doch bescheuert an. Und übrigens, mein Name ist Joel. Aber<br />

die Zeit für eine Richtigstellung ist längst verstrichen. Sie wird<br />

mich für verrückt halten. Das wäre nicht so schlimm, denn<br />

wahrscheinlich bin ich das auch. Verrückt, dass ich immer<br />

wie<strong>der</strong> hier aufkreuze und sie beobachte. Vielleich sogar ein<br />

bisschen verrückt nach ihr.<br />

Lily<br />

Mäßig interessiert schleicht Rosalie seit Tagen hier im Laden<br />

zwischen <strong>der</strong> Tür und dem Bücherregal herum. Alle paar Minuten<br />

wirft sie wie zufällig einen Blick nach draußen. Was zum Henker<br />

sucht sie?<br />

„Suchst du wie<strong>der</strong> nach neuer Lektüre?“, frage ich amüsiert.<br />

„Sag nicht, du bist bereits durch mit meinem Buch?“<br />

„Nein“, entgegnet Rosalie. „Noch nicht. Ich mag es, aber die<br />

Texte sind nicht so einfach zu verstehen.“<br />

„Warum denn?“, frage ich neugierig. „Es ist doch ganz offensichtlich,<br />

worum es Romilda in ihrem Buch geht. Sie beschreibt<br />

ihre Gedanken und Wünsche. Es ist eben ziemlich metaphorisch<br />

geschrieben. Das bedeutet ...“<br />

„Ich weiß schon, was das bedeutet“, entgegnet Rosalie. „Sie<br />

95


eschreibt es sehr anschaulich, soviel hab ich schon kapiert. Ich<br />

verstehe nur nicht, was sie dazu bewogen hat. Ich glaube, sie<br />

war unglücklich über die Dinge, die sie nicht selbst beeinflussen<br />

konnte, wie zum Beispiel die Zeit.“<br />

„Genau“, bestätige ich, „die Zeit schien ihr sehr zu schaffen<br />

zu machen. Sie fühlte sich scheinbar fremd in ihrer Zeit. Eine<br />

Zeit, die wir uns gar nicht mehr vorstellen können. In den letzten<br />

hun<strong>der</strong>t Jahren hat sich so einiges verän<strong>der</strong>t - die Gesellschaft,<br />

die Werte und die Stellung <strong>der</strong> Frau.“<br />

„Aber einiges ist noch immer gleich“, insistiert Rosalie, die<br />

sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund aufregt. „Noch immer<br />

sind wir zwischen Hoffen und Bangen dem Warten hilflos ausgeliefert.<br />

Noch immer vergeht die Zeit viel zu schnell o<strong>der</strong> nie<br />

schnell genug, je nachdem, wie wir uns gerade fühlen, und wir<br />

haben nicht den geringsten Einfluss darauf.“<br />

Ich schaue sie verblüfft an.<br />

„Und sie ist nicht umkehrbar“, fährt Rosalie fort. „Die Zeit<br />

läuft immer nur in einer Richtung ab, o<strong>der</strong> nicht? Man kann<br />

nicht in <strong>der</strong> Vergangenheit aufräumen o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Zukunft<br />

Vorkehrungen treffen. Es gibt keine Möglichkeit, sich zwischen<br />

diesen Zeitzonen hin und her zu bewegen, o<strong>der</strong>?“<br />

„Ich glaube nicht“, antworte ich zögernd. „Es gibt haufenweise<br />

Literatur zu diesem Thema, aber meines Wissens noch keinen<br />

Beweis, dass es irgendjemandem je gelungen ist.“<br />

Rosalie sieht mich so betroffen an, als würde ich ihr gerade<br />

erklären, warum <strong>der</strong> Osterhase die Eier nicht selber legt.<br />

„Das muss aber nicht bedeuten, dass es nicht irgendwann<br />

möglich ist“, beteuere ich schnell. „Die Menschheit hat<br />

einige tausend Jahre an Evolution, Wissen und Kultur anhäufen<br />

müssen, bis es ihr schlussendlich gelungen ist, den Mond zu<br />

96


erreichen. Und es bleibt uns noch immer die Wurmlochtheorie<br />

zu erforschen, also die Verbindung von zwei Seiten desselben<br />

Raumes durch einen Tunnel, <strong>der</strong> zwei weit entfernte Orte im<br />

Universum miteinan<strong>der</strong> verbindet.“<br />

Rosalie betrachtet gedankenverloren den von Menschen<br />

wimmeln den und dadurch lebendig wirkenden Platz vor dem<br />

Laden.<br />

„Warum ist es ihm dann gelungen?“, murmelt sie leise.<br />

„Wem ist was gelungen?“, frage ich nach und mustere sie<br />

skeptisch.<br />

Rosalie überlegt kurz, bevor sie mit <strong>der</strong> Sprache herausrückt.<br />

„Ich hab mich gefragt, ob dieser Junge, dem ich hier schon ein<br />

paar Mal begegnet bin, wohl durch so ein Wurmloch gefallen ist.“<br />

„Ach, danach hältst du also Ausschau. Du quatschst hier<br />

tiefgründiges Zeug, dabei geht es die ganze Zeit nur darum,<br />

dass du dich in einen Jungen verknallt hast. Dann bin ich ja<br />

beruhigt, ich dachte schon, du hättest einen an <strong>der</strong> Klatsche.<br />

Wie sieht er denn aus? Bist du schon mit ihm ausgegangen?“,<br />

frage ich neugierig.<br />

„Er ist groß und sieht aus, wie … als hätte Romilda Darkling<br />

ihn erfunden. Ich kenne ihn nur flüchtig und du kennst ihn<br />

womöglich auch. Sein Name ist Jonathan.“<br />

Gespannt wartet sie meine Reaktion ab, doch ich habe keine<br />

Ahnung, auf wen sie anspielt. Ich überlegt einen Augenblick,<br />

und schüttle nur den Kopf.<br />

„Ich kenne niemanden, <strong>der</strong> so heißt“, sage ich achselzuckend<br />

und Rosalies gute Laune wird augenblicklich wie<strong>der</strong> von einer<br />

großen, dunklen Wolke <strong>der</strong> Enttäuschung überschattet.<br />

97


Zeitspannen und Spannungen<br />

Olivia<br />

Max steht in <strong>der</strong> Küche und werkelt mit ein paar Töpfen<br />

herum. Rosalie kommt gerade nach Hause.<br />

„Alles klar?“ – „Sicher.“ – „Hunger?“ – „Bisschen.“<br />

Die Unterhaltung ist somit für beide erledigt. Rosalie nimmt<br />

wortlos die Teller, die auf <strong>der</strong> Ablage stehen, und bringt sie zum<br />

Esstisch. Inzwischen hat sie gelernt, sich ungefragt nützlich<br />

zu machen. Es duftet nach frischem Basilikum und ich sehe<br />

amüsiert, dass die Pflanze auf dem Fenstersims aussieht, als<br />

wäre er mit einer Machete traktiert worden.<br />

Wie immer, wenn ich den beiden vor sich hin schweigenden<br />

gegenübersitze, versuche ich, ein Thema zu finden, das sowohl<br />

meinen Mann als auch meine Nichte zu ein paar Worten <strong>der</strong><br />

Unterhaltung hinreißen könnte.<br />

„Wie geht’s Violetta?“<br />

„Gut“, antwortet Rosalie, ohne vom Teller aufzublicken.<br />

98


Das war wohl nichts. Zudem ist es kein Thema, das Max<br />

beson<strong>der</strong>s interessiert. Ich denke also nach, was Rosalie in den<br />

vergangenen Tagen bei Laune gehalten hat, und frage einer<br />

plötzlichen unbedachten Eingebung folgend: „Was ist eigentlich<br />

aus diesem Jonathan geworden? Du hast gar nichts mehr<br />

von ihm erzählt die letzten Tage.“<br />

Rosalie schluckt den Bissen, den sie gerade im Mund hat ohne<br />

weiter zu kauen herunter und schaut von ihrem Teller auf. Max<br />

lässt ebenfalls den Blick von seiner Gabel ab und hält einen<br />

Moment inne, bevor er sich die nächste Ladung hineinschaufelt.<br />

„Nichts“, antwortet Rosalie und das Thema ist für sie damit<br />

erledigt.<br />

Dass man ihr auch jeden Wurm aus <strong>der</strong> Nase ziehen muss. Ich<br />

versuche es weiter.<br />

„Ich frag ja nur, weil du so begeistert von ihm gesprochen<br />

hast. Ist das schon wie<strong>der</strong> vorbei? Ich meine, ist er schon nicht<br />

mehr angesagt?“<br />

Max hält geräuschvoll den Atem an und sieht mich an, als<br />

hätte ich soeben einen Bundesrat geduzt. Ich habe es tatsächlich<br />

fertiggebracht, dass beide mir ihre Aufmerksamkeit schenken.<br />

„Nein“, beginnt Rosalie. „Also, er hat sich schon die ganze<br />

Woche nicht blicken lassen. Nicht, dass ich ihn gesucht o<strong>der</strong><br />

vermisst hätte … Es fällt mir jetzt erst auf, wo du ihn erwähnst“,<br />

beteuert sie etwas zu beflissen, „und was meinst du überhaupt<br />

mit angesagt? Nur weil ich ihn ab und zu erwähnt habe, muss<br />

das doch lange nicht bedeuten, dass ich … o<strong>der</strong>, dass ich nicht<br />

mehr … das hat überhaupt nichts zu sagen und angesagt sagt<br />

man schon gar nicht“, schlägt sie nun wild mit Worten um sich.<br />

„Ist ja schon gut“, versuche ich die Lage zu entkrampfen. „Ich<br />

wollte mich nur nach ihm erkundigen.“<br />

99


„Ich hab keinen Hunger mehr. Kann ich gehen?“, fragt sie und<br />

lässt ihren halbvollen Teller und unsere beiden bekümmerten<br />

Gesichter zurück.<br />

Max<br />

„Das war jetzt vielleicht ein bisschen …“, fange ich vorsichtig<br />

an, verstumme aber, als Olivia laut seufzt.<br />

„Sie ist ein Teenager, Max“, entgegnet sie achselzuckend.<br />

„Die leben in einem ganz an<strong>der</strong>en Zeit-Raum-Kontinuum.<br />

Sie befinden sich zwischen Realität und Wunschtraum, irgendwo<br />

zwischen hier und jetzt. Sie reden nicht einmal die gleiche<br />

Sprache wie wir.“<br />

„Kein Wun<strong>der</strong>, habe ich das eben nicht verstanden“, pflichte<br />

ich ihr schmunzelnd bei. „Dass du dich auch an solche Themen<br />

wie Jungs heranwagst, wow.“<br />

„Herrje“, stöhnt sie auf, „das sollte doch kein Verhör werden!<br />

Und was willst du damit überhaupt sagen? Ich bin schließlich<br />

nicht ihre Oma. So etwas werde ich doch noch fragen dürfen.<br />

Ich versteh sehr wohl, was sich in einer pubertierenden<br />

Mädchenseele abspielt, ich bin we<strong>der</strong> spießig noch naiv und<br />

mit sechsundzwanzig noch lange nicht zu alt dafür. Außerdem<br />

wollte ich nur ein wenig Konversation machen, aber das ist<br />

weiß Gott nicht einfach mit euch beiden!“<br />

Ich schaue sie prüfend an. Sie hat sich soeben selbst wi<strong>der</strong>sprochen<br />

und in <strong>der</strong> Hitze des Gefechts die Sache gekonnt mir in<br />

die Schuhe geschoben. Ich überlege, wie ich ihr schonend und<br />

ohne allzu viele Argumente außer Acht zu lassen beibringen<br />

100


kann, dass ich nicht im mindesten auf ihr Alter abgezielt habe,<br />

son<strong>der</strong>n nur auf ihr Bedürfnis, alles zu bereden. Schweigen ist<br />

immerhin auch eine Form <strong>der</strong> Kommunikation, in <strong>der</strong>, wenn es<br />

nicht in unbequemes o<strong>der</strong> betretenes Schweigen ausartet, <strong>der</strong><br />

Zustand <strong>der</strong> inneren Ausgeglichenheit ausgedrückt wird.<br />

Aber während ich noch versuche, das, was ich zwar fließend<br />

denken kann, in angemessene Worte zu übersetzen, durchbricht<br />

Olivia meinen letzten Gedankengang und setzt die Unterhaltung<br />

in Alleingang fort: „Du machst es dir einmal wie<strong>der</strong> sehr einfach<br />

mit deiner verbalen Zurückhaltung und deiner emotionalen<br />

Enthaltsamkeit.“<br />

Romilda<br />

„Lass uns die Zeit anhalten“, sage ich mit einem Blick auf<br />

das Zifferblatt meines Amuletts.<br />

„Das würde ich sofort tun, mein Liebling“, antwortet Jonathan,<br />

ohne zu zögern.<br />

„Ich weiß.“<br />

„Was hast du auf dem Herzen? Raus damit“, ermutigt er<br />

mich. „Du kannst es mir anvertrauen.“<br />

„Es geht alles zu schnell“, klage ich. „Die Zeit drängt uns zu<br />

Entscheidungen, die wir später bereuen werden.“<br />

„Ich bereue nichts“, antwortet Jonathan mit Überzeugung.<br />

„Wenn ich das täte, müsste ich auch bereuen, dich zu lieben,<br />

und das wäre grauenvoll.“<br />

Ich lächle ihn trotz meiner Zweifel und Bekümmertheit an.<br />

„Doch es ist falsch, Vincent zu belügen“, insistiere ich. „Er<br />

101


ist <strong>der</strong> beste Freund, den man sich wünschen kann. Das hat er<br />

nicht verdient.“<br />

„Was hat er nicht verdient?“, unterbricht mich Jonathan.<br />

„Die wun<strong>der</strong>vollste Frau <strong>der</strong> Welt zu haben?“<br />

Ich muss unwillkürlich lächeln. Er ist einfach hinreißend in<br />

seiner Überschwänglichkeit.<br />

„Ich verrate dir etwas“, flüstert Jonathan mir ins Ohr. „Eigentlich<br />

ist es ein Geheimnis, aber ich könnte dich einweihen.“<br />

„Was ist es“, flüstere ich erwartungsvoll zurück.<br />

„Wenn sich alle drei Amulette an ein und demselben Ort<br />

befinden und von ihren Besitzern gleichzeitig angehalten<br />

werden, steht die Zeit tatsächlich still.“<br />

Rosalie<br />

Schon viel zu früh an diesem Abend in meinem Zimmer eingeschlossen,<br />

will ich es nun nicht wie<strong>der</strong> verlassen. Wozu auch?<br />

Lily ist sicher längst nach Hause gegangen und die Scheune<br />

interessiert mich auch nicht. Ich will we<strong>der</strong> Max noch Olivia<br />

begegnen, also bleibe ich besser in meiner Höhle. Bloß eine<br />

einzige Begegnung würde mich von meinen quälenden und<br />

immer wie<strong>der</strong>kehrenden trüben Gedanken befreien, doch es gibt<br />

anscheinend wenig Hoffnung, dass er sich irgendwo da draußen<br />

aufhält. Jedenfalls nicht im Umkreis dieses Reviers o<strong>der</strong> dieser<br />

Zeitzone. Also kann ich mich auch gleich unter <strong>der</strong> Bettdecke<br />

verkriechen.<br />

Warum hat Olivia gerade jetzt in diese offene Wunde<br />

stechen müssen? Es ist schon hart gewesen, Lily gegenüber<br />

102


nicht ein zugestehen, dass seit Tagen mein ganzes Seelenheil<br />

von <strong>der</strong> Präsenz o<strong>der</strong>, noch schlimmer, von <strong>der</strong> Existenz eines<br />

Jungen abhängt, von dem ich nicht einmal sicher bin, ob ich<br />

ihn mir nur einbilde. Nein, er existiert, daran gibt es nicht den<br />

geringsten Zweifel! Immerhin gibt es sogar ein Foto von ihm,<br />

das beweist, dass es ihn zumindest gegeben hat.<br />

Doch genau an diesem Punkt kommen meine Gedanken ins<br />

Rotieren. <strong>Der</strong> Beweis beweist eigentlich nur eines ganz klar,<br />

nämlich, dass ich überhaupt keine Ahnung habe, wer und wo<br />

dieser Junge ist, und vor allem nicht, wann.<br />

Um mich von meinem bedauernswerten Zustand abzulenken,<br />

nehme ich Lilys Buch hervor und werfe den Umschlag mit dem<br />

Foto entgegen meiner sonstigen Gewohnheit achtlos in Richtung<br />

Kommode.<br />

Nein, denke ich finster, ich werde dich keines weiteren Blickes<br />

mehr würdigen, so wie auch du dich nicht im geringsten mehr<br />

bei mir blicken lässt. Es ist aus und vorbei.<br />

Ich lege das Buch aufgeschlagen auf mein Kissen, und<br />

während ich noch versuche, die losen Fransen mit den Fingern<br />

in das Haargummi zu flechten, wan<strong>der</strong>n meine Augen bereits<br />

über den nächsten Textabschnitt.<br />

<strong>Der</strong> Abstand<br />

Er ist undefinierbar weit<br />

und erstreckt sich über mehrere Aspekte.<br />

Man kann ihn aber ungefähr einschätzen,<br />

indem man die räumliche Distanz<br />

mit <strong>der</strong> zeitlichen Trennung multipliziert<br />

und durch die Anzahl <strong>der</strong> Augenblicke des Vermissens teilt.<br />

103


Ich bin vom Mindestabstand ausgegangen,<br />

habe aber vergessen, den Sicherheitsabstand einzuberechnen.<br />

Damit habe ich den Höflichkeitsabstand<br />

um einiges verkürzt und somit verfehlt.<br />

Nun bin ich um Lichtjahre vom Ziel entrückt.<br />

<strong>Der</strong> Abstand wird somit zur Entfernung,<br />

die, objektiv betrachtet, so beabsichtigt ist.<br />

Er muss entwe<strong>der</strong> respektiert o<strong>der</strong> überwunden werden.<br />

Aber sicher gibt es einen Zwischenraum,<br />

in den ich mich zwischenzeitlich begeben kann,<br />

bis zwischen Raum und Zeit die Dinge wie<strong>der</strong><br />

ihre phasenbedingte Position eingenommen haben<br />

und <strong>der</strong> Lauf <strong>der</strong> Dinge ihre Bahnen wie<strong>der</strong> neu berechnet hat.<br />

Das verstehe ich nun gar nicht mehr. Warum muss man<br />

immer irgendwelche Abstände berechnen, einkalkulieren<br />

o<strong>der</strong> bezwingen? Wäre es nicht einfacher, man könnte eine<br />

Distanz, die einmal überwunden ist, einfach hinter sich lassen?<br />

Aber auch wenn ich mich noch so sehr bemühe, <strong>der</strong> Abstand zu<br />

Maman ist, solange wir uns beide auf denselben Quadratmetern<br />

aufhalten, niemals zu überwinden. Erst eine reale Entfernung<br />

scheint uns einan<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> etwas näher zu bringen. Also gibt<br />

es ganz verschiedene Arten o<strong>der</strong> Definitionen von Abstand. Die<br />

Entfernung, was den Ort des Aufenthalts anbelangt, ist sehr<br />

einfach zu ermitteln. Aber die emotionale Distanz, die sich von<br />

zwei verschiedenen Gesichtspunkten her definieren muss, ist<br />

fast unmöglich herauszufinden.<br />

Wie weit ist Jonathan von mir entfernt, während ich in<br />

Gedanken keinen Zentimeter von seiner Seite weiche? Und<br />

wer berechnet eigentlich den Lauf <strong>der</strong> Dinge? Ist es allein dem<br />

104


Schicksal zu überlassen, wie die Dinge sich entwickeln, o<strong>der</strong><br />

kann man sie durch die Kraft <strong>der</strong> Gedanken auch mit beeinflussen?<br />

Meine Gedanken schweifen ab und überwinden plötzlich<br />

mühelos jede Distanz.<br />

Ich habe wie<strong>der</strong> verschlafen. Nach einem Blick auf mein<br />

Amulett springe ich erschrocken auf. Warum passiert mir das<br />

immer, wenn ich sogar früher als sonst zu Bett gehe? Ich habe<br />

gelesen und bin dabei eingeschlafen.<br />

Schnell schlüpfe ich in die Jeans, schnappe mir das Buch, das<br />

neben meinem Kopfkissen liegt, und husche aus dem Zimmer<br />

am Bad vorbei in die Küche.<br />

„Morgen“, lasse ich verlauten, noch ehe ich die Tür erreicht<br />

habe, doch es sind we<strong>der</strong> Max noch Olivia da, die etwas erwi<strong>der</strong>n<br />

könnten.<br />

Mir ist mulmig zumute wegen des gestrigen Zwischenfalls.<br />

Natürlich habe ich überreagiert auf Olivias Frage, das ist mir<br />

heute Morgen klar. Hoffentlich sind die beiden nicht beleidigt<br />

und denken, ich sei eine verzickte Göre, o<strong>der</strong> noch schlimmer,<br />

ich sei undankbar. Ich finde es nämlich inzwischen ziemlich<br />

cool hier.<br />

Ich nehme mir zwei Scheiben Toast und mache mich eilig<br />

auf den Weg in den Tierpark. Mal sehen, ob ich Olivia zur Hand<br />

gehen kann. Ich will die Unstimmigkeiten so rasch wie möglich<br />

ausräumen.<br />

Beim Tierpark angekommen, sehe ich mich erst einmal um.<br />

Ein Blick auf das Amulett verrät, dass es kurz vor elf ist, also<br />

noch zu früh für den allmittäglichen Besucheransturm. Olivia<br />

wird noch nicht durch sein mit ihrer Runde, aber sie ist nirgends<br />

zu sehen. Das Affengehege sieht aus wie nach einer Schlacht<br />

am kalten Buffet, also ist sie hier schon fertig mit <strong>der</strong> Essens-<br />

105


verteilung. Beim Terrarium stoße ich beinahe mit <strong>der</strong> kleinen<br />

Karre zusammen, die Olivia zum Transportieren <strong>der</strong> Futterkessel<br />

braucht. Sie kann also nicht weit sein. Als ich aber um die Ecke<br />

spurte, bleibe ich abrupt und mit offenem Mund stehen. Auf<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite des Tigergeheges steht Jonathan unübersehbar<br />

ans Gelän<strong>der</strong> gelehnt. Vor Schreck weiß ich nicht, wie ich<br />

reagieren soll.<br />

„Hey“, ruft er gut gelaunt und lehnt sich winkend herüber.<br />

„Hey“, rufe ich zurück, da mir nichts Schlaueres einfällt.<br />

„Alles klar bei den Pinguinen? Wenn du vorhast, nun beim<br />

Tiger aufzuräumen, muss ich dir lei<strong>der</strong> für heute eine Absage<br />

erteilen“, bringt Jonathan humorvoll die Unterhaltung auf unsere<br />

letzte Begegnung. Es ist also wahr, ich bin erleichtert. Ich habe es<br />

nicht nur geträumt. Die Sonne blendet und ich sehe durch meine<br />

zusammengekniffenen Augen, wie er mich anlächelt. Blendend,<br />

ist alles, was ich denken kann.<br />

„Keine Sorge“, antworte ich, bemüht den Gesprächsfaden<br />

nicht abreißen zu lassen, „das ist erst für morgen vorgesehen.“<br />

„Gut“, ruft Jonathan zurück und lächelt, „heute hab ich schon<br />

etwas vor.“<br />

„Was denn?“, frage ich, bevor ich mich zurückhalten kann.<br />

„Kino“, höre ich ihn rufen. „Ist schon lange geplant.“<br />

Ich überlege, ob er sich womöglich den Film anschaut, über<br />

den er sich mit Lily im Laden unterhalten hat. Aber bevor ich eine<br />

vage interessierte Frage in dieser Richtung stellen kann, höre ich<br />

bereits einige Gesprächsfetzen herüberwehen: „… Buch ist ein uralter<br />

Klassiker … endlich verfilmt worden … absolut <strong>der</strong> Hammer“<br />

Gab es damals schon Kinos, überlege ich? Vielleicht gab es<br />

nur Theaterstücke o<strong>der</strong> die ersten Stummfilme und er ist nun<br />

fasziniert von all den Spezialeffekten und dem Dolby Surround,<br />

106


das wäre ich sicher auch. Kann er mich denn nicht fragen,<br />

ob ich mitkommen möchte? Soll ich ihn fragen? Nein, das ist<br />

zu aufdringlich. Er sollte schon selbst auf die Idee kommen.<br />

Ich lasse meinen Blick nervös über die umherschlen<strong>der</strong>nden<br />

Besucher wan<strong>der</strong>n und bete still, er möge den gegenwärtigen<br />

ersehnten Augenblick nicht mit einem nichtssagenden Mach’s<br />

gut in den Abgrund des Tigergeheges stürzen lassen.<br />

„Wir sehen uns“, ruft er aber dann und wendet sich in die<br />

Richtung, aus <strong>der</strong> er gekommen ist.<br />

Mein Herz macht einen Aussetzer und schlägt dann unverzüglich<br />

schneller, wie um den verpassten Pulsschlag wie<strong>der</strong><br />

wettzumachen. Bevor ich etwas Vernünftiges sagen kann, ist er<br />

verschwunden. Er scheint einfach nicht greifbar zu sein. Warum<br />

schaffe ich es nie, locker und unbeschwert mit ihm zu plau<strong>der</strong>n?<br />

Liegt es an meinen hyperaktiven Hormonen, die mir eine Überdosis<br />

Endorphine verabreichen, sobald ich ihn sehe, o<strong>der</strong> eher<br />

daran, dass er ein zeitunabhängiges Phänomen zu sein scheint?<br />

Vielleicht kann er gar nicht mit mir ausgehen, da niemand<br />

außer mir ihn sehen kann. Er spaziert einfach am frühen Nachmittag<br />

ins Kino, wenn noch wenig Besucher da sind, und setzt<br />

sich auf einen leeren Platz. Das klingt absolut albern und ich<br />

bin mir wirklich nicht sicher, ob ich gerade mein Herz o<strong>der</strong><br />

meinen Verstand verliere.<br />

Ich renne zurück nach Hause. Irgendwo dort muss eine dieser<br />

Zeitungen sein. Max lässt sie doch sonst immer herumliegen,<br />

doch ausgerechnet heute hat Olivia gründlich aufgeräumt. Es<br />

ist zum Verrücktwerden. Ich könnte auch mit dem Handy im<br />

Internet nachsehen. Wo aber ist mein verflixtes Handy?<br />

Endlich finde ich es unter einem T-Shirt, das den Weg in<br />

den Wäschekorb noch nicht gefunden hat. Kinoprogramm Bern,<br />

107


Cineman. Vierzehn Uhr ist die erste Vorstellung, dann erst wie<strong>der</strong><br />

eine um siebzehn Uhr und noch eine weitere um zwanzig<br />

Uhr fünfzehn. Das Kino heißt Capitol an <strong>der</strong> Kramgasse. Keine<br />

Ahnung, wo das ist, aber ich werde mich durchgoogeln.<br />

Mist, es ist schon fast ein Uhr. Soll ich mich noch umziehen?<br />

Vielleicht konnte er mich im gleißenden Sonnenlicht auch nicht<br />

so klar sehen. Ich könnte mir ein Kleid anziehen. Besser nicht,<br />

sonst denkt er, ich hätte mich extra für ihn herausgeputzt.<br />

Ich öffne den kleineren Koffer, den ich bisher noch gar nicht<br />

geöffnet habe. Die Jeans behalte ich an und ziehe nur ein neues<br />

T-Shirt an. Das ärmellose Goldfarbene und den beigefarbenen<br />

Blazer dazu – oh nein, ich habe die passenden Schuhe nicht mit<br />

eingepackt. Was ist nur los mit mir? Ich höre mich ja schon an<br />

wie Maman. Er wird sich kaum für meine Schuhe interessieren,<br />

ich kann froh sein, wenn er überhaupt eine Spur von Interesse<br />

für mich aufbringt. Das Amulett werde ich tragen und die Haare<br />

zusammenbinden. Nein, besser doch nicht. Ich muss los, sonst<br />

schaffe ich’s nicht rechtzeitig.<br />

<strong>Der</strong> Bus hält nicht weit von hier. Ich habe ein paar dieser<br />

Münzen, die ich noch immer nicht auf Anhieb auseinan<strong>der</strong>halten<br />

kann, in meiner Hosentasche. Das sollte reichen für ein Ticket.<br />

Ich werfe sie wahllos in den Schlitz und sie landen scheppernd<br />

wie<strong>der</strong> im Ausgabefach.<br />

„Sie müssen erst den Zielort eingeben, junges Fräulein“, sagt<br />

eine ältere Frau neben mir.<br />

Natürlich, daran habe ich nicht gedacht. Ich nicke lächelnd<br />

und danke ihr in schnellem Französisch, damit sie denkt, ich sei<br />

eine Touristin und keine dämliche Tussi.<br />

<strong>Der</strong> Bus kommt und ich steige ganz hinten ein.<br />

108


Joel<br />

„Joel, hörst du nicht zu?“<br />

„Was ist?“, frage ich in Gedanken versunken. Ich suche nach<br />

etwas Kleingeld für Popcorn, finde aber nur leere Kaugummipapiere<br />

in meiner Jackentasche.<br />

„Ich muss aufs Klo. Wartest du hier?“<br />

Ich stöhne innerlich. Danach könnte man eine Uhr richten.<br />

Cola öffnen, zehn Minuten warten, Klo aufsuchen.<br />

„Ja, geh schon. Aber wenn <strong>der</strong> Film weitergeht, bin ich<br />

wie<strong>der</strong> drin.“<br />

Ich weiß, wie das auf <strong>der</strong> Damentoilette aussieht. Eine endlose<br />

Schlange mit albernen Mädchen, die nur aufs Klo gehen, um ihr<br />

Make-up zu überprüfen. Aber Julie ist acht, sie findet unseren<br />

Platz auch alleine wie<strong>der</strong>.<br />

„Warte auf mich“, mault sie, stellt sich aber trotzdem in die<br />

Reihe mit den kichernden Mädchen im Foyer.<br />

Mein Blick schweift durch die Menschenmenge. Überrascht<br />

stutze ich. Rosalie? Einen kurzen Moment ist ihr Gesicht in<br />

<strong>der</strong> Menge aufgetaucht. Es ist zum Bersten voll in dem Foyer.<br />

Mein Glück, dann hat sie vielleicht nicht bemerkt, dass ich mit<br />

meiner kleinen Schwester hier bin. Wäre peinlich, wenn sie<br />

mich mit ihr zusammen sehen würde. Dass ich dauernd die<br />

Kleine an <strong>der</strong> Backe habe, nervt, aber ich hab’s Mama versprochen.<br />

Ich wäre viel lieber mit ihr ins Kino gegangen, aber ich<br />

kann ja kaum meine Schwester zu einem Date mitbringen. Und<br />

nun sehen wir uns trotzdem denselben Film an. Zur selben<br />

Zeit, fast gemeinsam. Nur fühlt es sich überhaupt nicht an, wie<br />

etwas Gemeinsames. So wie nebeneinan<strong>der</strong>sitzend, das Popcorn<br />

teilen, Hand in Hand.<br />

109


Rosalie<br />

<strong>Der</strong> Film ist ausverkauft. Die erste Vorstellung wäre weniger<br />

voll gewesen, aber die habe ich sausen lassen, da ich Jonathan<br />

nirgendwo entdecken konnte. Stattdessen bin ich die Hauptgasse<br />

auf- und abgeschritten, in <strong>der</strong> Hoffnung, ihm ganz zufällig zu<br />

begegnen, damit er eine weitere Chance hat, mich zum Kinobesuch<br />

zu überreden. Aber er tauchte nirgends auf. Bei <strong>der</strong><br />

zweiten Vorstellung habe ich dann doch ein Ticket gekauft. Er<br />

hat es ja drauf, wie ein Phantom aufzutauchen und wie<strong>der</strong> zu<br />

verschwinden. Warum nicht zur Abwechslung im Kino?<br />

„Klasse Film, findest du nicht auch?“<br />

Oh nein, ich will jetzt nicht in einen Smalltalk mit einem<br />

fremden Typen verwickelt werden. Ich bin mit Jonathan hier,<br />

wenn es auch für Außenstehende nicht ersichtlich ist.<br />

„Klar“, sage ich deshalb kurz angebunden und ärgere mich<br />

sofort, dass ich vergessen habe, auf Französisch zu antworten.<br />

Das hätte mir sicher den weiteren Verlauf dieses unerwünschten<br />

Gesprächs erspart. <strong>Der</strong> Typ lässt sich aber nicht so einfach abblitzen<br />

und will mich weiter mit Fragen löchern.<br />

„Hast du Lust, nach dem Kino noch etwas trinken zu gehen?<br />

Kennst du das Highlight?“<br />

„Sorry, ich bin mit meinem Freund da.“ <strong>Der</strong> Typ sieht mich<br />

fragend an. „Er ist auf dem Klo, kommt aber gleich wie<strong>der</strong>.“<br />

„Dein fester Freund o<strong>der</strong> einfach nur so ein Freund?“, bohrt<br />

<strong>der</strong> Typ weiter.<br />

Das ist doch kaum zu fassen. Allein im Foyer eines Kinos herumzustehen,<br />

mit einem wildfremden Idioten über die Beziehung<br />

mit meinem imaginären Freund zu diskutieren und dabei so zu<br />

wirken, als hätte ich ein echtes Date, ist selbst für meine Ver-<br />

110


hältnisse ziemlich bedenklich. Sophie würde mich für verrückt<br />

erklären. Doch was habe ich für Optionen? Außer Lily, Olivia und<br />

Max kenne ich niemanden in dieser Stadt und die haben alle zu<br />

tun mit ihren Jobs. Ich habe schließlich Ferien, da ist es wohl<br />

erlaubt, mal ins Kino zu gehen, mit wem auch immer. Oh<br />

Scheiße! Ich habe vergessen, eine Nachricht für Olivia und<br />

Max zu hinterlassen. Ich sollte sie anrufen. Wo ist nur wie<strong>der</strong><br />

mein Handy? Hab ich es verloren o<strong>der</strong> zu Hause liegen lassen?<br />

So ein Mist aber auch. Meine Gedanken sind zurzeit völlig von<br />

Jonathan blockiert. Hoffentlich sind sie nicht sauer, wenn ich mich<br />

zum Abendessen verspäte. Ich werde einfach sagen, dass ich im<br />

Kino war, ganz spontan. Mit Jonathan, genau. Dann werden sie<br />

schon verstehen, dass ich etwas zerstreut bin und vergessen habe,<br />

Bescheid zu sagen. Olivia ist nicht so streng wie Maman in diesen<br />

Dingen.<br />

„Wie spät ist es?“, frage ich den Typen, <strong>der</strong> immer noch<br />

neben mir steht.<br />

Er schaut kurz auf sein Handy und sagt: „Viertel vor sechs.“<br />

„Schon? Merde!“<br />

Es ist erst Pause. Das dauert ja ewig. Ich kämpfe mich durch<br />

die Menge nach draußen. <strong>Der</strong> Film interessiert mich nicht<br />

mehr und wenigstens bin ich den Typen so auch gleich los.<br />

Ich werde mir den Film sowieso noch mindestens drei Mal<br />

mit Sophie ansehen müssen, weil sie den Hauptdarsteller vergöttert.<br />

Die Sache mit Jonathan ist ohnehin gelaufen. Selbst<br />

wenn er sich irgendwo in dieser Menge aufhalten sollte und<br />

ich mich trauen würde, ihn anzusprechen, hätte ich keine Zeit<br />

mehr, um mit ihm etwas zu unternehmen. Ich werde schon<br />

jetzt ziemlich spät zum Abendessen kommen.<br />

111


Olivia<br />

„Wo steckt Rosalie eigentlich?“, fragt Max kurz vor dem<br />

Abendessen. „Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen.“<br />

„Ich auch nicht“, bestätige ich. „Sie ist nicht wie üblich im<br />

Tierpark aufgekreuzt. Ist sie nicht in ihrem Zimmer?“<br />

„Nein. Sie wird wohl noch etwas durch die Gegend schmollen<br />

und sich in Selbstmitleid baden. Das kann nicht mehr allzu lange<br />

dauern“, versucht Max es mit Humor zu übertünchen.<br />

„Aber sie braucht sich doch nicht gleich den ganzen Tag zu<br />

verkrümeln. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen. Ich werde<br />

versuchen, sie auf ihrem Handy zu erreichen.“<br />

Ich wähle die Nummer, die in roter Schrift von einem Zettel<br />

leuchtet, <strong>der</strong> flatternd an <strong>der</strong> Kühlschranktüre haftet. Das dumpfe<br />

Plärren einer vertrauten Melodie dringt durch den Flur.<br />

„Das war ja klar“, seufze ich. „Natürlich hat sie ihr Handy<br />

in ihrem Zimmer liegen lassen. Ich schaue einmal nach, ob sie<br />

auch irgendeine Nachricht hinterlassen hat.“<br />

„Das würde ich an deiner Stelle nicht …“, fängt Max an, aber<br />

ich bin schon verschwunden und es bleibt ihm nichts an<strong>der</strong>es<br />

übrig, als den Satz unvollendet im Raum stehen zu lassen.<br />

Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, wenn man sich<br />

einer Teenagerlaune unterwirft. Wenn diese erstmal beschlossen<br />

haben, ihre Mitmenschen mit Verachtung zu strafen, das weiß<br />

ich aus eigener Erfahrung, helfen auch die besten Absichten<br />

nicht, das gutgemeinte Kümmern nicht als bevormundendes<br />

Einmischen aussehen zu lassen. Also kann ich gleich in ihrem<br />

Zimmer nachsehen. Ihre Laune wird dadurch kaum schlechter<br />

werden können.<br />

112


Max<br />

Ich stelle den Auflauf besser zurück in den Backofen, das<br />

kann noch ein Weilchen dauern. Die Tageszeitung liegt unter<br />

einem Stapel mit <strong>der</strong> ungelesenen Post und ich versuche, mich<br />

mäßig interessiert in die Schlagzeilen zu vertiefen. War ja klar,<br />

dass es früher o<strong>der</strong> später zu Reibereien kommen musste. Sie<br />

ist eben ein Teenager, wir haben in dem Alter alle ein bisschen<br />

rebelliert und ab und zu auf Vorschriften gepfiffen. Das wird<br />

sich schon wie<strong>der</strong> legen. Sie wird ja nicht gleich mit dem erst<br />

besten Freund durchbrennen.<br />

„Max!“<br />

Olivias Stimme klingt plötzlich beunruhigend schrill.<br />

Was ist denn nun los? Hat sie tatsächlich eine Nachricht<br />

gefunden, in <strong>der</strong> steht, dass Rosalie ausgerissen ist? Dass dieser<br />

Kerl sie zu irgendwelchem Blödsinn gezwungen hat? An etwas<br />

Schlimmeres will ich gar nicht denken. Ich springe vom Sessel<br />

auf und eile durch den Korridor in Rosalies Zimmer.<br />

„Was ist los?“, frage ich außer Atem, weniger von dem kurzen<br />

Spurt durch den Flur als von <strong>der</strong> düsteren Vorahnung über die<br />

bevorstehende Neuigkeit.<br />

„Sieh dir das einmal an!“, ruft Olivia aufgelöst und streckt<br />

mir einen alten Brief und ein Foto entgegen.<br />

Mit skeptischem Blick erst auf den Brief, dann auf Olivia<br />

nehme ich das gefaltete und vergilbte Stück Papier in die Hand<br />

und versuche zu entschlüsseln, worum es sich handelt. Die<br />

Schrift ist klein, sauber zwar, aber trotzdem nicht auf Anhieb<br />

lesbar. Darum frage ich kurzerhand: „Was steht drin?“<br />

„Es ist wirklich unglaublich“, fährt Olivia in aufgebrachtem<br />

Ton fort.<br />

113


„Nun beruhige dich doch“, versuche ich sie zu beschwichtigen.<br />

„Soweit ich das beurteilen kann, ist es keine Nachricht von<br />

Rosalie. Ich dachte schon, sie hätte sich mit ihrem neuen Freund<br />

aus dem Staub gemacht.“<br />

„Es gibt ihn gar nicht, diesen mysteriösen Freund“, ereifert<br />

sich Olivia. „Das heißt, es hat ihn schon gegeben, aber er ist<br />

nicht ihr Freund und ich bezweifle, dass er überhaupt noch lebt.“<br />

„Nun versteh ich gar nichts mehr.“ Erneut konzentriere ich<br />

mich auf den Brief.<br />

„Es ist verwirrend, das geb ich zu“, räumt Olivia ein. „Aber<br />

sieh doch mal hier. Das ist ein uralter Brief, den Rosalie wohl<br />

irgendwo gefunden hat. Ich hab ihn schon gesehen, sie benutzt<br />

ihn als Buchzeichen. Als ich vorhin ins Zimmer kam, sah ich<br />

ihn neben <strong>der</strong> Kommode auf dem Boden liegen. Automatisch<br />

habe ich ihn aufgehoben, weil ich weiß, dass er Rosalie gehört<br />

o<strong>der</strong> dass sie ihn besitzt, denn gehören tut er ihr ganz<br />

sicher nicht. Jedenfalls ist dabei dieses Foto herausgefallen. Erst<br />

hab ich mir nichts dabei gedacht, aber sieh mal, hier auf <strong>der</strong><br />

