barrikade # 7 - Abrechnung mit Seidmans 'Gegen die Arbeit'.pdf
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•»Zur Betrachtung der Lage in Deutschland« 1947<br />
Hans Jü rg e n Degen über Ru d o l f Roc kers Ansichten<br />
zur anarchosyndikalistischen Nachkriegs-Bewegung<br />
• Kollektivbetriebe als ‚konstruktiver Sozialismus‘ - Teil II<br />
- Karl Ro c h e und <strong>die</strong> FVdG zum Genossenschaftswesen<br />
von 1910-1914<br />
- Rezension zu »Auf dem Weg - Gelebte Utopie<br />
einer Kooperative« - der CECOSESOLA aus Venezuela<br />
• Se i d m a n s Plakat-Märchen<br />
Eine <strong>Abrechnung</strong> <strong>mit</strong> Se i d m a ns »Gegen <strong>die</strong> Arbeit«<br />
Nr. 7 • April 2012 • 4,- Euro
2<br />
Plakate der<br />
CNT │ FAI und<br />
der IAA │ AIT<br />
während der<br />
Spanischen<br />
Revolution<br />
1936-39
arrikade<br />
Die <strong>barrikade</strong>-Prinzipien:<br />
► grundsätzliche Ablehnung des nach-faschistischen Arbeitsrechts<br />
und der da<strong>mit</strong> einhergehenden Regelementierung und Unterdrückung<br />
revolutionärer Betriebsarbeit, Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung<br />
durch ein sozialpartnerschaftliches Betriebsverfassungsgesetz,<br />
Tarif-, Arbeits- und nachgeordnetes repressives Sozialrecht,<br />
► grundsätzliche Ablehnung von Betriebsrats-Arbeit und Abschluß<br />
von friedenspflichtigen Tarifverträgen, dagegen setzen wir gewerkschaftliche<br />
Betriebsgruppen, revolutionäre Vertrauens oder Obleute,<br />
Arbeiterräte und Betriebsvereinbarungen ohne Friedenspflicht,<br />
► Ziel ist der libertäre Kommunismus in Form der industriellen und<br />
kommunalen Selbstverwaltung durch ein föderalistisches, antistaatliches<br />
und antinationales Rätesystem,<br />
► der kapitalistischen Globalisierung von oben setzen wir <strong>die</strong> globale<br />
Klassensolidarität von unten entgegen – <strong>die</strong> Arbeiterklasse hat kein<br />
Vaterland, der Kampf des Proletariats ist nicht nur international, er<br />
ist antinational.<br />
Begriffsklärung:<br />
► Bar|ri|kade – ein Schutzwall im Straßenkampf, Straßensperre<br />
► Syn|di|ka|lis|mus – romanische Bezeichnung für revolutionäre Gewerkschaftsbewegung,<br />
ausgehend von der Charta von Amiens 1905<br />
und der CGT in Frankreich; Ziel ist eine sozialistische Neugestaltung<br />
der Gesellschaft auf gewerkschaftlicher Grundlage durch föderierte<br />
autonome Gewerkschaften und deren lokale Zusammenschlüsse über<br />
Arbeitsbörsen<br />
♦ Aktuelle Vertreter sind <strong>die</strong> schwedische SAC, diverse italienischen<br />
Basisgewerkschaften wie Unicobas, <strong>die</strong> spanische CGT, <strong>die</strong> französische<br />
SUD und verschiedene andere, sie bilden auch <strong>die</strong> so genannte<br />
FESAL (Europäische Förderation Alternativer Gewerkschaften) und können<br />
nicht (nicht mehr) als revolutionär bezeichnet werden.<br />
► Unio|nis|mus – revolutionärer Syndikalismus; amerikanische Variante<br />
ohne eindeutige politische Ausrichtung – Ziel ist <strong>die</strong> eine einheitlich-zentralistische<br />
Organisierung aller Arbeiterinnen und Arbeiter<br />
in Industriegewerkschaften, in Deutschland seinerzeit <strong>die</strong> Allgemeine<br />
Arbeiter-Union<br />
♦ Derzeit vertreten durch <strong>die</strong> I.W.W., der Industrial Workers of the World<br />
aus Nordamerika <strong>mit</strong> Mini-Sektionen in anderen Ländern.<br />
► Anar|cho|syn|di|ka|lis|mus – sozialrevolutionäre Bewegung auf gewerkschaftlicher<br />
Grundlage, entstanden aus der Kombination von anarchistischen<br />
Zielen und revolutionärem Syndikalismus; Ziel ist der<br />
libertäre Kommunismus in unterschiedlichen Formen<br />
♦ International vertreten durch <strong>die</strong> spanische CNT, <strong>die</strong> deutsche FAU,<br />
<strong>die</strong> italienische USI und andere Sektionen der Internationalen Arbeiter-Assoziation,<br />
der IAA.<br />
► Die höchste Stufe des revolutionären Syndikalismus ist für <strong>die</strong><br />
<strong>barrikade</strong> deshalb der Anarchosyndikalismus, da seine Ziele <strong>die</strong> am<br />
weitestgehenden sind. Da wir <strong>mit</strong> dem revolutionären Syndikalismus<br />
und Unionismus auch <strong>die</strong> Ideologien und Organisationswelt des<br />
Links- und Rätekommunismus berühren, behandeln wir <strong>die</strong>sen Themenbereich<br />
allerdings nur in inhaltlich-ideologischer Abgrenzung<br />
und zur Aufarbeitung <strong>die</strong>ser gescheiterten Konzepte der revolutionären<br />
Arbeiterbwegung. ♦<br />
impressum<br />
Herausgeber:<br />
Archiv Karl Roche<br />
Folkert Mohrhof • Grünebergstr. 81 • 22763 Hamburg • Tel./Fax: 040 - 880 11 61<br />
www.archiv-karl-roche.org ♦ www.muckracker.wordpress.com<br />
email: <strong>barrikade</strong>[at]gmx.org<br />
Abonnement: 4 Ausgaben - 15 €uro ♦ ab 5 Exemplaren Wiederverkäufer-Rabatt<br />
Empfohlener Verkaufspreis in der Kolportage: 4,-- €uro<br />
• Es gibt keine Buchpreisbindung!<br />
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V.i.S.d.P.: Folkert Mohrhof • Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht<br />
unbedingt <strong>die</strong> Meinung des Herausgebers oder Verlegers wieder •<br />
• Druck: PS-Druck, München • Auflage: 200 Exemplare<br />
Für libertären Kommunismus & Rätedemokratie<br />
Die Kritik der Waffen<br />
ersetzt niemals <strong>die</strong><br />
Waffe der Kritik<br />
„ ... es handelt sich jedoch nicht darum, <strong>die</strong> Arbeit zu befreien,<br />
sondern sie aufzuheben.“<br />
• Karl Marx - MEW 3, S. 186<br />
M oin,<br />
<strong>die</strong> Diskussion um „<strong>die</strong> Arbeit“ respektive um den angeblich<br />
kollektiven Widerstand der Arbeiterschaft Barcelonas gegen<br />
eben <strong>die</strong>se, <strong>die</strong> eine denkwürdige Konstellation aus FAU- und<br />
wildcat-Genossen im Verlag der GraswurzelRevolution vom<br />
Zaun gebrochen hat, ist bei uns auf heftigen Widerspruch gestoßen.<br />
Wer 20 Jahre verspätet eine überflüssige Übersetzung des<br />
Seidman-Buches Gegen <strong>die</strong> Arbeit herausgibt, muß sich über heftige<br />
inhaltliche Gegenwehr nicht wundern.<br />
Wir bedanken uns bei Helen Graham für <strong>die</strong> Überlassung ihrer<br />
Rezensionen zu Workers against Work und Republic of Egos.<br />
Zu unserem II. Teil über Genossenschaften und ihren Wert<br />
als Element eines ‚konstruktiven Sozialismus‘ gehört auch <strong>die</strong><br />
Rezension zum venezolanischen Genossenschaftsverband CE-<br />
COSESOLA.<br />
• Wir freuen uns aufrichtig, daß uns der Genosse Hans Jürgen<br />
Degen seinen überarbeiteten Beitrag zu Rudolf Rockers Broschüre<br />
Betrachtungen zur Lage in Deutschland (erschinen 1947)<br />
zur Verfügung gestellt hat. Wir wünschen uns möglichst bald<br />
eine Neuauflage seines hervorragendes Werkes Anarchismus in<br />
Deutschland 1945-1960 - möge es einen Verlag finden. Wir drucken<br />
<strong>die</strong>sen Beitrag als „Appetithappen“ für <strong>die</strong>ses Buch ab. -<br />
Und weil auch Rudolf Rocker seinerzeit aus den USA <strong>die</strong> Lage<br />
in Deutschland noch viel zu rosig sah: Rocker hoffte, »daß <strong>die</strong><br />
alte Führungsgarde der Gewerkschaften entweder nicht mehr<br />
lebt oder zu alt sei und setzte auf <strong>die</strong> jüngeren Kräfte, <strong>die</strong> wahrscheinlich<br />
... „aus den bitteren Erfahrungen der letzten Vergangenheit<br />
etwas gelernt haben“ und <strong>mit</strong> „reiner Lohnpolitik“ keine Politik<br />
mehr machen würden« (Degen).<br />
Der erste und letzte DGB-Generalstreik fand 1948 statt und <strong>die</strong>se<br />
Mittel des Klassenkampfes wurde 1955 durch Urteil des Bundesarbeitsgerichts<br />
in Deutschland grundsätzlich verboten.<br />
Die Redaktion<br />
<strong>barrikade</strong> # 7 - April 2012<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
Schwerpunkt:<br />
• Diskussion: Seidman und sein Gegen <strong>die</strong> Arbeit ............................ 4<br />
• Rezension von Helen Graham .......................................................... 5<br />
• D.A. de Santillán: Wirtschaftlicher Wiederaufbau ................... 9<br />
• D.A. de Santillán: Unser Werk der Neuschöpfung .............. 10<br />
• Wenn man genauer hinsieht, ist es ganz anders. ....................... 12<br />
• <strong>Seidmans</strong> Plakat-Märchen .................................................................. 17<br />
• Stalinistische Propaganda .................................................................. 20<br />
• Rezension zu <strong>Seidmans</strong> Republic of Egos ....................................... 22<br />
Karl Roche und <strong>die</strong> FVdG zu Genossenschaften 1910-1914 .... 26<br />
Über <strong>die</strong> Arbeitsbedingungen in einer SPD Genossenschaft .... 30<br />
• Protokoll der 3. Reichskonferenz der AAU 1920 ....................... 34<br />
• Noske und <strong>die</strong> Syndikalisten: Schutzhaft 1920 ........................... 39<br />
• Rudolf Rockers Betrachtungen zur Lage von 1947.................. 40<br />
Rezensionen ................................................................................................ 45<br />
Die nächste Ausgabe der <strong>barrikade</strong> erscheint im November 2012<br />
Mitstreiter/innen der <strong>barrikade</strong>: Fo l k e r t Mo h r h o f | Herausgeber • Jo n n i e Sc h l i c h t u n g | Übersetzung,<br />
Rezensent • Ha n s Jü r g e n De g e n | Autor • Ma r t i n Ve i t h | Rezensent •<br />
Ha n s Ha n f s t i n g l │ Rezensent • Helen Graham │ Rezensentin •<br />
Titelfoto: thanks to http://theanvilreview.org/ (USA) • Rückseite: Spanien 1936 │ CNT-AIT Valencia<br />
3
4<br />
Diskussion:<br />
Gegen <strong>die</strong> Arbeit?<br />
Worum es uns geht<br />
Die Diskussion um „<strong>die</strong> Arbeit“ hat zu<br />
heftigen Auseinandersetzungen geführt: <strong>die</strong><br />
Heraus-geber des Buches von Michael Seidman<br />
werfen Kritikern des Buches vor, das „wissenschaftliche<br />
Renomée“ des US-Professors Seidman<br />
in Frage zu stellen oder gar beschädigen<br />
zu wollen. Wie unsachlich lächerlich!<br />
Wer Zitate fälscht, aus dem Zusammenhang<br />
reißt und sich letztlich rühmt, keine<br />
„historische Aufarbeitung“ der Spanischen<br />
Revolution und ihrer Niederlage leisten zu<br />
wollen, der ist uns suspekt.<br />
Es ist auch mehr als bezeichnend, warum in<br />
fast keinem (!) der uns bekannten spanischen<br />
Auseinandersetzungen um <strong>die</strong> geschichtliche<br />
Bedeutung und Hintergründe des Bürgerkrieges<br />
und der Sozialen Revolution <strong>die</strong> als<br />
Buch erschienen sind - <strong>die</strong> Positionen des<br />
umtriebigen Professors Michael Seidmann<br />
übernommen wird.<br />
Aufgesetzt wirkt auch der an den Haaren herbeigezogene Zusammenhang, daß „innerhalb der FAU und der<br />
libertären Öffentlichkeit <strong>die</strong> Diskussion um Arbeiterselbstverwaltung“ einen neuen Schub erhalten haben soll, „als<br />
der Historiker Michael Seidman im Oktober 2011 anlässlich der deutschen Erstübersetzung seiner bereits 1991 unter<br />
dem Titel Workers against Work erschienenen Stu<strong>die</strong> über <strong>die</strong> Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-39“<br />
(Leitartikel in der FAU-direkte aktion # 210 vom März/April 2012) vorstellte.<br />
Wir bringen nachfolgend einige Beiträge, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> <strong>Seidmans</strong> Stu<strong>die</strong> befassen.<br />
Aber festhalten, es wird kritisch!<br />
• SEIDMANs Plakat-Märchen - <strong>mit</strong> vielen Beispielen<br />
• HELEN GRAHAMS Rezension aus der IISG-Zeitschrift International Review of Social History (1992)<br />
• Rezension von HELEN GRAHAM zu Seidman weiterem Spanien-Buch Republic of Egos (2003)<br />
• Über SEIDMANS Zitat-Manipulationen anhand von D.A. DE SANTILLÁN Originaltexten<br />
Was will Seidman wirklich? Statt <strong>die</strong> Revolution zu verteidigen, für den libertären Kommunismus zu<br />
kämpfen und dafür Plakate wie »Rettet <strong>die</strong> Produktion!« zu kleben, hätten <strong>die</strong> anarchistischen<br />
Revolutionäre wohl <strong>die</strong> Arbeiterklasse besser auffordern sollen, sich Franco zu unterwerfen und auf <strong>die</strong><br />
»schöne neue Welt« des Faschismus <strong>mit</strong> Konsum und Arbeit zu hoffen ...
arrikade sieben - April 2012<br />
» ... ein interessantes, aber zutiefst unzulängliches Buch«<br />
5<br />
Redaktionelle Vorbemerkung<br />
Helen Grahams Rezension der Originalausgabe<br />
von Michael <strong>Seidmans</strong> Buch »Gegen <strong>die</strong> Arbeit« – <strong>die</strong><br />
wir hier erstmals in deutscher Übersetzung vorlegen<br />
– erschien 1992 in der Zeitschrift des Amsterdamer<br />
Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis<br />
(IISG) [1]. Seidman erwähnt in dem Manuskript<br />
des Vortrags, den er zur Vorstellung der deutschen<br />
Übersetzung seines Buches im Oktober 2011 in verschiedenen<br />
deutschen Städten hielt, und der in der<br />
»graswurzelrevolution« und im Internet veröffentlicht<br />
wurde [2], <strong>die</strong>se Rezension in Anmerkung 8<br />
seines Vortragsmanuskripts – eigentümlicherweise<br />
aber allein im Zusammenhang <strong>mit</strong> den Ȋlteren<br />
Schwestern« einer »neue[n] Generation von Feministinnen«:<br />
<strong>die</strong>se »älteren Schwestern« hätten »dem<br />
Buch anfangs recht kritisch gegenüber gestanden«,<br />
während <strong>die</strong> »neue Generation (…) <strong>die</strong> Anerkennung<br />
zu schätzen« wußte, »<strong>die</strong> Gegen <strong>die</strong> Arbeit der besonderen<br />
Rolle der Frauen als Widerständlerinnen entgegenbrachte,<br />
insbesondere ihren hohen Fehlzeiten und ihrer<br />
relativ geringen Identifikation <strong>mit</strong> dem Arbeitsplatz«.<br />
Michael Seidman unterstellt da<strong>mit</strong> offenbar, daß<br />
Helen Grahams Kritik sich auf seine Beschreibung<br />
der Rolle der Frauen im Kampf »gegen <strong>die</strong> Arbeit«<br />
konzentrieren würde – ein Aspekt, den sie, wie hier<br />
unschwer nachzulesen ist, lediglich in ein paar Sätzen<br />
abhandelt.<br />
Karl HeinZ Roth und Marcel Van der Linden<br />
ignorieren Helen Grahams Rezension in ihrem<br />
Vorwort zu der deutschen Ausgabe [3] von <strong>Seidmans</strong><br />
Buch übrigens völlig, obwohl sie diverse Kritiken<br />
der ersten Ausgabe aus dem akademischen<br />
Spektrum anführen. Diese schätzen sie durchgängig<br />
ein als »eher ratlos« oder »Randprobleme« – wie »eine<br />
mögliche Überschätzung der Stärke der französischen<br />
Bourgeoisie oder <strong>die</strong> mangelnde Berücksichtigung komplementärer<br />
Stu<strong>die</strong>n über den Arbeiterwiderstand in der<br />
Sowjetunion« – diskutierend, oder daß sie »Anstoß<br />
an der explizit betonten Konfrontationsstellung, <strong>die</strong><br />
Seidman gegenüber den dominierenden – modernisierungstheoretischen<br />
und marxistischen – Strömungen<br />
der Arbeitergeschichtsschreibung« nehmen werden.<br />
J.S.<br />
Helen Graham<br />
» ... ein interessantes, aber<br />
zutiefst unzulängliches Buch«<br />
Rezension von<br />
• Seidman, Michael. Workers Against Work. Labor<br />
in Paris and Barcelona During the Popular Fronts.<br />
University of California Press, Berkeley 1991.399<br />
pp.<br />
Dies ist ein interessantes, aber zutiefst unzulängliches<br />
Buch. Seine Unzulänglichkeit ergibt sich aus<br />
der tatsächlichen Unvergleichbarkeit des Projektes,<br />
das für ein sehr ungleiches Niveau der Analyse<br />
sorgt. Um fair zu sein – das hier erkannte Problem<br />
hängt eng <strong>mit</strong> dem komparativen ‚Genre‘ selbst<br />
zusammen. In dem Versuch eines Vergleiches von<br />
Paris und Barcelona illustriert Michael Seidman <strong>die</strong><br />
extreme Schwierigkeit, durch Gebrauch des selben<br />
Begriffes – Volksfront – Situationen zu beschreiben,<br />
<strong>die</strong>, obwohl sie in der gleichen zeitlichen Periode<br />
existierten, sehr unterschiedliche politische<br />
Umstände und sozioökonomische Strukturen repräsentierten.<br />
Im Ergebnis erscheinen sowohl <strong>die</strong><br />
Vergleiche wie Unterscheidungen, <strong>die</strong> der Autor<br />
macht, gezwungen und manchmal schlicht banal.<br />
Die Struktur, <strong>die</strong> Dr. Seidman wählt, weist direkt<br />
auf <strong>die</strong>se Schwierigkeit hin. Wir bekommen keinen<br />
wirklicher Vergleich, sondern zwei mehr oder weniger<br />
getrennte Stu<strong>die</strong>n in einem Band. Während<br />
der Autor vergleichende Elemente in seiner Analyse<br />
der spanischen und französischen Bourgeoisie<br />
liefert, erzählt er tatsächlich zwei Geschichten, <strong>die</strong><br />
den Abgrund aufzeigen, der zwischen den beiden<br />
nationalen Erfahrungen hinsichtlich der ökonomischen<br />
Entwicklung wie der kulturellen Projekte<br />
klafft. Obwohl sie eine intelligente Synthese darstellen,<br />
illustrieren <strong>die</strong>se Abschnitte tatsächlich <strong>die</strong> offensichtliche<br />
Art und Weise, auf der <strong>die</strong> Ebenen der<br />
ökonomischen und industriellen Entwicklung eine<br />
entscheidende Determinante der kapitalistischen<br />
Praxis sind (wobei Forderungen des Staates hier<br />
eingeschlossen sind). Die unterschiedlichen Antworten<br />
der französischen und spanischen Arbeiterorganisationen<br />
wiederum demonstrieren, wie<br />
ein komplexerer Staat, der eine größere Bandbreite<br />
von verführerischen im Gegensatz zu repressiven<br />
Mitteln zur Verfügung hat, <strong>die</strong> Strategien, <strong>die</strong> bei<br />
der ökonomischen Selbstverteidigung der Arbeiter<br />
zur Anwendung kommen, bemerkenswert verändert.<br />
Die französische Strategie der Integration<br />
oder Kooptierung der Arbeit durch Konsum war<br />
aus grundlegenden ökonomischen Gründen in<br />
Spanien nicht möglich, ungeachtet reformistischer<br />
Gewerkschaftsführer. Obwohl auch im Falle Frankreichs,<br />
wie <strong>die</strong> Ereignisse um den gescheiterten<br />
Generalstreik vom 30. November 1938 demonstrieren,<br />
hinter Sozialprojekten und -gesetzgebungen<br />
<strong>die</strong> Gewalt als eine Option für Kapital und Staat<br />
bestehen blieb.<br />
Der Schwerpunkt der Stu<strong>die</strong> Michael <strong>Seidmans</strong><br />
ist, wie der Titel anzeigt, <strong>die</strong> Frage des Arbeiterwiderstandes<br />
gegen <strong>die</strong> Arbeit. Er argumentiert, daß<br />
<strong>die</strong>se Reaktion im Kern <strong>die</strong>selbe Bedeutung hat, ob<br />
sie nun im Kontext einer relativen Stabilität für das<br />
Kapital oder einem Übergangsregime des Klassengleichgewichts,<br />
wie sie <strong>die</strong> französische Volksfront<br />
war, oder ob sie sogar in einer Zeit einer potentiell<br />
radikaleren sozialen und ökonomischen Transformation,<br />
wie sie das Proletariat Barcelonas während<br />
des Krieges erlebte, stattfindet. Die ArbeiterInnen<br />
werden ohne Rücksicht auf <strong>die</strong> spezifischen historischen<br />
Bedingungen betrachtet, wie sie gegen<br />
produktivistische Versuche reagieren, eine größere<br />
Disziplin und ein schnelleres Arbeitstempo einzuführen<br />
– ob <strong>die</strong>se nun vom Kapital herrühren oder<br />
von ihren eigenen Gewerkschaftsorganisationen.<br />
Die Symptome <strong>die</strong>ses Widerstandes – Absentismus,<br />
Sabotage, Langsamarbeiten und andere Arten<br />
der Zeitverschwendung – sind das Produkt von<br />
Entfremdung, Monotonie, von der Tatsache, daß<br />
ihre Arbeit sinnentleert ist (besonders, sobald <strong>die</strong><br />
tayloristische Dequalifizierung und Teilung komplexer<br />
Prozesse einsetzt). Ob <strong>die</strong>s eine adäquate<br />
Methode ist, Arbeiterwiderstand quer durch eine<br />
Vielzahl historischer Situationen zu interpretieren,<br />
ist ein Punkt, auf den später in <strong>die</strong>ser Besprechung<br />
eingegangen wird. Aber indem er so argumen-<br />
MI C H A E L SE I D M A N<br />
Gegen <strong>die</strong> Arbeit<br />
Verlag der<br />
Graswurzelrevolution,<br />
2011<br />
Wir empfehlen dringend:<br />
An Anarchist Story<br />
Ethel MacDonald<br />
http://www.youtube.com/<br />
watch?v=Wvs4M7Y8CVc<br />
und:<br />
http://potyomkinproducciones.wordpress.com/<br />
suenos-colectivos-2011/
6<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
tiert, suggeriert Dr. Seidman, daß andere Ansätze<br />
der Analyse der Arbeit <strong>die</strong>se von ihm behandelten<br />
Strategien des Widerstandes ignoriert haben. Das<br />
ist eine etwas überzogene Argumentation. Über<strong>die</strong>s<br />
zu behaupten, daß <strong>die</strong> marxistische Analyse<br />
solch ein Phänomen ignoriert, weil sie auf den<br />
Arbeitsplatz als »einen potentiellen Bereich für <strong>die</strong><br />
Emanzipation« fokussiert, wo <strong>die</strong> »Arbeiter sich<br />
<strong>mit</strong> ihrem Beruf identifizieren«, scheint irgendwie<br />
das Konzept der Entfremdung phänomenal aus<br />
dem Blick verloren zu haben.<br />
Eine Gesellschaft, <strong>die</strong><br />
für den Fortschritt<br />
kämpft,<br />
wird durch äußeren<br />
Angriff<br />
auf Schwierigkeiten<br />
stoßen auf das reine<br />
Überleben beschränkt<br />
bleiben,<br />
was der Angreifer<br />
wiederum als Beweis<br />
der Unmöglichkeit des<br />
sozialen Fortschrittes<br />
anführt.<br />
• EDuarDo Galeano<br />
Graham, Helen<br />
Reclam Universal-<br />
Bibliothek, 2008,<br />
Nr. 17055,<br />
231 S. m. 23 Abb.<br />
Obwohl er keine politische Geschichte verfassen<br />
will, stellt Michael <strong>Seidmans</strong> Versuch, <strong>die</strong> französischen<br />
und spanischen Erfahrungen zu vergleichen,<br />
unausweichlich <strong>die</strong> Frage nach der unterschiedlichen<br />
Verfassung der beiden Volksfronten<br />
in der untersuchten Periode. Und <strong>die</strong>s war zudem<br />
eine Differenz, <strong>die</strong> sich aus entscheidenden sozialen<br />
und ökonomischen Unterschieden ergab.<br />
Der Staatsstreich des Militärs und <strong>die</strong> versuchte<br />
Revolution in Spanien sahen den Untergang des<br />
liberalen Republikanismus, der immer ein konstituierendes<br />
Element der französischen Erfahrung<br />
war. Als im Mai 1937 <strong>die</strong> spanische Volksfront<br />
komplett Wiedererstand, um einen rekonstruierten<br />
republikanischen Staat anzuführen, drehte sie sich<br />
um eine neue, sozialistisch-kommunistische Achse.<br />
Indem er Barcelona als Vergleich wählt, das einzige<br />
Gebiet in Spanien, in dem <strong>die</strong> Republikaner in der<br />
Gestalt der Esquerra es schafften, an der Macht zu<br />
bleiben, verschleiert der Autor <strong>die</strong>se Problematik.<br />
Aber dadurch riskiert er es, bei nichtspezialisierten<br />
LeserInnen den Eindruck zu hinterlassen, daß Barcelona<br />
ein Mikrokosmos der spanischen Volksfront<br />
sei, während Cataluña als Region eine sehr große<br />
Ausnahme darstellte.<br />
Barcelona ist für Dr. Seidman der Sitz der »spanischen<br />
Revolution«. Obwohl der Autor niemals<br />
seine Begriffe angemessen definiert, wird <strong>die</strong>ser<br />
Ausdruck als Kürzel für den Prozeß der komplexen<br />
politischen und sozio-ökonomischen Reorganisation<br />
gebraucht, der in den ersten zehn Monaten des<br />
Krieges stattfand. Aber es gibt da ein fundamentales<br />
Problem. Diese Monate sahen eine dramatische<br />
Verschiebung des Ortes der Macht, als das<br />
Potential für eine Volksrevolution rapide ero<strong>die</strong>rt<br />
wurde durch <strong>die</strong> Strategien des in Erscheinung tretenden<br />
Volksfront-Blocks der Politiker der Mitte<br />
und der linken Mitte und der reformistischen Gewerkschaftsführer.<br />
Die Tatsache, daß Dr. Seidman<br />
keine politische Geschichte schreibt, entbindet ihn<br />
nicht davon, für inadäquate Begriffsbestimmungen<br />
kritisiert zu werden, denn <strong>die</strong> politischen Entwicklungen,<br />
<strong>die</strong> am Rande seiner Stu<strong>die</strong> verbleiben, hatten<br />
direkten Einfluß auf <strong>die</strong> Leben der spanischen<br />
ArbeiterInnen, von denen er behauptet, sie seien<br />
<strong>die</strong> ProtagonistInnen seiner Untersuchung. Die<br />
wichtigste <strong>die</strong>ser Entwicklungen war offensichtlich<br />
das Scheitern der Revolution. Deren Einflüsse<br />
auf das Proletariat von Barcelona werden in <strong>die</strong>ser<br />
Rezension später betrachtet, im Zusammenhang<br />
<strong>mit</strong> der Frage des Arbeiterwiderstandes gegen <strong>die</strong><br />
Arbeit. Wie auch immer, man muß sich <strong>mit</strong> Dr.<br />
<strong>Seidmans</strong> Verständnis von dem auseinandersetzen,<br />
was <strong>die</strong> spanische Revolution konstituierte. Seine<br />
Stu<strong>die</strong> unterstellt sechs Monate revolutionärer Veränderung,<br />
gegen <strong>die</strong> sich beachtliche Teile der arbeitenden<br />
Klasse dickköpfig unzugänglich zeigten.<br />
Aber <strong>die</strong> Revolution war im Herbst 1936 gescheitert,<br />
eben weil <strong>die</strong> Basis der Staatsmacht nicht<br />
von den Kräften zerstört worden war, von denen<br />
zu erwarten gewesen wäre, daß sie genau <strong>die</strong>se<br />
Avantgardefunktion erfüllen würden. (Die marxistisch-leninistische<br />
POUM war zu schwach, und<br />
<strong>die</strong> libertäre Bewegung war fatal behindert durch<br />
organisatorische Spaltungen und ideologische Unzulänglichkeiten<br />
(sie hatte keine angemessene Theorie<br />
vom Staat).) Die CNT mag <strong>die</strong> Straßen von Barcelona<br />
kontrolliert haben, aber das bedeutete kaum<br />
den Sieg der Revolution. Daß <strong>die</strong> Libertären beides<br />
1936 verwechselten ist verständlich, nicht aber,<br />
daß Dr. Seidman <strong>die</strong>s stillschweigend 1990 macht.<br />
Und selbst wenn eine unproblematisch puristische<br />
CNT-Führung existiert hätte, so wäre sie isoliert<br />
worden durch den verbissenen Reformismus und<br />
<strong>die</strong> Staatsgläubigkeit von Largo Caballeros[4] sozialistischem<br />
Riesen, der UGT, <strong>die</strong> sich weigerte,<br />
jegliche Form von Gewerkschafts-Bündnis in Erwägung<br />
zu ziehen, bis es schließlich zu spät dafür<br />
war, um noch irgendeine autonome politische<br />
Funktion zu erfüllen. Und was <strong>die</strong> UGT betrifft, so<br />
muß man schlicht sagen, daß Dr. Seidman ihre Natur<br />
und Dynamik in den 1930ern mißversteht. Er<br />
nennt sie »revolutionär« und »radikal«, um sie von<br />
den reformistischen französischen Gewerkschaften<br />
abzusetzen. Tatsächlich war es nur der polarisierte<br />
Kontext, kombiniert <strong>mit</strong> einer revolutionären<br />
Rhetorik, der der UGT einen Anstrich von Radikalismus<br />
gaben. Die wesentliche Erfahrung <strong>mit</strong> der<br />
sozialistischen Bewegung in den 1930ern – Partei<br />
und Gewerkschaft, Sozialdemokraten und »Linkssozialisten«<br />
– ist, daß sie sich als ausgesprochen<br />
reformistische Macht offenbarte. Dr Seidman hätte<br />
besser daran getan, auf <strong>die</strong> signifikanten Ähnlichkeiten<br />
zwischen Marceau Pivert [5] und Francisco<br />
Largo Caballero zu achten – hinsichtlich der revolutionären<br />
Rhetorik und der reformistischen Praxis.<br />
Stattdessen vertraut der Autor auf eine Anzahl<br />
abgeschmackter Klischees über <strong>die</strong> Radikalisierung<br />
des Letzteren.<br />
Der grundlegende Einwand der Rezensentin gegen<br />
<strong>die</strong>se Stu<strong>die</strong> ist allerdings, daß Michael Seidman<br />
zur Stützung der Vergleiche, <strong>die</strong> er anzustellen<br />
versucht, weitgehend und durchgängig <strong>die</strong> große<br />
Belastung herunterspielt, <strong>die</strong> sich daraus ergab,<br />
daß sich <strong>die</strong> spanische Republik im Krieg befand.<br />
Sie kämpfte nicht nur gegen <strong>die</strong> heimischen Feinde<br />
und ihre faschistischen Unterstützer ums Überleben,<br />
sondern auch gegen das politische und ökonomische<br />
Establishment des demokratischen Europas<br />
und Nordamerikas (das von Anfang bis Ende<br />
<strong>die</strong> kapitalistische Kreditwürdigkeit der Republik<br />
als ernsthaft inadäquat einschätzte). Die Nicht-<br />
Intervention beinhaltete eine zermürbenden Wirtschaftskrieg.<br />
Die sich daraus ergebenden Bedingungen<br />
der Belagerung hatten eine verheerenden<br />
Effekt auf <strong>die</strong> Produktionskapazität der Republik<br />
und so<strong>mit</strong> auf <strong>die</strong> Lebenserfahrung der arbeitenden<br />
Klasse, sowohl innerhalb wie außerhalb des<br />
Arbeitsplatzes. Die materiellen Bedingungen des<br />
täglichen Leben verfielen schnell, und <strong>die</strong>s beeinflußte<br />
auch das Verhalten vieler ArbeiterInnen.<br />
An verschiedenen Punkten der Fallstu<strong>die</strong> zu Barcelona<br />
springt der Autor zwischen Beispielen aus<br />
den Jahren 1936 und 1938. Wir erfahren, daß einige<br />
ArbeiterInnen 1936-1937 abkömmlich oder nicht<br />
gebunden waren, daß andere 1938 versuchten,<br />
sich der Einberufung zu entziehen, während <strong>die</strong>-
arrikade sieben - April 2012<br />
jenigen, <strong>die</strong> in den späteren Phasen des Krieges<br />
einberufen wurden, demoralisiert waren. Aber all<br />
<strong>die</strong>s ist dekontextualisiert [6], es gibt kaum einen<br />
Bezug auf den heftigen Verfall, der den materiellen<br />
und psychologischen Zustand des republikanischen<br />
Spanien zwischen <strong>die</strong>sen Daten betraf. Es<br />
reicht einfach nicht, <strong>die</strong> sich ähnelnden Symptome<br />
der Distanzierung der ArbeiterInnen (in Barcelona<br />
vor und nach dem Putsch und in Paris) zu katalogisieren.<br />
Denn ohne mehr Informationen über das<br />
größere soziale und politische Umfeld, das <strong>die</strong> Reaktionen<br />
der Arbeiterklasse geformt hat, können<br />
wir nicht von einer monolithischen Erscheinung<br />
von Arbeiterwiderstand sprechen, wie es der Autor<br />
so oft zu unterstellen scheint. Die Geschichte der<br />
Arbeit, und <strong>die</strong> des Widerstandes dagegen, muß<br />
mehr behandeln als nur <strong>die</strong> Arbeit.<br />
Nach Ansicht <strong>die</strong>ser Rezensentin untertreibt<br />
Dr. Seidman außerdem gewaltig den Einfluß des<br />
Krieges auf das Eintreten der CNT für den Produktivismus.<br />
Tatsächlich übertreibt er bei seinem Versuch,<br />
<strong>die</strong>s als eine Konstante libertärer Ideologie<br />
zu behaupten, den produktivistischen Glauben der<br />
Bewegung in der Vorkriegsperiode und bauscht<br />
ihre unkritische Akzeptanz des Quasi-Taylorismus<br />
auf. Genau so schief ist <strong>die</strong> Analyse der Absicht der<br />
Libertären, <strong>die</strong> nationalen Produktivkräfte auf eine<br />
Art zu entwickeln, <strong>die</strong> sie von der Kontrolle durch<br />
fremde Investoren befreit. Dies wird als Konflikt<br />
zwischen theoretischem Internationalismus und<br />
nationalistischer Praxis beschrieben. Sicherlich gab<br />
es ernsthafte Inkonsistenzen und Mängel in der libertären<br />
Ideologie – <strong>die</strong>s war einer der Gründe für<br />
<strong>die</strong> Krise im Krieg, von der sich <strong>die</strong> Bewegung niemals<br />
wirklich erholt hat. Aber <strong>die</strong> libertäre Antwort<br />
so zu beschreiben bedeutet, den Punkt zu verfehlen.<br />
Produktivismus und Ermahnung zur nationalen<br />
mus garnicht existiert.<br />
Selbstversorgung waren<br />
<strong>die</strong> unausweichliche<br />
pragmatische Antwort<br />
auf das, was in einer<br />
kapitalistischen Belagerung<br />
gipfelte, <strong>die</strong> nicht<br />
dadurch weniger effektiv<br />
war, daß ihre Existenz<br />
übertüncht wurde.<br />
Indem er den libertären<br />
Produktivismus betont,<br />
scheint es Dr. <strong>Seidmans</strong><br />
Hauptanliegen zu sein,<br />
zu zeigen, daß der katalanische<br />
Anarcho-<br />
Syndikalismus weder<br />
puristisch noch millenaristisch[7]<br />
war. Er<br />
schreibt so, als ob er hier<br />
eine heutige Orthodoxie<br />
herausfordere, während<br />
ein solcher Reduktionis-<br />
Der Autor erklärt von Anfang an, daß seine<br />
Schrift keine politische Stu<strong>die</strong> der Spanischen Revolution<br />
sei – und tatsächlich wiederholt er, wenn<br />
auch etwas vage, den ganzen Text hindurch, daß<br />
<strong>die</strong> politischen Kategorien der »meisten Historiker«<br />
unzulänglich sind, um uns zu erlauben, ihre wahre<br />
Natur als eine gelebte Erfahrung zu verstehen.<br />
Dr. Seidman weist auf einen berechtigten Punkt<br />
hin. Wir müssen sicherlich eine ganze Reihe öffentlicher<br />
Äußerungen (Reaktionen) untersuchen, um<br />
den Grad des Einflusses zu verstehen, den <strong>die</strong> radikalen<br />
sozialen und ökonomischen Veränderungen<br />
hatten, <strong>die</strong> für kurze Zeit im republikanischen<br />
Spanien versucht wurden. Und gegenwärtige<br />
Arbeiten, oftmals durch den Gebrauch unschätzbarer<br />
mündlicher Quellen, tragen viel zur Erstellung<br />
eines nuancierteren Bildes von Klassen- und<br />
Geschlechterverhalten in dem Spanien der 1930er<br />
Jahre bei, einer Periode der Mobilisierung und des<br />
Überganges. Aber <strong>die</strong> Tatsache bleibt bestehen,<br />
daß Michael <strong>Seidmans</strong> Stu<strong>die</strong> nicht <strong>die</strong> Ziele erreicht,<br />
<strong>die</strong> er für sie angibt. Sie ver<strong>mit</strong>telt ganz sicher<br />
keinen Einblick in <strong>die</strong> »gelebte Erfahrung der<br />
Arbeiter« (weder am Arbeitsplatz noch außerhalb<br />
davon). Dies liegt weitgehend an der reinen Unvergleichbarkeit<br />
der Untersuchung. Dr. Seidman<br />
zielt auf eine viel zu weite Abdeckung, und zumindest<br />
auf der spanischen Seite tappt er regelmäßig<br />
in <strong>die</strong> Falle der oberflächlichen und skizzenhaften<br />
Analyse. Die Untersuchung zu Barcelona ist außerordentlich<br />
undurchsichtig. Man gewinnt kaum<br />
Kenntnisse über <strong>die</strong> Determinanten der Reaktionen<br />
der ArbeiterInnen – ob <strong>die</strong>se Demoralisierung, Passivität<br />
oder politisches Engagement ausdrückten.<br />
Die plumpe Verneigung en passant vor dem ‚Apoli-<br />
7<br />
Anmerkungen:<br />
[1] International Review<br />
of Social History, Vol. XXX-<br />
VII, 1992, S. 276 – 281<br />
[2] Gegen <strong>die</strong> Arbeit.<br />
Michael Seidman über <strong>die</strong><br />
Arbeiterkämpfe in Barcelona<br />
und Paris 1936-38;<br />
in: graswurzelrevolution<br />
Nr. 363, November 2011<br />
(http://www.graswurzel.<br />
net/363/seidman.shtml)<br />
[3] http://www.labournet.<br />
de/diskussion/geschichte/<br />
seidman.<strong>pdf</strong><br />
[4] http://de.wikipedia.org/<br />
wiki/Largo_Caballero<br />
[5] http://de.wikipedia.org/<br />
wiki/Marceau_Pivert<br />
[6] aus dem Zusammenhang<br />
gerissen<br />
[7] dem Glauben an ein<br />
(para<strong>die</strong>sisches) ‚tausendjähriges<br />
Reich auf Erden‘<br />
anhängend<br />
[8] vergl. <strong>die</strong> gegenwärtige<br />
(April 1991) Ausstellung<br />
republikanischer und<br />
nationalistischer Plakate,<br />
Biblioteca Nacional,<br />
Madrid [Anm. von Helen<br />
Graham]<br />
Erklärungen:<br />
dekonstruktieren =<br />
aus dem Zusammenhang<br />
reißen
8<br />
HE L E N GR A H A M<br />
(Jahrgang 1959) ist heute<br />
Professorin für Spanische<br />
Geschichte an der Royal<br />
Holloway University of<br />
London und eine der<br />
führenden britischen<br />
HistorikerInnen für <strong>die</strong> Geschichte<br />
des spanischen<br />
Bürgerkrieges, des uncivil<br />
peace der 40er Jahre und<br />
der Sozial- und Kulturgeschichte<br />
Spaniens der<br />
30er und 40er Jahre des<br />
20. Jahrhunderts. Beim<br />
Erscheinen ihrer Rezension<br />
1992 hatte sie zwei<br />
Werke zu dem Thema, das<br />
auch Seidman behandelt,<br />
publiziert: zusammen <strong>mit</strong><br />
Martin S. Alexander The<br />
French and Spanish Popular<br />
Fronts: Comparative<br />
Perspectives (Cambridge<br />
1989 [Cambridge University<br />
Press]) und Socialism<br />
and War. The Spanish Socialist<br />
Party in Power and<br />
Crisis 1936-1939 (Cambridge<br />
1991 [Cambridge<br />
University Press]).<br />
Weitere Informationen (auf<br />
Englisch) fi nden sich auf<br />
der Seite der Royal Holloway<br />
University of London<br />
(http://pure.rhul.ac.uk/<br />
portal/en/persons/helengraham_8fc507aa-5638-40beada7-b3865d4689b5.html)<br />
und der englischsprachigen<br />
Wikipedia<br />
(http://en.wikipedia.<br />
org/wiki/Helen_<br />
Graham_%28historian%29).<br />
Wir verweisen außerdem<br />
auf ein Interview von<br />
Helen Graham, das in der<br />
von den Veteranen der<br />
Lincoln-Brigade begründeten<br />
Zeitschrift »The<br />
Volonteer« (März 2011)<br />
erschien<br />
(http://www.albavolunteer.<br />
org/2010/03/the-war-beforethe-lights-went-out-an-interview-with-helen-graham/).<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
tizismus‘ der Frauen wäre besser ausgelassen worden,<br />
ebenso der kurze Streifzug des Autors über<br />
<strong>die</strong> Darstellung von Frauen auf republikanischen<br />
Propaganda-Plakaten. Letzeres scheint ihn zu dem<br />
außergewöhnlichen Schluß zu führen, daß <strong>die</strong> Geschlechterrollen<br />
durch <strong>die</strong> Revolution durcheinander<br />
geworfen wurden. Dies ist nicht nur eine plumpe<br />
extreme Vereinfachung per se, doch daß das<br />
<strong>mit</strong> einer Würdigung der Frauen-Darstellung auf<br />
Volksfrontplakaten begründet werden könnte ist<br />
schlichtweg unerklärbar. Der rasante Aufstieg der<br />
Volksfront sorgte dafür, daß das Gesicht der Propaganda<br />
wieder deutlich von den konventionellen<br />
Geschlechterrollen geprägt war. Es war wesentlicher<br />
Bestandteil ihrer konterrevolutionären Logik,<br />
daß republikanische Frauen durch einen Appell<br />
an ihre traditionellen Rollen mobilisiert wurden.<br />
Wenn man sich allein <strong>die</strong> Bilder anschaut, so fällt<br />
es 1937 oftmals schwer zu unterscheiden zwischen<br />
den Aufrufen an <strong>die</strong> republikanischen Frauen und<br />
denen an ihre nationalistischen Schwestern [8].<br />
Jede Begrifflichkeit, einschließlich <strong>die</strong> der Arbeit,<br />
wird grundlegend gesellschaftlich produziert. Sie<br />
ist bestimmt durch den spezifischen historischen<br />
Kontext, in dem sie existiert. Wenn <strong>die</strong>s auf <strong>die</strong> Arbeit<br />
zutrifft, so muß es auch auf den Widerstand gegen<br />
<strong>die</strong> Arbeit zutreffen. Der grundlegende Fehler<br />
in Dr. <strong>Seidmans</strong> Fall ist, daß er <strong>die</strong> Homogenität des<br />
Arbeiterwiderstandes <strong>mit</strong> ziemlich zweifelhaften<br />
Mitteln stützt – indem er seine Aufzählung der<br />
Symptome dekontextualisiert. Aufgrund der extremen<br />
Situation führt das besonders im spanischen<br />
Fall zu ernsten Verzerrungen in seiner Interpretation.<br />
Indem er der Diskussion der politischen<br />
Demontierung einer beschädigten und fragmentierten<br />
Revolution ausweicht, vermeidet er nicht,<br />
wie er behauptet, lediglich das besser erkundeten<br />
Territorium der politischen Geschichte. Tatsächlich<br />
versagt er es sich bewußt, dem Leser eine Erklärung<br />
des Prozesses zu bieten, der das Verhalten der<br />
ArbeiterInnen geprägt hat. Der Wiederaufbau des<br />
Staates begann, wie schon angedeutet, nicht 1937,<br />
er begann viel früher, <strong>mit</strong> der Ernennung der Regierung<br />
Largo Caballero im September 1936. Nur<br />
durch eine falsche Periodisierung kann Dr. Seidman<br />
behaupten, daß der primäre Anstoß zum Wiederaufbau<br />
des Staates <strong>die</strong> Widerspenstigkeit der<br />
Arbeiter in den Fabriken war – ein einzigartiger<br />
Fall, in dem der Schwanz <strong>mit</strong> dem Hund wedelt.<br />
Natürlich war nicht das gesamte Proletariat Barcelonas<br />
in der CNT. In Barcelona wie in Paris umfaßte<br />
<strong>die</strong> Arbeiterklasse sowohl <strong>die</strong> Engagierten wie <strong>die</strong><br />
Gleichgültigen, in allen Abstufungen. Triumphalismus<br />
kann unser Verständnis des Verhaltens der Bevölkerung<br />
in den frühen Monaten des Krieges nur<br />
behindern. Aber es ist nicht klar, was Michael <strong>Seidmans</strong><br />
körperlose und fragmentierte Ansammlung<br />
von Illustrationen der Apathie und Verärgerung<br />
der ArbeiterInnen zeigen soll. Das ändert kaum<br />
etwas an der Tatsache, daß der Wiederaufbau des<br />
Staates <strong>die</strong> ökonomische Macht und politische Autonomie<br />
der Gewerkschaften und der militanten<br />
Teile der Arbeiterklasse an <strong>die</strong> Kandare nahm. Man<br />
muß nicht notwendigerweise von einem anarchistischen<br />
oder linkskommunistischen Standpunkt<br />
argumentieren, um das zu erkennen.<br />
In den Fabriken und Werkstätten im Paris der<br />
Volksfront und dem »revolutionären« Barcelona<br />
war <strong>die</strong> Arbeitserfahrung für viele eine grundlegend<br />
entfremdete. Die vorrangige Konsequenz<br />
der Prioritäten der Kriegszeit machte eine radikale<br />
Veränderung in <strong>die</strong>sem Bereich für <strong>die</strong> spanische<br />
Republik unmöglich. Es kann gesagt werden, daß,<br />
anstatt <strong>die</strong> bewußte »Negation der Ideale der spanischen<br />
Revolution« zu illustrieren, <strong>die</strong> Abwendung<br />
der Arbeiter <strong>die</strong> Tatsache reflektierte, daß<br />
nicht nur <strong>die</strong> materielle Realität der Arbeitserfahrung<br />
und des täglichen Lebens nicht qualitativ<br />
verändert wurde, sondern sie sich tatsächlich aktiv<br />
verschlechterte. Wenn <strong>die</strong> Revolution für viele eine<br />
politische Abstraktion war, dann kann da nichts<br />
gewesen sein, was sie »negieren« konnten. Das<br />
Hauptproblem war hier allerdings nicht das kreative<br />
Vakuum der Linken. Michael <strong>Seidmans</strong> Kritik<br />
an ihrem Scheitern, alternative Modelle für <strong>die</strong><br />
Entwicklung der Produktivkräfte auszuarbeiten,<br />
offenbart eine erschreckende Mißachtung für <strong>die</strong><br />
Zwänge und Notwendigkeiten, <strong>die</strong> durch den zermürbenden<br />
Wirtschaftskrieg von außen gegen sie<br />
der spanischen Demokratie auferlegt wurden. Die<br />
Ergebnisse der Blockade – akuter Mangel, Inflation,<br />
Hunger, Elend, ein härterer und längerer Arbeitstag<br />
