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barrikade # 7 - Abrechnung mit Seidmans 'Gegen die Arbeit'.pdf

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•»Zur Betrachtung der Lage in Deutschland« 1947<br />

Hans Jü rg e n Degen über Ru d o l f Roc kers Ansichten<br />

zur anarchosyndikalistischen Nachkriegs-Bewegung<br />

• Kollektivbetriebe als ‚konstruktiver Sozialismus‘ - Teil II<br />

- Karl Ro c h e und <strong>die</strong> FVdG zum Genossenschaftswesen<br />

von 1910-1914<br />

- Rezension zu »Auf dem Weg - Gelebte Utopie<br />

einer Kooperative« - der CECOSESOLA aus Venezuela<br />

• Se i d m a n s Plakat-Märchen<br />

Eine <strong>Abrechnung</strong> <strong>mit</strong> Se i d m a ns »Gegen <strong>die</strong> Arbeit«<br />

Nr. 7 • April 2012 • 4,- Euro


2<br />

Plakate der<br />

CNT │ FAI und<br />

der IAA │ AIT<br />

während der<br />

Spanischen<br />

Revolution<br />

1936-39


arrikade<br />

Die <strong>barrikade</strong>-Prinzipien:<br />

► grundsätzliche Ablehnung des nach-faschistischen Arbeitsrechts<br />

und der da<strong>mit</strong> einhergehenden Regelementierung und Unterdrückung<br />

revolutionärer Betriebsarbeit, Gewerkschaften und der Arbeiterbewegung<br />

durch ein sozialpartnerschaftliches Betriebsverfassungsgesetz,<br />

Tarif-, Arbeits- und nachgeordnetes repressives Sozialrecht,<br />

► grundsätzliche Ablehnung von Betriebsrats-Arbeit und Abschluß<br />

von friedenspflichtigen Tarifverträgen, dagegen setzen wir gewerkschaftliche<br />

Betriebsgruppen, revolutionäre Vertrauens oder Obleute,<br />

Arbeiterräte und Betriebsvereinbarungen ohne Friedenspflicht,<br />

► Ziel ist der libertäre Kommunismus in Form der industriellen und<br />

kommunalen Selbstverwaltung durch ein föderalistisches, antistaatliches<br />

und antinationales Rätesystem,<br />

► der kapitalistischen Globalisierung von oben setzen wir <strong>die</strong> globale<br />

Klassensolidarität von unten entgegen – <strong>die</strong> Arbeiterklasse hat kein<br />

Vaterland, der Kampf des Proletariats ist nicht nur international, er<br />

ist antinational.<br />

Begriffsklärung:<br />

► Bar|ri|kade – ein Schutzwall im Straßenkampf, Straßensperre<br />

► Syn|di|ka|lis|mus – romanische Bezeichnung für revolutionäre Gewerkschaftsbewegung,<br />

ausgehend von der Charta von Amiens 1905<br />

und der CGT in Frankreich; Ziel ist eine sozialistische Neugestaltung<br />

der Gesellschaft auf gewerkschaftlicher Grundlage durch föderierte<br />

autonome Gewerkschaften und deren lokale Zusammenschlüsse über<br />

Arbeitsbörsen<br />

♦ Aktuelle Vertreter sind <strong>die</strong> schwedische SAC, diverse italienischen<br />

Basisgewerkschaften wie Unicobas, <strong>die</strong> spanische CGT, <strong>die</strong> französische<br />

SUD und verschiedene andere, sie bilden auch <strong>die</strong> so genannte<br />

FESAL (Europäische Förderation Alternativer Gewerkschaften) und können<br />

nicht (nicht mehr) als revolutionär bezeichnet werden.<br />

► Unio|nis|mus – revolutionärer Syndikalismus; amerikanische Variante<br />

ohne eindeutige politische Ausrichtung – Ziel ist <strong>die</strong> eine einheitlich-zentralistische<br />

Organisierung aller Arbeiterinnen und Arbeiter<br />

in Industriegewerkschaften, in Deutschland seinerzeit <strong>die</strong> Allgemeine<br />

Arbeiter-Union<br />

♦ Derzeit vertreten durch <strong>die</strong> I.W.W., der Industrial Workers of the World<br />

aus Nordamerika <strong>mit</strong> Mini-Sektionen in anderen Ländern.<br />

► Anar|cho|syn|di|ka|lis|mus – sozialrevolutionäre Bewegung auf gewerkschaftlicher<br />

Grundlage, entstanden aus der Kombination von anarchistischen<br />

Zielen und revolutionärem Syndikalismus; Ziel ist der<br />

libertäre Kommunismus in unterschiedlichen Formen<br />

♦ International vertreten durch <strong>die</strong> spanische CNT, <strong>die</strong> deutsche FAU,<br />

<strong>die</strong> italienische USI und andere Sektionen der Internationalen Arbeiter-Assoziation,<br />

der IAA.<br />

► Die höchste Stufe des revolutionären Syndikalismus ist für <strong>die</strong><br />

<strong>barrikade</strong> deshalb der Anarchosyndikalismus, da seine Ziele <strong>die</strong> am<br />

weitestgehenden sind. Da wir <strong>mit</strong> dem revolutionären Syndikalismus<br />

und Unionismus auch <strong>die</strong> Ideologien und Organisationswelt des<br />

Links- und Rätekommunismus berühren, behandeln wir <strong>die</strong>sen Themenbereich<br />

allerdings nur in inhaltlich-ideologischer Abgrenzung<br />

und zur Aufarbeitung <strong>die</strong>ser gescheiterten Konzepte der revolutionären<br />

Arbeiterbwegung. ♦<br />

impressum<br />

Herausgeber:<br />

Archiv Karl Roche<br />

Folkert Mohrhof • Grünebergstr. 81 • 22763 Hamburg • Tel./Fax: 040 - 880 11 61<br />

www.archiv-karl-roche.org ♦ www.muckracker.wordpress.com<br />

email: <strong>barrikade</strong>[at]gmx.org<br />

Abonnement: 4 Ausgaben - 15 €uro ♦ ab 5 Exemplaren Wiederverkäufer-Rabatt<br />

Empfohlener Verkaufspreis in der Kolportage: 4,-- €uro<br />

• Es gibt keine Buchpreisbindung!<br />

Bankverbindung: Folkert Mohrhof • GLS Bank Bochum<br />

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V.i.S.d.P.: Folkert Mohrhof • Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht<br />

unbedingt <strong>die</strong> Meinung des Herausgebers oder Verlegers wieder •<br />

• Druck: PS-Druck, München • Auflage: 200 Exemplare<br />

Für libertären Kommunismus & Rätedemokratie<br />

Die Kritik der Waffen<br />

ersetzt niemals <strong>die</strong><br />

Waffe der Kritik<br />

„ ... es handelt sich jedoch nicht darum, <strong>die</strong> Arbeit zu befreien,<br />

sondern sie aufzuheben.“<br />

• Karl Marx - MEW 3, S. 186<br />

M oin,<br />

<strong>die</strong> Diskussion um „<strong>die</strong> Arbeit“ respektive um den angeblich<br />

kollektiven Widerstand der Arbeiterschaft Barcelonas gegen<br />

eben <strong>die</strong>se, <strong>die</strong> eine denkwürdige Konstellation aus FAU- und<br />

wildcat-Genossen im Verlag der GraswurzelRevolution vom<br />

Zaun gebrochen hat, ist bei uns auf heftigen Widerspruch gestoßen.<br />

Wer 20 Jahre verspätet eine überflüssige Übersetzung des<br />

Seidman-Buches Gegen <strong>die</strong> Arbeit herausgibt, muß sich über heftige<br />

inhaltliche Gegenwehr nicht wundern.<br />

Wir bedanken uns bei Helen Graham für <strong>die</strong> Überlassung ihrer<br />

Rezensionen zu Workers against Work und Republic of Egos.<br />

Zu unserem II. Teil über Genossenschaften und ihren Wert<br />

als Element eines ‚konstruktiven Sozialismus‘ gehört auch <strong>die</strong><br />