Rückseite steht es: Jonathan und Vincent.“<br />

„Tut mir leid, aber dass ergibt doch alles keinen Sinn.“ Ich<br />

schüttle nur den Kopf.<br />

„Und ob“, schließt Olivia den Fall ab. „Jonathan ist dieser<br />

junge Mann hier auf dem Foto. Dieser offensichtlich sehr gut<br />

aussehende junge Mann! Rosalie hat sich in das Foto verknallt<br />

und uns in ihrem jugendlichen Eifer einen imaginären Freund<br />

vorgegaukelt.“<br />

„Warum sollte sie so etwas tun?“, frage ich ungläubig.<br />

„Was weiß ich?“, sagt Olivia dennoch entschlossen. „Aus<br />

Langeweile vielleicht, o<strong>der</strong> um sich wichtig zu machen.<br />

Keine Ahnung, warum sie das nötig hat, aber es ist ein<br />

114


durchaus verbreitetes psychisches Phänomen.“<br />

„Phänomen?“ Allmählich wird mir das alles zu bunt. „Eher<br />

eine psychische Störung. Du solltest besser deine Schwester<br />

anrufen. Es geht ja auch nicht, dass sie stundenlang wegbleibt,<br />

ohne uns zu sagen, wo sie sich herumtreibt.“<br />

Rosalie<br />

„Tut mir leid!“ Erstaunt drehen sich beide um. Ich stehe hinter<br />

ihnen in <strong>der</strong> geöffneten Zimmertür mit geröteten Wangen<br />

und hängenden Schultern. „Es tut mir wirklich leid“, sage ich<br />

nochmals mit schuldbewusster Miene, „ich hab nicht so lange<br />

wegbleiben wollen.“<br />

„Wo um Himmels willen warst du denn?“ Olivia zieht mich<br />

mit einem Ruck an sich und drückt mir kurz die Luft ab in ihrer<br />

überschwänglichen Erleichterung.<br />

„Erst war ich drüben im Tierpark, um dich zu suchen“, erkläre<br />

ich aufrichtig. „Aber anstatt dich habe ich Jonathan getroffen<br />

und er hat mich mit ins Kino genommen. Wir wollten uns erst<br />

die Vorstellung um 14 Uhr ansehen, aber wir verpassten den<br />

Anfang, also gingen wir in die spätere …“<br />

„Rosalie!“, zischt Olivia schärfer, als ich erwartet hätte.<br />

„Was denn?“ Ich erschrecke. „Ich war schon öfter mit Freunden<br />

im Kino. <strong>Der</strong> Film hat nicht einmal eine Altersbeschränkung. Ich<br />

weiß, ich hätte erst fragen müssen, aber es war eine spontane<br />

Idee.“<br />

„Setz dich“, sagt Max in ruhigem Ton, bemüht, die Situation<br />

nicht eskalieren zu lassen.<br />

115


Mir ist nicht bewusst, dass ich mich mit dieser Geschichte<br />

gerade in die Nesseln gesetzt habe, aber Olivia klärt mich unmissverständlich<br />

auf.<br />

„Wir wissen, dass das gelogen ist“, sagt sie mit vor Enttäuschung<br />

zittriger Stimme. „Warum erzählst du uns dieses<br />

Märchen? Sag uns einfach, wo du warst und warum du glaubst,<br />

du müsstest uns einen erfundenen Freund vorflunkern.“<br />

„Er ist nicht erfunden!“, rufe ich entrüstet. “Verstehst du<br />

nicht? Er ist wie<strong>der</strong> aufgetaucht, es gibt ihn wirklich! Ich hatte<br />

ja selbst schon angefangen, daran zu zweifeln, aber gerade in<br />

dem Augenblick, als ich auf mein Amulett schaute, um zu sehen,<br />

wie spät es ist, war er wie<strong>der</strong> da. Genau wie beim letzten Mal.<br />

Ich glaube, das Amulett lässt ihn erscheinen!“<br />

Olivia sieht mich mit großen Augen bekümmert an.<br />

Max<br />

Was ist das denn nun für eine Geschichte? Sie kann doch<br />

wirklich nicht erwarten, dass wir ihr glauben, nur weil sie dem<br />

Amulett magische Fähigkeiten andichtet. Die ganze Sache ist<br />

noch beunruhigen<strong>der</strong>, als ich zunächst angenommen habe. Ich<br />

ziehe Olivia beiseite, bevor sie zu einer weiteren Standpauke<br />

ansetzen kann, und sage mit ruhiger Stimme: „Okay, Rosalie.<br />

Beruhige dich erst einmal. Wasch dich und dann komm in die<br />

Küche zum Abendessen.“<br />

Ich ziehe Olivia aus dem Zimmer und mit mir in die Küche.<br />

Sie setzt sich an den Küchentisch und nippt gedankenverloren<br />

an einem halbleeren Wasserglas. Ich nehme es ihr schweigend<br />

116


aus <strong>der</strong> Hand und ersetze es durch ein halbvolles Weinglas.<br />

„Was ist denn bloß in sie gefahren?“ Sie schüttelt betrübt den<br />

Kopf. „Sie hat sich da in eine seltsame Fantasie verstrickt. Das<br />

macht mir Sorgen, Max. Mit vierzehn sollte sie Realität und<br />

Wunschdenken langsam unterscheiden können. Wie sollen wir<br />

darauf nur reagieren?“<br />

„Ruf deine Schwester an. Sie soll entscheiden, was für<br />

Konse quenzen das hat. Wir können Rosalie schließlich keine<br />

Strafe aufbrummen, jedenfalls nicht ohne Violettas Zustimmung“,<br />

sage ich nur.<br />

„Sie hat ja nichts wirklich Schlimmes getan“, überlegt Olivia<br />

laut. „Ich bin auch manchmal weggeblieben o<strong>der</strong> habe meinen<br />

Eltern nicht immer die <strong>Wahrheit</strong> erzählt. Wir sollten sie nicht<br />

vorschnell verurteilen.“<br />

„Tun wir nicht, aber denke an die letzten Tage, Olivia. Rosalie<br />

hat begonnen, sich immer mehr abzuschotten. Was ist, wenn sie<br />

plötzlich doch eine Dummheit begeht?“<br />

„Wieso denkst du immer gleich ans Schlimmste?“, fragt sie<br />

erschrocken.<br />

Ich kann ihr keine passende Antwort auf diese Frage geben.<br />

Eigentlich bin ich es ja, <strong>der</strong> versucht hat, das Ganze locker und<br />

unverkrampft anzugehen. Aber diese Situation gerät allmählich<br />

aus dem Ru<strong>der</strong>. Ich habe ein ungutes Gefühl.<br />

Olivia<br />

Das Abendessen hat noch schweigsamer stattgefunden als<br />

üblich. Rosalies Laune ist nicht schlechter als sonst, aber das<br />

117


macht mich ehrlich gesagt auch nicht ruhiger. Ich werde nicht<br />

schlau aus ihr, sie lässt mich einfach nicht an sich heran. Den<br />

ganzen Abend lang habe ich hin und her überlegt und schlussendlich<br />

muss ich Max recht geben. Violetta sollte es erfahren.<br />

Mit einem weiteren Glas Wein mache ich mich auf ins<br />

Arbeitszimmer und suche nach dem Adressbuch, das ich irgendwo<br />

in einer Schublade des alten Schreibtischs deponiert habe.<br />

Nach kurzem Stöbern finde ich es. Ich drehe die kleine Visitenkarte,<br />

die ich darin gefunden habe, um und lese die winzigen,<br />

in kursiver Schrift gedruckten Zeilen unter dem vertrauten Namen<br />

mehrmals durch. All diese Titel – alles nur eine Kombination<br />

von Buchstaben, die mir ihre genaue Bedeutung und den damit<br />

verbundenen Bewun<strong>der</strong>ungsgrad nicht vermitteln können. Oh,<br />

Violetta, wer bist du nur? Warum bist du mir so fremd geworden?<br />

Ich weiß, dass ich nicht um dieses Gespräch herumkommen<br />

werde, aber ich kann mich einfach nicht durchringen, diese<br />

Nummer zu wählen.<br />

Rosalie<br />

Unaufgefor<strong>der</strong>t räume ich den Tisch ab und spüle das<br />

Geschirr. Ich habe gesehen, wie Olivia und Max tiefgründige<br />

und schwere Blicke ausgetauscht haben. Was werden sie jetzt<br />

unternehmen? Sie glauben kein Wort von dem, was ich erzählt<br />

habe. Ist ihnen auch nicht zu verübeln, schließlich glaube ich<br />

es selbst kaum. Aber es ist wirklich zu blöd, dass Olivia diesen<br />

Brief gefunden und auch noch geöffnet hat. Hätte sie das Foto<br />

nicht gesehen, wäre meine Geschichte aufgegangen.<br />

118


Und das mit dem Amulett ist auch eine dämliche Sache,<br />

das hätte ich nicht erwähnen sollen. Aber so unglaubwürdig<br />

auch alles scheint, ich habe in dieser Beziehung nicht gelogen.<br />

Ich bin ziemlich schlampig, zugegeben. Ich habe das Foto,<br />

mein Handy und auch die Zeit vergessen. Ich habe vergessen,<br />

Bescheid zu sagen, und auch, dass Olivia und Max sich sicher<br />

Sorgen machen würden. Dass ich nicht mit Jonathan dort war,<br />

son<strong>der</strong>n nur wegen ihm, war auch nicht ganz <strong>der</strong> <strong>Wahrheit</strong><br />

entsprechend, aber das bedeutet nicht, dass ich komplett durchgedreht<br />

bin und ihn mir nur eingebildet habe.<br />

Max sieht fern und Olivia ist im Arbeitszimmer verschwunden.<br />

Es gibt nichts weiter zu tun und ich will mir jetzt keinen Vortrag<br />

über Verantwortung o<strong>der</strong> erste Dates anhören. Gedankenversunken<br />

öffne ich die Tür meines kleinen Zimmers und erschrecke<br />

zum zweiten Mal an diesem Tag.<br />

„Jonathan, was machst du hier?“, flüstere ich beinahe panisch<br />

und schließe eilig die Tür hinter mir. Nach dem Desaster vorhin<br />

will ich mir nicht vorstellen, wie Max und Olivia reagieren werden,<br />

wenn sie einen Jungen in meinem Zimmer vorfinden. Wie schafft<br />

er es nur, immer an den unpassendsten Orten aufzutauchen?<br />

„Ich muss dich dringend sprechen“, flüstert Jonathan zurück.<br />

Sein Anblick, seine Stimme, <strong>der</strong> Schreck und die Enttäuschung<br />

über die Ereignisse <strong>der</strong> vergangenen Stunden lassen<br />

meine Gedanken in schwindelerregende Turbulenzen geraten.<br />

Mein Herz pocht bis zum Anschlag. Ich träume wohl, denke<br />

ich im ersten Augenblick. Aber nein, er ist tatsächlich hier in<br />

diesem Zimmer. Wie oft habe ich mir dies in den letzten Tagen<br />

gewünscht. Es ist wie in einer dieser romantischen Komödien,<br />

nur dass ich im Moment das Gefühl habe, im falschen Film zu<br />

sein. Das wird unmöglich ein Happy End geben.<br />

119


„Geh besser wie<strong>der</strong>“, entscheide ich immer noch flüsternd.<br />

„Ich habe bereits genug Ärger für heute.“<br />

„Okay, das werde ich“, sagt Jonathan. „Aber erst möchte ich<br />

dich um etwas bitten.“<br />

„Was denn?“, frage ich, doch plötzlich habe ich eine Idee. Ohne<br />

seine Antwort abzuwarten, lege ich meine Hand auf seinen Arm<br />

und sage: „Komm mit.“<br />

„Wohin?“ Jonathan ist sichtlich irritiert.<br />

„Ich werde dich meinem Onkel und meiner Tante vorstellen“,<br />

erkläre ich in bestimmten Ton. „Sie sollen dich kennenlernen.“<br />

„Ich … Nein … Das geht nicht“, stammelt Jonathan erschrocken.<br />

„Doch, klar geht das. Hab dich nicht so, sie werden dir wohl<br />

kaum gleich den Kopf abreißen.“ Plötzlich bin ich ganz aufgekratzt.<br />

Jetzt wird sich alles klären. Jetzt müssen sie mir einfach<br />

glauben.<br />

Ich öffne die Tür und rufe: „Olivia, Max!“<br />

Max<br />

Ein weiteres Mal höre ich heute meinen Namen durch den<br />

Flur dröhnen. Doch diesmal schrecke ich nicht sofort auf. Ich<br />

nehme die Fernbedienung und stelle den Ton auf stumm. Langsam<br />

erhebe ich mich aus dem Sessel und nehme einen großen<br />

Schluck aus dem noch halbvollen Bierglas. Eigentlich ist mein<br />

Tagesbedarf an Aufregung für heute gedeckt.<br />

Olivia erscheint vor mir im Flur und wir sehen beide Rosalies<br />

Kopf hinter <strong>der</strong> Zimmertür hervorragen.<br />

120


„Er ist hier“, verkündet sie strahlend. „Er ist hier in meinem<br />

Zimmer. Seht selbst.“<br />

Sie öffnet die Tür und unser Blick fällt staunend auf ein leeres<br />

Bett.<br />

121


Komplikationen<br />

Jonathan<br />

Es wird immer schwieriger, ein bisschen Zeit mit ihr zu<br />

verbringen. Ich muss meine Zeit stehlen und sie muss ihre<br />

rechtfertigen. Wir sehen uns kaum noch, und wenn, ist Vincent<br />

immer dabei. Unsere Diskussionen, so interessant sie auch sind,<br />

drehen sich um Bücher, Kunst und lauter Dinge, zu denen ich<br />

wenig beitragen kann.<br />

Die Nachricht von ihrer Schwangerschaft hat alles verän<strong>der</strong>t.<br />

Nun hat sie kaum mehr Zeit für mich übrig. Rund um die<br />

Uhr wird sie bemuttert und geschont, als wäre ihr Zustand eine<br />

schwere Krankheit, die absolute Ruhe verlangt. Vincent kann<br />

unmöglich glauben, dass er <strong>der</strong> Vater ist, aber er spielt diese<br />

Rolle hervorragend. Zu gut für meinen Geschmack, aber seine<br />

Überfürsorglichkeit scheint Romilda auch noch zu gefallen. Bald<br />

glauben sie beide, dass es ihr gemeinsames Kind ist …<br />

122


„Was ist los mit dir?“, fragt Vincent.<br />

„Ich weiß nicht, was du meinst“, verteidige ich mich.<br />

„Du bist unkonzentriert. Du solltest besser auf Silberschweif<br />

achten, sein Vor<strong>der</strong>bein lahmt. Ich will, dass er in einem tadellosen<br />

Zustand ist, wenn ich am Wochenende mit Romildas Vater<br />

ausreite.“<br />

„Keine Sorge, ich kümmere mich darum“, antworte ich. „Er<br />

ist in einen Dorn getreten. Die Wunde hat sich entzündet, weil<br />

ich sie nicht sofort entdeckt habe. Ich …“<br />

„Das sollte nicht passieren“, unterbricht mich Vincent. „Du<br />

musst ihn besser kontrollieren. Wo bist du bloß mit deinen<br />

Gedanken?“<br />

Olivia<br />

Das Gespräch ist nicht gut verlaufen. Violetta ist verärgert<br />

über diese Komplikationen, wie sie es nennt. Ich habe sie zu<br />

beruhigen versucht, aber das scheint sie noch mehr darin zu<br />

bestärken, mir zu verstehen zu geben, dass ich mit <strong>der</strong> Aufgabe,<br />

ihre Tochter zu beaufsichtigen, offensichtlich überfor<strong>der</strong>t<br />

sei. Ich habe ihr zu erklären versucht, dass zwei o<strong>der</strong> drei Tage<br />

Hausarrest bestimmt die nötige erzieherische Wirkung erzielen<br />

werden, aber es hilft alles nichts. Violetta besteht darauf, Rosalie<br />

so schnell wie möglich abzuholen. Ich bin bestürzt. Das Problem<br />

bin doch nicht ich, auch wenn ich nicht die Zeit habe, um Rosalie<br />

den ganzen Tag zu beaufsichtigen. Schließlich ist Violetta<br />

ebenfalls berufstätig. Sie streunt ja nicht tagtäglich verwahrlost<br />

auf <strong>der</strong> Straße herum. Sie hat Aufgaben zu erledigen und wir<br />

123


achten auf gemeinsame Mahlzeiten. Es ist eindeutig, dass Rosalie<br />

Probleme hat, Realität und Fantasie voneinan<strong>der</strong> zu trennen.<br />

Aber das kommt bei fantasievollen Menschen eben manchmal<br />

vor. Das lässt sich sicher mit Gesprächen und Zuwendung ganz<br />

einfach wie<strong>der</strong> ins Lot bringen. Doch Violetta ist für diese Art<br />

<strong>der</strong> Kritik überhaupt nicht offen. So schlimm, wie sie es aufbauscht,<br />

ist die ganze Angelegenheit nun auch wie<strong>der</strong> nicht.<br />

„Du hast wie immer keinen Schimmer, was wirklich abläuft“,<br />

kritisiert sie mich. „Du lebst weit jenseits <strong>der</strong> Realität, das war<br />

schon immer so. Mit all deinen Tiergeschichten, das ist Kin<strong>der</strong>kram.<br />

Rosalie aber lebt in einer digitalen und virtuellen Zeit.<br />

Die Jugendlichen heute stellen haufenweise Fotos ins Netz und<br />

inszenieren ihre Profile und Alter Egos in <strong>der</strong> Öffentlichkeit,<br />

ohne zu wissen, was sie tun o<strong>der</strong> was sie dabei riskieren.<br />

Imaginäre Freunde sind keine Lappalie angesichts des Vorfalls,<br />

<strong>der</strong> sich vor kurzem an ihrer Schule ereignet hat.“<br />

„Davon kann ich ja nichts wissen, da du mir nie etwas davon<br />

erzählt hast.“<br />

„Es wird auch nicht länger dein Problem sein. Es hat nichts<br />

mit dir zu tun, aber meine Entscheidung ist definitiv“, sagt sie<br />

streng und damit ist die Diskussion beendet.<br />

Es ist absolut haltlos, mir einerseits die Schuld in die Schuhe<br />

zu schieben und mich gleichzeitig auszubooten. Für meine<br />

Schwester, die Anwältin, ist <strong>der</strong> Fall abgeschlossen. Und ich darf<br />

nun das Urteil Max und Rosalie verkünden. Das kann jedoch bis<br />

zum Frühstück warten.<br />

124


Rosalie<br />

„Was hast du getan? Du hast Maman angerufen?“ Mir schießen<br />

die Tränen <strong>der</strong> Wut in die Augen. Ich fange an zu brüllen. „Wie<br />

konntest du mir das antun? Ich habe nicht gelogen! Er war in<br />

meinem Zimmer, aber dieser Feigling ist einfach durchs offene<br />

Fenster abgehauen!“<br />

„Es war niemand im Zimmer“, beharrt Olivia. „Du hast es dir<br />

vielleicht gewünscht o<strong>der</strong> …“<br />

„Nein!“, brülle ich weiter. „Ich hab es mir nicht eingebildet!“<br />

Ich bin verzweifelt. Warum glauben sie mir nicht? Warum sollte<br />

ich sie belügen? „Gut“, räume ich ein, „ich war im Kino, ohne<br />

um Erlaubnis zu fragen. Das war dumm. Aber konntest du es<br />

nicht einfach bei einer Verwarnung o<strong>der</strong> Hausarrest belassen?“<br />

„Rosalie, ich wollte dich doch damit nicht bestrafen“, versucht<br />

Olivia mich zu beschwichtigen. „Aber ich musste es ihr<br />

erzählen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass sie gleich …“<br />

„Musstest du nicht!“, schreie ich erneut. „Du weißt genau, wie<br />

sie ist! Das ist einfach nicht fair!“<br />

Ich renne in mein Zimmer und schlage die Tür mit Wucht<br />

zu, wie ich es zu Hause bei Maman auch getan hätte. Was ist<br />

denn nur los? Hat sich das gesamte Universum gegen mich<br />

verschworen? Jedes Mal, wenn etwas Gutes passiert, geschieht<br />

kurz darauf etwas Schreckliches. Als würde ich jedes Mal<br />

dafür bestraft werden, glücklich zu sein. Warum hat Olivia gleich<br />

Maman angerufen und warum reagiert diese immer wie eine<br />

Furie? Warum ist Jonathan, dieser Idiot, einfach abgehauen und<br />

hat mich im Stich gelassen?<br />

Wütend stopfe ich meine Sachen so, wie sie mir in die Finger<br />

kommen, in die Taschen und Koffer, sauber o<strong>der</strong> schmutzig, es<br />

125


ist mir scheißegal. Ich gehe zur Kommode und suche nach dem<br />

Eulenamulett, aber es ist nicht da. Jetzt kann ich die Tränen<br />

nicht mehr zurückhalten. Ich bin ganz sicher, dass ich es hier<br />

hingelegt habe. Warum ist eigentlich nichts mehr da, wo es sein<br />

sollte? Weinend werfe ich mich aufs Bett und bleibe reglos liegen,<br />

bis auf mein Schluchzen.<br />

Violetta<br />

„Ich kann nicht mehr. Ich weiß nicht mehr weiter. Mir bleibt<br />

auch wirklich nichts erspart.“<br />

„Du bist ja völlig fertig. Nimm erst einmal einen Drink, das<br />

ist gut für deine Nerven“, versucht Elena mich am Telefon zu<br />

beruhigen. „Und dann erzähl mir, was passiert ist. Du klingst ja<br />

grauenhaft.“<br />

„Ich weiß nicht, was genau geschehen ist“, antworte ich wirr.<br />

„Aber es war keine gute Idee, sie dorthin zu schicken.“<br />

„Das weißt du doch gar nicht“, versucht sie mich zu<br />

beschwichtigen. Klar, es war ja auch ihre Idee gewesen.<br />

„Und ob ich das weiß. Sie ist dem noch nicht gewachsen,<br />

sie hat ganz an<strong>der</strong>e Probleme im Moment. Es war zu früh, sie<br />

überhaupt damit zu konfrontieren, solange ich hier nicht durchblicke.“<br />

„Hast du denn schon etwas Neues herausgefunden?“, fragt<br />

sie, wie schon so oft in den letzten Wochen.<br />

„Nein“, antworte ich genervt. „Er ist schon eine Weile<br />

unterwegs und sicher ist er nicht so bescheuert, dass er die<br />

SMS seiner Geliebten an mich weiterleitet. Ich kann sein Handy<br />

126


nur checken, wenn er hier ist. So nachlässig, wie er ist, benutzt<br />

er seit Jahrzehnten den gleichen Pincode. Wenn ich nur<br />

wüsste, wer diese SMS damals gesendet hat, aber mit diesen<br />

unterdrückten Nummern heutzutage … unmöglich. Glaubst du,<br />

ich sollte jemanden beauftragen? Einen Privatdetektiv o<strong>der</strong><br />

so? Ich habe auch nichts über irgendwelche neuen finanziellen<br />

Arrange ments herausfinden können. Vielleicht hat er ja auch<br />

nicht gleich vor, mit diesem Flittchen ernst zu machen.“<br />

„Du hast nichts entdeckt“, wie<strong>der</strong>holt Elena nachdenklich.<br />

„Dann hör auf, dir Sorgen zu machen. Er wird Rosie schon<br />

nicht enterben, solange er keinen Beweis hat, dass sie nicht<br />

seine Tochter ist. Woher sollte er das auch erfahren? Wir beide<br />

sind die Einzigen, die das wissen.“<br />

„Bis jetzt.“ Eine Welle <strong>der</strong> Panik überrollt mich. „Aber was,<br />

wenn Max o<strong>der</strong> Olivia etwas davon erahnen? O<strong>der</strong> Rosie, das<br />

war doch dein Plan? Sie sollte eine Beziehung zu ihrem leiblichen<br />

Vater aufbauen. Das hast du mir doch geraten!“<br />

„Sie soll nur einen Draht zu ihm entwickeln, bevor es zu spät<br />

ist“, beschwichtigt Elena. „Falls Ludovic es irgendwann herausfindet,<br />

und du weißt selbst, dass die Gefahr immer besteht, dann<br />

ist das ihr Fallschirm. Dann kann sie dir später nicht vorwerfen,<br />

du hättest ihr keine Gelegenheit geboten, ihren richtigen Vater<br />

kennenzulernen. Noch ist sie ein unbeschwertes Kind und …“<br />

„Hast du eine Ahnung. Sie hat bereits Dates mit Jungs, die<br />

vor hun<strong>der</strong>t Jahren lebten.“<br />

„Was?“ Elena kann mir nicht folgen.<br />

„Egal, es lief jedenfalls nicht gut. Ich werde sie abholen. Was<br />

meine Tochter braucht, ist kein Fallschirm, son<strong>der</strong>n einen Anker,<br />

<strong>der</strong> sie am Boden hält. Auf die Väter kann ich mich jedenfalls<br />

nicht verlassen. Herrgott, ich verdiene genug, sie wird nicht sehr<br />

127


darunter leiden. Was glaubst du, wer hier überhaupt das Geld<br />

verdient? Er bestimmt nicht mit seinen Hirngespinsten.“<br />

„Violetta, wir wissen beide, dass es nicht um dieses Vermögen<br />

geht. Aber sie wird sich von dir abwenden, wenn es zum Eklat<br />

kommt. Ihr seid euch beide zu ähnlich, sie wird rebellieren und<br />

du wirst sie erziehen wollen – es wird nicht funktionieren.“<br />

Ich schweige verbittert. Das ist lei<strong>der</strong> durchaus realistisch. Rosie<br />

würde für alles mir die Schuld geben. Sie würde sich, nur um<br />

mir eins auswischen zu können, sicher an die falschesten Typen<br />

klammern. O<strong>der</strong> sie würde die Schule schmeißen, um schnellstmöglich<br />

auszuziehen. Ich kenne diese Reaktionen nur zu gut.<br />

„Beruhige dich und vertrau mir“, sagt Elena, die sich meiner<br />

Verzweiflung bewusst ist. „Ich werde eine gute Lösung für euch<br />

beide parat haben. Vertrau mir.“<br />

Das ist leichter gesagt als getan. Es wäre schon um vieles<br />

einfacher, wenn sie auch nichts von all dem wissen würde und<br />

ich einfach einen großen Deckel über das Ganze stülpen könnte.<br />

Keine Ahnung, keine Verpflichtungen und vor allem keine<br />

Sorgen, dass dieses Geheimnis im falschen Augenblick ans Licht<br />

kommt.<br />

Rosalie<br />

Es klopft, doch bevor ich aufschauen kann, geht die Tür auf<br />

und Maman steht im Flur. Sie bleibt stehen, als würde sie es<br />

nicht wagen, einen so engen Raum zu betreten. Ich begrüße sie<br />

nicht. Ohne sie anzusehen, stehe ich vom Bett auf und stopfe die<br />

restlichen Sachen in meine Tasche.<br />

128


„Rosie, hast du alles gepackt?“, fragt sie, aber ich gebe keine<br />

Antwort. Also sagt sie in energischerem Ton: „Dann lass uns<br />

gehen!“<br />

Ich blicke mürrisch auf meine schlampig gepackte Reisetasche.<br />

Es ist mir egal, ob ich alle Sachen habe. Nur Lilys Buch,<br />

das auf <strong>der</strong> Kommode liegt, stopfe ich wütend ins Außenfach.<br />

Wortlos werfe ich mir die Tasche über die Schulter und gehe<br />

an den drei Erwachsenen im Flur vorbei zur Tür hinaus. Die<br />

übrigen Koffer lasse ich unbeachtet zurück. Ich setze mich nach<br />

hinten ins Taxi, das am Ende des kleinen Vorgartens wartet.<br />

Ich schnalle mich sogar an, damit Maman keinen Grund findet,<br />

ein Wort an mich zu richten. Sie redet noch einen Augenblick<br />

mit den beiden auf dem Treppenabsatz <strong>der</strong> Veranda, aber aus<br />

dem Wageninnern kann ich nicht verstehen, worum es geht.<br />

Es ist mir auch egal. Ich sehe, dass Olivia verzweifelt versucht,<br />

ihre Schwester zu beschwichtigen, doch das ist ohnehin zum<br />

Scheitern verurteilt. Violetta Deville hat sich noch nie umstimmen<br />

lassen. Sie kann Entscheidungen zwar bereuen o<strong>der</strong><br />

ihre Meinung plötzlich än<strong>der</strong>n, aber jemandem die Möglichkeit<br />

geben, sie mit Argumenten zu beeinflussen, passt nicht ins<br />

Konzept <strong>der</strong> entschlossenen und konsequenten Businessfrau.<br />

Maman steigt hinten zu mir ins Taxi und <strong>der</strong> Fahrer fährt<br />

los, bevor sie die Tür richtig schließen kann. Sie wirft mir einen<br />

prüfenden Blick zu, aber ich wende demonstrativ den Kopf zur<br />

Seite. Etwas zu schnell fahren wir die Quartierstraße entlang<br />

bis zur nächsten Abbiegung und ich krame in meiner chaotisch<br />

gepackten Tasche nach dem Buch, um hoffentlich weiterhin<br />

einem Gespräch zu entgehen. Endlich finde ich es, schlage es<br />

auf und bemerke sogleich, dass <strong>der</strong> Umschlag mit dem Brief und<br />

dem Foto fehlt.<br />

129


„Umkehren!“, rufe ich mit einem Anflug von Panik in <strong>der</strong><br />

Stimme. „Ich hab etwas Wichtiges vergessen!“<br />

<strong>Der</strong> Fahrer, <strong>der</strong> sich hektisch beschleunigend durch den<br />

Stadtverkehr seinen Weg zum Flughafen bahnt, verlangsamt die<br />

Fahrt und wirft stöhnend einen fragenden Blick nach hinten.<br />

„Auf gar keinen Fall!“, entscheidet Maman. „Weißt du eigentlich,<br />

wie viel Zeit ich bereits verloren habe, um dich hier<br />

abzuholen? Was immer es ist, kauf ein Neues. Ich sage dir<br />

sowieso dauernd, du sollst auf deine Sachen aufpassen. Das ist<br />

so typisch, Rosie. Aber es passt ja wie<strong>der</strong> wun<strong>der</strong>bar. Du machst<br />

Ärger und ich muss es ausbügeln. Du verlierst deinen Schmuck,<br />

dein Handy – o<strong>der</strong> deinen Verstand.“<br />

Ich schließe die Augen. Ich kann sowieso nichts mehr sehen<br />

durch den Tränenschleier. In meinem Hals steckt ein dicker Kloß<br />

und ich denke darüber nach, was wohl passieren würde, wenn<br />

ich bei <strong>der</strong> nächsten Ampel aus dem Wagen springen würde.<br />

Olivia<br />

Betrübt sitze ich am Küchentisch, das Gesicht in die Hände<br />

gestützt, während Max mich stumm betrachtet und nicht weiß,<br />

was er zu <strong>der</strong> ganzen Geschichte sagen soll. Er ist auch nicht<br />

glücklich, wie alles abgelaufen ist. Aber im Grunde spielt es<br />

keine große Rolle, meint er, ob Rosalie nun zwei Wochen früher<br />

als geplant nach Hause fährt. Was ihn ärgert, ist die Art, wie<br />

Violetta mir zu verstehen gegeben hat, dass sie enttäuscht ist<br />

und es offenbar ein Fehler war, ihre Tochter in die Obhut zweier<br />

… wie hat sie es ausgedrückt? Sie sagte: sich eher den einfache-<br />

130


en Spezies zugewandten Personen zu geben. Sie hat wirklich<br />

keinen Schimmer, was es bedeutete, sich Tag für Tag mit diesen<br />

einfachen Spezies auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Die kann man nicht mit<br />

ein paar einstudierten Argumenten einschüchtern o<strong>der</strong> durch<br />

ihre offensichtliche Abhängigkeit zu Verpflichtungen nötigen.<br />

Tiere sind auf ihren Instinkt fixiert, aber <strong>der</strong> ist unverfälscht<br />

und nicht zu bestechen.<br />

„Ich habe einen Fehler gemacht“, sage ich mehr zu mir selbst<br />

als zu Max, <strong>der</strong> immer noch vor sich hingrübelt.<br />

„Wir machen alle Fehler“, sagt er daraufhin. „Immer wie<strong>der</strong>,<br />

das ist nicht zu vermeiden.“<br />

„Ich hab das nicht gewollt“, beteuere ich. „Ich wollte nur<br />

helfen. Violetta, Rosalie. Auch dir wollte ich es nur recht<br />

machen“, füge ich mit einem Seufzer hinzu. „Jetzt habe ich es<br />

wohl endgültig versiebt mit Violetta.“<br />

„Das ist wirklich nicht deine Schuld“, sagt Max nachdenklich.<br />

„Irgendetwas ist nicht in Ordnung bei denen, sonst hätte deine<br />

Schwester nicht so übertrieben reagiert. Sie hat sich ja kaum angehört,<br />

worum es eigentlich ging. Sie hörte nur das Wort Komplikation<br />

und ist gleich in hellster Aufregung hier angerauscht. Sie<br />

hat sich nicht einmal Rosalies Version <strong>der</strong> Geschichte angehört.“<br />

„Aber wir doch auch nicht, Max“, entgegne ich. „Wir<br />

haben uns auch nicht erst alle Fakten und Argumente angehört<br />

und bedacht, bevor wir gehandelt haben.“ Ich wische mir eine<br />

Träne aus den Augenwinkeln und fahre fort: „Wir haben Rosalie<br />

einfach unterstellt, sie würde uns belügen, aber offensichtlich<br />

glaubt sie selbst an das, was sie uns erzählt hat.“<br />

„Hmm“, macht Max und verschwindet in <strong>der</strong> Küche. Offenbar<br />

will er sich nicht länger über Violettas Beweggründe Gedanken<br />

machen. Er hat recht, es hat noch nie etwas gebracht.<br />

131


Ohne Atempause<br />

Rosalie<br />

Zuhause angekommen verschwinde ich gleich in meinem<br />

Zimmer. Die Tasche werfe ich achtlos in meinem Zimmer auf<br />

den Boden, aber meine Koffer überlasse ich, wer auch immer<br />

sich darum kümmern mag. Soll Maman sich ruhig darüber<br />

ärgern. Ich habe keine Ahnung, ob Emilia schon wie<strong>der</strong> aus dem<br />

Urlaub zurück ist, aber das Zimmer sieht frisch geputzt aus, was<br />

wohl kaum Maman zu verdanken ist. Sie wird sich also nicht<br />

lange ärgern können.<br />

Als Erstes setze ich mich mit dem Computer aufs Bett.<br />

Ich logge mich ein und bin innert Minuten wie<strong>der</strong> zurück in<br />

meinem alten Leben und innert einer Stunde wie<strong>der</strong> auf dem<br />

Laufenden, was mir in den letzten Wochen entgangen ist.<br />

Sophie hat sich in meiner Abwesenheit anscheinend blendend<br />

mit Valérie verstanden und diese ist ganz offensichtlich in den<br />

Mathelehrer verschossen, den sie unverblümt als Mr. Daydream<br />

132


in ihren dramatischen Statusmeldungen deklariert: Multiplikationen<br />

befallen meine Sinne, wenn Mr. Daydream seine Formeln<br />

auf mich anwendet.<br />

Hat die noch alle Tassen im Schrank? Das wird ganz bestimmt<br />

mehr als Multiplikationen auslösen, schließlich ist jungen<br />

Lehrern <strong>der</strong> Zugang zu sozialen Netzwerken bestens bekannt.<br />

Doch je mehr ich davon lese, desto mehr erscheinen mir die<br />

Gedanken und Problemchen meiner Freunde banal. Sie haben<br />

keine Ahnung, wie es ist, wenn jemand an deinem Verstand<br />

zweifelt, wenn man sogar selbst an seinem Verstand zweifelt.<br />

Violetta<br />

Nervös beiße ich auf meinem Daumennagel herum, was wie<strong>der</strong>um<br />

bewirkt, dass ich noch nervöser werde. Ich habe neulich<br />

erst ein kleines Vermögen für die Maniküre ausgegeben und<br />

nun fängt bereits <strong>der</strong> Lack an zu splittern. Mon dieu, Rosie,<br />

denke ich kopfschüttelnd. Mit solchen Geschichten versucht<br />

meine Tochter also, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.<br />

Muss sich denn immer alles nur um sie drehen?<br />

Ich bin so erleichtert gewesen, dass Rosie sich bereits nach<br />

wenigen Tagen gut eingelebt hat. Beinahe beängstigend gut,<br />

hatte ich mich schon gewun<strong>der</strong>t. Olivia hat mir erzählt, dass<br />

sie sogar abwäscht und im Stall mitgeholfen hat. Das hätte ich<br />

nicht erwartet. Aber kaum ist sie zurück, stellt sie nicht einmal<br />

mehr die Koffer anständig in den Flur. Trotz und Rebellion, wo<br />

immer es möglich ist.<br />

Wenn es nur das wäre, könnte ich mich ja damit abfinden.<br />

133


Nun ist aber offensichtlich das vorgefallen, was nicht hätte<br />

passieren dürfen. Es passt ganz und gar nicht in den Plan, den<br />

Elena mir so sicher und erfolgsversprechend aufgeschwatzt<br />

hat. Natürlich ist mir klar, dass vierzehnjährige Mädchen<br />

bereits den Kopf voller Gedanken an Jungs haben. Aber ich<br />

hätte von Olivia und Max etwas mehr Sensibilität in dieser<br />

Richtung erwartet. Ein älterer Junge, egal ob imaginär o<strong>der</strong> real,<br />

steht außer Diskussion für meine min<strong>der</strong>jährige Tochter. Dafür<br />

hat sie noch lange genug Zeit, wenn sie die Schule wie<strong>der</strong> im<br />

Griff hat und etwas zuverlässiger ist. Sie ist immer noch sehr<br />

verantwortungslos und mit vierzehn noch viel zu jung für … Du<br />

lieber Gott, ich wage gar nicht, daran zu denken! Das hätten die<br />

beiden unterbinden müssen. Sie haben sie einfach tagelang in<br />

<strong>der</strong> Gegend herumstreunen lassen, ins Kino und wer weiß was<br />

noch alles. Da hätte sonst etwas passieren können. Unterdessen<br />

widmet Rosie bereits ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem künftigen<br />

… das kann man ja nicht einmal Schicksal nennen! Das ist<br />

reine Dummheit und Ignoranz.<br />

Und was soll ich überhaupt von Olivias Gerede über Rosies<br />

eingebildeten Freund halten? Mir ist seit langem klar, dass<br />

Olivia einen Hang zum Übernatürlichen hat. Nichts Esoterisches<br />

o<strong>der</strong> Religiöses, es ist eher eine Wahrnehmungsstörung. Sie ist<br />

<strong>der</strong> sturen Überzeugung, sie könne mit Tieren kommunizieren.<br />

Eine wirklich kindische Vorstellung. Wenigstens hat ihr diese<br />

beson<strong>der</strong>e Fähigkeit die Bewun<strong>der</strong>ung ihres angetrauten Viehhüters<br />

und diesen unsäglichen und gefährlichen Job eingebracht.<br />

Aber abgesehen davon ist sie in ihrem Nest aus Kin<strong>der</strong>träumen<br />

und Viehmist hängengeblieben.<br />

Rosalie ist auch ein verträumtes Kind gewesen und ihre<br />

gedanklichen Abschweifungen lassen sie meist die kleinen, aber<br />

134


elementaren Dinge des Lebens außer Acht lassen. Aber trotz<br />

allem ist sie nie eine Spinnerin gewesen. Nie hat sie irgendwelche<br />

Stimmen gehört o<strong>der</strong> Lügengeschichten erzählt. Wenn<br />

überhaupt, wird sie dazu angestiftet.<br />

Rosalie<br />

Die letzten Tage habe ich nur in meinem Zimmer vor dem<br />

Computer verbracht. Ich habe kaum Appetit und Maman gehe<br />

ich aus dem Weg. Wo steckt Papa überhaupt? Er war noch nie<br />

so lange weg. Hat sie ihn etwa auch schon vergrault? Ich bin<br />

beinahe froh, wenn die Schule wie<strong>der</strong> beginnt, auch wenn<br />

ich mich dann wie<strong>der</strong> mit Sophies Problemchen und Valéries<br />

Gezicke abgeben muss. Ich habe mich da erfolgreich raushalten<br />

können, die letzten paar Wochen. Als Sophie erfahren hat, dass<br />

ich zurück bin, hat sie mir natürlich sofort getextet: Alles klar?<br />

Kommst du zu Val heute? – Wozu?, habe ich zurückgetextet.<br />

Nur so, abhängen. – Sorry, Hausarrest, lüge ich, um dem zu<br />

entgehen. Ich hoffe, sie ist nicht allzu sauer deswegen.<br />

Endlich habe ich mich aufgerafft und bin dabei, meine Schulsachen<br />

aus dem Rucksack zu befreien, den ich am Ende des<br />

letzten Schuljahres achtlos in den Schrank geworfen habe, als<br />

Maman ins Zimmer tritt, ohne vorher anzuklopfen. Ich schaue<br />

sie unbeeindruckt an und lasse mir nicht anmerken, wie sehr es<br />

mir missfällt.<br />

Sie schaut wortlos zu, wie ich lose Blätter zwischen den<br />

Buchseiten herauszupfe und die Bücher zu einem schiefen<br />

Stapel auftürme.<br />

135


„Ich werde neue Schulsachen brauchen. Ein paar <strong>der</strong> Bücher<br />

werden wir wohl in <strong>der</strong> nächsten Stufe noch mal repetieren,<br />

aber …“<br />

„Du wirst alles neu brauchen“, fällt sie mir ins Wort.<br />

Erstaunt sehe ich auf.<br />

„Du wirst auf eine neue Schule gehen, Rosie. Es ist ein Internat.<br />

Eine betreute Unterkunft für Teenager mit … mit sozialen<br />

Anpassungsschwierigkeiten.“<br />

„Aber … Maman!“ Mehr bringe ich beim besten Willen nicht<br />

heraus.<br />

Violetta<br />

„Sie hat es nicht gut aufgenommen“, sage ich zu Elena am<br />

Telefon. Es war noch untertrieben. „Ich dachte, es würde ihr<br />

nicht so viel ausmachen. Sie mag die Schule sowieso nicht und<br />

ihr Verhältnis zu ihren Freundinnen ist momentan auch nicht so<br />

prickelnd, das hat sie jedenfalls Ludovic geschrieben. Herrgott,<br />

bevor du mir darüber einen Vortrag hältst: Ich musste es lesen,<br />

sie erzählt mir ja schließlich nichts.“<br />

„Lass sie bloß nicht wissen, dass du ihre E-Mails checkst“,<br />

antwortet Elena nur.<br />

„Natürlich nicht, ich hab schon genug Probleme mit Ludovic<br />

deswegen. Aber schließlich gehen mich diese Dinge auch etwas<br />

an. Beson<strong>der</strong>s dann, wenn sie mein Leben beeinträchtigen. Ich<br />

verlass mich darauf, dass du weißt, was du tust. Du hast sichergestellt,<br />

dass sie dir zugewiesen wird?“, frage ich, immer noch<br />

hin und hergerissen von diesem Plan.<br />

136


„Ich bin die einzige Psychologin an dem Internat.“<br />

„Wird man sie überhaupt so kurzfristig aufnehmen?“<br />

„Du hast Glück, dass ich so viel Einfluss auf die Direktorin<br />

habe. Es ist nur ein kurzes Aufnahmegespräch nötig. Ich werde<br />

dir sagen, was du ihr erzählen sollst. Es hört sich zwar hart an,<br />

aber du weißt, dass es zu Rosies Bestem geschehen muss. Außerdem<br />

wirkt sie wirklich etwas depressiv, nach allem, was du mir<br />

erzählt hast.<br />

„Naja, vielleicht ist es auch nur stummer Protest. Sie ist in<br />

<strong>der</strong> Pubertät. Ach, mein Gott, ich bin mir wirklich nicht mehr<br />

sicher.“<br />

Die ganze Internatsidee von Elena kommt mir auf einmal<br />

übertrieben vor. An<strong>der</strong>erseits kennt Elena Rosie von klein auf.<br />