– und, natürlich, grausame interne politische<br />
Spaltungen – endeten in der Destabilisierung der<br />
spanischen Republik im Inneren. Diese Strategie<br />
hat sich in der europäischen Arena der dreißiger<br />
Jahre als ebenso erfolgreich erwiesen wie anderswo<br />
in jüngerer Zeit.<br />
Im Verlauf <strong>die</strong>ser verzweifelten Produktionsschlacht,<br />
<strong>die</strong> für das Überleben der Republik entscheidend<br />
war, wählten <strong>die</strong> Führungskader der<br />
Gewerkschaft und deren Aktivisten den kleinsten<br />
gemeinsamen Nenner – eine ökonomisch konservative<br />
Praxis. Nichtsdestoweniger waren <strong>die</strong> Gewerkschaften<br />
im republikanischen Spanien <strong>die</strong><br />
entscheidende Kraft in einem Prozeß der industriellen<br />
Konzentration und Rationalisierung, <strong>die</strong>,<br />
worauf Dr. Seidman hinweist, seit langem auf der<br />
historischen Agenda stand. Indem er das Gewicht<br />
auf <strong>die</strong> technische Bedeutung <strong>die</strong>ses Prozesses<br />
legt, vergleicht der Autor <strong>die</strong>sen <strong>mit</strong> den Ergebnissen<br />
von Francos Entwicklungsprojekten drei<br />
Dekaden später. Allerdings gibt es hier eine große<br />
Gefahr, da <strong>die</strong>ser Vergleich <strong>die</strong> zentrale zugrundeliegenden<br />
Disparität ignoriert, der im Herzen des<br />
Bürgerkrieges selbst lag. Die gewerkschaftliche<br />
Ver<strong>mit</strong>tlung umhüllte den Rationalisierungsprozeß<br />
<strong>mit</strong> einer demokratischen Intentionalität, <strong>die</strong>,<br />
per Definition, bei späteren francistischen Projekt<br />
immer fehlte. Alles in allem war das, was bei den<br />
Nationalisten und Republikanern auf dem Spiel<br />
stand, nicht <strong>die</strong> Modernisierung per se, sondern<br />
das Modell, das adoptiert werden sollte. Die Nationalisten<br />
mögen zu einem Diskurs auf dem Niveau<br />
von Neanderthalern Zuflucht genommen haben,<br />
aber wogegen sie sich tatsächlich stellten, wegen<br />
der Kosten für Gruppen der Elite, das war das demokratische<br />
Modell der Modernisierung, das von<br />
der Republik angestrebt wurde. Anzunehmen, daß<br />
sich der Entwicklungsfrancismus einen neutralen<br />
technokratischen Mantel aus den 1930er Jahren<br />
umhängen konnte, bedeutet, eine entscheidende<br />
historische Phase verblüffenderweise zu ignorieren<br />
– den triumphierenden Francismus der 1940er und<br />
frühen 1950er Jahre. •
arrikade sieben - April 2012<br />
9<br />
DIEGO ABAD DE SANTILLÁN<br />
Wirtschaftlicher Wiederaufbau<br />
Aus einer Arbeit des Kameraden D. A. de Santillan, <strong>die</strong><br />
vor der gegenwärtigen Revolution erschien.<br />
Der Gedanke der Vernichtung des politischen und<br />
ökonomischen Parasitismus ist, oder sollte im mindesten<br />
im Geiste der Völker genügend gereift sein,<br />
sodass er eine Frage un<strong>mit</strong>telbarer Verwirklichung<br />
werden könne. Es ist sehr gewiss, dass <strong>die</strong> Arbeiter<br />
es nicht freudig aufnehmen, des grössten Teils der<br />
Frucht ihrer Mühen beraubt zu werden, und ohne<br />
<strong>die</strong> Polizei- und Militärmacht des Staates wird der<br />
Grundsatz: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!<br />
sogleich zur Tatsache werden.<br />
Noch immer leben <strong>die</strong> Arbeiter der Fabriken und<br />
des Landes in einem Zustand der Unterdrückung<br />
wie <strong>die</strong> Sklaven aller Zeiten. Die einzige Verschiedenheit<br />
ist <strong>die</strong>, dass <strong>die</strong> modernen Lohnarbeiter <strong>die</strong><br />
bedingte Freiheit haben, ihre „demokratischen“<br />
Herren auszuwählen. Die wirklichen Produzenten<br />
sind in der Gesellschaft <strong>die</strong> übergrosse Minderheit.<br />
Ein Zehntel der Bevölkerung lebt vom Staatsapparat,<br />
ein anderes Zehntel lebt vom kapitalistischen<br />
Handel, ohne andere bedeutende, unproduktive<br />
Kategorien, und ohne <strong>die</strong> natürlich unproduktive<br />
Kategorie der Kinder und Alten anzuführen.<br />
Auf 10 Millionen zur Arbeit geeignete Menschen<br />
in Spanien, finden wir kaum 4,55 Millionen im<br />
industriellen oder landwirtschaftlichen Produktionsprozess.<br />
Die Revolution wird <strong>die</strong>sen Widersinn<br />
aufheben und in der Folge wird man nicht mehr<br />
den Mangel Seite an Seite <strong>mit</strong> dem Überfluss, und<br />
den protzenden Luxus an der Seite des äussersten<br />
Elends finden. Wenn ein Produktemangel besteht,<br />
dann wird man in der Weise rationieren, dass niemand<br />
mehr als sein Teil bekommt, sondern dass<br />
jeder sein Teil — gross oder klein — bekomme.<br />
Man wird <strong>die</strong> Lebens<strong>mit</strong>tel, Kleidung, Wohnungen<br />
gleichmässig verteilen; zum ersten Male in der Welt<br />
wird es keine Arme noch Hirne in erzwungenem<br />
Müssiggang geben. Die spanische Polizeirepublik<br />
wird einer grossen Gemeinschaft von Erzeugern<br />
und Verbrauchern Platz machen.<br />
Wir sind überzeugt, dass <strong>die</strong> an den Müssiggang<br />
gewöhnten Klassen der Notwendigkeit der Arbeit<br />
einen grossen Widerstand entgegensetzen. Es wird<br />
im Anfang Schwierigkeiten geben, <strong>die</strong> Bevölkerung<br />
in <strong>die</strong> Berufsgruppen unterzubringen, wo sie<br />
am nützlichsten sind. Aber <strong>die</strong> grösste Gefahr liegt<br />
nicht dort: sie liegt in den Folgen einer internationalen<br />
Blockade.<br />
Spanien mangelt es an Baumwolle; ohne Baumwolle<br />
werden 200.000 Arbeiter der Textil- und Konfektionsgewerbe<br />
auf der Strasse sein. Spanien mangelt<br />
es an Petrol — ohne Petrol wird der Verkehr<br />
ernsthaft behindert werden. Spanien — in geringerem<br />
Grade — mangelt es an Papier — Tausende<br />
Arbeiter des Buchgewerbes: Schriftsteller, Journalisten<br />
werden feiern. Und so fort. Die Revolution<br />
muss vom ersten Tage an sich <strong>mit</strong> der Versorgung<br />
der katalanischen Fabriken beschäftigen. Sie muss<br />
<strong>die</strong> Lösung des Petrol-Problems durch <strong>die</strong> Kohle —<br />
Destillation zu finden suchen.<br />
Es gibt keine technisch unüberwindbare Schwierigkeiten,<br />
weil <strong>die</strong> moderne Wissenschaft sie im<br />
Voraus gelöst hat. Infolge dessen, wenn <strong>die</strong> Revolution<br />
nicht <strong>die</strong> Herabsenkung des Lebensstandards,<br />
sondern im Gegenteil <strong>die</strong> Steigerung des Wohl-<br />
Petrol = Petroleum, Öl
10<br />
DI E G O AB A D D E SA N T I L L Á N<br />
Aus:<br />
DIE SO Z I A L E RE V O L U T I O N<br />
Nr. 4, 1937. Digitalisiert<br />
von der Anarchistischen<br />
Bibliothek und Archiv<br />
Wien. Nachbearbeitet<br />
(Scanungenauigkeiten<br />
entfernt, ä zu ä, That zu<br />
Tat usw.) von<br />
www.anarchismus.at.<br />
Neuerscheinung:<br />
AU G U S T I N SO U C H Y<br />
Bei den Landarbeitern<br />
von Aragon<br />
Über den freiheitlichen<br />
Kommunismus in den<br />
befreiten Gebiten<br />
Edition AV, 2012<br />
standes bedeuten soll, so muss <strong>mit</strong> der Baumwolle<br />
und dem Petrol gerechnet werden.<br />
Selbstverständlich, <strong>die</strong>se Probleme werden weniger<br />
dringend sein, wenn <strong>die</strong> Weltblockade nicht<br />
zustande käme, wenn das russische Petrol und <strong>die</strong><br />
amerikanische Baumwolle weiter hereinkämen, <strong>die</strong><br />
gegen unsere Eisen und Kupfererze ausgetauscht<br />
werden.<br />
Von den in den spanischen Gruben geförderten<br />
Eisenerzen wird nur eine geringe Partie im Lande<br />
verhüttet, der Rest wird exportiert und kommt in<br />
Form von Maschinen, Werkzeugen zu uns zurück.<br />
Die Revolution muss eine Metallindustrie schaffen,<br />
<strong>die</strong> Hochöfen, Maschinenfabriken vermehren, so<br />
gut wie möglich den römischen Pflug, und im allgemeinen<br />
<strong>die</strong> Tierzugkraft durch den modernen Pflug<br />
und Traktor ersetzen, <strong>die</strong> allein fähig sind, <strong>die</strong> Plateaus<br />
und Ebenen zu valorisieren. Die Revolution<br />
muss <strong>die</strong> Eisenbahnen und Fabriken elektrifizieren,<br />
<strong>die</strong> Wassergefälle sowohl für <strong>die</strong> Bewässerung, als<br />
auch für <strong>die</strong> Erzeugung elektrischer Energie benutzen,<br />
das Problem der Aufholzung, der Vorbereitung<br />
neuer Gelände für Landwirtschaft und Tierzucht,<br />
der Benutzung der Windkraft, etc., ernsthaft in Angriff<br />
nehmen. — Mit einem Wort, <strong>die</strong> Revolution<br />
muss in wenigen Jahren tun, was der Kapitalismus<br />
unfähig war zu tun: ein Spanien schaffen, das fähig<br />
ist, eine Bevölkerung, welche bald auf 30 Millionen<br />
Einwohner (wenn <strong>die</strong> Auswanderung aufhört, wie<br />
das in letzter Zeit geschehen) zu ernähren, zu bekleiden,<br />
zu logieren.<br />
Eine gute Zusammenarbeit handwerklicher und<br />
intellektueller Arbeit wird <strong>die</strong> Reichtümer viel besser<br />
entwickeln, als wie <strong>die</strong> kapitalistische Politik,<br />
<strong>die</strong> Finanzspekulationen oder <strong>die</strong> Befehle der Generäle.<br />
Wir haben nicht <strong>die</strong> Gotteshypothese für <strong>die</strong> Errichtung<br />
unserer Arbeitergesellschaft notwendig,<br />
wir haben ebensowenig <strong>die</strong> Staatshypothese not-<br />
Am 19. Juli öffneten sich auf den Im puls Kataloniens<br />
<strong>die</strong> Tore der direkten Aktion der Arbeiterklasse.<br />
Das ist eine nicht zu bezweifelnde Tatsache, <strong>die</strong><br />
so gar von der kleinen und grossen Bour geoisie<br />
anerkannt wird; von der einen <strong>mit</strong> Toleranz und<br />
Wohlwollen; von der anderen <strong>mit</strong> Bitterkeit; sie<br />
müssen erkennen, dass der neue Schauspieler auf<br />
der Bühne des Weltgeschehens, in dem er privilegierte<br />
Rechte zerbricht, nur einen Akt der Gerechtigkeit<br />
voll zieht; und dass es dagegen nur ein Mittel<br />
gibt: <strong>die</strong> Reaktion des nationalen und internationalen<br />
Faschismus.<br />
Die spanische Arbeiterschaft verstärkt von Tag zu<br />
Tag ihre Kontrolle über <strong>die</strong> bewaffneten Kräfte; sie<br />
kontrolliert den Regierungsapparat, <strong>die</strong> Justiz, <strong>die</strong><br />
wirtschaftliche Organisation, alles. Und zwar unter<br />
den günstigsten Vorbedeu tungen. Diejenigen<br />
Leute, deren Privat interessen von der gleichmachenden<br />
Justiz des Volkes nicht berührt wur den,<br />
haben zum mindesten begriffen, dass <strong>die</strong> blutigen<br />
Opfer der ersten Tage in den Strassen und später<br />
auf den Schlachtfeldern den Arbeitern das Recht<br />
auf einen direkten und vorherrschenden Einfluss<br />
auf <strong>die</strong> Dinge des öffentlichen Lebens gegeben haben.<br />
Innerhalb und ausserhalb Spaniens er kannte<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
DIEGO ABAD DE SANTILLÁN<br />
Unser Werk der Neuschöpfung<br />
wendig. Wir wünschen nicht, dass alle Welt nach<br />
derselben Musik tanzt, dass alle Welt den Gleichschritt<br />
markiert. Wir lassen <strong>die</strong> Existenz verschiedener<br />
Organisationen zu, <strong>die</strong> mehr oder weniger<br />
revolutionär sind, <strong>die</strong> mehr oder minder über <strong>die</strong><br />
neue Situation begeistert sind. Das Wichtigste ist,<br />
dass alle Spanier das haben, was sie brauchen und<br />
folglich auch an der Erzeugung der notwendigen<br />
Güter im Produktionsprozess teilnehmen. Heute<br />
arbeiten in der Fabrik an unserer Seite gute Kameraden,<br />
<strong>die</strong> nicht so denken wie wir; so wird es<br />
in Zukunft sein, und es wird an uns liegen, ihre<br />
Feindschaft durch unser Beispiel zu überwinden.<br />
Es gibt in Spanien verschiedene Organisationen;<br />
alle müssen an ihrer Stelle am ökonomische Wiederaufbau<br />
teilnehmen. Die Revolution verweigert<br />
auf <strong>die</strong>sem Gebiet niemanden ihre Hilfe, sowenig<br />
wie sie irgendjemanden das Recht verweigert, sich<br />
seiner besonderen Neigung gemäss <strong>mit</strong> anderen zu<br />
assoziieren, Auffassungen zu verteidigen, <strong>die</strong> den<br />
unsern entgegenstehen — jedoch ohne agressiven<br />
Geist: ohne <strong>die</strong>jenigen zu zwingen suchen, <strong>die</strong> sie<br />
nicht teilen. Wenn anders, so wäre der Bürgerkrieg<br />
da.<br />
Wir sagen den Freunden des russischen Beispiels,<br />
dass ausserhalb des ökonomischen Regimes, das<br />
<strong>die</strong> Übereinstimmung aller verlangt, sie ihre Volkskommissare<br />
haben können; den Sozialisten, dass<br />
sie ihre Auffassungen aussprechen. Das wird uns<br />
nicht im geringsten genieren, und wir werden uns<br />
da<strong>mit</strong> begnügen zu verhindern, dass eine Fraktion<br />
sich auf <strong>die</strong> andere stürzt, und dafür sorgen, dass<br />
der Produktions-, und Verteilungsapparat in den<br />
Händen der Produzenten selbst bleibt.<br />
Freiheit, ja absolute Freiheit in politischer Beziehung,<br />
aber Zusammenarbeit aller Kräfte in ökonomischer<br />
Hinsicht, gleiche Verteilung der Produkte.<br />
Was ist gegen eine so organisierte Gesellschaft zu<br />
sagen? •<br />
man <strong>die</strong> Situation sofort <strong>mit</strong> aller Deutlichkeit. Deshalb<br />
<strong>die</strong> Erbitterung des Kampfes; deshalb das Interesse<br />
des internationalen Faschismus, seinen iberischen<br />
Parteigängern zu helfen. Die Ar beiter führen<br />
den Krieg — den einzigen heiligen Krieg der Zeit<br />
und machen zugleich <strong>die</strong> Revolution: sie ändern<br />
<strong>die</strong> Grundlagen einer ungerechten Zivilisation und<br />
vernichten <strong>die</strong> Voraussetzungen der Ausbeutung<br />
des Menschen durch den Menschen.<br />
Wir wollen es nicht leugnen, weil es sinnlos wäre:<br />
wir führen einen Krieg - und wir machen zu gleicher<br />
Zeit eine Revolution. Und in beiden kommen<br />
wir so weit wie es uns unsere Fähigkeiten erlauben.<br />
Es gibt Schwierigkeiten; äussere — und innere, <strong>die</strong><br />
grösser sind, weil sie in uns selbst begründet sind.<br />
Wir werden den Krieg gewinnen, wenn wir fähig<br />
dazu sind; wie wir <strong>die</strong> Revolution zum Siege führen<br />
werden, wenn wir fähig dazu sind. Und zwar nicht<br />
so sehr auf Grund unserer Tapferkeit als auf Grund<br />
der Intelligenz, der Vernunft und des gesunden<br />
Menschenverstandes. Wir haben eine wirkliche Aktionsbasis:<br />
<strong>die</strong> Produktionszentren. Die Arbeitsstellen,<br />
<strong>die</strong> Syndikate, <strong>die</strong> Industrieföderationen haben<br />
<strong>die</strong> wichtigste und nicht zu ersetzende Rolle innerhalb<br />
der wirt schaftlichen Rekonstruktion Spaniens
arrikade sieben - April 2012<br />
zur Gewinnung des Krieges und für den Triumph<br />
der Revolution. Wir haben viele Monate verloren.<br />
Die Militanten der Arbeiterorganisationen haben<br />
sich gezwungen gesehen, impro visierte Posten zu<br />
bekleiden im aktiven Kampfe. Die Syndikate waren<br />
so gut wie verlassen. Sie hatten vom ersten Tage an<br />
nicht <strong>die</strong> Stellung, <strong>die</strong> ihnen bei der Organisierung<br />
der Produktion und der Verteilung zukam. Daran<br />
haben wir alle Schuld.<br />
Aber alle Zeichen deuten darauf hin, dass man<br />
zu den Syndikaten zurückkehrt und dass man<br />
begriffen hat, dass unsere wahrhafte und unverrückbare<br />
Basis <strong>die</strong> organisierte Arbeit ist. Ohne<br />
wirksame Siege auf <strong>die</strong>sem Gebiet nützen uns auch<br />
<strong>die</strong> Siege nichts, <strong>die</strong> wir auf anderen Gebieten erkämpfen.<br />
Die Verwandlung unserer Syndikate aus<br />
Kampforganisationen gegen den Kapita lismus, <strong>die</strong><br />
sie früher waren, in Organe für <strong>die</strong> Verwaltung der<br />
Wirtschaft wird uns viel Arbeit kosten. Wir begreifen<br />
wie sich aus dem ein Jahrhundert dau ernden<br />
Kampf bilden musste; wir wis sen, dass es schwer<br />
halten wird, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.<br />
Aber <strong>die</strong>se Dinge sind unvermeidlich. In<br />
ih nen liegt der Schlüssel zu unserem Siege.<br />
Wir beanspruchen für <strong>die</strong> Syndikate, <strong>die</strong> sich den<br />
neuen Verhältnissen angepasst haben, eine Stelle in<br />
der ersten Reihe der Organisierung der Wirtschaft.<br />
Alles, was man ohne <strong>die</strong> Syndikate tut, führt zum<br />
Staatskapitalismus oder zum privaten Kapitalismus.<br />
Die ökonomische Formel des Spanien vom<br />
19. Juli ist gegeben in der zahlenmässigen Macht<br />
und in der historischen Verwurzelung der Arbeiterorganisationen.<br />
Sie zeigen uns den geraden Weg<br />
zur Überwindung des Schmarotzertums und der<br />
Un gerechtigkeit.<br />
Unsere jungen und alten Militanten mögen sich<br />
beeilen, ihren Posten ein zunehmen und sich voll<br />
geistiger Ver antwortung in <strong>die</strong> Linie des Sieges zu<br />
stellen: an ihren Arbeitsplatz. Auf <strong>die</strong> sem Platz waren<br />
wir gestern unbesieg bar; hier hielten wir gegen<br />
alle Tyran nei stand; auf ihm müssen wir heute unbesiegbar<br />
sein in der harmonischen und wirksamen<br />
Konstruktion der neuen Welt, der neuen Wirtschaft<br />
und der neuen Kultur. •<br />
11<br />
Aus:<br />
DIE SO Z I A L E RE V O L U T I O N<br />
Nr. 10, 1937. Digitalisiert<br />
von der Anarchistischen<br />
Bibliothek und Archiv Wien<br />
»Arbeiter!<br />
Reiht euch ein in <strong>die</strong> Columna de Hierro!«<br />
BA U S S E T für <strong>die</strong> Eiserne Kolonne der CNT-FAI<br />
Valencias 1936 - Format: 33 x 25 cm<br />
»Schreibt Euch ein in <strong>die</strong> Miliz der POUM!«<br />
Anwerbeplakat der »Kolonne Lenin« der POUM,<br />
Barcelona 1936<br />
»Ohne Disziplin - kein Sieg!«<br />
Künstler: Arturo Ballester<br />
Herausgeber: Sozialistische Partei PSOE<br />
Format: 71 x 102 cm<br />
Herstellung: ORTEGA Valencia - Vertreib: UGT-CNT
12<br />
DI E G O AB A D D E SA N T I L L Á N:<br />
El anarquismo y<br />
la revolución en Espana,<br />
Escritos 1930/38<br />
„Die Öffentlichkeit ist heutzutage, insbesondere der Teil, der<br />
keine manuelle Tätigkeit ausübt, weitgehend unwissend über<br />
Berufe und Arbeitsprozesse, selbst wenn sie vor ihrer Tür<br />
stattfinden. So ist <strong>die</strong> Mehrheit der Mittelklasse nicht nur<br />
wehrlos gegenüber groben Verfälschungen, sondern auch, was<br />
noch ernster ist, ganze Welten entfernt von jeder Sympathie<br />
<strong>mit</strong> dem Leben eines Betriebs.“<br />
• WilliaM Morris<br />
“Ich bin davon überzeugt, daß es nur einen Weg gibt, <strong>die</strong>ses<br />
Übel loszuwerden, nämlich den, ein sozialistisches Wirtschaftssystem<br />
zu etablieren, begleitet von einem Bildungssystem,<br />
das sich an sozialen Zielsetzungen orientiert.<br />
In solch einer Wirtschaft gehören <strong>die</strong> Produktions<strong>mit</strong>tel der<br />
Gesellschaft selbst und ihr Gebrauch wird geplant. Eine Planwirtschaft,<br />
<strong>die</strong> <strong>die</strong> Produktion auf den Bedarf der<br />
Gemeinschaft einstellt, würde <strong>die</strong> durchzuführende Arbeit<br />
unter all denjeni„Die Öffentlichkeit ist heutzutage, insbesondere<br />
der Teil, der keine manuelle Tätigkeit ausübt, weitgehend<br />
unwissend über Berufe und Arbeitsprozesse, selbst wenn sie<br />
vor ihrer Tür stattfinden. So ist <strong>die</strong> Mehrheit der Mittelklasse<br />
nicht nur wehrlos gegenüber groben Verfälschungen, sondern<br />
auch, was noch ernster ist, ganze Welten entfernt von jeder<br />
Sympathie <strong>mit</strong> dem Leben eines Betriebs.“<br />
• WilliaM Morris<br />
“Ich bin davon überzeugt, daß es nur einen Weg gibt, <strong>die</strong>ses<br />
Übel loszuwerden, nämlich den, ein sozialistisches Wirtschaftssystem<br />
zu etablieren, begleitet von einem Bildungssystem,<br />
das sich an sozialen Zielsetzungen orientiert.<br />
In solch einer Wirtschaft gehören <strong>die</strong> Produktions<strong>mit</strong>tel der<br />
Gesellschaft selbst und ihr Gebrauch wird geplant.<br />
Eine Planwirtschaft, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Produktion auf den Bedarf der<br />
Gemeinschaft einstellt, würde <strong>die</strong> durchzuführende Arbeit<br />
unter all denjenigen verteilen, <strong>die</strong> in der Lage sind zu arbeiten<br />
und sie würde jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind<br />
einen Lebensunterhalt garantieren.”<br />
• AlBert Einstein<br />
„Wenn der Mensch nicht andere ausbeutet, muss er<br />
selbst arbeiten, um zu leben. Wie pri<strong>mit</strong>iv und einfach<br />
seine Arbeitsmethode auch immer sein mag, allein durch<br />
<strong>die</strong> Tatsache, dass er etwas produziert, hat er sich über<br />
das Tier erhoben und man hat ihn <strong>mit</strong> Recht als das<br />
„Tier, das produziert“ definiert. Aber <strong>die</strong> Arbeit ist für<br />
den Menschen nicht nur eine unentrinnbare<br />
Notwendigkeit. Sie befreit ihn auch von der<br />
Natur und macht ihn zu einem sozialen und<br />
unabhängigen Wesen. Im Arbeitsprozess, das<br />
heißt, durch das Gestalten und Verändern der<br />
Natur außerhalb seiner selbst formt und verändert<br />
er auch sich selbst.“<br />
• EriCH FroMM<br />
Die kleine Vorgeschichte.<br />
Die kleine Vorgeschichte: Während des<br />
Verfassens <strong>die</strong>ses Artikels unterrichtete ich<br />
einen der Übersetzer, dass es <strong>mit</strong> den Zitaten,<br />
betreffend Santillán, ein Problem gäbe.<br />
Er erklärte sich als nicht zuständig und gab<br />
<strong>mit</strong> meinem Einverständnis <strong>die</strong> Mails an<br />
den Verlag weiter. Mir wurde dann eine<br />
Stellungnahme von Hr. Seidman zugeleitet.<br />
In <strong>die</strong>ser stellte Hr. Seidman <strong>die</strong> meisten<br />
seiner Zitate <strong>mit</strong> den Quellen bei Santillán<br />
zusammen, stellte fest, dass er alle<br />
Zitate geprüft habe, alle Zitate korrekt und<br />
<strong>die</strong> angedeuteten Einwände falsch seien.<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
Zum Buch “Gegen <strong>die</strong> Arbeit” von Michael Seidman<br />
Wenn man genauer hinsieht, ist es ganz anders.<br />
Der Verlag war zufriedengestellt. Durch <strong>die</strong>se Hinweise<br />
waren da<strong>mit</strong> immerhin alle Zitatfundstellen<br />
komplett und es kann jetzt auf alles eingegangen<br />
werden.<br />
Viele Aussagen in dem Buch von Seidman kamen<br />
mir unplausibel, unbelastbar und an den Haaren<br />
herbeigezogen vor. Daraufhin bin ich einigen<br />
Quellenangaben, <strong>die</strong> leicht erreichbar waren, nachgegangen<br />
und beziehe mich hier auf <strong>die</strong> zwei Bücher<br />
von Diego Abad de Santillán: El anarquismo y<br />
la revolución en Espana, Escritos 1930/38 (A) und El<br />
organismo económico de la revolución (B). Beide sind<br />
im spanischen Original abgelegt unter www.scribd.<br />
com, so dass <strong>die</strong>se Kurzdarstellung nachgeprüft<br />
werden kann. (Ich hoffe da<strong>mit</strong> keine schützenswerten<br />
Rechte zu verletzen.) <strong>Seidmans</strong> Buch erschien<br />
in englischer Sprache, zuletzt in deutscher Übersetzung<br />
(<strong>die</strong> meist genauestens, aber ohne Quellenabgleich<br />
der englischen Ausgabe folgt). Eine spanische<br />
Ausgabe, in der <strong>die</strong> Differenzen sicher aufgefallen<br />
wären, gibt es nicht. Die betreffende Passage ab S.<br />
81 ist ein wesentlicher Teil des Buches; Teile davon<br />
sind in das Redemanuskript für <strong>die</strong> Buchvorstellungsrundreise<br />
übernommen und womöglich vorgelesen<br />
worden (abgedruckt in Graswurzelrevolution<br />
Nov. 2011).<br />
Es ist der Vorwurf zu machen, dass Hr. Seidman<br />
praktisch durchgehend <strong>die</strong>se beiden Quellen auf<br />
durchschaubare Weise benützt, um Santillán und<br />
<strong>die</strong> spanischen Syndikalisten zu diskreditieren und<br />
ihnen „das Wort im Mund umzudrehen“. Es wird<br />
ungenau oder falsch übersetzt, aus dem Zusammenhang<br />
gerissen, durch Beiwörter verfälscht und<br />
Unzusammenpassendes montiert, bis nichts mehr<br />
stimmt und unvoreingenommene LeserInnen sich<br />
fragen, was da <strong>mit</strong> den spanischen Anarchisten<br />
passiert sein muss. Hr. Seidman legt Wert darauf,<br />
dass alles seine Quelle hat. Nicht ganz richtig, aber<br />
da<strong>mit</strong> auch nicht besser, denn das Schnipselwerk<br />
zeigt <strong>die</strong> Bemühung, Quellenfragmente zu verwenden,<br />
um daraus Interpretationen und Suggestionen<br />
zu kreieren, <strong>die</strong> an Santilláns Position völlig vorbeigehen.<br />
(Wenn jemand fragen würde, warum einer<br />
sich <strong>die</strong> Mühe macht, das aufzudröseln: Sowas darf<br />
nicht durchgehen; mal da<strong>mit</strong> angefangen, muß<br />
man es zu Ende bringen – und aus zunehmender<br />
Sympathie <strong>mit</strong> Diego Abad de Santillán.) Es ist<br />
schon ein gelungenes Stück, <strong>die</strong>se Schmähung des<br />
Syndikalismus in einem libertären Verlag unterzubringen.<br />
Emanzipation und Arbeit in Gegensatz zu<br />
bringen (unter Vorschiebung eines einseitig dargestellten<br />
„Arbeiterwiderstandes“) ist <strong>die</strong> andere<br />
Seite davon. Diese Haltung anzunehmen wäre eine<br />
Selbstverabschiedung von jeder Relevanz im realen<br />
gesellschaftlichen Leben, in dem sich (fast) alles um<br />
<strong>die</strong> Arbeit dreht. Darauf kann hier aber leider aus<br />
Platzgründen nicht eingegangen werden. Die Zitate<br />
kommen dann nacheinander, aber zuerst zu der<br />
Story des Buches.<br />
Seidman nimmt <strong>die</strong> Schriften Santilláns als Beweis<strong>mit</strong>tel<br />
dafür, dass <strong>die</strong> spanischen Syndikalisten<br />
in den dreißiger Jahren bei ihrer verstärkten Orientierung<br />
auf Gewerkschaften und Industrie <strong>mit</strong><br />
der Befürwortung der Anwendung der modernen<br />
Industrie auch Taylorismus, Fordismus, <strong>die</strong> Ar-
arrikade sieben - April 2012<br />
beitskraft auspressende Rationalisierung, Akkordarbeit,<br />
Arbeitszwang, Arbeitsverherrlichung im<br />
Pack <strong>mit</strong>übernommen hätten. Mit dem kapitalismus-gleichen<br />
Ziel, möglichst viel Leistung aus den<br />
ArbeiterInnen herauszuholen und sie letztlich als<br />
Werkzeuge ihres „Produktivismus“ zu benützen.<br />
„Santillán wandelte sich vom eifrigen Kritiker kapitalistischer<br />
Technologie und Arbeitsorganisation zum<br />
enthusiastischen Befürworter derselben.“ (S. 81)<br />
Diese Behauptung ist meiner Meinung nach<br />
erstmal deshalb falsch, weil sie, richtiges Zitieren<br />
vorausgesetzt, durch <strong>die</strong> Quellen nicht gestützt,<br />
sondern entkräftet wird. Sie ist es auch wegen Mißachtung<br />
der Regeln einfacher Logik. Die Industrie<br />
ist ebenso wie Handwerk, Landwirtschaft oder Wissenschaft<br />
nicht per se kapitalistisch. Die Übergänge<br />
sind fließend, sie ist eine komplexe Form und ein<br />
Produkt menschlicher Arbeit. Sie der Herrschaft<br />
der Besitzenden zu entziehen ist möglich, weil <strong>die</strong>se<br />
in ihr keine notwendige Funktion ausüben. Die<br />
kapitalistische Beherrschung der Industrie ist keine<br />
Wesenseigenheit, sondern eine Okkupation oder<br />
Enteignung derer, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Arbeit machen. Die Zuversicht<br />
Santilláns, dass <strong>die</strong> Industrie zum Nutzen<br />
aller Menschen eingesetzt werden kann in Zustimmung<br />
zu kapitalistischen Ausbeutungsformen umzumünzen<br />
– das ist gemacht im wesentlichen <strong>mit</strong><br />
Wortspielereien und gespeist aus Denkblockaden:<br />
Arbeit: ungewollt, Industrie: unverstanden, ArbeiterInnenselbstverwaltung:<br />
unmöglich.<br />
Im Grunde ist es so: Santillán hatte wie viele<br />
andere Libertäre das Ziel: Wohlstand für alle! Er<br />
nennt auch Großzügigkeit und einen gewissen<br />
Überfluß als Bedingung für eine freie Gesellschaft.<br />
Allein um das Lebensnotwenige für alle zur Verfügung<br />
stellen zu können, sieht er <strong>die</strong> Notwendigkeit,<br />
über das in Spanien vorherrschende Handwerk<br />
und <strong>die</strong> Kleinproduktion hinauszugehen und das<br />
industrielle Potential zu entwickeln. Die Industrie<br />
war <strong>die</strong> Verheißung einer Zukunft, in der das Elend<br />
besiegt und, auch nach Santillán, <strong>mit</strong> verringerter<br />
(!) Arbeitsanstrengung <strong>die</strong> Bedürfnisse aller befriedigt<br />
werden könnten. Er versucht, auf ökonomische<br />
Fragen ökonomische Antworten zu geben<br />
und <strong>die</strong> schwierige Verbindung <strong>mit</strong> dem Ziel einer<br />
libertären Gesellschaft zu finden. Die positiven wie<br />
<strong>die</strong> zerstörerischen Auswirkungen der Industrialisierung<br />
sind jetzt deutlicher zu sehen als vor 75<br />
Jahren und <strong>die</strong> zu beantwortenden Probleme sind<br />
dramatisch angewachsen. (Meine eigene Hoffnung<br />
wäre, dass sich das Industriezeitalter als Durchgangsphase<br />
erweist hin zu einer bescheideneren<br />
und klügeren Daseinsweise der Menschen in Einklang<br />
<strong>mit</strong> der Erde.) Da <strong>die</strong> Ökonomie <strong>die</strong> „Politik“<br />
beherrscht, sind machbare ökonomische Alternativen<br />
umso mehr ausschlaggebend. Natürlich ist es<br />
in gewissem Sinne eine undankbare Aufgabe der<br />
sich Santillán stellte. Ihr wird oft ausgewichen oder<br />
davon geträumt, dass übermorgen alle Arbeit von<br />
Maschinen verrichtet wird (und da<strong>mit</strong> das Problem<br />
anstrengungslos gelöst wäre).<br />
Das erste Zitat ist überhaupt nicht zu beanstanden:<br />
„Der moderne Industrialismus nach dem Muster<br />
von Ford ist reiner Faschismus, rechtmäßiger Despotismus.<br />
In den großen, rationalisierten Betrieben ist das Individuum<br />
nichts, <strong>die</strong> Maschine alles. Diejenigen unter<br />
uns, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Freiheit lieben, sind nicht nur Feinde des<br />
staatlichen Faschismus, sondern auch des wirtschaftlichen<br />
Faschismus.“ (S. 81)<br />
Dann habe es bei Santillán einen „plötzlichen Sinneswandel“<br />
gegeben:<br />
– „Er bemerkte anerkennend, dass <strong>die</strong> Taylorisierung<br />
<strong>die</strong> ‚unproduktiven Bewegungen des Einzelnen’ beseitigt<br />
und seine ‚Produktivität’ gesteigert habe:<br />
‚Es ist nicht nötig, <strong>die</strong> derzeitige technische Organisation<br />
der kapitalistischen Gesellschaft zu zerstören, sondern<br />
wir müssen sie nutzen.<br />
Die Revolution wird der Fabrik als Privateigentum<br />
ein Ende bereiten. Aber wenn <strong>die</strong> Fabrik bestehen und,<br />
unserer Meinung nach verbessert werden muss, dann<br />
muss man wissen, wie sie funktioniert. Die Tatsache,<br />
dass sie gesellschaftliches Eigentum wird, ändert das<br />
Wesen der Produktion oder <strong>die</strong> Produktionsmethoden<br />
nicht. Die Verteilung der Produktion wird sich ändern<br />
und gerechter werden.’” (S. 82)<br />
Das Vorangestellte enthält Bruchstücke eines<br />
zehn Zeilen langen Satzes, in dem Santillán den<br />
Taylorismus beschreibt und nicht befürwortet:<br />
„Neben <strong>die</strong>sem nicht bezifferbaren Zuwachs an verfügbarer<br />
und nutzbarer Energie wurden weitere Perfektionierungsmaßnahmen<br />
durchgeführt; zum Beispiel <strong>die</strong> Taylorisierung,<br />
<strong>die</strong> unproduktive Bewegungen des Einzelnen<br />
beseitigt und seine Produktivität erhöht, wobei <strong>die</strong> menschliche<br />
Arbeitskraft in der Fabrik bis zur Erschöpfung<br />
in Anspruch genommen wird; andere Prozesse, <strong>die</strong> dem<br />
gleichen Zweck <strong>die</strong>nen, bei denen aber nicht der Mensch,<br />
sondern <strong>die</strong> Maschinen, <strong>die</strong> automatischen Anlagen, <strong>die</strong><br />
Organisation der Produktion im Mittelpunkt stehen,<br />
sind verschiedene Perfektionierungsmaßnahmen, <strong>die</strong> als<br />
industrielle Rationalisierung bezeichnet werden. Alte<br />
Maschinen werden ausgesondert und durch neuartige<br />
Apparate ersetzt, deren Betreiben nur ein unbedeutendes<br />
Eingreifen des Arbeiters erfordert; <strong>die</strong> Produktion wird<br />
so organisiert, dass <strong>die</strong>se Fabrik sich nur auf ein bestimmtes<br />
Teil, etc. spezialisiert. Dank <strong>die</strong>ser Taylorisierung<br />
bei den Menschen und <strong>die</strong>ser Rationalisierung bei den<br />
Werkzeugen lässt sich <strong>die</strong> Produktionskapazität unter<br />
Verringerung der Zahl der beteiligten Hände in unvorstellbarem<br />
Umfang erhöhen.“ (A, S. 124, <strong>die</strong>se und<br />
nachfolgende Übersetzungen durch eine staatlich<br />
geprüfte Dolmetscherin)<br />
Der Doppelpunkt soll<br />
eine Bestätigung durch<br />
das anschließend Zitierte<br />
vortäuschen, das aus zwei<br />
anderen Artikeln genommen<br />
ist (von A, S. 156 und<br />
203). Warum montiert<br />
Seidman hier drei Stellen?<br />
Denkbar wäre, um<br />
dem Taylorismus-Vorwurf<br />
mehr „Fleisch“ zu<br />
spen<strong>die</strong>ren, denn <strong>die</strong>ses<br />
Highlight der Santillán-<br />
“Kritik“ bestünde sonst<br />
nur aus einem falsch bewerteten<br />
Satzbruchteil;<br />
der ganze Satz wird stattdessen<br />
ja den LeserInnen<br />
vorenthalten. Und es soll<br />
wohl suggeriert werden,<br />
dass nach der Revolution<br />
der vorgefundene Taylorismus<br />
als Bestandteil der<br />
technischen Organisation<br />
(?) konsequent weiterbetrieben<br />
werden würde.<br />
13<br />
Plakat der sozialistischen<br />
UGT-Metallergewerkschaft<br />
Barcelona:<br />
»Wir siegen<br />
<strong>mit</strong> Disziplin!«
14<br />
»Eifert ihm nach, dem<br />
Volkshelden!«<br />
Plakat nach<br />
Durrutis Tod<br />
CR I S T Ó B A L AR T E C H E<br />
gehörte der Gewerkschaft<br />
der professionellen<br />
Illustratoren (Sindicato de<br />
Dibujantes Profesionales,<br />
SDP - UGT) an.<br />
Die Arbeiterin fordert ihre<br />
Genossen auf, an <strong>die</strong><br />
Front zu gehen<br />
»Die Milizen brauchen<br />
Dich!«<br />
Barcelona 1936<br />
Atlántida AG<br />
Format: 140 x 100 cm<br />
Das ist aber genau nicht <strong>die</strong> Absicht Santilláns,<br />
denn wenn nicht wieder ein kleiner Teil sorgsam<br />
herausgeschnitten wäre, wäre zu lesen:<br />
„[Der II. anarchistische Kongress vertritt <strong>die</strong> Auffassung]<br />
dass es nicht notwendig ist, <strong>die</strong> in der kapitalistischen<br />
Gesellschaft erreichte technische Organisation zu<br />
zerstören, sondern dass der Mensch sich ihrer be<strong>die</strong>nen<br />
soll, wenn er sich Schritt für Schritt aus der Sklaverei<br />
befreien möchte, ihm auferlegt durch <strong>die</strong> dringendsten<br />
Bedürfnisse. Nur, sie muss beherrscht werden. Wir empfehlen<br />
nicht <strong>die</strong> Anpassung des Menschen an <strong>die</strong> Maschine,<br />
sondern alle menschlichen Anstrengungen darauf zu<br />
richten, <strong>die</strong> Maschine an den Menschen anzupassen und<br />
dabei das Konzept der Freiheit und menschlichen Würde<br />
lebendig zu erhalten.<br />
In der postkapitalistischen Wirtschaft stehen <strong>die</strong><br />
Maschinen im Dienste der ganzen Gesellschaft, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />
modernsten wissenschaftlichen Arbeitsmethoden zum<br />
Wohle aller anwendet.“ (A, S. 156. Diese Stelle ist von<br />
Santillán zitiert aus einer Resolution des anarchistischen<br />
Kongresses von 1932 in Rosario, Argentinien)<br />
Später im Buch schaukelt sich das ohne jeden<br />
Beleg hoch zur Behauptung, <strong>die</strong> Gewerkschaften<br />
hätten Taylorismus oft eingesetzt: Gegen <strong>die</strong> Arbeit,<br />
S. 156 und 202. Leider wurde der Taylorismus-<br />
Vorwurf schon mehrfach abgeschrieben. Erstaunlich,<br />
wie leicht so eine schwere Anklage aufgrund<br />
einer winzigen (Fehl-)Indizie von manchen gern<br />
geglaubt wird.<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
– „Wie viele andere libertäre Aktivisten betonte der<br />
CNT-Führer <strong>die</strong> Notwendigkeit, das ‚Parasitentum’ zu<br />
beseitigen und für Arbeit für alle zu sorgen. Arbeit sei<br />
in einer revolutionären Gesellschaft sowohl Recht als<br />
Pflicht, und er pflichtete dem alten Sprichwort bei ‚Wer<br />
nicht arbeitet, soll auch nicht essen’:<br />
‘Wir suchen keine Freundschaften in der Fabrik. (…)<br />
Was uns vor allem in der Fabrik interessiert, ist, dass unser<br />
Arbeitskollege seinen Job versteht und ihn ausführt,<br />
ohne dass es Schwierigkeiten gibt, etwa weil er unerfahren<br />
ist oder <strong>die</strong> Funktionsweise des Ganzen nicht kennt.<br />
Das Heil liegt in der Arbeit und der Tag wird kommen,<br />
da <strong>die</strong> Arbeiter es wollen. Die Anarchisten, <strong>die</strong> einzige<br />
Strömung, <strong>die</strong> nicht versucht, auf Kosten anderer<br />
zu leben, kämpft für <strong>die</strong>sen Tag.’” (S. 82)<br />
Ein Bild von freudlosen, klösterlichen Arbeitshäusern<br />
drängt sich auf ... denn hier wird subtil der<br />
Bogen gespannt von Parasitentum zu Pflicht, zu<br />
keine Freundschaften und dem Heil in der Arbeit.<br />
Die zwei dem Zitat vorangestellten Sätze bringen<br />
Gedanken, <strong>die</strong> nicht nur Aktivisten eigen sind, sondern<br />
Ausgebeuteten zu allen Zeiten aus tiefstem<br />
Herzen kommen (<strong>die</strong> auch Professoren geläufig<br />
sind; Tip: im Internet nach „Jason Read“ und „parasites“<br />
suchen).<br />
Der <strong>mit</strong>tlere Teil hat eine ganz andere, nachvollziehbare<br />
Aussage in seinem wirklichen Zusammenhang:<br />
Bei Santillán lautet <strong>die</strong>se Stelle: (A, S. 204):<br />
“In unseren anarchistischen Kreisen herrscht anscheinend<br />
ein wenig Verwirrung über das Wesen des gesellschaftlichen<br />
Zusammenlebens, des Zusammenschlusses<br />
aus Affinität und der Funktion der Wirtschaft. Die<br />
Vorstellungen einiger Kameraden sind von den Bildern<br />
glücklicher Arka<strong>die</strong>n, freier Kommunen, beeinflußt. Aber<br />
Arka<strong>die</strong>n ist Vergangenheit; in der Zukunft wird es ganz<br />
andere Bedingungen geben. In der Fabrik geht es uns<br />
nicht um <strong>die</strong> Affinität wie bei einer Ehe, einer Freundschaft<br />
oder im gesellschaftlichen Bereich. In der Fabrik<br />
sind wir vor allem daran interessiert, einen Arbeitskollegen<br />
zu haben, der sich <strong>mit</strong> seiner Arbeit auskennt<br />
und sie ausführt, ohne durch seine Unerfahrenheit oder<br />
Unfähigkeit Probleme im Gesamtablauf zu verursachen.<br />
Das Zusammenleben in der Fabrik beruht nicht auf der<br />
Affinität der Charaktere, sondern auf Arbeitsfähigkeiten,<br />
auf Berufserfahrung. Kurz gesagt hat <strong>die</strong> Affinitätsgruppe,<br />
<strong>die</strong> sich im gesellschaftlichen Leben bildet, keine spezifische<br />
Funktion im Wirtschaftsleben.”<br />
Seidman hat es hier nicht genaugenommen<br />
<strong>mit</strong> afinidad (Verwandtschaft, Anziehung ...) und<br />
amistad (Freundschaft). Was Santillán sagen will<br />
ist aber aus dem Arbeitsleben heraus gut verständlich:<br />
Er vergleicht eine freie Kommune (eher <strong>die</strong><br />
Ausnahme) <strong>mit</strong> einem Betrieb, in dem man sich <strong>die</strong><br />
KollegInnen nicht aussuchen kann. Es ist kein frei<br />
gewähltes Miteinander, sondern ein Zusammentreffen<br />
verschiedener Altersgruppen, Mentalitäten,<br />
Geschlechter, Lebenseinstellungen. Freundschaft<br />
ist nicht Zutrittsvoraussetzung; sie entsteht bei der<br />
gemeinsamen Arbeit und darüberhinaus oder sie<br />
entsteht manchmal auch nicht. Kennen wir doch?<br />
Das Mißverständliche, was Seidman hier zudem<br />
reinträgt, ist, dass er Angelegenheiten innerhalb des<br />
Betriebs und der Belegschaft vermischt <strong>mit</strong> einer<br />
Gruppe, <strong>die</strong> außerhalb der Arbeitswelt steht, eben<br />
den „Parasiten“ (Blutsaugern). Denen, <strong>die</strong> nicht daran<br />
denken zu arbeiten, weil sie von Profit leben<br />
oder dem Klerus, Adel, Militär oder Herrschaftsapparat<br />
angehören. Diese Schichten waren in Spanien<br />
besonders aufgebläht, sie lasteten schwer auf denen,<br />
<strong>die</strong> gearbeitet haben und konsumierten mehr<br />
als <strong>die</strong> Produzenten. Nach Santillán übte damals<br />
nur eine Minderheit der Bevölkerung eine Tätigkeit<br />
aus, <strong>die</strong> nützliche Gebrauchswerte herstellte.<br />
(Heute nicht viel anders, aber vielleicht nicht so<br />
offensichtlich.) Dann liegt es doch nahe zu überlegen:<br />
Wenn alle Arbeitsfähigen was tun, wenn wir<br />
dazu Technik und Wissenschaft anwenden, wenn<br />
kein sinnloser Luxus mehr hergestellt wird, dann<br />
.... hätten alle reichlich und müßten nur den halben<br />
Tag arbeiten!<br />
Mit einem Sprung sind wir durch den dritten<br />
Bestandteil in einem Artikel über <strong>die</strong> Situation un<strong>mit</strong>telbar<br />
nach dem Wahlsieg der Frente Popular im<br />
Februar 1936 gelandet:<br />
„Für <strong>die</strong>ses Ergebnis wollte man unsere Unterstützung?<br />
Schon bald werdet ihr, Industrie- und Landarbeiter,<br />
arbeitslose Techniker, Selbstständige, Frauen und<br />
Männer, es sehen; schon bald werdet ihr sehen, dass wir<br />
euch nur <strong>die</strong> Wahrheit gesagt haben. Eure Lage wird<br />
heute <strong>die</strong> gleiche sein wie gestern und wenn sich daran<br />
etwas ändert, dann zum Schlechteren.<br />
Das kann nicht anders sein. Die Probleme in Spanien<br />
sind Probleme, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> Arbeit, Schweiß, fruchttragenden<br />
Anstrengungen, aber auch <strong>mit</strong> Freiheit und Gerechtigkeit<br />
gelöst werden können. Und weder Linke noch Rechte<br />
noch das Zentrum können sie lösen, da sie pflichtgemäß<br />
das Parasitentum, <strong>die</strong> Arbeitslosigkeit, <strong>die</strong> Ungerechtigkeit<br />
und <strong>die</strong> Sklaverei aufrechterhalten müssen.<br />
Den Weg haben wir bereits aufgezeigt: er besteht im<br />
Übereinkommen der Produzenten, ein monströses System<br />
zu beseitigen, das den freien Zugang zur Arbeit<br />
nicht erlaubt und eine beispiellose Beschäftigungslosigkeit<br />
von Arbeitern, Bauern und Technikern ermöglicht,<br />
während es Boden und nutzbare Ressourcen in Fülle gibt<br />
und halb Spanien langsam an Hunger und Entbehrungen<br />
zu Grunde geht.