Rezension zum venezolanischen Genossenschaftsverband CE-<br />

COSESOLA.<br />

• Wir freuen uns aufrichtig, daß uns der Genosse Hans Jürgen<br />

Degen seinen überarbeiteten Beitrag zu Rudolf Rockers Broschüre<br />

Betrachtungen zur Lage in Deutschland (erschinen 1947)<br />

zur Verfügung gestellt hat. Wir wünschen uns möglichst bald<br />

eine Neuauflage seines hervorragendes Werkes Anarchismus in<br />

Deutschland 1945-1960 - möge es einen Verlag finden. Wir drucken<br />

<strong>die</strong>sen Beitrag als „Appetithappen“ für <strong>die</strong>ses Buch ab. -<br />

Und weil auch Rudolf Rocker seinerzeit aus den USA <strong>die</strong> Lage<br />

in Deutschland noch viel zu rosig sah: Rocker hoffte, »daß <strong>die</strong><br />

alte Führungsgarde der Gewerkschaften entweder nicht mehr<br />

lebt oder zu alt sei und setzte auf <strong>die</strong> jüngeren Kräfte, <strong>die</strong> wahrscheinlich<br />

... „aus den bitteren Erfahrungen der letzten Vergangenheit<br />

etwas gelernt haben“ und <strong>mit</strong> „reiner Lohnpolitik“ keine Politik<br />

mehr machen würden« (Degen).<br />

Der erste und letzte DGB-Generalstreik fand 1948 statt und <strong>die</strong>se<br />

Mittel des Klassenkampfes wurde 1955 durch Urteil des Bundesarbeitsgerichts<br />

in Deutschland grundsätzlich verboten.<br />

Die Redaktion<br />

<strong>barrikade</strong> # 7 - April 2012<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Schwerpunkt:<br />

• Diskussion: Seidman und sein Gegen <strong>die</strong> Arbeit ............................ 4<br />

• Rezension von Helen Graham .......................................................... 5<br />

• D.A. de Santillán: Wirtschaftlicher Wiederaufbau ................... 9<br />

• D.A. de Santillán: Unser Werk der Neuschöpfung .............. 10<br />

• Wenn man genauer hinsieht, ist es ganz anders. ....................... 12<br />

• <strong>Seidmans</strong> Plakat-Märchen .................................................................. 17<br />

• Stalinistische Propaganda .................................................................. 20<br />

• Rezension zu <strong>Seidmans</strong> Republic of Egos ....................................... 22<br />

Karl Roche und <strong>die</strong> FVdG zu Genossenschaften 1910-1914 .... 26<br />

Über <strong>die</strong> Arbeitsbedingungen in einer SPD Genossenschaft .... 30<br />

• Protokoll der 3. Reichskonferenz der AAU 1920 ....................... 34<br />

• Noske und <strong>die</strong> Syndikalisten: Schutzhaft 1920 ........................... 39<br />

• Rudolf Rockers Betrachtungen zur Lage von 1947.................. 40<br />

Rezensionen ................................................................................................ 45<br />

Die nächste Ausgabe der <strong>barrikade</strong> erscheint im November 2012<br />

Mitstreiter/innen der <strong>barrikade</strong>: Fo l k e r t Mo h r h o f | Herausgeber • Jo n n i e Sc h l i c h t u n g | Übersetzung,<br />

Rezensent • Ha n s Jü r g e n De g e n | Autor • Ma r t i n Ve i t h | Rezensent •<br />

Ha n s Ha n f s t i n g l │ Rezensent • Helen Graham │ Rezensentin •<br />

Titelfoto: thanks to http://theanvilreview.org/ (USA) • Rückseite: Spanien 1936 │ CNT-AIT Valencia<br />

3


4<br />

Diskussion:<br />

Gegen <strong>die</strong> Arbeit?<br />

Worum es uns geht<br />

Die Diskussion um „<strong>die</strong> Arbeit“ hat zu<br />

heftigen Auseinandersetzungen geführt: <strong>die</strong><br />

Heraus-geber des Buches von Michael Seidman<br />

werfen Kritikern des Buches vor, das „wissenschaftliche<br />

Renomée“ des US-Professors Seidman<br />

in Frage zu stellen oder gar beschädigen<br />

zu wollen. Wie unsachlich lächerlich!<br />

Wer Zitate fälscht, aus dem Zusammenhang<br />

reißt und sich letztlich rühmt, keine<br />

„historische Aufarbeitung“ der Spanischen<br />

Revolution und ihrer Niederlage leisten zu<br />

wollen, der ist uns suspekt.<br />

Es ist auch mehr als bezeichnend, warum in<br />

fast keinem (!) der uns bekannten spanischen<br />

Auseinandersetzungen um <strong>die</strong> geschichtliche<br />

Bedeutung und Hintergründe des Bürgerkrieges<br />

und der Sozialen Revolution <strong>die</strong> als<br />

Buch erschienen sind - <strong>die</strong> Positionen des<br />

umtriebigen Professors Michael Seidmann<br />

übernommen wird.<br />

Aufgesetzt wirkt auch der an den Haaren herbeigezogene Zusammenhang, daß „innerhalb der FAU und der<br />

libertären Öffentlichkeit <strong>die</strong> Diskussion um Arbeiterselbstverwaltung“ einen neuen Schub erhalten haben soll, „als<br />

der Historiker Michael Seidman im Oktober 2011 anlässlich der deutschen Erstübersetzung seiner bereits 1991 unter<br />

dem Titel Workers against Work erschienenen Stu<strong>die</strong> über <strong>die</strong> Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-39“<br />

(Leitartikel in der FAU-direkte aktion # 210 vom März/April 2012) vorstellte.<br />

Wir bringen nachfolgend einige Beiträge, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> <strong>Seidmans</strong> Stu<strong>die</strong> befassen.<br />

Aber festhalten, es wird kritisch!<br />

• SEIDMANs Plakat-Märchen - <strong>mit</strong> vielen Beispielen<br />

• HELEN GRAHAMS Rezension aus der IISG-Zeitschrift International Review of Social History (1992)<br />

• Rezension von HELEN GRAHAM zu Seidman weiterem Spanien-Buch Republic of Egos (2003)<br />

• Über SEIDMANS Zitat-Manipulationen anhand von D.A. DE SANTILLÁN Originaltexten<br />

Was will Seidman wirklich? Statt <strong>die</strong> Revolution zu verteidigen, für den libertären Kommunismus zu<br />

kämpfen und dafür Plakate wie »Rettet <strong>die</strong> Produktion!« zu kleben, hätten <strong>die</strong> anarchistischen<br />

Revolutionäre wohl <strong>die</strong> Arbeiterklasse besser auffordern sollen, sich Franco zu unterwerfen und auf <strong>die</strong><br />

»schöne neue Welt« des Faschismus <strong>mit</strong> Konsum und Arbeit zu hoffen ...


arrikade sieben - April 2012<br />

» ... ein interessantes, aber zutiefst unzulängliches Buch«<br />

5<br />

Redaktionelle Vorbemerkung<br />

Helen Grahams Rezension der Originalausgabe<br />

von Michael <strong>Seidmans</strong> Buch »Gegen <strong>die</strong> Arbeit« – <strong>die</strong><br />

wir hier erstmals in deutscher Übersetzung vorlegen<br />

– erschien 1992 in der Zeitschrift des Amsterdamer<br />

Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis<br />

(IISG) [1]. Seidman erwähnt in dem Manuskript<br />

des Vortrags, den er zur Vorstellung der deutschen<br />

Übersetzung seines Buches im Oktober 2011 in verschiedenen<br />

deutschen Städten hielt, und der in der<br />

»graswurzelrevolution« und im Internet veröffentlicht<br />

wurde [2], <strong>die</strong>se Rezension in Anmerkung 8<br />

seines Vortragsmanuskripts – eigentümlicherweise<br />

aber allein im Zusammenhang <strong>mit</strong> den Ȋlteren<br />

Schwestern« einer »neue[n] Generation von Feministinnen«:<br />

<strong>die</strong>se »älteren Schwestern« hätten »dem<br />

Buch anfangs recht kritisch gegenüber gestanden«,<br />

während <strong>die</strong> »neue Generation (…) <strong>die</strong> Anerkennung<br />

zu schätzen« wußte, »<strong>die</strong> Gegen <strong>die</strong> Arbeit der besonderen<br />