Sie wird sie wie<strong>der</strong> zur Vernunft bringen – das hat sie zumindest<br />

versprochen.<br />

Rosalie<br />

Nur noch vier Tage. Vier Tage, bis ich endlich hier weg bin.<br />

Mir ist inzwischen alles recht. Ich habe die letzten beiden Tage<br />

in einem Zustand zwischen Entsetzen, Groll und Trauer verbracht.<br />

Papa ist noch immer in Asien und nur schwer zu erreichen. Er<br />

ist von seiner eigenen Welt so absorbiert, dass ich nicht einmal<br />

sicher bin, ob er über die jüngsten Ereignisse überhaupt auf dem<br />

Laufenden ist. Wahrscheinlich hat er es wie immer mit halbem<br />

Ohr und mäßigem Interesse zur Kenntnis genommen und dann<br />

irgendwo zwischen Aha und Hmm abgelegt.<br />

137


Mit Maman spreche ich kaum mehr. Das mag ihr nicht aufgefallen<br />

sein, da sie vorzugsweise mit sich selbst diskutiert o<strong>der</strong><br />

sich mit Mandanten am Telefon unterhält. Ich sage übertrieben<br />

höflich Danke o<strong>der</strong> Bitte und setze das falsche Lächeln wie eine<br />

Sonnenbrille auf, sobald sie mir begegnet. Ich kann es noch<br />

immer nicht fassen, dass ich so übel bestraft werde für etwas,<br />

was ich gar nicht getan habe. Auch Maman hat beteuert, genau<br />

wie Olivia zuvor, dass es keine Strafe sei und dass alles nur zu<br />

meinem Besten geschähe. Es ist geradezu grotesk. Wie können<br />

die sich nur anmaßen, sie wüssten, was das Beste für mich ist,<br />

wenn sie nicht den blassesten Schimmer haben, worum es hier<br />

überhaupt geht?<br />

Aber ich werde es ihr nicht leicht machen. Ich werde ihr<br />

nicht die Genugtuung verschaffen, indem ich rebelliere und ihr<br />

damit die Rechtfertigung liefere, ich sei ein schwer zu erziehendes<br />

Kind. Ich werde diese verdammte Schule absolvieren, das<br />

wird sowieso nur noch ein paar Jahre dauern. Dann werde ich<br />

mir ein teures Studium so fern wie möglich finanzieren lassen<br />

und danach so früh wie möglich Kin<strong>der</strong> in die Welt setzen, die<br />

ich ihrer viel zu jungen Großmutter dann mit fadenscheinigen<br />

Ausreden vorenthalten werde. Wenn es nur mit Jonathan sein<br />

könnte. Ich werde ihn bestimmt nie mehr wie<strong>der</strong>sehen.<br />

Violetta<br />

In Gedanken versunken ordne ich Rosies Kleidungsstücke,<br />

als könnte ich so gleich auch meine Erinnerungen aufräumen.<br />

Ich falte T-Shirts, drehe Socken um und entferne Löchriges und<br />

138


Verwaschenes. Meine Gedanken kann ich damit jedoch nicht<br />

entrümpeln.<br />

Es war einmal … Nein, so kann ich kaum mit <strong>der</strong> Bewältigung<br />

meiner Vergangenheit beginnen. Es handelt sich schließlich<br />

nicht um eine märchenhafte Begebenheit. Es war einfach nur<br />

<strong>der</strong> Drang einer unbedachten und rebellisch veranlagten jungen<br />

Frau, die davon träumte, etwas Bedeutsameres zu erleben, als<br />

zwischen dem Dorfladen und <strong>der</strong> Sonntagsmesse in Langeweile<br />

zu ertrinken. Aber es hat durchaus einen märchenhaften Aspekt<br />

gehabt, als ich das erste Mal realisierte, wie es sich anfühlte, das<br />

viel zu eng abgesteckte Terrain zu verlassen.<br />

Ich fand meinen Retter in Gestalt eines jungen Motorradhelden,<br />

<strong>der</strong> mich auf seiner Maschine wie ein Prinz seine<br />

Prinzessin in <strong>der</strong> Kutsche dem Fußvolk präsentierte. Natürlich<br />

wusste ich, dass meine Eltern es niemals gutheißen würden,<br />

we<strong>der</strong> das Prinzessinnendasein noch die Zweiradkutsche, und<br />

damit fing auch das Lügen an. Fortan suchte ich nach Schlupflöchern<br />

und unbewachten Grenzübergängen.<br />

Nach und nach entwickelte ich ein Talent im Verschleiern<br />

von Tatsachen und im Ausdehnen von Toleranzen. Einzig die<br />

Konsequenzen machten mir schlussendlich einen Strich durch<br />

die Rechnung. Ich hatte keinen Plan und mich deshalb gründlich<br />

verfahren. Ich befand mich plötzlich in einer scheinbar<br />

ausweglosen Situation, sodass ich mich in Panik an den erstbesten<br />

Anker klammern musste, um nicht komplett aus <strong>der</strong><br />

Bahn geschleu<strong>der</strong>t zu werden.<br />

Das Märchen ist falsch abgelaufen, ich habe als Prinzessin<br />

gestartet und bin zum Aschenputtel geworden. Aber die Geschichte<br />

hat zum Glück nicht so geendet, auch wenn es mir<br />

damals wie das Ende vorgekommen ist.<br />

139


Ich seufze, als ich Rosies Taschen durchsehe. Sie hat so wahlund<br />

planlos gepackt, als wolle sie die Tasche mit dem Inhalt<br />

quälen. Natürlich verstehe ich ihre Entrüstung über den plötzlichen<br />

Schulwechsel, aber es gibt lei<strong>der</strong> keinen an<strong>der</strong>en Weg, sie vor<br />

sich selbst und den schlechten Einflüssen zu schützen. Elena hat<br />

bestimmt recht. Als Einzige hat sie einen objektiven und zudem<br />

professionellen Blick auf das Geschehen. Sie war schon damals<br />

meine beste, nein, meine einzige Freundin. Als ich mit achtzehn<br />

unverhofft und ungewollt schwanger wurde, brach meine bis<br />

dahin so verheißungsvolle Welt zusammen. Ich wusste schon<br />

länger, dass die Motorradgang und ihre Helden nicht meine<br />

Zukunft sein konnten. Und so fädelte ich den Wechsel zu Elenas<br />

Clique, die aus einer Gruppe vielversprechen<strong>der</strong> Psychologieund<br />

Wirtschaftsstudenten bestand, nahtlos ein. Elena hatte mich<br />

mit zu <strong>der</strong>en Partys genommen und mich in die Runde eingeführt,<br />

in <strong>der</strong> ich mich von Beginn an intellektuell gefor<strong>der</strong>t und<br />

angespornt fühlte. Es fiel mir nicht schwer, die jungen angehenden<br />

Doktoren mit Charme um sämtliche Finger zu wickeln. Elena<br />

war auch die Erste gewesen, die meine plötzlichen Unpässlichkeiten<br />

nicht dem exzessiven Partytaumel zuschrieb und mich mit<br />

einem Schwangerschaftstest aus <strong>der</strong> Apotheke aus dem Dunst <strong>der</strong><br />

unbeschwerten Unwissenheit und des blauäugigen Leichtsinns in<br />

die bitterwahre Realität zurückholte.<br />

„Weißt du, wer <strong>der</strong> Vater ist?“, fragte sie mich, als wäre das<br />

ein zufälliger Bonuspunkt, falls dem so sei.<br />

Natürlich wusste ich es, und anstatt beleidigt darüber zu sein,<br />

brachte Elena mich damit auf die zündende Idee. Es war besser,<br />

mein Umfeld nicht über den tatsächlichen Vater in Kenntnis<br />

zu setzen. Also behauptete ich, es wäre Ludovic gewesen. Zu<br />

diesem Zeitpunkt war er die vernünftigste und vielverspre-<br />

140


chendste Wahl und außerdem die einzige Option, die ich hatte.<br />

Schnell war <strong>der</strong> zurückhaltende Pariser Austauschstudent bereit<br />

gewesen, meine Ehre und seinen Ruf mit einer standesamtlichen<br />

Feier zu retten. Doch Elena war besser im Rechnen als Ludovic.<br />

Sie hat nicht lange gebraucht, um dem Geheimnis um Rosalies<br />

verfrühter Geburt auf die Schliche zu kommen.<br />

„Behalte es um Himmels willen für dich“, flehte ich meine<br />

Freundin an.<br />

Elena hielt Wort und genießt seither mein vollstes Vertrauen<br />

und ab und an ein paar <strong>der</strong> unterstützenden Empfehlungen und<br />

Hilfestellungen bei ihrer Berufskarriere in Paris, die ich ihr dank<br />

Ludovics einflussreicher Familie zusichern kann. Seit unserer<br />

Studentenzeit ist sie immer in meiner Nähe gewesen, aber nur<br />

sehr selten bei uns zu Besuch. Meistens telefonieren wir o<strong>der</strong><br />

treffen uns auf einen Kaffee im Stadtzentrum, wenn wir beide<br />

Zeit dafür finden. Manchmal kommt es mir vor, als würde sie es<br />

meiden, meine Familie richtig kennenzulernen. Sie kennt mein<br />

Leben bis ins Detail und berät mich geduldig und interessiert,<br />

was Erziehungsfragen und Beziehungsprobleme angehen. Sie<br />

hat mir immer wie<strong>der</strong> geraten, den Kontakt zum eigentlichen<br />

Vater meiner Tochter wie<strong>der</strong>herzustellen.<br />

„Wozu denn?“, habe ich gefragt. „Unsere Wege haben sich damals<br />

nur durch Zufall gekreuzt. Es gibt keinen Grund, die Geister<br />

<strong>der</strong> Vergangenheit zu wecken. Rosie hat einen Vater und mit ihm<br />

eine gesicherte Zukunft. Als einzige Enkelin von Ludovics Vater<br />

hat sie Anspruch auf ein beträchtliches Vermögen.“<br />

Ich hätte damals nicht gedacht, dass mir die Neuigkeit meiner<br />

Schwester so sehr zusetzen würde. Ich habe Max mehr geliebt,<br />

als ich geglaubt habe. Er ist ein lieber Kerl, aber wir hätten eben<br />

keine aussichtsreiche Zukunft gehabt. Mit ihm hätte ich nie so<br />

141


viel erreicht, wie ich es mit <strong>der</strong> Unterstützung von Ludovics<br />

Vater konnte. Ich dachte, ich würde ihn bald vergessen. Das<br />

hätte ich vielleicht auch, wenn nicht ausgerechnet Olivia ihn<br />

sich unter den Nagel gerissen hätte. Und nun ist er ja so glücklich<br />

mit ihr. Was für eine verdammte Seifenoper! Das Schicksal<br />

kann einen wirklich schwer bestrafen. Was, wenn Olivia auch<br />

noch ein Kind von Max erwartet? Unsere Kin<strong>der</strong> wären nicht<br />

nur Cousins, son<strong>der</strong>n Halbgeschwister.<br />

„Ludovic ist we<strong>der</strong> biologisch noch mental <strong>der</strong> richtige Vater<br />

für Rosie“, bemerkte Elena immer wie<strong>der</strong>. „Du nimmst ihr vielleicht<br />

die Chance, etwas Grundlegendes über ihre Persönlichkeit<br />

zu erfahren.“<br />

Elena fand die Anzeichen alarmierend. Um mich zu einer<br />

Entscheidung zu bewegen, hat sie zu guter Letzt doch noch<br />

einen wunden Punkt gefunden.<br />

„Wenn du sie nicht irgendwann mit psychischen Störungen<br />

in irgendwelche Suchtprobleme abdriften sehen willst, dann<br />

unternimm jetzt etwas, bevor es zu spät ist. <strong>Der</strong> einzig richtige<br />

Weg, nein, <strong>der</strong> einzig wirksame Weg ist das Durchbrechen <strong>der</strong><br />

gewohnten Verhaltensmuster, das weißt du selbst nur zu gut aus<br />

deiner eigenen Vergangenheit. Sie muss endlich einmal raus.<br />

Du musst ihr die Möglichkeit geben, ihre Optionen zu erkennen.<br />

Wie soll sie sonst zu schätzen wissen, was sie hat?“<br />

Damals klang es einleuchtend. Aber jetzt … Was habe ich mir<br />

nur dabei gedacht, Rosie in die Höhle des Löwen zu schicken?<br />

Habe ich gedacht, die Löwen wären inzwischen zahm geworden<br />

und würden eine Beute nicht als solche erkennen und sofort<br />

verschlingen? Ich war damals selbst nur knapp entkommen.<br />

Knapp und nicht gerade schadlos, aber letztlich aus eigener<br />

Kraft.<br />

142


Rosalie<br />

Seit Stunden sitze ich am Computer, nage angestrengt an<br />

diesem Bleistift, als würde es irgendwie beim Schreiben<br />

helfen, und tippe dabei eine weitere E-Mail an Papa. Das heißt, ich<br />

versuche es, aber ich scheitere bereits wenige Zeilen nach <strong>der</strong><br />

Begrüßungsfloskel. Er hat mir noch immer nicht geantwortet auf<br />

meine letzten Nachrichten, aber jetzt ist es wichtig, dass er mir<br />

hilft. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wirklich zulässt, dass<br />

Maman mich auf diese Beklopptenschule schickt. Wegen einer<br />

Schwindelei, wegen eines kleinen Vergehens, sie muss mich<br />

wirklich hassen. Kann gut sein, dass er gar nichts davon weiß.<br />

Salut Papa, wie geht es dir? Du fehlst mir. Ich war, wie du<br />

sicher weißt, bei Tante Olivia in den Ferien, deshalb konnte ich<br />

nicht so häufig schreiben. Nach den Ferien werde ich in ein<br />

Internat gehen, aber das weißt du sicher auch schon.<br />

Ich lese den Satz ein paar Mal durch. Es stimmt soweit alles,<br />

aber ich finde es sehr bedeutungslos, ihn lediglich mit Tat sachen<br />

zu versorgen, die er bereits kennen wird, also füge ich an:<br />

Ich hoffe, du kommst bald nach Hause, wo du mich aber dann<br />

lei<strong>der</strong> nicht mehr vorfinden wirst.<br />

Nein, so kann ich den Satz nicht stehen lassen. Sicher will ich<br />

ihm ein bisschen von dem schlechten Gefühl, das in mir brodelt,<br />

servieren. Wie eine leicht versalzene Suppe. Es darf nicht zu<br />

weinerlich klingen. Ich muss es geschickter formulieren. Darum<br />

lösche ich den eben begonnenen Satz und schreibe stattdessen:<br />

143


Ich hoffe, du verbringst eine angenehme und kurzweilige Zeit<br />

in Hongkong, o<strong>der</strong> wo immer dich diese E-Mail erreicht. Wir<br />

werden, wie es aussieht, künftig vermehrt – ich hoffe nicht ausschließlich<br />

(!) auf diesem Weg kommunizieren müssen, da ich<br />

auf Grund <strong>der</strong> neuen Wohnsituation nicht mehr in <strong>der</strong> Lage sein<br />

werde, dich freudig erwartend zu Hause in Empfang zu nehmen.<br />

Es wird sich sonst aber nicht viel verän<strong>der</strong>n, wenigsten nicht für<br />

dich, das verspreche ich dir.<br />

Bisou, deine Tochter Rosalie<br />

Wenn Papa nicht völlig gefühlsarm und desinteressiert an<br />

meinem Leben ist, muss er diesen von getarnten Vorwürfen<br />

strotzenden Hilfeschrei zur Kenntnis nehmen. Ich zögere noch<br />

eine kurze Sekunde, doch dann drücke ich auf das Senden-<br />

Symbol.<br />

So, das wäre erledigt. Nun zu Sophie, auch ihr will ich einen<br />

Hilfeschrei senden. Eigentlich würde ich lieber an Lily schreiben,<br />

denn die wäre sicher eine größere Stütze als Sophie, die sich<br />

gleich mit den nächstbesten Hühnern in <strong>der</strong> Klasse verbrü<strong>der</strong>t<br />

hat, nur um nicht in Gefahr zu geraten, irgendwo allein herumstehen<br />

zu müssen. Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich Schiss,<br />

mich bei Lily zu melden, weil ich einfach so verschwunden bin,<br />

ohne ihr Bescheid zu sagen. Genau genommen ist das nicht<br />

meine Schuld, aber ich habe ihr Buch mitgenommen, das ich<br />

noch immer nicht zu Ende gelesen habe. Lily wird es zurückhaben<br />

wollen, doch ich bin noch nicht so weit, we<strong>der</strong> zum<br />

Weiterlesen noch zum Zurückgeben.<br />

Ein weiterer Grund ist, dass ich den Kontakt zu Olivia und<br />

Max wie<strong>der</strong> aufnehmen müsste, die ich nicht ohne Weiteres<br />

übergehen kann. Darum erscheint es mir einfacher, gleich<br />

144


ganz jeglichen Kontakt zu jenen im Umkreis des Wurmlochs,<br />

wie ich es mittlerweile in Gedanken nenne, zu vermeiden. Und<br />

dann, und das ist <strong>der</strong> eigentliche Grund, bin ich immer noch<br />

nicht über Jonathan hinweg. Er schleicht sich in jeden meiner<br />

Gedanken und ich hasse ihn dafür, dass er mich so schändlich<br />

im Stich gelassen hat, dass er mich, was die Zeit angeht, zum<br />

Narren gehalten hat, dass er Lily mir vorziehen würde, denn<br />

daran habe ich keine Zweifel. Durch das Amulett konnte ich<br />

immer eine Verbindung zu ihm herstellen, aber da ich es seit<br />

unserer letzten Begegnung nicht mehr besitze, kann ich ihn<br />

auch nicht mehr erscheinen lassen. Tränen rinnen mir über<br />

die Wangen, als mir dieser letzte Gedanke durchs Bewusstsein<br />

flimmert. Rosalie, du bist eine durchgeknallte Heulsuse,<br />

beschimpfe ich mich in Gedanken selbst und versuche, mich mit<br />

einer weiteren sinnlosen Beschäftigung davon abzulenken. Ich<br />

schreibe die E-Mail an meine Freundin.<br />

Salut Sophie,<br />

Es fällt mir schwer, doch lei<strong>der</strong> muss ich dir mitteilen, dass<br />

ich den dunklen Mächten um mich herum erlegen bin. Ein böser<br />

Fluch hat mich heimgesucht, gegen den ich mich nicht länger<br />

erwehren kann. Ich bin auf <strong>der</strong> Flucht vor <strong>der</strong> Zeit, die sich nun<br />

vollkommen gegen mich gewendet hat. Mein einziger Schutz,<br />

ein Talisman, <strong>der</strong> diese Zeit für mich gemessen und erschlossen<br />

hat, wurde mir entwendet – ich bin untröstlich deswegen. In<br />

dieser Stunde werde ich an einem neuen, mir völlig fremden Ort<br />

unterge bracht. Du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu<br />

machen. Zu deinem Schutz und Seelenheil werde ich dich nicht<br />

mit weiteren Details betrauen, zu verworren sind die Umstände,<br />

die unsere Leben künftig voneinan<strong>der</strong> trennen. Lebe deines<br />

145


unbekümmert und im Wissen darum fort, dass ich dich als gute<br />

Freundin in meinen Erinnerungen behalten werde.<br />

Deine Rosalie Devil<br />

PS: Glaube kein Wort über die Gerüchte, die dich unter<br />

Garantie erreichen werden! Es ist alles viel, viel seltsamer.<br />

146


Szenenwechsel<br />

Rosalie<br />

Nach einer ausgedehnten Führung durch die neuen Schulräume,<br />

den Wohntrakt und die angrenzende Mensa werde ich<br />

in einen weiteren Raum gebracht, <strong>der</strong> ganz an<strong>der</strong>s einge richtet<br />

ist, als man es üblicherweise an so einem Ort erwartet. Ich<br />

schaue mich nur flüchtig um, es interessiert mich alles wenig,<br />

ich hasse diesen Ort schon jetzt. Stattdessen setze ich mich auf<br />

die große grüne Couch und betrachte aus reiner Langeweile<br />

den Umschlag, den ich zuvor von <strong>der</strong> Schulleiterin überreicht<br />

bekommen habe. Ich drehe ihn und lese: Dr. Elena Poljakow.<br />

Sie ist Mamans langjährige Freundin, die Psychologin. Ich habe<br />

nicht gewusst, dass sie nun Schulpsychologin an dieser Schule<br />

ist. Wie praktisch, da hat Maman wie<strong>der</strong> sorgsam alle Fäden in<br />

<strong>der</strong> Hand.<br />

Ich habe ohne jegliche Ungeduld zwölf langsam verstreichende<br />

Minuten allein in diesem Zimmer gewartet. Das weiß ich deshalb<br />

147


so genau, weil ich währenddessen gleich drei SMS-Nachrichten<br />

von diversen Hühnern aus meiner alten Schule erhalten habe, die<br />

ich grimmig registriert, jedoch nicht beantwortet habe. Sophie,<br />

dieses Biest, hat tatsächlich meine E-Mail weiterverbreitet, als<br />

wären es die Schlagzeilen einer Depeschenagentur, um sich damit<br />

wichtig zu machen. Ich wusste, dass mein Fernbleiben von <strong>der</strong><br />

alten Schule, in Verbindung mit <strong>der</strong> Nachricht, die ich Sophie<br />

geschickt habe, seine Wirkung nicht verfehlen konnte. Sollen sie<br />

doch denken, was sie wollen, und sich das Maul darüber zerreißen.<br />

Die <strong>Wahrheit</strong> werden sie nicht erfahren, die kenne ich<br />

ja selbst nicht. Ich bin fertig mit ihnen. Sophie hat mich bitter<br />

enttäuscht, ich werde ihr das nicht so schnell verzeihen, wenn<br />

überhaupt.<br />

Aber es hat keinen Sinn, dass ich weiter darüber nach denke.<br />

Wenn die Psychotante gleich aufkreuzt, soll sie mich nicht<br />

schon bei <strong>der</strong> ersten Sitzung in Tränen aufgelöst vorfinden.<br />

Das Ticken <strong>der</strong> Uhr durchdringt den stillen Raum, sodass mein<br />

Blick unweigerlich an <strong>der</strong> großen Uhr, die an <strong>der</strong> gegenüberliegenden<br />

Wand angebracht ist, hängen bleibt. Klischeehafter<br />

geht es gar nicht. Sie wird ihre Sitzungen bestimmt mit den<br />

Worten beenden: So, die Stunde ist um.<br />

Plötzlich öffnet Madame Poljakow die Tür und steht mit zwei<br />

großen Schritten vor mir. Ihr Schatten, den sie dabei über mich<br />

wirft, lässt mich aus meiner Gedankenwelt auftauchen. Sie steht<br />

so dicht vor mir, dass ich es nicht für angebracht halte, mich<br />

von <strong>der</strong> Couch zu erheben, sonst würde ich Bauch an Bauch mit<br />

dieser hünenhaften Frau im Zimmer stehen. Ich bleibe also sitzen<br />

und reiche ihr mit aufgesetztem Lächeln, das ich inzwischen<br />

ohne Mühe zustande bringe, den schon etwas zerknautschten<br />

Umschlag.<br />

148


„Hallo, Rosie“, sagt sie auf Deutsch, während sie einen kurzen<br />

Blick auf den Inhalt des Briefes wirft und ihn dann scheinbar<br />

ungelesen zurück in den Umschlag steckt.<br />

„Bonjour“, erwi<strong>der</strong>e ich knapp, einerseits, weil ich die Einsilbigkeit<br />

bereits verinnerlicht habe, an<strong>der</strong>erseits, weil ich<br />

Mamans Freundin nicht beson<strong>der</strong>s gut kenne und deshalb<br />

verunsichert bin, wie ich sie anreden soll. Ich lasse es bei<br />

dieser reduzierten Form <strong>der</strong> Kommunikation, das erspart mir<br />

meist eine Menge unnützer Diskussionen. Inzwischen habe ich<br />

gelernt, Fragen zu vermeiden, Antworten auf ein Minimum zu<br />

reduzieren und jegliches Interesse zu verbergen. Das ist meine<br />

neueste Philosophie, die ich mit grimmig registriertem Erfolg<br />

bestätigt sehe. Aber was soll die Anrede auf Deutsch?<br />

„Ich werde dich also in <strong>der</strong> nächsten Zeit psychologisch<br />

betreuen. Ich habe gehört, dass du den Sommer in <strong>der</strong> Schweiz<br />

verbracht hast. War sicher aufregend, nicht wahr? Ist es dir<br />

recht, wenn wir das Gespräch in unserer Muttersprache führen?<br />

Du bist ja nun geübt darin und es wird dir vielleicht ein wenig<br />

Distanz zum Schulalltag geben, eine an<strong>der</strong>e Bezugsebene.“<br />

Was soll dieses Geschwafel?<br />

„Ich bevorzuge Französisch“, unterbreche ich sie. Durch den<br />

Aufenthalt bei Olivia habe ich gerade wie<strong>der</strong> einen positiven<br />

Zugang zu meiner Muttersprache gefunden. Die Jahre davor<br />

war sie geprägt von Nörgelei und Vorwürfen gewesen. Das will<br />

ich mir von diesen Psychogesprächen nicht wie<strong>der</strong> vermiesen<br />

lassen. Sie meint wohl, sie hätte damit einen beson<strong>der</strong>en Draht<br />

zu mir. Sie will den Heimvorteil-Bonus nutzen. Keine Chance,<br />

schließlich sind wir hier in einem Pariser Vorort, da soll sie sich<br />

ruhig anstrengen. „Und mein Name ist Rosalie“, füge ich genervt<br />

an.<br />

149


„Nun gut“, fährt Madame Poljakow unbeirrt in Französisch<br />

fort. „Rosalie. Das grundlegende Ziel ist herauszufinden, was<br />

dich belastet und was deine Probleme verursacht. Erst wenn wir<br />

das herausgefunden haben, können wir diese Probleme gezielt<br />

angehen.“<br />

Ich nicke stumm.<br />

„Also, was denkst du, ist <strong>der</strong> Grund für deinen Schulwechsel?“,<br />

fragt Madame Poljakow ohne jegliche Umschweife.<br />

„Keine Ahnung“, sage ich kurz und bündig, aber als ich<br />

Madame Poljakows strenge Stirnfalten bemerke, füge ich noch<br />

an: „Da müssen Sie schon Maman fragen.“<br />

„Sie ist nicht anwesend“, erwi<strong>der</strong>e die Psychologin unbeirrt.<br />

Das fängt ja großartig an. Die ist gewohnt, gleich auf den<br />

Punkt zu kommen. So wie es aussieht, brauche ich nicht lange<br />

mit Höflichkeiten rumzusülzen. Man hat schon Schiss vor ihr,<br />

wenn sie sich nur gerade hinsetzt.<br />

„Sie will mich bestrafen“, sage ich deshalb kurzentschlossen<br />

und ohne lange darüber nachzudenken. Das ist <strong>der</strong> beste und<br />

einzige Grund, <strong>der</strong> mir einfällt. Ich hoffe, dass damit <strong>der</strong> Startschuss<br />

zu einem Gespräch gegeben ist, wie ich es gewohnt bin,<br />

und lehne mich zurück in Erwartung einer längeren Abhandlung<br />

über den Einsatz von Maßregelungen und <strong>der</strong>en Ziel.<br />

„Wofür wirst du bestraft?“, fragt Madame Poljakow stattdessen<br />

weiter.<br />

„Keine Ahnung“, sage ich überrascht. „Ist mir auch egal, ich<br />

kann es ihr sowieso niemals recht machen.“<br />

„Hat sie gesagt, dass es eine Strafe ist?“<br />

Diese Poljakow lässt ja keinen Millimeter von mir ab. Na<br />

gut, das war auch zu erwarten gewesen, aber sie soll sich jetzt<br />

endlich ins Zeug legen, schließlich ist es ihr Job, mich zu<br />

150


therapieren. Das muss doch endlich mal losgehen, ohne diese<br />

sinnlose Fragerei.<br />

„Nein“, antworte ich genervt. Das ist eine zu blöde Frage.<br />

„Natürlich nicht. Sie hat gesagt, dass es keine Strafe sei. Deshalb<br />

denke ich ja eben, dass es eine ist.“<br />

„Wie kommst du darauf?“<br />

„Umkehrpsychologie“, antworte ich sofort und freue mich,<br />

dass ich diesen fachkundigen Begriff, den ich von Lily aufgeschnappt<br />

habe, hier strategisch geschickt einfließen lassen kann.<br />

„Wieso sollte sie dich mit einer Reaktanz dazu bringen wollen,<br />

dich von ihr abzuwenden? Das ist doch ziemlich abwegig.“<br />

Die Poljakow notiert ein paar Worte auf ihrem Blatt. Ich<br />

verstehe den Begriff Reaktanz nicht und daher fehlen mir die<br />

Argumente für einen weiteren Schlagabtausch. Diese Frau hat<br />

doch keinen Schimmer von Maman o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Beziehung, die wir<br />

miteinan<strong>der</strong> haben. Maman hat sie sicher vorher instruiert, wie<br />

ich zu verhören bin. Sicher hat sie ihr vorgejammert, was für ein<br />

undankbares und nichtsnutziges Kind ich doch bin. Die Gründe<br />

für den Schulwechsel sind im Grunde egal, aber die Tatsachen<br />

sind offensichtlich, die kann ich ihr liefern.<br />

Ich hole tief Luft und dann sprudelt es aus mir heraus: „Sie<br />

kann es nicht ab, dass ich nicht so bin wie sie. Sie ist ein verdammter<br />

Kontrollfreak. Sie gönnt mir keinen Funken Glück, weil<br />

sie es selbst nicht schafft, glücklich zu sein. Sie wollte mich unbedingt<br />

loswerden, die Sommerferien über, und als sie gemerkt hat,<br />

dass ich mich besser fühle als zu Hause, dass ich endlich einmal<br />

Spaß habe und Ruhe vor ihrer ständigen Nörgelei, konnte sie<br />

ihre Eifersucht nicht zügeln und hat mich bei <strong>der</strong> erstbesten Gelegenheit<br />

wie<strong>der</strong> weggeholt. Aber sie hält es nicht fünf Minuten<br />

zu Hause mit mir aus, weil ich ja so schlampig und vergesslich<br />

151


in. Deshalb muss sie mir nun ihre Überlegenheit demonstrieren,<br />

indem sie mit mir macht, was sie will!“<br />

„Interessant.“<br />

„Mag ja sein, dass es für Sie interessant ist, für mich ist es<br />

einfach nur beschissen!“<br />

Ich erschrecke selbst über meine Heftigkeit, denn diese Frau<br />

kann ja nichts dafür. Meine Wut ist allein gegen Maman gerichtet.<br />

Es ist nur ihr blö<strong>der</strong> Job, sich mit den nervigen Problemen<br />

an<strong>der</strong>er Leute auseinan<strong>der</strong>zusetzen, und sie machte ihn ziemlich<br />

schlecht, finde ich. Ich hatte nicht vorgehabt, die Contenance<br />

so schnell zu verlieren. Es ist nicht klug, dieser Frau zu viel<br />

Einblick in meine Gedankenwelt zu geben. Immerhin ist sie mit<br />

dem Feind verbündet. Doch wenn ich es geschickt anstelle, werde<br />

ich mir diese Tatsache vielleicht sogar zu Nutzen machen<br />

können, schließlich ist eine Psychologin sicher auch an eine Art<br />

Arztgeheimnis gebunden, o<strong>der</strong> nicht?<br />

Ich bin in einem großzügigen 2-Zimmer-Appartement zusammen<br />

mit zwei an<strong>der</strong>en Mädchen einquartiert. Manon ist<br />

etwas älter, aber Elodie geht in dieselbe Klasse. Es gibt ein<br />

geräumiges gemeinsames Schlafzimmer mit drei Betten an<br />

den jeweils gegenüberliegenden Wänden. Die hinteren beiden<br />

Betten sehen belegt aus, also stelle ich meine Tasche neben das<br />

Bett vorne an <strong>der</strong> Tür. Den Koffer habe ich im Vorraum stehen<br />

gelassen. <strong>Der</strong> zweite Raum ist eine Mischung aus Wohn- und<br />

Studierzimmer. Er ist mit einem großen Arbeitstisch, <strong>der</strong> fast die<br />

Hälfte des Raumes einnimmt, einem Bücherregal, zwei kleinen<br />

Sofas mit hellblauen Stoffbezügen und einem Fernseher an <strong>der</strong><br />

fensterlosen Wand eingerichtet.<br />

„Wir haben einen festen Plan, welche Sendungen wir uns<br />

152


ansehen. Wenn du dir etwas an<strong>der</strong>es ansehen möchtest, musst<br />

du dich entwe<strong>der</strong> mit jemandem befreunden, <strong>der</strong> denselben<br />

Geschmack und seinen Fernseher mit dir teilt, o<strong>der</strong> du schaust<br />

es dir auf deinem Computer übers Netz und mit Kopfhörern an“,<br />

erklärt mir Elodie gerade.<br />

„Klar“, antworte ich ohne große Begeisterung. In welches<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t bin ich denn hier strafversetzt worden? Offensichtlich<br />

ist hier nicht nur das Mobiliar veraltet.<br />

„Normalerweise sind wir nur zu zweit in einem Appartement“,<br />

sagt Manon so beiläufig wie möglich. „Ist wohl ein sehr<br />

kurzfristiges Arrangement, dass die dich noch bei uns unterbringen.“<br />

„War ja klar, irgendwann rächt es sich, dass wir die paar<br />

Quadratmeter mehr haben, als die üblichen Zimmer“, sagt<br />

Elodie mit einer Ich-hab’s-ja-gewusst-Stimme.<br />

„Ich werde euch nicht in die Quere kommen“, sage ich und<br />

verstaue meine Tasche ohne sie auszupacken unter dem Bett.<br />

„Oh, ja klar“, sagt Elodie. „Du denkst sicher, deine Maman<br />

holt dich hier gleich wie<strong>der</strong> ab, sobald sie gemerkt hat, wie sehr<br />

sie dich vermisst.“<br />

Ich erwi<strong>der</strong>e nichts darauf. Ich bin nicht in <strong>der</strong> Verfassung für<br />

eine solche Auseinan<strong>der</strong>setzung. Auf dem Handy sehe ich, dass<br />

ich bereits zwei ihrer Anrufe verpasst habe. Vermiss mich ruhig<br />

weiter, denke ich grimmig und schalte es ganz aus.<br />

„Und räum deinen Krempel aus dem Flur!“, brüllt Elodie aus<br />

dem Wohnzimmer. „O<strong>der</strong> kommt deine Maman gleich vorbei<br />

und räumt das für dich auf?“<br />

Das kann ja heiter werden.<br />

153


Langsam gehe ich durch den endlosen Raum. Es ist hell,<br />

trotzdem kann ich nicht erkennen, was sich in den aufgeschichteten<br />

Kartons befindet. Ich habe es ganz sicher hier verloren. Verzweifelt<br />

suche ich seit Stunden danach und kann es nicht finden.<br />

Es muss aber hier sein, ich bin mir völlig sicher. Die Kartons<br />

werden immer mehr und ich weiß plötzlich nicht mehr, welche<br />

ich bereits durchsucht habe.<br />

„Sag mir, wo es ist“, schreie ich. „Sag mir endlich, wo du es<br />

versteckt hast!“<br />

Gehetzt laufe ich den Weg entlang ins Terrarium. Irgendwo<br />

ist doch diese Tür, aber ich kann sie einfach nicht mehr finden.<br />

„Ich muss auf die an<strong>der</strong>e Seite“, rufe ich verzweifelt. Alle<br />

lachen. Niemand glaubt mir, dass es eine Tür gibt. „Seht ihr<br />

denn nicht, dass er bereits dort drüben ist? Es muss eine<br />

Tür geben! Niemand geht einfach so durchs Fenster! Nur<br />

Geister können durch Zeitfenster hindurchschlüpfen! Nur Geister<br />

können das“, schreie ich …<br />

„Wach auf“, höre ich eine leise Mädchenstimme flüstern.<br />

„Wach auf, du hast nur schlecht geträumt. Ist alles okay mit<br />

dir?“<br />

„Mir geht’s gut“, murmle ich und drehe mich schweiß gebadet<br />

auf die an<strong>der</strong>e Seite. Auch das noch. Albträume hatte ich schon<br />

seit Jahren keine mehr gehabt. Mein Unterbewusstsein muss<br />

völlig hinüber sein. Ich kann nicht wie<strong>der</strong> einschlafen. Mein<br />

Handy liegt ausgeschaltet auf einem Stuhl neben meinem Bett<br />

und kann mir die Uhrzeit nicht verraten. Es ist stockdunkel. Da<br />

ich meine erste Nacht in diesem Zimmer verbringe, kann ich<br />

mich nicht erinnern, ob die Fenster am Abend zuvor verdunkelt<br />

wurden. In letzter Zeit achte ich sowieso nie auf solche Details.<br />

154


Ich wate durch die Tage, als wäre ich in dichten Nebel gehüllt.<br />

Meine Gedanken sind fahrig, weil ich ihnen ebenso wenig<br />

Beachtung schenke wie <strong>der</strong> Umgebung. Ich hasse Maman für<br />

das, was sie mir hier zumutet.<br />

Entschlossen zwinge ich mich dazu, nicht mehr an sie zu<br />

denken. Dieser Ort ist einfach nur grauenhaft. Wäre ich doch<br />

nur vier Jahre älter, dann könnte ich einfach abhauen. Aber<br />

wohin sollte ich gehen? Zu Jonathan? Ich habe das Amulett<br />

nicht mehr. Ich habe den Brief nicht mehr. Ich habe auch das<br />

Foto nicht mehr. Stück für Stück scheint alles zu entschwinden.<br />

Ich habe Angst, dass auch meine Erinnerungen allmählich verblassen<br />

und er somit aufhört zu existieren. Alles, was mich mit<br />

ihm und diesem Ort o<strong>der</strong> mit dieser Zeit verbunden hat, ist weg.<br />

Ich habe nichts mehr, außer … außer dem Buch. Lilys Buch.<br />

Ich greife unter das Bett in meine Tasche und fische es hervor.<br />

Im fahlen Licht <strong>der</strong> kleinen Nachttischlampe schlage ich es auf<br />

und blättere darin herum.<br />

Die <strong>Wahrheit</strong><br />

Meine <strong>Wahrheit</strong> braucht nicht real zu sein<br />

und trotzdem stimmt sie.<br />

Meine <strong>Wahrheit</strong> kann sich än<strong>der</strong>n.<br />

Sie entsteht aus Träumen, Wünschen und Sehnsüchten,<br />

vermischt mit Erfahrungen, Wissen und Werten.<br />

Jede <strong>Wahrheit</strong> ist nur in ihrem Zusammenhang zu erkennen.<br />

Jede <strong>Wahrheit</strong> hat ihr Gesicht,<br />

ihre Verkleidung und ihre Tarnung.<br />

Ich kann so vieles wahr werden lassen.<br />

Ich versuche, mich nicht selbst zu belügen.<br />

155


Ich versuche, die <strong>Wahrheit</strong> zu finden und nicht sie zu erfinden.<br />

Wahr ist, dass ich mich bemühe.<br />

Wahr ist, dass ich alles wissen möchte.<br />

Wahr ist, dass ich mich täuschen lasse<br />

und dass ich zu überzeugen bin.<br />

Jemand sollte das für mich in Ordnung halten können.<br />

Die <strong>Wahrheit</strong> hat sich also ein neues Gesicht zugelegt. Sie<br />

hat beschlossen, dass es besser ist, wenn sie nicht so auffällig<br />

in Erscheinung tritt. Sie hat gelernt, sich ihrer Umgebung anzupassen<br />

und mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Deshalb<br />

scheint sie oft nicht mehr auf Anhieb sichtbar.<br />

Ich habe viel zu lange gebraucht, um zu erkennen, dass<br />

ich die <strong>Wahrheit</strong> einfach übersehen habe. Vielleicht ist es an<br />