arrikade sieben - April 2012<br />
Die Rettung liegt in der Arbeit. Und der Tag wird<br />
kommen, an dem <strong>die</strong> Arbeiter sich nach ihr [<strong>die</strong>ser Rettung]<br />
sehnen. Für <strong>die</strong>sen Tag kämpfen wir Anarchisten<br />
als einzige gesellschaftliche Geistesströmung, <strong>die</strong> nicht<br />
versucht, auf Kosten der Anstrengungen anderer zu leben;<br />
aber das geht nicht über das Parlament, da will ich<br />
niemandem etwas vormachen.“ (A, S. 313)<br />
Da hat <strong>die</strong> deutsche Übersetzung noch eins<br />
draufgelegt (salvatión –> salvation –> Heil). Santillán<br />
vergleicht hier <strong>die</strong> Möglichkeiten der „Rettung“<br />
aus der zerrütteten Situation Spaniens durch politische<br />
oder ökonomische Aktion. Syndikalisten setzen<br />
nun mal keine Hoffnungen auf <strong>die</strong> Wahlurne.<br />
Und in der Ökonomie ist in ihrem Verständnis <strong>die</strong><br />
lebendige Arbeit im Fokus, nicht <strong>die</strong> tote Arbeit in<br />
Gestalt von Produktions<strong>mit</strong>teln oder Investitionen.<br />
– „Außerdem brauche Spanien eine leistungsfähige<br />
Automobilindustrie (etwa nach amerikanischen Vorbild):<br />
‚Vor noch nicht allzu vielen Jahren war das Automobil<br />
eine Seltenheit. (…) Heutzutage ist es fast ein<br />
proletarisches Fahrzeug, das in unserer Kultur heimisch<br />
ist, und es muss für alle, absolut alle Einwohner des Landes<br />
erwerbbar werden. (…) Wir bevorzugen <strong>die</strong> Ford-<br />
Fabrik, in der es keine Spekulation mehr gibt, in der <strong>die</strong><br />
Gesundheit der Belegschaft gewahrt ist und <strong>die</strong> Löhne<br />
steigen. Das Ergebnis ist besser als ein winziger Betrieb<br />
in Barcelona.’” (S. 89)<br />
Dieses Zitat ist ein Mix von zwei weit auseinander<br />
liegenden Stellen in Santilláns anderer Schrift<br />
(B, S. 58 und 156). Santillán war für <strong>die</strong> Errichtung<br />
von Autofabriken. Vielleicht verständlich, wenn<br />
man daran denkt, dass ein großer Teil der Bevölkerung<br />
damals zu Fuß auf der Landstrasse von Stadt<br />
zu Stadt marschierte, mangels Geld und Beförderungs<strong>mit</strong>teln.<br />
Aber ein Anarchist, der will, dass<br />
sich möglichst alle ein Auto kaufen können, ein<br />
Beförderer des Autowahns? Nein, denn bei Santillán<br />
steht: “Ein Automobil … muss für alle, absolut alle<br />
Einwohner des Landes, <strong>die</strong> es brauchen, in Reichweite<br />
sein.” (B, Seite 58. In der englischen Ausgabe war<br />
das noch korrekt, der Fehler entstand bei der Übersetzung<br />
ins Deutsche.)<br />
Die beiden letzten Sätze in ihrem Zusammenhang:<br />
“Vor allem hier wird <strong>die</strong> Notwendigkeit einer engen<br />
Beziehung zwischen allen verbundenen Kräften deutlich.<br />
Auf den ersten Blick erzeugt <strong>die</strong>ser ganze Mechanismus<br />
ein Gefühl des Misstrauens, weil man sofort das<br />
leitende Zentrum entdeckt, <strong>die</strong> Diktatur der Bürokratie.<br />
Wir leugnen nicht <strong>die</strong> Gefahr von Abweichungen in<br />
<strong>die</strong>sem Sinne, Abweichungen, wie sie in einem unzusammenhängenden,<br />
zerteilten, dem Zufall überlassenen<br />
Transportsystem ebenfalls vorkommen könnten; bei <strong>die</strong>ser<br />
Form hätte man jedoch den Vorteil der Produktivität<br />
und Effizienz. Die gleichen Nachteile des Bürokratismus,<br />
des Autoritarismus, können sowohl in einer kleinen Autofabrik<br />
in Barcelona als auch in einer Fabrik wie der von<br />
Ford in Detroit vorkommen; das praktische Ergebnis der<br />
Anstrengung ist jedoch unterschiedlich und wir bevorzugen<br />
<strong>die</strong> Ford-Fabrik, in der nach der Abschaffung der<br />
Spekulation <strong>mit</strong> einer besseren Gesundheitsversorgung<br />
des Personals und höheren Löhnen ein besseres Ergebnis<br />
erzielt wird als in dem sehr kleinen Betrieb in Barcelona.”<br />
(B, S. 156)<br />
Im Text von Santillán <strong>die</strong>nt <strong>die</strong> Ford-Fabrik als<br />
Beispiel für <strong>die</strong> effizientere Herstellung von Gütern<br />
in einem Großbetrieb im Vergleich zu verstreuten<br />
Kleinbetrieben, und er nennt <strong>mit</strong> kapitalis-tischen<br />
Großbetrieben verbundene<br />
Gefahren. Nicht zuletzt<br />
steht <strong>die</strong>ser Abschnitt<br />
im Kapitel über das Transportwesen;<br />
Intention ist<br />
<strong>die</strong> Vermeidung hohen<br />
Transportaufwands zwischen<br />
den Produktionsstätten<br />
und der Vorteil<br />
durch Serienproduktion.<br />
Nachdem hier das Wort<br />
„Ford“ gefallen ist, wird<br />
es weiter hinten auf S. 201<br />
wieder aufgegriffen: „Santillán<br />
hatte den Fordismus befürwortet...“<br />
Ach ja, da war<br />
doch was ... wird schon<br />
was dran sein ...<br />
Das waren alle drei im<br />
Text herausgehobenen längeren<br />
Zitate. Noch zu einigen<br />
indirekten Zitaten:<br />
– “Zudem sei der Kapitalismus<br />
unfähig, den höchsten<br />
Arbeitsertrag aus seinen<br />
Arbeitern herauszuziehen.”<br />
(S. 88) Bei Santillán steht:<br />
“In Bezug auf <strong>die</strong> menschliche Arbeit, sowohl Kopf- wie<br />
Handarbeit, nützt das jetzige ökonomische System nur<br />
50 Prozent der Leistungskapazität.” (B, S. 52) Dann<br />
zählt Santillán Arbeitslose in verschiedenen Bereichen<br />
auf, denn es geht an <strong>die</strong>ser Stelle um Nichtbeschäftigung<br />
oder Arbeitslosigkeit!<br />
– „Freizeit, Faulheit und Parasitentum seien entwürdigend<br />
und müßten beseitigt werden.“ (S. 89)<br />
Quelle, wenn es sie gibt, nicht gefunden.<br />
– „Der CNT-Führer beklagte, dass sich <strong>die</strong> Veranlagung,<br />
ohne Arbeit zu leben durch <strong>die</strong> gesamte spanische<br />
Geschichte gezogen habe…“ (S. 89)<br />
Bei Santillán steht das Gegenteil: „Eine Tendenz zu<br />
leben ohne zu arbeiten – im übrigen sehr menschlich –<br />
wurde zu allen Zeiten gegen Spanien vorgebracht. Diese<br />
von oberflächlichen Beobachtern viel zu sehr betonte<br />
Tendenz hat Spanien einen besonderen Ruf verschafft.<br />
Aber <strong>die</strong>se Tendenz ist das Merkmal der privilegierten<br />
Klassen; Spaniens Arbeiter und Bauern sind äußerst arbeitssam<br />
und wir, <strong>die</strong> wir viele Länder kennen, können<br />
<strong>die</strong> These irgendeiner Unterlegenheit nicht bestätigen,<br />
etwa hinsichtlich der Fähigkeiten oder der Ausdauer in<br />
der Arbeit. Es gibt Spanier in den modernsten Fabriken<br />
der Vereinigten Staaten, in der argentinischen Pampa, in<br />
allen Klimazonen, an allen Arbeitsorten der Welt, gleich<br />
<strong>mit</strong> allen anderen. Wenn sie etwas unterscheidet, dann<br />
vielleicht ihr stärkerer Geist der Unabhängigkeit, ihre<br />
größere Neigung zu Rebellion. Deshalb wurde ihnen an<br />
verschiedenen Stellen der Zugang verwehrt, nicht wegen<br />
schlechterer Arbeit.“ (B, S. 69/70)<br />
– “Santillán hielt fest, dass es ‚in einem Regime organisierter<br />
Arbeit sehr schwer ist, außerhalb der Produktion<br />
zu leben.’” (S. 96) Auch hier ein nicht unwesentlicher<br />
Satz sehr verkürzt:<br />
„Arbeit wird ein Recht und auch eine Pflicht sein. Einige<br />
intelligente Minderheiten werden keinerlei Zwang<br />
irgendeiner Art benötigen, um das Notwendige und<br />
darüber hinaus zu arbeiten. Aber wird das bei allen so<br />
sein?<br />
15<br />
CNT-Plakat:<br />
»Gruß den<br />
heroischen Kämpfern<br />
der Freiheit!«<br />
CNT-Plakat: »Unsere<br />
Küsten werden von unseren<br />
heldenhaften<br />
Seeleuten verteidigt!«
16<br />
Plakat der CNT - FAI<br />
Künstler: TO N Y VI D A L<br />
Barcelona 1936<br />
Druckerei: Seix Barral<br />
Format: 52 x 68 cm<br />
An dem Tag, an dem<br />
sie sich ihrer Vorurteile<br />
entledigt haben,<br />
an <strong>die</strong>sem Tag erst können<br />
<strong>die</strong> Historiker eine<br />
ernsthafte Stu<strong>die</strong><br />
der Volksbewegung<br />
unternehmen, <strong>die</strong> das<br />
republikanische Spanien<br />
erschüttert<br />
und eine der markantesten<br />
sozialen<br />
Revolutionen<br />
der Geschichte hervorgebracht<br />
hat.<br />
• NoaM CHoMsKY<br />
Das Wirtschaftsleben darf nicht unterbrochen werden;<br />
im Gegenteil, <strong>die</strong> Revolution soll kräftig zur Belebung<br />
desselben beitragen und es ist notwendig zu wissen,<br />
auf welchen Grundlagen wir schon jetzt aufbauen<br />
müssen, um während und nach der Revolution ohne <strong>die</strong><br />
Genehmigung des Kapitalisten und ohne <strong>die</strong> Erlaubnis<br />
des Staates weiter zu produzieren, zu verteilen und zu<br />
konsumieren, nicht nur <strong>die</strong> Anhänger der Revolution,<br />
sondern auch <strong>die</strong> Gegner, <strong>die</strong> Nichtgewinnbaren, <strong>die</strong><br />
Unzufriedenen.<br />
Man befürchtet, dass in einer freien Gesellschaft <strong>die</strong><br />
Faulenzer, <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> nicht bereit sind, produktiv zu<br />
arbeiten, leicht jeder Verpflichtung ausweichen könnten;<br />
es ist jedoch in einem System der organisierten Arbeit<br />
sehr schwierig, abseits der Produktion zu leben; ein<br />
Übermaß an Zwang und Strenge wäre mehr zu fürchten<br />
als ein Lockern der Bindungen des produktiven Zusammenhalts.<br />
Deshalb haben wir immer gesagt, dass <strong>die</strong> kommende<br />
Revolution, der <strong>die</strong> Anarchisten ihre Begeisterung, ihren<br />
Kampfgeist, ihre Selbstlosigkeit widmen, keine Revolution<br />
sein wird, nach der Widerstand gegen den Autoritätsgeist<br />
keine Daseinsberechtigung mehr hätte; nach<br />
der Zerschlagung des Kapitalismus wartet eine lange<br />
und reiche libertäre Arbeit auf uns, da sich <strong>die</strong> jahrhundertelange<br />
Erziehung durch und für <strong>die</strong> Obrigkeit nicht<br />
<strong>mit</strong> einem einzigen wuchtigen Schlag auslöschen läßt.“<br />
(B, S. 93/94)<br />
Eine grobe Fälschung der Meinung anderer Syndikalisten<br />
und Anarchisten findet sich ebenfalls<br />
auf Seite 96. Seidman: „Vor <strong>die</strong> Wahl gestellt zwischen<br />
Arbeiterbeteiligung an der Produktion und Leistungsfähigkeit<br />
der Produktion deuteten einige Libertäre ihre<br />
Antwort an: ‚Der libertäre Sozialismus hat nie das Recht<br />
bestritten, sich denen zu widersetzen, <strong>die</strong> das kollektive<br />
Leben beeinträchtigen können.’ Anarchosyndikalisten<br />
wären berechtigt, ein Individuum zu bestrafen, ‚das sich<br />
aus Böswilligkeit oder einem anderen Grund der zuvor<br />
vereinbarten Disziplin nicht beugen will.’”<br />
Die Quelle: Gaston Leval, Conceptos económicos en<br />
el socialismo libertario (Buenos Aires, 1935). Internetquelle<br />
für <strong>die</strong> Recherche: https://we.riseup.net/jessecohn/experimental-translation-wiki.<br />
Dort steht es so:<br />
„Der libertäre Sozialismus hat nie das Recht bestritten,<br />
sich denen zu widersetzen, <strong>die</strong> das kollektive Leben<br />
beeinträchtigen können. Einfach gesagt lehnt er es ab,<br />
den Normen zu folgen, <strong>die</strong> von allen strafenden Schulen<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
der Autoritären und des Kapitalismus vorgegeben werden.<br />
Zum Umgang <strong>mit</strong> den Faulpelzen meint Kropotkin,<br />
indem er <strong>die</strong> Frage auf das Wesentliche reduziert: wenn<br />
sie der Gesellschaft nicht wirklich Schaden zufügen,<br />
muss man sie aushalten und durch moralischen Druck<br />
versuchen, sie dazu zu bewegen, ihr Verhalten zu ändern.<br />
Aber im gebotenen Fall gibt es auch radikalere<br />
Mittel: ‚Nehmen wir eine Gruppe Freiwilliger an, <strong>die</strong><br />
sich zu einer Unternehmung vereinigt haben und für ihr<br />
Gelingen zusammen arbeiten. Ein Genosse bildet eine<br />
Ausnahme und fehlt häufig auf seinem Posten. Sollte<br />
man nun seinetwegen <strong>die</strong> freie Gruppierung aufgeben,<br />
einen Präsidenten wählen, welchem das Recht zustände,<br />
Strafen zu verhängen, oder, wie es in der Akademie der<br />
Brauch ist, Besuchsmarken zu verteilen? Es ist augenscheinlich,<br />
dass man weder das eine noch das andere tun<br />
wird, sondern dass man eines Tages zu dem Kameraden,<br />
der <strong>die</strong> Unternehmung zu gefährden droht, sagen wird:<br />
Mein Freund, wir würden gerne <strong>mit</strong> dir zusammenarbeiten;<br />
aber wenn du so häufig an deinem Posten fehlst,<br />
oder deine Arbeit nachlässig verrichtest, so müssen wir<br />
uns trennen. Geh du und suche dir andere Kameraden,<br />
<strong>die</strong> sich deine Lässigkeit gefallen lassen.’*<br />
Diese Auffassung steht nicht allein. Jean Grave erklärte<br />
kategorisch: ‚So wie sich jedes Individuum den Willkürakten<br />
einer Gruppe entziehen kann, kann <strong>die</strong> Gruppe<br />
ihre Zusammenarbeit <strong>mit</strong> einem Individuum aufkündigen,<br />
das aus Böswilligkeit oder einem anderen Motiv<br />
sich in dem Zusammenspiel der aufgeteilten Arbeit<br />
nicht der vorher vereinbarten Disziplin beugen will.’”<br />
[* aus Kropotkin, Die Eroberung des Brotes]<br />
Kann man sich so vertun, dass der Kern der Aussage<br />
ins Gegenteil verkehrt wird?<br />
Mehr habe ich nicht nachgeforscht, möchte aber<br />
vermuten: es zieht sich durch. Die Quellenmanipulationen<br />
und <strong>die</strong> Thesen <strong>Seidmans</strong> stehen für mich<br />
in einem engen Wechselverhältnis: das eine bedingt<br />
das andere. Hier wird gutgläubigen LeserInnen<br />
schon <strong>mit</strong> dem Ausgangsmaterial <strong>die</strong> verdrehte<br />
Auslegung in den Mund gelöffelt! Offen bleibt, wie<br />
Seidman <strong>mit</strong> anderen, insbesondere den weniger<br />
leicht zugänglichen Quellen umgesprungen ist.<br />
Wenn <strong>die</strong>se Recherche überprüft ist, liegt es noch<br />
am Verlag. Dieses Buch sollte in Zukunft ehrlicherweise<br />
nur noch <strong>mit</strong> einem Aufkleber ausgeliefert<br />
werden: “Vorsicht! Für richtige Quellenwiedergabe<br />
stehen wir nicht gerade. Kann nicht als Sekundärquelle<br />
verwendet werden!”<br />
• HANS HANFSTINGL (municwob@web.de)<br />
März 2012 (Sämtliche Auslassungen durch<br />
Seidman; Unterstreichungen <strong>die</strong>nen<br />
nur der Hervorhebung)<br />
zur Veröffentlichung in der <strong>barrikade</strong> # 7
arrikade sieben - April 2012<br />
Seidman’s Plakat-Märchen<br />
»Viele der Plakatkünstler waren schon vor der Revolution<br />
in der Werbebranche tätig gewesen, und sie arbeiteten<br />
nicht nur für eine, sondern für mehrere Organisationen.<br />
So entwarf etwa ein Funktionär der Gewerkschaft<br />
der Berufsdesigner Poster für <strong>die</strong> CNT, <strong>die</strong> UGT, <strong>die</strong><br />
PSUC und <strong>die</strong> Generalitat. Seine Gewerkschaft stellte<br />
sogar für den POUM, <strong>die</strong> unabhängige kommunistische<br />
Organisation, Plakate her. Es entstand ein ökumenischer<br />
Stil, der (trotz leichter thematischer Unterschiede)<br />
sowohl <strong>die</strong> Arbeiter als auch <strong>die</strong> Produktivkräfte<br />
in nahezu identischer Weise darstellte. Selbst als sich<br />
Anarchosyndikalisten und Kommunisten im Mai 1937<br />
in den Straßen von Barcelona gegenseitig umbrachten,<br />
blieb <strong>die</strong> ästhetische Einheit der Volksfront bestehen.<br />
Ideologische Auseinandersetzungen und Machtkämpfe<br />
hinderten konkurrierende Organisationen nicht, ähnliche<br />
Darstellungen ihrer vorgeblichen Basis zu akzeptieren.<br />
(…)<br />
Die Figuren wären ununterscheidbar, wären da nicht<br />
ihre Gerätschaften und ihre Körperhaltung. Lebendiges<br />
Rot und Schwarz, <strong>die</strong> Farben der anarchistischen Bewegung,<br />
verstärkten das Profil der mächtigen Arbeiter.<br />
Die Titelzeile lautete: Genosse, arbeite und kämpfe für<br />
<strong>die</strong> Revolution. Niemals bildeten <strong>die</strong> Künstler <strong>die</strong> Arbeiter<br />
und Soldaten auf den Plakaten müde, hungrig oder<br />
krank ab. (…)<br />
Die Interpretation der Plakate hilft uns zu verstehen,<br />
wie einerseits Marxisten und Anarchosyndikalisten sich<br />
<strong>die</strong> Arbeiterklasse im wahrsten Sinne des Wortes vorstellten,<br />
und wie <strong>die</strong> Revolutionäre andererseits auf das<br />
reale Verhalten der Arbeiter während des Bürgerkriegs<br />
und der Revolution reagierten«<br />
• Graswurzelrevolution Nr. 363, November 2011<br />
Es ist also eine Anklage gegen einen der Künstler,<br />
der sich verschiedenen Gewerkschaften und Parteien<br />
grafisch zur Verfügung stellt – und es sogar<br />
wagt, <strong>die</strong> „unabhängige kommunistische Organisation“,<br />
also <strong>die</strong> POUM, plakativ zu unterstützen.<br />
Überall gröhlten <strong>die</strong> Kommunisten von der Volksfront<br />
und <strong>die</strong> CNT und UGT hatten 1938 gar ihre<br />
Fusion zur Einheitsgewerkschaft beschlossen.<br />
Diese Anschuldigungen sind infam und lächerlich.<br />
Genauso könnte man Seidman diskreditieren,<br />
weil er Bücher schreibt – für Geld und eben<strong>die</strong>se<br />
auch noch in kapitalistischen Verlagshäusern oder<br />
Universitätsverlagen herausgibt …<br />
Unabhängig davon, dass wohl keine Werbung<br />
und schon gar keine Propaganda, weder heute<br />
noch seinerzeit, negativ <strong>die</strong> eigenen Ziele darstellen<br />
würde, wir keine/r müde Arbeiter/innen oder<br />
verhungerte Kinder oder sterbenskranke Rentner/<br />
innen für eine Lebensversicherung oder den Beitritt<br />
zu einer Organisation abbilden. Aber was solls,<br />
Seidman weiß es eben besser.<br />
“Unglücklicherweise”, kommentiert Seidman<br />
selbst seine magere Beweisführung (es gibt keine<br />
einzigen Quellenhinweis für seine Behauptungen<br />
zur ‚Kunst in der Revolution’ auf den Seiten 161-<br />
167 in seinem Buch), „ist es sehr schwierig, wenn<br />
nicht gar unmöglich, <strong>die</strong> Wirkung <strong>die</strong>ser Plakate auf das<br />
Verhalten der Arbeiterklasse Barcelonas abzuschätzen:<br />
Rowdys und Graffiti-Künstler avant le lettre rissen viele<br />
Plakate herunter oder überdeckten sie, kaum dass sie an<br />
den Wänden angebracht waren. Bisher gibt es kaum Belege<br />
dafür, dass der sozialistische Realismus der Frente<br />
popular <strong>die</strong> Produktion oder <strong>die</strong> Kampfbereitschaft gesteigert<br />
hätte.“<br />
Also mal wieder – zu welchem Zeitpunkt ergeht<br />
<strong>die</strong>se „Analyse“? Wann tauchten <strong>die</strong> angeblichen<br />
Graffiti-Aktionisten „ihrer Zeit voraus“ denn auf?<br />
Und wer hatte Zeit, den Plakat-Kolonnen hinterher<br />
zu laufen und deren Arbeit zu übermalen oder abzureißen?<br />
Wie Seidman arbeitet, beweist folgender Satz:<br />
„Ein Plakat der CNT, das in Barcelona für das Departemento<br />
de orden público de Aragon hergestellt wurde,<br />
stellt einen dicken Mann dar, (…) Am unteren Rand<br />
stand zu lesen: Der faule Mann ist ein Faschist.“ (S. 164)<br />
Wir haben das Plakat auf der dritten Umschlagseite<br />
<strong>die</strong>ser <strong>barrikade</strong> abgedruckt. Auch wenn der Rat<br />
von Aragón vom CNT-Militanten JoaQuin Ascaso<br />
präsi<strong>die</strong>rt und <strong>die</strong> Behörde für Öffentliche Ordnung<br />
durch den Genossen Adolfo Ballano (bis<br />
zur Auflösung des ConseJo De AraGÓn im August<br />
1937), so ist es nicht einfach „ein Plakat der CNT“,<br />
sondern der CNT-UGT-Regierung Aragóns.<br />
Natürlich packt Seidman hier auch seine Kritik<br />
am Personenkult um Durruti <strong>mit</strong> hinein, den er<br />
<strong>mit</strong> dem bolschewistischen Kult um – Stalin vergleicht.<br />
Und das, obwohl er selbst schreibt, dass<br />
erst aufgrund der kommunistischen Propaganda<br />
um Marx, Lenin und Stalin „<strong>die</strong> Libertären <strong>mit</strong> Fotografien,<br />
Zeichnungen und Porträits von Durruti, dessen<br />
Bild in der anarchosyndikalistischen Presse ebenso allgegenwärtig<br />
schien wie das Konterfei Stalins in kommunistischen<br />
Veröffentlichungen antworteten“. Es „schien“<br />
also so – das ist <strong>die</strong> reinste Meinungsmache und<br />
Manipulation! (S. 165). Auch dürfte es einen feinen<br />
Unterschied machen, ob man Lenin und Stalin als<br />
Lichtgestalten - eben Führer! - darstellt oder nach<br />
Durrutis Tod <strong>die</strong> Arbeiterschaft auffordert: ¡I<strong>mit</strong>ad<br />
el hero del pueblo! (S. 14 oben) Also identifiziert Euch<br />
<strong>mit</strong> ihm, seinen Zielen, eifert ihm nach. Das hat <strong>mit</strong><br />
einem Heiligenschein nichts zu tun.<br />
Aus dem Bildband Palette und Flamme – Plakate<br />
aus dem Spanischen Bürgerkrieg von John Tisa<br />
AR T U R O BA L L E S T E R<br />
17<br />
Maler, Illustrator und<br />
Plakatkünstler, geboren<br />
in Valencia 1892, dort<br />
auch gestorben 1981.<br />
Er stu<strong>die</strong>rte Kunst<br />
und Handel. Nach der<br />
Ausbildung arbeitete er als<br />
Illustrator für verschiedene<br />
Zeitschriften Valencias.<br />
Seine Plakate während<br />
des Bürgerkrieges<br />
gehören zu seinen<br />
wichtigsten Arbeiten (siehe<br />
u.a. Seite 11 für <strong>die</strong> UGT).<br />
Er arbeitete hauptsächlich<br />
für <strong>die</strong> CNT, <strong>die</strong> stärkste<br />
Gewerkschaft Spaniens.<br />
Die Plakate von Arturo<br />
Ballester zeigen ihm<br />
besonders beeinfl ußt vom<br />
sowjetischen Realismus.<br />
Er war berühmt für seinen<br />
art deco style.<br />
Er wurde <strong>mit</strong> dem Epitaph<br />
„Künstler der Republik“<br />
beerdigt.<br />
Sein Bruder VI N C E N T<br />
BA L L E S T E R entwarf<br />
ebenfalls Plakate<br />
während <strong>die</strong>ser Zeit.<br />
BA L D I A VI L A T Ó<br />
auch: XA V I E R BA D I A VI L A T Ó<br />
Während des Bürgerkrieges<br />
arbeitete er für <strong>die</strong><br />
CNT und FAI<br />
(siehe Plakat Seite 19).<br />
Nach seiner Flucht nach<br />
Frankreich arbeitete<br />
er als kommerziellen<br />
Grafi ker u.a. für <strong>die</strong> Fluggesellschaft<br />
Air France<br />
und entwarf eines ihrer<br />
berühmtesten Plakate.<br />
Er setzte sein Engagement<br />
gegen Franco und<br />
dessen Repression<br />
fort und unterstütze<br />
<strong>die</strong> anarchistische<br />
SIA (Solidaridad<br />
Internacional Antifascista),<br />
<strong>die</strong> internationale<br />
antifaschistische Hilfe<br />
organisierte.<br />
Ende der Fünfziger<br />
Jahre wanderte er nach<br />
Südamerika aus, wo sich<br />
seine Spur verliert.<br />
Das Werk Images de<br />
l’Espagne Franquiste,<br />
veröfffentlichete er 1947<br />
in Paris für <strong>die</strong> Allianz<br />
der Demokratischen<br />
Kräfte Spaniens. Der<br />
dreisprachige Text -<br />
Spanisch, Französisch<br />
und Englisch - des<br />
Filmemachers MA T E O<br />
SA N T O S, erläuterte BA D I A<br />
VI L A T Ós kraftvolle und<br />
farbige Lithografi en, <strong>die</strong><br />
seinen surrealistischen<br />
Einfl uß deutlich machten.
18<br />
»Der Seemann:<br />
ein Held!«<br />
CNT - AIT<br />
Plakat-Nachweise:<br />
Seite 19 - gegenüber:<br />
»Habgier. Militarismus.<br />
Krieg - das ist<br />
Faschismus.<br />
Vernichten wir ihn <strong>mit</strong><br />
vereinten Kräften.«<br />
Künstler: BA D I A VI L A T Ó -<br />
CNT -Format: 71 x 102 cm<br />
Seite 25:<br />
»Kultur! Die faschistische<br />
Barbarei gegen<br />
Madrid«<br />
Künstler: MU R O - CNT-AIT<br />
Format: 71 x 102 cm<br />
Viele weitere Plakate,<br />
sortiert nach Künstlern und<br />
Themen hier:<br />
SO C I E D A D BE N É F I C A D E<br />
HI S T O R I A D O R E S AF I C I O N A D O S<br />
Y CR E A D O R E S:<br />
www.arte.sbhac.net<br />
(Sofia-Press, 1980), also einem bulgarischen<br />
kommunistischen Verlag<br />
(!), dokumentiere ich mal folgende<br />
künstlerische Betrachtungen:<br />
„Andere [Plakate] erschienen in<br />
den graphischen Unternehmen Grafos<br />
Collectivitzada, Barcelona; Lt. Cromo,<br />
Madrid; LYF, Madrid; Lito Martin,<br />
Madrid; Empressa Collectivitzada, Barcelona;<br />
Barguño, Barcelona; S. Dura,<br />
Valencia.<br />
Die Grafiker, Drucker, Zeichner,<br />
Lithografen arbeiteten unter den erschwerten<br />
Bedingungen von Luftangriffen,<br />
Artilleriebeschuß, bei niedrigen<br />
Lebens<strong>mit</strong>tel- und Heizstoffrationen,<br />
unzureichender Stromversorgung für<br />
<strong>die</strong> Beleuchtung und den Maschinenbetrieb<br />
usw. Und doch [haben] ihre Leistungen<br />
auch für uns eine inspirierende<br />
Wirkung bewahrt.<br />
Die ästhetischen Tendenzen der<br />
Künstler variieren wesentlich. Sie<br />
schwankten zwischen dem relativen<br />
Naturalismus eines Bardasano und der<br />
außergewöhnlich talentierten Satire eines<br />
Pujol. (…) Muro be<strong>die</strong>nte sich bei<br />
der vernichtenden Anklage gegen den<br />
Faschismus in „Kultur“ der Fotomontage.<br />
Renau orchestrierte <strong>die</strong> realistische<br />
Montage einer geballten Faust, <strong>die</strong> aus<br />
einem Wald von Bajonetten auf dem Plakat<br />
„El Comisario“ (Der Kommissar)<br />
herausragt.“ Und: „Arturo Ballester<br />
erreicht ebenfalls ein Gefühl von Stilreinheit<br />
und Kraft in seinem klassisch<br />
dargestellten Soldaten vor dem Hintergrund<br />
der griechischen Siegesstatue<br />
in „Sin Disciplina No Hay Victoria“<br />
(Ohne Disziplin – kein Sieg).“<br />
Abschließend bemerkt AnthonY ToneY, seines<br />
Zeichens Akademiker der Nationalen DesiGn-AKa-<br />
DeMie der USA und Veteran der ABraHaM LinColn-<br />
BriGaDe: „Das sind nur einige der Plakate, <strong>die</strong> mir besonders<br />
wirkungsvoll erscheinen.“<br />
Insgesamt enthält der Bildband 158 Plakate von<br />
57 namentlich identifizierten und 23 von unbekannten<br />
Künstlern. Arturo Ballester wird <strong>mit</strong> nur 3<br />
Plakaten – Bauer: <strong>die</strong>s ist Dein Platz (sieh zweite Umschlag<br />
links unten) für <strong>die</strong> FederaciÓn Regional de<br />
CamPesinos de LeVante der CNT; El Pueblo – Tageszeitung<br />
der Syndikalistische Partei und eben Ohne<br />
Disziplin – Kein Sieg! für <strong>die</strong> SoZialistische Partei<br />
PSOE (siehe S. 11) – dokumentiert.<br />
Seidman führt auch keinerlei Quelle für <strong>die</strong> Behauptung<br />
an, dass es einen professionellen Grafikern<br />
gab, der mal kommunisisch-marxistische<br />
oder eben anarchistische Plakate anfertigte – der<br />
ausgerechnet auch noch [Berufs-]Funktionär der<br />
Designer-Gewerkschaft (welcher Organisation?) gewesen<br />
sein. Es könnte natürlich Ballester gewesen<br />
sein, der für <strong>die</strong> UGT und <strong>die</strong> CNT tätig war. Und<br />
sein Brot hat er später sogar <strong>mit</strong> professionellen Arbeiten<br />
u.a. für <strong>die</strong> Air FranCe im Exil ver<strong>die</strong>nt.<br />
Aber was soll‘s, denn „bisher gibt es kaum Belege<br />
dafür, dass der sozialistische Realismus“, egal welcher<br />
Plakate, „<strong>die</strong> Produktion oder <strong>die</strong> Kampfbereitschaft gesteigert<br />
hätte“ ...<br />
• Folkert Mohrhof<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
Michael Seidman:<br />
„Niemals bildeten <strong>die</strong> Künstler <strong>die</strong> Arbeiter und Soldaten<br />
auf den Plakaten müde, hungrig oder krank ab. Die<br />
Produktions<strong>mit</strong>tel – <strong>die</strong> Fabriken, Höfe und Werkstätten<br />
– wurden, ganz gleich wie hässlich sie waren, ebenso<br />
idealisiert wie <strong>die</strong> mutigen, starken und kraftstrotzenden<br />
Männer und Frauen, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Sache lebten und starben.“<br />
Seidman Beweise: Frauen sähen aus wie Männer -<br />
alle sind nur »Material«, »Masse« ... eben <strong>die</strong>s zeigt<br />
das untenstehende Plakat der MuJeres LiBres nicht:<br />
»Frauen! Eure Familie ist <strong>die</strong> Basis für alle Kämpfer<br />
für <strong>die</strong> Freiheit!«<br />
Plakat der CNT für <strong>die</strong> anarchistische<br />
Frauenorganisation MuJeres LieBres<br />
Künstler: JOSÉ MARÍA GALLO
arrikade sieben - April 2012<br />
19
20<br />
»Der Ultralinke.<br />
In unterschiedlicher<br />
Verkleidung lauert er<br />
im Hintergrund, um<br />
im Dunkeln besser<br />
zu töten. Vernichten<br />
wir ihn, wo wir ihn<br />
fi nden.«<br />
Autor: PU Y O L - Internationale<br />
Rote Hilfe<br />
Format: 71 x 102 cm<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
Die stalinistische Propaganda<br />
»Die Gerüchtemacher.<br />
Kampf bis zum Tod den<br />
Gerüchtemachern! Mit<br />
defaitistischen Schreien<br />
versuchen sie, den<br />
Kampfgeist der Front<br />
und im Hinterland zu<br />
brechen.«<br />
Künstler: PU Y O L - Internationale<br />
Rote Hilfe<br />
Format: 71 x 102 cm<br />
»Der Pessimist.<br />
Unerbittlicher Kampf<br />
dem Pessimisten! Er<br />
sät Mutlosigkeit unter<br />
dem antifaschistischen<br />
Volk.«<br />
Künstler: PU Y O L - Internationale<br />
Rote Hilfe<br />
Format: 71 x 102 cm<br />
So kommentierte der kommunistische Veteran der<br />
amerikanischen LinColn-BriGaDe AnthonY ToneY <strong>die</strong>se<br />
vier Plakate aus dem Bildband Palette und Flamme,<br />
produziert für <strong>die</strong> Internationale Rote HilFe - (S.R.I.):<br />
»Die fünf satirischen Litografien von Pujol sind einfach<br />
unglaublich. Sie erscheinen so einfach und sind zugleich<br />
dermaßen kompliziert <strong>mit</strong>einander verflochten. Seine Gestalten<br />
kommen aus ser Tiefe seines von Gefühl und Selbstkontrolle<br />
erfüllten Wesens.<br />
Jede von ihnen ist eine schwarz-weiß schraffierte Gestalt<br />
<strong>mit</strong> einem Text darunter. Plastisch und überhaupt vollständig<br />
organisiert, erreichen <strong>die</strong> Gestalten eine tief in unser Bewußtsein<br />
dringende Einheit von Phantasie und Realität.<br />
Besonders in „El Acaparador“ (Der Hamsterer), wo <strong>die</strong><br />
ausschlaggebende Wiederholung der Form oval <strong>mit</strong> schön<br />
abgestimmten Abwandlungen erscheint, um <strong>die</strong> Konzeption<br />
von der Habgier aufzugreifen und weiterzuentwickeln.<br />
„El Pessimista“ (Der Pessimist) findet einen wirksamen<br />
Ausdruck in der Hyperbolisierung der Körperhaltung und<br />
des Gesichtsausdrucks. Hier sind <strong>die</strong> bestimmenden rhytmischen<br />
Wiederholungen dreieckig und bildnerisch kontrolliert,<br />
um das Gefühl innerer Erregung und Verzweiflung<br />
wiederzugeben. Die Litografien sind auch heute von unveränderter<br />
Aktualität.« •<br />
»Der Hamsterer.<br />
Harter Kampf dem<br />
Hamsterer! Seine<br />
Aufgabe - den Krieg zu<br />
erschweren! Geben wir<br />
ihm es nach Gebühr!«<br />
Künstler: PU Y O L - Internationale<br />
Rote Hilfe<br />
Format: 71 x 91 cm
arrikade sieben - April 2012<br />
21<br />
»Katalanen!<br />
Besser aufrecht<br />
sterben, als auf Knien<br />
leben!«<br />
Eine Plakat-Wand - nach Seidman wurde<br />
alles immer sofort abgerissen ...<br />
Das Schicksal der spanischen Kinder<br />
Künstler: BA R D A S A N O<br />
- Volksfront von Katalonien<br />
Format: 76 x 107 cm<br />
Woche der Kinder<br />
1937<br />
KÜ N S T L E R: JO S E LU I S RE Y<br />
VILA (SIM) - war Mitglied<br />
keiner Gewerkschaft,<br />
arbeitete aber für <strong>die</strong><br />
katalanische Regierung,<br />
<strong>die</strong> Generalitat<br />
UGT CNT Barcelona<br />
Format: 50 x 36 cm<br />
»Schicksal, das Hitler der deutschen Jugend<br />
bestimmt!«<br />
»Madrid -<br />
<strong>die</strong> „militärische“ Praxis<br />
der Rebellen,<br />
wenn ihr das duldet,<br />
dann kommen<br />
Eure Kinder als nächste<br />
dran!«<br />
Künstler: unbekannt<br />
Herausgeber:<br />
Propagandaministerium<br />
Format: 51 x 66 cm
22<br />
Michael Seidman<br />
Republic of Egos (2002)<br />
Die Bürgerkriegslage in<br />
Spanien am 20. Juli 1936<br />
und im März 1939<br />
Rezension von<br />
• HolguÍn, San<strong>die</strong>, Creating Spaniards. Culture<br />
and National Identity in Republican Spain. Madison:<br />
University of Wisconsin Press, 2002, 264 pp.<br />
ISBN: 0 299 17630 4 (cloth); 0 299 17634 7 (paper)<br />
• Seidman, Michael, Republic of Egos. A Social<br />
History of the Spanish Civil War. Madison:<br />
University of Wisconsin Press, 2002, 304 pp.<br />
ISBN: 0 299 17860 9 (cloth); 0 299 17864 1 (paper)<br />
Die Geschichtsschreibung des Spanischen Bürgerkrieges<br />
(1936 – 1939) hat sich in vergleichbaren<br />
Bahnen entwickelt wie <strong>die</strong> Europas des 20. Jahrhunderts<br />
insgesamt – allerdings <strong>mit</strong> einer zeitlichen<br />
Verzögerung, <strong>die</strong> sich aus der Langlebigkeit<br />
der Franco-Diktatur (1939 – 1975), <strong>die</strong> aus <strong>die</strong>sem<br />
Krieg entstand, ergab. Zuerst erschienen <strong>die</strong> Werke<br />
über <strong>die</strong> diplomatische, staatspolitische und ökonomische<br />
Geschichte, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> der schnellen<br />
Internationalisierung des Konfliktes und seiner Bedeutung<br />
für <strong>die</strong> großen Mächte beschäftigten. Diese<br />
waren vor allem Ergebnisse von Forschungen,<br />
<strong>die</strong> außerhalb Spaniens stattfanden, da <strong>die</strong> Diktatur<br />
den Zugang zu den Quellen allen außer den eigenen<br />
Propagandisten verwehrte oder deren Veröffentlichung,<br />
außer zu Zwecken der Apologie oder<br />
Hagiographie, verhinderte. In den späten 1970er<br />
und frühen 1980er Jahren erschienen neue Arbeiten<br />
– einschließlich solche von Spaniern, denn <strong>die</strong> Ankunft<br />
der Demokratie löste eine langsame Tauperiode<br />
aus. Diese analysierten <strong>die</strong> interne politische<br />
Entwicklung der kriegführenden Seiten in Spanien<br />
und ihr Verhältnis zur europäischen Polarisierung<br />
in den 1930er Jahren. Hierin eingeschlossen waren<br />
<strong>die</strong> ersten Analysen des Francismus im Vergleich<br />
zum europäischen Faschismus und Forschungen<br />
über <strong>die</strong> Internationalen Brigaden, <strong>die</strong> auf Seiten<br />
der Republik kämpften – daran wird weiter gearbeitet,<br />
in letzterem Falle allein schon wegen der<br />
Öffnung der Moskauer Archive. Während des<br />
vergangenen Jahrzehnts<br />
arbeitet eine neue Generation<br />
von Historikern in<br />
Spanien <strong>mit</strong> dem Fokus<br />
auf den Krieg als einen<br />
zivilen Konflikt, der <strong>die</strong><br />
gesamte Gesellschaft einbezogen<br />
hat.<br />
Diese neue Forschung<br />
betrachtet <strong>die</strong> lange Periode<br />
des ‚uncivil peace‘<br />
<strong>mit</strong> ihren Massentötungen<br />
und Inhaftierungen,<br />
<strong>die</strong> dem francististischen<br />
militärischen<br />
Sieg am 1. April 1939<br />
folgte. Dies geschieht<br />
aus Gründen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Geschichtsschreibung<br />
deutlich<br />
<strong>mit</strong> den Ansprüchen<br />
der Erinnerung und Wiedergutmachung<br />
in der<br />
Gegenwart verbinden.<br />
Besonders sind Historiker<br />
daran interessiert,<br />
wie und warum <strong>die</strong> Gesellschaft<br />
und der Staat<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
Helen Graham<br />
»… eine Verteidigung des neo-liberalen Wirtschaftsliberalismus« 1<br />
in Spanien <strong>mit</strong> dem Mitteln der brutalen Ausschließung<br />
besonderer Gruppen rekonstruiert wurde.<br />
Eine Hauptbedeutung kommt hier der Erforschung<br />
des Dreh- und Angelpunktes von Francos Repressionsmaschinerie<br />
zu: der Denunziation. Diese schuf<br />
dichte Netze der Komplizität zwischen Regime und<br />
Gesellschaft, durch <strong>die</strong> ‚einfache Spanier‘ grundlegend<br />
in <strong>die</strong> Unterdrückung ihrer republikanischen<br />
Mitbürger verwickelt wurden. Wenn sie gelingt,<br />
erreicht <strong>die</strong>se Arbeit <strong>die</strong> schwierige Synthese, <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong> Sozialgeschichte verlangt, um Veränderungen<br />
(oder deren Fehlen) zu erklären, und ganz besonders<br />
zu erklären, wie solche Prozesse durch <strong>die</strong> Interaktion<br />
der Makro- und Mikroebenen der Macht<br />
geprägt werden. Denn eine überzeugende historische<br />
Analyse der modernen Gesellschaft muß<br />
einerseits das komplexe Verhältnis zwischen nationaler<br />
und internationaler Politik und Ökonomie<br />
und andererseits <strong>die</strong> Dynamiken des alltäglichen<br />
Lebens beachten. Sie muß ebenfalls <strong>die</strong> vielfältigen<br />
Interaktionen zwischen der politischen Autorität,<br />
der historisch wirksamen, aber eklektischen, Traditionen<br />
und Werte der Gesellschaft und der vollen<br />
Reichweite von kollektiven Identitäten und darin<br />
enthaltenen individuellen Subjektivitäten in Rechnung<br />
stellen.<br />
Auch außerhalb Spaniens konzentrieren sich jetzt<br />
Historiker ebenfalls auf soziale und kulturelle Themen,<br />
wie <strong>die</strong> Bücher aus der University of Wisconsin<br />
Press zeigen, <strong>die</strong> hier besprochen werden. Das<br />
von Sandy Holguín behandelt ein wichtiges und<br />
unerforschtes Thema: den Versuch der fortschrittlichen<br />
regierenden Eliten im Spanien der 1930er<br />
Jahre, <strong>die</strong> Massen durch Kulturprojekte zu Nationalisieren/Republikanisieren,<br />
<strong>die</strong> in ihrer Form,<br />
weniger in ihrem Inhalt, innovativ waren. Dies beinhaltete<br />
Theatertruppen, <strong>die</strong> das klassische Drama<br />
in <strong>die</strong> Dörfer Spaniens brachten (obwohl das in der<br />
Praxis hauptsächlich Dörfer in Kastilien, Spaniens<br />
zentralistisches Herzland, betraf) und <strong>die</strong> misiones<br />
pedagógicas, <strong>die</strong> Wanderlehrer, deren Hauptaufgabe<br />
es war, den ländlichen Massen <strong>die</strong> Grundlagen<br />
des Lesens und Schreibens beizubringen. Holguíns<br />
Werk ist eine gewissenhaft zusammengestellte Stu<strong>die</strong><br />
<strong>mit</strong> einigen wunderbaren Archivfotos. Aber es<br />
ist eher beschreibend als analysierend und auf jeden<br />
Fall zu eng fokussiert. Das Material zur kulturellen<br />
Politik wird völlig ohne Bezug zu seiner Rezeption<br />
oder zum größeren Bild der republikanischen Reform<br />
und der Kräfte, <strong>die</strong> sie herausforderte, gezeigt.<br />
Der Mangel eines solchen Kontextes bedeutet, daß<br />
Holguín das zentrale Thema der ‚Schaffung der<br />
Spanier‘ [Creating Spaniards] nicht fruchtbringend<br />
ansprechen kann. In der Tat wirft ihr Gebrauch der<br />
Begriffe ‚Spanien‘ und ‚Spanier‘ (und auch ‚Europäer‘)<br />
viele Fragen auf, sobald <strong>die</strong>se auf <strong>die</strong> 1930er<br />
Jahre bezogen werden. Das Schlußkapitel über den<br />
Spanischen Bürgerkrieg allerdings ist das bei weitem<br />
problematischte, da es zahlreiche faktische und<br />
interpretatorische Fehler enthält. Anstatt sich <strong>mit</strong><br />
spekulativen Mutmaßungen über <strong>die</strong> Kulturpolitik<br />
nach einen angenommenen republikanischen Sieg<br />
zu beschäftigen, wäre Dr. Holguín besser beraten<br />
gewesen, das tatsächliche Wiederaufkommen des<br />
liberalen paternalistischen Kulturprojektes der Republik<br />
während der Staatsrekonstruktion von 1937<br />
zu untersuchen.
arrikade sieben - April 2012<br />
Michael <strong>Seidmans</strong> Hintergrund, in der Republic<br />
of Egos, ist ebenfalls der Bürgerkrieg, und auch hier<br />
hauptsächlich aus der Perspektive des republikanischen<br />
Spanien betrachtet. Der Autor behauptet<br />
ausdrücklich, eine Sozialgeschichte geschrieben<br />
zu haben. Das aber stellt sich aus einer Reihe von<br />
Gründen als problematisch heraus. Erstens schließt<br />
<strong>die</strong> eigentümlich statische thematische Struktur, <strong>die</strong><br />
Seidman adaptiert, <strong>die</strong> Analyse aus, wie <strong>die</strong> materiellen<br />
Bedingungen, <strong>die</strong> gesellschaftliche Erfahrung<br />
und <strong>die</strong> unterschiedlichen Bedeutungen, <strong>die</strong> ihnen<br />
Gruppen und Individuen zumaßen, sich während<br />
des Krieges entwickelten. Obwohl ein normaler<br />
Leser es durch <strong>die</strong> Lektüre des Buches wahrscheinlich<br />
nicht <strong>mit</strong>bekommen würde, so lagen zwischen<br />
1938 und 1936 Welten, was <strong>die</strong> Bedingungen des<br />
täglichen Lebens im republikanischen Spanien und<br />
<strong>die</strong> variierenden Erwartungen der Bevölkerung für<br />
<strong>die</strong> Zukunft betraf. Das lag zum nicht geringen Teil<br />
an dem sich verschlechternden internationalen diplomatischen<br />
Klima und dem Einfluß des ökonomischen<br />
Embargos, das sich gegen <strong>die</strong> Republik<br />
richtete, als Konsequenz der von den europäischen<br />
Mächten verhängten Politik der Nichteinmischung.<br />
Dies hatte einen direkten und in wachsendem<br />
Maße zerstörerischen Effekt auf <strong>die</strong> Fähigkeit der<br />
Republik, ihre Armee und Bevölkerung zu versorgen,<br />
und so<strong>mit</strong> auf jeden Aspekt des Lebens im republikanischen<br />
Spanien. Am Ende sollte <strong>die</strong> daraus<br />
resultierende Krise, <strong>die</strong> zu ernsthaftem Hunger<br />
führte, alles untergraben, einschließlich der politischen<br />
Legiti<strong>mit</strong>ät der Republik. Doch <strong>Seidmans</strong><br />
Beitrag ignoriert <strong>die</strong> Tatsache, daß das alltägliche<br />
Leben, welches er beschreibt, eigentlich von dem<br />
‚größeren Bild‘ geformt war. Aus irgend einem<br />
Grund scheint der Verfasser zu denken, daß <strong>die</strong>s<br />
als Thema einer völlig anderen Art von historischer<br />
Untersuchung abgetrennt werden kann.<br />
<strong>Seidmans</strong> Gliederung ist auch auf andere Art<br />
höchst fraglich. Ihre fast völlige Mißachtung der<br />
Chronologie bedeutet, daß der Autor in zahlreiche<br />
Widersprüche verfällt. Manchmal sind sie real (auf<br />
Seite 27 wird der Bürgerkrieg als ein Konflikt beschrieben,<br />
in den <strong>die</strong> Massen nicht verwickelt waren,<br />
während der Autor, ohne weiteren eigenen<br />
Kommentar, auf Seite 47 <strong>die</strong> Selbsteinschätzung der<br />
rebellierenden Militärs zitiert, daß <strong>die</strong> arbeitenden<br />
Massen gegen sie wären). Bei anderen Gelegenheiten<br />
ergeben sich <strong>die</strong> Widersprüche als Nebeneffekt<br />
seiner mangelhafte Gliederung: <strong>die</strong> republikanischen<br />
Milizen waren effektiv (S. 29; S. 34), dann<br />
wieder nicht (S. 42 & ff.). Tatsächlich waren sie im<br />
städtischen Straßenkampf effektiv, aber schwach,<br />
wenn sie in der konventionellen Kriegsführung im<br />
offenen Gelände gegen reguläre Truppen eingesetzt<br />
wurden. Seidman macht <strong>die</strong>sen Unterschied,<br />
der von kardinaler Bedeutung für <strong>die</strong> Entwicklung<br />
der militärischen, politischen und sozialen Organisation<br />
im republikanischen Spanien war, nicht annähernd<br />
genug deutlich. Aber ob nun real oder nur<br />
scheinbar, solche Widersprüche (und es gibt viele<br />
davon) werden unter normalen Lesern und Studenten,<br />
<strong>die</strong> eine kohärente Analyse zeitlicher Entwicklungen<br />
suchen, ernste Verwirrung anrichten.<br />
Was wir durchgängig in <strong>die</strong>sem Buch bekommen,<br />
ist überhaupt keine wirkliche historische Analyse,<br />
sondern eher ein Schliddern über <strong>die</strong> Oberfläche,<br />
ein beschreibendes Kompendium , zusammengestellt<br />
aus archivalischen oder bibliographischen<br />
Schnipseln, <strong>die</strong> in keine besondere Richtung führen.<br />
Die Primär- und Sekundärreferenzen sind<br />
gelegentlich nachlässig (einige der archivalischen<br />
Referenzen sind in der Tat ziemlich merkwürdig),<br />
und der regelmäßige Gebrauch veralteten angloamerikanischen<br />
Schrifttums ist unakzeptabel, wo<br />
eine umfangreiche Zahl spezieller spanischer historischer<br />
Werke jetzt problemlos zur Verfügung<br />
steht. Was sich im Detail summiert, summiert sich<br />
auch in den verallgemeinernden Abschweifungen.<br />
Diese werfen jede Menge entscheidender Fragen<br />
auf und sind, gelegentlich, erschreckend schlecht<br />
durchdacht. Wo ist der Beweis, daß ein ‚gemeinsam<br />
geteilter Katholizismus Einfluß darauf nahm,<br />
<strong>die</strong> brutalsten Aspekte des Krieges zu mildern‘?<br />
Psychologische und physische Ausrottung konnte<br />
regelmäßig bei fanatischen, ultramontanen[2] Katholiken<br />
beobachtet werden, gegen <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong><br />
sie als <strong>die</strong> schlimmsten ‚Häretiker‘ ansahen, genau<br />
weil ihr Leben soziale Modernität und liberalen katholischen<br />
Glauben kombinierte. Im Bürgerkrieg<br />
wurde das, was einen Katholiken ausmachte, genauso<br />
wie das, was einen Spanier ausmachte, brutal<br />
herausgefordert.<br />
Aber der schwerste Fehler in <strong>Seidmans</strong> Arbeit<br />
– ob nun als Sozialgeschichte oder als Geschichte<br />
tout court – ist ihr Scheitern, <strong>die</strong> intimen Verbindungen<br />
zwischen massenhafter politischer Mobilisierung,<br />
kulturellem Wandel und individueller<br />
Identität/Subjektivität im Europa der 1930er Jahre<br />
zu verstehen. Ideologie war nichts zusätzlich ‚Aufgepropftes‘,<br />
wie uns Seidman glauben machen<br />
möchte. Sie war ein integraler Bestandteil des gesellschaftlichen<br />
Bewußtseins, der Wahrnehmung<br />
der Leute von sich Selbst – und <strong>mit</strong> ‚Leuten‘ meine<br />
ich ‚gewöhnliche Leute‘, nicht nur eine politische<br />
Avantgarde. Natürlich gab es Gemeinschaften, <strong>die</strong><br />
am Rande der Kriegserfahrungen blieben (ein Ausnahmefall<br />
wurde von Norman Lewis in Voices of<br />
the Old Sea skizziert). Aber Dr. Seidman erkundet<br />
<strong>die</strong>se Frage nicht wirklich. Stattdessen versucht er<br />
etwas zu leugnen, auf das sogar seine eigenen empirischen<br />
Beweise hindeuten: daß <strong>die</strong> Mobilisierung<br />
im republikanischen Spanien eine gesellschaftliche<br />
und kulturelle Massenereignis war – tatsächlich ein<br />
psychisches/seelisches Ereignis. Er diskutiert selbst<br />
Möglichkeiten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> republikanische Mobilisierung<br />
für Tausende junger Frauen eröffnete. Es gibt<br />
zahllose Zeugnisse, <strong>die</strong> andeuten, wie persönliche<br />
und politische Wandlungen in den Leben junger<br />
spanischer Frauen unauflöslich verbunden waren,<br />
<strong>die</strong> der sozialistisch-kommunistischen Jugendorganisation<br />
(JSU) beitraten, <strong>die</strong> Hunderttausende<br />
während des Krieges mobilisierte. Eine Geschlechter-<br />
und Generationsrevolution fand statt, in den<br />
Köpfen der Leute ebenso wie auf der Straße. Die<br />
Jugend explo<strong>die</strong>rte auf <strong>die</strong> politische Bühne im<br />
republikanischen Spanien der Kriegszeit – der Beweis<br />
dafür findet sich<br />
überall in den Quellen,<br />
wenn man nur weiß,<br />
wo man suchen muß.<br />
Michael <strong>Seidmans</strong> reduktiver<br />
Text erzählt<br />
uns weniger über <strong>die</strong><br />
Sozialgeschichte des<br />
republikanischen Spaniens<br />
der Kriegszeit als<br />
vielmehr darüber, wie<br />
23<br />
Seidman aktuelles Buch -<br />
Die Siegreichen Konterrevolution<br />
(2011)
24<br />
HE L E N GR A H A M<br />
Republikanische<br />
Gefangene im Franco-KZ<br />
in Ocaña, 1952<br />
der gegenwärtige politische Impuls dafür gesorgt<br />
hat, daß <strong>die</strong> 1930er Jahre viel weiter in den Hintergrund<br />
getreten sind als es ihrer tatsächlichen historischen<br />
Distanz entspricht. Glücklicherweise ist <strong>die</strong><br />
innovative Sozialgeschichte dabei, ein Korrektiv zu<br />
bieten, indem sie das pschychische Leben der linken<br />
Massenpolitik im Europa der Zwischenkriegszeit<br />
untersucht.<br />
<strong>Seidmans</strong> enge Verbundenheit <strong>mit</strong> der ‚universellen<br />
Individualität‘, sowieso ein völlig unhistorischer<br />
Begriff, ist bei einem Sozialhistoriker um so<br />
befremdlicher, da zu dessen Aufgaben <strong>die</strong> präzise<br />
Identifizierung der Besonderheiten der Kultur und<br />
<strong>die</strong> Untersuchung, wie und warum sich Mentalitäten<br />
im Laufe der Zeit ändern, gehört. Die erschreckend<br />
statischen und undurchsichtigen Kategorien<br />
von ‚Zynismus‘ und ‚Opportunismus‘, <strong>die</strong> er aufmarschieren<br />
läßt, passen schlecht zu einer sozialgeschichtlichen<br />
Analyse, deren Funktion sein sollte,<br />
Verhalten in Bezug auf den spezifischen Gang der<br />
spanischen gesellschaftlich und politischen Entwicklung<br />
vor und während des Bürgerkrieges zu<br />
erklären. Doch für den Autor sind ‚Massenapathie<br />
und Gleichgütigkeit‘ eine statische Kategorie<br />
für <strong>die</strong> ganzen 1930er Jahre, tatsächlich für <strong>die</strong><br />
gesamte moderne spanische Geschichte (S. 26); es<br />
mangelt <strong>Seidmans</strong> Analyse großenteils an Schattierung<br />
und Nuancierung. (Dieser Mangel an analytischem<br />
Ertrag ist auch ein Problem in Holguíns<br />
Buch – siehe beispielsweise ‚Spaniens anscheinend<br />
ziellose Geschichte …‘ (S. 4).) Eine Richtung, <strong>die</strong><br />
ein Sozialhistoriker erkunden könnte, würde den<br />
‚Opportunismus‘ <strong>mit</strong> einem traditionellen und tief<br />
eingewachsenen klientelistischen oder auf Patronage<br />
gegründeten Verständnis von Politik und Leben<br />
verbinden. Menschen traten politischen Parteien<br />
oder anderen Organisationen eher bei, um materielle<br />
Wohltaten und berufliches Fortkommen zu<br />
erlangen, nicht so sehr, weil sie ein Element einer<br />
politischen Vision teilten. Nichtdestoweniger ist<br />
einer der grundlegenden Punkte im Spanien der<br />
1930er Jahre, als einer Übergangszeit, daß <strong>die</strong> Politik<br />
regelmäßig beides gleichzeitig bedeutete. ‚Zynismus‘<br />
war ebenfalls ein grundlegender Bestandteil,<br />
der sich aus den vielen und unterschiedlichen<br />
Formen der Kriegsmüdigkeit ergab, <strong>die</strong> sich 1938<br />
unausweichlich intensivierte, als sich <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bedingungen<br />
des täglichen Lebens wie <strong>die</strong> internationale<br />
Position der Republik dramatisch verschlechterten.<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
Die bei weitem bizarrste Darbietung des gesamten<br />
Buches ist <strong>Seidmans</strong> einleitende Erklärung, daß<br />
<strong>die</strong> Männer, Frauen und Kinder des republikanischen<br />
Spanien, indem sie taten, was getan werden<br />
mußte, um sich <strong>die</strong> grundlegenden Lebens<strong>mit</strong>tel<br />
in einer Zeit von wirtschaftlicher Verwerfung und<br />
Mangel, <strong>die</strong> durch den Krieg verursacht wurden,<br />
zu beschaffen, <strong>mit</strong> ihren ‚gewinnsüchtigen, konsumorientierten<br />
und unternehmerischen Impulsen‘<br />
‚<strong>die</strong> Grundlage für <strong>die</strong> heutige Konsumgesellschaft‘<br />
legten. Kein Beispiel dafür wird diskutiert. Auch<br />
nicht anderweitig, denn trotz aller Beschwörungen<br />
‚des Individuums‘ durch Seidman erforscht sein<br />
Text nirgendwo <strong>die</strong> inneren Beweggründe seiner<br />
historischen Subjekte – weder Soldaten noch Zivilisten.<br />
Aber wie ist es ohne <strong>die</strong>s möglich zu wissen,<br />
welche gefühlsmäßigen Investitionen <strong>die</strong> Leute in<br />
<strong>die</strong> Nahrung und Massenprodukte tätigten, <strong>die</strong> sie<br />
sammelten? In einem Buch, das <strong>mit</strong> Referenzen auf<br />
‚das Individuum‘ zugemüllt ist, gibt <strong>die</strong> Nichtbeachtung<br />
von Subjektivitäten dem Leser in der Tat<br />
einen wichtigen Schlüssel zu den Absichten des<br />
Autors. Es ist nicht eine historische Rekonstruktion<br />
von Bewußtsein, das Dr. Seidman beschäftigt,<br />
sondern eine Verteidigung des neoliberalen Wirtschaftsindividualismus<br />
– soviel also zum ‚Tod‘ der<br />
Ideologie, <strong>die</strong> er verfrüht verkündet.<br />
Indem <strong>die</strong> Sozialgeschichte <strong>die</strong> Dimension der<br />
inneren Beweggründe [interiority] <strong>mit</strong> einbezieht,<br />
erlaubt sie den Menschen, über ihre gleichzeitige<br />
Mitgliedschaft in kollektiven Kategorien wie Klasse<br />
und Geschlecht hinaus ‚sie selbst zu sein‘. Dr.<br />
Seidman steht dem Gebrauch solcher Kategorien<br />
durch Historiker sehr kritisch gegenüber. Aber<br />
seine eigenen sind weit weniger flexibel und nuanciert.<br />
Was uns eine brauchbare Sozialgeschichte<br />
wirklich zeigen kann ist, daß sich <strong>die</strong> Menschen<br />
der Vergangenheit von uns so unterscheiden, wie<br />
wir uns untereinander unterscheiden. Doch Michael<br />
Seidman scheint zu beabsichtigen, sie (und uns)<br />
an seine engen und standartisierten konsumorientierten<br />
Kategorien zu ketten. Seine beschränkte und<br />
beschränkende Analyse des republikanischen Spanien<br />
der 1930er Jahre ver<strong>mit</strong>telt nichts von seinen<br />
Möglichkeiten, nichts von seiner Energie oder seinen<br />
Träumen. Gegenüber der rohen und triumphalistischen<br />
Teleologie [3] des Autors sollten wir im<br />
Gedächtnis behalten, daß es in jener Vergangenheit<br />
bessere Zukünfte gab als <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> wir heute<br />
haben. •<br />
Anmerkungen:<br />
[1] JO U R N A L O F SP A N I S H<br />
CU L T U R A L ST U D I E S, Vol. 4/2003 – alle Anmerkungen und<br />
[eckigen Klammern] im Text stammen vom Übersetzer.<br />
[2] dem Papst fanatisch treu ergeben.<br />
[3] Teleologie: philosophische Anschauung von dem<br />
(angeblich) vorherbestimmten Lauf der Dinge und Ereignisse.