Rolle der Frauen als Widerständlerinnen entgegenbrachte,<br />

insbesondere ihren hohen Fehlzeiten und ihrer<br />

relativ geringen Identifikation <strong>mit</strong> dem Arbeitsplatz«.<br />

Michael Seidman unterstellt da<strong>mit</strong> offenbar, daß<br />

Helen Grahams Kritik sich auf seine Beschreibung<br />

der Rolle der Frauen im Kampf »gegen <strong>die</strong> Arbeit«<br />

konzentrieren würde – ein Aspekt, den sie, wie hier<br />

unschwer nachzulesen ist, lediglich in ein paar Sätzen<br />

abhandelt.<br />

Karl HeinZ Roth und Marcel Van der Linden<br />

ignorieren Helen Grahams Rezension in ihrem<br />

Vorwort zu der deutschen Ausgabe [3] von <strong>Seidmans</strong><br />

Buch übrigens völlig, obwohl sie diverse Kritiken<br />

der ersten Ausgabe aus dem akademischen<br />

Spektrum anführen. Diese schätzen sie durchgängig<br />

ein als »eher ratlos« oder »Randprobleme« – wie »eine<br />

mögliche Überschätzung der Stärke der französischen<br />

Bourgeoisie oder <strong>die</strong> mangelnde Berücksichtigung komplementärer<br />

Stu<strong>die</strong>n über den Arbeiterwiderstand in der<br />

Sowjetunion« – diskutierend, oder daß sie »Anstoß<br />

an der explizit betonten Konfrontationsstellung, <strong>die</strong><br />

Seidman gegenüber den dominierenden – modernisierungstheoretischen<br />

und marxistischen – Strömungen<br />

der Arbeitergeschichtsschreibung« nehmen werden.<br />

J.S.<br />

Helen Graham<br />

» ... ein interessantes, aber<br />

zutiefst unzulängliches Buch«<br />

Rezension von<br />

• Seidman, Michael. Workers Against Work. Labor<br />

in Paris and Barcelona During the Popular Fronts.<br />

University of California Press, Berkeley 1991.399<br />

pp.<br />

Dies ist ein interessantes, aber zutiefst unzulängliches<br />

Buch. Seine Unzulänglichkeit ergibt sich aus<br />

der tatsächlichen Unvergleichbarkeit des Projektes,<br />

das für ein sehr ungleiches Niveau der Analyse<br />

sorgt. Um fair zu sein – das hier erkannte Problem<br />

hängt eng <strong>mit</strong> dem komparativen ‚Genre‘ selbst<br />

zusammen. In dem Versuch eines Vergleiches von<br />

Paris und Barcelona illustriert Michael Seidman <strong>die</strong><br />

extreme Schwierigkeit, durch Gebrauch des selben<br />

Begriffes – Volksfront – Situationen zu beschreiben,<br />

<strong>die</strong>, obwohl sie in der gleichen zeitlichen Periode<br />

existierten, sehr unterschiedliche politische<br />

Umstände und sozioökonomische Strukturen repräsentierten.<br />

Im Ergebnis erscheinen sowohl <strong>die</strong><br />

Vergleiche wie Unterscheidungen, <strong>die</strong> der Autor<br />

macht, gezwungen und manchmal schlicht banal.<br />

Die Struktur, <strong>die</strong> Dr. Seidman wählt, weist direkt<br />

auf <strong>die</strong>se Schwierigkeit hin. Wir bekommen keinen<br />

wirklicher Vergleich, sondern zwei mehr oder weniger<br />

getrennte Stu<strong>die</strong>n in einem Band. Während<br />

der Autor vergleichende Elemente in seiner Analyse<br />

der spanischen und französischen Bourgeoisie<br />

liefert, erzählt er tatsächlich zwei Geschichten, <strong>die</strong><br />

den Abgrund aufzeigen, der zwischen den beiden<br />

nationalen Erfahrungen hinsichtlich der ökonomischen<br />

Entwicklung wie der kulturellen Projekte<br />

klafft. Obwohl sie eine intelligente Synthese darstellen,<br />

illustrieren <strong>die</strong>se Abschnitte tatsächlich <strong>die</strong> offensichtliche<br />

Art und Weise, auf der <strong>die</strong> Ebenen der<br />

ökonomischen und industriellen Entwicklung eine<br />

entscheidende Determinante der kapitalistischen<br />

Praxis sind (wobei Forderungen des Staates hier<br />

eingeschlossen sind). Die unterschiedlichen Antworten<br />

der französischen und spanischen Arbeiterorganisationen<br />

wiederum demonstrieren, wie<br />

ein komplexerer Staat, der eine größere Bandbreite<br />

von verführerischen im Gegensatz zu repressiven<br />

Mitteln zur Verfügung hat, <strong>die</strong> Strategien, <strong>die</strong> bei<br />

der ökonomischen Selbstverteidigung der Arbeiter<br />

zur Anwendung kommen, bemerkenswert verändert.<br />

Die französische Strategie der Integration<br />

oder Kooptierung der Arbeit durch Konsum war<br />

aus grundlegenden ökonomischen Gründen in<br />

Spanien nicht möglich, ungeachtet reformistischer<br />

Gewerkschaftsführer. Obwohl auch im Falle Frankreichs,<br />

wie <strong>die</strong> Ereignisse um den gescheiterten<br />

Generalstreik vom 30. November 1938 demonstrieren,<br />

hinter Sozialprojekten und -gesetzgebungen<br />

<strong>die</strong> Gewalt als eine Option für Kapital und Staat<br />

bestehen blieb.<br />

Der Schwerpunkt der Stu<strong>die</strong> Michael <strong>Seidmans</strong><br />

ist, wie der Titel anzeigt, <strong>die</strong> Frage des Arbeiterwiderstandes<br />

gegen <strong>die</strong> Arbeit. Er argumentiert, daß<br />

<strong>die</strong>se Reaktion im Kern <strong>die</strong>selbe Bedeutung hat, ob<br />