<strong>der</strong> Zeit, mich auch zu tarnen. Nicht mehr zu versuchen, mich<br />

opferwillig in die Schlacht zu stürzen o<strong>der</strong> meine Energien zu<br />

verschwenden für etwas, was mich zum Narren halten will.<br />

Ich werde das tun, was Romilda tun würde. Sie würde sich bemühen,<br />

die <strong>Wahrheit</strong> herauszufinden, koste es, was es wolle.<br />

Dabei kann man sich schon mal täuschen lassen, aber man darf<br />

nicht aufgeben. Wie sonst soll man die <strong>Wahrheit</strong> finden, wenn<br />

sie sich ständig vor einen zu verbergen sucht? Die meisten<br />

Dinge, o<strong>der</strong> vielmehr die wichtigen Dinge im Leben lassen sich<br />

sowieso nicht so einfach aufspüren, finden, erzwingen, wie immer<br />

man es formulieren will. Die Dinge nehmen ihren eigenen<br />

Lauf. Sie offenbaren sich. Sie nutzen die Gunst <strong>der</strong> glücklichen<br />

Schicksalsfügung. Ansonsten würden wir sie nie zu schätzen<br />

wissen, wenn wir sie so einfach aus jedem x-beliebigen Hut<br />

zaubern könnten.<br />

156


Jonathan<br />

„Sie ist das bezauberndste kleine Wesen auf <strong>der</strong> ganzen<br />

weiten Welt“, schwärmt Vincent. „Ich werde ihr ein Pferd kaufen.<br />

Nein, besser erst ein Pony o<strong>der</strong> einen kleinen Hund, bevor sie alt<br />

genug ist, um zu reiten. Ach, was soll’s, sie soll einen ganzen<br />

Park voller Tiere haben, aus allen Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Erde.“<br />

„Du bist scheinbar gewillt, sie von Wölfen und Bären aufziehen<br />

zu lassen, so wie Mogli“, bemerke ich, nicht ohne<br />

Sarkasmus.<br />

„Sie soll Tiere ebenso verstehen lernen wie Menschen. Es wird<br />

ihr Vorteile bringen, wenn sie früh lernt, wie die Natur ihre<br />

Angelegenheiten regelt.“<br />

„Ja klar“, entgegne ich spöttisch. „Die Erfolgsgeschichte <strong>der</strong><br />

Wildtiere im heutigen Europa. <strong>Der</strong> tapfere Fuchs lockt den Jäger<br />

in die Falle und <strong>der</strong> unerschrockene Hase zersägt einen Zauberer<br />

in zwei Teile. Und beide sagen sich höflich gute Nacht, bevor sie<br />

zu Bett gehen.“<br />

„Was ist dein Problem, Jonathan? Seit Tagen bist du unausstehlich.<br />

Du bist doch nicht etwa eifersüchtig auf unser kleines<br />

Glück?“<br />

„Eifersüchtig?“ Ich schnappe hörbar nach Luft und suche<br />

nach passenden Worten, mit denen ich diese Anschuldigung<br />

entkräften kann. „Ich hab keinen Grund eifersüchtig zu sein. So<br />

wie ich das sehe, werde ich es sein, <strong>der</strong> Paulinchen das Reiten<br />

beibringt und ihr zeigt, wie man Fische angelt.“<br />

„Auf keinen Fall!“ Vincent lacht laut auf. „Meine geliebte<br />

Tochter lass ich doch nicht von Wölfen großziehen.“<br />

Es sollte nach einem Scherz klingen, aber ich lache nicht.<br />

Wenn ich eine Wahl hätte, würde ich meine Tochter auch<br />

157


nicht dem Wolf überlassen, denke ich. Aber ich habe sie nun<br />

einmal nicht. Also wer von uns beiden ist nun <strong>der</strong> Wolf: <strong>Der</strong><br />

treue Gefährte o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Rudelführer?<br />

Rosalie<br />

Ich habe nur wenig und unruhig geschlafen in dieser ersten<br />

Nacht und fühle mich matt und ausgelaugt. Romildas Worte<br />

haben mich noch ziemlich lange beschäftigt. Ich habe das Gefühl,<br />

dass sie mich weiter bringen werden als all die Gesprächstherapiesitzungen<br />

mit <strong>der</strong> Psychotante. Meine Stimmung hat sich nicht<br />

gebessert. Allerdings ist meine Bettnachbarin auch nicht gut auf<br />

mich zu sprechen, also sind wir schon zwei, die an Schlafmangel<br />

und Übellaunigkeit leiden.<br />

„Nicht in die Quere kommen, dass ich nicht lache“, murmelt<br />

Elodie beim Zusammensuchen ihrer Sachen. „Du hast mich letzte<br />

Nacht dreimal geweckt mit deinem Geplärre!“<br />

„Sie kann doch nichts dafür, wenn sie schlecht träumt“,<br />

sagt Manon mit ein wenig mehr Mitgefühl. „Du hast die ersten<br />

Tage und Nächte auch dauernd geheult, erinnerst du dich nicht<br />

mehr?“<br />

„Ich war erst elf damals!“, verteidigt sich Elodie wütend.<br />

„Und du hast eine Woche lang ununterbrochen geheult und<br />

wolltest wie<strong>der</strong> zurück zu deiner Maman“, fährt Manon unbarmherzig<br />

fort. „Also sei ein wenig tolerant.“<br />

Ich betrachte Manon erstaunt. Gestern ist sie nicht so freundlich<br />

gewesen. Warten wir’s ab, die <strong>Wahrheit</strong> wird sich früher<br />

o<strong>der</strong> später auch in ihrem Gesicht zeigen.<br />

158


„Komm mit“, sagt Manon, die meinen musternden Blick<br />

registriert hat. „Du weißt ja, Frühstück gibt’s nur bis acht. Um<br />

halb neun beginnt <strong>der</strong> Unterricht.“<br />

Ich folge den beiden in die Mensa und halte dabei den Blick<br />

wach und die Sinne geschärft. Das Bemühen for<strong>der</strong>t eine ganz<br />

neue Konzentration, die ich in den vergangenen Wochen, nein,<br />

Jahren nie richtig ausgeschöpft habe.<br />

Meine Sachen habe ich noch immer nicht ausgepackt, das hat<br />

Zeit. Aber meine Hefte und Bücher sind ordentlich sortiert und<br />

ich notiere und kritzle alles, was mir wichtig erscheint, in einen<br />

großen neuen Notizblock.<br />

Violetta<br />

Im Flur vor dem Zimmer <strong>der</strong> Schulleiterin lässt man mich<br />

schon mindestens zehn Minuten warten. Eine Zumutung, diese<br />

Leute haben keine Ahnung, was mich das wie<strong>der</strong> an Nerven und<br />

Aufwand kostet.<br />

Mit vor Ungeduld zitternden Händen suche ich in <strong>der</strong> Handtasche<br />

nach einem Bonbon. Natürlich finde ich keines, weil ich<br />

nie welche dabei habe, aber es lenkt trotzdem einen großen Teil<br />

meiner Aufmerksamkeit davon ab, mich immer wie<strong>der</strong> um das<br />

Verstreichen meiner kostbaren Zeit zu sorgen.<br />

Warum dauert das so lange? Rosie hat mich in den vergangenen<br />

drei Tagen nicht zurückgerufen. Na schön, sie ist sauer, enttäuscht,<br />

beschäftigt wahrscheinlich und sie will mich bestimmt<br />

bestrafen für diese Entscheidung. Lei<strong>der</strong> kann ich mich gegenwärtig<br />

nicht, wie ich es üblicherweise tue, an meine Prinzipien<br />

159


halten. Ich weiß nicht, wie die Prinzipien in diesem Fall aussehen.<br />

Es ist eine vertrackte Situation.<br />

Ich habe heute Vormittag endlich mit <strong>der</strong> Schulleiterin<br />

telefoniert und die hat mir versichert, dass Rosalie pünktlich<br />

zum Unterricht erscheint und sich auch sonst unauffällig verhält.<br />

Das ist immerhin etwas. Trotzdem muss ich mich selbst davon<br />

überzeugen und Rosie zwingt mich förmlich dazu, persönlich<br />

vorbeizukommen und nach dem Rechten zu sehen, indem sie<br />

meine Anrufe ignoriert. Lei<strong>der</strong> habe ich, wie immer, kaum Zeit.<br />

Die Schulleiterin erscheint endlich in <strong>der</strong> Tür und sieht mich<br />

auf einem dieser unbequemen Stühle im Flur sitzen. Mit einigen<br />

raschen Schritten ist sie bei mir und streckt mir die Hand hin.<br />

„Da sind Sie ja, Madame Deville“, stellt sie fest.<br />

Was denkt die sich denn? Natürlich bin ich hier, wir haben<br />

schließlich einen Termin vereinbart, aber es war we<strong>der</strong> als Frage<br />

noch als Begrüßung formuliert, also halte ich mich zurück.<br />

„Guten Tag, Madame Molier“, erwi<strong>der</strong>e ich so freundlich wie<br />

möglich. „Wir haben bereits miteinan<strong>der</strong> telefoniert …“, fange<br />

ich an.<br />

„Ich weiß, Sie sind gekommen, um sich zu überzeugen, dass<br />

sich Rosalie hier gut eingelebt hat. Ich kann das verstehen.<br />

Wie ich Ihnen bereits heute Morgen versichert habe, besteht<br />

kein Grund zur Sorge, es geht ihr gut. Sie sind früh gekommen,<br />

Rosalie ist noch bei Dr. Poljakow.“<br />

„Ich weiß, ich weiß“, antworte ich nervös, „ich konnte es<br />

zeitlich nicht besser einrichten. Könnte ich mir vielleicht in<br />

<strong>der</strong> Zwischenzeit ihr Zimmer ansehen?“<br />

„Es ist nicht ihr alleiniges Zimmer. Wie Sie wissen, teilt sie<br />

es mit zwei an<strong>der</strong>en Mädchen. Wir legen großen Wert auf den<br />

Schutz <strong>der</strong> Privatsphäre unserer Schützlinge.“<br />

160


„Das verstehe ich“, sage ich. „Ich hatte nur gehofft, ich könnte<br />

einen kurzen Blick auf ihre Unterkunft werfen. Da ich sie so<br />

kurzfristig angemeldet habe, ist mir <strong>der</strong> Besuchstag mit <strong>der</strong><br />

Besichtigungstour entgangen.“<br />

„Ihre Tochter kann Ihnen alles zeigen, das ist kein Problem“,<br />

sagt Madame Molier freundlich lächelnd.<br />

„Sehen Sie“, fange ich vorsichtig an, „ich habe lei<strong>der</strong> gleich<br />

wie<strong>der</strong> einen wichtigen Termin und werde Rosie nur noch ganz<br />

kurz antreffen, sobald ihre Therapiestunde vorbei ist. Ich möchte<br />

diese Zeit lieber für ein Gespräch mit ihr nutzen. Wäre es nicht<br />

jetzt möglich, es kurz zu sehen, während ich sowieso warten<br />

muss?“<br />

„Ausnahmsweise“, räumt die Schulleiterin ein. „Ich werde Sie<br />

begleiten.“<br />

Die Zimmer sind erstaunlich groß und gemütlich möbliert.<br />

Ich bin erleichtert, dass es we<strong>der</strong> karg noch unpersönlich wirkt.<br />

Ich schaue mich um, schreite vorsichtig den Raum ab und spähe<br />

dann ins Schlafzimmer. Madame Molier folgt mir in einem<br />

angemessenen Abstand und verdeutlicht damit, dass sie ihre<br />

Verantwortung gewissenhaft wahrnimmt. Das Zimmer ist recht<br />

ordentlich. Auf dem Stuhl neben dem Bett sehe ich einen Stapel<br />

mit Rosies Klei<strong>der</strong>n, alle zusammengefaltet. Ich registriere mit<br />

einem kleinen Stich im Magen, dass sie offensichtlich sehr gut<br />

in <strong>der</strong> Lage ist, ihr Bett zu machen und ihre Klei<strong>der</strong> zu ordnen.<br />

Madame Moliers Handy klingelt und mit einem entschuldigenden<br />

Seufzer nimmt sie es wi<strong>der</strong>willig entgegen und eilt aus<br />

dem Zimmer. Privatsphärenkonflikt, denke ich schmunzelnd. Ich<br />

bleibe weiterhin im Schlafzimmer stehen und mein Blick fällt auf<br />

das zerknautschte Kopfkissen auf Rosies Bett. Gedankenverloren<br />

ziehe ich an den Ecken, um es zu glätten. Dabei ertaste ich ein<br />

161


Buch, das darunter verborgen liegt. Verwun<strong>der</strong>t nehme ich es<br />

hervor und klappe es auf.<br />

Das Vertrauen<br />

Vertrauen ist etwas, das schnell verloren gehen kann.<br />

Lei<strong>der</strong> nützt es gar nichts, es zu suchen.<br />

Man muss es gewinnen, sich verdienen<br />

o<strong>der</strong> einfach haben.<br />

Es wird viel zu oft missbraucht,<br />

viel zu oft verschenkt, verweigert.<br />

Es ist wertvoller noch, als Liebe,<br />

denn die Liebe nützt gar nichts ohne Vertrauen.<br />

Wann ist jemand vertrauenswürdig?<br />

O<strong>der</strong> ist er nur vertrauenserweckend?<br />

Und wenn das Vertrauen geweckt ist,<br />

wie geht es mit <strong>der</strong> ersten Enttäuschung um?<br />

Ist es stark und unerschütterlich?<br />

Ist es zerbrechlich, weil es schon versehrt wurde?<br />

Das Vertrauen wie<strong>der</strong> in Ordnung zu bringen,<br />

ist fast wie ein Wun<strong>der</strong> zu vollbringen.<br />

Woher hat Rosie dieses Buch, frage ich mich erstaunt. Es<br />

ist auf Deutsch geschrieben, aber ich selbst habe es nie zuvor<br />

gesehen. Dass Rosie überhaupt deutsche Bücher besitzt, habe<br />

ich nicht gewusst. Vielleicht gehört es Olivia. Die würde solche<br />

Texte lesen, das passt zu ihrer abgehobenen Art. <strong>Der</strong> Umschlag<br />

ist abgewetzt und ich finde nichts über die Autorin o<strong>der</strong> eine<br />

Angabe über den Inhalt.<br />

Ich höre, wie die Schulleiterin ihre Schritte wie<strong>der</strong> in Richtung<br />

162


des Schlafzimmers lenkt, während sie dabei ist, das Gespräch<br />

zu beenden. Schnell schiebe ich das Buch zurück unters Kissen<br />

und blicke scheinbar interessiert aus dem Fenster über den Schulhof<br />

und auf die Kin<strong>der</strong> und Jugendlichen, die den noch immer<br />

warmen Nachmittag draußen zu genießen scheinen.<br />

„Ein schöner Ausblick“, sage ich anerkennend.<br />

„Rosalies Stunde ist gleich zu Ende, wir sollten zurück ins<br />

Hauptgebäude gehen“, erwi<strong>der</strong>t Madame Molier mit einem Blick<br />

auf die Uhr.<br />

Madame Molier<br />

Rosalie scheint we<strong>der</strong> erstaunt noch erfreut zu sein, als sie<br />

ihre Mutter erblickt. Ich sehe von meinem offenen Büro aus zu,<br />

wie sie steif und emotionslos den gehauchten Kuss ihrer Mutter<br />

in Empfang nimmt und sie dennoch in höflichem Ton begrüßt.<br />

Was mag sich in dieser Familie abgespielt haben? Die Tochter<br />

erscheint mir we<strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s rebellisch noch schwer erziehbar.<br />

Sie hat lediglich desinteressiert gewirkt, als sie mir beim<br />

Eintrittsgespräch gegenübergesessen hat. Dafür erschien die<br />

Mutter umso motivierter und hat den gesamten Gesprächsverlauf<br />

im Alleingang bestritten. Ich habe ihre Schulzeugnisse und<br />

Berichte aufmerksam studiert und keine Auffälligkeiten<br />

feststellen können. Rosalie ist keine beson<strong>der</strong>s fleißige Schülerin,<br />

aber ihre Noten sind auch nicht beängstigend schlecht.<br />

Sie wird als intelligent und umgänglich beschrieben, aber die<br />

Zuverlässigkeit bei den Hausaufgaben und ihr Ordnungssinn<br />

werden bemängelt. Ihre Mutter beschrieb sie hingegen als labil<br />

163


und mit einer Tendenz zu Wahrnehmungsstörungen, die sich<br />

darin äußern, dass sie sich Personen einbildet und das Zeitgefühl<br />

zeitweilig verliert. Rosalie bestätigte jeweils mit einem<br />

kurzen Kopfnicken o<strong>der</strong> ein paar einsilbigen Antworten die<br />

ausschweifenden Rapporte ihrer Mutter.<br />

164


Geister <strong>der</strong> Vergangenheiten<br />

Olivia<br />

Es ist kaum mehr auszuhalten. Ich fühle mich schuldig, missverstanden<br />

und machtlos. Mit Max kann ich das Thema nicht<br />

länger erörtern, für ihn ist <strong>der</strong> Fall erledigt.<br />

„Sie hat uns nur benutzt“, hat er gesagt, „da läuft was an<strong>der</strong>es<br />

ab. Etwas, das uns nichts angeht.“<br />

„Natürlich geht es uns etwas an“, habe ich erwi<strong>der</strong>t, „schließlich<br />

ist es meine Familie.“<br />

Ich bin damals noch zu jung gewesen, als Violetta von zu<br />

Hause ausgezogen ist. Nur knapp zwölf war ich und Violetta,<br />

gerade achtzehn geworden, war plötzlich so schnell verschwunden,<br />

dass ich nie die Gelegenheit hatte, sie nach dem Grund zu<br />

fragen. Meine Eltern gaben mir keine schlüssige Auskunft über<br />

die Geschehnisse. Für sie war die Welt wie<strong>der</strong> in Ordnung, als<br />

Violetta das Baby bekommen und geheiratet hat.<br />

Ich erntete einige hämische Kommentare aus <strong>der</strong> Nach-<br />

165


arschaft. „Deine Schwester hat ja nicht lange gefackelt, sie<br />

hat sich gleich einen reichen Geldsack geangelt. Hätte nicht<br />

gedacht, dass sie außer als Rockerbraut auch noch Talent als<br />

Erbschleicherin hat.“<br />

Kleinstadttratsch ist übel und lei<strong>der</strong> unvermeidlich. Aber<br />

wie jedes Gerede wird es irgendwann langweilig und die Leute<br />

wenden sich etwas Neuem zu. Als <strong>der</strong> Küchenbauer im Ort<br />

Konkurs ging und seine Frau mit dem Pfarrer durchbrannte, war<br />

<strong>der</strong> Spuk vorbei, jedenfalls für Außenstehende.<br />

Ludovic ist <strong>der</strong> Sprössling eines reichen, verwitweten<br />

französischen Firmenbesitzers. Er war als Austauschstudent<br />

an die Uniklinik in Bern gekommen, hatte aber sein Studium<br />

mangels Ehrgeiz und Dank des Zwischenfalls wenig erfolgreich<br />

abgeschlossen. Sein Vater hat für die Folgen dieses<br />

jugendlichen Frühlingserwachens bezahlt und ermöglichte fortan<br />

seinem Sohn ein brotloses Künstlerdasein und Violetta eine<br />

fundierte Ausbildung, die sie sich zum großen Erstaunen<br />

aller auch tatsächlich zunutze gemacht hat. Rosalie bekam eine<br />

Nanny, eine Menge Spielsachen und so wenig Kontakt wie<br />

möglich zu ihren familiären Wurzeln, was ich nie recht verstanden<br />

habe. Ich liebte meine kleine Nichte über alles und wäre die<br />

beste Babysitterin <strong>der</strong> Welt gewesen, aber Violetta machte sich<br />

rar, indem sie vorschob, karrierebewusst zu sein.<br />

Als ich erwachsen wurde, näherte ich mich meiner Schwester<br />

langsam wie<strong>der</strong> an. Ich tat es nicht zuletzt für unsere Mutter, die<br />

unter <strong>der</strong> Trennung zu ihrer Tochter und dem Entzug ihres ersten<br />

und bisher einzigen Enkelkindes gelitten hat. Meinen Vater konnte<br />

ich jedoch nie zu einer Versöhnung bewegen. Zu tief sitzt die<br />

Schmach, die diese frühzeitige Schwangerschaft mit sich brachte.<br />

Als damaliger Gemeindepräsident wollte er in seiner Vorbildfunk-<br />

166


tion stets eine gute Figur machen. Als Violetta sich endgültig in<br />

Paris nie<strong>der</strong>ließ, verbrachte ich ab und zu ein paar Ferientage bei<br />

ihr, meistens wenn Ludovic auf irgendeiner Reise war. Ich ging<br />

mit <strong>der</strong> kleinen Rosie in den Park o<strong>der</strong> an die Seine.<br />

Violetta hat mich immer wie<strong>der</strong> aufgezogen, indem sie mich<br />

nach meinen potenziellen Liebhabern ausgefragt hat.<br />

„Es gibt niemanden“, habe ich schon aus Prinzip darauf<br />

geantwortet. Ich wollte meine Erfahrungen etwas leiser machen<br />

als meine Schwester.<br />

„Ach komm schon“, versuchte es Violetta immer wie<strong>der</strong>,<br />

„mir kannst du es doch sagen. Du kannst doch nicht als ewiges<br />

Mauerblümchen den Ruf unserer Familie ruinieren.“ Als ob<br />

sie vergessen hätte, dass sie diesen Ruf bereits selbst auf dem<br />

Gewissen hatte. Ich bin nicht diejenige gewesen, die von grünen<br />

Haaren plötzlich auf Chanelkostüme gewechselt hat, als wäre es<br />

eine modische Notwendigkeit.<br />

Als ich Violetta endlich gestand, dass ich mich verliebt habe,<br />

freute sie sich so sehr, dass sie eine Flasche Champagner aus dem<br />

Keller holte und sich feierlich damit in <strong>der</strong> Küche zu schaffen<br />

machte.<br />

„Wer ist <strong>der</strong> Glückliche? Nun erzähl schon“, hatte sie fröhlich<br />

aus <strong>der</strong> Küche gerufen.<br />

Ich lachte, als ich zurückrief: „Du kennst ihn vielleicht. Sein<br />

Name ist Max. Max Palhof.“<br />

Ein dumpfer Knall war alles, was aus <strong>der</strong> Küche zu hören war.<br />

Es war nicht <strong>der</strong> Knall des Korkens, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> <strong>der</strong> Flasche, die<br />

auf den Boden gefallen war, jedoch ohne zu zersplittern.<br />

Violetta stand mit versteinerter Miene vor mir, den<br />

Champagner vergessen, und redete in harten Worten auf mich<br />

ein, warum das die schlechteste Idee überhaupt sei. Es war aber<br />

167


keine Idee, und Violettas Argumente, er wäre zu alt für mich<br />

o<strong>der</strong> zu wenig ambitioniert, konnten meine Gefühle für Max<br />

nicht än<strong>der</strong>n. Ich zog nach kurzer Zeit zu ihm und entdeckte<br />

dabei auch meine Liebe zu Tieren. Max ist Landwirt und alles<br />

an<strong>der</strong>e als ein stinknormaler Typ. Er gehört sicher nicht zu <strong>der</strong><br />

Sorte von Männern, die auf irgendeiner Erfolgsleiter hocken,<br />

um nach Profit Ausschau zuhalten. Nicht, weil er nicht schlau<br />

genug dafür wäre. Er mag einfach nicht, dem ganzen Konsumwahnsinn<br />

hinterherzujagen. Er ist zufrieden, wenn man ihn<br />

zufrieden sein lässt.<br />

Den weiteren Verlauf <strong>der</strong> Dinge kann man erahnen. Ich<br />

heiratete, Violetta hielt sich erneut fern und unser Verhältnis<br />

war wie<strong>der</strong> auf Eis gelegt. Und wie<strong>der</strong> war es mir nicht möglich,<br />

den eigentlichen Grund dafür zu erfahren. Ich verstehe Violetta<br />

nicht und sie scheint mich nicht zu verstehen. Und nun wie<strong>der</strong>holt<br />

sich alles ein drittes Mal.<br />

Elena<br />

Zum wie<strong>der</strong>holten Mal seit Rosie hier ist, fragt Violetta mich,<br />

ob es schon irgendwelche Fortschritte gibt. „So etwas geht nicht<br />

von heute auf morgen“, antworte ich ihr jedes Mal. Ich kann<br />

lei<strong>der</strong> nur immer wie<strong>der</strong> das Gleiche sagen. Wenn sie mich doch<br />

einfach meine Arbeit machen lassen würde. Sie hat ganz an<strong>der</strong>e<br />

Sorgen, von denen sie nicht einmal ahnt. Die Fortschritte<br />

werden noch schnell genug passieren. Violetta Devilles Leben<br />

gleitet langsam, aber sicher auf den Abgrund zu.<br />

Bei aller Liebe, muss ich mich jetzt auch noch um seine Toch-<br />

168


ter kümmern? Ludovic ist ein Feigling. Warum kann er sich<br />

dem Offensichtlichen nicht stellen? Warum kann keiner von<br />

denen die <strong>Wahrheit</strong> erkennen? Violettas Schwester ist blind,<br />

wenn sie es nicht erkennt, und Max ist ein Narr, dass er sich<br />

damals so einfach aufs Abstellgleis verfrachten ließ. Aber<br />

Ludovic – ich verstehe ihn nicht. Er sollte langsam kapieren, was<br />

hier gespielt wird. Bin ich wirklich die Einzige, die gewillt ist,<br />

sich endlich dem Unvermeidlichen zu stellen? Welche Erleichterung<br />

es nach all den Jahren wäre, könnte ich ihm nur einen<br />

winzigen Schluck reinen Weines einschenken. Doch er würde<br />

ihn nicht trinken wollen. Er hätte kein Verständnis für mich, die<br />

ich all die Jahre Violettas Geheimnis sicher bewahrt habe. Kein<br />

Verzeihen für mich, obwohl ich all die Jahre sein Geheimnis<br />

bewahrt habe. Wozu also länger Zeit verschwenden? Meine<br />

Rolle habe ich schon lange auswendig gelernt. Ich werde mit<br />

Überzeugung die Überraschte und Verständnisvolle spielen. Als<br />

Einzige, werde ich ihm beistehen, wenn ihm die Sache um die<br />

Ohren fliegt. Er wird mich brauchen und dankbar dafür sein,<br />

wie er es auch in den letzten Jahren gewesen war. Sie hin gegen<br />

wird nur bekommen, was sie verdient, wenn diese unsägliche<br />

Geschichte sich endlich selbst ans Licht beför<strong>der</strong>t.<br />

Olivia<br />

„Du hättest den langen Weg nicht auf dich nehmen sollen“,<br />

seufzt Violetta zum wie<strong>der</strong>holten Mal, „und das auch noch mit<br />

dem Auto. Warum hast du nicht den Flieger genommen? Und<br />

wozu hat man deiner Meinung nach das Telefon erfunden?“<br />

169


„Ich hab mich spontan entschlossen, zu dir zu fahren. Hättest<br />

du mir überhaupt zugehört am Telefon?“, frage ich mit ruhiger<br />

Stimme. Ich kenne die vorwurfsvollen Wortlawinen meiner<br />

Schwester und lasse mich nicht beirren.<br />

„Wahrscheinlich nicht“, gibt Violetta zu.<br />

„Ganz sicher nicht“, bestätige ich.<br />

„Was willst du denn hören?“, fragt Violetta müde und genervt.<br />

„Ich habe dir doch versichert, dass es nichts mit dir zu<br />

tun hat. Rosie geht’s wirklich nicht schlecht im Internat. Es ist<br />

eine renommierte Institution, keine Anstalt o<strong>der</strong> so. Sie wird es<br />

eines Tages verstehen.“<br />

„Wie soll sie das denn verstehen? Wie soll irgendjemand verstehen,<br />

was deine Beweggründe sind, wenn du uns gewöhnliche<br />

Menschen mit deinen Tatsachen – nein, deinen Konsequenzen<br />

einfach konfrontierst? Die Tatsachen brauchen wir ja offensichtlich<br />

nicht zu erfahren, weil du ganz allein die richtigen<br />

Entscheidungen triffst! Sie wird dir dafür we<strong>der</strong> dankbar sein,<br />

noch wird sie dich deswegen respektieren. Alles, was sie daraus<br />

lernt, ist, dass sie dir ausgeliefert ist. Um Gottes willen rede mit<br />

den Menschen, die dir am Herzen liegen, Violetta!“<br />

Violetta weiß nicht, was sie antworten soll, deshalb steht sie<br />

auf und verschwindet in <strong>der</strong> Küche. Ich bleibe auf dem Sessel<br />

im Salon sitzen und schaue mich um. So sieht es also aus, dieses<br />

Leben, für das sie so verbissen kämpft. Verteilt auf beträchtliche<br />

Quadratmeter und ausgestattet von einem namhaften Innendekorateur,<br />

ist Violettas Persönlichkeit so unpersönlich repräsentiert,<br />

dass ich mir vorkomme wie in einem Museum <strong>der</strong> versteinerten<br />

Wünsche.<br />

Violetta kommt mit einem starken indischen Gewürztee<br />

zurück und stellt mir ungefragt eine dampfende Tasse hin.<br />

170


„Du kannst sie von mir aus im Internat besuchen“, sagt sie<br />

schließlich.<br />

Das klingt wie die Aufhebung eines Verbots o<strong>der</strong> die Auflösung<br />

eines bösen Zauberbanns. Sieh an, Violetta Deville ist<br />

bereit, ein Zugeständnis zu machen. Benötige ich ihre Erlaubnis?<br />

Naja, ich freue mich trotzdem, es ist mehr, als ich erwartet<br />

habe.<br />

Ich erhebe mich, ohne die Tasse zu beachten, und nehme<br />

meine Tasche vom Sessel.<br />

„Wo willst du hin?“, fragt Violetta. „Du bleibst natürlich über<br />

Nacht hier. Ich lasse dich doch jetzt nicht in ein Hotel gehen.<br />

Kommt nicht in Frage!“<br />

Violetta<br />

„Wie geht’s Ludovic? Wie lange bleibt er in ... “, fragt Olivia,<br />

während ich uns ein Glas Wein einschenke. Ich bin überrascht,<br />

dass es sie interessiert, aber vielleicht will sie auch nur höflich<br />

sein.<br />

„Wenn ich das wüsste“, seufze ich.<br />

Olivia blickt erstaunt auf. „Ihr redet nicht viel miteinan<strong>der</strong>“,<br />

bemerkt sie und es klingt we<strong>der</strong> mitleidvoll noch sarkastisch,<br />

eher wie eine aufrichtige Feststellung.<br />

„Er lebt eben in seiner eigenen Welt“, erkläre ich nur.<br />

„Das tun sie doch alle.“ Olivia seufzt und nippt an dem Glas<br />

mit dem Wein. „Man muss sie nur ab und zu daraus entführen<br />

o<strong>der</strong> sie in die eigene Welt einladen. Max ist da auch nicht<br />

an<strong>der</strong>s. Er interessiert sich nicht für Kunst wie Ludovic, so viel<br />

171


ist sicher. Auch nicht für Lokalpolitik o<strong>der</strong> für Vereine und<br />

Schützenfeste. Das bleibt mir zum Glück erspart, damit hat Papa<br />

uns schon zur Genüge gequält.“<br />

„Ich weiß schon, wie Max tickt“, sage ich unbedacht.<br />

„Naja“, sagt Olivia. „Es ist ja auch kein Geheimnis.“<br />

„Was meinst du damit?“, frage ich erstaunt.<br />

„Er hat nie vorgegeben, jemand an<strong>der</strong>er zu sein, als er<br />

tatsächlich ist. Das meine ich. Ich habe mich von Anfang an in<br />

seiner Welt wohlgefühlt. Aber <strong>der</strong> Unterschied zwischen unseren<br />

beiden Welten war vermutlich auch nicht so groß wie bei euch.“<br />

„Ludovic interessiert sich eben nicht beson<strong>der</strong>s für meine<br />

Welt.“ Ich überlege einen Moment. „Dasselbe behauptet er auch<br />

von mir“, muss ich achselzuckend zugeben. „Was uns verbindet,<br />

ist nur die Familie.“<br />

„Aber du bist doch inzwischen nicht mehr auf das Geld seiner<br />

Familie angewiesen“, entfährt es Olivia unbedacht.<br />

Na klar, das musste ja irgendwann kommen. Ich nehme einen<br />

kräftigen Schluck Wein und erwi<strong>der</strong>e: „Ich meinte auch nicht<br />

seine Familie, son<strong>der</strong>n unsere – Rosie.“<br />

Olivia errötet. „Entschuldige“, sagt sie beklommen.<br />

„Ist schon gut.“ Ich seufze. „Ihr habt doch alle gedacht, dass ich<br />

nur auf sein Geld scharf bin. Aber er ist Rosies Vater. Jedenfalls<br />

<strong>der</strong>, <strong>der</strong> sich gekümmert hat. Es war die richtige Entscheidung<br />

damals.“<br />

„Er hat dich eben geliebt“, bemerkt Olivia. Doch plötzlich<br />

scheint sie den eigentlichen Sinn dieser Worte zu begreifen.<br />

„Ja, das muss er wohl getan haben“, sage ich nachdenklich.<br />

„Er ist nicht Rosies leiblicher Vater?“ Olivias Gedanken<br />

flackern beinahe sichtbar auf, während sie versucht, die Puzzlestücke<br />

<strong>der</strong> vergangenen fünfzehn Jahre zusammenzusetzen.<br />

172


„Du hattest damals einen an<strong>der</strong>en Freund. Einen, den du unseren<br />

Eltern nie vorgestellt hast. Ich habe damals des Öfteren<br />

gehört, wie er dich spät nachts mit dem Motorrad … Er fuhr ein<br />

Motorrad, genau. War das etwa <strong>der</strong> Grund?“<br />

„<strong>Der</strong> Grund wofür?“<br />

„Dass du ihn verheimlicht hast. Papa hätte ihn schon nicht<br />

gelyncht. Max fährt schließlich auch Motorrad.“<br />

„Aber inzwischen hat er einen Job und trägt die Haare kurz“,<br />

seufze ich.<br />

„Wir reden hier von deinem Exfreund und nicht von meinem<br />

Mann, o<strong>der</strong>?“<br />

Ich weiß nicht, ob es am Wein o<strong>der</strong> <strong>der</strong> späten Abendstunde<br />

liegt, dass ich mich in diesem Moment so müde, traurig und<br />

unbeschreiblich leer fühle.<br />

„Olivia“, beginne ich vorsichtig. „Doch.“<br />

Ich sehe, wie ein Licht aufgeht und ein Lächeln ausgeht.<br />

Olivia<br />

„Olivia, was machst du denn hier?“, fragt Rosalie überrascht,<br />

als ich mit Violetta vor <strong>der</strong> Tür ihres Appartements auftauche.<br />

Sie reibt sich die Stirn und blickt verwun<strong>der</strong>t von mir zu ihr und<br />

wie<strong>der</strong> zurück. Es ist mehrere Wochen her, seit Violetta sie bei<br />

mir abgeholt hat. Seither haben wir nichts mehr voneinan<strong>der</strong><br />

gehört. Und nun stehe ich plötzlich und unangemeldet hier.<br />

„Du hast etwas vergessen, als du gegangen bist“, sage ich mit<br />

einem versöhnlichen Lächeln und drücke Rosalie den vergilbten<br />

Umschlag, den ich in ihrem Zimmer gefunden habe, in die Finger.<br />

173


Ihre Laune hellt sich so schlagartig auf, als hätte jemand einen<br />

Lichtschalter betätigt.<br />

„Schon möglich“, sagt sie freudig. Sie gibt mir einen Kuss auf<br />

die Wange und steckt den Brief in ihre Tasche. Danach sagt sie<br />

in übertrieben höflichem Ton: „Salut, Maman.“<br />

„Salut, Rosie“, erwi<strong>der</strong>t Violetta und verkneift sich angestrengt<br />

die Frage nach diesem Brief. Wahrscheinlich will sie<br />

nicht gleich mit dem ersten Satz die offenbar aufgeheiterte<br />

Stimmung wie<strong>der</strong> trüben. Stattdessen fragt sie: „Hast du Zeit<br />

und Lust auf einen kleinen Ausflug?“<br />

„Okay, aber ich habe ein wenig Kopfschmerzen“, antwortet<br />

Rosalie. Schwer zu sagen, ob sie von dieser spontanen Idee<br />

begeistert ist, aber sie sieht sich suchend um. „Ich brauch eine<br />

Minute.“<br />

Während sie durchs Zimmer geht und nach ihrem Handy<br />

und einer Jacke sucht, warten Violetta und ich im Flur. Ein<br />

Mädchen, noch in ihrem Nachthemd, huscht an <strong>der</strong> Tür vorüber<br />

ins Bad und murrt dabei einen unverständlichen Satz in meine<br />

Richtung. Es ist bereits halb zwölf und Violetta schüttelte bei<br />

ihrem Anblick missbilligend den Kopf.<br />

„Es ist Samstag“, sage ich amüsiert. „Wir können von Glück<br />

sagen, dass uns überhaupt jemand um diese Zeit die Tür geöffnet<br />

hat.“<br />

„Alles klar“, meint Rosalie mit einem Blick über ihre Schulter.<br />

„Ist es warm draußen?“<br />

„Ein herrlicher Tag, perfekt um in den Park zu gehen“,<br />

antwortet Violetta.<br />

174


Rosalie<br />

Ich habe Maman lange nicht mehr so euphorisch erlebt. Sie<br />

versprüht ihre gute Laune, als könnte sie damit Tauben füttern.<br />

Ich weiß nicht, wie und warum sich die beiden wie<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong><br />

versöhnt haben, doch ich werde das Thema besser ruhen<br />

lassen. Alles ist heiter, das Wetter, die Stimmung, die Spaziergänger<br />

im Park. Nur meine Gedanken können sich ebenso wenig<br />

entspannen wie Olivias Gesichtsmuskeln, die sie für ihr steifes<br />

Lächeln anspannt. Ich sehe ihr an, dass sie irgendetwas quält.<br />

Hat Maman sie etwa zu einer ihrer Intrigen überredet? Hat sie<br />

mir deshalb den Brief gebracht, damit Maman wie<strong>der</strong> etwas hat,<br />

das sie mir bei Gelegenheit entziehen kann? Nein, das glaube ich<br />

nicht, Olivia würde sich auf solche Spielchen nicht einlassen.<br />

<strong>Der</strong> Brief brennt mir beinahe ein Loch in die Tasche.<br />

Verunsichert durch diese seltsame Heiterkeit wage ich nicht,<br />

ihn herauszunehmen und das Foto anzuschauen, nicht in<br />

Mamans Gegenwart. Ich habe den Blick gesehen, mit dem sie ihn<br />

registriert hat, als Olivia ihn mir gegeben hat. Aber ich stehe<br />

seither wie unter Strom. Ich möchte unbedingt das Foto ansehen,<br />

Jonathans Gesicht. Ich schwitze.<br />

Alles scheint sich endlos hinzuziehen. Olivia lächelt weiter,<br />

als wäre sie für einen Oscar nominiert, den sie nie bekommen<br />

wird, während Maman strahlt und redet, als würde sie das<br />

Interview ihres Lebens geben. Keine Ahnung, worum es geht,<br />

aber die Handlung ist künstlich aufgebauscht und das Drehbuch<br />

so schlecht, dass selbst <strong>der</strong> Kellner sich abwendet und die<br />

bestellten Getränke erst nach dem zweiten Take an den Tisch<br />

bringt. Maman macht eine filmreife Szene, weil <strong>der</strong> Kellner<br />

sich nicht an sein Script hält. Wer hat diesen Typen gecastet?<br />

175


Er gehört nicht in diesen Film. Er sieht ein bisschen aus wie<br />

Jonathan. Erst habe ich ihn nur von <strong>der</strong> Seite gesehen, aber<br />

jetzt von vorne – nein, doch nicht. Vielleicht <strong>der</strong> junge Mann,<br />

<strong>der</strong> dort drüben an dem Tisch sitzt, könnte er die Rolle übernehmen?<br />