arrikade sieben - April 2012<br />
25
26<br />
Archiv<br />
Karl Roche<br />
Das Archiv Karl Roche<br />
versteht sich als Regionales<br />
Archiv zur Dokumentation<br />
des Anarchosyndikalismus in<br />
Hamburg, das <strong>die</strong> Geschichte<br />
<strong>die</strong>ser Bewegung in Hamburg<br />
- Altona und Umgebung,<br />
ehemals Groß-Hamburg,<br />
dokumentieren möchte.<br />
Ziel der Forschung ist <strong>die</strong> Aufarbeitung<br />
des geschichtlichen<br />
Anteils derjenigen Genossinnen<br />
und Genossen, <strong>die</strong> für<br />
den freiheitlichen Sozialmus<br />
und Anarchismus<br />
gekämpft haben.<br />
Der Verdrängung <strong>die</strong>ses Teil<br />
der radikalen Arbeiterbewegung<br />
soll entgegen<br />
gewirkt werden.<br />
Namensgeber ist der 1862<br />
in Königsberg geborene<br />
Genosse Karl Roche - eine<br />
führende Persönlichkeit beim<br />
Aufbau der FAUD/S,<br />
er verstarb am<br />
1. Januar 1931 im Alter von<br />
69 Jahren in Hamburg.<br />
Diese bisher nicht erzählte<br />
Geschichte bzw. <strong>die</strong> bewußt<br />
von sozial-demokratischer und<br />
parteikommunistischbolschewistischer<br />
Seite<br />
totgeschwiegene Seite der<br />
revolutionären Ereignisse in<br />
Hamburg soll aus dem Dunkel<br />
der Geschichte der<br />
interessierten Öffentlichkeit<br />
näher gebracht werden.<br />
Um <strong>die</strong> Erinnerung an den<br />
ungewöhnlichen Aktivisten<br />
ka r l ro c h e aufrecht zu<br />
erhalten, publizieren wir<br />
eigene Untersuchungen<br />
und dokumentieren<br />
seine wichtigsten Texte.<br />
Denn, obwohl ka r l ro c h e<br />
in den Nachkriegsjahren und<br />
1919 v.a. auf der Vulcan-Werft<br />
ein begnadeter Aufrührer und<br />
Revolutionär war, schrieb er<br />
bereits im April 1914:<br />
„Ich kann <strong>mit</strong> der Feder ruhiger<br />
reden als <strong>mit</strong> der Zunge ...“<br />
Dem tragen wir <strong>mit</strong> der<br />
Publizierung seiner politischen<br />
Texte aus der Revolutionszeit<br />
Rechnung:<br />
Möge <strong>die</strong> Erde Dir leicht<br />
sein, Genosse!<br />
AKR - RADAS Hamburg<br />
Anarchosyndikalistische Theorie - II. Teil<br />
Selbstverwaltete Betriebe als ‚konstruktiver Sozialismus‘<br />
Kollektiv-Genossenschaften als Modell für einen konstruktiven Sozialismus?<br />
„Von den Arbeitern selbstbestimmte Unternehmen sind eine Lösung, wie sie in den Erfahrungen<br />
von Kapitalismus und Sozialismus gleichermaßen begründet liegt. Indem wir von<br />
den Arbeitern selbstbestimmte Betriebe einrichten, vervollständigen wir, was vergangene<br />
demokratische Revolutionen begonnen haben, als sie <strong>die</strong> Gesellschaften über Monarchien und<br />
Autokratien hinaus transformiert haben. Die Produktion zu demokratisieren, kann<br />
<strong>die</strong> Demokratie über den Punkt hinaus bringen, wo sie bloß ein Wahl-Ritual ist,<br />
das <strong>die</strong> Herrschaft des 1% über <strong>die</strong> übrigen 99% ermöglicht.“<br />
• Richard Wolff - Übernehmt <strong>die</strong> Produktion! (10.12.2011)<br />
karl ro c H e und <strong>die</strong> Genossenschaftsfrage 1911 – 1914<br />
Den Kapitalismus kann man nicht totglauben,<br />
den Kapitalismus muß man totkämpfen!<br />
Bereits zum 10. Kongreß der FVdG 1911 in Magdeburg<br />
sollte der Pionier-Redaktuer FritZ KÖster<br />
ein Referat zur Stellung des Syndikalismus zum Genossenschaftswesen<br />
halten. Der Vortrag konnte<br />
nicht gehalten werden (aus Zeitgründen?) und<br />
so lesen wir im „Resumé“ des ungehaltenen Beitrages<br />
in vier Folgen im Pionier (24-28/1912) u.a.<br />
Eine vernichtende Kritik an der neugegründeten<br />
Versicherungsgesellschaft „Volksfürsorge“, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />
SPD-unterstellten Gewerkschaften und Genossenschaften<br />
zum 1. Januar des Jahres gründeten („eine<br />
gewerkschaftlich-genossenschaftliche Volks-Versicherungs-Aktiengesellschaft“).<br />
Heftig ihr Fett bekamen auch <strong>die</strong> Funktionäre Arbeiteraristokraten<br />
weg, der <strong>die</strong> Tatsache anführte,<br />
daß der Zentralverband der Genossenschaften<br />
(dem ZDK) bereits eine Unterstützungskasse für<br />
<strong>die</strong> Genossenschaftsfunktionäre besäße, „<strong>die</strong> bereits<br />
ein vermögen von über 2 Millionen Mark angesammelt<br />
hat“, und der „mehr als 5000 versicherte(n) Funktionären<br />
angehören“. Außerdem erwähnt er das „Tarifamt“,<br />
das eingesetzt wurde, „um Streitigkeiten zwischen<br />
den Gewerkschaften und den Genossenschaften<br />
über Differenzen zu schlichten, <strong>die</strong> aus dem Arbeitsverhältnis<br />
in Genossenschaftsbetrieben hervorgehen“.<br />
Als Ergebnis seiner Ausarbeitung kommt der<br />
Genosse KÖster zu dem Ergebnis, daß <strong>die</strong> FVdG-<br />
Genossen sich „den bestehenden Konsumgenossenschaften“<br />
anzuschließen: „1. Aus Prinzip. 2. Der<br />
gebotenen Vorteile halber. 3. Um jeder an seiner Stelle<br />
und in Verbindung <strong>mit</strong> den weitblickenden Mitgliedern<br />
der Konsumvereine dahin zu wirken, daß das Genossenschaftswesen<br />
zu einem wirklichen, un<strong>mit</strong>telbaren Stützpunkt<br />
für <strong>die</strong> wirtschaftlichen Kämpfe der Lohnarbeiter<br />
um- und ausgebaut wird.“ Darunter verstand er <strong>die</strong><br />
Unterstützung bei Streiks, denn <strong>die</strong> Kraft und <strong>die</strong><br />
Verbreitung der Konsumgenossenschaften würde<br />
es doch möglich machen, durch „Massenaufkochen“<br />
und „Feldküchen“ <strong>die</strong> „Leute vor dem Hunger zu<br />
schützen“, statt sie <strong>mit</strong> barem Streikgeld zu unterstützen.<br />
So könnte <strong>die</strong> Streikmoral gestärkt und <strong>die</strong><br />
Konflikte länger durchgehalten werden.<br />
Diese Position vertrat Karl Roche nicht; bereits<br />
in seinem ersten Artikel zu <strong>die</strong>sem Thema, in der<br />
Nr. 4 von 1911 des Pionier argumentierte er gegen<br />
<strong>die</strong> Ansichten KÖsters. Für den 11. Kongreß der<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
FVdG wurde er dann aufgefordert, ein entsprechendes<br />
Referat zu halten.<br />
Gewerkschaften und Genossenschaften<br />
Die drei „großen Heersäulen“, <strong>mit</strong> welchen <strong>die</strong><br />
sozialdemokratische Arbeiterbewegung den Klassenstaat<br />
belagert, heißen: Partei, Gewerkschaften,<br />
Genossenschaften. Dazu soll nun auch noch eine<br />
vierte „Kampforganisation“ geschaffen werden;<br />
<strong>die</strong> „Volksfürsorge“, eine von den Gewerkschaften<br />
und Genossenschaften getragene Volksversicherung,<br />
welche dem Aufsichtsamte für <strong>die</strong> Privatversicherung<br />
unterstellt werden soll. Da<strong>mit</strong> wird dann<br />
<strong>die</strong> Arbeiterbewegung juristisch dem Klassenstaate<br />
eingeordnet werden und <strong>die</strong> entente cordiale<br />
zwischen Kapitalismus und dem Sozialismus der<br />
deutschen Sozialdemokratie ist fertig. Gewiß wird<br />
<strong>die</strong>se neue Gründung formell nichts <strong>mit</strong> der Sozialdemokratie<br />
zu tun haben, ebenso wie ja auch das<br />
Gehäuse bei den Gewerkschaften undGenossenschaften<br />
blaßroter schillert. Aber der Inhalt wird<br />
derselbe seine: eine Zwingburg, in deren Verließe<br />
der proletarische Klassenkampf langsam dahingemordet<br />
wird. Alle vier Organisationen werden<br />
gegenseitig ihre Mitglieder sich zuzuschieben suchen,<br />
wie es heute schon zwischen Partei, Gewerkschaften<br />
und Genossenschaften geschieht; in allen<br />
hat der Proletarier Beiträge zu zahlen, sich den Beschlüssen<br />
zu fügen und Disziplin zu wahren. Und<br />
über allen werden thronen: sozialdemokratische<br />
„Größen“. Die Firma: Bebel, Legien, von Elm wird<br />
wohl erweitert werden um einen Kaufmann Müller<br />
oder einen sonstigen Konzessionsschulzen. Die<br />
große proletarische Versicherungsgesellschaft ist<br />
fertig. Der Kapitalismus wird ausgehöhlt: <strong>die</strong> Lohnarbeiter<br />
erobern nicht mehr <strong>die</strong> Produktions<strong>mit</strong>tel,<br />
sie kaufen sie von den Unternehmern allmählich<br />
auf. Die Kapitallosen kaufen das Kapital: das Schaf<br />
frißt sich in den Wolf hinein und wird dann eine<br />
herrliche Antilope werden, genannt „sozialdemokratischer<br />
Sozialismus“. Daß das Generalblödsinn<br />
ist, liegt auf der Hand; aber es ist <strong>die</strong> Theorie derer<br />
um Legien und von Elm und <strong>die</strong>se beherrscht <strong>die</strong><br />
proletarische Taktik im Klassenkampf. Gleich den<br />
Trödlern, <strong>die</strong> an ein verschimmeltes Stück Geld<br />
ihre Stunden setzen, verhökern und vertrottelt das<br />
sozialdemokratische Tribunal <strong>die</strong> Begriffslehre des
arrikade sieben - April 2012<br />
Klassenkampfes, einiger Scheffel Korn wegen, <strong>mit</strong><br />
denen sich <strong>die</strong> bürgerliche Gesellschaft Ruhe erkauft<br />
vor der proletarischen Revolution.<br />
„Der immerfort an schaler Zunge klebt,<br />
Mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt,<br />
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.“<br />
K.R.<br />
• Der Pionier, 1. Jahrgang, Nr. 4 – 22. November 1911<br />
* * *<br />
Genossenschaften und Syndikalismus<br />
Die Geschäftskommission der Freien Vereinigung<br />
deutscher Gewerkschaften hat mich aufgefordert, dem<br />
11. Kongreß, der am Himmelfahrtstag in Berlin beginnt,<br />
ein Referat über <strong>die</strong> Stellung der Syndikalisten zu den<br />
Genossenschaften zu halten und meine Gedanken in<br />
einer Resolution zusammenzufassen. Ich kann <strong>mit</strong> der<br />
Feder ruhiger reden als <strong>mit</strong> der Zunge und unterbreite<br />
daher den Genossen und Kongreßteilnehmern meine<br />
Ansichten schon vor dem Kongreß. Man möge sich auf<br />
<strong>die</strong> Diskussion vorbereiten.<br />
Karl Roche.<br />
Aber <strong>die</strong> Konsumgenossenschaften sind ein Stück<br />
Syndikalismus, denn sie üben direkte ökonomische<br />
Aktion: sie erhöhen den Reallohn der Arbeiters,<br />
sie lehren ihn, gemeinschaftlich <strong>mit</strong> den Klassengenossen<br />
seine wirtschaftlichen Angelegenheiten<br />
selbst zu ordnen, sie schalten den politisch reaktionären<br />
und volkswirtschaftlich schädlichen Zwischenhandel<br />
aus, sie bringen <strong>die</strong> Arbeiterfrau dem<br />
genossenschaftlichem Denken näher, sie – sind ein<br />
Stück sozialistischer Ideologie, aber sie sind nicht<br />
und können nicht sein sozialistische Praxis. Es läuft<br />
aber <strong>die</strong> Theorie der Staudinger und v. Elm darauf<br />
hinaus, <strong>die</strong> Konsumgenossenschaften und deren<br />
Eigenproduktion den Arbeitern als sozialistische<br />
Praxis darzustellen, ihnen aufzureden, man könne<br />
<strong>mit</strong> der durch <strong>die</strong> konsumgenossenschaftlich beginnende<br />
Eigenproduktion zunächst in einer Ecke<br />
der kapitalistischen Wirtschaftsordnung <strong>mit</strong> dem<br />
Sozialismus beginnen, sich immer weiter ausbreiten,<br />
<strong>die</strong> Handelstreibenden und Industriellen mehr<br />
und mehr verdrängen, zu gleicher Zeit <strong>die</strong> Arbeiter<br />
sozialistisch denken, leben und handeln lehren<br />
und – so den Kapitalismus schließlich überwinden.<br />
Auch freie Sozialisten, <strong>die</strong> uns nahestehen, und<br />
Siedlungsgenossenschafter gibt es, <strong>die</strong> das sozialistische<br />
Hineinleben in den Kapitalismus propagieren<br />
und <strong>die</strong> darum<strong>die</strong> syndikalistischen Waffen:<br />
Streiks, Solidaritäts-, Massen- und Generalstreiks<br />
verwerfen. (...)<br />
Man tut den Inspiratoren des Zentralverbandes<br />
deutscher Konsumvereine wohl nicht unrecht,<br />
wenn man ihnen auf ihr Hineinwachsen in den Kapitalismus<br />
antwortet, daß ist eine Verzweiflungstheorie.<br />
Sie ist aufgestellt worden von den sogenannten<br />
Revisionisten in der sozialdemokratischen<br />
Partei. Die ärgsten Dränger nach rechts: Bernstein,<br />
v. Elm, Peus u.a. standen und stehen heute noch zu<br />
ihr. Und es darf ihnen nicht abgesprochen werden,<br />
daß sie den Mut hatten, ihrer Überzeugung <strong>die</strong> Tat<br />
folgen zu lassen. Nicht <strong>die</strong> Überzeugung von der<br />
Richtigkeit ihrer Desperadotheorie meinen wir.<br />
Ein Bernstein z.B., der marx wie kaum ein anderer<br />
kennt, kann unmöglich einen Professor Staudinger<br />
ernst nehmen. Es war und ist vielmehr <strong>die</strong> Überzeugung<br />
von der gänzlichen Erfolglosigkeit der<br />
parlamentarisch-politischen Aktion. (...) Nach dem<br />
Muster der englischen Trade Unions richteten sich<br />
<strong>die</strong> zentralen Gewerkschaften ein, und da kam es<br />
ganz von selbst, daß auch das englische Genossenschaftswesen<br />
in Deutschland vorbildlich wurde.<br />
Die Revisionisten griffen danach, sie griffen nach<br />
der direkten ökonomischen Aktion, handelten unbewußt<br />
syndikalistisch aus Verzweiflung an den<br />
parlamentarischen Mißerfolgen. (...)<br />
Die Arbeiter wollen nicht nur Augenblickserfolge,<br />
der Sozialismus liegt ihnen im Sinn. Mit dem<br />
Parlamentarismus ist das sozialistische Sehnen<br />
nicht zu befriedigen, zur ganzen direkten ökonomischen<br />
Aktion, zum vollendeten und bewußten<br />
Syndikalismus gebricht es den Führern wie Massen<br />
an Mut. Da hilft man sich <strong>mit</strong> einer kühn konstruierten<br />
Theorie, <strong>die</strong> den Kapitalismus als Sozialismus<br />
auslegt. Im nächsten Artikel werden wir <strong>die</strong>se<br />
Theorie zerpflücken.<br />
• Die EiniGKeit, 18. Jahrgang, Nr. 16 - 18. April 1914<br />
(Teil II.)<br />
Die antikpaitalistische Aushöhlungstheorie der<br />
neutralen Genossenschafter ist, wenn sie auch in<br />
England nicht Raum gewinnen konnte, doch auf<br />
dem Kontinent sein spezifisch deutsches Geistesprodukt.<br />
Zwar wird sie in Belgien abgelehnt, dort<br />
sind sogar Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften<br />
organisch verbunden. Aber in Frankreich<br />
hat sie den Sieg davon getragen, indem zu<br />
Beginn 1913 <strong>die</strong> bisher den Klassenkampf betonende<br />
‚Bourse coopérative socialiste‘ ihre antikapitalistische<br />
Tendenz verleugnete, um sich <strong>mit</strong> der<br />
anderen Richtung ‚Ecole Nimoise‘ verschmelzen<br />
zu können. In der Schweiz waltet der Geist Dr.<br />
Hans Müllers in den Genossenschaften; er ist der<br />
starke Kopf unter den Sozialisten, <strong>die</strong> den Kapitalismus<br />
überwinden wollen ohne Klassenkampf.<br />
Wir werden uns da<strong>mit</strong> eingehender befassen im<br />
„Pionier“ bei der Besprechung des jüngst erschienenen<br />
Buches von Vandelvelde : „Neutrale und<br />
sozialistische Genossenschaftsbewegung“, das für<br />
jeden Arbeiter, der über den Klassenkampf nachdenkt,<br />
sehr lesenswert ist. Die deutschen Genossenschaftstheoretiker<br />
sind ganz besonderer Art.<br />
Ihre wissenschaftliche Kapazität ist Herr Professor<br />
F. Staudinger in Darmstadt, der bestreitet, Sozialist<br />
zu sein und doch eine Genossenschaftstheorie<br />
aufstellt und in ihrem Sinne <strong>mit</strong> Energie arbeitet,<br />
<strong>die</strong> zum Sozialismus führen soll. Bei einem deutschen<br />
Professor ist ja alles möglich. Solche komplizierte<br />
Wissenschaftlichkeit gibt brauchbaren Stoff<br />
für Theaterstücke. Herr Heinrich Kaufmann, eine<br />
andere Leuchte <strong>die</strong>ser Theorie, war ehemals Volksschullehrer,<br />
dann sozialdemokratischer Redakteur;<br />
er ist heute noch organisierter Sozialdemokrat und<br />
findet nichts darin, zum Streikfonds der Buchdruckereiunternehmer<br />
Genossenschaftsgelder einzuzahlen<br />
(siehe dazu den separaten Artikel). Herr v.<br />
Elm, ein ehemaliger Zigarrensortierer, der Dritte<br />
im Bunde, hat zweifellos drei Kammern im Hirn:<br />
eine für <strong>die</strong> sozialdemokratische Politik, <strong>die</strong> ihm,<br />
wenns glücken will, ein Reichtagsmandat einträgt,<br />
eine für <strong>die</strong> neutrale Gewerkschaftsbewegung unter<br />
Ausschluß aller Revolutionäre, und eine für<br />
<strong>die</strong> neutrale Genossenschaftstheorie, <strong>die</strong> den Klassenkampf<br />
überhaupt ableugnet. Dieses homogene<br />
Dreimännerkollegium, ist maßgebend im Zentralverband<br />
Deutscher Konsumvereine, der den<br />
deutschen Arbeitergenossenschaften <strong>die</strong> Richtung<br />
weist. Die Grundgestalt darin ist Professor Staudin-<br />
27<br />
Vor ungefähr<br />
zwanzig Jahren<br />
bemerkte Kropotkin<br />
einmal in einem<br />
Aufsatz in ‚Freedorn‘,<br />
daß <strong>die</strong> englische<br />
Arbeiterschaft heute<br />
über einen Organisationsapparat<br />
gebiete,<br />
der sie jederzeit in<br />
den Stund setze, eine<br />
vollständige Umgestaltung<br />
des gesellschaftlichen<br />
Lebens<br />
im Sinne des Sozialismus<br />
vorzunehmen.<br />
Er berief sich dabei<br />
auf <strong>die</strong> drei großen<br />
Bewegungen der<br />
englischen Arbeiterklasse:<br />
<strong>die</strong> Gewerkschaften,<br />
<strong>die</strong> Genossenschaften<br />
und den<br />
Munizipalsozialismus.<br />
Nach seiner Meinung<br />
waren <strong>die</strong> Gewerkschaften<br />
das geeignetste<br />
Instrument für<br />
eine sozialistische<br />
Umgestaltung der<br />
Produktion, <strong>die</strong><br />
Genossenschaften<br />
für eine solche des<br />
Konsums, während<br />
der Munizipal-Sozialismus<br />
im Verein <strong>mit</strong><br />
den zahllosen freiwilligen<br />
Organisationen<br />
für alle möglichen<br />
Zwecke am besten<br />
der Befriedigung<br />
allgemein kultureller<br />
Bedürfnisse vorstehen<br />
konnte. Es handele<br />
sich gegenwärtig<br />
hauptsächlich darum,<br />
<strong>die</strong>se drei Bewegungen<br />
synthetisch<br />
zusammenzufassen<br />
und ihnen ein gemeinschaftlichcs<br />
konstruktives<br />
sozialistisches<br />
Ziel zu geben.<br />
»Ich bin gegen <strong>die</strong> Arbeitslosenversicherung<br />
- es<br />
macht <strong>die</strong> Leute nur faul.«
28<br />
Kongregation =<br />
(von lateinisch: con<br />
‚zusammen‘, grex ‚Herde‘,<br />
‚Schar‘) steht für <strong>die</strong> Leute<br />
zusammenhalten. Die<br />
Glaubenskongregation ist<br />
eine von Papst Paul III.<br />
1542 als Kongregation der<br />
römischen und allgemeinen<br />
Inquisition gegründete<br />
Zentralbehörde.<br />
Ihre Aufgabe ist der Schutz<br />
der römisch-katholische<br />
Kirche vor Häresien,<br />
also abweichenden<br />
Glaubensvorstellungen.<br />
seiner Auslegung der deutschen Genossenschaftstheorie<br />
müssen wir uns hier auseinandersetzen.<br />
Wir wollen vorerst einen Grundirrtum aus der<br />
Welt schaffen, der daraus entstanden ist, daß man<br />
„genossenschaftlich“ <strong>mit</strong> „sozialistisch“ durcheinanderwirft<br />
und verwechselt. Auch Vandervelde,<br />
dem wir sonst in vielem beipflichten müssen, sagt<br />
in seinem bekannten Buche in der Vorrede kurzerhand:<br />
der Sozialismus sei genossenschaftlich und<br />
jede Genossenschaft sei sozialistisch. So sehr wahr<br />
das erste ist, so grundfalsch ist das zweite. Der<br />
Sozialismus hat zur wirtschaftlichen Grundlage<br />
<strong>die</strong> genossenschaftliche Produktion, <strong>die</strong> genossenschaftliche<br />
Distribution, den genossenschaftlichen<br />
Verbrauch und bis zu einer normalen Grenze auch<br />
<strong>die</strong> genossenschaftlichen Bedürfnisse, Vergnügen<br />
usw. Erst das Zusammenwirken <strong>die</strong>ser genossenschaftlichen<br />
Funktionen macht den Sozialismus<br />
aus. Genossenschaftlich und sozialistisch ist untrennbar<br />
von einander. Aber <strong>die</strong> Genossenschaften,<br />
<strong>mit</strong> denen wir uns befassen, haben keins <strong>die</strong>ser sozialistischen<br />
Merkmale. Ihre genossenschaftlichen<br />
Funktionen besorgen Lohnarbeiter. Die Konsumgenossenschaften<br />
betrieben kapitalistischen Merkantilismus<br />
und zu dem Zwecke stellen sie Hilfskräfte<br />
an und wirtschaften auf Überschüsse hin,<br />
<strong>die</strong> nicht etwa den Angestellten und Arbeitern,<br />
sondern den Genossenschaftsträgern gehören. Die<br />
Konsumgenossenschaften, welche Eigenproduktion<br />
betreiben oder durch <strong>die</strong> Großeinkaufsgesellschaft<br />
Eigenproduktion betreiben lassen, sind nicht<br />
nur Konsumenten-, sondern auch Produzentenvereinigungen,<br />
das letztere ebenfalls im ausbeuterischen<br />
Sinne, da <strong>die</strong> Genossenschaften selbst<br />
nicht produzieren, aber Lohnarbeiter anstellen und<br />
produzieren lassen. Also auch hier keine Spur von<br />
Sozialismus. Über genossenschaftlichen Verbrauch<br />
und Bedarf brauchen wir nichts weiter zu sagen.<br />
Beides ist ausgeschlossen, so lange <strong>die</strong> Genossenschaften<br />
kapitalistisch erzeugen und verkaufen<br />
müssen. Das „Sozialistische“ unserer heutigen Genossenschaften<br />
besteht lediglich in ihren sozialen<br />
Leistungen und in ihrer Förderung der sozialistischen<br />
Propaganda. Aber <strong>die</strong> Propaganda für den<br />
Sozialismus ist noch nicht Sozialismus, sonst wären<br />
unbewußt und ungewollt <strong>die</strong> brutalsten Unternehmer,<br />
<strong>die</strong> den Arbeiter durch ihr Benehmen auf <strong>die</strong><br />
Klassengegensätze hinweisen, auch Sozialisten.<br />
Und <strong>die</strong> sozialen Leistungen der Genossenschaften<br />
haben erst recht nichts Sozialistisches an sich. Indem<br />
sie dem Kapitalismus Lasten abnehmen, konsoli<strong>die</strong>ren<br />
sie ihn doch! Übrigens ist das meiste an<br />
den sozialen Leistungen der Genossenschaften wie<br />
in den privaten und staatlichen Betrieben auch, nur<br />
Geschrei. Die Hamburger „Produktion“, ein Konsumverein<br />
<strong>mit</strong> eigenbetrieben, der als der größte in<br />
Deutschland 70 000 Mitglieder hat, leistete im Jahre<br />
1913 1 Prozent der Umsatzsumme für soziale Zwecke.<br />
Und <strong>die</strong> Geschäftsleitung erklärt dazu in ihrem<br />
Jahresbericht, da<strong>mit</strong> sei wohl das äußerste erreicht,<br />
was <strong>die</strong> Genossenschaft für ihre Angestellten und<br />
Arbeiter in sozialer Hinsicht tun könne. Die Mitglieder<br />
aber erhielten in demselben Jahre 5 Prozent<br />
auf ihren Notfonds gut geschrieben. Der Notfonds<br />
ist eine Ansammlung der Rückvergütung und er<br />
wird ausgezahlt, wenn das Mitglied in soziale Not<br />
gerät. Die Ausbeuter haben also auf ein Sechstel des<br />
Profits verzichtet zugunsten der Ausgebeuteten.<br />
Ist das etwa Sozialismus?!“<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
Dann widmet sich Karl Roche der Arbeitsverhältnisse<br />
in den ZDK-Genossenschaften. Hierzu zitiert<br />
er den Professor Staudinger, der „<strong>die</strong> günstige<br />
Gelegenheit“ nutzt, um „einen Reklameartikel für <strong>die</strong><br />
Genossenschaften zu schreiben und dabei seine Theorie<br />
bis ins kleinste auszurollen. Der Mann, der nicht als Sozialist<br />
verschrien werden will, beginnt den theoretischen<br />
Teil seines Aufsatzes: »Die Genossenschaft wird heute<br />
noch nicht von allen ihren Mitgliedern und allen ihren<br />
Angestellten als ein wirklich neues soziales Gemeinwesen<br />
angesehen, innerhalb dessen es keinen Klassenunterschied<br />
von Unternehmern und Arbeitern gibt.«<br />
Das ist eigentlich schon gleich <strong>die</strong> Kongregation der<br />
ganzen Genossenschaftstheorie des Zentralverbandes<br />
Deutscher Konsumvereine. Über den praktischen Wert<br />
der Theorie steigen aber sofort Zweifel auf. Z.B. Hatte<br />
denn Herr Kaufmann auch nicht <strong>die</strong> notwendige Einsicht,<br />
als er in Hamburg zu den Buchdruckereibesitzern<br />
ging und dort scharf machte gegen <strong>die</strong> Buchdruckergehilfen<br />
in dem von ihm geleiteten Verlag?“ [siehe: In einer<br />
SPD-Musterfabrik, S. 8]<br />
• Die Einigkeit, 18. Jahrgang, Nr. 18 - Berlin, 2. Mai 1914<br />
Im Schlußteil seines schriftlichen Referates macht<br />
Roche auch deutlich, wie der Terror der sozialdemokratischen<br />
Zentralgewerkschaften sich in den<br />
„neutralen Genossenschaften“ auswirkten: „Wir<br />
wissen auch, daß es heute in fast allen Genossenschaften<br />
dem freien Sozialisten unmöglich ist, außer als bloßes<br />
Mitglied <strong>mit</strong>tätig zu sein. Die zentralen Gewerkschaften<br />
üben auch hier den denkbar schofelsten Terrorismus aus.<br />
In Hamburg haben wir es erlebt, daß ein Mitglied der<br />
„Produktion“ nicht an ihren Bauten arbeiten durfte,<br />
weil er syndikalistisch und nicht zentral organisiert war.<br />
Aber das alles beweist noch nicht <strong>die</strong> Zweckmäßigkeit der<br />
Siedlungsgenossenschaften, beweist noch nicht <strong>die</strong> Entbehrlichkeit<br />
der direkten Aktion des Syndikalismus.“<br />
Als Konsequenz seines Vortrages empfiehlt<br />
Roche den Mitglieder der syndikalistischen Bewegung,<br />
sich den Konsumgenossenschaft anzuschließen,<br />
„soweit sie darin einen wirtschaftlichen<br />
Gegenwartsvorteil für sich erkennen. (...) Die Arbeiter<br />
müssen ihre ganze Kraft und Energie den<br />
syndikalistischen Gewerkschaften zuwenden. Das<br />
sind <strong>die</strong> Organisationen, wo sie kampfgenossenschaftlich<br />
denken und handeln müssen. Diese und<br />
nur <strong>die</strong>se werden den Kapitalismus beseitigen und<br />
den staatslosen Sozialismus herbeiführen, der <strong>die</strong><br />
genossenschaftliche materielle und ideelle Arbeit<br />
zur Voraussetzung hat.“<br />
• Die EiniGKeit, 18. Jahrgang, Nr. 19 - Berlin, 9. Mai 1914<br />
Der Kapitalismus muß totgekämpft werden!<br />
Auf dem 11. Kongreß der FVdG, vom 21.-23. Mai<br />
1914 in Berlin abgehalten, stellt Roche sein Referat<br />
nur noch kurz vor und argumentiert in der Diskussion<br />
für das Genossenschaftswesen <strong>mit</strong> folgenden<br />
Worten:<br />
„Ist der Grundcharakter unserer Organisation genossenschaftlich,<br />
sind es unsere Kämpfe, so ist unser Ziel<br />
erst recht durch und durch vom genossenschaftlichen<br />
Geiste durchglüht – und ohne <strong>die</strong>sen nicht durchführbar.<br />
Wir wollen den freien, den staatslosen Sozialismus<br />
im Gegensatz zur Sozialdemokratie, <strong>die</strong> einen neuen<br />
Staat <strong>mit</strong> einer womöglich noch größeren Zentralgewalt<br />
wie sie der heutige Staat hat, erstrebt. Wir wollen, <strong>die</strong><br />
Kommune, weil wir <strong>die</strong> Lohnarbeit abschaffen und <strong>die</strong><br />
Produktions<strong>mit</strong>tel den Arbeitern aushändigen wollen;
arrikade sieben - April 2012<br />
Die Genossenschaften aber haben <strong>die</strong> einstigen Voraussetzungen ihrer Bestrehungen<br />
längst vergessen und sieh in Organe der kapitalistischen Gesellschuft<br />
umgewandelt. Wir wollen nicht bestreiten, daß sie auch in <strong>die</strong>ser Form dem<br />
einzelnen Arbeiter noch von bescheidenem Nutzen sein können; aber der<br />
sozialistische Fernblick, den Robert Owen einst hatte, ist ihnen verlorengegangen<br />
und zusammen <strong>mit</strong> ihm der Drang zur konstruktiven sozialistischen Betätigung.<br />
Und doch stehen wir heute wieder vor einer Wende, wo sich <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />
für ein konstruktives Wirken im Sinne des Sozialismus mehr und mehr bemerkbar<br />
macht und Verständnis findet. In jedem Lande sind bereits Ansätze eines solchen<br />
Wirkens wahrzunehmen. Aus <strong>die</strong>sem Grunde halten wir eine ernste Betrachtung über<br />
<strong>die</strong> verschiedenen Fomen des konstruktiven Sozialismus, von den ersten Versuchen<br />
des alten Experimentalsozialismus bis zum modernen Gildensozialismus,<br />
für geboten.<br />
• RUDOLF ROCKER<br />
wir wollen <strong>die</strong> Dezentralisation der wirtschaftlichen<br />
Kräfte, soweit <strong>die</strong> Technik das gestattet und <strong>die</strong> Produktivität<br />
der Arbeit nicht darunter leidet. Das wollen wir<br />
im Interesse der persönlichen Freiheit jedes einzelnen.<br />
Stellen wir uns aber <strong>die</strong>s ideale gesellschaftliche Zukunftsgebilde,<br />
so müssen wir uns dessen auch bewußt<br />
sein, daß es ohne den ausgeprägtesten genossenschaftlichen<br />
Geist, der <strong>die</strong> Persönlichkeit beherrscht, nicht<br />
durchführbar sein wird.“<br />
Das es im Kapitalismus keine sozialistischen<br />
Genossenschaften geben kann, erklärt Roche so:<br />
„Sozialistische Genossenschaften müßten unter Ausschaltung<br />
der Lohnarbeit Güter für den Verbrauch und<br />
nicht für den Warenhandel erzeugen, sozialistische Genossenschaften<br />
dürfen nicht Waren von ahgestellten<br />
Lohnarbeitern austauschen lassen, sondern haben jegliche<br />
Lohnarbeit sowohl bei der Eigenproduktion wie im<br />
Vertrieb unter <strong>die</strong> Mitglieder grundsätzlich abzulehnen.<br />
Jegliche genossenschaftliche Arbeit, <strong>die</strong> gegen Lohn ausgeführt<br />
wird, ist nicht sozialistisch – sie ist kapitalistisch<br />
und da wir Genossenschaften ohne Mithilfe der Lohnarbeit<br />
nicht haben, so haben wir auch keine sozialistischen<br />
Genossenschaften. Alle bestehenden Genossenschaften<br />
müssen kapitalistisch sein, da sie von der Warenproduktion<br />
und dem Warenverschleiß abhängig sind. Der<br />
Kapitalismus läßt sich nicht zerlegen in kapitalistisch<br />
und sozialistisch; er ist ein wirtschaftliches Ganzes und<br />
<strong>die</strong> Genossenschaften sind naturgemäß wirtschaftsorganisch<br />
<strong>mit</strong> ihm verbunden. So wenig wie in der auf der<br />
Lohnarbeit ruhenden Produktionsweise es sozialistische<br />
Genossenschaften geben kann – ebensowenig können <strong>die</strong>se<br />
Genossenschaften der oder ein Weg zum Sozialismus<br />
sein.“<br />
Als „interessant und beinahe spaßhaft“ analysiert<br />
Roche, „wie sich <strong>die</strong> modernen Genossenschaftstheoretiker,<br />
an deren Spitze Dr. Hans Müller in der Schweiz,<br />
<strong>die</strong> Ablösung des Kapitalismus durch <strong>die</strong> Arbeiterkonsumvereine<br />
denken. Der Kapitalismus soll nach Müller<br />
überwunden werden durch das Sparen der Arbeiter. (...)<br />
Sozialdemokratische Theoretiker , wie Kautsky, Rosa<br />
Luxemburg, Pannekoek und andere erkennen natürlich<br />
den Unsinn <strong>die</strong>sesGrundsatzes, aber sie sagen nichts dagegen,<br />
weil <strong>die</strong> Genossenschaften einen gewaltigen Einfluß<br />
auf <strong>die</strong> sozialdemokratische Arbeiterbewegung haben.<br />
Sie haben nicht den Mut, gegen das unmarxistische<br />
und unkämpferische Prinzip <strong>die</strong>ser Genossenschaften<br />
anzutreten.“ Roche zitiert dann Müller wie folgt aus<br />
der KonsuMGenossensCHaFtliCHen RunDsCHau: „ ...<br />
der moderne Arbeiter ...ist darauf bedacht, <strong>die</strong> Genossenschaft<br />
in jeder Weise kapitalkräftig zu machen. Seine<br />
Genossenschaft ist seine Sparkasse, in der er seine überschüssigen<br />
Groschen anlegt, und sie ist gleichzeitig sein<br />
Kollektivkapital, <strong>mit</strong> dem er das Privatkapital aus dem<br />
Sattel heben will.“<br />
Der Kongreß reagiert auf <strong>die</strong>ses Zitat <strong>mit</strong> „Heiterkeit“<br />
und beschließt dann eine Resolution, <strong>die</strong> zwar<br />
den kapitalistischen Charakter der sozialdemokratischen<br />
Genossenschaften aufgrund der Warenproduktion<br />
und der Lohnarbeit deutlich benennt, aber<br />
auch erklärt:<br />
„Aber nichtsdestoweniger führen <strong>die</strong> Konsumgenossenschaften<br />
ein Stück direkter öknomomischer Aktion<br />
gegen den Kapitalismus durch. Sie schalten das parasitäre<br />
Kleinhandelsgewerbe aus und ver<strong>mit</strong>teln dessen<br />
Profite ihren Mitgliedern. Da<strong>mit</strong> erhöhen sie ihren Arbeiter<strong>mit</strong>gliedern<br />
den Reallohn und heben deren soziale<br />
Existenzmöglichkeit.“<br />
Gegen <strong>die</strong> Gründung von Produktivgenossenschaften<br />
durch Mitglieder der FVdG erklärt der<br />
Kongreß abschließend: „Solche Gründungen sind<br />
sind lediglich als private Unternehmungen zu betrachten.<br />
Mittel aus den syndikalistischen Organisationen<br />
dürfen dazu nicht verwendet werden.“<br />
• Protokoll über <strong>die</strong> Verhandlungen vom 11. Kongreß der<br />
FVdG, 1914<br />
Roches letzten Beitrag finden wir kurz vor<br />
Kriegsausbruch 1914:<br />
Genossenschaftliches.<br />
Wer möchte wohl den Wald von Literatur – <strong>die</strong><br />
knorrigen und schlanken Baumriesen, das Unterholz<br />
und Gestrüpp und auch viel poetisches Blumenwerk<br />
– zu übersehen, den der Sozialismus<br />
schon auf den Markt und vor das interessierte Publikum<br />
geworfen hat. Jeder, der zur Feder greift<br />
und nicht als Reaktionär gelten möchte, liebäugelt<br />
<strong>mit</strong> dem Sozialismus. Es gibt ja „Sozialisten“ in<br />
des Königs Rock und auf Thronen; es gibt „Sozialisten“<br />
in der Heilsarmee, und dazwischen tummelt<br />
sich eine breite Herde sozialistischer Denker<br />
oder Schaumschläger.<br />
Es wird heute bald jede Bewegung, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong><br />
Anteilnahme der Arbeiterschaft reflektiert, als sozialistisch<br />
bezeichnet. Die Arbeiter haben Augen und<br />
Ohren aufzuhalten, um das Falsche vom Wahren<br />
zu erkennen.<br />
Identisch <strong>mit</strong>einander sind <strong>die</strong> Begriffe „genossenschaftlich“<br />
und „sozialistisch“. Nur müssen sie<br />
auseinandergehalten werden, wenn es sich um <strong>die</strong><br />
sozialistische Bemäntelung kapitalistischer Entwicklungsphasen<br />
handelt.<br />
kr.<br />
• Der Pionier, 4. Jahrgang, Nr. 31 – 8. August 1914<br />
29
30<br />
Quellen:<br />
Gerhard BotZ –<br />
Der Arbeiter-Sschriftsteller<br />
Carl Dopf (1883-1968)<br />
und <strong>die</strong> anarchistische<br />
Subkultur – in:<br />
Im Schatten der Arbeiterbewegung<br />
– Zur<br />
Geschichte des Anarchismus<br />
in Österreich<br />
und Deutschland<br />
(o. Jahr).<br />
Karl DoPf war u.a.<br />
Mitherausgeber der<br />
Huren-Zeitschriften Der<br />
PranGer (1921) und<br />
Herausgaber von Der<br />
KraKeHler (Das Blatt<br />
der Eigenbrödtler, 1922)<br />
und Das SiGnal (Kampf-<br />
Organ der Versprengten,<br />
1924) in Hamburg<br />
arbeitete er <strong>mit</strong> Karl<br />
Langer an dessen<br />
Alarm <strong>mit</strong>, zieht sich<br />
jedoch von den Freien<br />
Sozialisten zurück, als<br />
einige der Mitglieder<br />
sich an Plündeungen<br />
und Gewalttaten<br />
(Sülzeunruhen 1919)<br />
beteiligen.<br />
BeFreiunG<br />
& ErKenntis – Wien,<br />
Redaktion: Rudolf<br />
Großmann. (Schriftstellername:<br />
Pierre Ramus)<br />
Dank an das Anarchistische<br />
Archiv Wien,<br />
das uns den Artikel<br />
von Karl DoPf<br />
zur Verfügung<br />
gestellt hat.<br />
In einer sozialdemokratischen Musterfabrik<br />
des ZDK - Genossenschaftsverbandes 1913<br />
In der Papierwarenfabrik der Verlagsgesellschaft<br />
deutscher Konsumvereine des zdk in Hamburg – hier<br />
wurden zentral alle Drucksachen und Zeitschriften<br />
des Verbandes hergestellt – gab es eine syndikalistische<br />
Gewerkschaftsgruppe der FVdG, wie der<br />
Hilfsarbeiter Karl DoPf in seinen Erinnerungen zu<br />
berichten weiß: er arbeitete „über zehn Jahre lang in<br />
<strong>die</strong>sem Betrieb, der in produktionstechnischer wie sozialer<br />
Hinsicht als Musterbetrieb galt, dessen Organisation<br />
des Arbeitsprozesses jedoch dopf weniger »sozialistisch«<br />
erschien, als er es sich vorgestellt hatte. Grund<br />
der Unzufriedenheit waren <strong>die</strong> innerbetriebliche Hierarchie,<br />
<strong>die</strong> starken Lohnunterschiede und überhaupt der<br />
hier herrschende »preußische Geist«. Die Hilfsarbeiter,<br />
zuunterst in der betrieblichen Pyramide, scheinen hier<br />
ihre eigenen Vorstellungen von einem »gerechten Sozialismus«<br />
entwickelt zu haben und schon vor dem Ersten<br />
Weltkrieg anarchosyndikalistisch orientiert gewesen zu<br />
sein. Daher vermied es Dopf, der zwar nominell Mitglied<br />
der deutschen sozialdemokratischen Gewerkschaftsorganisation<br />
wurde, der SPD beizutreten. Die Bedeutung<br />
<strong>die</strong>ser betrieblichen Verhältnisse für <strong>die</strong> weitere weltanschauliche<br />
Entwicklung Dopf s liegt auf der Hand.“<br />
(BotZ) •<br />
In der österreichischen anarchistischen Zeitschrift<br />
ErKenntnis & BeFreiunG (Nr. 9 / 1923) schreibt DoPf<br />
u.a. folgendes: „Die genossenschaftliche Fabrik,<br />
wie sie <strong>die</strong> Sozialdemokratie geschaffen hat, ist dasselbe<br />
wie eine kapitalistische Aktiengesellschaft, nur <strong>mit</strong><br />
dem Unterchied, daß der Reingewinn, der bei jener in<br />
<strong>die</strong> Tasche der Aktionäre wandert, hier den beteiligten<br />
Genossenschaften zufällt, in denen Arbeiter organisiert<br />
sind. Da<strong>mit</strong> ist aber meines Erachtens im System der<br />
Ausbeutung nicht geändert und wird nie etwas geändert<br />
werden. (...) Wer den Ertrag meiner Arbeit bekommt,<br />
ist mein Ausbeuter, ganz gleich, ob er sich zur Kapitalistenklasse<br />
oder zum Proletariat rechnet.“ Später<br />
schreibt DoPf von den Methoden im zdk-Betrieb<br />
und charakterisiert <strong>die</strong> Funktionsträger der Genossenschaft<br />
nach dem Ausscheiden der „bürgerlich<br />
gesinnten Menschen“ aus der Betriebsleitung als<br />
„durchwegs von proletarischen Emportkömmlingen“<br />
durchsetzt, unter denen „Zustände einreißen, wie<br />
ich sie in keiner kapiatlsitischen Bude gesehen habe“.<br />
DoPf meint, er könnte ein Buch schreiben über <strong>die</strong><br />
Zustände, „<strong>die</strong> beweisen, daß <strong>die</strong> Praxis der genossenschaftlichen<br />
Betriebsführung nichts, aber nicht das Geringste<br />
<strong>mit</strong> dem geiste des Sozialismus oder auch <strong>mit</strong><br />
den wahren Zielen des Genossenschaftsgedankens zu<br />
tun hat“. Die Ursache sieht er vor allem in <strong>die</strong>sem<br />
Übel: „Im genossenschaftsbetriebe habe ich selbst bei äußerster<br />
Anstrengung, noch nie ein anderes Wort gehört,<br />
als daß eben wieder nicht genug geschafft worden sei.<br />
Das Problem von der Steigerung der Leistungen liegt<br />
den Herren Genossenschaftsführern allen im Kopf, und<br />
daher glauben sie auch, es nur lösen zu können, wenn<br />
sie recht viele, möglichst hinter jedem Arbeiter einen Antreiber<br />
stehen haben, anstatt, was vernünftiger wäre, an<br />
jeder Arbeitsstelle genügend produktiv schaffende Kräfte<br />
wirken zu lassen.“ Und das geht dann so weit, daß<br />
in der genossenschaftlichen Fabrik „nur strengste<br />
Disziplin“ herrscht, „und jeder hat sich ohne Widerspruch<br />
der Autorität seines Vorgesetzten unterzuordnen.<br />
Tut er <strong>die</strong>s nicht, wird sofort <strong>die</strong> Hungerpeitsche<br />
Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />
geschwungen, das heißt man entledigt sich seiner oder<br />
droht ihm wenigstens.“ ... „So kommt es dann, daß viele<br />
Arbeiter herumlaufen, <strong>die</strong> sich ihr Wochengeld auf anderer<br />
Leute Knochen ver<strong>die</strong>nen können, wenn sie sich<br />
durch einen schmutziger Stehkragen als <strong>die</strong> »bevorzugte<br />
Proletarierklasse« kenntlich zeigen. Schließlich tragen<br />
auch noch <strong>die</strong> famosen Tarifverträge der Gewerkschaften<br />
dazu bei, <strong>die</strong> bestimmen, daß der ungelernte Arbeiter<br />
jede ihm befohlene Arbeit auszuführen hat. Wenn also<br />
ein Vorgsetzter befiehlt, daß man ihm <strong>die</strong> Stiefel putzen<br />
oder einem Unteroffizier <strong>die</strong> Knöpfe blank zu scheuern<br />
hat, dann hat man <strong>die</strong>s ohne Widerspruch auszuführen,<br />
weil es irgendwo im Tarif steht.“ •<br />
Heinrich Kaufmann und<br />
<strong>die</strong> Buchdruckergehilfen in Hamburg<br />
In der EiniGKeit erschien am 25. Oktober 1913 noch<br />
ein Nachtrag zur Buchdrucker-Auseinandersetzung<br />
in Hamburg durch Roche:<br />
„Ausgewiesen. Wir haben im Mai d.J. In der ‚Einigkeit‘<br />
berichtet, daß <strong>die</strong> Buchdrucker in der Verlagsgesellschaft<br />
Deutscher Konsumvereine zu Hamburg ihre Stellungen<br />
kündigten, weil Herr Heinr. Kaufmann, ehemals<br />
Volksschullehrer, dann sozialdemokratischer Redakteur<br />
und jetzt „Prinzipal“ bei genannter Gesellschaft, Buchdrucker<br />
gemaßregelt hatte. Der Streit wurde damals<br />
durch Schlichtung beigelegt, und <strong>die</strong> Buchdrucker blieben<br />
an ihren Plätzen. Herr Kaufmann hat sich wiederholt<br />
berühmt gemacht und zuletzt dadurch, daß er in<br />
seiner Eigenschaft als Prinzipal der Verlagsgesellschaft<br />
der Unternehmerorganisation beitrat und Genossenschaftsgeld,<br />
also vorwiegend Groschen aus den Taschen<br />
der organisierten Arbeiter, in eine Antistreikkasse der<br />
Buchdruckerprinzipalität zahlte. Solche genossenschaftliche<br />
Förderung der Arbeiterinteressen ist ihm dann von<br />
der Gesellschaft verboten worden. Aber welcher Zeitgenosse<br />
baut nicht gerne seine eigenen Lorbeeren! Als der<br />
Konflikt im Mai beigelegt war, da ging Herr Kaufmann<br />
in <strong>die</strong> Prinzipalsversammlung und machte gegen <strong>die</strong><br />
Buchdruckergehilfen scharf.“<br />
Herr Kaufmann wollte gar einen Teil des Vermögen<br />
des Deutschen Buchdruckerverbandes per Gerichtsvollzieher<br />
eintreiben, weil ihm der Tarif <strong>die</strong>ser<br />
sozialdemokratischen Gewerkschaft „zu revolutionär“<br />
erschien. Das klappt aber nicht, denn „Geldopfer<br />
waren nicht beizutreiben [gewesen]. Also hat man<br />
sich anders zu helfen gesucht. Der Wortführer der Gehilfen<br />
in dem Konflikt war der Buchdrucker Steinhardt; er<br />
hat auch auf dem Verbandstage in Danzig <strong>die</strong> Interessen<br />
der Hamburger Buchdrucker gegen den Zentralvorstand<br />
energisch vertreten. Er ist also, wie <strong>die</strong> „Instanzen“ da<br />
so zu nennen belieben, ein gewerkschaftliches Rauhbein.<br />
Nun hat Steinhardt einen Geburtsfehler: er ist nämlich<br />
außerhalb der „schwarzweißroten“ Grenzen zur Welt<br />
gekommen. Das wurde ihm zum Verhängnis. Der Hamburger<br />
Senat hat ihn jetzt, nachdem er schon 12 Jahre<br />
hier lebte, ausgewiesen. Wir behaupten natürlich nicht,<br />
daß <strong>die</strong> Verlagsanstalt Deutscher Konsumvereine zu der<br />
Ausweisung den Anstoß gab; denn was nicht zu beweisen<br />
ist, darf nicht behauptet werden. Aber kann das nicht<br />
ein Blinder <strong>mit</strong> dem Krückstock sehen? K.“ •<br />
• Die EiniGKeit, Nr. 43 – Berlin, 25.10.1913
arrikade sieben - April 2012<br />
Tabellarischer Sozialismus<br />
Die sozialdemokratischen Genossenschaftsbetriebe<br />
sind nichts weiter als kapitalistische Firmen<br />
gewesen. Der „Sozialismus“ <strong>die</strong>ser Herrschaften,<br />
<strong>die</strong> im August 1914 dem Schlachtruf des Kaisers in<br />
den Untergang und <strong>die</strong> unvollendete Revolution<br />
von 1918 folgten, zeichnet sich allein durch eine<br />
penible und pedantische Buchhalterei aus; hätte<br />
es damals elektronische Tabellenkalkulationsprogramme<br />
gegeben, hießen sicherlich noch heute<br />
„FortsCHritt“, „BeBel“ oder „Lasalle“ heißen. Die<br />
Geschäftstüchtigkeit der Herren ZDK-Führer ist<br />
so umtriebig wie nachhaltig – für ihre Taschen.<br />