sie nun im Kontext einer relativen Stabilität für das<br />

Kapital oder einem Übergangsregime des Klassengleichgewichts,<br />

wie sie <strong>die</strong> französische Volksfront<br />

war, oder ob sie sogar in einer Zeit einer potentiell<br />

radikaleren sozialen und ökonomischen Transformation,<br />

wie sie das Proletariat Barcelonas während<br />

des Krieges erlebte, stattfindet. Die ArbeiterInnen<br />

werden ohne Rücksicht auf <strong>die</strong> spezifischen historischen<br />

Bedingungen betrachtet, wie sie gegen<br />

produktivistische Versuche reagieren, eine größere<br />

Disziplin und ein schnelleres Arbeitstempo einzuführen<br />

– ob <strong>die</strong>se nun vom Kapital herrühren oder<br />

von ihren eigenen Gewerkschaftsorganisationen.<br />

Die Symptome <strong>die</strong>ses Widerstandes – Absentismus,<br />

Sabotage, Langsamarbeiten und andere Arten<br />

der Zeitverschwendung – sind das Produkt von<br />

Entfremdung, Monotonie, von der Tatsache, daß<br />

ihre Arbeit sinnentleert ist (besonders, sobald <strong>die</strong><br />

tayloristische Dequalifizierung und Teilung komplexer<br />

Prozesse einsetzt). Ob <strong>die</strong>s eine adäquate<br />

Methode ist, Arbeiterwiderstand quer durch eine<br />

Vielzahl historischer Situationen zu interpretieren,<br />

ist ein Punkt, auf den später in <strong>die</strong>ser Besprechung<br />

eingegangen wird. Aber indem er so argumen-<br />

MI C H A E L SE I D M A N<br />

Gegen <strong>die</strong> Arbeit<br />

Verlag der<br />

Graswurzelrevolution,<br />

2011<br />

Wir empfehlen dringend:<br />

An Anarchist Story<br />

Ethel MacDonald<br />

http://www.youtube.com/<br />

watch?v=Wvs4M7Y8CVc<br />

und:<br />

http://potyomkinproducciones.wordpress.com/<br />

suenos-colectivos-2011/


6<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

tiert, suggeriert Dr. Seidman, daß andere Ansätze<br />

der Analyse der Arbeit <strong>die</strong>se von ihm behandelten<br />

Strategien des Widerstandes ignoriert haben. Das<br />

ist eine etwas überzogene Argumentation. Über<strong>die</strong>s<br />

zu behaupten, daß <strong>die</strong> marxistische Analyse<br />

solch ein Phänomen ignoriert, weil sie auf den<br />

Arbeitsplatz als »einen potentiellen Bereich für <strong>die</strong><br />

Emanzipation« fokussiert, wo <strong>die</strong> »Arbeiter sich<br />

<strong>mit</strong> ihrem Beruf identifizieren«, scheint irgendwie<br />

das Konzept der Entfremdung phänomenal aus<br />

dem Blick verloren zu haben.<br />

Eine Gesellschaft, <strong>die</strong><br />

für den Fortschritt<br />

kämpft,<br />

wird durch äußeren<br />

Angriff<br />

auf Schwierigkeiten<br />

stoßen auf das reine<br />

Überleben beschränkt<br />

bleiben,<br />

was der Angreifer<br />

wiederum als Beweis<br />

der Unmöglichkeit des<br />

sozialen Fortschrittes<br />

anführt.<br />

• EDuarDo Galeano<br />

Graham, Helen<br />

Reclam Universal-<br />

Bibliothek, 2008,<br />

Nr. 17055,<br />

231 S. m. 23 Abb.<br />

Obwohl er keine politische Geschichte verfassen<br />

will, stellt Michael <strong>Seidmans</strong> Versuch, <strong>die</strong> französischen<br />

und spanischen Erfahrungen zu vergleichen,<br />

unausweichlich <strong>die</strong> Frage nach der unterschiedlichen<br />

Verfassung der beiden Volksfronten<br />

in der untersuchten Periode. Und <strong>die</strong>s war zudem<br />

eine Differenz, <strong>die</strong> sich aus entscheidenden sozialen<br />

und ökonomischen Unterschieden ergab.<br />

Der Staatsstreich des Militärs und <strong>die</strong> versuchte<br />

Revolution in Spanien sahen den Untergang des<br />

liberalen Republikanismus, der immer ein konstituierendes<br />

Element der französischen Erfahrung<br />

war. Als im Mai 1937 <strong>die</strong> spanische Volksfront<br />

komplett Wiedererstand, um einen rekonstruierten<br />

republikanischen Staat anzuführen, drehte sie sich<br />

um eine neue, sozialistisch-kommunistische Achse.<br />

Indem er Barcelona als Vergleich wählt, das einzige<br />

Gebiet in Spanien, in dem <strong>die</strong> Republikaner in der<br />

Gestalt der Esquerra es schafften, an der Macht zu<br />

bleiben, verschleiert der Autor <strong>die</strong>se Problematik.<br />

Aber dadurch riskiert er es, bei nichtspezialisierten<br />

LeserInnen den Eindruck zu hinterlassen, daß Barcelona<br />

ein Mikrokosmos der spanischen Volksfront<br />

sei, während Cataluña als Region eine sehr große<br />

Ausnahme darstellte.<br />

Barcelona ist für Dr. Seidman der Sitz der »spanischen<br />

Revolution«. Obwohl der Autor niemals<br />

seine Begriffe angemessen definiert, wird <strong>die</strong>ser<br />

Ausdruck als Kürzel für den Prozeß der komplexen<br />

politischen und sozio-ökonomischen Reorganisation<br />

gebraucht, der in den ersten zehn Monaten des<br />

Krieges stattfand. Aber es gibt da ein fundamentales<br />

Problem. Diese Monate sahen eine dramatische<br />

Verschiebung des Ortes der Macht, als das<br />

Potential für eine Volksrevolution rapide ero<strong>die</strong>rt<br />

wurde durch <strong>die</strong> Strategien des in Erscheinung tretenden<br />

Volksfront-Blocks der Politiker der Mitte<br />

und der linken Mitte und der reformistischen Gewerkschaftsführer.<br />

Die Tatsache, daß Dr. Seidman<br />

keine politische Geschichte schreibt, entbindet ihn<br />

nicht davon, für inadäquate Begriffsbestimmungen<br />

kritisiert zu werden, denn <strong>die</strong> politischen Entwicklungen,<br />

<strong>die</strong> am Rande seiner Stu<strong>die</strong> verbleiben, hatten<br />

direkten Einfluß auf <strong>die</strong> Leben der spanischen<br />

ArbeiterInnen, von denen er behauptet, sie seien<br />

<strong>die</strong> ProtagonistInnen seiner Untersuchung. Die<br />

wichtigste <strong>die</strong>ser Entwicklungen war offensichtlich<br />

das Scheitern der Revolution. Deren Einflüsse<br />

auf das Proletariat von Barcelona werden in <strong>die</strong>ser<br />

Rezension später betrachtet, im Zusammenhang<br />

<strong>mit</strong> der Frage des Arbeiterwiderstandes gegen <strong>die</strong><br />

Arbeit. Wie auch immer, man muß sich <strong>mit</strong> Dr.<br />

<strong>Seidmans</strong> Verständnis von dem auseinandersetzen,<br />

was <strong>die</strong> spanische Revolution konstituierte. Seine<br />

Stu<strong>die</strong> unterstellt sechs Monate revolutionärer Veränderung,<br />

gegen <strong>die</strong> sich beachtliche Teile der arbeitenden<br />

Klasse dickköpfig unzugänglich zeigten.<br />

Aber <strong>die</strong> Revolution war im Herbst 1936 gescheitert,<br />

eben weil <strong>die</strong> Basis der Staatsmacht nicht<br />

von den Kräften zerstört worden war, von denen<br />

zu erwarten gewesen wäre, daß sie genau <strong>die</strong>se<br />

Avantgardefunktion erfüllen würden. (Die marxistisch-leninistische<br />

POUM war zu schwach, und<br />

<strong>die</strong> libertäre Bewegung war fatal behindert durch<br />

organisatorische Spaltungen und ideologische Unzulänglichkeiten<br />

(sie hatte keine angemessene Theorie<br />

vom Staat).) Die CNT mag <strong>die</strong> Straßen von Barcelona<br />

kontrolliert haben, aber das bedeutete kaum<br />

den Sieg der Revolution. Daß <strong>die</strong> Libertären beides<br />

1936 verwechselten ist verständlich, nicht aber,<br />

daß Dr. Seidman <strong>die</strong>s stillschweigend 1990 macht.<br />

Und selbst wenn eine unproblematisch puristische<br />

CNT-Führung existiert hätte, so wäre sie isoliert<br />

worden durch den verbissenen Reformismus und<br />

<strong>die</strong> Staatsgläubigkeit von Largo Caballeros[4] sozialistischem<br />

Riesen, der UGT, <strong>die</strong> sich weigerte,<br />

jegliche Form von Gewerkschafts-Bündnis in Erwägung<br />

zu ziehen, bis es schließlich zu spät dafür<br />

war, um noch irgendeine autonome politische<br />

Funktion zu erfüllen. Und was <strong>die</strong> UGT betrifft, so<br />

muß man schlicht sagen, daß Dr. Seidman ihre Natur<br />

und Dynamik in den 1930ern mißversteht. Er<br />

nennt sie »revolutionär« und »radikal«, um sie von<br />

den reformistischen französischen Gewerkschaften<br />

abzusetzen. Tatsächlich war es nur der polarisierte<br />

Kontext, kombiniert <strong>mit</strong> einer revolutionären<br />

Rhetorik, der der UGT einen Anstrich von Radikalismus<br />

gaben. Die wesentliche Erfahrung <strong>mit</strong> der<br />

sozialistischen Bewegung in den 1930ern – Partei<br />

und Gewerkschaft, Sozialdemokraten und »Linkssozialisten«<br />

– ist, daß sie sich als ausgesprochen<br />

reformistische Macht offenbarte. Dr Seidman hätte<br />

besser daran getan, auf <strong>die</strong> signifikanten Ähnlichkeiten<br />

zwischen Marceau Pivert [5] und Francisco<br />

Largo Caballero zu achten – hinsichtlich der revolutionären<br />

Rhetorik und der reformistischen Praxis.<br />

Stattdessen vertraut der Autor auf eine Anzahl<br />

abgeschmackter Klischees über <strong>die</strong> Radikalisierung<br />

des Letzteren.<br />

Der grundlegende Einwand der Rezensentin gegen<br />

<strong>die</strong>se Stu<strong>die</strong> ist allerdings, daß Michael Seidman<br />