Nein, <strong>der</strong> hat nur ein gleiches Hemd an. Ich höre<br />

Jonathans Stimme beim Vorbeigehen einer Gruppe. Alles dreht<br />

sich in meinem Kopf, die Augen schmerzen. Plötzlich sehe ich<br />

ihn überall.<br />

„Rosie?“ Ich zucke zusammen und blicke Maman fragend an.<br />

„Was ist los mit dir? Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragt<br />

sie besorgt. „Ich versuche gerade, dir etwas zu erklären.“<br />

„Alles okay“, sage ich abwesend. Es klingt wenig überzeugend,<br />

denn es stimmt auch nicht. „Ich habe elende Kopfschmerzen.“<br />

„Ich glaube, sie hat Fieber“, sagt Olivia und drückt ihre<br />

Handfläche an meine feuchte Stirn. „Ist wahrscheinlich nur<br />

ein Virus, die Sommergrippe vielleicht.“<br />

„Wir sollten besser zurückfahren“, sagt Maman plötzlich und<br />

vehement. „Sie muss sofort zum Arzt.“<br />

„Maman“, stöhne ich. „Es ist nichts. Ich will nur zurück.“<br />

„Ich werde uns ein Taxi rufen.“ Sie wählt bereits die Nummer.<br />

Nach einer längeren Debatte im Taxi beharre ich darauf, im<br />

Internat zu bleiben. Ich habe keine Lust, bei Maman zu Hause<br />

beobachtet, o<strong>der</strong> besser gesagt, bewacht zu werden. Das hätte<br />

noch gefehlt. Ich will jetzt um jeden Preis allein sein, ich reiße<br />

mich trotz <strong>der</strong> pochenden Schmerzen in meiner Stirn zusammen<br />

und sage: „Es sind nur Kopfschmerzen, Maman. Ich muss mich<br />

nur ins Bett legen. Morgen ist es sicher schon wie<strong>der</strong> besser, ich<br />

werde dich anrufen.“<br />

Sie gibt nach, will mir aber noch ein paar Schmerz tabletten<br />

besorgen. Ich winke ab. Um sie zu beruhigen, sage ich:<br />

176


„Ich werde zur Schulschwester gehen, wenn’s schlimmer wird.<br />

Versprochen.“<br />

Olivia<br />

„Du hättest es ihr sagen sollen. So war unsere Abmachung.“<br />

„Aber doch nicht, wenn sie krank ist“, entgegnet Violetta<br />

ärgerlich. „Sie war nicht in <strong>der</strong> Verfassung, das hast du doch<br />

selbst gesehen.“<br />

„Du hast zu lange gewartet. Für so etwas gibt es nie den<br />

passenden Zeitpunkt. Das Leben hält sich nicht an unsere Vorstellungen,<br />

wie alles ablaufen soll. Man kann nicht immer alles<br />

planen und einfädeln, das sollte selbst dir inzwischen klar sein.“<br />

Violetta ignoriert diesen Satz. Das Taxi fährt uns zurück in<br />

die Wohnung, also kann sie mir nicht aus dem Weg gehen. Ich<br />

nutze diese Tatsache, um die Konsequenzen zu erörtern.<br />

„Was hast du nun vor? Du erwartest doch nicht, dass ich nach<br />

Hause fahre und Stillschweigen darüber bewahre?“<br />

„Das kannst du mir nicht antun“, sagt Violetta erschrocken.<br />

„We<strong>der</strong> Max noch Rosie dürfen es an<strong>der</strong>s erfahren, als durch<br />

mich, hörst du? Es spielt eine entscheidende Rolle. Die Sache ist<br />

weit delikater, als du dir vorstellen kannst.“<br />

„Glaubst du wirklich, ich könne mir nicht vorstellen, wie<br />

aufgebracht Max darüber sein wird? Er wird ausrasten und<br />

sicher mit Ludovic reden wollen, aber das ist nicht mein<br />

Pro blem, Violetta. Du hattest vierzehn Jahre Zeit, um den<br />

richtig en Zeitpunkt dafür zu finden. Irgendwann ist Schluss<br />

mit dem Lügengebilde.“<br />

177


„Du würdest Rosies Zukunft ruinieren, wenn Ludovic davon<br />

erfährt. Rosie soll selbst entscheiden, ob sie das will.“<br />

„Wieso soll sie entscheiden, ob dein Mann erfährt, dass<br />

dein Kind seine Tochter ist o<strong>der</strong> die Tochter deines … Ex-“, ich<br />

schlucke leer bei dem Gedanken, „die Tochter deines<br />

Schwagers“, sage ich bitter. Sie soll ruhig verstehen, dass ich in<br />

dieser Geschichte auch eines ihrer Opfer bin.<br />

„Sobald Rosie achtzehn geworden ist, wird sie von einem<br />

Treuhandfond, den Ludovics Vater für sie eingerichtet hat,<br />

profitieren. Die Bedingung damals war, dass wir zu diesem<br />

Zeitpunkt noch immer eine glückliche Familie sind.“<br />

„Ist nicht dein ernst“, sage ich tonlos.<br />

„Und ob“, bestätigt Violetta. „Es handelt sich um eine<br />

immense Summe und ich setze wirklich alles daran, dass die<br />

Familie erhalten bleibt, aber …“<br />

Ganz plötzlich bricht sie in Tränen aus. Das habe ich nicht<br />

erwartet, nicht in <strong>der</strong> Öffentlichkeit, in Anwesenheit eines<br />

Taxifahrers, <strong>der</strong> uns verstört im Rückspiegel anstarrt. Ich versuche,<br />

sie zu beruhigen, und reiche ihr ein Taschentuch.<br />

„Ludovic hat eine Affäre“, sagt sie geknickt.<br />

„Himmel, auch das noch“, stöhne ich auf. „Bist du sicher? Ich<br />

meine, woher weißt du das?“<br />

„Ja, ich bin sicher. Ich habe eine SMS gelesen, die er erhalten<br />

und wohl vergessen hat zu löschen. Es war ziemlich eindeutig<br />

und dauert wahrscheinlich schon eine ganze Weile.“<br />

„Was für ein Schlamassel,“ entfährt es mir leise.<br />

178


Rosalie<br />

Nachdem die Türe endlich hinter mir zufällt und ich alleine<br />

bin, gehe ich ins Schlafzimmer, ziehe nur die Jeans aus, nehme<br />

den Brief aus <strong>der</strong> Tasche und lege mich ins Bett. Das Foto zittert<br />

in meiner Hand und ich betrachte es eindringlich, bis mein Blick<br />

verschwommen wird.<br />

Wo warst du? Du hast mich im Stich gelassen, scheint das<br />

Bild zu sagen.<br />

Das ist nicht wahr. Du hast mich im Stich gelassen! Ich war<br />

immer da und habe den Augenblick des Wie<strong>der</strong>sehens ersehnt<br />

und jeden Hoffnungsschimmer in pures Licht verwandelt. Du<br />

hast es einfach nicht gesehen. Könntest du in mir nur deine<br />

Zukunft sehen, weg von <strong>der</strong> Zeit, die dich gefangenhält. Ich<br />

würde dir alle Zeit <strong>der</strong> Welt schenken. Meine Zeit und die<br />

unserer gesamten Zukunft. Ich würde meine Zeit sogar aufgeben,<br />

um dich wie<strong>der</strong>zusehen, so sehr vermisse ich dich.<br />

Wir müssen die Zeit hinter uns lassen.<br />

Ich kann alles hinter mir lassen. Es gibt nichts, was mich hier<br />

hält o<strong>der</strong> überhaupt noch interessiert. Niemanden schert es, selbst<br />

wenn ich zu dir in die Vergangenheit flüchten müsste. Wir könnten<br />

alles neu erfinden. Ich würde dir überall hin folgen. Ich will deine<br />

Augen strahlen sehen und dein Herz schlagen hören, wenn ich<br />

mit dir gehe und für immer bei dir bleibe.<br />

Was willst du tun?<br />

Ich werde dir die schönsten Augenblicke widmen. Ich werde<br />

dich dazu bringen, sie zu erkennen. Ein einziges Bild vom<br />

Augenblick genügt mir, um mein Glück darin zu erkennen. Ich<br />

werde es dir beschreiben: Augenblick – Blickwechsel – Wechselspiel<br />

– Umarmung … und endlich ist er da, <strong>der</strong> magische Punkt.<br />

179


Szenenwechsel – Kuss und Punkt. <strong>Der</strong> Punkt ist notwendig, aber<br />

ich weiß nicht, ob ich ihn schon gesetzt o<strong>der</strong> zeitlebens übersehen<br />

habe. Wo ist dieser entscheidende Punkt? Ich habe keine<br />

Ahnung, ob irgendetwas davon schon in den Sternen steht o<strong>der</strong><br />

ob ich es eigenhändig dort hinschreiben muss.<br />

Du musst mir helfen.<br />

Natürlich werde ich dir helfen, aber wie kann ich das tun? Ich<br />

habe das Amulett nicht mehr. Ich kann es nirgends finden. Ich<br />

kann dich nicht mehr finden. Das Wurmloch, es geht nicht auf<br />

ohne das Amulett. Jonathan, ich kann nichts dafür, Jonathan …<br />

Jonathan, verlass mich nicht … Geh nicht.<br />

„Mit wem redest du denn?“ Manon steht vor meinem Bett<br />

und schaut mich kritisch an.<br />

„Ich bin krank“, murmle ich mit fiebrigem Blick.<br />

„Ich gehe und melde es <strong>der</strong> Schulschwester“, sagt Manon.<br />

„War deine Mutter nicht gerade noch da?“<br />

Sie wartet die Antwort nicht mehr ab, son<strong>der</strong>n läuft los.<br />

Romilda<br />

Dummköpfe, alle beide! Sie streiten sich um Paulinchens<br />

Aufmerksamkeit, als wäre ihre Zuwendung ein Indiz für die<br />

rechtmäßige Vaterschaft.<br />

Ich finde Jonathans Eifersucht genauso lächerlich wie<br />

Vincents Überheblichkeit. Ich bin es leid, beide immer wie<strong>der</strong> zu<br />

beschwichtigen. Jonathan sollte froh sein, dass wir so glimpflich<br />

davonkommen sind. Ich bin es auch. Froh und dankbar für<br />

Vincents Großzügigkeit.<br />

180


Ich bin mir sicher, Vincent wusste die ganze Zeit, dass<br />

Paulinchen nicht seine Tochter sein kann. Gott sei Dank war<br />

sie winzig klein und rosig, als sie zur Welt kam. Die wenigen<br />

Härchen auf ihrem Kopf schimmern kupferrot o<strong>der</strong> rotgolden, je<br />

nach Licht. Sie kommt ganz nach mir, sagen alle. Ein besseres<br />

Schicksal hätte ihr nicht vorbestimmt sein können. In erster<br />

Linie ist sie meine Tochter. Das hat auch Vincent akzeptiert, ich<br />

bin mir vollkommen sicher, und Jonathan würde es besser auch<br />

akzeptieren.<br />

Nun hat Jonathans Eifersucht trotz allem einen Keil zwischen<br />

uns treiben können. Natürlich ist es beinahe unmöglich, dass<br />

wir uns treffen. Nachrichten kann ich ihm auch nicht zu kommen<br />

lassen, das wäre zu leichtsinnig. Das Warten und die Sehnsucht<br />

zermürben mich ebenso wie ihn, aber es geht nicht an<strong>der</strong>s. Wenn<br />

er mich liebt, soll er die nötige Geduld aufbringen!<br />

Aber er hat sein Temperament nicht zügeln können und<br />

mich mit wenigen, aber unbedarften Behauptungen in Ungnade<br />

gebracht. Natürlich waren seine Worte ausschließlich an Vincent<br />

gerichtet gewesen, aber die Haushälterin hat alles mitgehört und<br />

es meiner Schwiegermutter erzählt.<br />

Sie reden nicht mehr mit mir, und das Schlimmste ist, sie<br />

haben Paulinchen weggebracht. Ich bin allein hier und warte auf<br />

Vincents Entscheidung.<br />

181


Das Wurmloch<br />

Rosalie<br />

Die Träume verfolgen mich. Es dauert drei Tage, bis das Fieber<br />

vorüber ist. Man hat mich ins Krankenzimmer des Internats<br />

verlegt. In diesen drei Tagen bin ich durch sämtliche Zeitfenster<br />

und Schlupflöcher gefallen und habe Dutzende dieser seltsamen<br />

o<strong>der</strong> zusammenhangslosen Unterhaltungen mit Jonathan<br />

geführt und sie einige Male mit Manon, die mich als Einzige<br />

in den Pausen o<strong>der</strong> nach dem Unterricht besuchte, beendet.<br />

Natürlich wusste sie nicht, wovon ich redete, und schrieb es<br />

den Fieberträumen zu.<br />

Heute, wo es mir wie<strong>der</strong> besser geht, setzt sich Manon nach<br />

dem Mittagessen zu mir ans Bett und reicht mir eine Tasse<br />

heißen Tee.<br />

„Wer ist Jonathan?“, fragt sie, ohne zu zögern.<br />

„Ein Freund“, sage ich. „Von früher“, füge ich hinzu, damit sie<br />

nicht weiter nachhakt. Ich habe keine Ahnung, was ich während<br />

182


meiner Fieberschübe alles preisgegeben habe. Ich weiß auch<br />

nicht, ob ich ihr trauen kann, denn seit Sophies Verrat bin ich<br />

vorsichtig mit dem, was ich so genannten Freunden anvertraue.<br />

Am besten, sie wissen nichts, dann haben sie auch nichts gegen<br />

einen in <strong>der</strong> Hand. Ich hoffe also, das Thema hat sich erschöpft.<br />

„Ist er gestorben?“, fragt Manon unverhofft.<br />

Wie kommt sie darauf? Ich staune, aber es macht irgend<br />

wie Sinn. Einen Moment lang denke ich angestrengt nach. So<br />

ließe sich das Mysteriöse vielleicht erklären. Das Wurmloch<br />

würde zum Jenseits deklariert und Jonathans Erscheinung<br />

offiziell zum Geist erklärt werden. Meine im Fieberrausch<br />

gemurmelten Worte könnte ich so einigermaßen begründen.<br />

„Ja, er ist tot“, sage ich und spüre, wie ein kleiner Riss in<br />

meiner Seele entsteht. Plötzlich bin ich nicht mehr sicher, ob ich<br />

nicht eben die <strong>Wahrheit</strong> erkannt habe.<br />

Manon<br />

Was für ein Schwachsinn. Die Hexe denkt doch wohl nicht,<br />

dass ich die kleine Heulsuse weiterhin bemuttere und überwache<br />

für all diesen erfundenen Blödsinn. Die ist noch nicht<br />

aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht, seit sie hier ist. Soll die<br />

Psychotante ihren Job doch selber machen, schließlich wird sie<br />

dafür bezahlt und nicht ich. Die paar Tabletten, die sie bei mir<br />

gefunden hat, sind es nicht wert, dass ich meine Zeit damit<br />

vertrödeln muss, die Krankenschwester zu spielen. Ich habe ihre<br />

Sachen durchsucht und nichts gefunden, außer einem alten<br />

Buch in einer fremden Sprache, einem uralten Brief, <strong>der</strong> nicht<br />

183


einmal ent zifferbar ist, und ihrem blöden Notizblock, den sie mit<br />

kindischem Gekritzel füllt. Was soll eine wie sie denn verbergen?<br />

Diesen toten Freund o<strong>der</strong> das Vermögen ihrer stinkreichen<br />

Eltern? Das alles kann man ihr in fünf Minuten Therapiesitzung<br />

entlocken. Hat sie echt geglaubt, die hätte irgendetwas Gefährliches<br />

gebunkert? Die ist nie im Leben selbstmord gefährdet.<br />

Aber die Poljakow lässt nicht locker. Ständig will sie wissen,<br />

was <strong>der</strong> Kleinen auf <strong>der</strong> Seele lastet. Aber das Ganze ist nur<br />

Theater. Sie ist eine verwöhnte Göre, die meint, sie wäre etwas<br />

Besseres. Sie redet nicht mit gewöhnlichen Leuten. Sie hat es<br />

auch nicht nötig, Freunde zu finden. Ihre Maman kauft ihr<br />

sicher welche, sollte sie die je braucht. Ansonsten hat sie<br />

genügend Spielsachen. Sie hat sogar ihr eigenes Wi-Fi, für das<br />

sie das Passwort nicht herausrücken will.<br />

So gesehen geschieht es ihr recht, dass ich ihr die Pillen<br />

gegeben habe. Ich habe sie ihr Samstagmorgen in ihren Tee<br />

gemischt, damit sie nichts mitbekommt. Ich hätte nicht gedacht,<br />

dass sie daraufhin gleich drei Tage flach liegen würde. Ich<br />

wollte nur, dass sie den Nachmittag verpennt und ich in Ruhe<br />

ihre Sachen filzen kann. Wer konnte schon ahnen, dass ihre<br />

Mutter sie sowieso für den Nachmittag abholen kommt. Ebenso<br />

wenig konnte ich ahnen, dass die bescheuerte Kuh gleich einen<br />

Fieberanfall wegen ein paar halmloser Pillen kriegt. Das beweist<br />

nur, was für ein degeneriertes Zimmerpflänzchen sie ist.<br />

Aber es geht ihr wie<strong>der</strong> gut. Damit habe ich meine Schuldigkeit<br />

getan. Es hat nichts gebracht und glücklicherweise nicht<br />

viel geschadet. Je<strong>der</strong> bekommt eben das, was er verdient.<br />

184


Rosalie<br />

Seit einer Woche geht mir Elodie aus dem Weg und tuschelt<br />

dauernd mit ihrer Freundin Aurélie, während diese mich mit<br />

großen Augen begutachtet, als hätte ich eine ansteckende<br />

Geisteskrankheit. Es ist nicht ansteckend, du blöde Kuh. Es<br />

steckt bereits in dir drin, darum hat man dich ebenso in dieses<br />

Psychoheim abgeschoben wie mich.<br />

Manon hat Elodie natürlich diese idiotische Geschichte über<br />

meinen toten Freund erzählt und nun zerreißt sich die halbe<br />

Schule das Maul über mich. Anfangs habe ich noch geheult deswegen,<br />

aber inzwischen ist es mir egal. Ob ich nun hier o<strong>der</strong> an<br />

meiner alten Schule bin, macht keinen Unterschied. Es ist sowieso<br />

keiner mehr da, <strong>der</strong> sich für mich interessiert. Wer braucht schon<br />

Freunde. Freunde werden maßlos überschätzt. Maman werde ich<br />

ganz bestimmt keinen Ton darüber sagen. Sie ruft mich jeden<br />

Abend an, aber ich halte mich so kurz wie möglich. Von Papa<br />

habe ich auch keine zufriedenstellende Antwort bekommen. Er<br />

hat in <strong>der</strong> Zwischenzeit geschrieben und mir viel Glück für den<br />

Start in <strong>der</strong> neuen Schule gewünscht, aber das kam mit einer<br />

Woche Verspätung an und hat mich nicht wirklich aufgebaut. Ich<br />

fühle mich elend und zum ersten Mal in meinem Leben einsam.<br />

<strong>Der</strong> einzige Ort, an dem ich wirklich sein möchte, ist das Wurmloch,<br />

und das befindet sich irgendwo bei Olivia.<br />

Eigentlich ist es unlogisch, einem Wurmloch einen geographischen<br />

Standort zu geben, denn gerade den hat es nicht.<br />

Es ist die Verbindung zwischen Raum und Zeit und das kann<br />

theoretisch überall sein. Aber, und das ist <strong>der</strong> entscheidende<br />

Punkt, ich habe den Schlüssel dazu gefunden. O<strong>der</strong> besser<br />

gesagt, ich hatte den Schlüssel dazu gefunden. Doch ohne das<br />

185


Amulett werde ich die Tür zum Jenseits nicht öffnen können.<br />

Das wäre <strong>der</strong> einzige Weg, um Jonathan zu befreien, denn<br />

inzwischen glaube ich, dass es das ist, worum er mich damals<br />

bitten wollte, als er in meinem Zimmer erschienen ist. Er wollte,<br />

dass ich ihn aus den Klauen <strong>der</strong> unbarmherzigen Zeit befreie!<br />

„Kommst du Freitagabend auch?“, höre ich eine Stimme<br />

hinter mir.<br />

Überrascht drehe ich mich um. Elodie und ihre dämliche<br />

Freundin Aurélie stehen da und grinsen mich süffisant an.<br />

„Wohin?“, frage ich kurz angebunden.<br />

„Auf unsere Party“, erklärt Elodie.<br />

„Aha“, sage ich verwun<strong>der</strong>t. „Und wo findet die statt?“<br />

„In meinem Wohnzimmer“, erwi<strong>der</strong>t sie frech und lacht dabei,<br />

als wäre es ein gelungener Witz.<br />

Elena<br />

Die Sitzungen mit Rosalie bringen keine nennenswerten Fortschritte.<br />

Ich habe es nicht geschafft, sie ein weiteres Mal aus<br />

<strong>der</strong> Reserve zu locken. Es gibt kein Thema, das sie beson<strong>der</strong>s zu<br />

interessieren scheint, auch ihre Wahrnehmungsstörungen will<br />

sie nicht thematisieren. Sie behauptet, dass es ein Irrtum war,<br />

ein Missverständnis zwischen ihrer Tante und ihrer Mutter. Ich<br />

bin immer wie<strong>der</strong> erstaunt über das fehlende Interesse an den<br />

von mir gestellten Fragen. Rosalie sitzt minutenlang da, starrt<br />

Löcher in die Luft und hängt offenbar ihren Gedanken nach.<br />

Manchmal kritzelt sie auch in ihrem großen Notizblock herum<br />

und klinkt sich gänzlich aus.<br />

186


„Was schreibst du da eigentlich?“, frage ich sie und die<br />

Antwort kommt prompt und ist wenig hilfreich: „Nichts.“<br />

„Nichts ist genau das, was du auch erreichen wirst, wenn du<br />

dich weiterhin weigerst, deine Probleme zu erkennen. Ich habe<br />

das Gefühl, dass du dich mit <strong>der</strong> Situation einfach abgefunden<br />

hast“, setze ich zu einem gezielten Stich, da die ersten einsilbigen<br />

Gesprächsfetzen kein Weiterkommen in Aussicht stellen.<br />

„Stimmt“, bestätigt Rosalie. „Ich bin geheilt. Vielen Dank und<br />

Adieu.“<br />

Sie klappt den Block zu und will sich von <strong>der</strong> Couch erheben.<br />

„Nicht so schnell, junge Dame“, sage ich laut. „Ich stelle hier<br />

fest, ob und wann jemand geheilt ist. Und du bist noch weit<br />

davon entfernt.“<br />

Rosalie schlägt den Block erneut auf und kritzelt etwas<br />

hinein. Sie macht mich mürbe, aber ich reiße mich zusammen.<br />

„Finden Sie wirklich, dass ich ein Problem habe?“, fragt sie<br />

plötzlich und blickt endlich von ihrem Notizblock auf. „Ich<br />

erledige meine Hausaufgaben, halte meine Sachen in Ordnung<br />

und bin höflich. Wo liegt Ihrer Meinung nach das Problem?“<br />

„Das Problem ist, dass du dich deinen Problemen nicht stellen<br />

willst. Du bist unkonzentriert in <strong>der</strong> Schule und du zeigst kein<br />

Interesse an deinen Mitmenschen.“<br />

„Warum sollten die mich interessieren?“<br />

„Weil Interesse wichtig für das Zusammenleben in einer<br />

Gruppe ist. Wenn du dich nicht für sie interessierst, können sie<br />

deine Handlungen und Beweggründe nicht nachvollziehen und<br />

werden dich irgendwann von <strong>der</strong> Gruppe ausschließen.“<br />

„Auch egal“, sagt Rosalie unbeteiligt.<br />

„Siehst du, und genau da haben wir das Problem“, kontere<br />

ich.<br />

187


Sie seufzt. Vermutlich weiß sie, dass ich recht habe, aber auch<br />

das scheint ihr egal zu sein. Es sieht nicht so aus, als wäre sie<br />

gewillt, ihre Zeit und Aufmerksamkeit den Therapiegesprächen<br />

zu widmen. Einzig ihrem Gekritzel schenkt sie Beachtung. Wie<br />

kann ich sie bloß motivieren, damit sie sich etwas öffnet? Ihren<br />

Zimmerkameradinnen erzählt sie nichts und ihrer Mutter schon<br />

gar nicht. Doch irgendeinen Ansatzpunkt wird es geben, etwas,<br />

das sie interessiert, und ich werde ihn finden. Vermutlich steht<br />

er irgendwo auf diesem Notizblock. Ich habe es satt.<br />

„Wir machen zehn Minuten Pause“, sage ich plötzlich. „Geh<br />

an die frische Luft.“<br />

Rosalie<br />

Unmotiviert schlen<strong>der</strong>e ich über den leeren Schulhof. Es ist<br />

keine schulplanmäßige Pause, darum ist es hier so leer wie in<br />

meinem Kopf. Wozu also die frische Luft, frage ich mich. In<br />

meinem Kopf fühlt sich sowieso alles an wie Luft. Wahrscheinlich<br />

ist die Poljakow auch schon so angeödet von diesen<br />

unsinnigen Gesprächen, dass sie neuerdings Pausen verordnet.<br />

Unvermittelt denke ich an Elodie, die nie ihre Aufgaben<br />

erledigt und mich nun auch noch zur Komplizin ihrer blöden<br />

Freitagsparty gemacht hat. In meinem Wohnzimmer, höre ich sie<br />

sagen. Perfekt, eine Saufparty in unserem Wohnzimmer. Die ist<br />

dauernd auf Ärger aus. Eigentlich sollte sie bei <strong>der</strong> Poljakow<br />

sitzen und sich therapieren lassen.<br />

Schade, dass ich vergessen habe, meinen Notizblock mitzunehmen.<br />

Ich hätte hier draußen in <strong>der</strong> Sonne sitzend meine Texte fer-<br />

188


tig schreiben können, ohne immer wie<strong>der</strong> von dem Psychogelaber<br />

unterbrochen zu werden. Ich habe angefangen, Kurz geschichten<br />

über Millie und die an<strong>der</strong>en Tiere von Olivia und Max zu<br />

schreiben. Ohne Freunde hat man plötzlich eine Menge Zeit.<br />

Wenn ich das Leben aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Tiere betrachte, kommt mir<br />

alles nicht mehr ganz so verworren vor. Olivias Geschichten fand<br />

ich toll. Sie hat immer so getan, als würden es ihr die Tiere selbst<br />

erzählen. Vielleicht ist es kindisch, aber es hilft mir tatsächlich,<br />

meine Gedanken zu sortieren. Ich hatte schon lange nichts mehr<br />

geschrieben, nicht einmal in meinem Blog. Die Schülerzeitung<br />

fehlt mir. Ich vermisse Olivia und Lily, sogar Max.<br />

Endlich ist die Pause um und ich gehe zurück in den Raum.<br />

„Das, was dich vor<strong>der</strong>gründig interessieren sollte, ist, warum<br />

deine Maman dich weggeschickt hat“, nimmt Madame Poljakow<br />

mit ruhiger Stimme das Gespräch wie<strong>der</strong> auf. „Ich an deiner Stelle<br />

würde wissen wollen, was <strong>der</strong> Grund dafür ist. Die Zeit heilt zwar<br />

die meisten Wunden, aber Probleme löst man nicht dadurch, dass<br />

man sie verdrängt. Wenn du nicht mit deiner Maman reden willst,<br />

dann schreib ihr doch, was dich bekümmert. Schreib ihr einen<br />

Brief o<strong>der</strong> führe ein Buch, in das du deine Gedanken schreibst.<br />

Wenn du sie aufschreibst, sind sie aus deinem Kopf und du kannst<br />

sie klarer erkennen. Das ist eine Praktik, die je<strong>der</strong> Autor kennt. So<br />

kann man seine Psyche aufräumen und entwirren.“<br />

„Es wird nichts bringen“, murre ich seufzend. „Glauben Sie<br />

nicht, dass ich bereits versucht habe, sie nach einem Grund für<br />

das hier zu fragen?“<br />

„Natürlich hast du das. Aber hast du die Antworten auch<br />

verstanden? Hast du die Fakten in ihren Antworten analysiert<br />

und ergründet? Hast du die unterschwelligen Gründe für ihre<br />

Entscheidung in Betracht gezogen?“<br />

189


„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“ Misstrauisch betrachte<br />

ich sie. Wovon redete sie da? Macht sie tatsächlich den Versuch,<br />

mich nicht nur mit Fragen zu nerven, son<strong>der</strong>n mir etwas Hilfreiches<br />

zu erzählen? Kommt sie endlich zum Punkt und gibt mir<br />

ein paar richtige Psychotipps?<br />

„Ich werde dir eines verraten. In <strong>der</strong> Psychologie geht es<br />

einzig und allein darum, die Wurzel eines Problems zu finden.<br />

Dort, wo das Problem seinen Ursprung hat, findet sich auch die<br />

Lösung. Wenn du etwas über dich selbst erfahren willst, musst<br />

du deine eigenen Wurzeln erforschen. Alles hat seinen Ursprung<br />

in <strong>der</strong> Vergangenheit. Die Zeit legt einen Schleier darüber. Du<br />

musst dich sorgfältiger umsehen. So wie eine Eule ihren Kopf<br />

um hun<strong>der</strong>tachtzig Grad drehen kann, um den Überblick zu<br />

behalten, musst du dich den Fakten um dich herum zuwenden<br />

und nicht den Blick davor verschließen.“<br />

Wie kommt diese Frau auf eine Eule? Es ist doch nicht möglich,<br />

dass sie von meinem Amulett weiß. Niemand hier weiß<br />

davon, nicht einmal meinen Zimmergenossinnen habe ich davon<br />

erzählt, und hier im Internat habe ich das Amulett bereits gar nicht<br />

mehr besessen. Es kann also niemand gesehen haben o<strong>der</strong> davon<br />

wissen. Ist es möglich, dass ich unbewusst irgendwelche Signale<br />

aussende? Vielleicht hat sich diese Frau irgendwie Zugang zu<br />

meiner Psyche erschlossen und liest nun meine Gedanken? Oh<br />

nein, wie gruselig! Ich hoffe, das war purer Zufall.<br />

„Nach den Wurzeln suchen“, murmle ich nachdenklich.<br />

Warum weiß ich so wenig über meine Wurzeln? Was ist die<br />

<strong>Wahrheit</strong> über Maman und Olivia und warum haben die beiden<br />

ein so seltsames Verhältnis zueinan<strong>der</strong>? Was hat es mit Lilys<br />

Buch auf sich und warum kann ich nirgends etwas über die<br />

Autorin Romilda Darkling herausfinden? Aber vor allem<br />

190


möchte ich die <strong>Wahrheit</strong> über Jonathan herausfinden, darüber,<br />

wo er sich in diesem Augenblick befindet und warum ich im<br />

Sommer diesen mysteriösen Kontakt zu ihm gehabt habe. Und<br />

das Amulett? Das ist auch ein Rätsel, das ich lösen muss.<br />

Meine Gedanken kreisen den ganzen Tag um das letzte<br />

Gespräch mit <strong>der</strong> Poljakow. Alles hat seinen Ursprung in <strong>der</strong> Vergangenheit,<br />

hat sie gesagt. Wenn ich etwas Richtiges herausfinden<br />

will, muss ich zurück an den Ort des Geschehens. Das hat mir<br />

die Psychologin mehr als deutlich klargemacht. Es ist wirklich<br />

an <strong>der</strong> Zeit, dass ich herausfinde, was sich damals abgespielt hat.<br />

Entschlossen klopfe ich an die Tür <strong>der</strong> Schulleiterin.<br />

„Herein“, höre ich eine Stimme sagen und ich öffne die Tür.<br />

„Was kann ich für dich tun?“, fragt die Schulleiterin freundlich.<br />

„Madame Molier, ich werde ab Morgen in <strong>der</strong> Schule fehlen.“<br />

Sie sieht mich fragend an. „Aus familiären Gründen. Meiner<br />

Tante geht’s schlecht. Ich muss unverzüglich zu ihr.“<br />

„Das werde ich dir genehmigen, sobald ich die Erlaubnis<br />

deiner Eltern habe“, antwortet die Schulleiterin freundlich.<br />

„Mein Vater ist, wie Sie wissen, in Asien. Es ist im Moment<br />

schwierig, ihn zu erreichen. Maman erlaubt es natürlich, aber<br />

sie hat im Moment keine Zeit, sich um solche Kleinigkeiten zu<br />

kümmern“, sage ich schnell, aber meine Hoffnung sinkt, als ich<br />

ihre zusammengezogenen Augenbrauen sehe.<br />

„Dann kann ich lei<strong>der</strong> nichts machen“, sagt Madame Molier<br />

immer noch freundlich.<br />

Ich habe das bereits vermutet, deshalb sage ich in bestimmendem<br />

Ton: „Ich habe Sie lediglich darüber informiert, damit Sie<br />

Bescheid wissen. Die üblichen Formalitäten werden in diesem<br />

Fall lei<strong>der</strong> warten müssen. Es handelt sich schließlich um einen<br />

Notfall!“<br />

191


„Nein, so läuft das nicht, Rosalie“, sagt Madame Molier<br />

streng. Sie sieht jedoch meine entschlossene Miene und seufzt.<br />

„Du kannst nicht fernbleiben ohne eine schriftliche Erlaubnis<br />

eines Erziehungsberechtigten. Wenn du es trotzdem tust, wird<br />

es ernsthafte Konsequenzen haben. Sieh mal, deine Maman<br />

hat sich sehr bemüht, so kurzfristig noch einen Platz in diesem<br />

Internat für dich zu finden. Du willst doch nicht etwa einen<br />

Schulverweis riskieren, habe ich recht?“<br />

Max<br />

Olivia ist überhaupt nicht besser gelaunt, seit sie aus Paris<br />

zurück ist, stelle ich besorgt fest. Ich war nicht begeistert, als<br />

sie sich kurzentschlossen auf den Weg zu Violetta gemacht hat.<br />

Aber Olivia hat sich nicht davon abbringen lassen. Meinet wegen<br />

hätte <strong>der</strong> Kontakt ruhig wie<strong>der</strong> versickern können, ich habe nicht<br />

das geringste Interesse an Violettas Spielchen. Sie wird Olivia<br />

doch nichts von unserer Abmachung erzählt haben? Zu dumm,<br />

dass ich mich auf so etwas überhaupt eingelassen habe. Aber im<br />

Nachhinein ist man immer klüger. Ich habe unsere Beziehung mit<br />

einer Lüge begonnen. Erst war es noch keine Lüge, nur etwas,<br />

was ich gerne verdrängt habe. Mir war schnell klar, dass Olivia<br />

die kleine Livi war, Violettas jüngere Schwester. Natürlich war<br />

ich nicht beson<strong>der</strong>s scharf darauf, ihr gleich zu Anfang zu erzählen,<br />

dass ich einmal eine kurze Beziehung mit ihrer älteren<br />

Schwester hatte. <strong>Der</strong> richtige Zeitpunkt würde schon kommen<br />

und Violetta war schließlich weit weg in Paris. Zur Lüge wurde es<br />

erst, als ich plötzlich diesen Anruf erhielt. Olivia und ich waren<br />

192


schon ein paar Monate zusammen, als ihre Schwester mich eines<br />

Abends überraschend anrief. Zuerst hatte ich keinen Schimmer,<br />

mit wem ich eigentlich sprach, immerhin waren fast zehn Jahre<br />

vergangen, seit ich sie zuletzt gesprochen hatte. Doch als sie ohne<br />

Umschweife sagte, dass ich mich aus ihrem Leben rauszuhalten<br />

hätte, wusste ich schlagartig wie<strong>der</strong>, mit wem ich es zu tun hatte.<br />

„Schön, nach so langer Zeit wie<strong>der</strong> von dir zu hören“, sagte<br />

ich nur. „Dein Leben interessiert mich genauso wenig, wie dich<br />

damals meins interessiert hat.“<br />

Unsere Beziehung hatte nur einen Sommer gedauert. Wahrscheinlich<br />

waren wir beide zu jung für etwas Ernsthaftes, jedenfalls<br />

war das ihre Begründung, als sie mit mir Schluss machte.<br />

Es hat mich damals tief getroffen. Deshalb konnte ich auch nicht<br />

verstehen, dass sie sich kurz darauf diesem Franzosenschnösel<br />

an den Hals geworfen hat und auch gleich ein Kind von ihm<br />

erwartete. Das passte überhaupt nicht zu ihr, obwohl … Es war<br />

eben ein reicher Schnösel.<br />

„Du hast Olivia nicht gesagt, dass wir damals zusammen<br />

waren“, schlug sie einen an<strong>der</strong>en, sachlicheren Ton an.<br />

„Das werde ich heute Abend nachholen.“<br />

„Ich bitte dich, ihr nichts davon zu erzählen“, sagte sie zu<br />

meinem großen Erstaunen.<br />

„Ich verstehe nicht …“<br />

„Ich kenne meine Schwester besser als du, Max. Sie ist<br />

sensibel. Ihr Herz wird in tausend Scherben zerspringen, wenn<br />

sie davon erfährt.“<br />

Das habe ich ihr damals geglaubt. Ich habe meinen Teil <strong>der</strong><br />

Abmachung bis heute gehalten. Schweigen fällt mir im Allgemeinen<br />

nicht beson<strong>der</strong>s schwer. Diese Tatsache vor Olivia zu<br />

verheimlichen, ist aber etwas an<strong>der</strong>es. Violetta erschien nicht<br />

193


zu unserer Hochzeit und mir tat es im Nachhinein leid, als<br />

ich gesehen habe, wie sehr es Olivia traf. Scherben trotz aller<br />

Vorkehrungen. Und nun ist es Violetta, die die Schranken, die<br />

sie selbst errichtet hat, nach und nach einreißt.<br />

„Ich muss etwas mit dir besprechen“, sage ich also zu Olivia.<br />

„Max, können wir später reden?“, antwortet sie. „Ich muss<br />

das Abendessen vorbereiten.“<br />

„Nein, ich möchte das jetzt klären. Ich habe es schon viel zu<br />

lange aufgeschoben.“<br />

Sie schaut mich verwun<strong>der</strong>t an, setzt sich aber an den<br />

Küchen tisch und nimmt sich ein Glas Bier, obwohl sie sonst<br />

Wein bevorzugt.<br />

„Hör zu“, fange ich an. „Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll,<br />

aber es ist meine Schuld. Keine Ahnung, was Violetta dir erzählt<br />

hat, als du in Paris warst. Nun, irgendetwas hat sie gesagt, was<br />

dich traurig macht. Ich möchte dir meine Version erzählen.“<br />

Olivia nimmt einen Schluck aus dem Glas und nickt. Sie<br />

redet nicht, wahrscheinlich, weil sie fürchtet, ich würde wie<strong>der</strong><br />

verstummen.<br />

„Die Sache ist die: Deine Schwester und ich, wir waren<br />

einmal zusammen. Das ist über fünfzehn Jahre her, noch vor<br />

Rosalies Geburt natürlich. Es war nur einen Sommer lang<br />

und sie hat plötzlich aus heiterem Himmel Schluss gemacht.<br />

Ich habe damals nicht verstanden, warum. Kurz darauf ist sie<br />

weggezogen, um zu studieren, denke ich. Ich habe viele Jahre<br />

nichts mehr von ihr gehört. Doch ein paar Monate, nachdem wir<br />

uns kennengelernt hatten, hat sie mich überraschend angerufen<br />

und … Ich hab es dir nie erzählt, weil sie mich darum gebeten<br />

hat. Ich bin mir über den Grund inzwischen nicht mehr wirklich<br />

sicher, warum sie nicht wollte, dass du von unserer Beziehung<br />

194


erfährst, aber anscheinend bin ich <strong>der</strong> Grund, dass sie nach<br />

unserer Hochzeit den Kontakt zu dir abgebrochen hat.“<br />

Es ist hart, das einzugestehen, aber genau so ist es gewesen.<br />

Olivia sieht mich mit weit geöffneten Augen an und sagt noch<br />

immer kein Wort.<br />

„Das ist die <strong>Wahrheit</strong>, glaub mir bitte“, versuche ich sie zu<br />

