STREIFZUG - Wetterauer Zeitung
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Herr Semmelrogge, der zweite große deutsche<br />
Vorleser, der über eine unverwechselbare<br />
Stimme verfügt, Harry Rowohlt, hat<br />
seine Stimme im Gespräch mit dem »Streifzug«<br />
als »lyrisch-timbrierten Kavaliersbariton«<br />
bezeichnet. Wie würden Sie Ihre<br />
Stimme einordnen?<br />
Meine Stimme ist wie ich, sie lässt sich nirgends<br />
einordnen...<br />
Ihre Stimme war schon immer sehr markant.<br />
Schon in der ersten Verfilmung der »Vorstadtkrokodile«<br />
von 1977 haben Sie für Angst<br />
und Schrecken gesorgt, wenn Sie auftauchten.<br />
Kann man diese Stimme trainieren?<br />
Ich empfinde meine normale Gesprächs-<br />
Stimme gar nicht als so furchteinflößend.<br />
Meist muss ich auf Anweisung der jeweiligen<br />
Regisseure noch mal extra »draufdrücken«,<br />
damit ich so klinge, wie man es von<br />
mir kennt. Das erfordert in der Tat manchmal<br />
ein immenses Training. Aber eigentlich<br />
bin ich dankbar für meine außergewöhnliche<br />
Stimme, denn ich darf damit tolle Charaktere<br />
sprechen und spielen.<br />
Was macht Lesekunst aus Ihrer Sicht aus?<br />
Einfach nur ein paar Kapitel aus einem<br />
Buch vorlesen, damit ist es ja nicht getan.<br />
Nein, das Vorlesen ist eine echte Kunst...<br />
und in erster Linie ist es harte Arbeit und erfordert<br />
große Vorbereitung. Man muss den<br />
Text so rüberbringen, als wäre man genau<br />
in der Situation, dächte genau die Gedanken,<br />
fühlte denselben Schmerz, die gleiche<br />
Freude, kurzum, man muss die Zuhörer<br />
eintauchen lassen in die Geschichte, die<br />
der Text erzählt. Dazu ist es notwendig, selber<br />
in der Geschichte aufzugehen, sich in<br />
Charaktere und deren Gedanken hineinzuversetzen.<br />
Und man darf sich diese Anstrengung<br />
keineswegs anmerken lassen, jede<br />
Nervosität springt sofort aufs Publikum<br />
über.<br />
Ich war vor ein paar Jahren auf Lesetour mit<br />
einem Hip-Hopper, der hat toll gelesen,<br />
aber er konnte nicht still sitzen, weil er gewohnt<br />
war, mit dem ganzen Körper zu performen.<br />
Da mussten wir extra eine schwarze<br />
Decke über unser Pult legen, damit die<br />
Zuhörer seine »Beinarbeit« nicht sahen und<br />
zu lachen anfingen.<br />
Von einem Schauspieler wird eine Show<br />
erwartet, was freilich vom Eigentlichen ablenkt,<br />
dem Buch.<br />
Nein, das denke ich nicht. Wenn ich eine<br />
Lesung gebe, kommen 90 Prozent der Zuhörer<br />
wegen des jeweiligen Buches und<br />
mein Name dient nur, um das »Event« zu<br />
promoten. Habe auch schon erlebt, dass<br />
sogenannte Fans vor der Halle standen und<br />
dann aber gar nicht in die Veranstaltung<br />
wollten. Also, kurzum, wer eine Show erwartet,<br />
geht in der Regel nicht in Lesungen,<br />
und umgekehrt gilt genauso, dass Literaturfreunde<br />
gar nicht wollen, dass man sich als<br />
Vorleser in den Mittelpunkt stellt.<br />
Sie waren schon einmal mit Georg Meier<br />
auf Lesetour. Jetzt lesen sie aus »Das Jahr<br />
der wundersamen Elvis-Vermehrung«. Was<br />
gefällt Ihnen an den Büchern Meiers?<br />
Georgs Bücher sind ja so was wie Tatsachenromane.<br />
Dabei fließen seine skurrilen<br />
Erfahrungen mit ein, aber auch seine blühende<br />
Fantasie. Manche Geschichten hat er<br />
zweifellos selber erlebt, manchmal übertreibt<br />
er aber auch ... oder vielleicht auch<br />
nicht? Man weiß es nicht. Was ich an den<br />
großen amerikanischen Autoren so liebe,<br />
sind die kultigen Beschreibungen des Lebens<br />
in der Provinz, und das sind dann solche<br />
Bücher, aus denen die berühmten<br />
»Road Movies« werden.<br />
Dass z.B. in der Wetterau ungeheuer spannende<br />
Dinge passieren, kann man sich zunächst<br />
mal gar nicht vorstellen ... aber Georg<br />
ist ein guter Beobachter und Zuhörer,<br />
und er hat auch eine herrliche, latente Boshaftigkeit.<br />
Am liebsten würde ich »Das Jahr<br />
der wundersamen Elvis-Vermehrung« verfilmen,<br />
am besten mit den Coen-Brüdern als<br />
Regisseure, also so eine Art deutsches »Fargo«<br />
oder »Fear & Loathing in Bad Nauheim«.<br />
Die Menschen sind doch überall<br />
gleich, ob in Las Vegas oder in Friedberg,<br />
man muss nur hinhören und beobachten,<br />
Zerreißprobe.<br />
INTERVIEW<br />
dann kann auch die Wetterau echt »kultig«<br />
sein.<br />
Wieso liest der Autor nicht selbst?<br />
Das tun und können die wenigsten Autoren,<br />
zum einen erzielt eine Lesung natürlich<br />
auch mehr Aufmerksamkeit, wenn ein<br />
bekannter Künstler vorträgt; zum anderen<br />
hat, ich will nicht drum herumreden, Georg<br />
Meier einen kleinen Sprachfehler, er stottert<br />
etwas. Einerseits behindert so was ja einen<br />
Menschen, andererseits ist das vielleicht<br />
auch was, was ihm die Gabe des Genauhinschauens<br />
und des Schreibens ermöglicht<br />
hat. Bei ihm fließt die Sprache in die Feder<br />
oder besser in die Tasten, und da ist er wirklich<br />
genial.<br />
Georg Koch vereint skurrile Erlebnisse und blühende Fantasie.<br />
9/2012 streifzug 9