zur Stützung der Vergleiche, <strong>die</strong> er anzustellen<br />

versucht, weitgehend und durchgängig <strong>die</strong> große<br />

Belastung herunterspielt, <strong>die</strong> sich daraus ergab,<br />

daß sich <strong>die</strong> spanische Republik im Krieg befand.<br />

Sie kämpfte nicht nur gegen <strong>die</strong> heimischen Feinde<br />

und ihre faschistischen Unterstützer ums Überleben,<br />

sondern auch gegen das politische und ökonomische<br />

Establishment des demokratischen Europas<br />

und Nordamerikas (das von Anfang bis Ende<br />

<strong>die</strong> kapitalistische Kreditwürdigkeit der Republik<br />

als ernsthaft inadäquat einschätzte). Die Nicht-<br />

Intervention beinhaltete eine zermürbenden Wirtschaftskrieg.<br />

Die sich daraus ergebenden Bedingungen<br />

der Belagerung hatten eine verheerenden<br />

Effekt auf <strong>die</strong> Produktionskapazität der Republik<br />

und so<strong>mit</strong> auf <strong>die</strong> Lebenserfahrung der arbeitenden<br />

Klasse, sowohl innerhalb wie außerhalb des<br />

Arbeitsplatzes. Die materiellen Bedingungen des<br />

täglichen Leben verfielen schnell, und <strong>die</strong>s beeinflußte<br />

auch das Verhalten vieler ArbeiterInnen.<br />

An verschiedenen Punkten der Fallstu<strong>die</strong> zu Barcelona<br />

springt der Autor zwischen Beispielen aus<br />

den Jahren 1936 und 1938. Wir erfahren, daß einige<br />

ArbeiterInnen 1936-1937 abkömmlich oder nicht<br />

gebunden waren, daß andere 1938 versuchten,<br />

sich der Einberufung zu entziehen, während <strong>die</strong>-


arrikade sieben - April 2012<br />

jenigen, <strong>die</strong> in den späteren Phasen des Krieges<br />

einberufen wurden, demoralisiert waren. Aber all<br />

<strong>die</strong>s ist dekontextualisiert [6], es gibt kaum einen<br />

Bezug auf den heftigen Verfall, der den materiellen<br />

und psychologischen Zustand des republikanischen<br />

Spanien zwischen <strong>die</strong>sen Daten betraf. Es<br />

reicht einfach nicht, <strong>die</strong> sich ähnelnden Symptome<br />

der Distanzierung der ArbeiterInnen (in Barcelona<br />

vor und nach dem Putsch und in Paris) zu katalogisieren.<br />

Denn ohne mehr Informationen über das<br />

größere soziale und politische Umfeld, das <strong>die</strong> Reaktionen<br />

der Arbeiterklasse geformt hat, können<br />

wir nicht von einer monolithischen Erscheinung<br />

von Arbeiterwiderstand sprechen, wie es der Autor<br />

so oft zu unterstellen scheint. Die Geschichte der<br />

Arbeit, und <strong>die</strong> des Widerstandes dagegen, muß<br />

mehr behandeln als nur <strong>die</strong> Arbeit.<br />

Nach Ansicht <strong>die</strong>ser Rezensentin untertreibt<br />

Dr. Seidman außerdem gewaltig den Einfluß des<br />

Krieges auf das Eintreten der CNT für den Produktivismus.<br />

Tatsächlich übertreibt er bei seinem Versuch,<br />

<strong>die</strong>s als eine Konstante libertärer Ideologie<br />

zu behaupten, den produktivistischen Glauben der<br />

Bewegung in der Vorkriegsperiode und bauscht<br />

ihre unkritische Akzeptanz des Quasi-Taylorismus<br />

auf. Genau so schief ist <strong>die</strong> Analyse der Absicht der<br />

Libertären, <strong>die</strong> nationalen Produktivkräfte auf eine<br />

Art zu entwickeln, <strong>die</strong> sie von der Kontrolle durch<br />

fremde Investoren befreit. Dies wird als Konflikt<br />

zwischen theoretischem Internationalismus und<br />

nationalistischer Praxis beschrieben. Sicherlich gab<br />

es ernsthafte Inkonsistenzen und Mängel in der libertären<br />

Ideologie – <strong>die</strong>s war einer der Gründe für<br />

<strong>die</strong> Krise im Krieg, von der sich <strong>die</strong> Bewegung niemals<br />

wirklich erholt hat. Aber <strong>die</strong> libertäre Antwort<br />

so zu beschreiben bedeutet, den Punkt zu verfehlen.<br />

Produktivismus und Ermahnung zur nationalen<br />

mus garnicht existiert.<br />

Selbstversorgung waren<br />

<strong>die</strong> unausweichliche<br />

pragmatische Antwort<br />

auf das, was in einer<br />

kapitalistischen Belagerung<br />

gipfelte, <strong>die</strong> nicht<br />

dadurch weniger effektiv<br />

war, daß ihre Existenz<br />

übertüncht wurde.<br />

Indem er den libertären<br />

Produktivismus betont,<br />

scheint es Dr. <strong>Seidmans</strong><br />

Hauptanliegen zu sein,<br />

zu zeigen, daß der katalanische<br />

Anarcho-<br />

Syndikalismus weder<br />

puristisch noch millenaristisch[7]<br />

war. Er<br />

schreibt so, als ob er hier<br />

eine heutige Orthodoxie<br />

herausfordere, während<br />

ein solcher Reduktionis-<br />

Der Autor erklärt von Anfang an, daß seine<br />

Schrift keine politische Stu<strong>die</strong> der Spanischen Revolution<br />

sei – und tatsächlich wiederholt er, wenn<br />

auch etwas vage, den ganzen Text hindurch, daß<br />

<strong>die</strong> politischen Kategorien der »meisten Historiker«<br />

unzulänglich sind, um uns zu erlauben, ihre wahre<br />

Natur als eine gelebte Erfahrung zu verstehen.<br />

Dr. Seidman weist auf einen berechtigten Punkt<br />

hin. Wir müssen sicherlich eine ganze Reihe öffentlicher<br />

Äußerungen (Reaktionen) untersuchen, um<br />

den Grad des Einflusses zu verstehen, den <strong>die</strong> radikalen<br />

sozialen und ökonomischen Veränderungen<br />

hatten, <strong>die</strong> für kurze Zeit im republikanischen<br />

Spanien versucht wurden. Und gegenwärtige<br />

Arbeiten, oftmals durch den Gebrauch unschätzbarer<br />

mündlicher Quellen, tragen viel zur Erstellung<br />

eines nuancierteren Bildes von Klassen- und<br />

Geschlechterverhalten in dem Spanien der 1930er<br />

Jahre bei, einer Periode der Mobilisierung und des<br />

Überganges. Aber <strong>die</strong> Tatsache bleibt bestehen,<br />

daß Michael <strong>Seidmans</strong> Stu<strong>die</strong> nicht <strong>die</strong> Ziele erreicht,<br />