überzeugen. „Ich weiß nicht, was genau sie dir erzählt hat, aber<br />

ich hatte nie wie<strong>der</strong> Kontakt mit ihr, bis Rosalie hier aufgekreuzt<br />

ist. Das musst du mir glauben.“<br />

Olivia rinnen Tränen über die Wangen. Auch das noch, sie<br />

hat also nichts davon gewusst?<br />

„Es tut mir so leid“, ist alles, was ich noch sagen kann.<br />

„Nein, mir tut es leid“, sagt sie plötzlich und ich erstarre<br />

augen blicklich. Was meint sie? Sie will mich doch nicht verlassen<br />

deswegen? Ich verstehe schon, dass sie enttäuscht ist,<br />

aber das kann doch nicht das Ende sein? Kalter Schweiß läuft<br />

mir über den Rücken bei <strong>der</strong> bloßen Vorstellung.<br />

„Es ist viel schlimmer, als du ahnst“, erklärt Olivia nach einer<br />

kurzen Pause und wischt sich die Tränen entschlossen aus dem<br />

Gesicht. „Ich bin froh, dass du mir das erzählt hast. Aber ist das<br />

auch wirklich alles, was du darüber weißt, Max?“<br />

„Ja – was gibt es denn sonst noch zu wissen?“<br />

„Du hast also keine Ahnung, warum Violetta damals fortgegangen<br />

ist?“, fragt Olivia und schaut mich durchdringend an.<br />

Ich überlege fieberhaft, auf was das hinausläuft. Hat sie mich<br />

etwa als Fremdgänger beschuldigt?<br />

„Nun ich nehme an, sie hatte schon Pläne mit dem Franzosenschnösel.<br />

Sie hat ihn auf einer dieser Studentenpartys kennengelernt.<br />

Er hat ihr schlussendlich besser gefallen und sie hatte<br />

vermutlich schon einen Studienplatz in Paris. Ganz ehrlich, ich<br />

195


war damals ziemlich nie<strong>der</strong>geschmettert. Sie ging weg, es war<br />

ihre Entscheidung. Du kennst sie, sie lässt sich nicht umstimmen.<br />

Mit mir hatte das Ganze eigentlich wenig zu tun.“<br />

„Das ist wahr“, sagt Olivia matt. „In diesem Fall hattest du<br />

keine Chance. Ich werde dir erzählen, warum sie es getan hat,<br />

aber du musst mir versprechen, dass du nicht ausflippst. Du<br />

darfst niemandem davon erzählen, hörst du?“<br />

Das hört sich nicht gut an. Meine Gedanken überschlagen<br />

sich.<br />

„Keine Geheimnisse mehr, Olivia. Ich bitte dich. Ich habe die<br />

letzten fünf Jahre dieses eine gehütet und du siehst, dass es zu<br />

nichts Gutem geführt hat. Es hat uns beide nur belastet.“<br />

„Ich verstehe das, Max. Trotzdem werde ich dir jetzt ein<br />

Geheimnis erzählen, und du kannst selbst entscheiden, was du<br />

damit machst.“<br />

Ich nicke, um sie zu ermutigen, obwohl ich keine Ahnung<br />

habe, ob ich es wirklich wissen will.<br />

„Violetta hat Ludovic nur geheiratet, weil sie schwanger war.“<br />

„Ja klar, mit Rosalie. Das ging ziemlich schnell.“<br />

„Zu schnell“, bestätigt sie. „Rosalie ist nämlich nicht<br />

Ludovics Tochter.“<br />

„Du meinst … Nein, das glaube ich nicht. Das kann sie nicht<br />

… Willst du wirklich sagen, dass …?“<br />

Mein Magen verkrampft sich und Gedanken schießen wie<br />

ein Gewittersturm durch meinen Schädel. Wie konnte ich nur<br />

so ahnungslos sein? Wer vermutet schon, dass die Frau, die<br />

man geliebt hat, einen so hintergeht? Hat sie mich tatsächlich<br />

fünfzehn Jahre lang im Unklaren darüber gelassen? Hat sie das<br />

wirklich vorsätzlich geplant und durchgezogen? Warum rückt<br />

sie jetzt damit heraus? Will sie unser ganzes Leben ruinieren?<br />

196


„Rosalie ist deine Tochter“, höre ich Olivia sagen. „Das weiß<br />

aber außer uns beiden nur Violetta. Rosalie hat keine Ahnung<br />

und Ludovic darf es nicht erfahren, bis Rosalie achtzehn wird,<br />

sonst erbt sie nichts von dem Vermögen aus Ludos Familie.“<br />

„Das kann doch nicht wahr sein“, rufe ich entsetzt. „Das sind<br />

noch vier Jahre bis dahin. Vier verdammte Jahre. Was will sie<br />

noch von mir verlangen? Warum zum Teufel drückt sie mir immer<br />

ihre verfluchten Geheimnisse auf? Es ist unmöglich, so etwas mit<br />

sich herumzutragen. Jetzt ist Schluss, sage ich dir. Ich weiß nicht,<br />

was ich tun werde, wenn ich sie das nächste Mal sehe.“<br />

„Du kannst es dir in aller Ruhe überlegen“, sagt Olivia.<br />

„Überstürze es nicht, denk an Rosalie.“<br />

„Ich muss hier raus“, sage ich aufgebracht. „Ich brauche<br />

frische Luft, sonst drehe ich durch.“<br />

Ich schnappe mir meine Jacke und mit einem Ruck reiße ich<br />

die Eingangstür auf. Als wäre nicht alles schon genug, steht<br />

Rosalie draußen vor <strong>der</strong> Tür. Es ist wie ein Fluch.<br />

Ohne etwas zu sagen, laufe ich an ihr vorbei.<br />

197


Die Zeitreise<br />

Rosalie<br />

Ich warte einen Moment lang vor <strong>der</strong> Tür, um mich zu überwinden,<br />

endlich zu klingeln. Die ganze lange Fahrt im Zug<br />

über habe ich zwischen grimmig überzeugter Entschlossenheit<br />

und ängstlicher Reue geschwankt. Die Konsequenzen habe ich<br />

mir vorher nicht überlegt, absichtlich nicht. Es ist mir bewusst,<br />

dass ich soeben eine Grenze überschritten habe. Eine ganz reale<br />

Grenze in meinem realen Leben. Das ist etwas an<strong>der</strong>es, als die<br />

Grenze zum Jenseits zu überschreiten. An<strong>der</strong>erseits gibt es zahllose<br />

Schulschwänzer o<strong>der</strong> Schulverwiesene und nur wenige, die<br />

je Kontakt zu Geistern o<strong>der</strong> Zeitreisenden aufgenommen haben.<br />

Ich habe nur den Moment im Fokus behalten.<br />

Elodies blöde Party gestern hat mir den Rest gegeben. Es war,<br />

wie ich erwartet habe, eine Versammlung <strong>der</strong> strohdümmsten<br />

Hühner am Internat, die sich pinkfarbene, mit Wodka anstatt<br />

Wasser angerührte Jellypuddings reinzogen und sich gegen-<br />

198


seitig blonde Strähnchen in die Haare färbten und die Ohren<br />

piercten. Nachdem die Erste das Bad vollkotzte, weil sie gemerkt<br />

hatte, dass dabei auch Blut fließen konnte, habe ich versucht,<br />

Elodie zur Vernunft zu bringen, aber die hat nur gelacht und<br />

gesagt, dass es ebenso meine Party sei, da ich ja davon gewusst<br />

hätte.<br />

Jedenfalls hatte ich die Schnauze gestrichen voll, und da das<br />

ganze Universum eine große Verschwörung zu sein schien, habe<br />

ich am frühen Morgen meine Tasche unter dem Bett hervorgekramt,<br />

ein paar Sachen reingestopft und sie kurzerhand aus<br />

dem Schlafzimmerfenster in die Hecke fallen lassen und bin<br />

unauffällig aus dem mit Ammoniak und pinkfarbenem Wodka<br />

verseuchten Appartement geschlüpft, als würde ich mal eben<br />

frische Luft schnappen.<br />

Die nächsten Stunden verbrachte ich auf dem Bahnhofsareal.<br />

<strong>Der</strong> blöde Zug fährt nur einmal am Tag. Fast mein gesamtes<br />

Bargeld ist für das Zugticket draufgegangen, das war knapp.<br />

Ich habe den nächsten Zug genommen und mich auf <strong>der</strong> Fahrt<br />

ständig gefragt, ob ich auch im richtigen Zug sitze, obwohl es<br />

nur den einen gibt. Am Hauptbahnhof Bern bin ich mit meiner<br />

bunten Reisetasche über <strong>der</strong> Schulter ausgestiegen. Es schien<br />

mir, als hätte ich seit Wochen auf diese Aktion gewartet. Entschlossen<br />

nahm ich den Bus Richtung Tierpark, schwarz natürlich,<br />

weil ich nur noch ein paar Euros dabei hatte, die für ein<br />

Taxi nicht reichen würden.<br />

Nun bin ich also zurück im Vorgarten des vertrauten kleinen<br />

Stadthauses und die Hecke starrt mich erneut an. Die Schatten<br />

darin verursachen wie<strong>der</strong> diese knackenden Geräusche als<br />

fragten sie mich in lautlosem Flüsterton: Was willst du schon<br />

wie<strong>der</strong> hier?<br />

199


Eine Eule krächzt und ich bekomme unwillkürlich eine<br />

Gänse haut vor Aufregung und auch vor Angst. Ich sollte<br />

endlich läuten, aber ich traue mich nicht. Ich weiß, es gibt kein<br />

zurück mehr, das Wurmloch hat mich wie<strong>der</strong> und es droht mich<br />

zu verschlingen.<br />

Auf einmal öffnet Max die Tür und hält sie stumm erstarrt<br />

geöffnet. Er schaut mich eine Sekunde lang entsetzt an, während<br />

ich mich vorsichtig mit <strong>der</strong> Tasche in den Armen und eine<br />

Entschuldigung nuschelnd an ihm vorbei in den dunklen Flur<br />

drücke, als wäre ich einfach nur zu spät nach Hause gekommen.<br />

Olivia<br />

Das Zimmer für Rosalie ist fertig. Es ist schon viel zu spät<br />

für ein Abendessen, aber Rosalie sagt, sie hätte keinen Hunger.<br />

Den habe ich ehrlich gesagt auch nicht. Max ist mit seinem<br />

Motorrad weg und ich weiß nicht, ob ich ihn anrufen o<strong>der</strong> in<br />

Ruhe lassen soll. Nun ja, er hat ja gesehen, dass Rosalie wie<strong>der</strong><br />

da ist. Er braucht wohl einen Moment, um sich zu sammeln.<br />

Ich habe die Schulleiterin informiert, dass Rosalie sich in<br />

sicherer Obhut befindet. Diese hat es mit einem resignierten<br />

Seufzer zur Kenntnis genommen und sich statt nach Rosalies<br />

nach meinem Wohlbefinden erkundigt. Es gehe mir gut, habe<br />

ich verwun<strong>der</strong>t geantwortet und zu spät begriffen, dass ich<br />

soeben Rosalies Alibi vernichtet hatte.<br />

Violetta habe ich noch nicht informiert. Ich habe keine<br />

Ahnung, was sie bereits weiß o<strong>der</strong> wie sie reagieren wird. Aber<br />

das hat jetzt keine Priorität.<br />

200


„Du rufst sie morgen an“, sage ich entschlossen. „Für heute<br />

hatten wir genug Aufregung.“<br />

„Okay“, antwortet Rosalie wenig begeistert. „Was ist denn bei<br />

euch los? Ist Max meinetwegen vorhin so davongestürmt?“<br />

Ich seufze. Was soll ich nur darauf antworten?<br />

„Mach dir keine Sorgen“, sage ich. „Max wird sich schon<br />

beruhigen. Er ist nicht wütend auf dich. Wenn er aber erfährt,<br />

dass du ausgerissen bist, kann ich nicht garantieren, dass er<br />

nicht herumbrüllen wird.“<br />

„Schon klar“, sagt Rosalie. „War nicht meine beste Idee, gebe<br />

ich zu. Aber schlimmer als Maman kann er nicht toben. Ich<br />

wünschte, Papa wäre hier.“<br />

Die arme Kleine. Es bricht mir das Herz. Ich werde ihr helfen,<br />

koste es meine ganze Kraft. Ein Vermögen ist ja schön und gut,<br />

aber was bringt das, wenn ein verängstigtes Mädchen quer durch<br />

halb Europa reisen muss, weil sie kein vernünftiges Zuhause hat.<br />

Violetta hat es gründlich verbockt.<br />

„Geh schlafen, meine Kleine“, sage ich und umarme sie<br />

innig. „Morgen räumen wir auf und machen neue Pläne für<br />

die Zukunft. Noch ist nichts verloren.“<br />

„Danke“, sagt Rosalie und schaut mich verwun<strong>der</strong>t an.<br />

Max<br />

Es gibt nur eine vernünftige Vorgehensweise. Ich lasse mich<br />

nicht länger von Violetta nötigen. Was immer sie für Gründe hatte,<br />

sie interessieren mich nicht mehr. Olivia ist an meiner Seite und<br />

Rosalie ist ebenfalls hier, aus welchem Grund auch immer.<br />

201


Ich stelle das Motorrad zurück in die Garage. Es hat gut<br />

getan, eine Runde zu drehen. Es fühlte sich an wie früher, als<br />

alles noch unkompliziert und sorgenlos war.<br />

Was zum Henker ist eigentlich geschehen? Warum ist<br />

Rosalie hier aufgekreuzt? Hat Olivia davon gewusst? Ich glaube<br />

kaum, denn das Timing hätte ungünstiger nicht sein können.<br />

Was soll’s, ich werde es gleich erfahren.<br />

Olivia ist allein im Wohnzimmer und starrt gedankenversunken<br />

in ein Buch. Als ich eintrete, blickt sie auf und lächelt.<br />

Sie ist also nicht sauer, denke ich erleichtert.<br />

„Wo ist sie?“, frage ich und schaue in die leere Küche.<br />

„Oben. Sie hat eine lange Fahrt hinter sich. Sie wird sicher<br />

schon schlafen. Lass sie sich bitte ausruhen, bevor du sie anbrüllst.“<br />

„Warum sollte ich sie anbrüllen?“, frage ich erstaunt. „Sie hat<br />

etwas ausgefressen“, bemerke ich und lasse mich stöhnend in<br />

den Sessel fallen.<br />

„Nun ja, sie ist aus diesem Internat abgehauen und wahrscheinlich<br />

wird sie einen Schulverweis bekommen. Aber sie war<br />

verzweifelt. Sie hat anscheinend einiges durchgemacht in den<br />

letzten Wochen.“<br />

„Wir sollten es ihr sagen“, überlege ich laut.<br />

„Lass mich erst mit Violetta reden, bitte.“<br />

„Ich werde auf Violetta keine Rücksicht mehr nehmen. Auf<br />

Rosalie natürlich und auf den Franzosenschnösel meinetwegen.<br />

Er wird sicher auch als ahnungsloser Trottel dastehen. Aber ganz<br />

bestimmt lasse ich mich nicht länger von ihr manipulieren.“<br />

„Ist schon klar“, sagt Olivia. „Dann bist du einverstanden,<br />

dass ich sie jetzt anrufe? Sie weiß nämlich noch nichts von<br />

Rosalies Verschwinden, nehme ich an.“<br />

202


„Dann versetz ihr diesen Schlag bitte“, sage ich hart. „Und<br />

lass dir nicht die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Soll ich<br />

…?“<br />

„Nein, lass nur“, sagt sie entschlossen und geht ins Arbeitszimmer.<br />

Olivia<br />

Seufzend nehme ich das Telefon zur Hand und schließe die<br />

Tür hinter mir. Ich werde versuchen, vernünftig mit Violetta zu<br />

reden. Kaum habe ich mich gemeldet, höre ich ihre aufgebrachte<br />

Stimme: „Ist sie bei dir? Gott, ich war schon krank vor Sorge.“<br />

Mir bleibt kaum genug Zeit, um ihr zu erklären, was vorgefallen<br />

ist, denn sie lässt mich nicht zu Wort kommen. So schweige ich<br />

einfach und höre zu, wie Violetta die Unterhaltung führt.<br />

„Ich bin am Ende mit meinem Latein, Olivia. Die Schul psychologin<br />

hat mir erst vor ein paar Tagen gesagt, dass Rosie absolut<br />

keine Fortschritte macht. Sie ist überhaupt nicht kooperativ.<br />

Natürlich unterliegt es ihrer Schweigepflicht, aber sie weiß, wie<br />

besorgt ich um sie bin, deshalb meldet sie mir ab und zu, wie<br />

es ihr geht. Rosie ruft mich ja kaum an, und wenn überhaupt,<br />

dann erzählt sie mir nichts. Dieses Kind ist verschlossener als<br />

ein Schweizer Banksafe. Sie hat sich vollkommen abgekapselt<br />

und ihre schulischen Leistungen leiden auch schon darunter.<br />

Es ist wirklich prekär, alles hat sich inzwischen nur noch verschlimmert.<br />

Genau das wollte ich doch vermeiden. Sie ist in<br />

einem labilen Zustand und braucht dringend Hilfe, aber sie lässt<br />

es einfach nicht zu.“<br />

203


„Sie ist zu uns, zu Max und mir gekommen und hat um<br />

Hilfe gebeten, also wird sie sich von uns helfen lassen.“ Violetta<br />

schweigt, also gebe ich ihr einige Sekunden Zeit, bis ich sage:<br />

„Lass sie für eine Weile hier. Ich werde auf sie aufpassen, ich<br />

verspreche es.“<br />

„Wie stellst du dir das vor? Wir wissen beide, wie gut es das<br />

letzte Mal geklappt hat. Das ist doch nicht dein ernst, Olivia, jetzt,<br />

wo du weißt, was auf dem Spiel steht. Stell dir nur vor, Max<br />

würde davon erfahren, das wäre wirklich eine Katastrophe.“<br />

„Max weiß Bescheid“, sage ich knapp. Mir reicht es mit<br />

ihren Predigten. „Und ich weiß, dass du ihn zum Schweigen verdonnert<br />

hast, was eure Vergangenheit angeht. Er ist echt sauer,<br />

Vio letta, und ehrlich gesagt, bin ich es auch. Ich bin überrascht,<br />

dass du immer noch glaubst, du könntest uns alle manipulieren.<br />

Rosalie ist auch seine Tochter, und wenn du meinst, dass wir<br />

kein Recht hätten, uns einzumischen, dann irrst du dich. Deine<br />

Aufgabe ist es, mit Ludovic ins Reine zu kommen, denn sonst<br />

ist die ganze Sache ohnehin gelaufen. Hast du das verstanden?“<br />

Stille in <strong>der</strong> Leitung.<br />

„Sie kann bleiben“, sagt Violetta schließlich matt. „Sie wird<br />

sowieso von <strong>der</strong> Schule fliegen.“<br />

Rosalie<br />

Nach einem tiefen, traumlosen Schlaf wache ich auf und<br />

sehe mich in dem kleinen Zimmer um. Sofort fühle ich mich zu<br />

Hause. Ich habe es tatsächlich vermisst. Olivia hat gestern nicht<br />

wütend reagiert, im Gegenteil, sie ist nett und verständnisvoll.<br />

204


Max habe ich nur kurz zu Gesicht bekommen. Bei ihm weiß<br />

ich nicht, wie er reagieren wird. Ich weiß nur, dass ich den<br />

beiden eine Erklärung schulde, aber ich habe keine Ahnung,<br />

was ich sagen soll. Ich werde lieber nicht wie<strong>der</strong> von Jonathan<br />

an fangen, also sage ich beim Mittagessen: „Das Internat war<br />

ätzend. Die behandelten mich, als wäre ich eine Geisteskranke.<br />

Ich habe es nicht mehr ausgehalten.“<br />

„Ich verstehe“, meint Olivia. „Du wirst am Montag aber trotzdem<br />

wie<strong>der</strong> zur Schule gehen.“<br />

Als sie meinen entsetzten Blick sieht, fügt sie hinzu: „Auf die<br />

Schule hier bei uns. Du glaubst doch nicht, dass du dich davor<br />

drücken kannst? Da musst du schon in ein an<strong>der</strong>es Universum<br />

flüchten, um dem zu entkommen.“<br />

Ich lächle matt. Ich weiß, dass Olivia, was das Universum<br />

angeht, nur scherzt, um mich aufzumuntern. Wer weiß, denke<br />

ich, vielleicht schaffe ich irgendwann doch noch den Sprung in<br />

eine an<strong>der</strong>e Dimension. Aber ein bisschen mehr als zwei Tage<br />

zum Eingewöhnen hatte ich mir schon erhofft. Ich dachte, das<br />

würde eine Weile dauern, bis die Schule das mit dem Papierkram<br />

und so geregelt bekäme. Ich habe we<strong>der</strong> Zeugnisse noch<br />

Schulhefte mitgenommen. Wohlweislich natürlich.<br />

„Ich kann also hierbleiben? Maman hat das erlaubt?“<br />

„Es liegt bei dir“, sagt Max. „Wir werden sehen, wie es läuft.“<br />

„Ich danke euch“, sage ich erleichtert. „Ich werde mich anstrengen,<br />

versprochen.“<br />

„Das wirst du“, sagt Max streng, aber er lächelt dabei. “Du<br />

wirst die Ferien bei deiner Mutter verbringen. Und du wirst<br />

mithelfen im Haus.“<br />

„Natürlich. Ich könnte Besorgungen machen, wenn ich<br />

nachher in die Stadt gehe“, biete ich an, um etwas Nützliches<br />

205


eizutragen. „Ich sollte wohl ein paar Stifte und Hefte besorgen.“<br />

„Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst.“ Olivia<br />

betrachtet mich mit besorgtem Blick.<br />

„Ich versprech’s“, versichere ich ihr.<br />

„Bring bitte Milch und etwas Brot mit“, sagt sie schließlich,<br />

womit sie zu ihrer pragmatischen Grundhaltung zurückkehrt.<br />

„Und nimm dein Handy mit. Ich will dich je<strong>der</strong>zeit erreichen<br />

können, hörst du?“<br />

„Klar“, sage ich, während ich das Handy aus meiner Jeans<br />

fische und es ihr zeige wie ein Beweisstück dem Richter.<br />

„Und ruf deine Maman bitte an, bevor du gehst“, sagt sie. „Sie<br />

macht sich Sorgen.“<br />

Ich verdrehe die Augen, tue aber, was sie verlangt.<br />

Max<br />

Sie bleibt also hier. Olivia hat das geregelt. Keine Ahnung,<br />

was sie ihrer Schwester erzählt hat. Mir hat sie nur gesagt, dass<br />

sie die Sache geklärt habe und ich Rosalie vorläufig nichts sagen<br />

soll.<br />

„Ich werde nicht mehr länger die Geheimnisse an<strong>der</strong>er<br />

hüten“, habe ich ihr geantwortet.<br />

„Doch, genau das wirst du noch eine Weile tun“, hat sie<br />

daraufhin gemeint. „Sie ist doch völlig verstört. Sie ist fern von<br />

zu Hause, hat ein angeknacktes Verhältnis zu ihrer Mutter, ihr<br />

Vater ist wer-weiß-wo und sie wird zum zweiten Mal dieses<br />

Jahr die Schule wechseln und neue Freunde finden müssen. Sie<br />

ist hierher zurückgekommen, trotz des unschönen Abganges,<br />

206


den sie im Sommer erlebt hat. Ich mag mir gar nicht vorstellen,<br />

welche Sorgen und Unsicherheiten sie plagen. Du wirst das<br />

schön für dich behalten. Du hast es die letzten fünf Jahre<br />

geschafft, Violetta diesen Gefallen zu tun. Nun wirst du es für<br />

deine Tochter auch tun.“<br />

Rosalie<br />

Gedankenversunken schlen<strong>der</strong>e ich durch die belebte Einkaufsstraße<br />

in <strong>der</strong> Innenstadt. Als ich am Schaufenster einer<br />

Buchhandlung vorbeikomme, fällt mein Blick unwillkürlich<br />

auf ein Buch, dessen Titelbild mich an Jonathan erinnert. Es ist<br />

<strong>der</strong> Science-Fiction-Klassiker Die Zeitmaschine und das Titelbild<br />

zeigt einen jungen, gut aussehenden Mann, <strong>der</strong> in einem<br />

schlitten ähnlichen Gefährt durch die Zeit zu rasen scheint. Ich<br />

habe den Film vor einiger Zeit bei Sophie gesehen und kann<br />

mich nur noch an ein paar Details erinnern. Zu dumm, dass<br />

mich das Thema damals so gar nicht interessiert hat. Heute<br />

würde ich den Film unter ganz an<strong>der</strong>en Gesichtspunkten betrachten.<br />

Vielleicht wäre es nützlich, dieses Buch zu lesen. Ich<br />

habe bereits so viel Geld in sinnloses Schulmaterial investiert,<br />

da kann ich dieses Buch gleich mit verbuchen und habe dann<br />

wenigstens etwas, das mich wirklich interessiert.<br />

Ich gehe in den Laden, um es mir genauer anzusehen. Die<br />

beinahe kindliche Vorstellung, man bräuchte ein Fahrzeug, um<br />

sich in <strong>der</strong> Zeit fortzubewegen, amüsiert mich. Es ist schließlich<br />

keine physische Reise, man kann einfach an Ort und Stelle verweilen,<br />

während die Umgebung den Wandel durchläuft.<br />

207


Als ich plötzlich eine Hand an <strong>der</strong> Schulter spüre, zucke ich zusammen<br />

und meine Gedanken purzelten in die Gegenwart zurück.<br />

„Wo hast du denn gesteckt?“, fragt Lily, bevor ich überhaupt<br />

Worte zur Begrüßung finden kann. „Ich dachte nicht, dass ich<br />

dich je wie<strong>der</strong>sehen würde.“<br />

„Ich bin wie<strong>der</strong> da“, bemerke ich völlig überflüssigerweise.<br />

„Was hast du ausgefressen?“, fragt Lily ohne Umschweife<br />

weiter. Als ich sie erstaunt ansehe, meint sie scharfsinnig: „Ach,<br />

komm schon, es ist mitten im Schuljahr. Du kannst mir nicht<br />

erzählen, du hättest schon wie<strong>der</strong> Ferien.“<br />

„Nein“, räume ich ein. „Ich habe nichts ausgefressen, allerdings<br />

bin ich von meiner Schule geflogen, weil ich abgehauen<br />

bin. Das heißt, ich bleibe für eine Weile hier.“<br />

Lily macht große Augen. „Das hört sich nach einem Haufen<br />

Problemen an. Was wirst du nun tun?“, fragt sie interessiert.<br />

„Ich weiß nicht“, erwi<strong>der</strong>e ich unsicher und schaue Lily<br />

prüfend an.<br />

„Komm schon“, ermutigt sie mich. „Ich bin psychologisch<br />

autodidaktisch ausgebildet. Ich weiß, dass du mir etwas verheimlichst.“<br />

Als sie meinen verwun<strong>der</strong>ten Gesichtsausdruck sieht, muss<br />

sie schallend lachen.<br />

„Es ist also wahr“, fügt sie an. „Ich hab nur geraten, aber<br />

erzähl schon, was los ist.“<br />

„Na gut“, seufze ich. „Die Schule ist nicht mein größtes<br />

Problem. Es hat alles schon vorher begonnen, als ich im Sommer<br />

hier war.“ Ich sehe mich im Laden um. „Die Geschichte<br />

könnte länger dauern.“<br />

„Kein Problem“, entgegnet Lily. „Komm gehen wir irgendwo<br />

hin und trinken etwas.“<br />

208


Während wir uns im nahen Café durch ein reiches Sortiment<br />

von Milchshakes durcharbeiten, erzähle ich ihr nach und nach<br />

die ganze Geschichte von Jonathan und den Begegnungen, die<br />

ich mit ihm gehabt habe. Ich erzähle ihr auch von dem Foto<br />

und dem Amulett, das ich in <strong>der</strong> Scheune gefunden habe. Auch<br />

von meiner Befürchtung, dass es einen Zusammenhang gibt<br />

zwischen dem Amulett und seinem Erscheinen. Dass ich sie im<br />

Laden belauscht habe, lasse ich jedoch weg, und auch, dass ich<br />

damals eifersüchtig war. Das tut meiner Meinung nach nichts<br />

zur Sache. Ich muss erst einmal schauen, wie ich ihr dieses<br />

Zeitreisekonzept glaubhaft verklickern kann, ohne dass sie mich<br />

für komplett überdreht hält.<br />

„Du warst also mit ihm im Kino?“, fragt Lily erstaunt. „Dann<br />

kann er wohl kaum ein Geist sein.“<br />

Die Geschichte mit dem Kino ist mir peinlich und irgendwie<br />

erzähle ich sie noch immer so, als wäre es tatsächlich ein Date<br />

gewesen. Was soll’s, es glauben sowieso alle, dass ich lüge.<br />

„Er ist kein Geist, wie man sich die normalerweise vorstellt.<br />

Also nicht durchsichtig o<strong>der</strong> so. Er ist ganz real“, versuche ich ihr<br />

klarzumachen. „Ich habe ihn mehrmals gesehen und gesprochen.<br />

Darum ist es ja so unglaublich. Aber das Foto beweist eben ganz<br />

deutlich, dass er nicht aus dieser Zeit stammt. Ich bin inzwischen<br />

überzeugt, dass er irgendwie in <strong>der</strong> Zeit hin- und herwan<strong>der</strong>n<br />

kann. Vielleicht macht er es ja nicht einmal absichtlich. Vielleicht<br />

habe ich ihn aus seiner Zeit herausgeholt mit dem Amulett.“<br />

„Und er erscheint passend gekleidet und überhaupt nicht<br />

verwirrt hier bei uns im Tierpark?“, fragt Lily, wenig überzeugt<br />

von meiner Theorie.<br />

„Naja“, gebe ich zu, „ich weiß auch nicht, wie es tatsächlich<br />

funktioniert. Vielleicht lebt er in beiden Welten parallel und<br />

209


sucht nach jemandem, <strong>der</strong> dieses Geheimnis für ihn lüftet und<br />

ihn von dem Fluch befreien kann.“<br />

Lily sieht mich skeptisch an. Wahrscheinlich glaubt sie kein<br />

Wort dieser wirren Geschichte. Aber offensichtlich findet sie es<br />

spannend und ist neugierig, wie es weitergeht.<br />

„Hast du das Foto dabei?“, fragt sie, um weiter bei den Fakten<br />

zu bleiben.<br />

„Nein, ich hab’s nicht da. Es ist im Umschlag zusammen mit<br />

dem Brief und steckt als Lesezeichen sicher verwahrt in … in<br />

deinem Buch“, antworte ich schuldbewusst.<br />

Lily seufzt,.<br />

„Tut mir leid.“<br />

„Oh, es ist nicht wegen des Buchs. Ich hätte zu gerne das Foto<br />

gesehen. Wie heißt er denn eigentlich mit Nachnamen?“, fragt<br />

sie weiter.<br />

„Marsen, Jonathan Marsen“, antworte ich. „Warum fragst du?“<br />

Gedankenverloren betrachte ich das Titelbild des Buchs, das<br />

ich vorhin gekauft habe.<br />

„Lass uns gehen“, sagt Lily ohne lange Erklärung und nimmt<br />

mir das Buch über die Zeitmaschine aus <strong>der</strong> Hand und lässt es<br />

in ihrer Tasche verschwinden. „Wenn er überhaupt irgendwo zu<br />

finden ist, dann garantiert nicht in Büchern über Zeitreisen. Wir<br />

werden eine Zeitreise <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Art machen, wir versuchen es<br />

auf dem Friedhof.“<br />

Den Gedanken finde ich gruselig und wenig reizvoll. Aber<br />

vermutlich hat sie recht. Ich bin entschlossen, die <strong>Wahrheit</strong> zu<br />

finden, also darf ich mich nicht schon bei <strong>der</strong> ersten Aufgabe<br />

von eventuellen Unannehmlichkeiten abschrecken lassen.<br />

<strong>Der</strong> Schosshaldenfriedhof liegt nur wenige Minuten vom<br />

Zentrum entfernt. Lily sagt, es sei <strong>der</strong> älteste und größte Fried-<br />

210


hof <strong>der</strong> Stadt. Ein Bus fährt uns direkt zum Haupttor. Das ganze<br />

Areal ist von einer dunklen hohen Steinmauer eingezäunt. Es<br />

sieht nicht sehr einladend aus, aber ich sage nichts. Wenn mit<br />

dieser einschüchternden Architektur verdeutlicht werden soll,<br />

dass die Lebenden sich besser von den Toten fernhalten sollen,<br />

ist sie definitiv aussagekräftig. Ich bin froh, dass Lily bei mir<br />

ist. Erstaunlich, dass sie sich für meine Geschichte überhaupt<br />

interessiert. Ihr Tatendrang ist ansteckend.<br />

Systematisch beginnen wir, die Grabsteine in den Reihen<br />

des alten Friedhofteils nach Jonathans Namen abzusuchen. Je<br />

länger wir erfolglos suchen, desto besser fühl ich mich. Am<br />

liebsten möchte ich wie<strong>der</strong> gehen und die Toten tot sein lassen.<br />

Die Zeit ist hier in ihrer Endgültigkeit nur allzu gegenwärtig.<br />

Und <strong>der</strong> Gedanke, Jonathan wirklich an diesem Ort zu finden,<br />

ist unerträglich. Lilys Laune ist jedoch ungetrübt. Sie plau<strong>der</strong>t<br />

und liest mir die seltsamsten Namen vor und findet es spaßig.<br />

Inzwischen dämmert es bereits und ich mache mir Sorgen, ob<br />

ich meinen Glauben an das Übersinnliche angesichts <strong>der</strong> Endgültigkeit,<br />

die hier in Stein gemeißelt und mit Erde zugeschüttet<br />

ist, nicht in einen absurden Kontext gebracht habe.<br />

Plötzlich bleibt Lily abrupt vor einem alten, bereits mit Moos<br />

überzogenen Grabstein stehen und zieht mich vorsichtig heran.<br />

„Das war’s.“ Ich schließe die Augen für einen Moment und<br />

völlig unerwartet rollen mir die Tränen über die Wangen. Die<br />

ganze Anspannung <strong>der</strong> letzten Tage reißt sich los und ich kann<br />

mich nicht länger zurückhalten. Eine tiefe, erdrückende Trauer<br />

schüttelt mich und ich löse mich in Tränen auf.<br />

Lily legt tröstend den Arm um meine Schultern und nach<br />

einer Weile, als ich nicht mehr weinen kann, starren wir gemeinsam<br />

auf die Grabinschrift.<br />

211


Jonathan Marsen 1889 – 1956<br />

Ehemann von Romilda Berchtold-Marsen, geb. Darkling<br />

Vater von Pauline Berchtold<br />

„Warum heißt die Tochter an<strong>der</strong>s mit Nachnamen als <strong>der</strong><br />

Vater?“, fragt Lily plötzlich. „Damals war es doch nicht üblich,<br />

dass ein Kind den Mädchennamen <strong>der</strong> Mutter erhielt.“<br />

„Was steht da?“, frage ich.<br />

„Die Tochter heißt Berchtold, nicht Marsen“, sagt Lily nachdenklich.<br />

„Die Mutter war wahrscheinlich nicht mit dem Vater verheiratet“,<br />

überlege ich laut.<br />

„Aber ihr Mädchenname war Darkling. Jonathans Frau war<br />

Romilda Darkling, die Autorin von Zwischen Zeit und Raum“,<br />

stellt Lily fest. „Das ist ja ein Ding. Dann war sie vielleicht<br />

zuerst mit einem Berchtold verheiratet, dem Vater von dieser<br />

Pauline“, schlussfolgert Lily.<br />

„Und was steht da an <strong>der</strong> Seite?“, fragte ich, denn durch die<br />

Tränen kann ich noch immer nicht viel erkennen.<br />

„Da steht nichts. Es ist nur <strong>der</strong> Umriss eines Tiers, eine Katze<br />

vielleicht.“<br />

Ich reibe mir die Augen und sage: „Sieht eher aus wie ein<br />

Wolf. Es wird dunkel, lass uns gehen.“<br />

Jonathan<br />

„<strong>Der</strong> Tod hat nichts Tröstliches an sich“, murmle ich düster.<br />

„Nicht für die, die zurückbleiben“, ergänzt Vincent. „Wer<br />

212


weiß, was uns im Jenseits erwartet. Sei nicht so betrübt. Sie<br />

wollte we<strong>der</strong> Trost noch den Tod finden.“<br />

„Was hatte sie dann vor? Sie hätte uns nicht einmal eine<br />

Mitteilung hinterlassen“, stelle ich betrübt fest.<br />

„Natürlich hätte sie das. Du hast doch ihre Notizen gesehen.<br />

Sie enthalten eine Botschaft.“ Er hält das hübsch verzierte Buch<br />

in den Händen und blättert durch die von Hand bekritzelten<br />

Seiten.<br />

„Sie hat mich nie welche von ihren Texten lesen lassen“, sage<br />

ich erstaunt.<br />

„Seltsam“, meint Vincent verwun<strong>der</strong>t. „Ich glaube, ein paar<br />

ihrer Gedanken kreisen offensichtlich um dich.“<br />

„Welche denn?“<br />

„Das Fazit zum Beispiel.“<br />

Das Fazit<br />

Es wird alles klar.<br />

Mit dem Fazit wird <strong>der</strong> Wechsel zur Meta-Ebene vollzogen.<br />

Dort werd ich bleiben, mich einrichten<br />

und den Ausblick auf die Zukunft genießen.<br />

Die allfälligen Fragen, die außer Acht gelassen wurden,<br />

sind nicht relevant,<br />

wenn die zentrale Aussage ihren Dienst tut.<br />

… es ist nur <strong>der</strong> Schlusssatz, <strong>der</strong> mich irritiert.<br />

„<strong>Der</strong> Schlusssatz“, wie<strong>der</strong>hole ich nachdenklich. „Was hat sie<br />

damit gemeint? Warum soll das mir gelten?“<br />

213


„Ich kann nur mutmaßen. Sie hat ihre Schlüsse gezogen und<br />

beschlossen, den Verlauf <strong>der</strong> Dinge selbst in die Hand zu nehmen.“<br />

„Indem sie eine Überdosis Schlaftabletten nimmt?“, brause<br />

ich auf.<br />

„Sieben Tabletten sind noch keine Überdosis. Das bringt<br />

niemanden um. Es war mehr ein Schlussstrich“, er zögert,<br />

„unter ein Kapitel o<strong>der</strong> einen Lebensabschnitt, wie immer du es<br />

nennen willst.“<br />

„Du denkst, das hat mit mir zu tun?“, frage ich, noch immer<br />

aufgebracht. „Wollte sie mir einen Denkzettel verpassen?<br />

Warum sollte sie einen Schlussstrich ziehen wollen? Es ist<br />

doch längst alles vorbei.“<br />

„Du bist ein Hitzkopf“, sagt Vincent mit nachsichtigem<br />

Kopfschütteln. „<strong>Der</strong> Schlussstrich galt doch nicht dir. Sie hat<br />

sich entschieden. Sie wollte eine Verän<strong>der</strong>ung verspüren und<br />

<strong>der</strong> Kirschlikör hat dabei die größte Wirkung erzielt. Sie war<br />

für kurze Zeit auf einer Meta-Ebene, die sie aber zurück auf<br />

den Boden <strong>der</strong> Tatsachen geschickt hat.“<br />

„Eine Meta-was?“, frage ich irritiert.<br />

„Du kannst es dir als einen großen Spiegel vorstellen, <strong>der</strong><br />

nichts weiter als sich selbst darstellt“, erklärt Vincent.<br />

„Das ist doch nicht <strong>der</strong> Sinn und Zweck eines Spiegels!“ Seine<br />

Worte geben mir Rätsel auf.<br />

„Nun, wenn es relevant für den Spiegel ist, sich selbst zu<br />

erkennen, dann kann es durchaus Sinn machen.“<br />

214


Die Erkenntnis<br />

Rosalie<br />

„Das ist doch nicht das Ende <strong>der</strong> Geschichte“, sagt Lily am<br />

nächsten Tag tröstend am Telefon, aber ich weiß, dass es vorbei<br />

ist. Ich habe es vermutet, befürchtet und nun ist es amtlich.<br />

„Er ist tatsächlich tot“, sage ich hoffnungslos. „Genau, wie<br />

ich es Manon damals erzählt habe. Es war nur eine Notlüge,<br />

damit sie mich nicht für verrückt hält. Vielleicht habe ich seinen<br />

zeitreisenden Geist mit dieser Aussage von damals sogar selbst<br />

auf dem Gewissen.“<br />

„Nun hör aber auf“, sagt Lily ungehalten. „Komm mal<br />

wie<strong>der</strong> runter von deinem Psychotrip und überleg einen<br />

Moment logisch. Wenn er tatsächlich ein Geist ist, dann ist er<br />

bereits tot und damit hast du nichts zu tun. Wenn er aber ein<br />

Zeitreisen<strong>der</strong> ist, kann er doch auch in eine Zeit nach seinem<br />

Tod gereist sein, dann ist nur sein damaliges Ich tot. Wie auch<br />

immer, du hast niemanden auf dem Gewissen.“<br />

215


Ich schweige, denn ich hatte diesen Gedanken noch nicht<br />

richtig durchdacht.<br />

„Du hast gesagt, es gibt noch einen Brief zu dem Foto?“, fragt<br />

Lily, da sie das Thema anscheinend nicht so schnell aufgeben<br />

will.<br />

„Ja, aber <strong>der</strong> ist so alt und krakelig geschrieben, dass ich ihn<br />

nicht entziffern kann“, antworte ich missmutig.<br />

„Das liegt an <strong>der</strong> alten Schreibschrift. Wir könnten mit dem<br />

Brief zu meiner Oma gehen. Sie kann ihn bestimmt lesen, sie<br />

schreibt auch so unentzifferbar.“<br />

Ich überlege einen Moment. Olivia hat den Brief eine ganze<br />

Zeit lang gehabt. Vielleicht konnte sie ihn ja entziffern.<br />

„Komm rüber in den Tierpark, Lily“, sage ich ohne weitere<br />

Erklärung.<br />

Olivia<br />

Die arme Rosalie war völlig nie<strong>der</strong>geschlagen gestern Abend.<br />

Ich habe mir Sorgen gemacht. Sie kam ziemlich spät zum<br />

Abendessen, aber ich habe nicht gefragt, wo sie war. Sie hat<br />

all ihre Schulsachen eingekauft, das hat wohl länger gedauert.<br />

Vielleicht hätte ich sie begleiten sollen. Aber ich glaube, es ist<br />

auch gut für sie, wenn sie Gelegenheit hat, ein paar Dinge selbst<br />

zu regeln. Das gibt ihr Selbstvertrauen. Es ist sicher das Beste,<br />

wenn sie sofort wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Schule beginnt, damit sie einen<br />

geregelten Tagesablauf und ein bisschen Abstand zu ihren Sorgen<br />

findet. Ich hoffe, sie findet schnell neue Freunde. Sie kommt mir<br />

so verlassen und einsam vor.<br />

216


Max bläst auch Trübsal. Das neue Geheimnis belastet ihn.<br />

Zum Glück haben die beiden schon zuvor nie viel miteinan<strong>der</strong><br />

geredet, somit fällt es nicht auf, dass beide wortkarg vor ihren<br />

Mahlzeiten sitzen und auf ihr Handy, respektive ihre Zeitung<br />

starren. Wenn ich mich nicht den ganzen Tag mit den Tieren<br />

unterhalten könnte, würde ich glatt das Reden verlernen.<br />

Da fällt mir ein, ich muss unbedingt heute Abend mit Violetta<br />

reden. Ich hoffe, sie hat inzwischen mit Ludovic gesprochen.<br />

Sie sollten beide herkommen und wir sollten gemeinsam<br />

beschließen, wie es weitergeht. Natürlich kann Rosalie hierbleiben,<br />

aber sie muss wissen, wie es um ihre Familie steht. Das<br />

Ganze ist eine enorme Belastung für so ein junges Mädchen.<br />

Rosalie<br />

Lily lässt nicht lange auf sich warten, sie ist mit dem Fahrrad<br />

gekommen. Wie gewohnt lässt sie es am Eingangsbereich<br />

stehen und wir gehen zusammen den verschlungenen Fußweg<br />

zwischen den Tiergehegen entlang auf <strong>der</strong> Suche nach Olivia.<br />