Das lässt sich allein am Bericht der VerlaGsanstalt<br />
Des zDK für 1913 nachweisen. Dort steht nämlich,<br />
dass <strong>die</strong> Verlagsgesellschaft praktischerweise<br />
in Personalunion vom Vorstand und Aufsichtsrat<br />
des ZDK geführt wird. Über <strong>die</strong> Entlohnung<br />
kann spekuliert werden – ehrenamtlich haben <strong>die</strong><br />
Mitglieder des Geschäftsführenden Vorstandes<br />
nicht gearbeitet. Ihre „sozialen Netzwerke“, <strong>die</strong><br />
zwischen den Betrieben der Genossenschaften<br />
und der Partei bestanden, waren ausgeklügelt.<br />
Sprachlos macht eigentlich <strong>die</strong> Tatsache, daß alle<br />
größeren Firmen des ZDK keine Genossenschaften<br />
waren, sondern GmbHs, wo dann das genossenschaftliche<br />
Prinzip nicht mehr galt - jede/r hat<br />
nur eine Stimme; das war praktisch ...<br />
Während Frauen und Männer in den Werkstätten<br />
miserabel bezahlt, aber permanent kontrolliert<br />
und <strong>die</strong> Leistungen tabellarisch erfasst wurden.<br />
Wie vieler Schreiber bedurfte es wohl zur Erstellung<br />
der täglichen Akkord-Listen und Übersichten?<br />
Karl Roche schrieb 1910 in seiner <strong>Abrechnung</strong><br />
<strong>mit</strong> seiner sozialdemokratischen Bauhilfsarbeiter-Zentralgewerkschaft<br />
in Hamburg, dass er<br />
<strong>die</strong> Zahlen zusammengestellt und am Stehpult in<br />
der Küche des Gewerkschaftsvorstandsbüros und<br />
auch zu Hause am Küchentisch erstellte, während<br />
der Vorsitzender sie dann als sein geistiges Eigentum<br />
veröffentlichte.<br />
Frauen galten seinerzeit nur als Hilfsarbeiterinnen,<br />
<strong>die</strong> Tüten kleben durften. Aber selbst das war<br />
vielen organisierten Arbeiter-Männern noch zu<br />
viel. Roche erklärte in einem Diskussionsbeitrag,<br />
dass <strong>die</strong> vielen Frauen in den Genossenschaften<br />
nur als Verkäuferinnen beschäftigt würden …<br />
Das Lohnsystem entsprach vollkommen den<br />
kapitalistischen Verträgen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Zentralgewerkschaften<br />
aushandelten – je mehr Lohngruppen<br />
und Altersunterschiede zum Tragen kamen, desto<br />
besser. Hierarchie überall, wohin man blickt.<br />
Was für ein Sozialismus ist das, der nicht danach<br />
fragt, wie es den Arbeiterinnen und Arbeitern in<br />
ihren Fabriken „geht“, ob sie sich wohlfühlten?<br />
Die Beschäftigten sollten zufrieden sein, weil<br />
dort „nur“ 49 Stunden statt 52 gearbeitet werden<br />
mußte, <strong>die</strong> Arbeitszeit also um fast 6% geringer<br />
sei als anderswo. Und <strong>die</strong> kleinlichen Regelungen<br />
aller möglichen Dinge wurden <strong>mit</strong> Zentralgewerkschaften<br />
ausgehandelt, teils selbstherrlich<br />
vom Vorstand erlassen.<br />
Wir dokumentieren hier auszugsweise <strong>die</strong><br />
Lohntarife aus den Lohnverhältnissen bei der Verlagsanstalt<br />
des Zentralverbandes der deutschen Konsumvereine<br />
1913 - entnommen dem ZDK-Jahrbuch<br />
1913 (Seiten 544-548). • fm<br />
HeinRiCH Ka U F m a n n (1864 – 1928)<br />
... war maßgeblich an der Gründung des Zentralverbandes<br />
deutscher Konsumvereine e.V. beteiligt und gilt als <strong>die</strong> Vaterfigur<br />
der deutschen Konsumgenossenschaftsbewegung.<br />
Geboren 1864 in Bredegatt (Nordschleswig) als Sohn<br />
eines Gastwirtes und Krämers wurde er Lehrer, zunächst<br />
in Kiel, dann an der privaten Paßmannschen Schule in<br />
Hamburg. Dort bekam er Einblick in das Elend vieler Arbeiterfamilien.<br />
In seiner Freizeit unterrichtete er in einem<br />
Kellerlokal des Fortbildungsvereins Barmbek-Uhlenhorst<br />
wissensdurstige Arbeiter. Der Fortbildungsverein wurde<br />
von den Behörden kurzerhand geschlossen, als er in den<br />
Verdacht geriet, Anarchisten in seinen Reihen zu haben.<br />
1894 übernahm Kaufmann <strong>die</strong> Geschäftsführung und<br />
<strong>die</strong> Lokalredaktion des neu gegründeten sozialdemokratischen<br />
„Volksblatt für Harburg und Wilhelmsburg“. In<br />
Harburg tratt er dem kleinen örtlichen Konsumverein<br />
bei und sorgte <strong>mit</strong> reger Werbung in den Arbeiterkreisen<br />
für weitere Beitritte. Durch <strong>die</strong>se Arbeit kam er <strong>mit</strong> der<br />
noch jungen Großeinkaufsgesellschaft deutscher Konsumvereine<br />
mbH (GEG) in Hamburg in Kontakt. Dort übernahm<br />
er 1900 <strong>die</strong> Leitung des „Wochenberichtes“ <strong>die</strong> er in eine<br />
konsumgenossenschaftliche Werbe- und Fachzeitschrift<br />
umgestaltete.<br />
Als auf dem Kreuznacher Genossenschaftstag 1902 <strong>die</strong><br />
GEG, der Verband sächsischer Konsumvereine sowie 98<br />
Konsumvereine aus dem Allgemeinen Verband (Schulze-<br />
Delitzsch) der Genossenschaften ausgeschlossen wurden,<br />
nahm Kaufmann <strong>die</strong> Gründung eines eigenen konsumgenossenschaftlichen<br />
Verbandes in <strong>die</strong> Hand. Bereits im<br />
Mai 1903 wurde in Dresden durch 621 Delegierte von 302<br />
Konsumgenossenschaften der Zentralverband deutscher<br />
Konsumvereine e.V. gegründet. Kaufmann kümmerte sich<br />
um den Aufbau der Verlagsanstalt des Zentralverbandes,<br />
deren Geschäftsführer er wurde. Dort wurden <strong>die</strong> einflussreichen<br />
Blätter „Konsumgenossenschaftliche Rundschau“<br />
und „Konsumgenossenschaftliches Volksblatt“ herausgegeben.<br />
Er drängte auf eine enge Zusammenarbeit<br />
<strong>mit</strong> den Gewerkschaften und sorgte dafür, dass für <strong>die</strong><br />
konsumgenossenschaftlichen Betriebe vorbildliche Tarifverträge<br />
abgeschlossen wurden. Er war der Motor für<br />
<strong>die</strong> Gründung der gewerkschaftlich-genossenschaftlichen<br />
Lebensversicherungsgesellschaft „Volksfürsorge AG“.<br />
Als Heinrich Kaufmann 1928 im Alter von 64 Jahren<br />
starb, war <strong>die</strong> Zahl der Konsumgenossenschaften im ZdK<br />
auf 1.024, <strong>die</strong> der Verteilungsstellen auf 10.124 und <strong>die</strong><br />
der Mitglieder auf über 3 Millionen angestiegen. •<br />
• http://www.kaufmann-stiftung.de (gekürzt)<br />
ad O L F V On eLm (1857-1916)<br />
... war 1898 Initiator zur Gründung der Konsum-, Bauund<br />
Sparverein „Produktion“ eGmbH, Hamburg, im Jahre<br />
1899.<br />
Im Jahr 1905 hat Von Elm auf dem 5. Gewerkschaftskongress<br />
in Köln als erster versucht, <strong>die</strong> beiden Bewegungen<br />
Konsumgenossenschaften und Gewerkschaften als <strong>die</strong><br />
beiden großen sozialwirtschaftlich und sozialpolitisch<br />
bedeutsamen Massenorganisationen auf eine Grundlage<br />
zu stellen. Der Kongress empfahl nach dem Referat von<br />
von Elm den Gewerkschafts<strong>mit</strong>gliedern den Beitritt in <strong>die</strong><br />
Konsumgenossenschaften. Eine Empfehlung bezüglich<br />
der SPD wurde in <strong>die</strong>sem Zusammenhang nicht gegeben,<br />
da <strong>die</strong> konsumgenossenschaftlichen Grundsätze eine<br />
parteipolitische Neutralität vorsahen. Doch praktisch war<br />
<strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Beschluss das Drei-Säulen-Kartell von SPD,<br />
Sozialistischen Gewerkschaften und der Konsumgenossenschaftsbewegung<br />
der Hamburger Richtung endgültig<br />
besiegelt.<br />
Von Elm war ein Gründer der gewerkschaftlich-genossenschaftlichen<br />
„Versicherungs-Aktiengesellschaft Volksfürsorge“,<br />
deren erster Vorstand er <strong>mit</strong> Friedrich Lesche<br />
wurde. Die Volksfürsorge nahm am 1. Juli 1913 ihren Geschäftsbetrieb<br />
auf.<br />
AdolPh Von Elm starb 1916 an seinem Schreibtisch. •<br />
31
arrikade sieben - April 2012<br />
Worauf es ankommt: Das Prinzip<br />
In DoPfs Schilderungen voraus ging ein interessanter<br />
redaktioneller Beitrag Zur Theorie<br />
und Praxis im Genossenschaftswesen:<br />
„Worauf es ankommt, ist das Prinzip. Selbst<br />
eine revolutionäre Gewerkschaftsbewegung –<br />
was der französische Syndikalismus <strong>mit</strong> einer<br />
Mitgliedschaft von mindestens einer halben<br />
Million vor dem Kriege war – führt das Proletariat<br />
nicht zur genossenschaftlichen Eigenwirtschaft,<br />
befähigt es noch nicht dazu, beläßt<br />
es im Kreise des bürgerlichen Lohnsystems<br />
und seiner Produktion, ist außer Stande, <strong>die</strong><br />
Konkurrenz der Arbeiter untereinander aufzuheben<br />
und schmälert selbst beim höchsten<br />
Lohnsatz nicht <strong>die</strong> Profitrate des Unternehmers.<br />
Alles das aber kann <strong>die</strong> kleinste, wirklich<br />
sozialistische Genossenschaft tun, wenn ihre<br />
Mitglieder es erstreben und <strong>die</strong>sen Prinzipien<br />
treu bleiben. (...)<br />
Hier hätte der Synsikalismus eine historische<br />
Aufgabe zu erfüllen, er müßte der sozialdemokratischen<br />
Korrumpierung des Genossenschaftsprinzips<br />
eine Verwirklichung desselben<br />
entgegenstellen, wodurch <strong>die</strong> Arbeiter zunehmend<br />
wirtschaftlich unabhängig vom Kapitalismus<br />
und zugleich praktisch geschult für<br />
<strong>die</strong> soziale Revolution werden, den produktive<br />
Grundlage legend, was eine nursyndikalistischeBewegung<br />
nie zu leisten vermag.“<br />
• ErKenntnis & BeFreieunG, Nr. 9 / 1923<br />
Der zdk - heute<br />
Seit vielen Jahren kümmert sich der Hamburger Genossenschaftsverband<br />
zdk sehr intensiv um genossenschaftliche Neugründungen.<br />
Außerdem sind <strong>die</strong> dortigen Kolleginnen und<br />
Kollegen bemüht, <strong>die</strong> Positionen und Notwendigkeiten kleiner<br />
Genossenschaften (z.B. Prüfungskosten) im Rahmen ihrer<br />
Möglichkeiten auf politischer und gesamt-genossenschaftlicher<br />
Ebene (meist gegen <strong>die</strong> übermächtige und starrköpfige<br />
Haltung der Raiffeisen- und Genossenschaftsbanken-Verbandsfunktionäre)<br />
zu positionieren und den Grundgedanken<br />
des Genossenschaftswesen zu verteidigen.<br />
Wer eine Genossenschaft gründen möchte, sollte sich an <strong>die</strong>se<br />
engagierten Menschen wenden, sie helfen uneigennützig<br />
und kompetent in allen Fragen - von der juristischen Betreuung<br />
einer Gründung (Satzung, inkl. Prüfungsverbandkontrolle)<br />
bis hin zur buchhalterischen und steuerlichen Beratung.<br />
• www.zdk-hamburg.coop<br />
33<br />
Foto: Yan Liang (L2XY2)
34 Harpune & Torpedo •<br />
KA R L RO C H E<br />
Vorbemerkung<br />
I.<br />
Die ‚wilden‘ Streiks der letzten beiden Jahre des<br />
1. Weltkrieges in Deutschland, besonders <strong>die</strong> großen<br />
Januarstreiks von 1918, hatten eine breite oppositionelle<br />
revolutionäre Strömung innerhalb<br />
wie außerhalb der gewerkschaftlich organisierten<br />
Arbeiterklasse gestärkt. Neben der von den sozialdemokratischen<br />
Gewerkschaftsführungen bei<br />
Kriegsausbruch verkündeten Burgfriedenspolitik<br />
und deren ‚vertrauensvoller‘ Zusammenarbeit <strong>mit</strong><br />
der kaiserlichen Reichsführung und dem Militär<br />
waren es <strong>die</strong> abwiegelnden Aktivitäten in den<br />
Streikbewegungen des Krieges, <strong>die</strong> eine starke Verbitterung<br />
hervorriefen, aber unter den Bedingungen<br />
des Kriegsrechtes und der allgegenwärtigen<br />
Repression kaum organisatorische Konsequenzen<br />
hatte. [1] Mit der Revolution im November 1918 fielen<br />
<strong>die</strong>se Hindernisse fort.<br />
Die Streikbewegungen des Frühjahres 1919 brachten<br />
eine Vielfalt von revolutionären Betriebsräten,<br />
Aktionsko<strong>mit</strong>ees etc. hervor, aus denen <strong>die</strong> Kerne<br />
der Anfang 1920 dann reichsweit gegründeten Allgemeinen<br />
Arbeiter-Union Deutschlands (AAUD) entstand.<br />
Einen Teil der oppositionellen Gewerkschafter<br />
und der bisher Unorganisierten in der ersten<br />
Phase der Revolution konnte <strong>die</strong> syndikalistische<br />
Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften auffangen,<br />
<strong>die</strong> bei Kriegsbeginn 1914 zwischen 6.000 und<br />
7.000 Mitglieder hatte und <strong>die</strong> Kriegszeit halblegal<br />
überdauerte. Zumindest dort, wo organisatorische<br />
Kerne existierten, erlebte <strong>die</strong> FVdG einen rasanten<br />
Zuwachs, so daß <strong>die</strong> Syndikalistische Konferenz,<br />
<strong>die</strong> vom 26. – 27. Dezember 1918 in Berlin stattfand,<br />
schon gut 60.000 Mitglieder vertrat. [2] Aber es entstanden<br />
auch lokale oder regionale Unionen, <strong>mit</strong><br />
Zentren im Ruhrgebiet, Mittel- und Norddeutschland.<br />
[3]<br />
II.<br />
Die KPD(S) hatte auf ihrem Gründungskongreß ein<br />
antiparlamentarisches Programm verabschiedet,<br />
und nur durch Rosa LuXemBurgs Intervention konnten<br />
ausdrücklich anti-gewerkschaftliche Beschlüsse<br />
des Parteitages (darunter auch den zur Gründung<br />
einer Einheitsorganisation) <strong>mit</strong> einem Trick (Überweisung<br />
an den »Ausschuß für wirtschaftliche Fragen«)<br />
verhindert werden. [4] Aber auch sie war der<br />
Ansicht, daß <strong>die</strong> Rolle der Gewerkschaften von<br />
den (revolutionären) Arbeiter- und Soldaten- und<br />
Betriebsräten übernommen werden würde. [5] Dennoch:<br />
<strong>die</strong> Gewerkschaftsfrage blieb in der jungen<br />
KPD ungeklärt.<br />
In der »Phase der Linksradikalen Aktionseinheit«<br />
(Bock) [6] , also etwa bis Mitte 1919, arbeiteten alle revolutionären<br />
Richtungen (Syndikalisten, KPD und<br />
Teile der USPD) – mal mehr, mal weniger spannungsfrei<br />
– zusammen. Doppel<strong>mit</strong>gliedschaften<br />
in einer <strong>die</strong>ser Parteien und der FVdG waren nicht<br />
ungewöhnlich. In ihrer ersten programmatischen<br />
Erklärung hatte <strong>die</strong> FVdG übrigens empfohlen, »allerorten<br />
<strong>mit</strong> den am weitesten linksstehenden Gruppen<br />
der Arbeiterbewegung: den Unabhängigen, dem Spartakusbund,<br />
in wirtschaftlichen und politischen Fragen<br />
gemeinsam zu handeln«. [7]<br />
Historisches - Geschichte<br />
Die 3. Reichskonferenz der AAUD<br />
12. - 14. Juni 1920 in Leipzig<br />
Rudolf Rocker, der aus dem englischen Exil nach<br />
Kriegsende zur Freien Vereinigung gestoßen war,<br />
hatte zwar schon im Februar 1919 gegen bestimmte<br />
Anschauungen in der marxistischen Arbeiterbewegung<br />
polemisiert (Rolle der Gewerkschaften,<br />
zwangsläufiger Übergang vom Kapitalismus zum<br />
Sozialismus, Zentralismus, sozialistischer Übergangsstaat,<br />
um einige zentrale Punkte zu nennen),<br />
aber das traf zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt eher <strong>die</strong> Mehrheits-Sozialdemokratie<br />
und den reformistischen<br />
Flügel der USPD. [8]<br />
III.<br />
Im Sommer 1919 verschärfte sich dann <strong>die</strong> Polemik<br />
zwischen Syndikalisten und der KP-Führung,<br />
besonders, da <strong>die</strong> Zentrale der KPD(S) (unterstützt<br />
und angetrieben durch <strong>die</strong> russischen Bolschewiki)<br />
<strong>die</strong> anti-parlamentarische und anti-gewerkschaftliche<br />
Linie des Gründungsparteitages revi<strong>die</strong>ren<br />
wollte. Mitte Juni 1919 erschien ein Aufruf »An <strong>die</strong><br />
Syndikalisten in der KPD!« [9] , der de facto – bei Strafe<br />
des Ausschlusses – eine bedingungslose Unterordnung<br />
unter <strong>die</strong> Parteilinie der Zentrale verlangte<br />
(Politische Partei als wichtigster Faktor im Klassenkampf,<br />
strikte Zentralisierung, keine unabhängigen<br />
Teilaktionen). Anfang Juli veröffentlichte der<br />
Syndikalist ein KPD-internes Dokument, das konstatierte,<br />
»daß niemand Kommunist und Syndikalist<br />
zugleich sein kann. (…) Daher weg <strong>mit</strong> dem kräftezersplitternden<br />
Syndikalismus«. [10] Man schlug erstmal<br />
den Sack, aber man meinte den Esel: <strong>die</strong> ‚hauseigenen‘<br />
Linksradikalen.<br />
Der Machtkampf innerhalb der KPD, der parallel<br />
<strong>mit</strong> dem Kampf gegen ‚den Syndikalismus‘<br />
geführt wurde, endete <strong>mit</strong> dem von der Zentrale<br />
um Paul LeVi manipulierten 2. Parteitag (20. – 24.<br />
Oktober 1919), auf dem <strong>die</strong> antiparlamentarischantigewerkschaftliche<br />
Mehrheit der Partei<strong>mit</strong>glieder<br />
aus der Partei gedrängt wurde. [11] Darunter befanden<br />
sich <strong>die</strong> Mitgliederstärksten Bezirke Nord<br />
(<strong>mit</strong> Zentrum Hamburg), Nordwest (<strong>mit</strong> Zentrum<br />
Bremen), Niedersachsen, Groß-Berlin und Dresden.<br />
[12] Die Opposition organisierte sich zunächst<br />
über Bremen in der Informationsstelle der Gesamtopposition<br />
der KPD(S), um den Kampf um <strong>die</strong> Partei<br />
aufzunehmen. Sie hielt weiter am Aufbau einer eigenständigen<br />
revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />
außerhalb der reformistisch-sozialdemokratischen<br />
Gewerkschaftsbewegung fest und betrieb<br />
<strong>die</strong> reichsweite Gründung einer unionistischen<br />
Organisation. [13]<br />
IV.<br />
Auf der 1. Reichskonferenz der AAUD vom 14. – 16.<br />
Februar 1920 [14] in Hannover war Karl Roche [15] der<br />
Gegenspieler von Karl Becker, der <strong>die</strong> Richtlinien<br />
der Bremer Informationsstelle der Gesamtopposition in<br />
der KPD(S) vertrat. Becker lehnte <strong>die</strong> Einheitsorganisation,<br />
<strong>die</strong> <strong>die</strong> Partei überflüssig machen würde,<br />
ab. Die von den Hamburger Unionisten vorgelegten<br />
Richtlinien [16] bezeichnete Becker als »syndikalistisch«<br />
– wo<strong>mit</strong> er nicht nur in Anbetracht der Vergangenheit<br />
Roches nicht ganz Unrecht hatte – und<br />
lehnte den dort propagierten Föderalismus ab. Die<br />
Unionen sollten als wirtschaftliche Hilfsorganisationen<br />
der KPD(S) agieren, um »alle Betriebe der
arrikade sieben - April 2012<br />
wichtigsten Industrie- und Verkehrszweige durch ein<br />
fest gefügtes Vertrauensmännersystem zu erfassen.« [17]<br />
Die auf <strong>die</strong>ser ersten Konferenz naturgemäß noch<br />
etwas verworrene Diskussion wurde am 16 Februar<br />
von der Polizei beendet, <strong>die</strong> <strong>die</strong> 150 Teilnehmer<br />
verhaftete. Vorher wurden <strong>die</strong> Hamburger Richtlinien<br />
allerdings als Basis für eine Überarbeitung akzeptiert,<br />
<strong>die</strong> in einer reichsweiten Diskussion überarbeitet<br />
werden sollten [18] . Die Redaktion des neuen<br />
Entwurfs übernahm Hamburg [19] . Da <strong>die</strong> Bremer<br />
KPD-Opposition um Becker und Paul FrÖlich<br />
sich nicht an der Gründung der KAPD im April<br />
1920 beteiligte [20] und zur KPD-Zentrale zurückkehrte,<br />
verlagerte sich der Vorort der Unionisten<br />
nach Hamburg.<br />
Auf der 2. Reichskonferenz der AAUD am 9. bis<br />
10. Mai 1920 in Berlin wurde der von den Hamburgern<br />
aus der vorhergehenden Diskussion kondensierten<br />
Entwurf eines Organisationsstatuts angenommen.<br />
Die Schlapphüte der Berliner Sicherheitspolizei<br />
(Sipo) berichteten darüber:<br />
Ȇber den Verlauf des zweiten Kongresses der Allgemeinen<br />
Arbeiter-Union in Berlin ist folgendes zu berichten:<br />
Der Kongress war von 32 Bezirks- bzw. örtlichen Organisationen<br />
beschickt, auch <strong>die</strong> ‚Freie Bergarbeiter-Union’<br />
war vertreten. Das Präsidium des Kongresses hatten<br />
<strong>die</strong> Genossen Klein – Berlin, RoCHe – Hamburg und<br />
UlriCH – Bremen.<br />
(...) aber eine sehr verschiedene Anschauung offenbarte<br />
sich bei der Debatte über Partei und B.O. Die Hamburger<br />
Vertreter, <strong>die</strong> übrigens auch auf dem Kongress eine<br />
führende Rolle spielten, vertreten den reinen Unionsgedanken<br />
und betrachten <strong>die</strong> Parteigebilde als absterbende<br />
vorrevolutionäre Organisation. Die Zusammenfassung<br />
und Organisation des revolutionären Proletariats habe<br />
im Betriebe zu geschehen und auch vom Betriebe aus sei<br />
– nach Ansicht des Hamburger Unionsführers RoCHe –<br />
der revolutionäre Kampf zu führen.<br />
(...) Der Genosse Kallert, Vertreter der Freien Bergarbeiter-Union<br />
gab bekannt, dass seine Organisation<br />
45.000 Mitglieder und 5 Angestellte habe. Sie baue sich<br />
auf „Schachtorganisationen“ auf (Industriegruppenorganisation).<br />
Er erklärte, dass sich <strong>die</strong> Freie Bergarbeiter-<br />
Union als Industriegruppenorganisation der A.A.U.<br />
anzuschließen beabsichtige.«<br />
Die Konferenz endete <strong>mit</strong> einem Sieg der Hamburger,<br />
Hamburg wurde zum Sitz der Reichswirtschaftsrates<br />
der AAU bestimmt.« [21] V.<br />
Das hier dokumentierte Protokoll der 3. Reichskonferenz<br />
(RK) der AAU zeigt den Wendepunkt<br />
in der der Union an: den Sieg der KAPD-Fraktion<br />
über <strong>die</strong> Vertreter des Gedankens der Einheitsorganisation.<br />
Die im April 1920 gegründeten KAPD [22]<br />
setzte mehrheitlich auf <strong>die</strong> Mitgliedschaft in der<br />
Kommunistischen Internationale, und <strong>die</strong> Berliner<br />
Führungsgruppe um Karl SchrÖder, Arthur<br />
Goldstein und Bernhard ReichenBach vertrat<br />
sowohl für <strong>die</strong> Partei wie <strong>die</strong> Union ein zentralistisches<br />
Organisationsmodell und war Gegner der<br />
Einheitsorganisation. Der endgültige Bruch fand<br />
allerdings erst nach der 4. Reichskonferenz im<br />
Juni 1921 statt [23] , als der föderalistische Flügel um<br />
Otto Rühle, FranZ PfemPfert und Karl Roche <strong>die</strong><br />
AAU-Einheitsorganisation gründete. [24]<br />
• Jonnie SCHliCHtinG<br />
Protokoll der Tagung der [3.]<br />
Reichskonferenz der Allgem[einen]<br />
Arb[eiter]-U[nion] [in Leipzig]<br />
(12. – 14. Dez[ember] 1920) [25]<br />
Tagesordnung [26]<br />
0. Wahl des Bureaus und der Mandatsprüfungskommission.<br />
1. Die allgemeine politische Lage (Referat Z. Berlin<br />
[Karl Zech, Pseudonym von Karl SchrÖder])<br />
2. Programm und Stellung zur Partei<br />
3. Stellung zur 3. Internationale (Referat S. Berlin<br />
[AleXander SchWaB])<br />
4. Gesetzliche oder revol[utionäre] Räte (Referat R.<br />
Berlin [Bernhard ReichenBach])<br />
5. Internationale Verbindungen<br />
6. Abstimmung über das Programm<br />
7. Presse<br />
8. Organisatorisches<br />
Die am 12. Dezember in Leipzig tagende dritte<br />
Reichskonferenz der Allgemeinen Arbeiter-Union<br />
Deutschlands wird <strong>mit</strong> einem kurzen Vorwort des<br />
Vorsitzenden eröffnet.<br />
Nach Wahl eines Bureaus wird eine Mandatsprüfungs-Kommission<br />
gebildet. Diese setzt sich aus je<br />
einem Genossen der Bezirke Groß-Berlin, Mittel-<br />
Deutschland 2, Niederlausitz, Sachsen und Mansfeld<br />
zusammen.<br />
Nach dem Bericht der Kommission sind folgende<br />
Wirtschaftsbezirke anwesend:<br />
Westsachsen 5 Delegierte, Ostsachsen 3, Berlin 7,<br />
Mitteldeutschland 2: 6, Niederlausitz 3, Pommern<br />
2, Brandenburg 1, Westdeutschland 7, Ostpreußen<br />
1, Württemberg 1, Thüringen 2, Hamburg 3, Mansfeld<br />
1, Hannover 1, Hessen 1, Oldenburg 1, Chemnitz<br />
1, Magdeburg 1, Quedlinburg 1, Schöningen 1,<br />
Braunschweig 1.<br />
Beanstandet wurde das Mandat des Genossen<br />
MÖhrling-Braunschweig. Die Versammlung beschloß,<br />
das Mandat anzuerkennen, lediglich um<br />
<strong>die</strong> Richtung Braunschweig vertreten zu wissen.<br />
Die Tagesordnung wird in der vorgeschlagenen<br />
Form (siehe KAMPFRUF Nr. 31, Beilage 2) [27] angenommen.<br />
Hamburg bezweifelt <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />
des Punkt 1 der Tagesordnung und legt Verwahrung<br />
ein gegen angeblich zu häufige Reichskonferenzen.<br />
Ein Antrag von Hamburg und Württemberg, <strong>die</strong><br />
Referate nur von Genossen halten zu lassen, <strong>die</strong><br />
Mitglieder der AAU. sind und ein Mandat haben,<br />
Gästen in der Diskussion nur von Fall zu Fall das<br />
Wort zu erteilen, wird angenommen.<br />
Das Referat über <strong>die</strong> allgemeine Lage hält Z.<br />
(Berlin) [Karl Zech, ein Pseudonym von Karl<br />
SchrÖder]. (Siehe KAMPFRUF Nummer 34.) Die<br />
Vertreterin Magdeburgs fordert Stellungnahme zur<br />
Erwerbslosenfrage, da KAPD.- und Unions<strong>mit</strong>glieder<br />
sich in einzelnen Orten über <strong>die</strong> Lösung <strong>die</strong>ses<br />
Problems nicht klar sind und durchaus ungangbare<br />
Wege vorschlagen, indem sie sich gegen arbeitende<br />
Frauen, Ausländer usw. wenden.<br />
Genosse Henning, Eisenach, schließt sich den<br />
Ausführungen Z.‘s an, vermißt jedoch <strong>die</strong> Konse-<br />
35
36 Harpune & Torpedo •<br />
Präsenzliste:<br />
Vertretene Wirtschaftsbezirke,<br />
Ortsgruppen und Delegierte:<br />
Groß-Berlin: (7) AR T H U R GO L D-<br />
S T E I N; WA L T H E R KÄ M P F (?); BE R N-<br />
H A R D RE I C H E N B A C H; DR. KA R L<br />
SC H R Ö D E R (alias Karl Zech); Dr.<br />
AL E X A N D E R SC H W A B; W.<br />
Brandenburg: (1)<br />
Braunschweig: (1) MÖ H R L I N G<br />
Chemnitz: (1)<br />
Hamburg: (3) DO V I D A T; JA K O B I;<br />
KA R L RO C H E<br />
Hannover: (1)<br />
Hessen: (1) SA N S (Frankfurt/M)<br />
Magdeburg: (1) [Genossin]<br />
Mansfeld: (1)<br />
Mitteldeutschland 2: (6) AR N D T;<br />
KR O H N<br />
Niederlausitz: (3) Mond<br />
Oldenburg: (1)<br />
Ostsachsen: (3) Adrian; Seifert;<br />
Menzel<br />
Ostpreußen: (1)<br />
Pommern: (2)<br />
Quedlinburg: (1)<br />
Schöningen: (1)<br />
Thüringen: (2) HE N N I N G (Eisenach)<br />
Westdeutschland: (7) Behrendt;<br />
KA R L BR E N N E R; JA G E R;<br />
KL Ö E R [?]; RÖ G E R; SC H U L Z;<br />
WE B I G<br />
Westsachsen: (5)<br />
Württemberg: (1) MA U C H<br />
Gäste: HE D R I C H<br />
(Niederlausitz?); TH Y S S E N<br />
quenz, <strong>die</strong> sich aus dem gezeichneten Bild ergibt.<br />
Seiner Ansicht nach liegt im Orient und China der<br />
Brennpunkt der Weltrevolution.<br />
Genosse Sans, Frankfurt a. M., fordert von der<br />
Union erhöhte Aufmerksamkeit bei kommenden<br />
Eisenbahnerstreiks.<br />
Roche, Hamburg, weist darauf hin, daß sich <strong>die</strong><br />
Revolution im Orient und Ostasien in anderen Bahnen<br />
und <strong>mit</strong> anderen Tendenzen fortentwickelt als<br />
in Europa. (nationalreligiöser Einschlag.) Er wendet<br />
sich gegen <strong>die</strong> politische Auffassung, <strong>die</strong> vom<br />
Braunschweiger Organ vertreten wird und betont,<br />
daß <strong>die</strong> Union weder eine I.W.W. [28] noch eine<br />
W.I.I.U. [29] werden darf. Spricht dann von den neuen<br />
Methoden der Unternehmer, <strong>die</strong> Arbeiter am<br />
Aktienkapital zu interessieren und weist <strong>die</strong> weitere<br />
Konzentration des Kapitalismus nach. Er warnt<br />
davor, <strong>die</strong> Arbeiterschaft zu zersplittern dadurch,<br />
daß man Arbeitslose und Arbeitende gegeneinander<br />
ins Feld führt.<br />
Arndt, Mitteldeutschland 2, schildert <strong>die</strong> neue<br />
Front der Konterrevolution gegen Sowjet-Rußland,<br />
<strong>die</strong> im Entstehen begriffen ist, zeichnet in großen<br />
Zügen <strong>die</strong> ökonomischen Ursachen und Folgen des<br />
Krieges und betont, daß <strong>die</strong> Bourgeoisie nur noch<br />
existenzfähig sein kann, wenn zehn bis fünfzehn<br />
Millionen Proletarier zugrunde gehen. Aus <strong>die</strong>sem<br />
Grunde heraus erklärt sich auch <strong>die</strong> Bestrebung,<br />
<strong>die</strong> Erwerbslosenunterstützung abzuschaffen. Er<br />
wendet sich gegen einen dezentralistischen Aufbau<br />
der Union und betont, daß der Staat <strong>mit</strong> Orgesch [30] ,<br />
Betriebspolizei, neuen Schlichtungsverordnungen,<br />
durchaus zentralistisch gegen streikende Proletarier<br />
vorgeht. Als Beispiel sieht er den letzten Elektrizitätsarbeiterstreik<br />
an. Er kritisiert aufs schärfste den<br />
Einigungsparteitag der KPD. [31] , <strong>die</strong> oberflächliche<br />
Behandlung des Erwerbslosenproblems auf <strong>die</strong>sem<br />
und stellt fest, daß <strong>die</strong> Parole »Kontrolle der Produktion«<br />
darauf hinauslaufen muß, <strong>die</strong> alten mehrheitssozialistischen<br />
Parolen den Arbeitern in neuer<br />
Aufmachung zu servieren, <strong>die</strong> Arbeiterschaft für<br />
eine erhöhte Produktion zu interessieren. Kommt<br />
zum Schluß und fordert zentralistischen Aufbau<br />
der Union, der allein nur für einen einheitliche Leitung<br />
und Durchführung kommender notwendiger<br />
Aktionen in Frage kommen kann.<br />
Folgende Resolution zur Erwerbslosenfrage wurde<br />
von der Konferenz einstimmig angenommen:<br />
Die AAU. ist der grundsätzlichen Auffassung, daß<br />
das Arbeitslosenproblem innerhalb des kapitalistischen<br />
Wirtschaft nicht gelöst werden kann. Die Reichskonferenz<br />
der AAU. hält es für <strong>die</strong> Pflicht einer revolutionären<br />
Organisation, den Arbeitslosen <strong>die</strong>sen Sachverhalt<br />
klar zum Bewußtsein zu bringen. Insbesondere protestiert<br />
<strong>die</strong> AAU. gegen jede opportunistische Politik in<br />
der Behandlung der Arbeitslosenfrage. Sie lehnt es ab, in<br />
den Reihen der Arbeitslosen <strong>die</strong> Illusion zu wecken bzw.<br />
zu stärken, daß ihnen durch sogenannte konkrete Forderungen<br />
geholfen werden könnte. Die AAU. ist der Auffassung,<br />
daß den Arbeitslosen nur durch ihre eigene<br />
Kraft in Verbindung <strong>mit</strong> den arbeitenden Genossen<br />
geholfen werden kann. Die einzige Hilfe besteht in der<br />
Errichtung der proletarischen Diktatur.<br />
Im zweiten Punkt der Tagesordnung: Programm<br />
und Stellung zur Partei beschäftigt sich W., Berlin<br />
<strong>mit</strong> den Gegensätzen zwischen der Prinzipienerklärung<br />
Braunschweigs, den Berliner Leitsätzen<br />
und den Essener Leitsätzen. Er hält das Berliner<br />
Programm für das richtige.<br />
Historisches - Geschichte<br />
Genosse Brenner – Westdeutschland geht aus<br />
von dem wirtschaftlichen Zerfall, bei Fortbestehen<br />
der kapitalistischen Wirtschaftsweise kann <strong>die</strong> Lage<br />
des Gesamtproletariats nicht geändert werden. Das<br />
Proletariat ist zersplittert. Politische sind niemals<br />
in der Lage, eine einheitliche Front des Proletariats<br />
herzustellen. Sie haben in entscheidenden Situationen<br />
stets versagt. Allerdings ist der Besitz der politischen<br />
Macht <strong>die</strong> Voraussetzung für <strong>die</strong> Gestaltung<br />
der kommunistischen Wirtschaft. Die Vorbedingung<br />
für den Sieg des Proletariats ist, den Kampf<br />
des Proletariats zu einem bewußten zu gestalten.<br />
Wir werden aber Niederlagen zu verzeichnen haben,<br />
wenn wir nicht aus dem Vergangenen lernen.<br />
Daher muß auch im Programm klar und scharf gesagt<br />
werden, was <strong>die</strong> Union will. Der Begriff »Diktatur<br />
des Proletariats« genügt nicht. Wir müssen<br />
schärfer formulieren, was wir unter »Diktatur des<br />
Proletariats« verstanden haben wollen. Das wird<br />
klar in den von Westdeutschland vorgeschlagenen<br />
Richtlinien gesagt. Wir dürfen nicht einer einzelnen<br />
Partei besondere Konzessionen machen, denn dann<br />
könnten <strong>die</strong> anderen Parteien dasselbe verlangen.<br />
Genosse Roche, Hamburg, stellt fest, daß Hamburg<br />
<strong>mit</strong> allen anderen konform geht in der Verurteilung<br />
der Braunschweiger Prinzipienerklärung.<br />
Hamburg ist sich <strong>mit</strong> Berlin prinzipiell einig darin,<br />
für Sowjet-Rußland nicht nur durch Propaganda,<br />
sondern auch durch <strong>die</strong> Tat einzutreten. Dannen-<br />
Berg (Braunschweig) gehört der W.I.I.U., Amerika,<br />
an. Derselben Organisation, <strong>die</strong> während des Krieges<br />
dem Sozialchauvinismus huldigte.<br />
Das Vorgehen in Braunschweig ist nichts anderes<br />
als Bildung rechtssozialistischer Zellen in der Union.<br />
Er schildert in kurzen Umrissen <strong>die</strong> Existenz<br />
der Parteien als Kapitalinteressenten-Gruppen.<br />
Proletarier aber haben keinen Besitz, daher keine<br />
besonderen Interessen und daher auch keine Interessengruppen<br />
notwendig. Das Wesen einer Partei<br />
bedingt es, daß sie innerhalb der Klasse zur Diktatur<br />
streben muß. Diktatur und Partei sind eng <strong>mit</strong>einander<br />
verbunden. Führer müssen überwunden<br />
werden. Wie können und sollen sie überwunden<br />
werden? Nur dadurch, daß <strong>die</strong> B.O. [32] lediglich<br />
Lohnarbeiter aufnimmt, wie es <strong>die</strong> IWW. bereits<br />
tut. Partei<strong>mit</strong>glieder sind meist Intellektuelle. Zentralismus,<br />
ganz gleich in welcher Form, ist stets <strong>mit</strong><br />
Führerpolitik identisch, während im Föderalismus<br />
der Wille der Masse zum Ausdruck kommt. Die<br />
Syndikalisten lehnen den politischen Kampf nicht<br />
ab.<br />
Gen[osse] RÖger, Westdeutschland, nimmt Stellung<br />
gegen <strong>die</strong> Partei, da <strong>die</strong> BO. eine einheitliche<br />
Organisation darstellt. Wenn <strong>die</strong> KAP. groß ist, da<br />
wird sie ebenso wie andere Parteien werden. Daß<br />
sie <strong>die</strong>sen Weg schon geht, beweisen Köthen und<br />
Velbert [33] . Sie zeigen, daß auch in der KAPD. von<br />
»oben« herunter bestimmt wird. Die Braunschweiger<br />
Prinzipienerklärung ist indiskutabel. Die Berliner<br />
Leitsätze sind abzulehnen, da sie in der Frage<br />
Partei, Syndikalismus und auch Diktatur des Proletariats<br />
nicht klar und scharf genug sind. Er empfiehlt<br />
<strong>die</strong> Annahme der Essener Leitsätze.<br />
Genosse G., Berlin [Arthur Goldstein]. Auf<br />
Grund der Struktur der kapitalistischen Weltwirtschaft<br />
ist eine Trennung ökonomischer und politischer<br />
Faktoren unmöglich. Die Partei nach Art der<br />
KAPD. ist noch eine Notwendigkeit. Sie kann nicht<br />
<strong>mit</strong> den anderen politischen Organisationen bis
arrikade sieben - April 2012<br />
zum Spartakusbund zusammengeworfen werden.<br />
Er skizziert <strong>die</strong> Arbeit der KAP., besonders während<br />
des Kapp-Putsches und weist zurück, daß <strong>die</strong><br />
Vorgänge in Köthen und Velbert auf das Schuldkonto<br />
des Hauptausschusses zu setzen sind.<br />
Genosse ThYssen als Gast schildert auf Grund<br />
praktischer Erfahrungen das Verhältnis von Partei<br />
und Union und zeigt an Beispielen, daß da, wo<br />
im Reiche keine KAP. zur Verteidigung der Union<br />
stand, <strong>die</strong> Union zusehends versumpfte. Das Diskutieren<br />
über Zentralismus und Föderalismus ist<br />
öde Wortklauberei. Er empfiehlt den Delegierten,<br />
durch <strong>die</strong> Tat Überbleibsel falscher zentralistischer<br />
Gestaltung, insbesondere Personenkult, auszumerzen.<br />
Seifert, Ostsachsen, erläutert <strong>die</strong> Verhältnisse<br />
seines Bezirks. Er verwahrt sich gegen <strong>die</strong> Festsetzung<br />
eines einheitlichen Programms, da in jedem<br />
Wirtschaftsbezirk <strong>die</strong> Verhältnisse anders sind. In<br />
Ostsachsen ist das Proletariat am weitesten vorgeschritten.<br />
Das ist zu ersehen an seiner Negation der<br />
politischen Parteien überhaupt und auch daran,<br />
daß <strong>die</strong> Genossen in Ostsachsen Volksversammlungen<br />
als bürgerliche Propaganda<strong>mit</strong>tel überwunden<br />
haben.<br />
MÖhrling, Braunschweig, verwahrt sich dagegen,<br />
daß DannenBerg <strong>mit</strong> Braunschweig identifiziert<br />
wird. Die Braunschweiger Genossen legen<br />
auf <strong>die</strong> Annahme der Prinzipienerklärung keinen<br />
großen Wert. Sie werden sich den Beschlüssen der<br />
Konferenz unterwerfen, aber nicht abgehen von<br />
dem Aufbau nach Industrien.<br />
Arndt, Mitteldeutschland 2, spricht über <strong>die</strong><br />
Frage »Bezirks- oder Industrie-Unionismus« und<br />
empfiehlt, bei der bezirksweisen Zusammenfassung<br />
zu bleiben, da sie <strong>die</strong> einzig richtige und notwendige<br />
sei zur Schulung und Organisierung des<br />
Kampfes. Die Zellenbildung, wie sie <strong>die</strong> Genossen<br />
aus Ostsachsen propagieren, bedeutet Sprengung<br />
der Union. Jede Zelle stellt eine besondere Interessengemeinschaft<br />
dar, <strong>die</strong> auf einen engen Kreis<br />
beschränkt bleibt. Diese Interessengemeinschaft<br />
wird andere Gemeinschaften nach sich ziehen, so<br />
daß auf <strong>die</strong>sem Wege ein Spaltpilz hineingetragen<br />
ist. Die Konsequenz des Vorgehens der Genossen<br />
in Ostsachsen, <strong>die</strong> heute schon zur Ablehnung der<br />
Volksversammlungen gelangt sind, wird <strong>die</strong> sein,<br />
daß <strong>die</strong>se Genossen in nächster Zeit jegliche Organisation<br />
überhaupt ablehnen. KAP. und Union<br />
müssen in enger Kampfgemeinschaft zueinander<br />
stehen.<br />
Die Einheitsorganisation, wie sie von einem großen<br />
Teil der Genossen [in Ostsachsen] propagiert<br />
wird, wird und kann nur im Stadium der Diktatur<br />
des Proletariats zur Tatsache werden. Wir wollen<br />
keine Herrschaft der Partei über uns, wir gehen <strong>mit</strong><br />
der KAP. konform, soweit sie revolutionär bleibt.<br />
Entfernt sie sich vom konsequenten Kommunismus,<br />
dann entfernen auch wir uns von ihr und<br />
werden sie bekämpfen. Die BO. befolgte bisher<br />
<strong>die</strong> Parolen der KAPD., weil <strong>die</strong> KAP. <strong>die</strong> einzige<br />
revol[utionäre] Partei ist. Sie wird dasselbe auch in<br />
Zukunft tun, wenn <strong>die</strong> KAP. auf demselben Boden<br />
weiterschreitet.<br />
Adrian, Ostsachsen, lehnt Parteien überhaupt<br />
ab, da Parteien in der Vergangenheit stets versagt<br />
haben und auch in der Zukunft versagen müssen.<br />
Parteien sind überflüssig, auch <strong>die</strong> KAP., da es ja<br />
Aufgabe der Union ist, das Proletariat als Klasse zusammen<br />
zu fassen. Auch er kommt zur Ablehnung<br />
eines einheitlichen Programms, da jeder Bezirk auf<br />
Grund ökonomischer und sonstiger Besonderheiten<br />
besondere Interessen, besondere Entwicklungsgrade<br />
im Proletariat u[nd] a[nderes] m[ehr] aufzuweisen<br />
hat. Die KAP. als Mutter der AAU. ist eine<br />
alte Person und muß sterben.<br />
Mond, Niederlausitz, wendet sich gegen Ostsachsen<br />
und erklärt, daß man auch in der Niederlausitz<br />
versucht, von Ostsachsen [aus] einzudringen,<br />
jedoch ohne Erfolg.<br />
Genosse Hedrich als Gast tritt Mond entgegen<br />
und glaubt feststellen zu können, daß auch <strong>die</strong> Proletarier<br />
in der Niederlausitz in der großen Mehrzahl<br />
gegen politische Parteien sind. Wenn man <strong>die</strong><br />
Massen in den Betrieben fragt, antworten sie, geht<br />
los <strong>mit</strong> allen politischen Parteien.<br />
K. Berlin [Walther KÄmPf?], schält noch einmal<br />
<strong>die</strong> Gegensätze der Auffassungen heraus, stellt fest,<br />
daß Westdeutschland und Ostsachsen nicht einig<br />
gehen, spricht für Anerkennung der Partei und<br />
empfiehlt <strong>die</strong> Annahme der Berliner Leitsätze.<br />
Im gleichen Sinne äußert sich Gen[osse] Sans,<br />
Frankfurt a[m] M[ain].<br />
DoVidat, Hamburg, erklärt, daß <strong>die</strong> Hamburger<br />
nicht gegen <strong>die</strong> Partei sind, sondern sich nur gegen<br />
<strong>die</strong> Parteien wenden, wo sie sich den proletarischen<br />
Klassenkämpfen entgegenstellen. Er wünscht im<br />
Namen seiner Genossen eine Änderung des Programms<br />
in der Frage der Stellung zu den Syndikalisten<br />
und zur Partei. In Hamburg geht der Aufbau<br />
der Union nach Industriegruppen vor sich.<br />
Gen[osse] MenZel, Ostsachsen, glaubt den Grund<br />
der Meinungsverschiedenheiten in der Fragestellung<br />
»Zentralismus oder Föderalismus« gefunden<br />
zu haben. Berlin vertritt den straffen Zentralismus,<br />
Ostsachsen, Hamburg und Westdeutschland den<br />
Föderalismus.<br />
JakoBi, Hamburg, plä<strong>die</strong>rt gegen <strong>die</strong> Partei, da<br />
<strong>die</strong> KAP. nicht <strong>die</strong> Partei ist, <strong>die</strong> den Rätegedanken<br />
propagieren kann, allein schon auf Grund ihres<br />
Programms. Wenn wir uns unter <strong>die</strong> Fittiche einer<br />
Partei stellen sollten, müssen wir uns jener Partei<br />
unterstellen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Mehrheit am Orte hat.<br />
Ein Antrag auf Schluß der Debatte wurde angenommen<br />
und ebenfalls ein Antrag auf Wahl einer<br />
Programm-Kommission. Sie setzt sich aus je drei<br />
Genossen der zwei verschiedenen Auffassungen<br />
zusammen.<br />
Der dritte Punkt der Tagesordnung, Stellung<br />
zur 3. Internationale, wurde auf einstimmigen Beschluß<br />
hinausgeschoben, bis einheitliche Leitsätze<br />
von der R.K. [34] angenommen wären.<br />
Zum Punkt 4 »Gesetzliche oder revol[utionäre]<br />
Räte« hielt R. Berlin [Bernhard ReichenBach]<br />
das Referat. Er kam zur strikten Ablehnung der<br />
ges[etzlichen] Räte und empfahl <strong>die</strong> Fortbildung<br />
revolut[ionärer] Aktionsausschüsse oder<br />
pol[itischer] Arbeiterräte.<br />
In der Ablehnung der ges[etzlichen] Räte ist sich<br />
<strong>die</strong> Konferenz bis auf <strong>die</strong> Vertreter Westsachsens<br />
einig.<br />
5. Punkt der Tagesordnung „Internationale Verbindungen“.<br />
Roche-Hamburg teilt <strong>mit</strong>, daß <strong>die</strong> Hamburger<br />
37<br />
[1] BO C K 1969, S. 80ff.<br />
[2] AI G T E 1930, S. 162<br />
[3] BO C K 1969, S. 125<br />
[4] Wenigstens ein<br />
Vertreter der FVdG,<br />
ER N S T RI E G E R (Berlin-<br />
Hohenschönhausen),<br />
war auf dem<br />
Gründungsparteitag<br />
anwesend und vertrat<br />
deren Positionen (s. WE B E R<br />
1993, S. 122f., S. 150f.,<br />
S. 159 [Antrag RI E G E R<br />
zur Tarifvertragspolitik]),<br />
S. 338f. [Biograhische<br />
Hinweise]<br />
[5] WE B E R 1993, S. 162 ff.<br />
[6] BO C K 1969, S. 87ff.<br />
[7] Was wollen <strong>die</strong><br />
Syndikalisten? Der<br />
Syndikalismus lebt!; in:<br />
Der Syndikalist, Jg. 1,<br />
Nr. 1, 14. 12. 1918, S. 1;<br />
der Text ist in BO C K 1969,<br />
S. 351 – 353, abgedruckt,<br />
das Zitat S. 352 – warum<br />
BO C K (1969, S. 104)<br />
daraus eine Empfehlung<br />
zum Parteibeitritt liest,<br />
ist nicht ersichtlich. Daß<br />
es de facto so von vielen<br />
interpretiert wurde, steht<br />
auf einem anderen Blatt.<br />
[8] RO C K E R 1919<br />
[9] nachgedruckt in BO C K<br />
1969, S. 359 f.<br />
[10] Die kommunistische<br />
Partei und der<br />
Syndikalismus; in: Der<br />
Syndikalist (Berlin), Jg.<br />
I, Nr. 30, 5. 7. 1919; s.a.<br />
BR A N D T 1919<br />
[11] S. KPD 2. PA R T E I T A G<br />
1919; s. a. BO C K 1969, S.<br />
139 ff.; BO C K 1977<br />
[12]S. KPD 3. PA R T E I T A G<br />
1920<br />
[13] Auf ihrem Höhepunkt<br />
hatte <strong>die</strong> AAUD 1920/21<br />
keine 200.000 Mitglieder(s.<br />
BO C K 1969, S. 195 f.),<br />
übte aber, ähnlich wie <strong>die</strong><br />
Syndikalisten, in ihren<br />
Hochburgen zeitweilig<br />
einen bestimmenden<br />
Einfl uß aus.<br />
[14] BÖ T C H E R (1922,<br />
S. 71) nennt irrtümlich<br />
den April 1920 als<br />
Gründungsdatum.<br />
[15] RO C H E, langjähriger<br />
Aktivist und Funktionär in<br />
der sozialdemokratisch<br />
beeinfl ußten<br />
Gewerkschaftsbewegung<br />
im Kaiserreich (zuletzt<br />
in Hamburg), war 1909<br />
zur Freien Vereinigung<br />
übergetreten und schon<br />
vor dem Ausbruch des<br />
1. Weltkriegs einer ihrer<br />
rührigsten Aktivisten. Er<br />
verfaßte unter anderem<br />
das erste Programm der<br />
FVdG nach dem Krieg<br />
(erstmals nachgedruckt in<br />
RO C H E 2009).
