INTERVIEW Vom Leben und Lesen abseits der Normen Martin »Du lachst dich schlapp«, meinte ein Bekannter, der den neuen Roman von Georg Meier be- reits gelesen hatte. Und er hatte recht. »Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung« ist nicht nur eine respektlos-freche Hommage an Elvis Presley, sondern auch eine ziemlich schräge Story aus dem Deutschen Herbst 1977. Der Held kommt aus dem Gefängnis und stolpert von einer irrwitzigen Situation in die nächste. Man darf vermuten, dass der in Gießen geborene Schriftsteller Georg Meier auch hier wieder so manche Episode aus dem eigenen Leben hat einfließen lassen. Da ging’s nämlich auch recht wild zu. Wie bei seinem letzten Roman geht Meier mit dem Schauspieler Martin Semmelrogge auf Lesetour. Am 18. September liest Sem- melrogge in der Aula der Friedberger Augustinerschule, am 20. September folgt ein Auftritt im Kulturzentrum Bezalel Synagoge in Lich. Der »streifzug« hat mit Semmelrogge übers Lesen, das Schauspielern und das Leben schlechthin gesprochen. 8 streifzug 9/2012 Semmelrogge: der Mann mit der markanten Stimme. Fotos: Dittrich-Verlag
Herr Semmelrogge, der zweite große deutsche Vorleser, der über eine unverwechselbare Stimme verfügt, Harry Rowohlt, hat seine Stimme im Gespräch mit dem »Streifzug« als »lyrisch-timbrierten Kavaliersbariton« bezeichnet. Wie würden Sie Ihre Stimme einordnen? Meine Stimme ist wie ich, sie lässt sich nirgends einordnen... Ihre Stimme war schon immer sehr markant. Schon in der ersten Verfilmung der »Vorstadtkrokodile« von 1977 haben Sie für Angst und Schrecken gesorgt, wenn Sie auftauchten. Kann man diese Stimme trainieren? Ich empfinde meine normale Gesprächs- Stimme gar nicht als so furchteinflößend. Meist muss ich auf Anweisung der jeweiligen Regisseure noch mal extra »draufdrücken«, damit ich so klinge, wie man es von mir kennt. Das erfordert in der Tat manchmal ein immenses Training. Aber eigentlich bin ich dankbar für meine außergewöhnliche Stimme, denn ich darf damit tolle Charaktere sprechen und spielen. Was macht Lesekunst aus Ihrer Sicht aus? Einfach nur ein paar Kapitel aus einem Buch vorlesen, damit ist es ja nicht getan. Nein, das Vorlesen ist eine echte Kunst... und in erster Linie ist es harte Arbeit und erfordert große Vorbereitung. Man muss den Text so rüberbringen, als wäre man genau in der Situation, dächte genau die Gedanken, fühlte denselben Schmerz, die gleiche Freude, kurzum, man muss die Zuhörer eintauchen lassen in die Geschichte, die der Text erzählt. Dazu ist es notwendig, selber in der Geschichte aufzugehen, sich in Charaktere und deren Gedanken hineinzuversetzen. Und man darf sich diese Anstrengung keineswegs anmerken lassen, jede Nervosität springt sofort aufs Publikum über. Ich war vor ein paar Jahren auf Lesetour mit einem Hip-Hopper, der hat toll gelesen, aber er konnte nicht still sitzen, weil er gewohnt war, mit dem ganzen Körper zu performen. Da mussten wir extra eine schwarze Decke über unser Pult legen, damit die Zuhörer seine »Beinarbeit« nicht sahen und zu lachen anfingen. Von einem Schauspieler wird eine Show erwartet, was freilich vom Eigentlichen ablenkt, dem Buch. Nein, das denke ich nicht. Wenn ich eine Lesung gebe, kommen 90 Prozent der Zuhörer wegen des jeweiligen Buches und mein Name dient nur, um das »Event« zu promoten. Habe auch schon erlebt, dass sogenannte Fans vor der Halle standen und dann aber gar nicht in die Veranstaltung wollten. Also, kurzum, wer eine Show erwartet, geht in der Regel nicht in Lesungen, und umgekehrt gilt genauso, dass Literaturfreunde gar nicht wollen, dass man sich als Vorleser in den Mittelpunkt stellt. Sie waren schon einmal mit Georg Meier auf Lesetour. Jetzt lesen sie aus »Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung«. Was gefällt Ihnen an den Büchern Meiers? Georgs Bücher sind ja so was wie Tatsachenromane. Dabei fließen seine skurrilen Erfahrungen mit ein, aber auch seine blühende Fantasie. Manche Geschichten hat er zweifellos selber erlebt, manchmal übertreibt er aber auch ... oder vielleicht auch nicht? Man weiß es nicht. Was ich an den großen amerikanischen Autoren so liebe, sind die kultigen Beschreibungen des Lebens in der Provinz, und das sind dann solche Bücher, aus denen die berühmten »Road Movies« werden. Dass z.B. in der Wetterau ungeheuer spannende Dinge passieren, kann man sich zunächst mal gar nicht vorstellen ... aber Georg ist ein guter Beobachter und Zuhörer, und er hat auch eine herrliche, latente Boshaftigkeit. Am liebsten würde ich »Das Jahr der wundersamen Elvis-Vermehrung« verfilmen, am besten mit den Coen-Brüdern als Regisseure, also so eine Art deutsches »Fargo« oder »Fear & Loathing in Bad Nauheim«. Die Menschen sind doch überall gleich, ob in Las Vegas oder in Friedberg, man muss nur hinhören und beobachten, Zerreißprobe. INTERVIEW dann kann auch die Wetterau echt »kultig« sein. Wieso liest der Autor nicht selbst? Das tun und können die wenigsten Autoren, zum einen erzielt eine Lesung natürlich auch mehr Aufmerksamkeit, wenn ein bekannter Künstler vorträgt; zum anderen hat, ich will nicht drum herumreden, Georg Meier einen kleinen Sprachfehler, er stottert etwas. Einerseits behindert so was ja einen Menschen, andererseits ist das vielleicht auch was, was ihm die Gabe des Genauhinschauens und des Schreibens ermöglicht hat. Bei ihm fließt die Sprache in die Feder oder besser in die Tasten, und da ist er wirklich genial. Georg Koch vereint skurrile Erlebnisse und blühende Fantasie. 9/2012 streifzug 9