Wir finden sie schließlich im Terrarium.<br />

„Olivia“, platze ich ohne Einleitung heraus. „Hast du eigentlich<br />

den Brief damals, du weißt schon, den alten Brief an Jonathan,<br />

den du mir ins Internat gebracht hattest, hast du den eigentlich<br />

gelesen?“<br />

Olivia schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen verwun<strong>der</strong>t<br />

an und seufzt. Sie hat wohl gehofft, dass ich dieses<br />

Thema inzwischen verworfen hätte. Aber Jonathans Tod hat<br />

das Rätsel noch nicht gelöst. Das Geheimnis um seine Existenz<br />

217


leibt weiterhin verborgen, wenn ich nicht dahinter komme,<br />

was in dem Brief steht und woher <strong>der</strong> stammt. Ich schaue sie<br />

also erwartungsvoll an und sie seufzt ein zweites Mal.<br />

„Ja“, sagt sie, „ich habe ihn tatsächlich gelesen.“<br />

„Und?“, fragen Lily und ich mit vor Spannung weit geöffneten<br />

Augen. „Was steht darin?“<br />

„Soweit ich mich erinnern kann, war <strong>der</strong> Brief an einen jungen<br />

Mann – Jonathan, wie du weißt – gerichtet, <strong>der</strong> anscheinend vor<br />

etwa einhun<strong>der</strong>t Jahren hier in <strong>der</strong> Gegend gelebt hat“, fängt<br />

Olivia an.<br />

„Soviel haben wir auch schon herausfinden können“, werfe<br />

ich ein. „Wir haben gestern seinen Grabstein auf dem Friedhof<br />

gefunden.“<br />

Olivia nimmt das stumm zur Kenntnis und wirft mir einen<br />

kurzen Blick zu.<br />

„Ja, ich weiß“, sage ich leise. „Das versetzt meinen Geschichten<br />

um die geheimnisvollen Begegnungen mit ihm den allerletzten<br />

Todesstoß. Lily weiß darüber Bescheid. Ich will nun herausfinden,<br />

wen ich tatsächlich getroffen habe.“<br />

„Nun gut“, fährt Olivia fort und ich bin ihr dankbar dafür.<br />

„<strong>Der</strong> Brief ist von seinem besten Freund Vincent, <strong>der</strong> in einer<br />

benachbarten Villa gelebt hat. Die wurde jedoch vor nicht allzu<br />

langer Zeit abgerissen.“<br />

„Die Villa gibt’s nicht mehr?“ Ich bin enttäuscht.<br />

„Nein, sie brannte nie<strong>der</strong>, kurz bevor Max und ich hergezogen<br />

sind.“<br />

„Was steht nun in dem Brief? Kannst du ihn uns bitte vorlesen?“<br />

Ich halte ihr den vergilbten Umschlag hin. Sie nimmt ihn und<br />

faltet den Brief sorgfältig auseinan<strong>der</strong>.<br />

218


Lieber Jonathan,<br />

tausend Dank für den wun<strong>der</strong>vollen Talisman, den du mir<br />

gestern geschenkt hast. Ich war zu überrascht, um dir in<br />

Anwesen heit von Romilda zu gestehen, was er mir bedeutet. <strong>Der</strong><br />

Bär gibt mir Kraft und Mut, mich meinen Aufgaben zu stellen.<br />

Die Uhr, die er verborgen hält, misst die wertvolle Zeit, die ich<br />

mit dir verbringen will. Ich werde das Amulett mit Stolz und<br />

Freude immer bei mir tragen, denn deine Freundschaft ist mir<br />

das Wichtigste und Teuerste in meinem Leben.<br />

Ich bin, nach eingehen<strong>der</strong> Überlegung, überzeugt davon,<br />

dass wir beide von deinem Vorschlag, Romilda in unserem<br />

<strong>Geheimbund</strong> aufzunehmen, nur gewinnen können. Sie ist bezaubernd<br />

und ich verstehe nun deine Zuneigung zu ihr. Vergib mir,<br />

wenn meine anfängliche Eifersucht einige Schatten auf unsere<br />

Zukunftspläne geworfen hat. Du weißt, wie sehr ich dich<br />

brauche und dass du mein Leben bereicherst, indem du Romildas<br />

Freundschaft mit mir teilst.<br />

In tiefer Verbundenheit,<br />

Vincent Berchtold<br />

Olivia hat den Brief mit ruhiger Stimme vorgelesen. Es klang,<br />

als wäre er eben erst geschrieben worden, nicht bereits vor hun<strong>der</strong>t<br />

Jahren. Ich bin erstaunt darüber. Die alte Schrift hat mich<br />

eine ganz an<strong>der</strong>e Sprache erwarten lassen. Es ist außerdem von<br />

einem weiteren Amulett die Rede. Vincent hatte ein Bärenamulett,<br />

aber ich habe den Brief zusammen mit dem Eulenamulett<br />

gefunden. <strong>Der</strong> Brief sollte doch klären, jetzt wirft er noch mehr<br />

Fragen auf.<br />

„So steht es in dem Brief?“, frage ich überrascht.<br />

„Genau so“, bestätigt Olivia.<br />

219


„War das üblich zu dieser Zeit?“, fragt Lily verwun<strong>der</strong>t.<br />

„Haben Freunde sich wirklich solche Briefe geschrieben? Für<br />

mich klingt es wie ein Liebesbrief eines heimlichen Verehrers.“<br />

„Ich weiß nicht“, sagt Olivia. „Es scheint vielleicht mehr<br />

dahinter zu stecken. Aber er schreibt auch von einer Frau.“<br />

„Ja, Romilda“, bestätige ich. „Aber war sie nun Jonathans<br />

o<strong>der</strong> Vincents Frau?“<br />

„Beides“, sagt Lily, „ihr Name war Romilda Berchtold-<br />

Marsen, geborene Darkling, erinnerst du dich? So stand es auf<br />

Jonathans Grabinschrift.“<br />

Olivia reicht mir den Brief wie<strong>der</strong> zurück, wobei das Foto aus<br />

dem Umschlag flattert. Lily bückt sich flink und hebt es auf.<br />

„Lass mal sehen“, sagt sie und betrachtet das Foto ein gehend.<br />

“Oh mein Gott“, stöhnt sie und macht dabei ein besorgtes<br />

Gesicht.<br />

„Was ist los?“, will ich wissen und Olivia runzelt die Stirn.<br />

„Hättest du mir dieses Foto doch nur schon früher gezeigt.<br />

Jetzt wird mir einiges klar.“<br />

Ich verstehe nicht, wovon sie spricht, und Olivia, wie es<br />

scheint, auch nicht. Lily holt tief Luft und beginnt vorsichtig.<br />

„Also, <strong>der</strong> Typ, den du Jonathan nennst, ich glaube, den<br />

kenne ich. Aber er heißt nicht Jonathan, sein Name ist Joel. Die<br />

Ähnlichkeit ist verblüffend. Er geht in meine Parallelklasse. Das<br />

hier könnte tatsächlich Joel sein.“<br />

Olivia und ich schauen sie fassungslos an. Die Erkenntnis ist<br />

so einleuchtend und geradezu banal. Es ist alles nur eine miese<br />

Lüge gewesen! Ich bin wie betäubt von dieser Neuigkeit. All<br />

meine Theorien über Wurmlöcher und Zeitreisen – alles nichts<br />

weiter als ein dummer Streich?<br />

„Rosalie, ich will ja nichts behaupten, aber er sieht diesem<br />

220


Jonathan auf dem Foto wirklich sehr ähnlich. Er ist auch oft hier<br />

im Tierpark, er hat eine jüngere Schwester, auf die er manchmal<br />

aufpassen muss, wenn seine Mutter arbeitet.“<br />

Ich muss mich setzen. Meine Beine zittern und ich kann die<br />

Tränen nicht mehr zurückhalten.<br />

„Das ist doch eine gute Nachricht“, sagt Lily verwirrt. „Er lebt<br />

und du bist nicht verrückt.“<br />

„Es ist zum Kotzen.“ Ich weine wütend. „Ich bin beinahe in<br />

<strong>der</strong> Klapse gelandet, weil mich dieser Idiot zum Narren gehalten<br />

hat. Und ich habe auch noch um seinen Tod getrauert. Ich werde<br />

ihn eigenhändig umbringen, ich schwör’s!“<br />

Olivia<br />

Die Szene heute Nachmittag geht mir nicht mehr aus dem<br />

Kopf. Das hat gerade noch gefehlt. Nicht genug, dass die Arme<br />

so viele familiäre Probleme hat. Sie hatte diesen Sommer tatsächlich<br />

einen Freund, <strong>der</strong> nicht eingebildet war, und ich habe<br />

sie beschuldigt, sie würde uns etwas vorlügen. Nun stellt sich<br />

auch noch heraus, dass dieser Junge sie zum Narren gehalten<br />

hat. Das ist wirklich ein harter Schlag.<br />

Was hat diesen Kerl nur dazu bewogen, ihr so übel mitzuspielen?<br />

Ich weiß gar nicht, ob ich Max davon erzählen soll.<br />

Rosalie ist seine Tochter, vielleicht versetzt ihn das so in Rage,<br />

dass er sich diesen Burschen vorknöpfen will. <strong>Der</strong> kann einen<br />

jetzt schon leidtun. Wenn Max die Ärmel hochkrempelt, wird <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e aus lauter Angst erwägen, freiwillig auf eine Klosterschule<br />

zu wechseln. Besser, ich rege ihn nicht auf damit, seine Toleranz,<br />

221


was Lügengeschichten angehen, ist im Moment ohnehin nicht<br />

sehr strapazierfähig.<br />

Wo steckt Max überhaupt? Das Telefon klingelt und ich<br />

stecke gerade mit beiden Händen im Kuchenteig.<br />

„Max?“ Er ist nicht da, also nehme ich mit klebrigen Teigfingern<br />

den Anruf entgegen.<br />

„Entschuldigen Sie. Sind sie Rosalies Tante Olivia?“, fragt<br />

eine Frauenstimme am an<strong>der</strong>en Ende <strong>der</strong> Leitung.<br />

„Wer möchte das wissen?“, frage ich und wun<strong>der</strong>e mich selbst<br />

über mein forsches Auftreten.<br />

„Mein Name ist Poljakow“, antwortet die Frau. „Ich bin, o<strong>der</strong><br />

besser gesagt, ich war Rosalies Therapeutin im Internat von dem<br />

sie … Sie wissen schon, ausgerissen ist.“<br />

„Aha“, sage ich. „Kann ich Ihnen helfen?“ Mir ist bewusst,<br />

dass ich unfreundlich klinge, aber es wun<strong>der</strong>t mich, dass sie hier<br />

anruft. Erstens bin ich keine Erziehungsberechtigte und zweitens<br />

ist es nicht gerade ein Zeugnis ihrer Fähigkeiten, wenn ihr<br />

die Patienten weglaufen.<br />

„Nun, ich wollte mich nur nach Rosalies Wohl erkundigen,<br />

da sie mir sehr am Herzen liegt. Ich mache mir Sorgen um ihre<br />

psychische Verfassung.“<br />

„Ihr geht es bestens“, lüge ich, denn das Gespräch kommt<br />

mir seltsam vor. Sie spricht einwandfreies Schweizerdeutsch.<br />

Violetta hat erwähnt, dass sie des Öfteren mit <strong>der</strong> Psycho login<br />

gesprochen hat. Aber ich hatte keine Ahnung, dass sich die<br />

beiden von früher kennen.<br />

„Nun ja, ich habe mit Rosalies Mutter gesprochen, die<br />

ebenfalls sehr besorgt ist um den Zustand ihrer Tochter.“<br />

„Ihre Besorgnis ist mir durchaus bewusst, Frau … Wie war<br />

Ihr Name noch gleich?“<br />

222


„Elena Poljakow“, wie<strong>der</strong>holt sie und ihr wird <strong>der</strong> Gesprächsverlauf<br />

zusehends unangenehmer. „Sehen Sie, ich will Sie<br />

durchaus nicht beunruhigen.“<br />

„Was wollen Sie denn genau?“, frage ich. „Befürchtet meine<br />

Schwester, dass ich einen negativen Einfluss auf ihre Tochter<br />

ausübe?“<br />

„Nein nein, Sie verstehen das völlig falsch“, beschwichtigt<br />

die Psychologin schnell. „Ich wollte Ihnen nur meine Hilfe<br />

anbieten. Falls Sie Unterstützung brauchen, können Sie sich<br />

je<strong>der</strong>zeit an mich wenden. Es ist nicht einfach, wenn ein Kind<br />

plötzlich mit <strong>der</strong> eigenen Identität zu kämpfen hat. Herauszufinden,<br />

wer man ist und wo man hingehört, das kann einen<br />

total aus <strong>der</strong> Bahn werfen.“<br />

„Was meinen Sie damit?“, frage ich verblüfft. Woher zum<br />

Henker weiß diese Frau davon? Von Rosalie bestimmt nicht.<br />

„Oh, ich darf da lei<strong>der</strong> keine genauere Auskunft geben. Das<br />

unterliegt <strong>der</strong> Schweigepflicht. Ich war nur <strong>der</strong> Überzeugung,<br />

Sie wären im Bild. Aber machen Sie sich keine Gedanken. Reden<br />

Sie am besten mit Ihrer Schwester darüber. Ich bin überzeugt,<br />

Rosalie ist bei Ihnen sehr gut aufgehoben. Trotzdem empfehle<br />

ich Ihnen, möglichst schnell professionelle Hilfe beizuziehen,<br />

zur Unterstützung <strong>der</strong> positiven Entwicklung, die Rosalie bereits<br />

in kurzer Zeit erlangen konnte. Ich wünsche Ihnen alles Gute.<br />

Und rufen Sie mich an, falls Sie Fragen haben. Auf Wie<strong>der</strong>hören.“<br />

Du lieber Himmel, und ob ich Fragen habe. Was war denn<br />

das jetzt?<br />

223


Rosalie<br />

Lily sitzt bei mir auf dem Bett und wir beraten, was wir tun<br />

sollen. Erst wollte ich auf <strong>der</strong> Stelle zu diesem Joel hinfahren und<br />

ihn umbringen o<strong>der</strong> auf den Mond schießen. O<strong>der</strong> ihn zumindest<br />

würgen, bis er ausspukt, weshalb er mir so etwas Schändliches<br />

angetan hat. Aber Lily rät mir, mich erstmal zu beruhigen.<br />

„Du hast gut reden“, schnaube ich. „Dich hat er ja nicht wochenlang<br />

verarscht. Er war sogar in meinem Zimmer und sicher<br />

hat er auch mein Amulett geklaut. Wir sollten ihn bei <strong>der</strong> Polizei<br />

melden. Jugendhaft für mindestens zehn Jahre hat er verdient,<br />

finde ich.“<br />

„Ich glaub’s nicht“, sagt Lily. „Ich bin eigentlich immer gut<br />

mit ihm ausgekommen.“<br />

„Ja klar.“ Ich lache bitter. „Du bist ja auch die Sorte Mädchen,<br />

auf die solche Typen stehen.“<br />

„Jetzt schalt mal einen Gang runter“, fällt Lily mir ins Wort.<br />

„Mit wem ist er denn im Kino gewesen? Er war nicht mit mir<br />

dort, obwohl ich vielleicht zugesagt hätte, falls er mich gefragt<br />

hätte. Was er aber nicht getan hat, weil er ja mit dir hingehen<br />

wollte“, fügt sie an, als sie meinen entsetzten Blick sieht.<br />

Ich schniefe immer noch, aber Lily beruhigt sich wie<strong>der</strong>.<br />

„Eigentlich schade, dass wir dieses Rätsel so schnell gelüftet<br />

haben“, seufzt sie.<br />

Ich werfe ihr erneut einen entsetzten Blick zu. Macht sie<br />

sich etwa lustig über mich? Aber es ist nicht <strong>der</strong> Moment, um<br />

beleidigt zu sein. Im Grunde hat sie recht. Ich habe mich in eine<br />

völlig hirnrissige Geschichte verstrickt.<br />

„Also gehen wir noch einmal die Fakten durch“, fängt Lily<br />

erneut an.<br />

224


„Nein“, stöhne ich laut. „Das bringt doch alles nichts. Er hat<br />

mich belogen, ich habe mich in ihn verknallt, er hat mich in den<br />

Augen meiner Verwandten als Lügnerin dastehen lassen und<br />

ich bin daraufhin in das Psychoheim abgeschoben worden. Das<br />

sind die Scheißfakten, Punkt.“<br />

„Allerdings“, bemerkt Lily.<br />

Ich bin nicht sauer auf sie. Ich bin nur sauer auf die ganze<br />

Welt, das ist etwas an<strong>der</strong>es.<br />

„Jemand hat dir übel mitgespielt“, sagt Lily düster. „Aber es<br />

war nicht unbedingt nur Joel.“<br />

Ich sehe sie skeptisch an.<br />

„Überleg doch, niemand kommt wegen einer Lüge gleich in<br />

ein Psychoheim.“<br />

„Maman hasst mich“, sage ich und die Tränen rinnen mir<br />

wie<strong>der</strong> übers Gesicht.<br />

„Das tut sie ganz bestimmt nicht“, höre ich Olivias Stimme<br />

plötzlich hinter mir. Sie steht im Türrahmen und streckt uns<br />

zwei Tassen mit warmer Schokolade entgegen. „So etwas darfst<br />

du nicht einmal denken, Süße“, sagt Olivia traurig. „Sie hasst<br />

dich nicht. Sie ist verbissen, nörgelnd und sicher auch nervtötend,<br />

das wissen wir beide. Aber sie ist kein böser Mensch.<br />

Trotzdem hat Lily recht. Irgendjemand spielt dir und deiner<br />

Familie übel mit, und ich werde herausfinden, wer das ist. Ich<br />

glaube, ich habe auch schon eine Ahnung.“<br />

Olivia streicht mir über das Gesicht und wischt mir die Tränen<br />

weg. Ihre Gedanken lassen ihre grünen Augen beinahe funkeln.<br />

„Lass mich mal mit meiner Schwester telefonieren“, sagt sie<br />

und verschwindet so plötzlich, wie sie aufgetaucht war.<br />

„Sind denn jetzt alle verrückt?“, frage ich verwirrt.<br />

„Wenn man im Dunkeln tappt, kann es einem schon verrückt<br />

225


vorkommen“, sagt Lily. „Ich gehe jetzt nach Hause. Überlass<br />

deine Mama am besten Olivia. Und ich übernehme den an<strong>der</strong>en<br />

Fall.“<br />

„Wie meinst du das?“, frage ich.<br />

„Ich werde mir Joel mal vorknöpfen“, beschließt Lily.<br />

„Aber …“<br />

„Nichts aber. Keine Sorge, ich werde erst die Lage checken.<br />

Du bist nicht in <strong>der</strong> Verfassung, das emotionslos anzugehen. Ich<br />

kenne Joel, man kann vernünftig mit ihm reden, aber er kann<br />

verschlossen reagieren, wenn man ihn bedrängt. Ich werde dir<br />

Bescheid geben, versprochen.“<br />

Olivia<br />

„Ich fasse es nicht,“ sage ich zu Max, während er mit seinem<br />

Kaffee am Tisch sitzt und mit einem Stift das Kreuzworträtsel<br />

verunstaltet.<br />

„Gibt es Neuigkeiten?“, fragt er stirnrunzelnd und streicht<br />

durch, was er soeben gekritzelt hat.<br />

„Allerdings.“ Ich erzähle ihm, was ich soeben am Telefon<br />

von Violetta erfahren habe. „Violetta ist scheinbar seit Jahren<br />

mit dieser Psychologin befreundet. Sie weiß von <strong>der</strong> ganzen<br />

Geschichte. Warum, ist mir schleierhaft. Jedenfalls hat sie ihr<br />

dieses Internat empfohlen und es sogar eingefädelt. Warum sie<br />

jetzt allerdings Kontakt mit mir aufgenommen hat und mich<br />

sozusagen auf das Geheimnis aufmerksam machen wollte, kann<br />

sich auch Violetta nicht erklären. Sie war raffiniert, das muss<br />

ich zugeben. Sie muss davon ausgegangen sein, dass ich nichts<br />

226


von all dem weiß. Allerdings war ich ihr da einen Schritt voraus.<br />

Ich habe sie nicht wissen lassen, was genau ich weiß, deshalb<br />

versuchte sie, mein Misstrauen zu wecken. Sie wollte, dass ich<br />

mit Violetta rede. Es kommt mir so vor, als wollte sie erreichen,<br />

dass wir von Violettas Geheimnis Kenntnis erlangen.“<br />

„Das ergibt keinen Sinn“, sagt Max. „Was könnte eine Schulpsychologin<br />

für Interesse haben, Familiengeheimnisse zu<br />

lüften, noch dazu, wenn sie mit <strong>der</strong> Mutter befreundet ist?“<br />

„Keine Ahnung, aber diese Poljakow kommt mir nicht<br />

geheuer vor.“<br />

„Elena?“ Max sieht mich staunend an. „Elena Poljakow? Das<br />

ist doch ein Witz, o<strong>der</strong>? Ich kenne die von früher, sie hat ganz<br />

in <strong>der</strong> Nähe gewohnt. Wenn es irgendwo nach Intrige roch, war<br />

sie bestimmt nicht weit.“<br />

„Das ist schon absurd“, sage ich. „Kaum ist Rosalie wie<strong>der</strong><br />

da, jagt schon wie<strong>der</strong> ein Phantom <strong>der</strong> Vergangenheit das<br />

nächste. Als hätten wir nicht genug Probleme. Und zu allem<br />

Überfluss stellt sich auch noch heraus, dass sie tatsächlich mit<br />

einem Jungen ausgegangen ist. <strong>Der</strong> hat sich aber als jemand<br />

an<strong>der</strong>en ausgegeben. Lily kennt ihn. Ist das denn zu fassen? Ein<br />

Phantom mit gefälschter Identität.“<br />

„Haken wir es ab“, sagt Max erstaunlich gefasst. „Sehen<br />

wir es positiv. Rosalie hat nicht gelogen und sie hat auch keine<br />

Halluzinationen o<strong>der</strong> Fantasiefreunde. Ich finde, das ist schon<br />

ein Fortschritt. Dieser Typ ist also kein Phantom, son<strong>der</strong>n ein<br />

ganz normaler Junge.“<br />

„Als normal würde ich ihn nicht bezeichnen, wenn er vorgibt,<br />

ein Zeitreisen<strong>der</strong> zu sein“, entgegne ich stirnrunzelnd.<br />

Max lacht. „Ich bin sicher, das hat er gar nicht behauptet.<br />

Ich kenne euch Frauen. Ihr macht immer gleich eine große<br />

227


Geschichte aus allem. Wahrscheinlich hat Rosalie ihn schon<br />

anhand des Fotos im Geiste zum Helden erklärt und <strong>der</strong> arme<br />

konnte diesem vorgefertigten Klischee nicht entsprechen, also<br />

musste er sich etwas aufplustern.“<br />

Ich muss lachen trotz <strong>der</strong> Tragödie, die sich durch dieses Verwirrspiel<br />

ereignet hat.<br />

„Mir ist es ehrlich gesagt lieber, sie jagt Phantome. Es gibt<br />

genügend an<strong>der</strong>e, die nur auf <strong>der</strong> Jagd nach Geld sind.“<br />

Er hat recht. Ihre Welt braucht sich noch nicht um die<br />

Probleme <strong>der</strong> Erwachsenen zu drehen. Wir sollten sie erst ein<br />

wenig mit Zeitreisen und Geisterbeschwörungen experimentieren<br />

lassen, bevor sie sich mit Finanzberatungen und<br />

Altersvorsorgen herumkämpfen muss.<br />

228


Aufgabenbewältigung<br />

Lily<br />

„Hi Julie“, sage ich freundlich. „Ist Joel zu Hause?“<br />

„Er ist einkaufen gegangen“, antwortet sie.<br />

„Oh, dann werde ich ein an<strong>der</strong>es Mal vorbeikommen“<br />

„Wenn du willst, kannst du auf ihn warten. Er ist schon eine<br />

Weile weg und ich bin allein hier. Komm doch rein. Er wird<br />

sicher bald kommen, hoffe ich jedenfalls. Er muss mir helfen,<br />

ich blicke echt nicht durch bei den doofen Matheaufgaben.“<br />

Julie begleitet mich durch den Flur ins Wohnzimmer und ich<br />

setze mich auf das Sofa. Julie steht unschlüssig in <strong>der</strong> Tür. Sie<br />

will mich nicht allein im Wohnzimmer lassen.<br />

„Mathe?“, frage ich. „Dann zeig doch mal. Ich war nicht<br />

schlecht in <strong>der</strong> Ersten.“<br />

„Zweiten“, sagt Julie und stellt sich aufrecht hin. „Ich bin<br />

schon in <strong>der</strong> Zweiten.“<br />

„Auch da war ich nicht schlecht“, entgegne ich lachend.<br />

229


Sie holt ihre Hefte und Bücher und wir vertiefen uns in ihre<br />

Arbeit.<br />

„Jetzt verstehe ich das endlich“, sagt Julie. „Du kannst das<br />

besser erklären als <strong>der</strong> Lehrer. Und sehr viel besser als Joel.“<br />

„Naja, Mathe ist rein logisch. Es gibt keinen Spielraum für<br />

Interpretationen o<strong>der</strong> Gutdünken. Das macht es einfach. Es gibt<br />

nur richtig o<strong>der</strong> falsch, nichts dazwischen.“<br />

„Aber es gibt verschiedene Arten, es zu lösen.“<br />

„Da hast du allerdings recht“, muss ich zugeben. „Wenn man<br />

nur bei allem so genau wüsste, ob es auf ein richtiges o<strong>der</strong><br />

falsches Resultat hinausläuft.“<br />

„Wieso?“, fragt Julie.<br />

„Ich meine nur. Wenn man gut im Rechnen ist, kann man jedes<br />

Resultat prüfen und feststellen, ob man richtig lag o<strong>der</strong> nicht.“<br />

„Ist doch egal. Das sagt einen dann <strong>der</strong> Lehrer.“<br />

„Ja, in Mathe und in <strong>der</strong> Schule. Aber was ist mit den an<strong>der</strong>en<br />

Aufgaben?“<br />

„Ich habe keine mehr.“<br />

„Ich meine doch nicht deine Aufgaben, Julie.“ Sie mustert<br />

mich skeptisch. „Ich rede von echt schwierigen Gleichungen.“<br />

Joel<br />

„Was machst du denn hier?“ Ich bin überrascht, als ich Lily<br />

mit Julie im Wohnzimmer finde.<br />

„Freut mich auch, dich zu sehen“, sagt Lily und klappt das<br />

Buch, das sie gerade in <strong>der</strong> Hand hält, zu. „Ich löse gerade<br />

Matheaufgaben und ein paar an<strong>der</strong>e Fragen.“<br />

230


„Warum das denn?“, frage ich verdutzt.<br />

„Nur zum Zeitvertreib und weil ich gut darin bin.“ Lily lächelt<br />

und drückt meiner Schwester das Buch in die Hand. „Alles klar,<br />

Julie?“<br />

„Sicher“, antwortet sie. „Hat sogar Spaß gemacht, obwohl ich<br />

das nicht zugeben sollte. Falls das jemand herausfindet, bin ich<br />

ein Nerd, was immer das sein soll.“<br />

„Bin ich im falschen Film, o<strong>der</strong> was läuft hier? Ich war nur<br />

eine Stunde weg, höchstens an<strong>der</strong>thalb, und in <strong>der</strong> Zwischenzeit<br />

hat sich eine Parallelgalaxie gebildet, in <strong>der</strong> alles ins Gegenteil<br />

verkehrt wurde. Okay, wo versorge ich nun die Lebensmittel?<br />

Ist die Küche noch die Küche o<strong>der</strong> soll ich die Milch ins Bad<br />

stellen, Julie?“<br />

Julie packt ihre Bücher und streckt mir die Zunge heraus.<br />

„Finde es selber heraus. Vielleicht hilft dir ja deine Freundin<br />

beim Lösen dieser Aufgabe.“<br />

„Sie ist nicht meine Freundin“, sage ich und realisiere sofort,<br />

dass das nicht sehr diplomatisch war. „Ich meine, du bist nicht<br />

… du weißt schon.“<br />

„Ich weiß, was ich bin, Joel“, sagt Lily spöttisch. „Fragt sich<br />

nur, was du bist. Und genau deshalb bin ich hier.“<br />

Rosalie<br />

Die Zeit scheint beinahe nicht zu vergehen. Nervös sitze ich<br />

auf dem Bett in meinem kleinen Zimmer am Ende des Korridors.<br />

Bei Olivia und Max im Wohnzimmer hab ich es nicht ausgehalten.<br />

Ich habe gesagt, dass ich mich für die Schule vorbereiten<br />

231


möchte, aber ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was mich<br />

dort überhaupt erwartet. Lily hat sich bisher nicht gemeldet,<br />

daher überprüfe ich alle paar Minuten das Display meines<br />

Handys. Es tut sich weiter nichts. Was bespricht sie so lange mit<br />

ihm? Wird sie den Kinobesuch erwähnen, und wenn ja, wird<br />

er ihr sagen, ich wäre verrückt? Sie wird ihm doch nicht<br />

beipflichten, um höher in seiner Gunst zu stehen? Nein, sie ist<br />

meine Freundin, die einzige, die ich zurzeit habe. Hätte ich<br />

nur Die Zeitmaschine, um mich abzulenken. Ich habe vergessen,<br />

dass Lily es noch in ihrer Tasche hat. Ins Internet kann ich<br />

nicht, das Wurmloch ist auch ein Funkloch, das hatte ich schon<br />

verdrängt. Es bleibt mir nichts zu tun, als in Romildas Buch<br />

durch die Seiten zu blättern auf <strong>der</strong> Suche nach einem ihrer<br />

Gedanken, <strong>der</strong> die meinen unterbrechen kann.<br />

Die Einsicht<br />

Wenn ich mich umschaue, sehe ich die Dinge,<br />

wie sie mir am wertvollsten erscheinen.<br />

Einsicht hat nichts mit Einblick zu tun,<br />

die Sicht auf die Dinge entsteht nicht<br />

durch den bloßen Blick darauf.<br />

Es liegt ein tieferes Sehen hinter <strong>der</strong> Einsicht.<br />

Sie kann schmerzhaft sein und trotzdem heilen,<br />

aber manchmal tötet sie die Dinge,<br />

indem sie ihnen die wertvolle Erscheinung entzieht.<br />

Einsicht lässt das Argument gewinnen – immer.<br />

Nur wenige nehmen diesen unfairen Kampf auf,<br />

darum gibt es wenig Einsicht.<br />

Ich will die Dinge wertvoll erscheinen lassen,<br />

232


den Schein wahren, bewahren<br />

und die Argumente zwingen, sich dem Wert unterzuordnen.<br />

Ich will den Blick schweifen lassen<br />

und die Einsicht dazu bringen, sich zu wehren,<br />

den Kampf zu einer lohnenden Aussicht auf Erfolg<br />

werden zu lassen.<br />

Sieh es ein, es bringt nichts,<br />

sich den Zauber von <strong>der</strong> Seele zu argumentieren,<br />

wenn Aussicht, Einblick und Einsicht<br />

in verschiedene Blickrichtungen weisen.<br />

<strong>Der</strong> Zauber ist nach wie vor ungebrochen, denke ich. Jonathan<br />

ist eine Seele aus <strong>der</strong> Vergangenheit und ich habe ihn nie getroffen.<br />

Trotzdem habe ich eine Verbindung zu ihm gehabt, wie<br />

niemals zuvor zu einem Menschen. Romilda hat ihn gekannt und,<br />

wie es scheint, geliebt. Ich habe den Beweis auf dem Grabstein<br />

gesehen. Vincent war <strong>der</strong> Freund und <strong>der</strong> Vater o<strong>der</strong> zumindest<br />

ein Vater von Romildas Tochter Pauline.<br />

Es ist sehr verworren und ich betrachte den Umschlag des<br />

Briefes.<br />

<strong>Der</strong> <strong>Geheimbund</strong> <strong>der</strong> <strong>Wahrheit</strong><br />

Es waren drei Freunde, alle drei standen sich sehr nahe. Zwei<br />

davon hatten ein Amulett in Form eines Tieres. Vincent besaß<br />

einen Bären. Wem gehörte dann die Eule? War sie Romildas<br />

o<strong>der</strong> Jonathans Talisman?<br />

Ich schaue auf mein Handy, noch immer keine Nachricht von<br />

Lily.<br />

233


Max<br />

Olivia hat gesagt, ich solle mich mit ihr zum Abendessen treffen,<br />

sie hätte einen Tisch reserviert. Das hat sie noch nie getan.<br />

Versucht sie nun doch noch, in mir einen Sinn für Romantik zu<br />

wecken? Meinetwegen, wir haben einiges zu besprechen und<br />

sie hat sich ein gediegenes Essen mehr als verdient. Besser, ich<br />

besorge ein paar Blumen, das könnte angebracht sein. Sie mag<br />

Vergissmeinnicht, aber ich glaube, Rosen sind passen<strong>der</strong>.<br />

Ich bin früh dran. Sie wird sich wie gewohnt verspäten. Aber<br />

sie wird auch wie gewohnt eine einleuchtende Erklärung dafür<br />

haben, so wie sie für alles immer eine einleuchtende Erklärung<br />

findet. Sie hat ein großes Herz, alles und je<strong>der</strong> wird von ihr entschuldigt,<br />

aber sie erwartet im Gegenzug, dass man tolerant ist.<br />

Ich muss immer schmunzeln, wenn sie Argumente bringt<br />

wie: Das Gnu ist kein Frühaufsteher und möchte vor zehn Uhr<br />

nicht gestört werden. Man weiß nie, ob sie so etwas auch wirklich<br />

ernst meint, aber sie setzt sich für jeden ein. Für die Tiere<br />

genauso wie für die Familie o<strong>der</strong> für Freunde. Sie hat kein einziges<br />

Wort darüber verloren, was man ihr angetan hat. We<strong>der</strong><br />

bei mir noch bei Violetta. Ich weiß nicht, warum sie noch nicht<br />

möchte, dass ich mit Rosalie reinen Tisch mache. Irgendwann<br />

in naher Zukunft will ich das hinter mich bringen. Es bringt<br />

nichts, zu warten. Je länger man ein fremdes Geheimnis hütet,<br />

desto mehr wird es zum eigenen. Aber um Olivias willen werde<br />

ich Geduld aufbringen, das bin ich ihr wirklich schuldig.<br />

234


Ludovic<br />

„Hallo Max“, sage ich und wun<strong>der</strong>e mich selbst, dass meine<br />

Stimme sich fest und ruhig anhört. Ich habe lange kein Deutsch<br />

mehr gesprochen und einiges verlernt seit meinem Studium.<br />

Max dreht sich um und ich staune, wie er sich kaum verän<strong>der</strong>t<br />

hat in den vergangenen fünfzehn Jahren. Die Haare sind<br />

kürzer und die Taille ein wenig run<strong>der</strong> geworden, ein stattlicher<br />

Kerl mit wachem Blick. Er mustert mich und scheint mich nicht<br />

gleich zu erkennen.<br />

„Ich bin es, Ludovic. Ich hoffe, du bist nicht verärgert über<br />

diese kleine Täuschung. Ich habe Olivia gebeten, ein Treffen<br />

zwischen uns zu arrangieren.“<br />

„Olivia schickt dich?“, sagt Max. Ich sehe, wie etwas in ihm<br />

auflo<strong>der</strong>t, aber er fasst sich wie<strong>der</strong> und setzt sich an den Tisch,<br />

an dem er auf Olivia gewartet hat. „Heißt das, sie kommt nicht?“<br />

„Nur wenn wir sie anrufen und zu uns bitten. Aber du wirst<br />

ihr die Blumen auch später überreichen können. Ich nehme<br />

nicht an, dass sie für mich sind.“<br />

Max antwortet nicht. Ich verstehe, dass er nicht zum Scherzen<br />

aufgelegt ist, also setze ich mich erst einmal zu ihm an den Tisch.<br />

„Okay, du hast mich überrumpelt. Was willst du von mir?“,<br />

fragt Max.<br />

„Nun, ich habe Olivia dazu überredet, damit ich die Gelegenheit<br />

habe, einmal unter vier Augen mit dir zu sprechen. Von<br />

Mann zu Mann. O<strong>der</strong> besser noch, von Vater zu Vater.“<br />

Max starrt mich an, als hätte ich ihm eine schlechte Nachricht<br />

überbracht.<br />

„Sag mir nur eins“, for<strong>der</strong>t er mit fester Stimme. „Hast du<br />

irgendetwas davon gewusst all die Jahre?“<br />

235


Bevor ich antworten kann, steht <strong>der</strong> Kellner am Tisch und ich<br />

schaue Max fragend an, um zu ergründen, ob er überhaupt in<br />

Erwägung zieht, wenigstens ein Getränk zu bestellen.<br />

„Einen doppelten Whisky ohne Eis“, bestellt er schließlich.<br />

Ich komme nicht umhin, herzhaft zu lachen. „Für mich auch“,<br />

sage ich. <strong>Der</strong> Kellner nickt und geht wie<strong>der</strong>. „Ich sehe, du hältst<br />

dich nicht an kulinarische Regeln.“<br />

„Warum sollte ich? Kann mir heute irgendetwas noch den<br />

Appetit ver<strong>der</strong>ben? Wir können besser gleich so tun, als wäre<br />

alles schon gegessen. Dann bleibe ich dir nichts schuldig, bis<br />

auf einen Drink. Ich habe nämlich nicht vor, dich einzuladen.“<br />

Trotz <strong>der</strong> Schärfe seiner Worte kann ich mir ein Grinsen nicht<br />

verkneifen. Max war schon immer ein humorvoller Kerl, das hat<br />

sich also nicht geän<strong>der</strong>t.<br />

„Um auf deine Frage zurückzukommen: Nein, ich habe es<br />

nicht gewusst. Ich habe es vielleicht geahnt – irgendwann – und<br />

es hat mich einiges gekostet, diese Tatsache zu verdrängen, o<strong>der</strong><br />

sagen wir, zu kompensieren.“<br />

Max schaut mich weiter direkt und durchdringend an. „Was<br />

soll das heißen, du hast es geahnt?“, fragt er schließlich und<br />

nimmt einen großen Schluck Whisky, ohne mit mir anzu stoßen.<br />

Nun gut, ich nehme ebenfalls einen Schluck und seufze.<br />

„Naja, man kann blind vor Liebe sein, wenigstens in <strong>der</strong><br />

ersten Zeit einer Beziehung, aber die Liebe war lei<strong>der</strong> nicht<br />

gegenseitig gleich stark. Ich habe mich bald gewun<strong>der</strong>t, warum<br />

Violetta für ihre Tochter kämpfte, als müsse sie ihre finanzielle<br />

Zukunft absichern. Das hat mich stutzig gemacht und meinen<br />

Vater veranlasst, eine Treueklausel in den Erbvertrag einzubauen.<br />

Ich will dich nicht mit Details langweilen, es war gut<br />

gemeint, aber hat letztendlich nur geschadet.<br />

236


Violetta und ich haben uns ziemlich schnell auseinan<strong>der</strong>gelebt.<br />

In meiner Verzweiflung habe ich mich an Elena gewandt.<br />

Sie ist bis heute Violettas engste Freundin und ich hoffte, sie<br />

würde mir helfen, sie zu verstehen, ihr Herz zurückzugewinnen.<br />

Aber es geschah natürlich alles an<strong>der</strong>s, als ich es mir ausgemalt<br />

hatte. Violetta nahm mir das Testament übel und Elena tröstete<br />

mich, bis – ich gebe zu, das war mein allergrößter Fehler – ich<br />

eine Liaison mit ihr begann. Ich mochte Elena. Sie liebte meine<br />

Kunst. Durch sie erhielt ich endlich die Wertschätzung, die mir<br />

zu Lebzeiten meines Papas und während meiner Ehe mit Violetta<br />

von beiden stets verwehrt wurde. Doch meine Liebe galt<br />

weiterhin Violetta.“<br />

Max schaut mich mit versteinerter Miene an. Nach einer<br />

langen Pause fragt er endlich: „Wieso erzählst du mir das?“<br />

„Weil du <strong>der</strong> Vater meiner Tochter bist, was ich soeben erst<br />

erfahren habe. Violetta und ich, wir haben es vermasselt. Sie<br />

hat mir gestern gestanden, dass Rosalie deine Tochter ist und<br />

ich habe ihr meine Geschichte mit Elena gebeichtet. Weißt du,<br />

Rosalie hat mir geschrieben, dass sie bei euch ist und dass sie<br />

bleiben möchte.“<br />

„Du streichst sie also nicht aus dem Erbvertrag?“<br />

„Selbstverständlich nicht! Sie war schließlich vierzehn Jahre<br />

lang meine Tochter und wird es immer bleiben. Für Violetta und<br />

mich steht die Welt mehr als nur auf dem Kopf und wir brauchen<br />

Zeit, bis wir wie<strong>der</strong> klar denken können. Dennoch bin ich als<br />