38<br />
Noch vor Gründung der<br />
FAUD im Dezember<br />
1919 ging er <strong>mit</strong> der<br />
Mehrheit der Hamburger<br />
Syndikalistischen<br />
Föderation zur Arbeiter-<br />
Union, und war an<br />
hervorragender Stelle<br />
an der Gründung der<br />
AAUD beteiligt, wo er<br />
einer der führenden<br />
Leute des Gedankens<br />
der Einheitsorganisation<br />
war; außerdem agitierte<br />
er für <strong>die</strong> oppositionelle<br />
Hamburger KPD, später<br />
KAPD. Nach der Spaltung<br />
der AAUD im Oktober<br />
1921 wurde er einer der<br />
führenden Köpfe der<br />
AAUE. Mitte 1924 kehrte<br />
RO C H E zur FAUD zurück<br />
(ausführlich dazu AR C H I V<br />
KA R L RO C H E 2009).<br />
[16] Richtlinien für <strong>die</strong><br />
Arbeiter-Union; in: KAZ<br />
(HH), Jg. II, Nr. 23, 28. 1.<br />
1920, S. 4<br />
[17] BO C K 1969, S. 190<br />
[18] BO C K 1969, S. 190<br />
[19] Richtlinien für <strong>die</strong><br />
Allgemeine Arbeiter-Union;<br />
in: KAZ (HH), Jg. II, Nr.<br />
51, 29. 3. 1920, S. 3<br />
[20] Der<br />
Gründungsparteitag der<br />
KAPD tagte am 4. und<br />
5. April 1920 in Berlin; s.<br />
BO C K 1977<br />
[21] StAB 4,65 – 604,<br />
Dokument 88 (Bericht der<br />
Sipo Berlin Nr. 257 vom<br />
15. 5. 1920)<br />
[22] s. BO C K 1969, S. 225<br />
ff.; BO C K 1977<br />
[23] wir beabsichtigen,<br />
das Protokoll der 4. RK<br />
der AAUD (Juni 1921)<br />
in einer der nächsten<br />
Ausgaben der <strong>barrikade</strong><br />
zu veröffentlichen.<br />
[24] s. BO C K 1969, S. 195<br />
ff., S. 214 ff.<br />
[25] Nach: Der<br />
Kampfruf. Organ der<br />
Allgemeinen Arbeiter-<br />
Union (Revolutionäre<br />
Betriebsorganisation), Jg.<br />
1, Nr. 35 (Berlin) [Dritte<br />
Dezemberwoche 1920],<br />
S. 2-3.<br />
Orthographie und<br />
Zeichensetzung wurden bis<br />
auf wenige Ausnahmen,<br />
<strong>die</strong> in den Anmerkungen<br />
ausgewiesen sind, nicht<br />
verändert. Sämtliche<br />
[eckigen] Klammern sind<br />
vom Bearbeiter, ebenso <strong>die</strong><br />
Anmerkungen. Der besseren<br />
Übersichtlichkeit sind <strong>die</strong><br />
Zeitschriftennamen und<br />
Tagesordnungspunkte fett, <strong>die</strong><br />
Eigennamen in KA P I T Ä L C H E N,<br />
der Text der Dokumente,<br />
Resolutionen etc. kursiv,<br />
deren Überschriften kursivfett<br />
gedruckt.<br />
in enger Verbindung <strong>mit</strong> der I.W.W. stehen. Er<br />
verlas einen Aufruf der I.W.W., der ausklang <strong>mit</strong><br />
dem Wunsch zur Unterstützung der in Amerika<br />
Inhaftierten. Sammellisten sollen benutzt werden.<br />
R[oche] hält <strong>die</strong>sen Weg nicht für zweckmäßig, da<br />
wir bei dem ungünstigen Stand der Valuta nicht<br />
imstande wären, den amerikanischen Genossen<br />
nennenswerte Unterstützung zuteil werden lassen.<br />
Eine Resolution, <strong>die</strong> volle Solidarität ausspricht,<br />
wird angenommen.<br />
Sans-Frankfurt a[m] M[ain] schildert <strong>die</strong> Verhältnisse<br />
im besetzten Gebiet, besonders in Mainz, und<br />
bittet, daß seitens des Arbeitsausschusses <strong>die</strong>sen<br />
Gebieten erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet wird.<br />
Die Abstimmung über das Programm ergibt Annahme<br />
folgender Fassung:<br />
Programm<br />
1. Die AAU. kämpft um <strong>die</strong> Zusammenfassung des<br />
Proletariats als Klasse.<br />
2. Ihr Ziel ist <strong>die</strong> klassenlose Gesellschaft, <strong>die</strong> nächste<br />
Etappe <strong>die</strong> Diktatur des Proletariats, d.h. <strong>die</strong> ausschließliche<br />
Willensbestimmung des Proletariats über alle politischen<br />
und wirtschaftlichen Einrichtungen der Gesellschaft<br />
vermöge der Räteorganisation.<br />
3. Die allmähliche Durchsetzung des Rätegedankens<br />
ist <strong>die</strong> fortschreitende Selbstbewußtseinsentwicklung der<br />
proletarischen Klasse. Die eigentlichen Diktatoren sind<br />
Beauftragte der Räte, <strong>die</strong> deren Beschlüsse auszuführen<br />
haben. Die Räte können jederzeit durch ihre Mandatgeber<br />
abberufen werden. Sogenannte »Führer« können nur<br />
als Berater in Frage kommen.<br />
4. Die AAU lehnt alle reformistischen und opportunistischen<br />
Kampfmethoden ab.<br />
5. Die AAU. wendet sich gegen jede Beteiligung am<br />
Parlamentarismus, denn sie bedeutet Sabotage des Rätegedankens.<br />
6. Ebenso verwirft <strong>die</strong> AAU. jede Beteiligung an gesetzlichen<br />
Betriebsräten als eine gefährliche Arbeitsgemeinschaft<br />
<strong>mit</strong> dem Unternehmertum.<br />
7. Die AAU. wendet sich gegen den Syndikalismus,<br />
soweit er dem Rätegedanken ablehnend gegenübersteht.<br />
8. Insbesondere aber wendet sich <strong>die</strong> AAU. <strong>mit</strong> äußerster<br />
Schärfe gegen <strong>die</strong> Gewerkschaften als das Hauptbollwerk<br />
gegen <strong>die</strong> Fortentwicklung der proletarischen<br />
Revolution in Deutschland, als das Hauptbollwerk gegen<br />
<strong>die</strong> Einigung des Proletariats als Klasse.<br />
9. Die Einheitsorganisation ist das Ziel der AAU. Alle<br />
ihre Bestrebungen werden darauf gerichtet sein, <strong>die</strong>ses<br />
Ziel zu erreichen. Ohne <strong>die</strong> Existenzberechtigung der<br />
politischen Parteien anzuerkennen (denn <strong>die</strong> geschichtliche<br />
Entwicklung drängt zu ihrer Auflösung), führt<br />
<strong>die</strong> AAU. gegen <strong>die</strong> politische Organisation der KAP.,<br />
<strong>die</strong> Ziel und Kampfesweise <strong>mit</strong> der AAU. gemein hat,<br />
keinen Kampf, sondern ist bestrebt, in revolutionärem<br />
Kampf <strong>mit</strong> ihr gemeinsam vorzugehen.<br />
10. Die Aufgabe der AAU. ist <strong>die</strong> Revolution im Betriebe.<br />
Sie läßt sich <strong>die</strong> politische und wirtschaftliche<br />
Schulung der Arbeiter angelegen sein.<br />
11. In der Phase der Ergreifung der politischen Macht<br />
wird <strong>die</strong> BO. selbst ein Glied der proletarischen Diktatur,<br />
ausgeübt im Betriebe durch <strong>die</strong> auf der BO. sich erhebenden<br />
Betriebsräte. Die BO. tritt dafür ein, daß <strong>die</strong><br />
politische Gewalt immer nur von der Exekutive der Räte<br />
ausgeübt wird.<br />
Harpune & Torpedo •<br />
Historisches - Geschichte<br />
3. Punkt »Stellung zur 3. Internationale«. S.-<br />
Berlin [AleXander SchWaB] begründet <strong>die</strong> Berliner<br />
Resolution.<br />
Die Diskussion ergab, abgesehen von Ostsachsen,<br />
einheitliche Auffassung. Es wurde folgende<br />
Resolution <strong>mit</strong> großer Mehrheit angenommen.<br />
Die AAU. erklärt, daß sie auf Grund ihres Programms<br />
und ihrer revolutionären Aktivität zur kommunistischen<br />
Internationale gehört. Sie legt dem Exekutivko<strong>mit</strong>ee ihr<br />
Programm vor und fordert Stellungnahme des Exekutivko<strong>mit</strong>ees<br />
zu <strong>die</strong>ser Erklärung.<br />
Ostsachsen erklärt sich aus Prinzip gegen <strong>die</strong> 3.<br />
Intern[ationale], auch gegen den Anschluß als sympathisierende<br />
Organisation.<br />
Nach Annahme der Resolution gab Seifert, Ostsachsen,<br />
im Namen der Delegierten von Ostsachsen,<br />
Württemberg, Westdeutschland und Braunschweig<br />
folgende Erklärung ab:<br />
Die unterzeichneten Vertreter der verschiedenen<br />
Wirtschaftsbezirke erklären, daß sie nach wie vor auf<br />
dem Standpunkte stehen, daß ein Anschluß an <strong>die</strong> 3. Internationale[,]<br />
und wenn auch nur als sympathisierende<br />
Organisation[,] für sie nicht in Frage kommen kann.<br />
Die Unterzeichneten stehen noch voll und ganz auf<br />
dem Boden der in der Reichswirtschafts[rats]sitzung in<br />
Hamburg angenommenen und im „Kampfruf“ veröffentlichten<br />
Resolution und sagen, daß sie in dem herrschenden<br />
System in Rußland nur den Ausdruck einer<br />
Parteiherrschaft erblicken und <strong>die</strong> dort ausgeübte Diktatur<br />
nicht als Diktatur des Proletariats ansehen, sondern,<br />
daß <strong>die</strong>selbe nur eine Parteidiktatur im wahrsten Sinne<br />
des Wortes darstellt, ganz abgesehen davon, daß durch<br />
<strong>die</strong> Vertreter des russ[ischen] Systems und durch <strong>die</strong> 3.<br />
Internationale erklärt worden ist, daß <strong>die</strong> AAU. in ihrem<br />
jetzigen Aufbau nicht anerkannt wird.<br />
Obwohl nun <strong>die</strong> unterzeichneten Vertreter den Anschluß<br />
an <strong>die</strong> 3. Internationale ablehnen, stehen sie nicht<br />
an, dem russischen Proletariat ihre volle Sympathie und<br />
ihre größte Hochachtung in seinem [35] heroischen Kampfe<br />
auszudrücken. Sie sind der Ansicht, daß der deutsche<br />
Arbeiter und vor allem <strong>die</strong> AAU. dem kämpfenden russischen<br />
Proletariate viel mehr nützen können, wenn sie<br />
alle Kräfte dazu verwenden, <strong>die</strong> Revolution in Deutschland<br />
<strong>mit</strong> allen Mitteln vorwärtszutreiben.<br />
Die Internationale wird nicht dort sein, wo man bestimmt,<br />
sondern sie wird dort sein, wo Proletarier kämpfen.<br />
Unterzeichnet von<br />
Adrian, Seifert, MenZel, Ostsachsen.<br />
Mauch, Württemberg.<br />
Brenner, KlÖer [? [36] ], RÖger, WeBig, SchulZ, Jager,<br />
Behrendt, Westdeutschland.<br />
MÖhrling, Braunschweig.<br />
Zum Punkt »Presse« referierte ein Genosse des<br />
Arbeitsausschusses und begrüßte es, daß einige<br />
Wirtschaftsbezirke zur Schaffung eigener Organe<br />
übergegangen sind. Er kritisierte aber scharf <strong>die</strong><br />
Schreibweise einzelner Organe, insbesondere <strong>die</strong><br />
des »Klassenkampfes« und der Braunschweiger<br />
»AAU.«. Schnelle Berichterstattung ist dringend<br />
notwendig. In der Diskussion war man sich einig<br />
in der Auffassung, daß ein einheitliches Organ für<br />
<strong>die</strong> AAU. nicht empfehlenswert sei.<br />
Zum Punkt »Organisatorisches« wurde zunächst<br />
der Bericht des Arbeitsausschusses entgegengenommen.
arrikade sieben - April 2012<br />
Das Organisationsstatut ist nicht überall eingehalten<br />
worden.<br />
Notwendig ist eine enge Arbeitsgemeinschaft der<br />
BO. im Reiche. In Zukunft muß <strong>die</strong> Arbeit einheitlich<br />
gestaltet werden. Empfohlen wird der Konferenz<br />
<strong>die</strong> Festsetzung eines Mindestbeitrages von 1<br />
M[ark] pro Woche.<br />
Die Debatte spitzt sich zu auf <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong><br />
Beschlüsse der Konferenz bindend sind oder nicht.<br />
Krohn, Mitteldeutschland, sprach sich für bindende<br />
Beschlüsse aus, während <strong>die</strong> Genossen aus<br />
Hamburg, Ostsachsen und Westdeutschland in der<br />
Reichskonferenz lediglich eine orientierende Besprechung<br />
sehen wollen.<br />
Zur Finanzierung des RWR. [37] verlangt Hamburg<br />
zunächst eine Rechnungslegung seitens des<br />
Arbeitsausschusses und wünscht Aufbringung der<br />
Mittel durch Umlageverfahren.<br />
Mit Zweidrittel-Mehrheit wird folgender Beschluß<br />
gefaßt:<br />
Erneuerter Beschluß<br />
Die Beschlüsse der Reichskonferenz sind für <strong>die</strong> Mitglieder<br />
bindend, wenn programmatische und organisatorische<br />
Fragen der Gesamt<strong>mit</strong>gliedschaft so frühzeitig<br />
unterbreitet worden sind, daß eine gründliche Stellungnahme<br />
ihnen möglich war.<br />
Wirtschaftsbezirke, <strong>die</strong> sich derartigen Reichskonferenzbeschlüssen<br />
nicht fügen, stellen sich selbständig<br />
außerhalb der AAU.<br />
Literatur<br />
Aigte 1930: Gerhard Aigte, Über <strong>die</strong> Entwicklung<br />
der revolutionären syndikalistischen Arbeiterbewegung<br />
Frankreichs und Deutschlands in der Krieges- und<br />
Nachkriegszeit. Freie wissenschaftliche Arbeit; in:<br />
Die Internationale. Zeitschrift für revolutionäre<br />
Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen<br />
Neuaufbau. Hrgg. von der Freien Arbeiter-Union<br />
Deutschlands (AS), Jg. IV, H. 2 (Dezember<br />
1930) bis H. 10 (August 1931)<br />
ArchiV Karl Roche 2009: ArchiV Karl Roche,<br />
Wer war Karl Roche? Eine biographische Skizze; in:<br />
Roche 2009<br />
Bock 1969: Hans Manfred Bock, Syndikalismus<br />
und Linkskommunismus von 1918 – 1923. Zur Geschichte<br />
und Soziologie der Freien Arbeiter-Union<br />
Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen<br />
Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen<br />
Arbeiter-Partei Deutschlands (Marburger<br />
Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft 15),<br />
Meisenheim am Glan (Anton Hain)<br />
Bock 1977: Hans Manfred Bock (Hrg.), Bericht<br />
über den Gründungs-Parteitag der Kommunistischen<br />
Arbeiter-Partei Deutschlands am 4. und 5. April 1920<br />
in Berlin; in: Arbeiterbewegung – Theorie und<br />
Geschichte. Jahrbuch, Band 5: Kritik des Leninismus,<br />
Frankfurt/M 1977 (Fischer)<br />
BÖtcher 1922: Hans BÖtcher, Zur revolutionären<br />
Gewerkschaftsbewegung in Amerika, Deutschland und<br />
England. Eine vergleichende Betrachtung, Jena<br />
(Gustav Fischer)<br />
Brandt 1919: F. Brandt, Syndikalismus und Kommunismus.<br />
Ein Vortrag [Juni 1919]. Hrgg. von der<br />
KPD(S), o. O.<br />
Beschlossen wurde ferner, <strong>die</strong> Auslagen des Arbeitsausschusses<br />
durch Umlage zu decken, wogegen<br />
der Arbeitsausschuß den Bezirken monatliche<br />
<strong>Abrechnung</strong> vorlegen soll.<br />
Zur Referentenfrage wurde beschlossen, 60<br />
M[ark] Lohnausfall, 20 M[ark] Spesen und Fahrt<br />
für Arbeitende, 40 M[ark] Spesen und Fahrt für Arbeitslose<br />
festzusetzen.<br />
Die nächste Tagung des RWR. soll in Eisenach<br />
stattfinden.<br />
Die Reichskonferenz schloß <strong>mit</strong> einem Hoch auf<br />
<strong>die</strong> 3. Internationale.<br />
KAZ (HH): Kommunistische Arbeiter-Zeitung<br />
(Hamburg) [Tageszeitung der Hamburger KPD<br />
bzw. der KAPD]<br />
KPD ₂. Parteitag 1919: Bericht über den 2. Parteitag<br />
der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund)<br />
vom 20. bis 24. Oktober 1919, o. O., o. J.<br />
KPD ₃. Parteitag 1920: Bericht über den 3. Parteitag<br />
der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund)<br />
am 25. und 26. Februar 1920, o. O., o. J.<br />
Roche 2009: Karl Roche, Sozialismus und Syndikalismus.<br />
Agitationsschriften aus dem Jahre 1919.<br />
Archiv Karl Roche, Heft 2, Moers (Syndikat A)<br />
Rocker 1919: Rudolf Rocker, Wir und <strong>die</strong> Marxisten;<br />
in: Der Syndikalist (Berlin), Jg. I, Nr. 10, 15. 2.<br />
1919, S. 1 (Nachdruck in <strong>barrikade</strong> Nr. 2/November<br />
2009, S. 12 – 13)<br />
Rocker [1919]: Rudolf Rocker, Prinzipienerklärung<br />
des Syndikalismus. Referat des Genossen Rudolf<br />
Rocker auf dem 12. Syndikalisten-Kongreß, abgehalten<br />
vom 27. bis 30. Dezember 1919 in dem<br />
»Luisenstädtischen Realgymnasium« zu Berlin,<br />
Dresdener Straße; in: F. BarWich/ E. Gerlach/ A.<br />
Lehning/ R. Rocker/ H. Rüdiger, Arbeiterselbstverwaltung,<br />
Räte, Syndikalismus, Berlin/W 1973 (Karin<br />
Kramer)<br />
StAB: Staatsarchiv Bremen<br />
WeBer 1993: Hermann WeBer (Hrg.), Die Gründung<br />
der KPD. Protokoll und Materialien des<br />
Gründungsparteitages der Kommunistischen Partei<br />
Deutschlands 1918/1919. 2. erw. Aufl. Berlin<br />
(Karl Dietz) [1. Aufl. 1969]<br />
Weitere Materialien zur AAUD finden sich in der<br />
<strong>barrikade</strong> Nr. 2/November 2009 und Nr. 6/November 2011<br />
39<br />
[26] Die Tagesordnung ist<br />
aufgrund des vorliegenden<br />
Protokolls rekonstruiert.<br />
[27] lag mir nicht vor.<br />
[28] Industrial Workers of<br />
the World; im Kampfruf<br />
nur I.W.<br />
[29] Workers International<br />
Industrial Union,<br />
eine parteibejahende<br />
Abspaltung der IWW;<br />
im Kampfruf fälschlich<br />
W.I.I.W. Ihr Gegenstück<br />
in Deutschland war<br />
<strong>die</strong> Sozialistische<br />
Industrie-Arbeiter-Union<br />
Deutschlands (SIAUD)<br />
unter KA R L DA N N E N B E R G; s.<br />
Bock 1969, S. 211 – 214<br />
[30] Orgesch:<br />
»Organisation Escherich«,<br />
1920 gegründet von<br />
dem Forstrat und<br />
monarchistischen<br />
bayerischen Politiker<br />
GE O R G ES C H E R I C H<br />
(1870-1941). Die<br />
Orgesch war Anfang<br />
der 20er Jahre eine der<br />
wichtigsten und größten<br />
konterrevolutionären und<br />
antirepublikanischen<br />
paramilitärischen<br />
Organisationen im<br />
Deutschen Reich. Siehe<br />
http://de.wikipedia.org/<br />
wiki/Georg_Escherich.<br />
[31] Gemeint ist <strong>die</strong><br />
Vereinigung von KPD<br />
(Spartakusbund) und<br />
USPD (Linke) zur VKPD;<br />
der Vereinigungsparteitag<br />
fand vom 4. – 7.<br />
Dezember 1920 in Berlin<br />
statt.<br />
[32] Betriebs-Organisation,<br />
<strong>die</strong> Basisorganisation der<br />
AAU<br />
[33] In den Städten<br />
Köthen (bei Dessau)<br />
und Velbert (Ruhrgebiet)<br />
hatten im August<br />
1920 KAPD-Anhänger<br />
geputscht und sehr<br />
kurzlebige Räterepubliken<br />
ausgerufen.<br />
[34] R.K. = Reichs-<br />
Konferenz; im Kampfruf<br />
fälschlich P.K.<br />
[35] im Kampfruf fälschlich:<br />
ihrem<br />
[36] Vorlage schlecht<br />
lesbar<br />
[37] Reichswirtschaftsrat,<br />
oberstes Exekutivorgan<br />
der AAU
40<br />
Harpune & Torpedo •<br />
Historisches - Geschichte<br />
RU D O L F ROCKERs<br />
»Zur Betrachtung der Lage in Deutschland«<br />
Von Hans Jürgen Degen<br />
RU D O L F RO C K E R<br />
(Mainz 1873- New York<br />
1958) - führender<br />
anarchistischer und anarchosyndikalistischer<br />
Theoretiker<br />
der FAUD/AS und<br />
der sozial-revolutionären<br />
Internationalen Arbeiter-<br />
Assoziation (IAA-AIT), der<br />
Mitbegründer er 1922 in<br />
Berlin war.<br />
„Wesentliche Impulse für <strong>die</strong> von den westdeutschen<br />
Anarchisten geführte (Nachkriegs-) Diskussion kamen<br />
von den ins Ausland geflohenen ehemaligen<br />
FAUD-Aktivisten ...“ 1<br />
Es waren eindeutig nur „Impulse“, <strong>die</strong> auch R.<br />
Rocker in seiner 1947 erschienen Schrift „Zur Betrachtung<br />
der Lage in Deutschland“ 2 der deutschen<br />
rest-anarchosyndikalistischen Bewegung geben<br />
konnte: Die Schrift war bewußt nicht konzipiert<br />
als Anleitung zum „richtigen“ Handeln; sie war<br />
lediglich eine präzise Zusammenfassung, eine<br />
Bündelung der vorhandenen theoretischen und<br />
organisatorischen Vorstellungen der deutschen<br />
Anarchosyndikalisten im Nachkriegsdeutschland.<br />
Unmißverständlich stellte A. Leinau in einem Brief<br />
an R. Rocker hierzu fest: „Deine Broschüre bestätigt<br />
unsere Erkenntnisse und trug dazu bei, bei manchen Kameraden<br />
Unklarheiten zu beseitigen.“ 3<br />
Die Idee zur Initialzündung der Rocker-Broschüre<br />
ging vermutlich zurück auf <strong>die</strong> Abschriften<br />
eines <strong>mit</strong> Rocker-Zitaten gespickten (aus dem<br />
Schriftwechsel <strong>mit</strong> H. Rüdiger) Briefes von H. Rüdiger<br />
im Oktober 1946, <strong>die</strong> er an deutsche Freunde<br />
schickte. Dieser Brief kursierte unter interessierten<br />
Anarchosyndikalisten. Rüdigers Intention war,<br />
<strong>die</strong> Rocker-„Ideen“, <strong>die</strong> sich „in den letzten 14 Jahren“<br />
herausgebildet hatten, wiederzugeben. Die<br />
Rocker-Zitate drehten sich um <strong>die</strong> „Grundfragen“<br />
des Anarchosyndikalismus. Zu „Unsere(n) Ideen!“<br />
schrieb Rüdiger:<br />
„Die Welt hat sich verändert, seit wir <strong>die</strong>se Ideen bei<br />
der Gründung der IAA formulierten. Die Ausgangspunkte<br />
haben sich verändert, <strong>die</strong> Menschen sind nicht<br />
mehr <strong>die</strong> gleichen, <strong>die</strong> un<strong>mit</strong>telbaren und ferneren Ziele<br />
von damals stehen nicht mehr in derselben Form vor<br />
uns.“<br />
Dies zu belegen war der Sinn des Rüdiger-Briefes<br />
<strong>mit</strong> den ausführlichen Rocker-Zitaten. 4<br />
Im Dezember 1946 schrieb A. Benner an R. Rocker:<br />
„Durch Auszüge aus deinen Briefen an Rüdiger und<br />
Fritz B. (gemeint ist wohl der Bruder von A. Benner,<br />
Fritz Benner, Verf.) bin ich nämlich in etwa im Bilde!<br />
Wir bitten dich sehr ... eine kleine Broschüre ... in<br />
deutsch über <strong>die</strong> heutige Lage und unsere Stellung als<br />
freiheitliche Sozialisten zu schreiben. Denn es fehlt uns<br />
sehr, konkretes schriftliches Material !“ 5<br />
Ein Brief von A. Leinau an H. Rüdiger belegt,<br />
daß weitere Briefe von „Genossen“ an R. Rocker<br />
1945/46 den Wunsch nach einer klärenden Schrift<br />
von ihm ausdrückten. 6 Die Rocker-Broschüre basierte<br />
eindeutig auf den Vorstellungen vieler deutscher<br />
Anarchosyndikalisten, <strong>die</strong> ihre „Meinungen“<br />
1945-1946 in Briefen an ihre exilierten Freunde im<br />
Ausland – so u.a. an R. Rocker – kundtaten. 7<br />
Das Manuskript für <strong>die</strong> Broschüre stellte Rocker<br />
im Januar 1947 fertig. 8 Die Broschüre wurde dann<br />
in Stockholm <strong>mit</strong> Hilfe der SAC und IAA gedruckt; 9<br />
sie traf Mitte/Ende Juni 1947 – also nach FFS-Gründung<br />
- in Deutschland ein. 10<br />
Rockers „Zur Betrachtung der Lage in Deutschland“<br />
ruht auf vier zentralen Kernpunkten: 1. Organisationsfrage<br />
für <strong>die</strong> Anarchosyndikalisten; 2.<br />
Stellung zu den Parteien, Gewerkschaften u.a. sozialen<br />
und politischen Strömungen; 3. Vorschläge<br />
zur politischen Tätigkeit für <strong>die</strong> Anarchosyndikalisten;<br />
4. grundsätzliche theoretisch-politische Erörterungen.<br />
Nach R. Rockers Vorstellung stellte sich für <strong>die</strong><br />
deutschen Anarchosyndikalisten nach dem Ende<br />
der Nazi-Diktatur <strong>die</strong> Organisationsfrage völlig<br />
neu:<br />
„Von der alten FAUD sind <strong>die</strong> letzten Ansätze verschwunden.<br />
... an eine Wiederbelebung unserer alten<br />
Bewegung in ihrer gewesenen Form unter den heutigen<br />
Umständen (kann) kaum gedacht werden ..., da alle Vorbedingungen<br />
dazu fehlen.“ 11<br />
Schon <strong>die</strong> FAUD, so Rocker, habe ihre eigentliche<br />
gewerkschaftliche Funktion nie richtig erfüllen<br />
können. Die FAUD wäre auch „in ihren besten<br />
Zeiten“ nicht zu „grossen selbständigen Aktionen“ fähig<br />
gewesen. Das eigentliche wertvolle, konstruktive<br />
ihrer Arbeit sei gewesen, „das geistige Erbe des<br />
freiheitlichen Sozialismus zu wahren und zu mehren“.<br />
Ihre „mündliche Erziehungsarbeit“ hätte viel „zur<br />
Verbreitung freiheitlicher Ideen“ beigetragen. 12 Auch<br />
heute gelte es, freiheitliche Ideen nach außen zu<br />
vertreten. Um <strong>die</strong>s aber effektiv zu können, sollten<br />
sich <strong>die</strong> Anarchosyndikalisten in einem „Bund freiheitlicher<br />
Föderalisten“ oder „Bund der Föderalisten“<br />
zusammenschließen. Diese Organisation sollte<br />
nicht nur dazu <strong>die</strong>nen „unsere zerstreuten Kräfte zusammenzufassen,<br />
sondern (auch) um bestimmte Aufgaben<br />
zu erfüllen, <strong>die</strong> ohne einen solchen Zusammenschluss<br />
nicht ausführbar sind“: z.B. Produktion freiheitlicher<br />
Literatur und Herausgabe eines „Organ(s), in dem<br />
wir unsere Ideen, Vorschläge und Anregungen ungestört<br />
zum Ausdruck bringen können ...“ 13<br />
Nachdrücklich plä<strong>die</strong>rte Rocker für <strong>die</strong> Autonomie<br />
der eigenen Organisation bei gleichzeitiger<br />
Zusammenarbeit „<strong>mit</strong> anderen“ Organisationen.<br />
„Zusammenarbeit und einfacher Verschmelzung <strong>mit</strong><br />
politischen Parteien, <strong>die</strong> ganz andere Ziele verfolgen“,<br />
lehnte er dagegen kategorisch ab. Kooperationen<br />
könnte es nur geben ohne „Preisgabe grundsätzlicher<br />
Ideen“. 14<br />
Angesichts der desolaten geistigen Verfassung<br />
des deutschen Volkes nach zwölf Jahren Nazi-<br />
Diktatur stand für Rocker fest, „dass gerade heute in<br />
Deutschland eine selbständige, freiheitliche Bewegung<br />
notwendiger ist, denn je zuvor“. Aber eine solche Bewegung<br />
habe nur „Erfolg“, wenn „wir ... in manchen<br />
Dingen umlernen und unsere Tätigkeit den neuen Verhältnissen<br />
anpassen“ und „neue Methoden der Betätigung“<br />
anwenden. 15<br />
Rocker Stellungnahme zu den Parteien u.a. „politischen“<br />
Strömungen ist äußerst differenziert. Da<br />
sich Anarchosyndikalisten ohnehin nach 1945 nur<br />
in „linken“ Parteien organisierten (wenn überhaupt),<br />
setzte sich Rocker auch in erster Linie <strong>mit</strong><br />
<strong>die</strong>sen auseinander: <strong>mit</strong> der „SEP“ (SED) und SPD.
arrikade sieben - April 2012<br />
„Die SEP“, schrieb er, setze sich „<strong>mit</strong> allem Nachdruck<br />
für eine zentralistische deutsche Regierung“ ein.<br />
Ihre Argumentation dafür hole sie „aus der Rüstkammer<br />
des Nationalismus“. Sie sei „ein grundsätzlicher<br />
Gegner aller föderalistischen Versuche“. Ihre „Tätigkeit<br />
(sei) vom Kreml bestimmt“ <strong>mit</strong> der Zielrichtung, <strong>die</strong><br />
„Hegemonie über Europa“ zu erlangen: <strong>die</strong> „im Kriege<br />
gewonnene Machtstellung“ zur Ausdehnung „ihre(r)<br />
Einflussphäre immer weiter nach Westen“. Schon deshalb<br />
stehe <strong>die</strong>se Partei grundsätzlich dem „Gedanken<br />
einer europäischen Föderation feindlich gegenüber“. 16<br />
Diese Partei zeige, daß das alte Links-Rechts-<br />
Schema „jeden Geltungswert eingebüsst“ habe. Denn<br />
„heute ... (stehe <strong>die</strong>se) `äusserste Linke‘ vollständig auf<br />
dem Boden eines neuen Absolutismus“: eine „durch<br />
und durch reaktionäre Ideologie“:<br />
„Die Kommunistischen Parteien und ihre Verbündeten<br />
in allen Ländern ..., <strong>die</strong> heute <strong>die</strong> `äusserste Linke‘<br />
repräsentieren, erstreben überall <strong>die</strong> Diktatur eines totalen<br />
Staates nach russischem Muster, der durch <strong>die</strong> Entwicklung<br />
eines allmächtigen Staatskapitalismus einen<br />
Grad der Macht erreicht, <strong>die</strong> sogar der fürstliche Absolutismus<br />
nie erringen konnte.“ 17<br />
Selbstredend für Rocker: Einer solchen „äussersten<br />
Linken“ solle kein freiheitlicher Sozialist verbunden<br />
sein.<br />
Auch in der SPD sah Rocker keine zukunftsgestaltende<br />
gesellschaftliche Kraft. Die SPD sei zu<br />
sehr ihrer Vergangenheit als zentralistische Partei<br />
verhaftet. Und nur unter dem „Druck der Umstände“,<br />
mache <strong>die</strong> SPD Konzessionen in Richtung Föderalismus.<br />
In Wirklichkeit aber, so Rockers Einschätzung,<br />
„glauben ihre heutigen Führer, dass der<br />
wirtschaftliche und soziale Aufbau Deutschlands nur<br />
durch eine einheitliche zentrale Regierung erreicht werden<br />
kann“. Deshalb „halte (er) es ... für völlig ausgeschlossen,<br />
dass wir durch unseren Eintritt in solche Körperschaften<br />
deren Bestrebungen wesentlich beeinflussen<br />
können“. Eher bestünde <strong>die</strong> Gefahr, daß das „geistige<br />
Erbe“ des freiheitlichen Sozialismus „allmählich<br />
vollständig verloren“ gehen würde. Es müßten<br />
eben „Zugeständnisse“ gemacht werden, <strong>die</strong> „auf ...<br />
Kosten der inneren Überzeugung“ gingen; es käme zu<br />
einer „Verwaschenheit der Gedanken“. 18<br />
Auch für <strong>die</strong> KPD konnte Rocker selbstverständlich<br />
keine Empfehlung für ein Engagement der Anarchosyndikalisten<br />
abgeben.<br />
Eine andere Stellung als zu den „linken“ Parteien<br />
nahm Rocker gegenüber den Gewerkschaften ein.<br />
Sie war eher positiv. In den Gewerkschaften sah<br />
er eine Bewegung, <strong>die</strong> im „Prinzip der Selbsthilfe“<br />
verankert sei. Im Gegensatz zu der alten von vor<br />
1933 würde <strong>die</strong> heutige Gewerkschaftsbewegung<br />
vor „ganz neuen Aufgaben“ stehen. Hierin lag für<br />
Rocker <strong>die</strong> große Chance der ehemaligen FAUDler:<br />
Wie alle anderen gesellschaftlichen Gruppierungen<br />
müßten auch <strong>die</strong> Gewerkschaften „wieder neu beginnen<br />
... und aus <strong>die</strong>sem Grunde (wären sie) für neue<br />
Ideen leichter empfänglich“. Von Vorteil wäre auch,<br />
daß <strong>die</strong> alte Führungsgarde der Gewerkschaften<br />
entweder nicht mehr lebt oder zu alt sei. Rocker<br />
setzte auf <strong>die</strong> jüngeren Kräfte, <strong>die</strong> „wahrscheinlich ...<br />
aus den bitteren Erfahrungen der letzten Vergangenheit<br />
etwas gelernt haben“ und <strong>mit</strong> „reiner Lohnpolitik“ keine<br />
Politik mehr machen würden. „Umsomehr werden<br />
sich daher <strong>die</strong> neuen Gewerkschaften <strong>mit</strong> der Frage des<br />
Wiederaufbaus beschäftigen müssen, zu der sie als Organisation<br />
der Produzenten von selbst<br />
berufen sind.“ An <strong>die</strong>sem Punkt sah<br />
Rocker den Einstieg der Anarchosyndikalisten:<br />
sie würden von den<br />
„Verhältnissen begünstigt“, um ihre<br />
Ideen in <strong>die</strong> Gewerkschaften einzubringen:<br />
„Gerade der konstruktive Gedanke<br />
über <strong>die</strong> wirtschaftliche Bedeutung<br />
der Gewerkschaften als Organe für<br />
<strong>die</strong> Verwaltung der gesellschaftlichen<br />
Produktion ... kann ... hier <strong>die</strong> besten<br />
Dienste leisten, wenn er zweckmäßig<br />
und den neuen Verhältnissen entsprechend<br />
entwickelt wird.“<br />
Rocker sprach sich in <strong>die</strong>sem<br />
Zusammenhang auch für „Einrichtung<br />
der Arbeiterräte der einzelnen<br />
Industrien und Produktionszweige“<br />
aus. Aber er verbreitete keinen<br />
Zweckoptimismus über <strong>die</strong> Möglichkeiten<br />
und Ergebnisse der Gewerkschaftsarbeit:<br />
„Sogar <strong>die</strong> revolutionärste Gewerkschaftsbewegung<br />
kann sich den wirtschaftlichen<br />
und sozialen Bedingungen ihrer heutigen<br />
Umwelt nicht willkürlich entziehen. Ihre revolutionäre<br />
Bedeutung liegt in ihren Zukunftsbestrebungen, aber in<br />
ihren praktischen Kämpfen ums tägliche Brot oder für<br />
<strong>die</strong> Verteidigung ihrer menschlichen Rechte ist auch sie<br />
gezwungen sich den gegebenen Verhältnissen anzupassen<br />
...“<br />
Und jede „Bewegung wird lediglich durch ihre Ziele<br />
bestimmt, <strong>die</strong> sie sich stellt und durch <strong>die</strong> inneren Entwicklungsmöglichkeiten,<br />
<strong>die</strong> sie in sich trägt, um <strong>die</strong>sen<br />
Zielen näher zu kommen ...“ 19<br />
Es verstand sich also von selbst, daß Rocker den<br />
deutschen Anarchosyndikalisten <strong>die</strong> Arbeit in den<br />
Gewerkschaften nahelegte. Aber den wesentlichen<br />
Aufgabenbereich für den freiheitlichen Sozialismus<br />
sah er – gespeist aus historischen und eigenen Erfahrungen<br />
– besonders in der deutschen Situation<br />
nach 1945 viel weiter gespannt – z.B. in den Genossenschaften.<br />
Im Zusammenhang <strong>mit</strong> der sozialen und wirtschaftlichen<br />
Erneuerung der Gesellschaft waren für<br />
Rocker <strong>die</strong> Genossenschaften von zentraler Bedeutung.<br />
Ihnen sollten <strong>die</strong> freiheitlichen Sozialisten in<br />
„Zukunft viel mehr Aufmerksamkeit schenken, als das<br />
bisher geschehen“ wäre. Rockers Begründung für<br />
<strong>die</strong>se Anregung, sich in <strong>die</strong>ser international agierenden<br />
Bewegung zu engagieren, war deren soziale<br />
Verankerung und Tätigkeit in breiten Bevölkerungskreisen:<br />
sie kümmere sich um den „Schutz<br />
der Verbraucher“ und basiere auf dem „Prinzip der<br />
Selbsthilfe“. Da <strong>die</strong> Genossenschaftsbewegung „aus<br />
den praktischen Bedürfnissen des sozialen Lebens hervorgegangen“<br />
sei, wäre <strong>die</strong>se Bewegung <strong>mit</strong> dem<br />
Anarchosyndikalismus weitgehend kongruent. Im<br />
übrigen hätten sich <strong>die</strong> Genossenschaften „vielseitige<br />
Erfahrungen (und) eine Menge praktischer Kenntnisse<br />
und administrativer Fähigkeiten auf dem Gebiet<br />
der Verbrauchswirtschaft erworben“; <strong>die</strong>se könnten<br />
den Anarchosyndikalisten „beim Wiederaufbau unschätzbare<br />
Dienste leisten“:<br />
„Je mehr geschulte Kräfte uns zur Verfügung stehen,<br />
desto bessere Arbeit werden wir leisten können, desto<br />
leichter werden wir imstande sein, Irrtümer zu ver-<br />
Anmerkungen:<br />
41<br />
FFS: Föderation freiheitlicher<br />
Sozialisten – Nachfolgeorganisation<br />
der FAUD<br />
zwischen 1945 und 1960<br />
1) MA N F R E D BU R A Z E R O-<br />
V I C: Anarchismus und<br />
Anarcho-Syndikalismus<br />
in Westdeutschland<br />
nach 1945. Schriftliche<br />
Hausarbeit zur Erlangung<br />
des Grades eines Magister<br />
Artium. Fakultät für<br />
Geschichtswissenschaft,<br />
Ruhr-Universität Bochum,<br />
Juli 1990, S. 20<br />
2) RU D O L F RO C K E R: Zur<br />
Betrachtung der Lage in<br />
Deutschland. Die Möglichkeiten<br />
einer freiheitlichen<br />
Bewegung. Vorwort<br />
Helmut Rüdiger, New<br />
York, London, Stockholm<br />
1947 (Neuaufl age unter<br />
dem Titel: Die Möglichkeit<br />
einer anarchistischen und<br />
syndikalistischen Bewegung.<br />
Eine Einschätzung<br />
der Lage in Deutschland,<br />
Frankfurt/M. 1978)<br />
3) Brief von A. Leinau<br />
(Darmstadt) an R. Rocker,<br />
14.12.1947 (Nachlaß<br />
Rocker; IISG)<br />
92<br />
4) Offener Brief („Lieber<br />
Genosse!“) von H. RÜ-<br />
D I G E R, Mitte Oktober 1947<br />
(Sammlung Rüdiger; PA<br />
Degen)<br />
5) Brief von A. BE N N E R<br />
(Wuppertal) an R. Rocker,<br />
30.12.1946 (Nachlaß<br />
Rocker; IISG)<br />
6) Vgl. Brief von A. LE I N A U<br />
(Darmstadt) an H. Rüdiger,<br />
18.10.1947 (Nachlaß<br />
Rüdiger; IISG)
42<br />
7) Vgl. A. LE I N A U: Die<br />
Föderation Freiheitlicher<br />
Sozialisten und Rockers<br />
Broschüre, in: Mitteilungen<br />
deutscher Anarchisten.<br />
‚Gruppe Bakunin‘, o.O.<br />
(London), o.D. (ca. Ende<br />
1947), S. 5<br />
8) Vgl. G. BA R T S C H:<br />
Anarchismus in Deutschland<br />
1945-1965, Bd. I,<br />
Hannover 1975, S. 99<br />
- Vgl. Anmerkung, in: R.<br />
Rocker: Zur Betrachtung<br />
der Lage ..., a.a.O., S. 4;<br />
vgl. dazu auch Brief von<br />
G. Doster (Hagalund)<br />
an R. Rocker, 27.3.1947<br />
(Nachlaß Rocker; IISG)<br />
10) Vgl. Brief von G.<br />
DO S T E R (Hagalund) an R.<br />
Rocker, 3.6.1947 (Nachlaß<br />
Rocker; IISG)<br />
11) R. RO C K E R: Zur<br />
Betrachtung der Lage ...,<br />
a.a.O., S. 5<br />
12) Ebd., S. 10<br />
13) Ebd., S. 13<br />
14) Ebd.<br />
15) Ebd., S. 17<br />
16) Ebd., S. 12<br />
17) Ebd., S. 9<br />
18) Ebd., S. 12f<br />
19) Ebd., S. 28f.<br />
20) Ebd., S. 29<br />
21) Ebd., S. 19<br />
22) Ebd., S. 20f<br />
23) Ebd., S. 19<br />
24) Ebd., S. 24<br />
25) Ebd., S. 35<br />
26) Ebd., S. 6f.<br />
27) Siehe G. BA R T S C H: Anarchismus<br />
in Deutschland<br />
..., a.a.O., S. 108-121<br />
28) JO H N OL D A Y alias<br />
AR T H U R WILLIAM OL D A Y<br />
(1905-1977), britisch-deutscher<br />
Künstler. Beteiligung<br />
am Spartakusaufstand. Agitator<br />
der ‚Kommunistischen<br />
Jugend‘. Dann „räteanarchistischer<br />
Agitator“. Nach<br />
1933 Widerstandsarbeit.<br />
Flucht nach Großbritannien.<br />
Dort 1939 Zwangsrekrutierung.<br />
OL D A Y desertiert und<br />
nimmt eine neue Identität<br />
an. Antimilitaristische Agitation.<br />
1946 Initiator der ‚Internationalen<br />
Bakunin-Gruppe‘.<br />
Dann Gründung des<br />
anarcho-kommunistischen<br />
‚Spartakusbundes‘. Ende<br />
der 40er Jahre Rückzug aus<br />
der politischen Arbeit und<br />
Übersiedelung nach Australien.<br />
Ende der 60er Jahre<br />
wieder in London und als<br />
sozialkritischer Cartoonist<br />
für anarchistische und unionistische<br />
Blätter tätig. (PE-<br />
T E R PE T E R S E N: John Olday.<br />
Künstler und Kämpfer für<br />
<strong>die</strong> soziale Revolution. in:<br />
‚Trafi k. Internationales Journal<br />
zur Kultur und Anarchie‘,<br />
Nr. 21, o.O. (Essen) und<br />
o.D., S. 18-21<br />
meiden und dauerhafte Grundlagen für <strong>die</strong> Zukunft zu<br />
schaffen.“<br />
Rocker verurteilte <strong>die</strong> bisherige Geringschätzung<br />
der Genossenschaften wegen deren Anpassung an<br />
<strong>die</strong> „kapitalistische Umwelt“; denn <strong>die</strong>s sei „nicht<br />
stichhaltig“, weil das auch für andere soziale Bewegungen<br />
zuträfe – so auch für den Syndikalismus.<br />
Er sah <strong>die</strong> Genossenschaften nicht nur gegenwartsfixiert:<br />
Sie „erstreben ... <strong>die</strong> Beseitigung jeder<br />
Profitwirtschaft und eine Neugestaltung des gesellschaftlichen<br />
Lebens auf der Grundlage einer gerechten<br />
Verteilung der Arbeitserzeugnisse“. Deshalb sollten<br />
<strong>die</strong> „Genossen“ in den Genossenschaften aktiv werden.<br />
Nicht aber „ihre Kräfte in alten Parteibildungen<br />
nutzlos vergeuden“. 20<br />
Rocker wähnte nach 1945 <strong>die</strong> „ganze soziale Verwaltung“<br />
Deutschlands „fast ausschließlich in den<br />
Händen der Gemeinden“. Deshalb seien ihnen „Aufgaben<br />
gestellt“, wie sonst nur dem zentralistischen<br />
Staat. Und <strong>die</strong>s sei <strong>die</strong> Stunde des „Gemeindesozialismus“.<br />
„Der ganze Wiederaufbau des Landes“, schrieb er,<br />
„ist heute im wesentlichen von den Gemeinden abhängig“.<br />
Diese neue Situation sei für Deutschland und<br />
darüberhinaus für „ganz Europa von der grössten<br />
Bedeutung“. Wenn <strong>die</strong> Menschen <strong>die</strong>s erkennen<br />
würden, könnte eine „Neugestaltung ihres sozialen<br />
Lebens auf gänzlich veränderten Grundlagen“ möglich<br />
werden. 21 Um <strong>die</strong>se „Neugestaltung“ aber voran zu<br />
bringen, war Rocker der Überzeugung, daß sich <strong>die</strong><br />
Anarchosyndikalisten voll an den „administrativen<br />
Arbeiten der Gemeinden“ beteiligen sollten. Denn da<strong>mit</strong><br />
könnten sie <strong>die</strong> Vorstellungen des „freiheitlichen<br />
und föderativen Sozialismus praktisch zur Geltung ...<br />
bringen“. Rocker verkannte jedoch nicht <strong>die</strong> vorhandenen<br />
staatlich-autoritären Strukturen in den<br />
Gemeinden. Trotzdem sah er keine Alternative zur<br />
Gemeindearbeit, weil der „Wiederaufbau des Landes<br />
vollständig von den Gemeinden“ abhängen würde. 22<br />
Gemeindearbeit als Arbeit für den freiheitlichen<br />
Sozialismus:<br />
„Wenn der Sozialismus überhaupt durchführbar ist,<br />
so kann <strong>die</strong>s bloss von unten auf geschehen durch eine<br />
Föderation freier Gemeinden, ... <strong>die</strong> (<strong>die</strong>) Grundlagen für<br />
eine neue soziale Ordnung legen, ... <strong>die</strong> in der Freiheit<br />
des Menschen, in der solidarischen Betätigung gegenseitiger<br />
Hilfe und einer sozialen Gerechtigkeit für alle ihren<br />
Ausdruck finden.“<br />
In einem solchen Gemeindesozialismus meinte<br />
Rocker den Machtmißbrauch von Minderheiten<br />
unterbinden zu können. Auch der „Machtpolitik“<br />
würde durch <strong>die</strong> Überschaubarkeit der Gemeindepolitik<br />
ein Riegel vorgeschoben. Der Gemeindesozialismus<br />
würde <strong>die</strong> „tote Mechanik der zentralen Organisation<br />
durch <strong>die</strong> Assoziation“ überwinden. Durch<br />
<strong>die</strong>se „föderative Verbundenheit der Gemeinden“ würde<br />
sich ein fruchtbarer Prozeß der Gegenseitigkeit<br />
durch Austausch von praktischen Erfahrungen ergeben.<br />
Das wäre eine Freiwilligkeit gegenüber der<br />
„zentralistischen Zusammenschweissung aller sozialen<br />
Lebensäusserungen“.<br />
Rocker setzte der „öde(n) Unifor<strong>mit</strong>ät“, der „künstlich<br />
ausgedachten sozialen Systeme“ „praktisches und<br />
schöpferisches Handeln“ der Individuen entgegen.<br />
In der überschaubaren Gemeinde sah er noch <strong>die</strong>se<br />
Möglichkeiten. 23<br />
Harpune & Torpedo •<br />
Historisches - Geschichte<br />
„Ein Sozialismus föderierter Gemeinden wird nicht<br />
überall <strong>die</strong> gleichen Formen annehmen, sondern in jedem<br />
Gemeinwesen das zu erreichen versuchen, was unter<br />
den obwaltenden Verhältnissen möglich ist und den<br />
Wünschen und Bedürfnissen seiner Bewohner am besten<br />
entspricht.“ 24<br />
Die Föderationen der „von sozialistischem Geist<br />
durchdrungener Gemeinden“ war für Rocker <strong>die</strong> Basis<br />
einer europäischen Föderation. Seine konkrete<br />
Utopie war ein „ ... föderiertes Deutschland ... (als) der<br />
Grundstein für eine Föderation europäischer Völker und<br />
darüber hinaus einer Weltföderation, in deren Rahmen<br />
jeder Menschengruppe ihr Eigenleben gesichert und<br />
durch gleiche Rechte und gleiche Interessen gewährleistet<br />
werden“. 25<br />
Als Voraussetzungen jeglicher praktisch-politischer<br />
Arbeit der freiheitlichen Sozialisten im<br />
Nachkriegsdeutschland sah Rocker das Ablegen<br />
aller „toten Gedankenbilder“ und - jeglichen Dogmatismus<br />
abzuschwören: „Die Wahrheiten von gestern<br />
entwickeln sich stets zu den Lügen von heute, wenn wir<br />
ihnen den absoluten Charakter beilegen.“<br />
Rocker verwarf in seiner Schrift jegliche Art gesellschaftlicher<br />
„Gesamtlösungen“; denn <strong>die</strong>se bedeute<br />
Vereinheitlichung, und <strong>die</strong>s wiederum stehe<br />
konträr zu freiheitlichem Denken und Handeln.<br />
Letztlich sei <strong>die</strong>s reaktionär: „Die Reaktion beginnt<br />
immer dort, wo man das Leben auf eine bestimmte Norm<br />
zu bringen versucht.“ 26<br />
G. Bartsch räumte der Pro- und Kontra-Diskussion<br />
um <strong>die</strong> Rocker-Broschüre einen ungewöhnlich<br />
breiten Raum ein. 27 Er wies ihr da<strong>mit</strong><br />
den Stellenwert als Scheidemarke zwischen den<br />
sich neu orientierenden anarchistischen Kräften<br />
zu: der Kampf um Gewinnung von Anhängern<br />
entweder für den traditionellen Anarchismus oder<br />
für den (revisionistischen) Anarchosyndikalismus.<br />
Doch bei Erscheinen der Rocker-Broschüre (Juni<br />
1947) waren im Nachkriegsdeutschland schon <strong>die</strong><br />
organisatorischen Weichen gestellt: Die Pfingsten<br />
1947 gegründete FFS hatte im wesentlichen alle<br />
noch rekrutierbaren Anarchosyndikalisten erfaßt;<br />
<strong>die</strong> kommunistischen Anarchisten hatten sich sowohl<br />
in Mülheim/Ruhr, in Berlin und an anderen<br />
Orten in kleinen Gruppen zusammengefunden;<br />
<strong>die</strong> ‚Kulturföderation freier Sozialisten und Antimilitaristen‘<br />
wurde im Frühjahr 1947 (vermutlich<br />
einige Wochen vor der FFS) gegründet. So konnte<br />
der Hauptkontrahent Rockers, John OldaY 28, <strong>mit</strong><br />
seiner Gegenposition zur Rocker-Konzeption für<br />
seine ‚Internationale Bakunin-Gruppe‘ kaum neue<br />
Anhänger gewinnen. Letztlich war <strong>die</strong> Schlammschlacht<br />
zwischen den Rocker- und OldaY-Anhängern<br />
nur ein Sturm im anarchistischen Wasserglas.<br />
In ihren Grundaussagen waren <strong>die</strong> Überlegungen<br />
Rockers <strong>die</strong> schriftlich fixierten theoretisch-praktischen<br />
Vorstellungen der deutschen<br />
Nachkriegs-Anarchosyndikalisten: In ihrer kommunalpolitischen<br />
Arbeit, in ihrer Gewerkschaftstätigkeit<br />
wurden sie durch Rocker nur bestätigt; in<br />
ihrer Parteiarbeit - <strong>die</strong> Rocker verwarf - ließen sich<br />
viele nicht beirren, aber einige werden wohl wegen<br />
der Ausführungen Rockers ihre Parteiarbeit aufgegebenen<br />
haben; und <strong>mit</strong> der Bildung der FFS kamen<br />
sie Rockers organisatorischen Vorstellungen<br />
sehr nahe.<br />
Das ehemalige FAUD-Mitglied, <strong>die</strong> Spanienkämpferin<br />
Martha Wüstemann-LeWin (1908-1992)
arrikade sieben - April 2012<br />
charakterisierte <strong>die</strong> Rocker-Broschüre als „ein<br />
großangelegtes Antwortschreiben“ (wohl auf <strong>die</strong> Anregungen<br />
aus Deutschland für Rocker) <strong>mit</strong> einer<br />
„Menge ganz interessante(r) Ausführungen und auch<br />
praktischer Vorschläge“. 29 Karl Dingler schrieb von<br />
einer „ganze(n) Welt“, <strong>die</strong> Rocker <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser Schrift<br />
erschlossen hätte. 30 Der Schriftsteller und Rocker-<br />
Freund Theodor PlieVier (1892-1955) war nach<br />
Aussagen von K. Dingler „voll begeisterter Zustimmung“<br />
über den Inhalt der Broschüre. 31<br />
Für A. Leinau war <strong>die</strong> Rocker-Broschüre das<br />
„Rüstzeug ... (um) endlich einmal das auszusprechen,<br />
was uns bisher nicht möglich war“ – wegen nicht vorhandenem<br />
Papier und Druckmöglichkeiten. „Das<br />
was Du hier sagst“, schrieb A. Leinau, „ist voll und<br />
ganz so, wie wir hier <strong>die</strong> Lage selbst beurteilen und darum<br />
bedeutet Deine Darlegung für uns Genossen speziell,<br />
nichts Neues im Wesentlichen. Ich glaube auch<br />
nicht fehl zu gehen, ... dass Du zu Deinen Schlüssen<br />
<strong>mit</strong> durch <strong>die</strong> Briefe aller Kameraden aus Deutschland<br />
gekommen bist.“ 32 A. Leinau betonte nachdrücklich,<br />
daß viele von Rockers Anregungen schon un<strong>mit</strong>telbar<br />
nach Kriegsende von Anarchosyndikalisten<br />
praktiziert wurden: Arbeit in den Gewerkschaften,<br />
in verschiedenen Organisationen und nicht zuletzt<br />
in den Kommunen. Und <strong>die</strong>se Arbeit sei, so Leinau,<br />
<strong>die</strong> „pri<strong>mit</strong>ivste Aufbauarbeit (<strong>die</strong>) längst wieder verboten“<br />
sei, gewesen. Es wäre schon wieder (1947) so,<br />
daß vom grünen Tisch aus „reguliert“, „organisiert“<br />
werde. Der „Neuaufbau (geschehe) von oben nach unten“.<br />
Alle Eigeninitiative der „Gemeinden ist so<br />
gut wie ausgeschlossen“, da sie „ihre Direktiven von<br />
oben“ bekämen. Dennoch betonte A. Leinau, daß<br />
im „Gemeindesozialismus“ <strong>die</strong> „Wurzel“ der Gesellschaft<br />
liege. 33<br />
Das ‚U.S. Information Center‘ (Berlin) vertrat in<br />
ihrem Presse<strong>die</strong>nst <strong>die</strong> Meinung, daß <strong>die</strong> Broschüre<br />
von R. Rocker – „einer der bedeutendsten Köpfe der<br />
internationalen syndikalistischen Gewerkschaftsbewegung“<br />
– quasi Mobilisierungscharakter habe:<br />
„Seine (Rockers) politischen, antimarxistischen, doch<br />
libertär sozialistischen Ansichten könnten ... das Fundament<br />
sein für eine freiheitliche Bewegung in Deutschland,<br />
weil ROCKERs politische Auffassungen in unverfälschtem<br />
Geist der Freiheit konsequent föderalistisch<br />
sind.“ 34<br />
Die Kritiken aus den Reihen der FFS1er an einzelnen<br />
Vorstellungen der Rocker-Konzeption gingen<br />
fast völlig unter in der Auseinandersetzung <strong>mit</strong> der<br />
Position der ‚Gruppe Bakunin‘ <strong>mit</strong> J. OldaY 35 und<br />
deren Befürworter in England und Deutschland.<br />
In der Londoner anarchistischen Zeitschrift<br />
‚Freedom‘ vom 16. August 1947 erschien von OldaY<br />
<strong>die</strong> heftigste Kritik an der Rocker-Broschüre. 36 Sein<br />
Hauptkritikpunkt war der „reformistische“ Vorschlag<br />
Rockers, in den Gemeinden aktiv zu werden.<br />
In ihm erblickte OldaY den „Versuch, <strong>die</strong> deutschen<br />
Anarchisten in den Dienst der Militärregierung<br />
zu spannen“. Denn unabhängige „Gemeinde- und<br />
Stadträte ... (gäbe) es in Deutschland unter den<br />
Besatzungsmächten nicht“. 37 Ein anderer Kritiker<br />
der kommunalpolitischen Vorstellungen Rockers<br />
sprach <strong>die</strong>sem <strong>die</strong> Originalität seiner Vorschläge<br />
ab: „<strong>die</strong> Rocker-Broschüre ... bietet ... nach meiner Beurteilung<br />
nichts Neues, schon vor zwanzig Jahren hat<br />
Pierre Ramus in viel besserer Form über <strong>die</strong> Autonomie<br />
der Gemeinden ohne Autorität geschrieben“. 38 Der<br />
deutsche Altanarchist Lothar Feldmann (England)<br />
denunzierte <strong>die</strong> „aktive Mitarbeit“ in den Gemeinden<br />
an „verantwortlichen Stellen“ und <strong>die</strong> „Beteiligung<br />
an Gemeindewahlen“ schlicht als „Reaktion“. 39<br />
An anderer Stelle wurde <strong>die</strong> Frage gestellt: „Soweit<br />
seid ihr schon gesunken, dass ihr euch <strong>mit</strong> dem kapitalistisch<br />
foederalistischen Europa zufrieden gebt?“ Und:<br />
„Ich würde an eurer Stelle schon gleich <strong>mit</strong> dem Aufbau<br />
am Kapitalismus helfen, wenn ihr ihn schon nicht untergraben<br />
wollt.“ 40 Ironisch wünschte Willi HuPPertZ<br />
„den Stadt- und Gemeinde-Aspiranten viel Glück und<br />
ebenso den Mitarbeitern in Gewerkschaften und Genossenschaften.<br />
Heil und Sieg auf dem Vulkan auf welchem<br />
sie den Tanz um das goldene Kalb <strong>mit</strong>tanzen wollen.“ 41<br />
Die von Rocker vorgeschlagene Gewerkschaftsarbeit,<br />
so ein Stuttgarter Kritiker, dürfte kaum „von<br />
Erfolg gekrönt“ sein: „Wo <strong>die</strong> Herren vom schwarzen<br />
und roten Tuch sitzen, da fliegen wir doch nur raus.“<br />
Statt Gewerkschaftsarbeit solle man lieber „Gemeinschaftssiedlungen“<br />
gründen. 42 OldaYs Kritik in ‚Freedom‘<br />
an Rockers Vorschlägen zur Gewerkschaftsarbeit<br />
komprimierte er so:<br />
„Auf der einen Seite schreibt er (Rocker) von der eisernen<br />
Maschine der Gewerkschaftsbürokratie, Zentralismus<br />
und dessen tödlicher Wirkung auf den Klassenkampf,<br />
auf einer anderen Seite befürwortet er, <strong>die</strong>sen<br />
beizutreten. Er zeigt auf, daß <strong>die</strong> F.A.U.D. damals trotz<br />
ihrer 150 000 Mitglieder nicht stark genug war, um <strong>die</strong><br />
anderen Millionen von organisierten Arbeitern zur Aktion<br />
zu bewegen, kurz darauf sagt er betreffs einer neuen<br />
Bewegung: Die Anzahl zählt nicht und glaubt, daß <strong>die</strong><br />
Wenigen von heute ihre Ideen <strong>mit</strong> Erfolg in <strong>die</strong> großen<br />
Organisationen tragen und sie beeinflussen können.“ 43<br />
Prononcierte Kritik an Rockers Gewerkschaftsvorstellungen<br />
kam aus „Berlin, Russischer Sektor“:<br />
„Wenn ersterer (Rocker) Mitarbeit in den Gewerkschaften<br />
verlangt, dann ist das abzulehnen. Mitarbeiten<br />
wollen wir nicht, aber Mitglieder wollen wir sein und<br />
auf <strong>die</strong> anderen Kollegen in unserem Sinne einwirken.<br />
Wenn Gen. F. (Feldmann, Verf.) Mitgliedschaft <strong>mit</strong><br />
Mitarbeit gleichsetzt, dann ist er auf dem Holzweg. Mitgliedschaft<br />
in den Gewerkschaften ist noch lange kein<br />
Selbstmord, sondern nach unseren Erfahrungen <strong>die</strong> einzige<br />
Möglichkeit den freiheitl. Sozialismus in <strong>die</strong> Massen<br />
zu tragen.“ 44<br />
Eigentlich, so <strong>die</strong> Schreiber aus dem Russischen<br />
Sektor realistisch, hätten „sich <strong>die</strong> Genossen in ...<br />
(den) Haare(n) wegen einer Sache, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen Aufwand<br />
gar nicht wert ist“. 45<br />
Carl Langer (Hamburg), Leiter der „Kulturföderation<br />
freier Sozialisten und Antimilitaristen“,<br />
verstieg sich in seiner Kritik an Rockers Positionen<br />
zu der Behauptung, „dass ehemalige Mitglieder<br />
der FAUD. sich auf Grund der RoCKer-Broschüre der<br />
KPD. angeschlossen“ hätten. 46 Unter anderem gab er<br />
deshalb an H. Rüdiger den Rat, dem „alten Senior<br />
Rocker ... (einen) Gefallen (zu) erweisen“, da<strong>mit</strong> sein<br />
„Namen sauber“ bleibe: ,,... schweigt über das was <strong>die</strong>se<br />
Broschüre hervorgerufen hat und über <strong>die</strong>jenigen <strong>die</strong><br />
Rocker, der in gutem Glauben gehandelt hat ..., solchen<br />
Quatsch berichtet haben, dass er solche Wege vorschlagen<br />
konnte. Diese Zwittergestalten haben <strong>die</strong> Broschüre<br />
als Deckmantel benutzt und sabotieren nur oder verschimpfieren<br />
unsere ganze Bewegung.“ 47<br />
Heinrich EVertZ (Düsseldorf) von den „Kommunisten-Anarchisten“<br />
stellte <strong>die</strong> Behauptung auf:<br />
„Die in den hiesigen Gebieten versuchte Parteibildung“<br />
von Anarchosyndikalisten „als Resultat der Rockerbroschüre<br />
ist ad acta gelegt worden; zwar nicht dem ei-<br />
43<br />
29) Brief von MA R T H A<br />
(WÜ S T E M A N N-LE W I N) (Paris)<br />
an H. RÜ D I G E R, o.D. (ca.<br />
Ende 1947) (Nachlaß Wüstemann;<br />
PA Degen)<br />
30) Brief von K. DI N G L E R<br />
(Göppingen) an R. Rocker,<br />
29.7.1947 (Nachlaß Rocker;<br />
IISG)<br />
31) Brief von K. DI N G L E R<br />
(Göppingen) an R. Rocker,<br />
10.9.1947 und 16.11.1947<br />
(beide Nachlaß Rocker;<br />
IISG)<br />
32) Brief von A. LE I N A U<br />
(Darmstadt) an R. Rocker,<br />
15.6.1947 (Nachlaß Rocker;<br />
IISG)<br />
33) Ebd.<br />
34) RU D O L F RO C K E R: Zur<br />
Betrachtung der Lage<br />
in Deutschland (New<br />
York, 1947), in: Lektorat.<br />
Aus Zeitungen und<br />
Zeitschriften des U.S.<br />
Information Center, Berlin<br />
(Politik, 10.7.48), S. 1<br />
35) Vgl. über J. Olday<br />
und <strong>die</strong> ‚Gruppe Bakunin‘<br />
P. Peterson: John Olday.<br />
Künstler und Kämpfer für<br />
<strong>die</strong> soziale Revolution ...,<br />
a.a.O.<br />
36) Die Zeitschrift ‚Freedom‘<br />
wurde vom Verf.<br />
nicht eingesehen.<br />
37) G. BA R T S C H: Anarchismus<br />
in Deutschland ...,<br />
a.a.O., S.113<br />
38) E.E. (Stuttgart): (ohne<br />
Titel), in: Mitteilungen<br />
deutscher Anarchisten,<br />
o.O. (London), o.D. (ca.<br />
Anfang 1948), S. (23)<br />
39) LO T H A R FE L D M A N N:<br />
(ohne Titel), in: Mitteilungen<br />
deutscher Anarchisten,<br />
o.O. (London),<br />
o.D. (Ende 1947), S. 4<br />
40) E.E (Stuttgart) ...,<br />
a.a.O.<br />
41) W.H. (WILLI HU P P E R T Z):<br />
(ohne Titel), in: Mitteilungen<br />
deutscher Anarchisten,<br />
o.O. (London),<br />
o.D. (1948), S. (13)<br />
42) E.E. (Stuttgart) ...,<br />
a.a.O.<br />
43) Zit. in: G. BA R T S C H:<br />
Schulen und Praxis des<br />
Anarchismus, Troisdorf<br />
1975, S. 195<br />
44) Aus dem Rundschreiben<br />
unserer Genossen<br />
des Ruhrgebiets, Nr. 13,<br />
o.D., in: G. Bartsch: Anarchismus<br />
in Deutschland ...,<br />
a.a.O., S.111<br />
45) Ebd.