<strong>die</strong> er für sie angibt. Sie ver<strong>mit</strong>telt ganz sicher<br />

keinen Einblick in <strong>die</strong> »gelebte Erfahrung der<br />

Arbeiter« (weder am Arbeitsplatz noch außerhalb<br />

davon). Dies liegt weitgehend an der reinen Unvergleichbarkeit<br />

der Untersuchung. Dr. Seidman<br />

zielt auf eine viel zu weite Abdeckung, und zumindest<br />

auf der spanischen Seite tappt er regelmäßig<br />

in <strong>die</strong> Falle der oberflächlichen und skizzenhaften<br />

Analyse. Die Untersuchung zu Barcelona ist außerordentlich<br />

undurchsichtig. Man gewinnt kaum<br />

Kenntnisse über <strong>die</strong> Determinanten der Reaktionen<br />

der ArbeiterInnen – ob <strong>die</strong>se Demoralisierung, Passivität<br />

oder politisches Engagement ausdrückten.<br />

Die plumpe Verneigung en passant vor dem ‚Apoli-<br />

7<br />

Anmerkungen:<br />

[1] International Review<br />

of Social History, Vol. XXX-<br />

VII, 1992, S. 276 – 281<br />

[2] Gegen <strong>die</strong> Arbeit.<br />

Michael Seidman über <strong>die</strong><br />

Arbeiterkämpfe in Barcelona<br />

und Paris 1936-38;<br />

in: graswurzelrevolution<br />

Nr. 363, November 2011<br />

(http://www.graswurzel.<br />

net/363/seidman.shtml)<br />

[3] http://www.labournet.<br />

de/diskussion/geschichte/<br />

seidman.<strong>pdf</strong><br />

[4] http://de.wikipedia.org/<br />

wiki/Largo_Caballero<br />

[5] http://de.wikipedia.org/<br />

wiki/Marceau_Pivert<br />

[6] aus dem Zusammenhang<br />

gerissen<br />

[7] dem Glauben an ein<br />

(para<strong>die</strong>sisches) ‚tausendjähriges<br />

Reich auf Erden‘<br />

anhängend<br />

[8] vergl. <strong>die</strong> gegenwärtige<br />

(April 1991) Ausstellung<br />

republikanischer und<br />

nationalistischer Plakate,<br />

Biblioteca Nacional,<br />

Madrid [Anm. von Helen<br />

Graham]<br />

Erklärungen:<br />

dekonstruktieren =<br />

aus dem Zusammenhang<br />

reißen


8<br />

HE L E N GR A H A M<br />

(Jahrgang 1959) ist heute<br />

Professorin für Spanische<br />

Geschichte an der Royal<br />

Holloway University of<br />

London und eine der<br />

führenden britischen<br />

HistorikerInnen für <strong>die</strong> Geschichte<br />

des spanischen<br />

Bürgerkrieges, des uncivil<br />

peace der 40er Jahre und<br />

der Sozial- und Kulturgeschichte<br />

Spaniens der<br />

30er und 40er Jahre des<br />

20. Jahrhunderts. Beim<br />

Erscheinen ihrer Rezension<br />

1992 hatte sie zwei<br />

Werke zu dem Thema, das<br />

auch Seidman behandelt,<br />

publiziert: zusammen <strong>mit</strong><br />

Martin S. Alexander The<br />

French and Spanish Popular<br />

Fronts: Comparative<br />

Perspectives (Cambridge<br />

1989 [Cambridge University<br />

Press]) und Socialism<br />

and War. The Spanish Socialist<br />

Party in Power and<br />

Crisis 1936-1939 (Cambridge<br />

1991 [Cambridge<br />

University Press]).<br />

Weitere Informationen (auf<br />

Englisch) fi nden sich auf<br />

der Seite der Royal Holloway<br />

University of London<br />

(http://pure.rhul.ac.uk/<br />

portal/en/persons/helengraham_8fc507aa-5638-40beada7-b3865d4689b5.html)<br />

und der englischsprachigen<br />

Wikipedia<br />

(http://en.wikipedia.<br />

org/wiki/Helen_<br />

Graham_%28historian%29).<br />

Wir verweisen außerdem<br />

auf ein Interview von<br />

Helen Graham, das in der<br />

von den Veteranen der<br />

Lincoln-Brigade begründeten<br />

Zeitschrift »The<br />

Volonteer« (März 2011)<br />

erschien<br />

(http://www.albavolunteer.<br />

org/2010/03/the-war-beforethe-lights-went-out-an-interview-with-helen-graham/).<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

tizismus‘ der Frauen wäre besser ausgelassen worden,<br />

ebenso der kurze Streifzug des Autors über<br />

<strong>die</strong> Darstellung von Frauen auf republikanischen<br />

Propaganda-Plakaten. Letzeres scheint ihn zu dem<br />

außergewöhnlichen Schluß zu führen, daß <strong>die</strong> Geschlechterrollen<br />

durch <strong>die</strong> Revolution durcheinander<br />

geworfen wurden. Dies ist nicht nur eine plumpe<br />

extreme Vereinfachung per se, doch daß das<br />

<strong>mit</strong> einer Würdigung der Frauen-Darstellung auf<br />

Volksfrontplakaten begründet werden könnte ist<br />

schlichtweg unerklärbar. Der rasante Aufstieg der<br />

Volksfront sorgte dafür, daß das Gesicht der Propaganda<br />

wieder deutlich von den konventionellen<br />

Geschlechterrollen geprägt war. Es war wesentlicher<br />

Bestandteil ihrer konterrevolutionären Logik,<br />

daß republikanische Frauen durch einen Appell<br />

an ihre traditionellen Rollen mobilisiert wurden.<br />

Wenn man sich allein <strong>die</strong> Bilder anschaut, so fällt<br />

es 1937 oftmals schwer zu unterscheiden zwischen<br />

den Aufrufen an <strong>die</strong> republikanischen Frauen und<br />

denen an ihre nationalistischen Schwestern [8].<br />

Jede Begrifflichkeit, einschließlich <strong>die</strong> der Arbeit,<br />

wird grundlegend gesellschaftlich produziert. Sie<br />

ist bestimmt durch den spezifischen historischen<br />

Kontext, in dem sie existiert. Wenn <strong>die</strong>s auf <strong>die</strong> Arbeit<br />

zutrifft, so muß es auch auf den Widerstand gegen<br />

<strong>die</strong> Arbeit zutreffen. Der grundlegende Fehler<br />

in Dr. <strong>Seidmans</strong> Fall ist, daß er <strong>die</strong> Homogenität des<br />

Arbeiterwiderstandes <strong>mit</strong> ziemlich zweifelhaften<br />

Mitteln stützt – indem er seine Aufzählung der<br />

Symptome dekontextualisiert. Aufgrund der extremen<br />

Situation führt das besonders im spanischen<br />

Fall zu ernsten Verzerrungen in seiner Interpretation.<br />

Indem er der Diskussion der politischen<br />

Demontierung einer beschädigten und fragmentierten<br />

Revolution ausweicht, vermeidet er nicht,<br />

wie er behauptet, lediglich das besser erkundeten<br />

Territorium der politischen Geschichte. Tatsächlich<br />

versagt er es sich bewußt, dem Leser eine Erklärung<br />

des Prozesses zu bieten, der das Verhalten der<br />

ArbeiterInnen geprägt hat. Der Wiederaufbau des<br />

Staates begann, wie schon angedeutet, nicht 1937,<br />

er begann viel früher, <strong>mit</strong> der Ernennung der Regierung<br />

Largo Caballero im September 1936. Nur<br />

durch eine falsche Periodisierung kann Dr. Seidman<br />

behaupten, daß der primäre Anstoß zum Wiederaufbau<br />

des Staates <strong>die</strong> Widerspenstigkeit der<br />

Arbeiter in den Fabriken war – ein einzigartiger<br />

Fall, in dem der Schwanz <strong>mit</strong> dem Hund wedelt.<br />

Natürlich war nicht das gesamte Proletariat Barcelonas<br />

in der CNT. In Barcelona wie in Paris umfaßte<br />

<strong>die</strong> Arbeiterklasse sowohl <strong>die</strong> Engagierten wie <strong>die</strong><br />

Gleichgültigen, in allen Abstufungen. Triumphalismus<br />

kann unser Verständnis des Verhaltens der Bevölkerung<br />

in den frühen Monaten des Krieges nur<br />

behindern. Aber es ist nicht klar, was Michael <strong>Seidmans</strong><br />

körperlose und fragmentierte Ansammlung<br />

von Illustrationen der Apathie und Verärgerung<br />

der ArbeiterInnen zeigen soll. Das ändert kaum<br />

etwas an der Tatsache, daß der Wiederaufbau des<br />

Staates <strong>die</strong> ökonomische Macht und politische Autonomie<br />

der Gewerkschaften und der militanten<br />

Teile der Arbeiterklasse an <strong>die</strong> Kandare nahm. Man<br />

muß nicht notwendigerweise von einem anarchistischen<br />

oder linkskommunistischen Standpunkt<br />

argumentieren, um das zu erkennen.<br />

In den Fabriken und Werkstätten im Paris der<br />

Volksfront und dem »revolutionären« Barcelona<br />

war <strong>die</strong> Arbeitserfahrung für viele eine grundlegend<br />

entfremdete. Die vorrangige Konsequenz<br />

der Prioritäten der Kriegszeit machte eine radikale<br />

Veränderung in <strong>die</strong>sem Bereich für <strong>die</strong> spanische<br />