Erstes zu dir gefahren, weil ich wissen muss, ob du dich in dieser<br />

Zeit um Rosalie kümmern wirst.“<br />

„Das steht außer Frage. Und um es vorwegzunehmen, ich<br />

brauche dazu deine finanzielle Unterstützung nicht. Wir<br />

werden ihr nicht dasselbe bieten können, aber sie wird das<br />

237


esser verkraften, als du denkst. Allerdings wird sie es erst verkraften<br />

müssen …“<br />

„Genau das ist <strong>der</strong> Punkt. Ich habe nur eine Bitte, dass<br />

du mir die Chance gibst, mich mit ihr auszusprechen. Ich<br />

möchte nicht einfach aus ihrem Leben gestrichen werden.<br />

Natürlich hat sie die Möglichkeit mich zu kontaktieren und sie<br />

wird sich ihre eigene Meinung bilden. Aber wir wissen beide,<br />

Einfluss ist eine starke Waffe. Wenn du o<strong>der</strong> Olivia Groll gegen<br />

mich hegt, dann wird euer Einfluss auf sie meine Beziehung zu<br />

ihr zerstören können.“<br />

Max schweigt und das Whiskyglas ist leer.<br />

„Ludovic“, sagt Max endlich nach einer langen Pause. „Ich<br />

halte nicht viel von Einflussnahme.“<br />

Ich nicke und fühle mich nie<strong>der</strong>geschlagen wie nie zuvor.<br />

„Aber ich halte viel von Mut und Verantwortlichkeit.“<br />

Rosalie<br />

Mitten in <strong>der</strong> Nacht werde ich durch ein Geräusch aus<br />

meinem Traum gerissen. Verwirrt schaue ich mich um. Ich bin<br />

eingeschlafen und Lilys Buch liegt neben dem Bett auf dem<br />

Boden. <strong>Der</strong> Aufprall hat mich wohl geweckt. Beruhigt drehe<br />

ich mich um, ziehe die Decke über die Schulter und will gerade<br />

wie<strong>der</strong> in den Traum zurücksinken, als erneut ein dumpf<br />

klopfendes Geräusch die Stille durchbricht. Dieses Mal kann ich<br />

es orten. Es kommt vom Fenster. Lautlos schlüpfe ich aus dem<br />

Bett und spähe durch den Spalt <strong>der</strong> Vorhänge. Im Vorgarten<br />

steht Lily und wirft Kieselsteine gegen mein Fenster.<br />

238


„Bist du noch ganz dicht?“, zische ich durch das halb geöffnete<br />

Fenster.<br />

„Komm endlich raus!“, zischt sie zurück.<br />

Ich schlüpfe in meine Jeans und zur Tür hinaus. Mein Handy,<br />

denke ich und schleiche zurück, um es zu holen. Erstaunt sehe<br />

ich, dass <strong>der</strong> Akku leer ist. Deshalb also die Kieselsteinaktion.<br />

Lily weiß sich immer irgendwie zu helfen.<br />

Als ich die Haustür leise hinter mir schließe, zieht Lily mich<br />

auch schon hinter die Hecke im Garten, um mich aus dem<br />

Blickfeld des Hauses zu haben.<br />

„Sag endlich, was los ist“, dränge ich. „Hast du Joel …“<br />

„Geduld“, unterbricht mich Lily. „Lass uns in die Scheune<br />

gehen.“<br />

„Jetzt?“ Ich sehe Lily verwun<strong>der</strong>t an.<br />

„Natürlich jetzt, o<strong>der</strong> muss ich erst einen Termin mit dir<br />

vereinbaren? Das ist gar nicht so einfach, wenn nur <strong>der</strong> Anrufbeantworter<br />

erreichbar ist.“<br />

„Schon gut“, sage ich. „Ich hab gestern Abend den Akku<br />

gekillt, als ich ständig nach einer Nachricht von dir Ausschau<br />

hielt.“<br />

„Joel kam erst spät am Nachmittag nach Hause. Ich hab mit<br />

ihm geredet, aber erst später. Er konnte zu Hause nicht sofort<br />

weg“, meint Lily entschuldigend. „Seine Mutter ist ziemlich<br />

streng.“<br />

„Schon okay. Lass uns in die Scheune gehen. Wir können<br />

alles in Ruhe besprechen. Ich habe mich dort im Sommer<br />

gemütlich eingerichtet, es hat Decken und Polstermöbel, ein<br />

perfektes Geheimversteck für nächtliche Treffen.“<br />

„Ich weiß“, sagt Lily und ich sehe sie verblüfft an. Woher<br />

weiß sie das denn?<br />

239


Angespannt laufe ich ihr hinterher durch den Garten, dann<br />

leicht geduckt an <strong>der</strong> Mauer entlang, damit man uns vom Haus<br />

aus nicht so leicht sehen kann. Wir finden das bereits wie<strong>der</strong><br />

von Gestrüpp überwucherte Scheunentor, das gerade weit genug<br />

offen steht, dass wir beide hindurchschlüpfen können. Drinnen<br />

ist es dunkel und muffig. Als wir um die Regale biegen, die mein<br />

Versteck vom Rest <strong>der</strong> Scheune abschirmen, sehe ich, wie das<br />

fahle Mondlicht durch das zerbrochene Scheunenfenster scheint<br />

und ein glimmendes Flackern aus dem Gasofen ein spärliches<br />

Licht verbreitet. Joel sitzt auf einem <strong>der</strong> Polstersessel und ich<br />

klammere mich instinktiv fest an Lilys Arm.<br />

240


<strong>Der</strong> <strong>Geheimbund</strong> tagt<br />

Joel<br />

„Seid ihr noch ganz dicht, mich so zu erschrecken?“, ärgert<br />

sich Rosalie, nachdem sie den ersten Schreck überwunden hat.<br />

„Sei nicht böse“, sagt Lily mit besorgtem Blick auf ihren<br />

entsetzten Gesichtsausdruck. „Ich hab ihn hergebracht. Du<br />

solltest dir seine Version <strong>der</strong> Geschichte selber anhören.“<br />

„Ich möchte dir alles erklären“, versuche ich sie zu beruhigen.<br />

„Es schien mir die beste Möglichkeit, dich zu treffen. Ich muss<br />

dich so schnell wie möglich sprechen, bevor alles auffliegt und<br />

ich womöglich keine Gelegenheit mehr dazu habe.“<br />

„Wieso? Wovon sprichst du? Redest du vom Diebstahl o<strong>der</strong><br />

vom Einbruch in die Scheune o<strong>der</strong> von deiner falschen Identität?“<br />

Sie ist wütend, das war zu erwarten. Zum Glück ist Lily<br />

dabei, sodass sie hoffentlich nicht komplett ausflippt. Wenn<br />

man sie reden hört, könnte man meinen, ich sei ein krimineller<br />

Psychopath.<br />

241


„Also“, fange ich vorsichtig an, „das klingt alles verrückt und<br />

ich bestreite nicht, dass ich Mist gebaut habe, aber ich erzähle<br />

dir meine Geschichte am besten von Anfang an, bevor du entscheidest,<br />

ob ich deswegen hingerichtet werden soll.“<br />

Rosalie schnaubt, aber Lily legt beruhigend den Arm um sie<br />

und sie setzen sich auf das alte Sofa. Ich setze mich auf den<br />

Teppich davor und beginne zu erzählen.<br />

„Bevor deine Tante und dein Onkel in dieses Haus eingezogen<br />

sind, stand es eine ganze Zeit lang leer. Manchmal habe<br />

ich mich mit ein paar Kumpels dort getroffen. Wir haben nur<br />

herumgehangen, nichts kaputt gemacht o<strong>der</strong> so. Es war ein<br />

cooler Ort, um sich ungestört zu treffen und abzuhängen. Oben<br />

auf dem Dachboden war alles voller alter Kisten mit Krempel, genau<br />

wie hier. Ich ging öfter dorthin, auch allein, um zu zeichnen.<br />

Irgendwann hatten wir uns, genau wie du hier, eingerichtet und<br />

in den Sachen gestöbert. Keine Ahnung, wem das Zeug gehört<br />

hat. Es schien niemand zu vermissen. Wir haben alles durchsucht,<br />

weil uns langweilig war, aber es war nichts Wertvolles darunter,<br />

also nichts, was sich gelohnt hätte zu verticken.“<br />

„Seid ihr nie erwischt worden?“, fragt Rosalie.<br />

„Glücklicherweise nicht“, erwi<strong>der</strong>e ich. „Einmal war’s allerdings<br />

ziemlich knapp. Jemand von <strong>der</strong> Verwaltung kam vorbei,<br />

um nach dem Rechten zu sehen. Wir konnten uns auf dem<br />

Dachboden des Hauses verstecken. Ich fand Unterschlupf in<br />

einer <strong>der</strong> alten Truhen und dabei stieß ich auf eine kleine<br />

Schatulle. Sie war in einer Art Geheimfach versteckt. Ich war<br />

neu gierig und habe sie ohne lange zu überlegen eingesteckt.<br />

Später, zu Hause, habe ich sie geöffnet und fand ein Amulett,<br />

zusammen mit alten Briefen und Fotos.“<br />

„Du hast auch ein Amulett gefunden?“, fragt Rosalie staunend.<br />

242


„Sogar zwei“, antworte ich. „Mit deinem zusammen sind es<br />

drei.“<br />

Um es ihr zu beweisen, greife ich in die Jackentasche und ziehe<br />

daraus die drei Ketten hervor. Sie sind ineinan<strong>der</strong> verhed<strong>der</strong>t,<br />

aber die drei Tieramulette baumeln aus dem Knäuel zwischen<br />

meinen Fingern herab. Die beiden Mädchen schauen gebannt<br />

auf die Anhänger.<br />

„Ein Bär, ein Fuchs …“<br />

„… und meine Eule“, fügt Rosalie an und greift nach den<br />

Amuletten. „Du hast es also doch geklaut!“<br />

„Nur ausgeliehen“, verteidige ich mich. Sie sieht mich<br />

unschlüssig an, aber anstatt etwas zu sagen, beginnt sie die<br />

Knoten <strong>der</strong> Ketten zu entwirren. Ich versuche währenddessen<br />

weiter, die Geschichte zu entwirren.<br />

„Nach dem ziemlich missglückten Besuch bei dir im Zimmer<br />

wollte ich mich später für meinen schnellen Abgang entschuldigen.<br />

Ich wollte aber nicht riskieren, deinem Onkel über den Weg<br />

zu laufen, also bin ich wie<strong>der</strong> zu deinem Fenster hoch geklettert.<br />

Du warst nicht mehr im Zimmer, dafür lag das Amulett auf <strong>der</strong><br />

Kommode, weswegen ich ja ursprünglich gekommen war. Ich<br />

wollte es nicht klauen. Ich hätte es dir zurückgegeben, Ehrenwort.“<br />

„Ich verstehe nicht“, sagt Rosalie, ohne aufzublicken, da<br />

sie immer noch mit den Knoten in den Ketten beschäftigt ist.<br />

„Warum wolltest du unbedingt mein Amulett haben und warum<br />

willst du Max nicht begegnen?“<br />

„Naja, ich hatte ja, wie du siehst, bereits zwei dieser Anhänger<br />

gefunden. Und einen davon eben in dieser Truhe auf eurem<br />

Dachboden. An dem Tag kam auch dein Onkel mit den ersten<br />

Möbeln und Kisten an. Wir wurden von ihm überrascht und sind<br />

243


durch das Treppenhausfenster in den Garten geflohen, aber er hat<br />

mich und einen meiner Kumpels gesehen, wie wir wegrannten. Er<br />

hat getobt und uns als Einbrecher und Vandalen beschimpft. Ich<br />

möchte ihm lieber nicht begegnen, wenn er wirklich sauer ist.“<br />

„Und das an<strong>der</strong>e Amulett?“, fragt Rosalie, ohne weiter auf die<br />

Fluchtszene einzugehen.<br />

„Das fand meine Schwester ein paar Monate vorher in <strong>der</strong><br />

Ruine <strong>der</strong> alten Villa.“<br />

„In <strong>der</strong> Villa, die abgebrannt ist?“, fragt Lily sofort.<br />

„Genau. Sie hat dort mit ein paar an<strong>der</strong>n Kin<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong><br />

Nachbarschaft gespielt, obwohl es verboten war. Nach dem Brand<br />

war das Gebäude ja nur noch eine Ruine, die wenig später abgerissen<br />

wurde. Meine Schwester hat das Amulett in den Trümmern<br />

gefunden. Als ich das zweite Amulett fand, hab ich ihr das erste<br />

abluchsen können im Tausch gegen einen alten Gameboy.“<br />

„Warum bist du denn überhaupt so interessiert an ihnen?“,<br />

fragt Lily neugierig. „Jungs sind doch sonst für Schmuck nicht<br />

so leicht zu begeistern.“<br />

„Mich interessiert nur die Sache mit <strong>der</strong> Zeit.“<br />

Rosalie schaut mir prüfend in die Augen.<br />

„Was weißt du über die Sache mit <strong>der</strong> Zeit?“<br />

„Nur das, was in diesem Brief steht“, antworte ich perplex.<br />

Ich ziehe einen zerknitterten Umschlag aus <strong>der</strong>selben<br />

Jackentasche, aus <strong>der</strong> ich zuvor die Amulette genommen habe.<br />

„Was steht drin? Konntest du ihn lesen?“, fragt Rosalie, die<br />

bereits ahnt, dass sie nichts davon würde entziffern können.<br />

Ich nehme den Brief aus dem Umschlag und überfliege ihn<br />

einen Augenblick. Die Schrift ist alt, aber ich habe den Brief in<br />

den vergangenen Monaten so eingehend studiert, dass es mir<br />

nicht mehr schwerfällt, ihn zu lesen.<br />

244


Ich habe das Gefühl, so oft die Zeit angehalten zu haben,<br />

dass sie nun beginnt, alles Verpasste wie<strong>der</strong> aufzuholen. Dennoch<br />

war es nicht umsonst. Ich habe in den gestohlenen Stunden<br />

gefunden, was ich vermisst habe. Die verlorenen Stunden habe<br />

ich dabei kompensiert, die Stunden, in denen ich gewartet o<strong>der</strong><br />

gezweifelt habe … sie wurden alle entschädigt.<br />

Es ist ein seltener Zufall, wenn ein Fuchs, ein Bär und eine Eule<br />

Freundschaft fürs Leben schließen. Wenn sie zusammenfinden,<br />

geschieht ein unerklärliches, aber unglaubliches Phänomen.<br />

Sie heben sich gegenseitig auf, halten sich in einem<br />

Bewusstseinszustand <strong>der</strong> unerschütterlichen Ewigkeit gegenseitig<br />

fest, und wenn alle Rädchen <strong>der</strong> Uhrzeit stillstehen, wenn das<br />

Ticken verstummt ist, hört die Welt tatsächlich auf, sich zu<br />

drehen. Das hat Jonathan uns ermöglicht …<br />

„So steht es in dem Brief?“, fragt Lily skeptisch. „Geht er<br />

nicht weiter?“<br />

„Und wer hat ihn geschrieben?“, fügt Rosalie an.<br />

„Ich weiß es nicht“, antworte ich. „Ich habe nur diese eine<br />

Seite gefunden. Keine Anrede, keine Unterschrift, nur diese rote<br />

Haarlocke war mit im Umschlag.“<br />

Mit den Fingern fahre ich durch den Umschlag und nach<br />

kurzem Suchen finde ich die lockige, mit einem dünnen Samtband<br />

zusammengebundene Strähne. Lily hält sie im Schein des<br />

Mondlichts an Rosalies Kopf und pfeift anerkennend in die Stille.<br />

„Passt“, sagt sie und schaut uns beide herausfor<strong>der</strong>nd an. „Ha<br />

ha, ihr könnt aufhören damit. Ich durchschaue euch, ihr spielt<br />

mir einen Streich und meint, ich falle auf euer Märchen rein.<br />

Rosalie, das sind deine Haare, das sehe ich doch!“<br />

„Das sind nicht meine“, beteuert Rosalie. „Außerdem hat<br />

245


Jonathan … ich meine Joel, mich zum Narren gehalten, das<br />

weißt du doch.“<br />

„Ich habe dich nicht absichtlich zum Narren gehalten“,<br />

unter breche ich die beiden. „Ich wusste nicht, ob du mich verraten<br />

würdest, als wir uns das erste Mal hier begegnet sind.<br />

Mich Jonathan zu nennen, fiel dir ganz von selbst ein, ehrlich<br />

gesagt. Ich denke, du hast den Namen auf einer meiner Zeichnungen<br />

gelesen und daraus diesen falschen Schluss gezogen.<br />

Später konnte ich das nicht so einfach berichtigen. Ich wollte<br />

nichts aufs Spiel setzen, weil ich dich doch kennenlernen wollte,<br />

wegen des Amuletts.“<br />

„Nur wegen des Amuletts?“ Rosalies enttäuschter Unterton ist<br />

nicht zu überhören.<br />

„Nicht nur“, gebe ich zu. „Als ich diesen Brief gelesen habe und<br />

das zweite Amulett sah, wusste ich, dass es ein weiteres geben<br />

muss. Dann, als wir uns das erste Mal in <strong>der</strong> Scheune be gegnet<br />

sind, war ich vollkommen verblüfft. Deine Haare sind mir<br />

sofort aufgefallen, dieses schimmernde Rot. Genau wie diese Locke.<br />

Irgendwie hoffte ich, dass du mit dem Brief und den Amuletten<br />

etwas zu tun hattest. Was sich dann auch tatsächlich bestätigte.<br />

Als ich dir an diesem Nachmittag im Tierpark geholfen habe, den<br />

Felsen zu schrubben, hast du das Amulett hervorgeholt und ich<br />

fiel beinahe ins Wasserbecken vor Schreck. Von dem Tag an war<br />

ich entschlossen, die drei Amulette irgendwie zu vereinen, um zu<br />

sehen, ob es … naja …“<br />

„Ob es möglich ist, Zeitreisen zu machen“, ergänzt Rosalie.<br />

„Vielleicht nicht gerade eine Zeitreise, aber die Zeit anhalten<br />

zu können, wäre schon irgendwie cool.“<br />

„Das glaubt ihr doch selbst nicht“, wirft Lily ein. „Ihr seid<br />

beide zu alt für Märchen und Zauberei.“<br />

246


Rosalie legt alle drei Amulette nun entknotet nebeneinan<strong>der</strong><br />

aufs Sofa. Im fahlen Lichtschimmer sehen sie mystisch aus.<br />

„Es hat ja auch nicht funktioniert“, gebe ich zu. „Ich habe sie<br />

auf die Sekunde genau eingestellt und versucht, sie möglichst<br />

gleichzeitig anzuhalten.“<br />

„So kann es auch gar nicht funktionieren“, bemerkt Lily<br />

scharfsinnig. „Es müssen drei Personen sein, die sich gleichzeitig<br />

in einem Raum befinden und die drei Uhren anhalten.“<br />

„Ich dachte, du glaubst nicht daran, du Schlaumeierin“,<br />

erwi<strong>der</strong>e ich amüsiert.<br />

Sie greift nach dem Bärenamulett und klappt es auf, um die<br />

Uhr zu betrachten.<br />

„Nicht Personen“, bemerkt Rosalie, „es müssen Freunde sein.“<br />

„Was?“ Ich schaue sie verwun<strong>der</strong>t an.<br />

„Ich meine, wer immer diesen Brief geschrieben hat, sprach<br />

von drei Freunden, die sich gegenseitig vertrauen, wie Jonathan,<br />

Romilda und Vincent eben.“<br />

„Wieso glaubst du, haben sie einan<strong>der</strong> vertraut?“, frage ich sie.<br />

„Sie haben einen <strong>Geheimbund</strong> gegründet“, erklärt Lily. „Sie<br />

hatten offensichtlich ihre Freundschaft mit diesem <strong>Geheimbund</strong><br />

besiegelt. Es gab Geheimnisse, Eifersucht und Vertrauens brüche,<br />

aber sie haben ihre Probleme miteinan<strong>der</strong> geteilt.“<br />

„Ich würde auch gern einem <strong>Geheimbund</strong> beitreten“, meint<br />

Rosalie.<br />

„Meine Freunde würde ich nicht mit meinen Problemen<br />

nerven“, überlege ich laut. „Es interessiert keinen von denen.<br />

Die haben alle genug eigene Probleme.“<br />

„Ein Grund mehr, finde ich. Du kannst von den Problemen<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en lernen o<strong>der</strong> sie können dir helfen, deine Probleme<br />

zu lösen“, sagt Lily.<br />

247


„Ich glaube kaum, dass mir einer von denen helfen kann, wenn<br />

ich wie<strong>der</strong> mal beim Training fehlen muss, um meiner kleinen<br />

Schwester bei den Hausaufgaben zu helfen“, wi<strong>der</strong>spreche ich.<br />

„Meine Mutter ist dauernd am Arbeiten, seit mein Vater ausgezogen<br />

ist. Das ist echt ätzend. Allerdings war es noch ätzen<strong>der</strong>, als<br />

er noch zu Hause wohnte, weil sie sich dauernd gestritten haben.“<br />

„Meine Eltern sind nicht getrennt“, sagt Rosalie. „Trotzdem<br />

ist Papa nie daheim. Maman streitet deshalb dauernd mit mir.<br />

Es ist ja sonst keiner da, den sie kritisieren kann. Ich bin froh,<br />

wenn sie oft und lange arbeitet, dann hab ich immerhin meine<br />

Ruhe. Und nun bin ich hier ohne meine Eltern.“<br />

„Warum bist du überhaupt hier? Ich meine, das ist ja toll,<br />

aber ist es nicht seltsam, dass deine Eltern dich plötzlich bei<br />

deinen Verwandten wohnen lassen?“<br />

„Ich bin abgehauen“, sagt Rosalie. „Es war meine Entscheidung.<br />

Ich wollte etwas herausfinden.“<br />

„Und hast du es herausgefunden?“, frage ich. Sie zuckt mit<br />

den Achseln.<br />

„Keine Ahnung“, sagt sie dann. „Ich habe das Gefühl, das es<br />

noch nicht vorbei ist.“<br />

„Was sollte denn vorbei sein?“, fragt Lily.<br />

„Na die Geheimnisse. Du hast doch selbst gehört, was Olivia<br />

gesagt hat. Jemand spielt mir übel mit.“<br />

Lily seufzt bei dem Gedanken.<br />

„Eltern haben manchmal keine Ahnung, was sie uns antun.<br />

Kann gut sein, dass sie deine Hilfe bald mehr brauchen, als du<br />

ihre.“<br />

248


Romilda<br />

„Was haben deine Eltern gesagt?“, fragt Vincent besorgt.<br />

„Sie sagten das, was zu erwarten war“, erwi<strong>der</strong>e ich, „plus<br />

das, was wir befürchtet haben. Alles in allem ist es nur ein<br />

Gewittersturm aus enttäuschten Erwartungen und geplatzten<br />

Träumen. Das macht ganz schön Lärm, geht aber vorüber.“<br />

„Was ist mit deinen Träumen?“, fragt er weiter.<br />

„Die sind noch immer da“, muss ich zugeben, seufze aber, als<br />

ich sein Gesicht sehe. „Daran wird auch <strong>der</strong> stärkste Kirschlikör<br />

nichts än<strong>der</strong>n. Du hast es immer gewusst. Es war nicht<br />

mein Traum und auch nicht deiner, es war lediglich <strong>der</strong> unserer<br />

Eltern, den wir weiterzuträumen versuchten.“<br />

„Du hast recht.“ Vincent überlegt lange, bevor er seinen<br />

nächsten Vorschlag macht. „Du sollst deinen Traum leben, ich<br />

kann es nicht. Er liebt dich. Er hat dich immer geliebt und mich<br />

hat er als Freund und Vorgesetzten respektiert.“<br />

„Er liebt auch dich“, versichere ich ihm, „nur nicht auf die<br />

Weise, die du dir erhofft hast.“<br />

„Ich weiß“, sagt er. „Deshalb bitte ich dich um einen Gefallen.“<br />

„Du weißt, ich schulde dir mehr als mein Leben“, erwi<strong>der</strong>e<br />

ich, ohne zu zögern. „Nichts, um was du mich bittest, könnte<br />

ich dir verwehren.“<br />

„Diesmal ist es ein egoistisches Anliegen“, beginnt er.<br />

„Auch dann“, bestärke ich ihn.<br />

„Also gut.“ Vincent zittert leicht beim Zurechtlegen <strong>der</strong><br />

folgenden Worte. „Ich möchte Pauline als eine Berchtold<br />

behalten. Ich möchte, dass sie weiterhin vor dem Gesetz und<br />

dem Urteil <strong>der</strong> Gesellschaft als meine rechtmäßige Tochter<br />

angesehen wird. Es wird ihr in finanzieller Hinsicht einen<br />

249


großen Vorteil bringen und mir einen legitimen Platz in ihrer<br />

Weltordnung sichern. Natürlich soll sie, wenn sie alt genug ist,<br />

die <strong>Wahrheit</strong> und die Umstände, die dazu führten, erfahren.<br />

Aber bis dahin lass bitte die Kirche im Dorf.“<br />

„Ich bin einverstanden“, sage ich. „Sie ist ein Glückskind.<br />

Sie hat drei Elternteile, die sie lieben und beschützen. Sie hat<br />

Wurzeln und eine interessante Geschichte, die sie zu etwas ganz<br />

Beson<strong>der</strong>em machen.“<br />

„Jonathan wird es nicht gefallen“, äußert Vincent seine<br />

Befürchtung.<br />

„Er wird es akzeptieren. Schließlich hat er den <strong>Geheimbund</strong><br />

für uns geschaffen.“<br />

„Deinen Eltern wird es sicher auch nicht gefallen.“<br />

„Das hingegen würde ich nicht behaupten. Diese Tatsache<br />

wie<strong>der</strong>um könnte den geplatzten Traum beiseite wischen, um<br />

einem neuen Platz zu schaffen.“<br />

Er lächelt bei meiner treffsicheren Einschätzung.<br />

„Du könntest recht haben. Übrigens habe ich heute Morgen in<br />

einem Buch meines Vaters einen Königstiger gesehen. Eines Tages<br />

werde ich einen solchen beschaffen und unser Garten soll ein<br />

öffentlicher Tierpark werden, <strong>der</strong> allen Kin<strong>der</strong>n Freude bereitet.“<br />

„Das ist eine wun<strong>der</strong>volle Idee, Vincent.“<br />

Rosalie<br />

„Was ist nun mit <strong>der</strong> <strong>Wahrheit</strong>?“, frage ich.<br />

„Was meinst du?“, entgegnet Joel. „Ich habe nicht aus Falschheit<br />

gelogen. Ich habe doch eben erzählt, was mich dazu ver-<br />

250


anlasst hat. Ich habe mich einfach sicherer gefühlt, als du nicht<br />

wusstest, wer ich wirklich bin. Ich wusste eben nicht, ob ich dir<br />

vertrauen konnte.“<br />

„Davon rede ich doch nicht“, entgegne ich. Jungs sind<br />

einfach begriffsstutzig, was solche Dinge angeht. „Ich meine,<br />

gründen wir nun einen <strong>Geheimbund</strong> <strong>der</strong> <strong>Wahrheit</strong>?“<br />

„Wir können es versuchen“, sagt Lily. „Wir haben inzwischen<br />

schon einiges über die <strong>Wahrheit</strong> erfahren.“<br />

„Ich hoffe, dass ein paar Sachen davon unter uns bleiben<br />

können“, fügt Joel an. „Nennen wir es also <strong>Geheimbund</strong>.“<br />

„Dann lasst uns auch die <strong>Wahrheit</strong> über die Zeit aufdecken“,<br />

schlage ich vor.<br />

„Du willst also wirklich versuchen, die Zeit anzuhalten“, stellt<br />

Lily amüsiert fest und lässt eines <strong>der</strong> Amulette im Kreis pendeln.<br />

„Warum nicht?“, entgegne ich. „Wir sind drei Freunde, hier<br />

sind drei Amulette, wir sind ein <strong>Geheimbund</strong>. Es könnte funktionieren.“<br />

„Und wenn’s nicht klappt?“, will Lilly wissen. „Sind wir dann<br />

nicht die richtigen Freunde?“<br />

„Dann liegt es an deinem mangelnden Vertrauen in unsere<br />

magischen Fähigkeiten“, spottet Joel. Als er aber meine<br />

zusammen gezogenen Augenbrauen bemerkt, fügt er bereitwillig<br />

an: „Wir müssen es eben auf einen Versuch ankommen lassen.“<br />

Wir betrachten alle drei die Amulette, die wie<strong>der</strong> nebeneinan<strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> Mitte des alten Sofas liegen.<br />

„Du nimmst sicher die Eule, Rosalie“, stellt Lily fest. „Du hast<br />

sie gefunden und sie passt zu dir.“<br />

Ich lächle und ziehe mir die Kette über.<br />

„Obwohl <strong>der</strong> Fuchs auch passend wäre“, bemerkt Joel. „Ich<br />

meine nur, passend zu deinen Haaren.“<br />

251


„<strong>Der</strong> Fuchs ist dein Tier, Lily“, sage ich, „weil du so schlau bist.“<br />

„Ich hätte eigentlich lieber den Bären“, seufzt sie. „Ein starkes<br />

Tier, das vor niemandem Angst hat.“<br />

„Dann nimm doch den Bären“, sagt Joel. „Es ist okay. Ich<br />

mag den Fuchs lieber. Schlauheit und ein bisschen List, finde<br />

ich, passen besser zu mir, als so ein riesiges, zottiges Ungetüm.“<br />

Er macht sich groß und brummt einen undefinierbaren Laut, <strong>der</strong><br />

eher nach einem alten Elch klingt.<br />

Sie knufft ihn in die Seite und er versucht, sie abzuwehren,<br />

was zu einem Gerangel auf dem Sofa führt.<br />

„Hört auf damit“, sage ich plötzlich.<br />

„Was ist denn los?“, fragt Joel. „Das war nur Spaß.“<br />

„Schhhhhh“, sage ich und ein Schauer läuft mir über den<br />

Rücken. „Hört ihr das?“<br />

„Was denn?“, fragt Lily.<br />

„Ich schaue lieber nach“, sage ich. Schnell schlüpfe ich durch<br />

das Scheunentor in den Garten. Joel folgt mir. Hinter <strong>der</strong> Hecke<br />

verborgen sehen wir, wie ein Taxi vor unserer Haustür steht und<br />

Max mit jemandem spricht, <strong>der</strong> noch darin sitzt.<br />

„Oh nein, ich sollte besser gehen“, flüstert Joel leise und<br />

schaut sich nach einem Fluchtweg um.<br />

„Bleib hier, bitte“, flüstere ich und bemerke plötzlich, dass ich<br />

seine Hand halte. „Er kann uns nicht sehen.“<br />

Joels Hand zuckt leicht zusammen, als Max sich vom Wagen<br />

löst und sich umdreht. Ich schließe meine Finger fester um seine,<br />

damit er sich beruhigt.<br />

„Danke fürs Nachhausebringen“, sagt Max und macht ein<br />

Zeichen <strong>der</strong> Verabschiedung.<br />

Die Tür des Taxis fällt zu und es fährt los. Wer zum Henker<br />

fährt da weg? Mit wem war Max bis tief in die Nacht unterwegs?<br />

252


Mit einem plötzlichen Ruck kommt das Taxi zum Stehen und<br />

die Tür geht erneut auf.<br />

„Max“, ertönt eine mir bekannte Stimme. „Deine Jacke.“<br />

Max dreht sich um und aus dem Auto erscheint <strong>der</strong> Kopf von<br />

Papa. Ich bin wie erstarrt. Ich drücke Joels Hand so fest, dass er<br />

mich anstupst.<br />

„Das ist Papa“, flüstere ich überwältigt. „Er hat mich also<br />

nicht vergessen.“<br />

„Natürlich nicht“, flüstert Joel zurück. „Warum sollte er dich<br />

denn vergessen haben?“<br />

„Was will er hier?“, frage ich Joel, ohne von ihm wirklich eine<br />

Antwort zu erwarten.<br />

„Er ist extra hergekommen, um zu sehen, ob es dir gut geht.<br />

Um dir zu sagen, dass er dich vermisst und dass du toll bist, ein<br />

mutiges Mädchen und … dass er dich liebt.“<br />

Er sieht mich an und ich halte immer noch seine Hand.<br />

Es ist mitten in <strong>der</strong> Nacht, denke ich. Das ergibt doch keinen<br />

Sinn. Aber <strong>der</strong> ganze Augenblick ist so unwirklich, dass es im<br />

Moment völlig egal ist. Papa ist in <strong>der</strong> Stadt. Er wird schon nicht<br />

abreisen, ohne mich gesehen zu haben, und Joel ist hier. Hier<br />

mit mir und ich halte seine Hand. Ich bin überglücklich.<br />

Joel beugt sich zu mir vor und ohne weiter zu überlegen,<br />

küssen wir uns.<br />

„Wo seid ihr?“, hören wir Lily durch die Nacht zischen.<br />

Schnell lösen wir uns voneinan<strong>der</strong> und tun so, als wäre nichts<br />

Beson<strong>der</strong>es vorgefallen. Dann gehen wir zurück in die Scheune.<br />

„Was ist nun mit unserem Experiment?“, fragt Lily und lässt<br />

ihr Bärenamulett über die Briefe kreisen. Ich möchte Romildas<br />

Geschichte gern überprüfen. Ich bin sicher, dass sie diesen Brief<br />

geschrieben hat.“<br />

253


„Also gut. Stellen wir uns da drüben hin“, bestimme ich, um<br />

endlich zur Tat zu schreiten.<br />

Wir stellen uns im Kreis auf, alle drei mit den noch nicht<br />

aufgeklappten Amuletten in den Händen, und warten auf eine<br />

weitere Anweisung. Es erfolgt jedoch keine. Nach ein paar endlos<br />

scheinenden Sekunden blicken wir uns an, verwun<strong>der</strong>t über die<br />

plötzliche Verän<strong>der</strong>ung im Raum. Die ersten Sonnenstrahlen<br />

des anbrechenden Morgens dringen lautlos durch die Blätter <strong>der</strong><br />

Bäume und durch die trüben Fensterscheiben ins Innere <strong>der</strong> alten<br />

Scheune. Glitzernde Lichtreflexe tanzen unbekümmert über den<br />

staubigen Dielenboden und umspielen unsere Fußspitzen.<br />

„Wartet“, sage ich unvermittelt.<br />

„Worauf?“, fragt Joel verwun<strong>der</strong>t.<br />

„Habt ihr das eben auch gespürt?“, fragt Lily.<br />

„Genau das meine ich“, antworte ich. „Ich glaube, ich habe es<br />

soeben begriffen.“<br />

„Was denn jetzt?“, fragt Joel. „Halten wir nun die Zeit an<br />

o<strong>der</strong> nicht?“<br />

„Das brauchen wir gar nicht.“ Ich strahle ihn an, als hätte<br />

nicht nur <strong>der</strong> neue Tag gerade aufgeleuchtet. „Ich weiß jetzt, was<br />

Romilda gemeint hat mit den gestohlenen und den verlorenen<br />

Stunden. Wir haben uns heute Nacht ein paar Stunden gestohlen.<br />

Stunden, die wir hätten zu Hause verbringen sollen. Irgendwann<br />

werden wir auch ein paar wie<strong>der</strong> verlieren. Das spielt aber keine<br />

Rolle, denn wir haben eben bewiesen, dass wir die Zeit doch beeinflussen<br />

können.“<br />

„Wie denn?“, fragt Lily.<br />

„Die Nacht ist um und wir haben es gar nicht mitbekommen.<br />

Wir waren so beschäftigt, uns gegenseitig unsere Geschichten<br />

zu erzählen, dass die Zeit sich davongeschlichen hat und eben<br />

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erst zurückgekehrt ist, als wir beschlossen haben, sie wie<strong>der</strong> zu<br />

beachten. Das ist das Geheimnis <strong>der</strong> Zeit: Obschon sie vergeht,<br />

kommt sie doch immer wie<strong>der</strong>.“<br />

„Wow“, sagt Joel. „Mir kommt es vor, als kennen wir uns<br />

schon seit einer Ewigkeit. Wir haben sie also überlistet.“<br />

Er lächelt zufrieden, als er sein Fuchsamulett unter seinem<br />

Pulli verschwinden lässt, und öffnet die Scheunentür, um den<br />

Rest <strong>der</strong> Zeit auch noch hereinzulassen.<br />

255


twitter.com/hi_emmapage<br />

facebook.com/hi.emma.page<br />

Emma Page<br />

lebt mit ihrer Familie in Bern und in Nizza.<br />

Neben ihrer Tätigkeit als freie Werbetexterin<br />

schreibt sie verschiedene Kin<strong>der</strong>- und Jugendbücher.<br />

Als leidenschaftliche Sammlerin von sinneswandelnden<br />

Bil<strong>der</strong>n und fantastischen Ideen<br />

sucht sie auch immer nach neuen Wörtern,<br />

die sie sich oftmals selber ausdenkt. Wenn<br />

sie nicht schreibt, beobachtet sie die Welt aus<br />

unterschiedlichen Perspektiven und Winkeln.<br />

Da hilft es auch, wenn man ab und zu den<br />

Standort wechselt. Am Meer ist die Luft klar,<br />

dafür die Sprache undeutlicher. Das schärft<br />

die Sinne – ein guter Ansatz für neue Geschichten,<br />

findet sie.


68 Seiten<br />

Ab 12 Jahren<br />

ISBN<br />

978-3-9524167-5-4<br />

ROSALIE DEVILLE<br />

Zwischen Zeit & Raum. Gedichte<br />

Romilda Darkling hat sich viele Gedanken zu den abstrakten Dingen<br />

des alltäglichen Lebens gemacht. Was sie einst in ihr Notizbuch schrieb,<br />

um sich über Jonathan, Vincent und die Zeit, in <strong>der</strong> sie lebte, klar zu werden,<br />

hat nichts an Relevanz in Rosalies o<strong>der</strong> eventuell auch in deinem Leben<br />

verloren.<br />

Mehr Infos unter: www.rosaliedeville.ch<br />

SONNEN<br />

WERBUNG & VERLAG


204 Seiten<br />

Ab 6 Jahren<br />

ISBN<br />

978-3-9524167-0-9<br />

MILLIE WIESENGROSS.<br />

Von Kühen und an<strong>der</strong>en Exoten. Band 1<br />

Millie Wiesengross ist klein, neugierig und entschlossen. Das ist eigentlich<br />

nichts Beson<strong>der</strong>es, denn die meisten Kin<strong>der</strong> sind das auch. Aber Millie ist<br />

außerdem eine Kuh, arbeitet in einem Zoo und hat einen Tiger zum Freund.<br />

So ein Quatsch werden manche denken, eine Kuh frisst doch den ganzen<br />

Tag nur Gras und steht auf <strong>der</strong> Wiese herum. Geschichten über Wölfe sind<br />

viel spannen<strong>der</strong>. Nicht, wenn man <strong>der</strong> böse Wolf sein muss und nur ab und<br />

zu ein Geißlein o<strong>der</strong> eine alte Großmutter fressen darf.<br />

Mehr Infos unter: milliewiesengross.ch<br />

SONNEN<br />

WERBUNG & VERLAG


104 Seiten<br />

Ab 6 Jahren<br />

ISBN<br />

978-3-9524167-2-3<br />

MILLIE WIESENGROSS.<br />

Kuhlinarische Geheimnisse. Band 2<br />

Wenn eine Kuh anfängt Kochrezepte mit einer Ziege auszutauschen, und<br />

ein kleines Huhn lieber eine Suppe kocht, als sie auszulöffeln, dann ist<br />

sicher etwas Ausgekochtes im Gange. Alles Quatsch mit Sauce, denkt ihr?<br />

Dann habt ihr dieses Lesefutter noch nicht probiert. Rezepte werden nicht<br />

nur von Ärzten verschrieben und von Hobbyköchen gesammelt. Es gibt<br />

immer wie<strong>der</strong> Rezepte, die tatsächlich erlebt wurden. Millie war Zeugin und<br />

Olivia hat sie selber auf Leber und Nieren getestet.<br />

Mehr Infos unter: milliewiesengross.ch<br />

SONNEN<br />

WERBUNG & VERLAG


204 Seiten<br />

Ab 8 Jahren<br />

ISBN<br />

978-3-9524167-6-4<br />

PLUTO TRAWELL<br />

Am Rand des Universinns. Band 1<br />

Plutos Welt ist we<strong>der</strong> in einer an<strong>der</strong>en Dimension noch in einer ande ren<br />

Galaxie. Das Einzige, was Pluto von einem durchschnittlichen zwölf jährigen<br />

Jungen unterscheidet, ist die Zeit in <strong>der</strong> er lebt. Ein Detail, das erst bei einer<br />

Zeitreise so richtig ins Auge fällt. Was passiert, wenn man eine zufällige<br />

Zahlenkombination einfach ausprobiert? Man könnte im Lotto gewinnen,<br />

wenn man Glück hat, o<strong>der</strong> nach Honolulu telefonieren, wenn man die richtige<br />

Vorwahl kennt ... Wenn sich aber plötzlich ein Wurmloch öffnet, gerät die<br />

Zukunft ganz schön aus <strong>der</strong> Umlaufbahn.<br />

Mehr Infos unter: plutotrawell.ch<br />

SONNEN<br />

WERBUNG & VERLAG


Die vierzehnjährige Rosalie verbringt ihr Leben<br />

zwischen den Welten. Ob in Paris o<strong>der</strong> Bern,<br />

in <strong>der</strong> Realität o<strong>der</strong> im Bann <strong>der</strong> Worte aus<br />

einer vergangenen Zeit – diese Romanserie verbindet das<br />

Un wahrscheinliche mit dem Alltäglichen eines Teenagerdaseins.<br />

Während sie so einiges findet, wie zum Beispiel ein<br />

mysteriöses Amulett o<strong>der</strong> zwei neue Freunde, verliert sie<br />

aber auch beinahe den Verstand. Plötzlich ist nichts mehr,<br />

wie es einmal war – ihre ganze Verwandtschaft stellt sich<br />

quer. Selbst die Zeit hat es auf sie abgesehen und sie muss es<br />

tapfer mit verschiedenen Vergangenheiten aufnehmen.<br />

„Humorvoll<br />

& intelligent<br />

erzählt Emma Page über<br />

das Erwachsenwerden.“<br />

Dr. Gregor Ohlerich<br />

Literaturwissenschaftler, Berlin<br />

SONNEN<br />

WERBUNG & VERLAG

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