44<br />
46) C. Langer (Hamburg)<br />
in einem offenen Brief<br />
(Liebe Kameraden!),<br />
27.9.1947 (PA Freitag)<br />
47) Brief von C. LA N G E R<br />
(Hamburg) an H. Rüdiger,<br />
31.12.1947 (Nachlaß<br />
Rüdiger; IISG)<br />
48) Zuschrift von H. EV E R T Z<br />
(Düsseldorf) an C. Langer,<br />
o.D., in: (Kulturföderation-)<br />
Rundbrief, Februar 1948,<br />
S. 3<br />
49) H. RÜ D I G E R: (ohne<br />
Titel), in: Mitteilungen<br />
deutscher Anarchisten,<br />
o.O. (London), o.D. (Ende<br />
1947), S. 9<br />
50) A. LE I N A U: (ohne Titel),<br />
in: Mitteilungen deutscher<br />
Anarchisten ..., ebd., S. 7<br />
51) W. BE N N E R: Rockers<br />
Einstellung über <strong>die</strong><br />
freiheitliche Bewegung, in:<br />
Ebd, S. 10<br />
52) Brief von F. BE N N E R<br />
(Stockholm) an R. Rocker,<br />
27.1.1948 (Nachlaß Rocker;<br />
IISG)<br />
53) Brief von F. Benner<br />
(Stockholm)<br />
an R. Rocker, 21.9.1947<br />
(Nachlaß Rocker; IISG)<br />
54) Brief von A. SO U C H Y<br />
(Mexiko) an C. Langer,<br />
Dezember 1947, in: (Kulturföderation-)<br />
Rundbrief,<br />
Januar 1948, S. 4<br />
55) „Sammelbrief“, Anfang<br />
Oktober 1947, S. 28,<br />
(Hagalund, Schweden,<br />
Hrsg: Helmut Rüdiger)<br />
56) ‚Gruppe Bakunin‘:<br />
(ohne Titel), in: Mitteilungen<br />
deutscher Anarchisten,<br />
o.O. (London),<br />
o.D. (Ende 1947), S. (3)<br />
• aus: Anarchismus in<br />
Deutschland 1945-1960<br />
– Die Föderation Freiheitlicher<br />
Sozialisten;<br />
Ulm 2002, Seite 92-105<br />
(überarbeitete und<br />
ergänzte Neuauflage in<br />
Vorbereitung)<br />
genen Antrieb folgend, als vielmehr infolge Nichtgenehmigung<br />
durch <strong>die</strong> Militärbeh(örde)“. 48<br />
H. Rüdiger war wohl der entschiedenste Verteidiger<br />
Rockers gegenüber dessen Kritikern. Er war<br />
ihm „von Herzen dankbar, dass er anstelle einer blossen<br />
Agitationsbroschüre, anstelle von allgemeinen Plattheiten,<br />
wie sie vielleicht OlDaY mehr erfreut hätte, eine<br />
soziologisch tiefschürfende Stu<strong>die</strong>“ vorgelegt hätte, <strong>die</strong><br />
„jede(r) sektiererische(n) Einstellung“ entbehre. 49<br />
A. Leinau räumte in der Diskussion ein, daß<br />
sich seit Erscheinen der Rocker-Broschüre <strong>die</strong><br />
Lage in Deutschland schon etwas geändert habe:<br />
<strong>die</strong> „Zentralisierung Deutschlands schon wieder weit<br />
fortgeschritten ist“. Das ändere aber nichts an der<br />
„grundsätzlich(en)“ Richtigkeit der Aussagen Rockers<br />
zu den Gegenwartsfragen und zu den Arbeitsfeldern<br />
für freiheitliche Sozialisten. 50<br />
Willi Benner begrüßte <strong>die</strong> Rocker-Broschüre,<br />
weil sie <strong>mit</strong> den „rein destruktiven Gedankengängen”<br />
aufräume, <strong>die</strong> noch bei vielen freiheitlichen Sozialisten<br />
vorherrschten. Die Mitwirkung am Wiederaufbau<br />
Deutschlands sei keineswegs „‚Revisionismus‘<br />
(und auch) keine `Realpolitik‘ im schlechten<br />
Sinne“. W. Benner meinte, es mache einfach keinen<br />
Sinn mehr, sich abseits der Gesellschaft zu stellen,<br />
sich gleichgültig gegenüber den „Formen ... (der)<br />
politische(n) Gestaltung seines Landes“ zu verhalten.<br />
Und das gerade auch in einer Zeit, wo <strong>die</strong> „Reaktion“<br />
schon wieder an Macht gewinne. 51<br />
Seinen Bruder FritZ Benner versetzte <strong>die</strong> Kritik<br />
OldaYs an der Rocker-Broschüre so in Rage, daß<br />
er dem „Oldayschwein ... per Rundschreiben einen auf<br />
den Deckel geben“ wollte. Er prophezeite OldaY und<br />
„ Der Anarchismus als gesellschaftspolitische<br />
Perspektive ist bei uns an seinem Ende angekommen.<br />
Viel hat er von seinem libertären Gehalt verloren.<br />
Auch ist er Spielwiese von ‚Gescheiterten‘<br />
geworden. Anarchismus ist fast nur noch ein historisches<br />
Relikt. Er ist nicht mehr Lebensentwurf<br />
und -haltung, nicht mehr selbstständiges konzeptionelles<br />
Denken und Verwirklichen.“<br />
• HA N S JÜ R G E N DE G E N - Die richtige Idee für eine falsche Welt?<br />
Perspektiven der Anarchie (S. 121)<br />
„ Das Internet schürt<br />
Freiheitsillusionen für <strong>die</strong><br />
Vielen: Indem <strong>die</strong> Individuen<br />
das Private öffentlich<br />
machen, entblößen sie sich.<br />
Dass sie es tun, ist schon<br />
Ausdruck ihres Manipuliertsein:<br />
Ausleben des Narzissmus<br />
in der kapitalgesteuerten<br />
narzisstischen Gesellschaft.<br />
Die narzisstische Massenentblößung<br />
als Ersatz für <strong>die</strong><br />
pfäffische Ohrenbeichte?<br />
Die Geständnisse (oft noch<br />
<strong>mit</strong> eigenen „Steckbriefen“)<br />
entbehren nicht religiösen<br />
Gehabes. Alles das hat <strong>mit</strong><br />
Freiheit nichts zu tun.<br />
Im Gegenteil. Wer das<br />
Private zerstört, unterwirft<br />
sich dem Diktat des<br />
Konformismus. Zugespitzt:<br />
‚Im Internet gehe<br />
ich verloren als Mensch’<br />
(Jeff Spalko).“<br />
Harpune & Torpedo •<br />
Historisches - Geschichte<br />
seinen „Brüdern“, daß sie „in eigenem Stank ersticken“<br />
würden. 52 Im übrigen hatte er <strong>die</strong> „Broschüre<br />
... <strong>mit</strong> größtem Interesse und <strong>mit</strong> äußerster Andacht<br />
stu<strong>die</strong>rt“. 53<br />
A. SouchY (Mexiko) nahm eine eigene Position<br />
subtiler Kritik der Rocker-Broschüre ein. An C.<br />
Langer schrieb er:<br />
„Deine Mitteilungen über <strong>die</strong> Wirkung der Broschüre<br />
Rudolf Rockers waren für mich sehr interessant. Ich hatte<br />
mich vor einem Jahr auch <strong>mit</strong> dem Gedanken befaßt, eine<br />
Broschüre über Deutschland, d.h. für unsere Genossen<br />
zu schreiben, ließ es aber bei einigen Artikeln bewenden,<br />
denn ich sagte mir, daß wir draußen, im Ausland, doch<br />
nicht <strong>die</strong> Lage richtig zu beurteilen imstande sind.“ 54<br />
H. Rüdiger resümierte den ganzen Konflikt um<br />
<strong>die</strong> Rocker-Broschüre als den von zwei konträren<br />
ideologischen Positionen:<br />
„Ich sehe hier in Wirklichkeit etwas anderes, eine Entwicklung,<br />
<strong>die</strong> heute durch unsere Bewegung in allen<br />
Ländern geht: <strong>die</strong> Scheidung der konstruktiv von den<br />
rein destruktiv eingestellten Geistern.“ 55<br />
Dagegen resümierte <strong>die</strong> ‚Gruppe Bakunin‘:<br />
„Rocker, Ruediger und Anhang, moegen <strong>die</strong> alten (anarchistischen,<br />
Verf.) Grundsaetze als `allgemeine demagogische<br />
Plattheiten‘ zum Kehricht werfen und sie <strong>mit</strong><br />
neuen `tiefschürfenden‘ Zusaetzen versehen.... Wir haben<br />
nichts in den neuen Richtungsweisungen entdeckt,<br />
was nicht schon ... in den Resolutionen der Bakunin Sektion<br />
der Ersten Internationale und in den Schriften der<br />
klassischen Revolutionaere enthalten war.<br />
Das Neue das uns von den Rockerianem angeboten<br />
wird, erweist sich als nichts anderes als verkappter Opportunismus.“<br />
56 •<br />
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Kein Befehlen – Kein Gehorchen!<br />
Der Sozialismus ist nicht nur eine Messer- und<br />
Untergang der Bewegung –<br />
Gabelfrage, er ist das Problem einer neuen<br />
der Rest rudert in Rettungsbooten bis 1933 weiter<br />
gesellschaftlichen Kultur, <strong>die</strong> auf ganz neuen Grundlage<br />
zu errichten ist, und <strong>die</strong> vor allem in den Geistern und Das – von lokalen Sondersituationen einmal abgesehen<br />
– einsetzende Abwandern der Massen zu<br />
Herzen Wurzeln schlagen muss. – RU D O L F RO C K E R, 1931<br />
Es geht um eine „marginale“ Bewegung? Aber <strong>die</strong> konkurrierenden sozialrevolutionären Organisationen<br />
ab 1920/21 wird von DÖhring ebensowenig<br />
Geschichte der anarchosyndikalistischen Jugendbewegung<br />
ist m.E. ebenso „marginal“ wie <strong>die</strong> der ausreichend erklärt, wie er seine Vermutungen<br />
DKP-Jugend oder <strong>die</strong> der Jungliberalen der FDP. über den Mitgliederschwund (S. 234 ff) der AS-<br />
Im Gegensatz zu den beiden Partei-Jugendorganisationen<br />
waren <strong>die</strong> syndikalistisch-anarchistischen kann. Ursache dafür ist <strong>die</strong> Tatsache, daß hierzu<br />
Bewegung ab 1923 bei jung wie alt untermauern<br />
Jugendlichen der SAJD (ab 1922 reichsweit zusammengeschlossen)<br />
der Weimarer Zeit jedoch viel au-<br />
Statistiken vorliegen.<br />
keine wirklich fun<strong>die</strong>rten Untersuchungen oder<br />
tonomer von der FAUD/AS als es den erwachsenen Meine Auffassung ist, daß es nicht allein organisatorische<br />
Mängel gewesen sind, ich vermute eher<br />
Gewerkschaftsgenoss[inn]en gefallen hat. Sie wollten<br />
eine Gewerkschafts-FAUD-Jugend. Dazu gaben massen- und sozialpsychologische Gründe für das<br />
sich <strong>die</strong> deutschen Jugendlichen ebensowenig her, massenhafte Ausscheiden. Passiver Austritt aufgrund<br />
fehlender Beitragszahlungen in der aufkom-<br />
wie zeitlich etwas später <strong>die</strong> jungen Erwachsenen,<br />
<strong>die</strong> auf der iberischen Halbinsel <strong>die</strong> FIJL – <strong>die</strong> Iberische<br />
Föderation der Libertäre Jugend – 10 Jahre später Rheinlandbesetzung seitens französischer Truppen<br />
menden Wirtschaftskrise (u.a. verursacht durch <strong>die</strong><br />
gründeten. Und zwar als eigenständige libertäre zur Erzwingen der Reparationszahlungen aufgrund<br />
des verlorenen I. Weltkrieges; <strong>die</strong> Weltwirt-<br />
Organisation <strong>mit</strong> eigenen Vorstellungen.<br />
Übrigens machten beide Organisationen – <strong>die</strong> schaftskrise von 1929 deutete sich ebenfalls bereits<br />
FIJL wie auch <strong>die</strong> SAJD – <strong>die</strong> gleichen Geburtswehen<br />
der ideologischen Klärung – libertär oder gewesen sein. Denn bei den anderen Bewegungen<br />
an) kann nicht der einzige oder wesentliche Grund<br />
klassenkämpferisch – durch. Die FIJL entstand erst und Parteien (kommunistisch oder unionistischen<br />
1932 nach der Primo de RiVera-Dikatur; <strong>die</strong> deutsche<br />
Bewegung hatte bereits früher Jugendgruppen werden. Und <strong>mit</strong> der Einstellung der Hauskassie-<br />
Organisationen) mußten ja auch Beiträge gezahlt<br />
und in der Zeit des I. WK entstanden neue, große rung brach sicherlich der Kontakt zu den einfachen<br />
Jugendorganisationen, <strong>die</strong> sich klar und unmißverständlich<br />
antimilitaristisch positionierten (wie Gewerkschaftslokalen, in den Betrieben, in den Er-<br />
Mitgliedern ab, aber wurde nicht weiterhin in den<br />
z.B. <strong>die</strong> Hamburg-Altonaer Freie Jugend), <strong>die</strong> vom werbslosen-Versammlungen kassiert?<br />
Kaiserreich bespitzelt und zerschlagen wurden. Sie Die Passivität muß ihre Ursachen haben. Warum<br />
waren übrigens <strong>die</strong> Keimzelle der späteren linksradikalen<br />
Organisationen.<br />
so desinteressiert und nicht aktionsbereit? Hierzu<br />
aber waren <strong>die</strong> »Massen« nach dem Kapp-Putsch<br />
Auf der iberischen Halbinsel<br />
liefert DÖhring keine ausreichende Erklärung; sie<br />
wäre aber für das Gesamtverständnis des Scheitern<br />
„ist unbestritten, daß es bereits zuvor Jugendgruppen<br />
im Umkreis von CNT-FAI gegeben hatte. Der<br />
der deutschen Revolution so dringend erforderlich.<br />
– Vielleicht lag es ‚einfach’ daran, daß nach der gescheiterten<br />
Novemberrevolution 1918/19 nur für<br />
Gründungskongreß der FIJL fand vom 18. bis zum<br />
22. August 1932 in Madrid statt, wobei vor allem Delegationen<br />
aus Granada, Valencia, Madrid und Bar-<br />
wenige Jahre noch genügend revolutionärer Elan<br />
in größeren Teilen der Arbeiterbewegung steckte,<br />
celona teilnahmen. Mit <strong>die</strong>ser Versammlung beginnt<br />
der aber dann verebbte, als sich das kapitalistischbürgerliche<br />
System wieder gefestigt hatte; <strong>die</strong> Zei-<br />
<strong>die</strong> Geschichte der FIJL, da dort <strong>die</strong> PrinziPienerKlÄrunG<br />
verabschiedet wurde, <strong>die</strong> in den Mitgliedsausweisen<br />
stand und <strong>die</strong> das Verhalten der Organisation<br />
ten für Umstürze und Putschversuche – ob kommunistisch<br />
oder rechtsradikal (Kapp-Putsch 1920,<br />
während des Bürgerkriegs und des Exils leiten sollte.<br />
Mitteldeutscher Aufstand 1921 und Hamburger<br />
Jedoch entwickelte sich nicht alles harmonisch und Aufstand 1923) – endgültig endete und das Blut der<br />
ohne Probleme. Von Anfang an gab es zwei Strömungen,<br />
oder Einschätzungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Organisationsform<br />
Proleten nicht mehr so „hochkochte“.<br />
betrafen: Diejenigen, <strong>die</strong> der Meinung waren, daß <strong>die</strong> Daß <strong>die</strong> FAUD aus einer syndikalistischen Bewegung<br />
inhaltliche durch ihre Hinwendung bzw.<br />
LiBertÄre JuGenD, genauso wie <strong>die</strong> Ateneos [Anm.<br />
des Rezensenten: Libertäre Kultur- und Stadtteilzentren],<br />
Abteilungen für Bildung und Propaganda inmus<br />
durch den Zusatz „AS“ im Jahre 1922 eine Fehl-<br />
ideologische Entwicklung zum Anarchosyndikalisnerhalb<br />
der FeDeraCiÓn AnarQuista IBÉriCa (FAI) entwicklung durchlief – wie DÖhring anmerkt (S.<br />
sein sollten und <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> neue Jugendbewegung<br />
eine komplette Autonomie in Anspruch entwickelte sich aus der rein syndikalistischen Be-<br />
238), vermag ich nicht nachzuvollziehen. Generell<br />
nahmen, um <strong>die</strong> Probleme unabhängig von den anderen<br />
Organisationen bewerten zu können und unter organisationen der IAA angehörten, eine ‚politisch‘<br />
wegung in allen Ländern, in denen Gewerkschafts-<br />
Jugendlichen und Studenten eigenständig tätig werden<br />
zu können.“ 1 dem Ziel eines libertären Kommunismus. Die<br />
viel klarer definierter Anarchosyndikalismus <strong>mit</strong><br />
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(2) HA R T M U T RÜ B N E R<br />
– Rezension in: IWK<br />
4/06: „Anstatt <strong>die</strong><br />
syndikalistische Bewegung<br />
als integralen Bestandteil<br />
der Rätebewegung und<br />
als eine Unterströmung<br />
einer breit gefächerten<br />
unionistischen<br />
Arbeiterbewegung in<br />
der Weimarer Republik<br />
einzuordnen, wird sie<br />
lediglich als isoliertes<br />
Phänomen betrachtet.“<br />
(Seite 539)<br />
(3) AN T O N PA N N E K O E K<br />
– trat 1921 der CPN-<br />
Linksabspaltung,<br />
der Kommunistische<br />
Arbeiterpartei der<br />
Niederlande (KAPN) bei;<br />
In seinem Artikel Der<br />
deutsche Syndikalismus<br />
schreibt er: „Nur wer<br />
wie der Syndikalismus<br />
das Symptom für <strong>die</strong><br />
Ursache hält, kann<br />
glauben, dass durch<br />
einfache Beseitigung<br />
der Zentralisation und<br />
der Führermacht <strong>die</strong><br />
alte Angriffskraft wieder<br />
hergestellt wird. Schlimmer<br />
noch; da<strong>mit</strong> würde<br />
gerade das Gegenteil<br />
erreicht werden.“ Presse<br />
Korrespondenz der<br />
„Bremer Bürgerzeitung“<br />
vom 29.11.1913<br />
(4) Der Syndikalist, 14. Jg.<br />
(1932), Nr. 15<br />
(5) KA R L RO C H E – Die<br />
Menschen fehlen! in: Die<br />
Internationale, Jahrgang 2,<br />
Heft 1, November 1928<br />
(6) Brief RO C K E R an HE L M U T<br />
RÜ D I G E R – 22.7.1933 (IISG)<br />
(7) HA R T M U T RÜ B N E R<br />
– Linksradikalismus<br />
in der aktuellen<br />
Geschichtsschreibung.<br />
Teil 1: Der heimatkundige<br />
Anarchosyndikalismus in:<br />
Gegner Zeitschrift gegen<br />
Politik (Nr. 22/ April 2008,<br />
Seite 33)<br />
sache dafür ist sicherlich der Zusammenbruch der<br />
französischen CGT bzw. ihrer Übernahme und<br />
Unterordnung unter <strong>die</strong> KP Frankreichs (allein <strong>die</strong><br />
italienische USI versteht sich bis heute als revolutionär-syndikalistisch);<br />
auch <strong>die</strong> Gründungen der<br />
Kommunistischen Parteien trugen <strong>mit</strong> zu <strong>die</strong>ser<br />
ideologischen Klärung bei.<br />
Diese These, <strong>die</strong> den rein syndikalistischen Standpunkt<br />
DÖhrings zu verteidigen scheint, vertritt u.a.<br />
der Politikwissenschaftler SchÖttler, der den rapiden<br />
Mitgliederschwund der FAUD/S auf „<strong>die</strong> auch<br />
in der Namensgebung vollzogene Verschmelzung des<br />
Syndikalismus <strong>mit</strong> dem Anarchismus („Anarchosyndikalismus“)“<br />
verantwortlich macht. Wie DÖhring<br />
halte ich <strong>die</strong>se Position für falsch was <strong>die</strong> FAUD/AS<br />
angeht. Der Syndikalismus wurde seitens der SPD<br />
bereits seit Jahrzehnten als „Anarcho-Sozialismus“<br />
abwertend und verächtlich tituliert. Für <strong>die</strong> SAJD<br />
gilt <strong>die</strong>s umsoweniger, als sie „eine größere Toleranz<br />
in der Zusammenarbeit … besonders <strong>mit</strong> der Jugend der<br />
unionistischen Vereinigungen“ der AAU und AAUE<br />
vertrat (S. 248). Diese weniger ‚sektiererische‘ Haltung<br />
übernahm später auch <strong>die</strong> FAUD/AS bei den<br />
entsprechenden regionalen und lokalen Kartellbildungen<br />
der antiautoritären Revolutionäre.<br />
Natürlich hatte <strong>die</strong> idelogisch klarere Ausrichtung<br />
Konsequenzen: Aufgabe der Betriebsrätsmandate,<br />
Rausschmiß von Partei- und Kirchen<strong>mit</strong>gliedern.<br />
Und so kam es, daß „<strong>die</strong> in Massen der<br />
Organisation beitretenden Neu<strong>mit</strong>glieder zu 90 Prozent<br />
nicht integriert werden konnten“. (S. 238). Die FAUD/<br />
AS sank auf knapp 30.000 Mitglieder im Jahre 1923<br />
– <strong>die</strong> SAJD von 4.000 (1925) auf 3-500 Mitglieder<br />
Anfang der Dreißiger Jahre, „wofür sehr unterschiedliche<br />
Faktoren auf ökonomischer, politischer, kultureller<br />
und juristischer Ebene maßgebend und begünstigend<br />
waren.“ (S. 241)<br />
Eine andere These – <strong>die</strong> MaX Nettlau in Band<br />
VI seiner GesCHiCHte Der AnarCHie vertritt – besagt,<br />
daß es allein nur deshalb zur Gründung der<br />
FAUD/S 1919 im Ruhrgebiet kam, weil <strong>die</strong> sich vereinigende<br />
syndikalistische FVdG und verschiedene<br />
kommunistische Arbeiter-Unionen auf <strong>die</strong> Position<br />
der „Diktatur des Proletarias“ verständigen konnten.<br />
Diese Position wurde maßgeblich von Karl Roche<br />
aus Hamburg vertreten – und u.a. von Rudolf<br />
Rocker bekämpft. Vielleicht lag es auch an <strong>die</strong>ser<br />
Auseinandersetzung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bewegung schwächte<br />
und zur Abwanderung der »Massen« zu linkskommunistischen<br />
Gruppen oder eben direkt zur<br />
KPD führten. Nachdenklich sollte DÖhring auch<br />
stimmen – was er ja selbst erforscht hat (siehe u.a.:<br />
DÖhring: Da<strong>mit</strong> in Bayern Frühling werde! 2007), daß<br />
nach dem II. Weltkrieg auch weiterhin führende<br />
FAUD-Genossen in <strong>die</strong> KPD eintraten ...<br />
Da <strong>die</strong> Arbeitermassen 1919 bis 1923 ja nun<br />
nicht der bürgerlichen Schicht angehörten, ist<br />
es zwar unverständlich, aber das Bedürfnis vieler<br />
Arbeiter~innen, endlich in „der Gesellschaft“<br />
des bürgerlichen Systems der Weimarer Republik<br />
(immerhin war ein Kaiser verjagt worden und es<br />
herrschte/regierte eine SPD-Regierung) anzukommen<br />
und als „Bürgerprolet“ ernst genommen und<br />
juristisch anerkannt zu werden (<strong>die</strong> Gewerkschaften<br />
wurden als Organisationen erst durch das<br />
Hilfs<strong>die</strong>nstgesetz von 1916 notgedrungen seitens<br />
des kaiserlich-bürgerlichen Staats anerkannt und<br />
<strong>mit</strong> Vorläufern der Betriebsräte für <strong>die</strong> Verwaltung<br />
Bücher │ Skorpion • Rezensionen<br />
der Arbeitskräfte und der Lebens<strong>mit</strong>telversorgung<br />
offiziell zu Verhandlungspartnern der Kapitalisten<br />
und des Staates) – dürfte ein weiterer wichtiger<br />
Grund gewesen sein. Denn das war mehr als sich<br />
manch’ sozialdemokratischer Arbeiter vorstellen<br />
konnte. Und <strong>die</strong> meisten „Revolutionäre“ kamen<br />
eben aus der reaktionären SPD und viele kehrten<br />
zu ihr zurück.<br />
Wer sich von <strong>die</strong>ser Betrachtungsweise der historischen<br />
Entwicklung zum Sozialismus à la rechte<br />
MSPD lossagte, war längst Sozialrevolutionär, syndikalistisch<br />
oder anarchistisch (ich erinnere nur an<br />
Johann Most) überzeugt – <strong>die</strong> meisten anderen<br />
wurden erst nach dem Stahlgewitter des I. Weltkrieges<br />
„Kommunist“. 2<br />
Wichtig ist bestimmt auch, daß der ‚Verrat‘ bei<br />
den älteren Genossen weniger schwer wirkte als<br />
bei den aus dem Massenmorden des Weltkrieges<br />
heimgekehrten oder zur Rüstungsindustrie abkomman<strong>die</strong>rten<br />
und zwangsverpflichteten jungen<br />
Arbeitern.<br />
Es ist ein Unterschied, ob mensch [hier meist<br />
immer noch eigentlich ‚Mann‘] sich in einer revolutionären,<br />
gärendenden, aus dem Kriegschaos<br />
entstandenen gesellschaftlichen Situation, <strong>die</strong> eine<br />
wirkliche revolutionäre Veränderung möglich erscheinen<br />
läßt – sich engagiert oder eben in konsoli<strong>die</strong>rten<br />
gesellschaftlichen Verhältnissen weiterhin<br />
„gegen den Ozean anpfeifen“ (TucholskY) will. Rudolf<br />
Rocker sagte bereits um 1920, daß <strong>die</strong> Zeit<br />
der Aufstände und Putsche und der Revolution<br />
beendet sei, weil es aussichtslos wäre, gegen einen<br />
neuerstarkten Militarismus preußischer Prägung<br />
anzurennen – das wäre Selbstmord und würde nur<br />
in einem Schlachthaus enden. Die Konsequenz daraus<br />
dürfte für viele gewesen sein, na, dann kann ich<br />
ja gleich zu den Reformisten der KP oder Sozialdemokraten<br />
gehen, <strong>die</strong> einen krakelen noch lauthals<br />
revolutionär herum, während sich <strong>die</strong> anderen um<br />
ihre Genoss~innen „sorgen“ – <strong>mit</strong> Konsum- und<br />
Wohnungsbau-Genossenschaften, Partei, Gewerkschaft,<br />
Arbeitersport; ein auskömmliches Leben<br />
war‘s vielleicht nicht – aber man setzte nicht jeden<br />
Tag sein Lebens und da<strong>mit</strong> das der eigenen Frau<br />
und Kinder aufs Spiel.<br />
* * *<br />
Wie perfide das sozialdemokratische Spielchen<br />
<strong>mit</strong> den restlichen, nicht liqui<strong>die</strong>rten Revolutionären<br />
in den Betrieben und der Erwerbslosigkeit<br />
funktionierte, beschreibt DÖhring ausgezeichnet<br />
an knappen Beispielen. Dieser Bruch der Klassensolidarität<br />
seitens der SPD brachte nur der KPD<br />
und den Nazis regen Zulauf. Hier wird der Bogen<br />
deutlich, wie aus enttäuschter Hingabe zur Revolution<br />
auch schnell Konterrevolution werden kann.<br />
Denn es besteht wohl kein Zweifel darüber, daß<br />
Nazis und Kozis (so wurden <strong>die</strong> KP-Mitglieder auch<br />
genannt) allein den Sozis den Rang abliefen, weil<br />
sie neue Futtertröge und Pöstchen anzubieten hatten,<br />
<strong>die</strong> bei den anderen »Arbeiter-Parteien« längst<br />
besetzt waren. Und das <strong>die</strong> »Massenpsychologie<br />
des Faschismus« auch für <strong>die</strong> Kozis gilt, wissen wir<br />
längst: Kadavergehorsam war dort ebenso oberste<br />
Pflicht wie bei den Nazis. Erstere wurden zusätzlich<br />
durch Kaderschulungen gequält und politisch<br />
‚neutralsiert’, sie machten jede politische (Kehrt-)<br />
Wendung ihrer Partei <strong>mit</strong>, elender konnte man als<br />
Prolet seine Gesinnung eigentlich nicht verraten.
arrikade sieben - April 2012<br />
Wo sich <strong>die</strong> Masse der 150.000 ehemaligen Mitglieder<br />
der FAUD/S später organisiert haben, ist<br />
nicht nachweisbar … dazu fehlt einfach statistisches<br />
Material (wer hätte das auch erstellen sollen – <strong>die</strong><br />
„freien“ Gewerkschaften haben sicherlich ‚Buch‘<br />
über <strong>die</strong> erzwungenen oder freiwilligen Übertritte<br />
ehemals ‚feindlicher Brüder‘ penibel aufgezeichnet,<br />
aber ich kenne keine Arbeit darüber – ebenso wie<br />
es kein echtes Material von Überläufen von Kozis<br />
zu Nazis oder von der FAUD zu AAUD/E regional<br />
oder reichsweit gibt).<br />
Ganz wichtig ist mir, herauszuarbeiten, daß <strong>die</strong><br />
sozialdemokratische Führung und ihre Funktionäre<br />
durch ihren neuerlichen Verrat an andersdenkenden<br />
Arbeiter~innen eine verflucht dicke Schuld auf<br />
ihre Schultern geladen hat. Diese verbrecherische<br />
Haltung gegenüber den verbliebenen revolutionären<br />
Klassengenossen ist noch immer ungesühnt.<br />
* * *<br />
Am Rande sei hier noch erwähnt, daß der<br />
Historiker und selbsternannte Pabst der AS-<br />
Forschung Hartmut Rübner (Freiheit und Brot, 1994)<br />
der Auffassung ist, daß der „Syndikalismus nur<br />
eine Untergliederung des Unionismus“ 3 sei. Daß<br />
es kaum dümmer und einfältiger geht, beweist<br />
<strong>die</strong> Tatsache, daß <strong>die</strong> linkskommunistischen<br />
Strömungen innerhalb der SPD bis 1917<br />
(LiCHtstraHlen, Berlin und ArBeiterPolitiK,<br />
Bremen) keinerlei syndikalistische Tendenzen<br />
hatten, beide lehnten <strong>die</strong> Freie VereiniGunG Der<br />
DeutsCHen GewerKsCHaFten/FVdG – sozialistischlokalistische<br />
Gewerkschaften seit 1897 ab, deren<br />
Bruch <strong>mit</strong> der SPD politisch wie organisatorisch<br />
bereits endgültig 1906 (Massenstreikdebatte)<br />
erfolgte. Diese Linken brachen erst <strong>mit</strong> „ihrer“ Partei<br />
nach der Kriegs- und ‚Burgfrieden’-Politik der SPD<br />
oder gar erst nach der Novemberrevolution 1918/19<br />
und sprangen erst jetzt auf den unionistischen<br />
Zug auf (siehe dazu Pannekoek und seine<br />
ablehnende Haltung gegenüber dem „deutschen<br />
Syndikalismus“ von 1913 4 ) und entwickelten<br />
aus der spontanen Rätebewegung ihre Ideologie<br />
des Rätekommunismus, in den dann auch<br />
syndikalistische Ideen und Konzepte eingeflossen.<br />
Der 19. und da<strong>mit</strong> letzte Kongreß der FAUD im<br />
Jahre 1932 erklärte: „<strong>die</strong> FAUD steht nach wie vor<br />
auf der Grundlage ihrer Prinzipienerklärung des Jahres<br />
1919; sie sieht in revolutionärer Gewerkschaftsarbeit<br />
und fortschreitender Erweiterung der ökonomischen<br />
Einflußsphäre der Arbeiterschaft durch direkte Aktion<br />
den Weg zum Kampfe gegen <strong>die</strong> faschistische Gefahr,<br />
politische Unterdrückung überhaupt und jede Form<br />
der wirtschaftlichen Ausbeutung (...) Sie bekämpft das<br />
System der Klassengesellschaft in allen Formen.“ 5<br />
* * *<br />
Einige etwas andere Erklärungsmuster<br />
Denn <strong>die</strong> zu schnellen Bewunderer und <strong>die</strong> plötzlich<br />
Überzeugten sind selten das Salz der Erde<br />
– B.TraVen, ₁₉₁₉<br />
Natürlich ist es richtig, wenn DÖhring als Erklärung<br />
für <strong>die</strong> Defizite der Anarchosyndikalisten<br />
wie der syndikalistisch-anarchistischen Jugend Rudolf<br />
Rocker zitiert, ‚<strong>die</strong> Zeit habe nicht ausgereicht,<br />
um genügend Genossinnen und Genossen in kürzester<br />
Zeit zu geschulten und ausgebildeten Kadern zu haben‘<br />
(S. 238), der es bedarf, um eine Massenbewegung<br />
von 150.000 Mitgliedern politisch-ideologisch „auf<br />
Kurs“ zu bringen und so <strong>die</strong> sozialrevolutionären<br />
Inhalte des Anarchosyndikalismus zu verankern<br />
und fest zu vertäuen. Oder wie Karl Roche sagte:<br />
Es den Genossen „in <strong>die</strong> Hirne zu hämmern!“ oder<br />
auch resigniert festzustellen: „uns fehlen <strong>die</strong> Menschen,<br />
weil <strong>die</strong> Menschen fehlen“ 6 – ‚fehlen‘ kann hier<br />
sicherlich auch im doppelten Sinne von verfehlen,<br />
scheitern, interpretiert werden.<br />
Deshalb sei an den Satz Rudolf Rockers erinnert,<br />
der seine eigenen Überlegungen zum Niedergang<br />
der FAUD/SAJD kurz und präzise zusammenfaßt:<br />
»Organisation ist eine notwendige Sache, aber<br />
wenn darüber der Geist und der Impuls des Handelns<br />
erstickt wird, so ist sie schädlich. Das hat Deutschland<br />
erfahren müssen in <strong>die</strong>ser schweren Zeit. Man<br />
hat dort lediglich organisiert, um alles auf eine bestimmte<br />
Norm zu bringen und verlor dabei <strong>die</strong> Beweglichkeit<br />
und <strong>die</strong> Initiative des Handels.« 5<br />
Wer <strong>die</strong> eigenen Genossinnen und Genossen<br />
nicht schult, der verliert. Es sollen keine stromlinienförmigen,<br />
JA-sagenden Kader gezüchtet werden.<br />
Es soll vielmehr der „neue Mensch“ (Roche sprach<br />
vom ganzheitlichen „Kulturmenschen“) gefördert<br />
und befähigt werden, lebenslang einen selbständigen,<br />
eigenen Weg als Klassenkämpfer zu gehen.<br />
Durch Bildungsmaßnahmen und Selbstschulung<br />
sollten wir uns in <strong>die</strong> Lage versetzen, allein und in<br />
unseren Gruppen (Gewerkschaften und Kollektiven),<br />
unserem Umfeld, eigene Positionen zu entwickeln<br />
und Meinungen zu vertreten, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> unseren<br />
Ideen bzw. den Überzeugungen des libertären<br />
Kommunismus im Einklang stehen. Nur mündige<br />
Genoss~innen sind kein Stimmvieh.<br />
Aber Organisation ist eben auch nicht alles – vor<br />
allem ist es auch sehr deutsch. Wer eine Gesellschaft<br />
nach dem Vorbild des preußisch-militaristischem<br />
‚Kriegssozialismus’ organisieren will (wie <strong>die</strong> SPD<br />
unter EBert & Noske) – oder nach dem Vorbild der<br />
Reichsbahn (wie Lenin), der endet möglicherweise<br />
<strong>mit</strong> seiner Politik in Auschwitz oder an der Rampe<br />
eines stalinistischen GuLag.<br />
Die von DÖhring angesprochenen Überläufer<br />
der SAJD/FAUD zu den Stalinisten machen sehr<br />
deutlich, daß Schulungen (also Bildung und Qualifizierung<br />
auf Kosten der Organisation) für einige<br />
schlagfertige und begabte Genoss~innen allein<br />
nicht ausreichend ist. Sie wollen entlohnt werden<br />
Äußerst informativ<br />
und lesenswert!<br />
47<br />
HE L G E DÖ H R I N G -<br />
Mutige Kämpfergestalten<br />
- Syndikalismus in<br />
Schlesien 1918 bis 1930<br />
Edition AV, März 2012<br />
ISBN 978-3-86841-064-8<br />
120 Seiten, 12 €<br />
Kundgebung der<br />
SC H W A R Z E N SC H A R<br />
in Ratibor im März 1929
48<br />
Bücher │ Skorpion • Rezensionen<br />
für ihre Entbehrungen als Agitator, Schriftsteller<br />
oder Redakteur einer Zeitung, sie wollen belohnt<br />
werden; letztlich wünschen sie sich Privilegien, <strong>die</strong><br />
sie über <strong>die</strong> einfachen Mitglieder der Bewegung in<br />
den Betrieben als Funktionäre erheben. Wie „wir“<br />
<strong>die</strong>se persönlichen Eitelkeiten und Machtgelüste in<br />
den Griff bekommen – das ist mir leider auch nach<br />
über 35 Jahren in unserer kleinen Bewegung ein<br />
Rätsel …<br />
* * *<br />
Ein hervorragendes Lesebuch, aber ebenso auch<br />
ein klassisches Lehrbuch für junge Genossinnen<br />
und Genossen, <strong>die</strong> sich in <strong>die</strong> Geschichte der klassenkämpferischen<br />
libertären Jugend Deutschlands<br />
einarbeiten wollen.<br />
Geradezu bewunderswert ist „<strong>die</strong> distanzlose Affinität“<br />
gegenüber dem Gegenstand seiner Untersuchung,<br />
<strong>die</strong> DÖhring an den Tag legt. „Sein wissenschaftlicher<br />
Anspruch“ (beides ‚Kritikpunkte’ von<br />
RüBner) soll eben nicht ein intellektuell-wissenschaftliches<br />
Publikum zufriedenstellen, sondern<br />
junge Linksradikale und Anarchistinnen erreichen<br />
und vom klassenkämpferischen Anarchosyndikalismus<br />
überzeugen.<br />
Mit <strong>die</strong>sem Buch kann man neue Genossinnen<br />
und Genossen gewinnen, vom anarchistischen<br />
Klassenkampf auf kollektiver Grundlage überzeugen.<br />
Und nochmals, DÖhring beweist, daß „im Gegensatz<br />
zu den linkskommunistischen Bewegungen [ist]<br />
<strong>die</strong> Geschichte der anarchosyndikalistischen ‚Freien Arbeiter-Union<br />
Deutschlands’ inzwischen längst kein Geheimnis<br />
mehr“ ist (ein weiterer Vorwurf RüBners 7 ),<br />
hält <strong>die</strong>ser anmaßenden Kritik, <strong>die</strong> ihm anhand seiner<br />
bisherigen Bücher über unsere Bewegung „profunde<br />
Ahnungslosigkeit“ bescheint, den Spiegel vor:<br />
• Band 1 beschreibt <strong>die</strong> Entwicklung der SAJD von<br />
1918 bis 1933 und ergänzt <strong>die</strong>se Geschichtsschreibung<br />
durch sechs ausführliche Porträts fünf führender<br />
SAJD-Genossen und der Genossin Anni Zerr.<br />
Im Abschnitt Treffen der Generationen finden sich<br />
Nachrufe und Erzählungen über Begegnungen <strong>mit</strong><br />
acht Altgenossen, <strong>die</strong> den Faschismus überlebten.<br />
• Band 2 widmet sich dann dem Kapitel Jugend nach<br />
1945 und Ausblick vor allem der Gründung und den<br />
Zielen der Anarchosyndikalistischen Jugend seit 2009.<br />
• Allein auf einhundert Seiten werden im Band 3<br />
historische Satzungen, Grundsatzerklärungen und<br />
Zeitungsartikel ebenso dokumentiert wie aktuelle<br />
Texte der seit einiger Zeit aktiven ASJ-Gruppen –<br />
Anarchosyndikalistische Jugend, <strong>die</strong> sich als eigenständige<br />
Organisation nahe zur FAU verstehen.<br />
Die von DÖhring aufgezählten 13 Eckpunkte der<br />
Erneuerung einer syndikalistisch-anarchistischen Jugendbewegung<br />
(S. 273 f) kann ich aus eigener Erfahrung<br />
vollständig unterschreiben, denn <strong>die</strong>se gelten<br />
für jede sozialrevolutionäre Bewegung oder Organisation,<br />
<strong>die</strong> ernst genommen werden will, egal ob<br />
jung oder alt.<br />
Organisiert Lesekreise und öffentliche Lesungen<br />
<strong>mit</strong> dem Genossen DÖhring, das meiner Meinung<br />
nach für jeden Jugendlichen erschwinglich sein sollte,<br />
denn das über 400 Seiten vollfette Buch kostet<br />
nur schlappe 14 Euro, das ist sicherlich der uneigennützigen<br />
Unterstützung des Berner Apropos-Verlages<br />
(fast <strong>die</strong> komplette ging an der AS-Me<strong>die</strong>nvertrieb<br />
Syndikat-A in Moers) und der unentgeltlichen Arbeit<br />
des Autors und der Gestalter geschuldet, denen<br />
ich hier<strong>mit</strong> ‚unseren Dank’ dafür aussprechen<br />
möchte. • fm<br />
Nachbemerkung: Der Rudolf Rocker-Rechteherr<br />
Heiner Becker hat Helge DÖhring „strafbewehrt“<br />
per Unterlassungserklärung verboten, eigenständige<br />
Texte Rockers zur Jugend abzudrucken (S. 22).<br />
Auch das sollten wir uns merken.<br />
Müllers Novemberrevolution<br />
RI C H A R D MÜLLER<br />
Eine Geschichte der<br />
Novemberrevolution<br />
Neuausgabe der Bände<br />
„Vom Kaiserreich zur<br />
Republik“, „Die Novemberrevolution“,<br />
„Der Bürgerkrieg in<br />
Deutschland“<br />
756 Seiten - 19,95 plus<br />
Porto = 21,85 Euro<br />
DieBuchmacherei@web.de<br />
Mit einer Einleitung zur Neuausgabe von Ralf<br />
Hoffrogge, Berlin 2011, 755 Seiten Broschur, <strong>mit</strong><br />
zahlreichen Fotos und Faksimiles.<br />
I.<br />
Richard Müller, der Mann <strong>mit</strong> dem Allerweltsnamen,<br />
war Metallarbeiter (Dreher) und eine der<br />
wichtigen Personen der Revolution von 1918. Als<br />
Vorsitzender der Revolutionären Obleute der Berliner<br />
Metallbetriebe – einer bemerkenswerten Organisation<br />
der Metallarbeiterschaft der Berliner Großbetriebe,<br />
<strong>die</strong> <strong>die</strong> Notwendigkeiten der illegalen<br />
Arbeit unter dem Ausnahmezustand des 1. Weltkrieges<br />
<strong>mit</strong> einer strikten basisdemokratischen Entscheidungsstruktur<br />
erfolgreich kombinierte – saß<br />
er an der zentralen Schaltstelle der großen Streiks<br />
während des 1. Weltkrieges (1916, 1917, 1918). Die<br />
Revolutionären Obleute, und <strong>mit</strong> ihnen ihr Sprecher<br />
Richard Müller, spielten in der Vorbereitung<br />
und Durchführung der Revolution von 1918 ein<br />
weitaus wichtigere Rolle als etwa der (sowohl von<br />
parteikommunistischer wie konterrevolutionärer<br />
Seite) ziemlich überbewertete Spartakusbund um<br />
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wobei sich<br />
beide Gruppierungen politisch durchaus nahe<br />
standen und der Spartakusbund inhaltlich einiges<br />
zur Radikalisierung der Obleute beitrug. Trotzdem<br />
lehnten <strong>die</strong> Obleute den Beitritt zur Silvester 1918<br />
gegründeten KPD wegen der mangelnden Verankerung<br />
der neuen Partei in den Betrieben ab und<br />
verblieben in der USPD.<br />
Daß <strong>die</strong> Revolutionäre in Berlin im November<br />
1918 von der Matrosenrevolte in Kiel bei ihrer Planung<br />
des bewaffneten Aufstandes überrascht und<br />
überrollt wurden, zeigt allerdings, daß Revolutionen<br />
doch eher spontan ausbrechen. Trotzdem hatte<br />
<strong>die</strong> Planung etwas für sich, denn sie verlieh der<br />
Revolte zumindest in Berlin zeitweise eine Richtung.<br />
Als Vorsitzender des Vollzugsrates der deutschen<br />
Arbeiter- und Soldatenräte in den ersten Wochen<br />
der Revolution war Richard Müller sogar Oberhaupt<br />
des Deutschen Reiches, das sich für kurze<br />
Zeit eine »Sozialistische Republik« nannte (wo<strong>mit</strong><br />
er der Nachfolger von Kaiser Wilhelm II. und Vorgänger<br />
des Reichspräsidenten Friedrich Ebert war)<br />
– der einzige revolutionäre Sozialist, der jemals in<br />
Deutschland solch eine Position innehatte.<br />
Als wichtiger Rätetheoretiker ist Müller in der<br />
zweiten Phase der Revolution in Erscheinung getreten,<br />
<strong>mit</strong> der von ihm und Ernst Däumig herausgegebenen<br />
Zeitschrift »Der Arbeiterrat«. Kurzfristig<br />
gehörte er der Zentrale der Vereinigten Kommu-
arrikade sieben - April 2012<br />
nistischen Partei Deutschlands (VKPD) an, zu der<br />
er Ende 1920 <strong>mit</strong> der USPD-Linken kam. 1921 war<br />
Richard Müller Delegierter auf dem III. Kongreß<br />
der Kommunistischen Internationale (KI) und der<br />
parallel dazu stattfindenden Gründung der Roten<br />
Gewerkschafts-Internationale (RGI). Er wurde aber<br />
schon Anfang 1922 aus der Partei ausgeschlossen,<br />
da er sich <strong>mit</strong> Paul Levi und dessen Kritik am Mitteldeutschen<br />
Aufstand (der sogenannten Märzaktion<br />
1921) solidarisiert hatte. Allerdings schloß er<br />
sich nicht Levis Kommunistischer Arbeitsgemeinschaft<br />
(KAG) an.<br />
Müller zog sich einige Jahre aus der aktiven Politik<br />
zurück. Ende der 20er Jahre war er dann noch<br />
einmal kürzere Zeit im Deutschen Industrie-Verband<br />
(DIV) aktiv (zusammen <strong>mit</strong> Karl Korsch), bis<br />
er 1929 offenbar endgültig ins Privatleben entschwand.<br />
Er hatte als Bauunternehmer einigen Erfolg<br />
und war schon 1930 Millionär geworden. »Seine<br />
politischen Ideen blieben dabei irgendwann auf<br />
der Strecke. Auch ein Richard Müller war nicht<br />
gefeit gegen <strong>die</strong> korrumpierende Wirkung guter<br />
Geschäfte.« schreibt sein Biograph Hofrogge. Während<br />
der Nazi-Zeit lebte Müller <strong>mit</strong> seiner Familie<br />
anscheinend unbehelligt in Berlin, aktiven Widerstand<br />
hat er offenbar nicht geleistet. Richard Müller<br />
starb 1943 in Berlin.<br />
II.<br />
»Er inspirierte viele Fußnoten, jedoch kaum Debatten«,<br />
schrieb Richard Müllers Biograph Ralf<br />
Hoffrogge über dessen dreibändige Geschichte der<br />
deutschen Novemberrevolution, <strong>die</strong> in den Jahren<br />
1924 und 1925 herauskam und jetzt in einem Band<br />
neu erschienen ist. Müller hatte <strong>die</strong> Zeit nach dem<br />
Rauswurf aus der KPD genutzt, um <strong>die</strong> erste umfassende<br />
Geschichte der Novemberrevolution vom<br />
revolutionären Standpunkt zu schreiben. Er konnte<br />
sich dabei auf ein umfangreiches Dokumenten-<br />
Archiv stützen, das er seit dem ‘Großen Krieg’<br />
und während der Revolutionszeit angelegt hatte<br />
(darunter das einzige noch existierende Exemplar<br />
der Protokolle des Vollzugsrates, dessen Akten auf<br />
Befehl Gustav Noskes bei der gewaltsamen Auflösung<br />
des Vollzugsrates vernichtet worden waren).<br />
Viele <strong>die</strong>ser Dokumente sind in Richard Müllers<br />
Geschichte der Novemberrevolution abgedruckt,<br />
z.T. als Faksimile. Allein das macht <strong>die</strong> Arbeit zu einer<br />
unverzichtbaren Quelle für alle, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> der<br />
Geschichte der Novemberrevolution befassen. Allerdings<br />
sind seine politischen Schlußfolgerungen<br />
den bürgerlichen und sozialdemokratischen Republikanern<br />
in der Weimarer Republik zu revolutionär<br />
und auf jeden Fall zu unangenehm gewesen,<br />
zeigten sie doch schäbige Rolle, <strong>die</strong> <strong>die</strong> sozialdemokratische<br />
Führung mehrheitlich in Kriegs- und<br />
Revolutionszeit gespielt hatte. Die stalinistische<br />
KPD strickte hingegen an ihrer eigenen Legende<br />
und negierte <strong>die</strong> hervorragende Rolle der Revolutionären<br />
Obleute in der Revolution; außerdem hatte<br />
man <strong>mit</strong>tlerweile beim Genossen Stalin gelernt, daß<br />
ein geschaßter ‘Abweichler’ eine Unperson ist. Dies<br />
setzte sich nach dem 2. Weltkrieg in dem verdoppelten<br />
deutschen Staat fort. Ralf Hofrogge bringt<br />
das auf den Punkt: »In der Regel wurde Müller<br />
für seine Faktendarstellung in beiden deutschen<br />
Staaten gerne zitiert, seine Interpretationen jedoch<br />
ignoriert.« Für <strong>die</strong> ‘herrschende Meinung’ in der<br />
BRD (selbstverständlich auch in der Geschichtswissenschaft)<br />
stand Deutschland 1918/19 »zwischen<br />
Rätediktatur und sozialer Demokratie« (Walter<br />
Tormin), während in der DDR <strong>die</strong> Novemberrevolution<br />
sowieso nur eine bürgerlichen Revolution<br />
war (wie Walter Ulbricht höchstselbst im Juni<br />
1958 dekretierte und da<strong>mit</strong> eine Historikerdebatte<br />
um den Charakter und <strong>die</strong> Akteure der Revolution<br />
‘abschloß’). Dabei blieb es im wesentlichen bis zum<br />
Ende des SED-Staates in der 2. Novemberrevolution<br />
– 1989. In der BRD gab es indes abweichende<br />
Interpretationen von der ‘herrschenden Meinung’,<br />
<strong>die</strong> dort nicht <strong>mit</strong> Knast bestraft wurden – ich nenne<br />
nur Fritz Opel und Peter v. Oertzen, <strong>die</strong> schon in<br />
den 1950er und frühen 1960er Jahren <strong>die</strong> Rolle der<br />
Revolutionären Obleute würdigten – aber es waren<br />
Einzelkämpfer.<br />
III.<br />
Erst <strong>mit</strong> der Außerparlamentarischen Opposition<br />
(APO) der 1960er Jahre wurde der herrschende<br />
Konsens der BRD erschüttert und vermehrt auch<br />
eine andere Betrachtung der Novemberrevolution<br />
1918 und der Weimarer Republik ‘salonfähig’. Das<br />
führte zur Wiederentdeckung des Rätetheoretikers<br />
und des Historikers Richard Müller. Seine Geschichte<br />
der Novemberrevolution wurde 1974 vom<br />
Westberliner Verlag Olle & Wolter nachgedruckt,<br />
eine 2. Auflage erschien 1979 – beide Ausgaben<br />
<strong>mit</strong>tlerweile durchaus gesuchte antiquarische Raritäten.<br />
Müllers Geschichte gehört zu den grundlegenden<br />
historischen Schriften über <strong>die</strong> Novemberrevolution<br />
1918 und ihr Scheitern. Sie steht in einer Reihe<br />
<strong>mit</strong> dem Werk von Erhard Lucas zur »Märzrevolution<br />
1920« im Ruhrgebiet. Man kann also dem Verlag<br />
garnicht hoch genug anrechnen, <strong>die</strong>ses wichtige<br />
Werk beinahe 90 Jahre nach seinem ersten Erscheinen<br />
(und über 30 Jahre nach dem letzten Erscheinen<br />
des Reprints) wieder zugänglich gemacht zu<br />
haben, noch dazu in einer recht wohlfeilen Ausgabe.<br />
Ralf Hofrogges Einleitung zu Neuausgabe, eine<br />
gelungene kurze Einführung in Leben und Werk<br />
Richard Müllers und <strong>die</strong> Rezeption seiner Revolutionsgeschichte,<br />
rundet <strong>die</strong> Edition ab.<br />
IV.<br />
Abschließend sei auch noch auf<br />
• Ralf Hoffrogge - Richard Müller. Der Mann hinter<br />
der Novemberrevolution, Berlin 2008, 233 Seiten<br />
<strong>mit</strong> Abb. (Hardcover), Karl Dietz Verlag<br />
hingewiesen. Auf <strong>die</strong>ser Pionierarbeit basiert sein<br />
Vorwort, und das Buch, eine politische Biographie<br />
Müllers, ist (nicht nur) eine lohnende ergänzende<br />
Lektüre zur Revolutionsgeschichte.<br />
• Jonnie SCHliCHtinG<br />
Vollzugsratsausweis Nr. 1 von EM I L BA R T H, unterschrieben<br />
durch RI C H A R D MÜLLER und BR U T U S MO L K E N B U H R als<br />
Vorsitzende des BE R L I N E R VO L L Z U G S R A T E S - 12.11.1918<br />
49<br />
DI E T M A R LA N G E<br />
Massenstreik und<br />
Schießbefehl<br />
Der Generalstreik und<br />
<strong>die</strong> Märzkämpfe<br />
in Berlin 1919<br />
Lo.g.o – Berlin, Band 1<br />
ISBN 978-3-942885-14-0<br />
In einer historischen Trilogie<br />
unter dem Obertitel<br />
Vom Kaiserreich zur Republik<br />
verfasste Richard<br />
Müller, Metallarbeiter und<br />
Vorsitzender des Vollzugsrats<br />
der Arbeiter- und<br />
Soldatenräte deutschen<br />
Novemberrevolution<br />
einen ungewöhnlichen<br />
Zeitzeugenbreicht. Seine<br />
packend erzählten Bände<br />
inspirierten Historiker wie<br />
Sebastian Haffner und<br />
sind Standardwerk und<br />
Geheimtipp zugleich.<br />
Jetzt sind sie <strong>die</strong> drei<br />
Bände in einem Band gebündelt<br />
wieder verfügbar.