Republik unmöglich. Es kann gesagt werden, daß,<br />

anstatt <strong>die</strong> bewußte »Negation der Ideale der spanischen<br />

Revolution« zu illustrieren, <strong>die</strong> Abwendung<br />

der Arbeiter <strong>die</strong> Tatsache reflektierte, daß<br />

nicht nur <strong>die</strong> materielle Realität der Arbeitserfahrung<br />

und des täglichen Lebens nicht qualitativ<br />

verändert wurde, sondern sie sich tatsächlich aktiv<br />

verschlechterte. Wenn <strong>die</strong> Revolution für viele eine<br />

politische Abstraktion war, dann kann da nichts<br />

gewesen sein, was sie »negieren« konnten. Das<br />

Hauptproblem war hier allerdings nicht das kreative<br />

Vakuum der Linken. Michael <strong>Seidmans</strong> Kritik<br />

an ihrem Scheitern, alternative Modelle für <strong>die</strong><br />

Entwicklung der Produktivkräfte auszuarbeiten,<br />

offenbart eine erschreckende Mißachtung für <strong>die</strong><br />

Zwänge und Notwendigkeiten, <strong>die</strong> durch den zermürbenden<br />

Wirtschaftskrieg von außen gegen sie<br />

der spanischen Demokratie auferlegt wurden. Die<br />

Ergebnisse der Blockade – akuter Mangel, Inflation,<br />

Hunger, Elend, ein härterer und längerer Arbeitstag<br />

– und, natürlich, grausame interne politische<br />

Spaltungen – endeten in der Destabilisierung der<br />

spanischen Republik im Inneren. Diese Strategie<br />

hat sich in der europäischen Arena der dreißiger<br />

Jahre als ebenso erfolgreich erwiesen wie anderswo<br />

in jüngerer Zeit.<br />

Im Verlauf <strong>die</strong>ser verzweifelten Produktionsschlacht,<br />

<strong>die</strong> für das Überleben der Republik entscheidend<br />

war, wählten <strong>die</strong> Führungskader der<br />

Gewerkschaft und deren Aktivisten den kleinsten<br />

gemeinsamen Nenner – eine ökonomisch konservative<br />

Praxis. Nichtsdestoweniger waren <strong>die</strong> Gewerkschaften<br />

im republikanischen Spanien <strong>die</strong><br />

entscheidende Kraft in einem Prozeß der industriellen<br />

Konzentration und Rationalisierung, <strong>die</strong>,<br />

worauf Dr. Seidman hinweist, seit langem auf der<br />

historischen Agenda stand. Indem er das Gewicht<br />

auf <strong>die</strong> technische Bedeutung <strong>die</strong>ses Prozesses<br />

legt, vergleicht der Autor <strong>die</strong>sen <strong>mit</strong> den Ergebnissen<br />

von Francos Entwicklungsprojekten drei<br />

Dekaden später. Allerdings gibt es hier eine große<br />

Gefahr, da <strong>die</strong>ser Vergleich <strong>die</strong> zentrale zugrundeliegenden<br />

Disparität ignoriert, der im Herzen des<br />

Bürgerkrieges selbst lag. Die gewerkschaftliche<br />

Ver<strong>mit</strong>tlung umhüllte den Rationalisierungsprozeß<br />

<strong>mit</strong> einer demokratischen Intentionalität, <strong>die</strong>,<br />

per Definition, bei späteren francistischen Projekt<br />

immer fehlte. Alles in allem war das, was bei den<br />

Nationalisten und Republikanern auf dem Spiel<br />

stand, nicht <strong>die</strong> Modernisierung per se, sondern<br />

das Modell, das adoptiert werden sollte. Die Nationalisten<br />

mögen zu einem Diskurs auf dem Niveau<br />

von Neanderthalern Zuflucht genommen haben,<br />

aber wogegen sie sich tatsächlich stellten, wegen<br />

der Kosten für Gruppen der Elite, das war das demokratische<br />

Modell der Modernisierung, das von<br />

der Republik angestrebt wurde. Anzunehmen, daß<br />

sich der Entwicklungsfrancismus einen neutralen<br />

technokratischen Mantel aus den 1930er Jahren<br />

umhängen konnte, bedeutet, eine entscheidende<br />

historische Phase verblüffenderweise zu ignorieren<br />

– den triumphierenden Francismus der 1940er und<br />

frühen 1950er Jahre. •


arrikade sieben - April 2012<br />

9<br />

DIEGO ABAD DE SANTILLÁN<br />

Wirtschaftlicher Wiederaufbau<br />

Aus einer Arbeit des Kameraden D. A. de Santillan, <strong>die</strong><br />

vor der gegenwärtigen Revolution erschien.<br />

Der Gedanke der Vernichtung des politischen und<br />

ökonomischen Parasitismus ist, oder sollte im mindesten<br />

im Geiste der Völker genügend gereift sein,<br />

sodass er eine Frage un<strong>mit</strong>telbarer Verwirklichung<br />

werden könne. Es ist sehr gewiss, dass <strong>die</strong> Arbeiter<br />

es nicht freudig aufnehmen, des grössten Teils der<br />

Frucht ihrer Mühen beraubt zu werden, und ohne<br />

<strong>die</strong> Polizei- und Militärmacht des Staates wird der<br />

Grundsatz: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!<br />

sogleich zur Tatsache werden.<br />

Noch immer leben <strong>die</strong> Arbeiter der Fabriken und<br />

des Landes in einem Zustand der Unterdrückung<br />

wie <strong>die</strong> Sklaven aller Zeiten. Die einzige Verschiedenheit<br />

ist <strong>die</strong>, dass <strong>die</strong> modernen Lohnarbeiter <strong>die</strong><br />

bedingte Freiheit haben, ihre „demokratischen“<br />

Herren auszuwählen. Die wirklichen Produzenten<br />

sind in der Gesellschaft <strong>die</strong> übergrosse Minderheit.<br />

Ein Zehntel der Bevölkerung lebt vom Staatsapparat,<br />

ein anderes Zehntel lebt vom kapitalistischen<br />

Handel, ohne andere bedeutende, unproduktive<br />

Kategorien, und ohne <strong>die</strong> natürlich unproduktive<br />

Kategorie der Kinder und Alten anzuführen.<br />

Auf 10 Millionen zur Arbeit geeignete Menschen<br />

in Spanien, finden wir kaum 4,55 Millionen im<br />

industriellen oder landwirtschaftlichen Produktionsprozess.<br />

Die Revolution wird <strong>die</strong>sen Widersinn<br />

aufheben und in der Folge wird man nicht mehr<br />

den Mangel Seite an Seite <strong>mit</strong> dem Überfluss, und<br />

den protzenden Luxus an der Seite des äussersten<br />

Elends finden. Wenn ein Produktemangel besteht,<br />

dann wird man in der Weise rationieren, dass niemand<br />

mehr als sein Teil bekommt, sondern dass<br />

jeder sein Teil — gross oder klein — bekomme.<br />

Man wird <strong>die</strong> Lebens<strong>mit</strong>tel, Kleidung, Wohnungen<br />

gleichmässig verteilen; zum ersten Male in der Welt<br />

wird es keine Arme noch Hirne in erzwungenem<br />

Müssiggang geben. Die spanische Polizeirepublik<br />

wird einer grossen Gemeinschaft von Erzeugern<br />

und Verbrauchern Platz machen.<br />

Wir sind überzeugt, dass <strong>die</strong> an den Müssiggang<br />

gewöhnten Klassen der Notwendigkeit der Arbeit<br />

einen grossen Widerstand entgegensetzen. Es wird<br />

im Anfang Schwierigkeiten geben, <strong>die</strong> Bevölkerung<br />

in <strong>die</strong> Berufsgruppen unterzubringen, wo sie<br />

am nützlichsten sind. Aber <strong>die</strong> grösste Gefahr liegt<br />

nicht dort: sie liegt in den Folgen einer internationalen<br />

Blockade.<br />

Spanien mangelt es an Baumwolle; ohne Baumwolle<br />

werden 200.000 Arbeiter der Textil- und Konfektionsgewerbe<br />

auf der Strasse sein. Spanien mangelt<br />

es an Petrol — ohne Petrol wird der Verkehr<br />

ernsthaft behindert werden. Spanien — in geringerem<br />

Grade — mangelt es an Papier — Tausende<br />

Arbeiter des Buchgewerbes: Schriftsteller, Journalisten<br />

werden feiern. Und so fort. Die Revolution<br />

muss vom ersten Tage an sich <strong>mit</strong> der Versorgung<br />

der katalanischen Fabriken beschäftigen. Sie muss<br />

<strong>die</strong> Lösung des Petrol-Problems durch <strong>die</strong> Kohle —<br />