50<br />
Auf dem Weg - Gelebte<br />
Utopie einer Kooperative<br />
in Venezuela<br />
Die Buchmacherei Berlin<br />
Eine „führerlose“ Organisation in Bewegung – geht das?<br />
Über den autonomen Genossenschaftsverband CECOSESOLA<br />
im Bundesland Lara von Venezuela.<br />
Mit rund 20.000 Mitgliedern in diversen eigenständigen<br />
Genossenschaften und Kollektivbetrieben um<br />
<strong>die</strong> regionale Landeshauptstand Barquisimeto [eine<br />
Million Einwohner westlich von Caracas gelegen]<br />
berichtet das neue Buch der Berliner Buchmacherei<br />
Auf dem Weg – Gelebte Utopie einer Kooperative in<br />
Venezuela. Nun, es ist eben nicht eine Kooperative,<br />
sondern der regionale Dachverband, eben CEN-<br />
TRAL COOPERATIVA DE SERVICIOS SOCIALES<br />
DEL ESTADO LARA und <strong>die</strong>ser Zusammenschluß<br />
erwirtschaftete einen Umsatz von umgerechnet 100<br />
Millionen US$ (430 Mio. Bolívares) im Jahr 2010.<br />
Kann eine Entscheidungsfindung in so einem<br />
großen „Betrieb“ tatsächlich immer „im Konsens“<br />
getroffen werden, wie <strong>die</strong> Autoren behaupten<br />
und der „unorthodoxe“ Marxist John HolloWaY<br />
(Die Welt verändern, ohne <strong>die</strong> Macht zu übernehmen)<br />
tatkräftig bestätigt? Wozu bedarf es dann aber gut<br />
6 Prozent an „Hauptamtlichen“, <strong>die</strong> als trabajadores<br />
asociados den doppelten Mindestlohn als Vorschuß<br />
ver<strong>die</strong>nen? – Beachtlich auch, daß sich jedes<br />
Mitglied <strong>die</strong>se verantwortlichen Tätigkeiten<br />
noch selbst aussuchen kann. Wie funktionieren<br />
„horizontale Strukturen“, wie eine Selbstverwaltung<br />
ohne Chefs, denn „Rotation ist Prinzip: Niemand soll<br />
sich auf bestimmten Posten einbunkern oder es sich auf<br />
Kosten anderer bequem machen. Die Aufgabe in der<br />
Verwaltung werden immer von neuen Kooperativistas<br />
übernommen, da<strong>mit</strong> möglichst viele auch <strong>die</strong>se Bereiche<br />
kennenlernen und sich entsprechende Kompetenzen<br />
aneignen können.“ (S. 8)<br />
»Unsere Treffen werden so zu Möglichkeiten, ein<br />
»Wir« ohne Grenzen zu erleben. Ein Wir, das auch<br />
bedeutet, dass wir uns Kriterien zu eigen machen, <strong>die</strong> wir<br />
alle teilen. Flexible Kriterien, <strong>die</strong> im Konsens geändert<br />
werden, wenn sich <strong>die</strong> Umstände andern und wir uns in<br />
der Reflexion verändern. Diese gemeinsamen Kriterien<br />
erleichtern <strong>die</strong> Beteiligung aller an den Entscheidungen.<br />
Es gibt kein Leitungsgremium, keinen Geschäftsführer<br />
und keine Aufsicht mehr, auf denen wir uns »ausruhen«<br />
könnten, um uns da<strong>mit</strong> der eigenen Verantwortung<br />
zu entziehen. Wir versuchen dafür zu sorgen, dass <strong>die</strong><br />
Treffen nicht zu einem Ersatz für <strong>die</strong> Geschäftsleitung<br />
oder den Geschäftsführer werden, denn auch das würde<br />
unsere Entwicklung beschneiden. Wir fällen zwar<br />
weiterhin Entscheidungen auf unseren Treffen, aber<br />
auf der Grundlage unserer jeweiligen gemeinsamen<br />
Kriterien soll auch jede Person oder Gruppe <strong>die</strong><br />
Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, <strong>die</strong><br />
im Alltag getroffen werden müssen. Genauso wie alle<br />
Anwesenden gleichermaßen für Entscheidungen, <strong>die</strong><br />
auf einer Versammlung zustande gekommen sind, <strong>die</strong><br />
Verantwortung tragen. Eine Verantwortung, <strong>die</strong> je<br />
nachdem auch beinhalten kann, dass man für verursachte<br />
Schäden finanziell aufkommt.« (Seite 127)<br />
Daraus „ergibt sich, dass Konsens für uns etwas<br />
Bücher │ Skorpion • Rezensionen<br />
völlig anderes bedeutet als Einstimmigkeit. Für <strong>die</strong><br />
Einstimmigkeit müssen alle Mitglieder anwesend<br />
einer Gruppe oder Organisation anwesend sein. Das<br />
entspricht einer Abstimmung, bei der alle dafür sind.<br />
In unserem Fall ist <strong>die</strong> Entscheidung Konsens, wenn<br />
sie unserem »Wir« entspricht, d.h. den Kriterien, <strong>die</strong><br />
wir in <strong>die</strong>sem Moment teilen – unabhängig davon, ob<br />
<strong>die</strong>se Entscheidung von einer Person, einer informellen<br />
Gruppe oder auf einer Versammlung gefällt wurde.“<br />
Daß <strong>die</strong>se Form der Entscheidungsfindung<br />
nichts <strong>mit</strong> unserer deutschen Vorstellung von<br />
einem „Konsens“ zu tun hat, ist augenfällig.<br />
Wenn es möglich ist, daß nur eine einzige Person<br />
aufgrund ihres »Wir«-Gefühls in einem Moment<br />
etwas entscheidet, dann führt das zwangsläufig<br />
zu der Erkenntnis, daß „es keine »endgültigen«<br />
Entscheidungen, außer in den Fällen, in denen für<br />
Verbesserungen keine Zeit mehr bleibt“ gibt. Daraus<br />
folgt dann konsequent: „Es gibt jederzeit das Recht<br />
zu protestieren. Das Thema kann jederzeit und auf<br />
jedem Treffen neu verhandelt werden, falls jemand<br />
nicht einverstanden oder der Meinung ist, dass beim<br />
Zustandekommen des Beschlusses persönliche Kriterien<br />
<strong>die</strong> Überhand gewonnen haben.“<br />
In der Realität bedeutet <strong>die</strong>s – nach jahrelangen<br />
eigenen Erfahrung in einem recht überschaubaren<br />
Kollektivbetrieb –, dass einmal gefällte Entscheidungen<br />
nicht mehr hinterfragt werden, weil rückwirkend<br />
kaum Änderungen möglich sind im ökonomischen<br />
Alltag oder es extrem unangenehm sein<br />
kann, immer und immer auf einem oder mehreren<br />
Fehlern eines einzelnen oder einer kleinen „informellen<br />
Gruppe“ des Kollektivs herumzuhacken.<br />
Diese blauäugige Verklärung der realen Umstände,<br />
<strong>die</strong> in einem wirtschaftlichen Betrieb bestehen, sind<br />
evident. Wer macht sich gerne zum Kritiker, wenn<br />
hinter dem Rücken der Mehrheit Entscheidungen<br />
gefällt wurden, <strong>die</strong> dann jedoch »endgültig« sind,<br />
weil zum Beispiel Verträge nicht so einfach durch<br />
ein späteres Plenum rückgängig gemacht werden<br />
können? Die Welt um uns herum besteht eben nicht<br />
aus „Gutmenschen“, <strong>die</strong> einsehen, daß ein Vorstand<br />
oder ein anderes Gremium einer Genossenschaft<br />
einen bösen Schnitzer gemacht hat, der von<br />
einem Plenum nachträglich aufgehoben wurde.<br />
„Diese Art Entscheidungen zu treffen, kann<br />
offensichtlich zu Chaos und Fehltritten führen, <strong>die</strong><br />
unter Umständen große ökonomische Verluste nach<br />
sich ziehen. Aber alle ökonomischen Verluste werden<br />
um ein Vielfaches kompensiert durch <strong>die</strong> Flexibilität<br />
und Dynamik, <strong>die</strong> in der Organisation entsteht,<br />
dadurch dass wir uns von den kulturellen Fesseln<br />
befreien, <strong>die</strong> unser aller Kapazitäten und kreatives<br />
Potenzial einengen. Heute reiben wir uns nicht mehr<br />
im schäbigen Hickhack interner Machtkämpfe auf. Und<br />
unsere menschlichen Möglichkeiten sind nicht mehr
arrikade sieben - April 2012<br />
in hierarchischen Beziehungen eingeschlossen oder im<br />
Dickicht parlamentarischer Regelungen gefangen, <strong>mit</strong><br />
denen angeblich <strong>die</strong> Beteiligung geregelt wird. Normen<br />
auf der Grundlage von Misstrauen, <strong>die</strong> letzten Endes<br />
eine wirkliche Beteiligung nur behindern.<br />
Mit der Zeit wird das Modell der Repräsentation<br />
und Vertretung durch eine verantwortliche, direkte und<br />
alltägliche Beteiligung ersetzt. Die Treffen haben sich<br />
in Räume verwandelt, <strong>die</strong> ohne Einschränkung für jede<br />
und jeden offen stehen. Bei den Themen, <strong>die</strong> behandelt<br />
werden können, gibt es keine Eingrenzung.<br />
Es gibt keine Abstimmungen. Alle Mitglieder oder<br />
Treffen machen sich <strong>die</strong> Entscheidungen zu eigen, <strong>die</strong><br />
auf der Grundlage der gemeinsamen Kriterien zustande<br />
gekommen sind. Ein Quorum für Beschlussfähigkeit ist<br />
da<strong>mit</strong> hinfällig.<br />
Ist das nicht alles ziemlich verrückt? Vielleicht - aber<br />
wir wissen aus eigener Erfahrung, dass das Ganze<br />
funktionieren kann, wenn wir den gegenseitigen Respekt<br />
und <strong>die</strong> Solidarität in unserem Zusammensein vertiefen.<br />
Wenn all <strong>die</strong> Energien freigesetzt werden, <strong>die</strong> im Dickicht<br />
der starren Organisationsformen, <strong>die</strong> unsere Kultur zu<br />
bieten hat, gefangen sind. So entsteht <strong>die</strong> solidarische<br />
Kraft, ...“ (Seite 128)<br />
Die Entscheidungsfindung bei CECOSESOLA ist<br />
mehr als fragwürdig – nicht weil sie „chaotisch“,<br />
sondern weil sie m.E. strukturlos ist. Sollte es<br />
Gruppierungen oder Einzelindividuen geben,<br />
<strong>die</strong> das Unternehmen übernehmen wollen, dann<br />
bilden sie eben <strong>die</strong>se „informellen Gruppen“ und<br />
fällen Entscheidungen gegen das »Wir«-Gefühl der<br />
meistens doch schweigenden Mehrheit. Und selbst<br />
wenn falsche Beschlüsse revi<strong>die</strong>rt werden können,<br />
ist es eventuell fatal, weil sie unter „Umständen<br />
große ökonomische Verluste nach sich ziehen“. Und<br />
wer will dafür schon gerne verantwortlich gemacht<br />
werden?<br />
Etwas Zahlensalat<br />
Für mich ist der Umgang <strong>mit</strong> Zahlen in <strong>die</strong>sem<br />
Buch doch etwas gewöhnungsbedürftig bzw. auch<br />
fragwürdig. CECOSESOLA wurde 1967 gegründet<br />
bzw. erst 1974 zu einem Dachverband mehrerer<br />
kleiner – hauptsächlich von Priestern initiierter<br />
Spar- und Kreditgenossenschaften – und dann<br />
heißt es plötzlich, dass sie ganze 12 Mitglieder<br />
waren, bevor sie <strong>mit</strong> staatlichen Förder<strong>mit</strong>teln<br />
eine lokale Busverkehrsgenossenschaft, <strong>die</strong> SCT,<br />
gründeten und dadurch in kürzester Zeit wegen<br />
der benötigten Busfahrer│innen auf mehr als 300<br />
Genoss│innen anwuchsen.<br />
Fragwürdig ist auch das »Wir«, das das Buch oder<br />
den Bericht geschrieben hat. Es scheint so, als wenn<br />
selbstlose Berater <strong>mit</strong> dem gesamtgesellschaftlichen<br />
Konzept für Genossenschaften hier angetreten<br />
sind - und auch federführend alles begleitet und<br />
geleitet haben, trotz der Infiltration von Spionen,<br />
Gegnern und Polizeispitzeln. Das wäre beachtlich<br />
und gleichzeitig bedenklich, denn alles wird von<br />
möglicherweise immer noch den gleichen Leuten<br />
„informell“ angeleitet, <strong>die</strong> eigentlich längst hätten<br />
in der Masse der Mitglieder verschwinden müssen,<br />
wie „Fische im Wasser“ halt ...<br />
Genossenschaft vs. Gewerkschaft<br />
Ein spannender Punkt in der Entwicklung von<br />
CECOSESOLA zu „einer sozialen Organisation,<br />
einer Bewegung“, ist <strong>die</strong> Auseinandersetzung in<br />
der Buslinien-Kooperative über den Sinn einer<br />
Gewerkschaft (in Venezuela sind nur Betriebsgewerkschaften<br />
erlaubt). Hier erklären <strong>die</strong><br />
Verfasser ganz deutlich, daß sie der Auffasssung<br />
sind, daß es keiner gewerkschaftlichen Vertretung<br />
der Genossenschafts<strong>mit</strong>glieder bedarf. Der zu den<br />
überhöhter Lohnforderungen einiger machtgeiler<br />
und auf Pöstchensuche befindlicher Agitatoren<br />
einer (linken?) Partei als Argument angeführte<br />
Spruch lautet: „Wenn in der Küche Schmalhans waltet,<br />
kann man keine Gelage feiern.“<br />
Das ist wirklich nicht spaßig, bedenkt man,<br />
daß ansonsten in dem Text sehr gerne von der<br />
Verantwortung für <strong>die</strong> Gemeinschaft, <strong>die</strong> Kommune<br />
und <strong>die</strong> Verankerung in der übrigen Gesellschaft<br />
geredet wird. Eine Kontrolle durch betriebsfremde<br />
Gewerkschafter soll also nicht stattfinden – alles<br />
dreht sich im eigenen Saft bzw. wird durch interne<br />
„Transparenz“ und eine ordentliche Buchführung,<br />
<strong>die</strong> nachvollziehbar macht, daß keine Superlöhne<br />
gezahlt werden können, überflüssig. Natürlich<br />
waren <strong>die</strong> Vorwürfe der opponierenden und<br />
demagogisch agitierenden Gewerkschafts-<br />
Möchtegern-Funktionäre (vielleicht erhofften sie<br />
sich einen besseren Lohn oder gar eine Freistellung<br />
als Betriebsgewerkschaftsfunktionär) im Sinne<br />
der Kooperative nicht sinnvoll. Eine außer- bzw.<br />
überbetriebliche Kontrolle durch eine Gewerkschaft<br />
sollte jedoch zu den üblichen Gepflogenheiten<br />
gehören.<br />
Das AL CAPONE-Problem<br />
CECOSESOLA hat nur <strong>die</strong> staatliche Kontrolle vor<br />
der Zerschlagung gerettet; weil <strong>die</strong> Buchhaltung<br />
(und wer lernt so etwas in wenigen Wochen?) akurat<br />
war, konnten <strong>die</strong> Staatskontrolleure nichts finden,<br />
um <strong>die</strong> soziale Kooperative zu liqui<strong>die</strong>ren, was <strong>die</strong><br />
interne Opposition forderte. Auch hieraus ist zu<br />
lernen - auch für uns in Deutschland. Oder gerade<br />
hier. Wenn sie Dich politisch mundtot machen<br />
wollen, sollte <strong>die</strong> Buchhaltung stimmen, sonst<br />
ergeht es einem wie Al CaPone, dem berüchtigsten<br />
Gangster der amerikanischen Geschichte: ihm<br />
konnte kein Mord vorgeworfen werden, aber<br />
er wanderte in den Knast wegen mangelnder<br />
Steuerzahlungen und einer „fehlerhaften“,<br />
maipulierten Buchhaltung ...<br />
CHAVEZ und sein Pseudo-Sozialismus<br />
Ein völlig neues Genossenschafts- bzw. Kooperativengesetz<br />
gibt es in Venezuela seit ChaVeZ am<br />
Ruder ist. Aber der Presidente hat auch das Recht,<br />
„antisozialistische“ Betriebe – und das sind im<br />
pseudorevolutionär-sozialistisch-staatlichem Diskurs<br />
der Bolivaristen um den Putschisten ChaVeZ<br />
eben genauso autonome Kollektivbetriebe wie kapitalistische<br />
Aktiengesellschaften, wenn es seiner<br />
Politik gefällt und es ihm gerade mal in den Kram<br />
paßt. Darüber steht auch etwas in <strong>die</strong>ser wirklich<br />
spannenden Geschichte. Und zwar deutlicher, als<br />
es sich <strong>die</strong> Freunde des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“<br />
venezolanischer Prägung überhaupt vorstellen<br />
können. Das dürfte so<strong>mit</strong> schon fast wieder<br />
„reaktionär“ sein, denn wie Luis Alfredo Delgado<br />
Bello auszugsweise zitiert wird: „Wir müssen dagegen<br />
kämpfen, dass Kooperativismus und Chavismus<br />
gleich gesetzt werden. Mit <strong>die</strong>ser Vorstellung wird der<br />
Kooperativismus zu einen weiteren Objekt der Pola-<br />
51<br />
»Wir streben etwas<br />
Erhabeneres und<br />
Gerechteres an, das<br />
Gemeingut oder <strong>die</strong><br />
Gütergemeinschaft.<br />
Kein individuelles<br />
Landeigentum mehr:<br />
<strong>die</strong> Erde gehört niemandem.<br />
Wir verlangen,<br />
wir fordern den<br />
gemeinsamen Genuss<br />
der Früchte der Erde:<br />
<strong>die</strong> Früchte gehören<br />
allen. Wir erklären,<br />
nicht länger ertragen<br />
zu können, dass <strong>die</strong><br />
überwältigende Mehrheit<br />
der Menschen<br />
im Dienste und nach<br />
dem Belieben einer<br />
winzigen Minderheit<br />
arbeitet und sich<br />
abquält.<br />
Lange genug, allzu<br />
lange haben weniger<br />
als eine Million<br />
Menschen über das<br />
verfügt, was mehr als<br />
zwanzig Millionen<br />
ihresgleichen gehört.<br />
Schluss endlich <strong>mit</strong><br />
<strong>die</strong>sem gewaltigen<br />
Ärgernis, das unseren<br />
Nachfahren unglaublich<br />
erscheinen wird!<br />
Schluss endlich <strong>mit</strong><br />
den empörenden Unterschieden<br />
zwischen<br />
Reichen und Armen,<br />
Großen und Kleinen,<br />
Herren und Knechten,<br />
Herrschenden und<br />
Beherrschten.<br />
Es darf keinen anderen<br />
Unterschied mehr<br />
zwischen den Menschen<br />
geben als den<br />
des Alters und des<br />
Geschlechts. Nachdem<br />
alle <strong>die</strong>selben Bedürfnisse<br />
und <strong>die</strong>selben<br />
Familien haben,<br />
soll es für sie auch<br />
nur ein und <strong>die</strong>selbe<br />
Erziehung, <strong>die</strong>selbe<br />
Ernährung geben.«<br />
Manifeste des Égaux,<br />
Das Manifest der<br />
Gleichen<br />
Sylvain Maréchal (1750 bis<br />
1803): Manifeste des Égaux,<br />
abgedruckt in: Babeuf:<br />
Verschwörung<br />
John Anthony Scott:<br />
François Noël Babeuf und<br />
<strong>die</strong> Verschwörung für <strong>die</strong><br />
Gleichheit, in: Gracchus Babeuf:<br />
Die Verschwörung für <strong>die</strong> Gleichheit.<br />
Rede über <strong>die</strong> Legiti<strong>mit</strong>ät<br />
des Widerstandes, hrsg. von<br />
J. A. Scott, Hamburg 1988, S. 11.
52<br />
risierung, das angegriffen oder<br />
unterstützt wird, je nachdem,<br />
welche Position <strong>die</strong> Betreffenden<br />
gegenüber der Regierung haben.<br />
(…) Beiden liegt <strong>die</strong> Einschätzung<br />
zugrunde, <strong>die</strong> Politik sei wichtiger<br />
als <strong>die</strong> Kooperativen. Das Genossenschaftswesen<br />
wird anderen<br />
politischen Zielen untergeordnet.<br />
Die Kooperative wird nicht als politische<br />
und soziale Option an sich<br />
gesehen, <strong>die</strong> in der Lage ist, hier<br />
und heute von uns aus eine andere<br />
Gesellschaft aufzubauen, wie wir<br />
sie wollen. Diese Sichtweise ist zutiefst<br />
politisch und unterscheidet<br />
sich grundlegend von derjenigen,<br />
<strong>die</strong> immer wieder verkündet, dass<br />
es notwendig sei, <strong>die</strong> Macht zu<br />
übernehmen, um den Anderen <strong>die</strong><br />
eigene Sichtweise von Gesellschaft<br />
aufzudrängen. Als Kooperativistas<br />
bauen wir tagtäglich eine neue Gesellschaft<br />
auf. Da<strong>mit</strong> zeigen wir<br />
uns selbst und allen Anderen, dass<br />
eine andere Welt möglich ist.“ (S. 151 – „Venezuela:<br />
Frascasaron las cooperativas?“)<br />
Genossenschaften sind nicht per sé oder Definition<br />
etwas Gutes – das wissen wir, seit auch Schlipsträger<br />
ihre modernen Firmenkonstrukte genossenschaftlich<br />
organisieren oder der Sozialabbau durch<br />
privat Selbsthilfe-Genossenschaften kompensiert<br />
werden sollen. Genossenschaften sollen der bürgerlichen<br />
Gesellschaft helfen, Probleme kostengünstig<br />
(also über freiwilllige Lohndrückerei und<br />
Selbstausbeutung) unter dem Deckmantel der<br />
„Bürgerbeteiligung“ zu verwalten. Mit „Selbstermächtigung“<br />
hat das nichts zu tun. Genauso, wie<br />
in Venezuela kapitalistische oder auch staatliche<br />
Unternehmen Teilbereiche genossenschaftlich ausgliedern,<br />
um <strong>die</strong> Kosten zu drücken – und auch<br />
etablierte Genossenschaften gliedern Nichtgenosse<br />
als Lohnarbeiter│innen aus. Der Staat macht es sich<br />
bequem, indem er sozialpolitisches Engagement in<br />
Armutsquartieren und Elendsvierteln befördert,<br />
da<strong>mit</strong> <strong>die</strong> Armen sich selbst um <strong>die</strong> Lebens<strong>mit</strong>telund<br />
Gesundheitsversorgung kümmern. Daraus<br />
Bücher │ Skorpion • Rezensionen<br />
kann „solidarische Ökonomie“ entstehen, muss es<br />
aber nicht.<br />
Das größte Problem für deutsche Verhältnisse<br />
ist der Vergleich. Was alles in Venezuela möglich<br />
ist, stößt hier sofort an gesetzliche Grenzen und<br />
erfordert einen Kampf um den durch den Nationalsozialismus<br />
eingeschränkten und gefesselten<br />
Genossenschaftsgedanken. Genossenschaften dürfen<br />
hierzulande keine Kreditgeschäfte machen – da<br />
kommen hier gleich <strong>die</strong> Herren <strong>mit</strong> dem Schlapphut<br />
der BaFin (Bundesfinanzaufsicht), statt sich<br />
um wichtigere Dinge zu kümmern. Das bedeutet<br />
schlicht, daß hiesige Genossenschaften ihren Mitgliedern<br />
keine Kredite geben dürfen in Notzeiten<br />
oder auch als Konzept. Dazu bedarf es einer genossenschaftlichen<br />
Bank – also weiterer staatlicher<br />
Kontrollinstanzen und Behörden.<br />
Abschließend sei ausdrücklich <strong>die</strong>ses Buch denjenigen<br />
empfohlen, <strong>die</strong> eine „andere Welt“ wollen<br />
und dabei lieber „handeln“ als politisch nur rumlamentieren<br />
und <strong>die</strong> Macht übernehmen wollen. Alternative<br />
und solidarische Ökonomie <strong>mit</strong> dem Kapitalismus<br />
in allen unseren Knochen ist bestimmt<br />
eine KnochenArbeit, aber es geht darum, nicht alle<br />
Utopien auf den berühmten St. Nimmerleinstag<br />
nach dem großen Kladderadatsch zu verschieben –<br />
der in den deutschen Breitengraden mehr als Lichtjahre<br />
entfernt ist.<br />
• fm<br />
Nachtrag – Tupamaros<br />
Es hat nach dem Erscheinen des Buches wohl interessiert,<br />
ob denn nicht ehamlige uruguayische Tupamaros<br />
an der Gründung von CECOSESOLA beteiligt<br />
gewesen wären. Deutsche Linke brauchen immer<br />
Führer, nur sie können Gewichtiges angestoßen haben,<br />
sonst fehlt ihnen der Glaube daran. In <strong>die</strong>sem<br />
Fall ist <strong>die</strong> Antwort unzweideutig: „Kein Tupamaro<br />
hat je an dem Projekt <strong>mit</strong>gewirkt; schon gar nicht bei<br />
der Gründung.“ (Contraste, April 2012).<br />
Das beruhigt mich ungemein, denn derartige Projekte<br />
funktionieren wohl gerade deshalb, weil hier<br />
eher Pfaffen als leninistische Guerilleros das Sagen<br />
haben; dabei haben beide Fraktionen längst ihre<br />
Heiligenscheine verloren ...
arrikade sieben - April 2012<br />
Gelungene Spurensuche<br />
Mathieu Houle-Courcelles Buch zum Anarchismus<br />
im kanadischen Quebec macht Geschichte von<br />
unten und ihre Akteure lebendig.<br />
Forschungen zur lokal-geschichtlichen Historie<br />
können über das reine Darstellen geschichtlicher<br />
Fakten hinaus Erfahrungen ver<strong>mit</strong>teln und Motivation<br />
und Inspiration für heutige Auseinandersetzungen<br />
und Entwicklungen frei setzen. Mit seinem<br />
Buch ist <strong>die</strong>s dem Autoren und Genossen Mathieu<br />
Houle-Courcelles gelungen. 1999 begann er <strong>mit</strong> der<br />
Forschung zur Geschichte der anarchistischen Bewegung<br />
in der französischsprachigen Provinz Quebec.<br />
Die Ausgangslage war sehr dürftig. Vieles war<br />
nicht bekannt bzw. wurde von Historikern konkurrierender<br />
sozialistischer Strömungen nicht beachtet,<br />
von der offiziellen bürgerlichen Geschichtsschreibung<br />
gar nicht erst zu sprechen. Quebec war<br />
eine der reaktionärsten klerikal-katholischen Ecken<br />
Kanadas. Es waren vor der französischen Revolution<br />
geflohene erz-reaktionäre katholische Priester<br />
<strong>die</strong> Quebec ihren Stempel aufdrückten. Sie übten<br />
<strong>die</strong> Macht aus und verdammten freiheitliche Gedanken,<br />
Aufklärung und das Eintreten für bessere<br />
Lebens- und Arbeitsbedingungen gegen <strong>die</strong> „gottgewollte<br />
Ordnung“. Sie trafen sich dabei <strong>mit</strong> den<br />
Interessen von Kapitalisten, bürgerlichen Politikern<br />
und Regierung. Denn als <strong>die</strong> Arbeiterbewegung<br />
aufkam, Klassenbewusstsein entwickelte und<br />
<strong>die</strong> Ausbeutung und Besitzverhältnisse nicht nur in<br />
Frage stellte sondern in Form von gewerkschaftlicher<br />
Selbstorganisation und Streiks herausforderte<br />
erkannten <strong>die</strong>se Kräfte <strong>die</strong> potentielle Gefahr<br />
für ihre eigene Macht. Mathieu Houle-Courcelles<br />
beschreibt in den verschiedenen Kapiteln des<br />
Buches in chronologischer Abfolge anschaulich <strong>die</strong><br />
ersten Organisierungsbemühungen und Erfolge<br />
der Arbeiter, oftmals angeführt von Anarchisten,<br />
Syndikalisten und radikalen Humanisten wie z.B.<br />
Arthur Buies (1840-1901) in den 1860er Jahren bis<br />
hin zur Emigration einer Gruppe spanischer Anarchosyndikalisten<br />
der CNT, <strong>die</strong> in Revolution und<br />
Bürgerkrieg von 1936 gekämpft hatten und sich<br />
schließlich 1953 in Quebec niederließen.<br />
Einen zeitweiligen Höhepunkt erreichte <strong>die</strong> anarchistische<br />
Bewegung in Quebec <strong>mit</strong> der Zuwanderung<br />
jüdischer Arbeiterfamilien aus Osteuropa,<br />
<strong>die</strong> auf der Flucht vor antise<strong>mit</strong>ischen Gesetzen<br />
und Pogromen zu Ende des 19. Jahrhunderts auf<br />
den amerikanischen Kontinent kamen. Unter ihnen<br />
befand sich der aus der Bukowina stammende<br />
Anarchist Hirsch Hershmann (1876-1955), der 1903<br />
in Montreal schließlich <strong>die</strong> erste Anarchistische<br />
Buchhandlung eröffnete und <strong>die</strong> Zeitung „Der<br />
Telegrapher“ in jiddischer Sprache herausgab. Als<br />
„wichtigstes Organ jüdischer Anarchisten in Nordamerika“<br />
wurde aber <strong>die</strong> „Di FraYe ArBaYter<br />
SHtiMe“ (Die Freie Arbeiterstimme) aus New York<br />
vertrieben. Besonders unter den Textilarbeitern<br />
spielten <strong>die</strong>se jüdischen Arbeiteranarchisten eine<br />
aktive Rolle und führten erfolgreiche Streiks. Diese<br />
klassenbewussten Arbeiter waren dann auch<br />
<strong>die</strong>jenigen, welche <strong>die</strong> erste Demonstration zum<br />
1. Mai in der Geschichte Montreals im Jahr 1906<br />
initiierten. Die sprachlichen Probleme zwischen<br />
den migrierten Arbeitern und der einheimischen<br />
(Arbeiter)-Bevölkerung konnten bei solchen Gelegenheiten<br />
überwunden werden und führten zu<br />
einer gemeinsamen Aktion aller Lohnabhängigen.<br />
Und 1905 gründete sich in Montreal eine kämpferische<br />
Gewerkschaft der Industrial Workers of the<br />
World (IWW), <strong>die</strong>, wie Mathieu Houle-Courcelles<br />
detailliert darlegt, nicht nur von den Kapitalisten<br />
erbittert bekämpft wurde, sondern ebenso von der<br />
reformistischen Mehrheitsgewerkschaften AFL, in<br />
welcher zudem Sozialisten aktiv waren, <strong>die</strong> dem<br />
Syndikalismus ablehnend gegenüberstanden sowie<br />
katholischer klassenkampffeindlicher Gewerkschaften.<br />
Diesen gelang es <strong>die</strong> IWW zu marginalisieren.<br />
Das Buch zieht den schwarzen bzw. schwarzroten<br />
Faden bis in <strong>die</strong> 1960er Jahre fort und es ist<br />
schwer möglich alle relevanten Ereignisse an <strong>die</strong>ser<br />
Stelle aufzuführen. Stichpunkte sind der Generalstreik<br />
von 1912, <strong>die</strong> mehrmaligen öffentlichen Auftritte<br />
von Emma Goldmann und Rudolf Rocker in<br />
Montreal, der Widerstand gegen <strong>die</strong> Einführung<br />
der Wehrpflicht, <strong>die</strong> Streiks der Fischer und der Besuch<br />
des französischen Anarchisten Daniel Guerin<br />
in den 1950er Jahren. Hervorgehoben werden muss<br />
aber noch <strong>die</strong> 1925 erfolgte Gründung der Arbeiteruniversität,<br />
der „Universite Ouvriere“, einer von<br />
klassenbewussten Arbeitern selbst-organisierten<br />
Institution. Mit <strong>die</strong>ser wurde Aufklärung und Zugang<br />
zu Wissen für Arbeiterinnen und Arbeiter<br />
auf ein starkes Fundament gestellt. Die katholische<br />
Geistlichkeit wetterte gegen sie, <strong>die</strong> dortigen aufklärerischen<br />
Thesen und herausgegebenen Schriften<br />
und Mitglieder der katholischen Jugendorganisation<br />
überfielen das Gebäude und zerstörten Einrichtungsgegenstände.<br />
Das Buch liest man in einem Zug durch. Es<br />
ist ausgesprochen Faktenreich, gut geschrieben<br />
und veranschaulicht <strong>die</strong> alltäglichen Probleme<br />
und Kämpfe; es macht <strong>die</strong> Akteure des sozialen<br />
Kampfes lebendig. Langatmig fand ich nur <strong>die</strong><br />
Beschreibungen der Künstlergruppe der „Automatisten“<br />
– aber das ist sicherlich Geschmackssache.<br />
Zu Wünschen ist, das der Autor nachlegt. Die interessante<br />
Geschichte des Anarchismus in Quebec<br />
endet nicht 1960 sondern reicht bis zum heutigen<br />
Tag und geht weiter. Wie er in seiner Schlussbetrachtung<br />
ausführt, hat der Anarchismus in Quebec<br />
in den „letzten zehn Jahren einen beispiellosen<br />
Aufschwung erlebt und auf diverse soziale Bewegungen<br />
eingewirkt.“ Die letzten 50 Jahre warten<br />
also ebenfalls auf ihre Erforschung und Darstellung.<br />
Diese Forschung wird vom bürgerlich-kapitalistischen<br />
Wissenschaftsbetrieb in Kanada übrigens<br />
kaum beachtet und kritisch beäugt. Obwohl <strong>die</strong><br />
Quellen, <strong>die</strong> der Autor für seine Arbeit benutzte,<br />
gut belegt und dokumentiert sind, zählen sie dort<br />
offenbar nicht als Fakten, weil der Autor kein „stu<strong>die</strong>rter“<br />
Historiker ist. Was soll man aber auch<br />
anderes aus <strong>die</strong>sen Kreisen erwarten? Fest steht:<br />
Ohne ihn hätte wohl niemals <strong>die</strong> Erforschung des<br />
Anarchismus in Quebec stattgefunden. Denn; und<br />
das ist eine der Schlussfolgerungen nach dem Lesen<br />
des Buches; der Anarchismus wurde vom ersten<br />
Auftreten bis zum heutigen Tag entweder verschwiegen<br />
oder verleumdet und immer bekämpft.<br />
Mathieu Houle-Courcelles Schlusswort ist deshalb<br />
auch ein klarer Standpunkt: „Die Libertären können<br />
sich nur auf sich selbst verlassen, wenn sie <strong>die</strong><br />
Geschichte ihrer Bewegung entdecken und erzählen<br />
wollen.“ • Martin Veith<br />
53<br />
MA T H I E U HO U L E-CO U R C E L L E S:<br />
Auf den Spuren des<br />
Anarchismus in Quebec<br />
(1860-1960),<br />
ins Deutsche übersetzt<br />
von Fred Kautz,<br />
Edition AV,<br />
ISBN 978-3-86841-051-8,<br />
190 Seiten
058_rocker_kapp.cov.indd 1-2<br />
059_linow_arbeitsrecht.cov.indd 1-2<br />
17.07.2010 8:04:16 Uhr<br />
54<br />
Büchertisch • unsere Lese-Empfehlungen<br />
Veröffentlichungen des Archiv Karl Roche:<br />
• Mehrere Broschüren und Artikel und Texte Syndikat im A Internet<br />
Anarchosyndikalistischer Me<strong>die</strong>nvertrieb<br />
bismarckstrasse 41 a · d-47443 Moers | brd<br />
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58<br />
Syndikat A<br />
59<br />
Anarchosyndikalistischer Me<strong>die</strong>nvertrieb<br />
bismarckstrasse 41 a · D-47443 Moers | bRD<br />
bestelltelefon / Fax: +49 (0) 28 41 53 73 16<br />
E-Mail: syndikat-a@fau.org<br />
web: www.syndikat-a.de<br />
syndikat-a@fau.org · www.syndikat-a.de<br />
Folkert Mohrhof<br />
Der syndikalistische Streik<br />
auf dem Ozean-Dampfer<br />
‚Vaterland‘ 1914 ▲<br />
nur als <strong>pdf</strong>-verfügbar auf<br />
unserer Webseite<br />
Folkert Mohrhof<br />
▲ Strike Bike - Eine<br />
Belegschaft schreibt<br />
Geschichte<br />
nur als <strong>pdf</strong>-verfügbar auf der<br />
www.syndikalismus.tk-Webseite<br />
am 13. März 1920 versuchte <strong>die</strong> deutschnationale Rechte zum ersten<br />
Mal, sich an <strong>die</strong> Macht zu putschen. Dieser – nach einem seiner anführer<br />
„kapp-Putsch“ genannte – Staatsstreich brach bin nen einiger<br />
tage zusammen. Dazu wesentlich beigetragen hatte der bislang größte<br />
Generalstreik in der deutschen Geschichte und der bewaffente Wider<br />
stand von arbeitermilizen an vielen Orten. Nur we nige tage spä -<br />
ter jedoch hetzte <strong>die</strong> soeben gerettete Reichs regierung, <strong>die</strong> gleichen<br />
Putschtruppen gegen das Pro letariat u. a. des Ruhrgebietes. Unter iquismol oreriurerci tis nullam verit laore esto do commy niate conulluptat.<br />
der verantwortung des SPD-Ministers Noske schlu gen dessen rechtsextreme<br />
Freikorps <strong>die</strong> „Märzrevolution“ (titelbild) nieder und ver an-<br />
Uptat dolestrud tem vendre er adio od exerat. Se modo odolore magna ad<br />
stalteten ein blutbad unter den geschlagenen ar bei te rinnen. min utat, susciduis dionsequat, si.<br />
Der vorliegende text aus der Feder des bekannten deutschen anarcho-<br />
Syndikalisten Rudolf Rocker, wurde im archiv der schwedischen syndi<br />
kalistischen Gewerkschaft SaC (wieder)entdeckt. Da das deutschsprachige<br />
Manuskript für <strong>die</strong> schwedische broschüre „kapp-kuppen“<br />
verschollen ging, wurde es für <strong>die</strong> vorliegende broschüre aus dem<br />
Schwe dischen rück übersetzt. Eine historische Einordnung und umfang<br />
reiche Quellen und verweise runden <strong>die</strong>se deutschsprachige<br />
Erst ver öffentlichung des textes von Rudolf Rocker ab.<br />
EUR 2,50<br />
http://www.syndikat-a.de<br />
▲ Karl Roche-Texte 1919,<br />
70 Seiten, AKR - € 3,50<br />
<strong>barrikade</strong><br />
Ausgabe # 7<br />
November 2012<br />
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adipsum sandiat, commodit Der digna Kapp-Putsch<br />
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euguerat. Lan velestinisi. Eine Schilderung aus dem Deutschland<br />
der Noske-Diktatur<br />
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alisi.<br />
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Der Kapp-Putsch ▲<br />
Rudolf Rocker<br />
- rückübersetzter Test von<br />
1920, geschrieben für <strong>die</strong><br />
http://www.syndikat-a.de<br />
schwedische SAC<br />
Diese Ausgabe wurde von der<br />
ASG Hamburg-Altona finanziert<br />
Fritz Linow<br />
„ Wer <strong>die</strong> Macht hat,<br />
hat das Recht!“<br />
Gewerkschaftsbewegung<br />
und Arbeitsrecht<br />
59 SyndikAt A Me<strong>die</strong>nvertrieb<br />
18.07.2010 8:06:40 Uhr<br />
Wer <strong>die</strong> Macht hat hat das Recht!<br />
von Fritz Linow<br />
Einleitung: Zur Entstehungsgeschichte des Arbeitsrechts,<br />
Gewerkschaftsbewegung und Arbeitsrecht<br />
(FAUD-Broschüre aus dem Jahre 1928), Artikel in<br />
DIE INTERNATIONALE von 1928-1932: Gewerkschaftsbewegung<br />
und Arbeitsrecht, Klassenkampf<br />
und Sozialpolitik, Gewerkschaftliche Interessenvertretung<br />
und Arbeitsgerichtsbarkeit, Das Problem<br />
der „wirtschaftlichen Vereinigung“, Betrachtungen<br />
zum Gesetz über Arbeitsver<strong>mit</strong>tlung und Arbeitslosenversicherung,<br />
Haftung der Gewerkschaften bei<br />
Streiks, Das Arbeitszeitrecht, Gewerkschaftspolitik<br />
und Schlichtungswesen, Kollektivvertrag und direkte<br />
Aktion sowie Eine unmögliche Entscheidung<br />
des Reichsarbeitsgerichts<br />
▲ 64 Seiten A4-Großformat - Preis: 4,50 €<br />
ila 354, April 2012<br />
Anarchismus in Lateinamerika<br />
Der erste deutschsprachige Überblick über<br />
Geschichte und Gegenwart des lateinamerikanischen<br />
Anarchismus<br />
Ingesamt 14 Beiträge und Interviews zu<br />
den anarchistischen Bewegungen in Argentinien,<br />
Bolivien, Brasilien, Chile, Cuba, Mexiko und Uruguay<br />
den frühen Anarchafeministinnen<br />
dem wechselvollen Verhältnis der lateinamerikanischen<br />
Linken zum Staat<br />
dem Autor B. Traven in Mexiko<br />
dem Verhältnis von Zapatismus und Anarchismus<br />
den Kämpfen der heutigen sozialen Bewegungen um<br />
Selbstorganisation und Autonomie<br />
Die ila 354 hat 64 Seiten. Sie kann zum Preis von<br />
5,- Euro (+ 0,50 Euro Porto) bestellt werden bei:<br />
vertrieb@ila-bonn.de oder unter: www.ila-web.de<br />
Restexemplare # eins - € 2,--<br />
Die ersten fünf Ausgaben der <strong>barrikade</strong> - teilweise als <strong>pdf</strong> verfügbar<br />
Restexemplare # zwo - € 3,-- Exemplare # drei - € 3,50 Exemplare # vier - € 3,50<br />
<strong>barrikade</strong> # 8<br />
Der Streik jüdischer<br />
Schneider in London 1912<br />
RUDOLF ROCKERS Aufstieg zum<br />
anarchosyndikalistischen<br />
Agitator und Organisator der<br />
jiddischen Arbeiterklasse<br />
Exemplare # fünf - € 4,50<br />
FAUD gegen Allgemeine Arbeiter-Union 1921<br />
• Ideologische Auseinandersetzung<br />
zwischen Anarchosyndikalismus<br />
und rätekommunistischem Unionismus<br />
Nr. 2 • November 2009<br />
3,- Euro<br />
• Interview <strong>mit</strong> dem ICEA - Spanien<br />
• Der Konterrevolutionär StD. Dr. Joachim Paschen
arrikade sieben - April 2012<br />
55<br />
»Rettet <strong>die</strong> Produktion!« - UGT<br />
Kommunistische Partei: »Der Kommissar - Nerv unserer Volksarmee«<br />
(Grafi scher Bettrieb Grafi cos Valencia von UGT │ CNT) - Künstler: RE N A U<br />
»Ein Besoffener ist ein Parasit.<br />
Eliminiert ihn!«<br />
Das Amt für Öffentliche Ordnung von Aragon - gleiche Technik,<br />
zwei verschiedene Künstler (J.D.P. und Artel)<br />
»Der Müßiggänger<br />
ist ein Faschist«, 1937
• Für libertären Kommunismus & Rätedemokratie!<br />
# 7 - sieben<br />
Empfohlener Verkaufspreis: 5 €