Destillation zu finden suchen.<br />

Es gibt keine technisch unüberwindbare Schwierigkeiten,<br />

weil <strong>die</strong> moderne Wissenschaft sie im<br />

Voraus gelöst hat. Infolge dessen, wenn <strong>die</strong> Revolution<br />

nicht <strong>die</strong> Herabsenkung des Lebensstandards,<br />

sondern im Gegenteil <strong>die</strong> Steigerung des Wohl-<br />

Petrol = Petroleum, Öl


10<br />

DI E G O AB A D D E SA N T I L L Á N<br />

Aus:<br />

DIE SO Z I A L E RE V O L U T I O N<br />

Nr. 4, 1937. Digitalisiert<br />

von der Anarchistischen<br />

Bibliothek und Archiv<br />

Wien. Nachbearbeitet<br />

(Scanungenauigkeiten<br />

entfernt, ä zu ä, That zu<br />

Tat usw.) von<br />

www.anarchismus.at.<br />

Neuerscheinung:<br />

AU G U S T I N SO U C H Y<br />

Bei den Landarbeitern<br />

von Aragon<br />

Über den freiheitlichen<br />

Kommunismus in den<br />

befreiten Gebiten<br />

Edition AV, 2012<br />

standes bedeuten soll, so muss <strong>mit</strong> der Baumwolle<br />

und dem Petrol gerechnet werden.<br />

Selbstverständlich, <strong>die</strong>se Probleme werden weniger<br />

dringend sein, wenn <strong>die</strong> Weltblockade nicht<br />

zustande käme, wenn das russische Petrol und <strong>die</strong><br />

amerikanische Baumwolle weiter hereinkämen, <strong>die</strong><br />

gegen unsere Eisen und Kupfererze ausgetauscht<br />

werden.<br />

Von den in den spanischen Gruben geförderten<br />

Eisenerzen wird nur eine geringe Partie im Lande<br />

verhüttet, der Rest wird exportiert und kommt in<br />

Form von Maschinen, Werkzeugen zu uns zurück.<br />

Die Revolution muss eine Metallindustrie schaffen,<br />

<strong>die</strong> Hochöfen, Maschinenfabriken vermehren, so<br />

gut wie möglich den römischen Pflug, und im allgemeinen<br />

<strong>die</strong> Tierzugkraft durch den modernen Pflug<br />

und Traktor ersetzen, <strong>die</strong> allein fähig sind, <strong>die</strong> Plateaus<br />

und Ebenen zu valorisieren. Die Revolution<br />

muss <strong>die</strong> Eisenbahnen und Fabriken elektrifizieren,<br />

<strong>die</strong> Wassergefälle sowohl für <strong>die</strong> Bewässerung, als<br />

auch für <strong>die</strong> Erzeugung elektrischer Energie benutzen,<br />

das Problem der Aufholzung, der Vorbereitung<br />

neuer Gelände für Landwirtschaft und Tierzucht,<br />

der Benutzung der Windkraft, etc., ernsthaft in Angriff<br />

nehmen. — Mit einem Wort, <strong>die</strong> Revolution<br />

muss in wenigen Jahren tun, was der Kapitalismus<br />

unfähig war zu tun: ein Spanien schaffen, das fähig<br />

ist, eine Bevölkerung, welche bald auf 30 Millionen<br />

Einwohner (wenn <strong>die</strong> Auswanderung aufhört, wie<br />

das in letzter Zeit geschehen) zu ernähren, zu bekleiden,<br />

zu logieren.<br />

Eine gute Zusammenarbeit handwerklicher und<br />

intellektueller Arbeit wird <strong>die</strong> Reichtümer viel besser<br />

entwickeln, als wie <strong>die</strong> kapitalistische Politik,<br />

<strong>die</strong> Finanzspekulationen oder <strong>die</strong> Befehle der Generäle.<br />

Wir haben nicht <strong>die</strong> Gotteshypothese für <strong>die</strong> Errichtung<br />

unserer Arbeitergesellschaft notwendig,<br />

wir haben ebensowenig <strong>die</strong> Staatshypothese not-<br />

Am 19. Juli öffneten sich auf den Im puls Kataloniens<br />

<strong>die</strong> Tore der direkten Aktion der Arbeiterklasse.<br />

Das ist eine nicht zu bezweifelnde Tatsache, <strong>die</strong><br />

so gar von der kleinen und grossen Bour geoisie<br />

anerkannt wird; von der einen <strong>mit</strong> Toleranz und<br />

Wohlwollen; von der anderen <strong>mit</strong> Bitterkeit; sie<br />

müssen erkennen, dass der neue Schauspieler auf<br />

der Bühne des Weltgeschehens, in dem er privilegierte<br />

Rechte zerbricht, nur einen Akt der Gerechtigkeit<br />

voll zieht; und dass es dagegen nur ein Mittel<br />

gibt: <strong>die</strong> Reaktion des nationalen und internationalen<br />

Faschismus.<br />

Die spanische Arbeiterschaft verstärkt von Tag zu<br />

Tag ihre Kontrolle über <strong>die</strong> bewaffneten Kräfte; sie<br />

kontrolliert den Regierungsapparat, <strong>die</strong> Justiz, <strong>die</strong><br />

wirtschaftliche Organisation, alles. Und zwar unter<br />

den günstigsten Vorbedeu tungen. Diejenigen<br />

Leute, deren Privat interessen von der gleichmachenden<br />

Justiz des Volkes nicht berührt wur den,<br />

haben zum mindesten begriffen, dass <strong>die</strong> blutigen<br />

Opfer der ersten Tage in den Strassen und später<br />

auf den Schlachtfeldern den Arbeitern das Recht<br />

auf einen direkten und vorherrschenden Einfluss<br />

auf <strong>die</strong> Dinge des öffentlichen Lebens gegeben haben.<br />

Innerhalb und ausserhalb Spaniens er kannte<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

DIEGO ABAD DE SANTILLÁN<br />

Unser Werk der Neuschöpfung<br />

wendig. Wir wünschen nicht, dass alle Welt nach<br />

derselben Musik tanzt, dass alle Welt den Gleichschritt<br />

markiert. Wir lassen <strong>die</strong> Existenz verschiedener<br />

Organisationen zu, <strong>die</strong> mehr oder weniger<br />

revolutionär sind, <strong>die</strong> mehr oder minder über <strong>die</strong><br />

neue Situation begeistert sind. Das Wichtigste ist,<br />

dass alle Spanier das haben, was sie brauchen und<br />

folglich auch an der Erzeugung der notwendigen<br />

Güter im Produktionsprozess teilnehmen. Heute<br />

arbeiten in der Fabrik an unserer Seite gute Kameraden,<br />

<strong>die</strong> nicht so denken wie wir; so wird es<br />

in Zukunft sein, und es wird an uns liegen, ihre<br />

Feindschaft durch unser Beispiel zu überwinden.<br />

Es gibt in Spanien verschiedene Organisationen;<br />

alle müssen an ihrer Stelle am ökonomische Wiederaufbau<br />

teilnehmen. Die Revolution verweigert<br />

auf <strong>die</strong>sem Gebiet niemanden ihre Hilfe, sowenig<br />

wie sie irgendjemanden das Recht verweigert, sich<br />

seiner besonderen Neigung gemäss <strong>mit</strong> anderen zu<br />

assoziieren, Auffassungen zu verteidigen, <strong>die</strong> den<br />

unsern entgegenstehen — jedoch ohne agressiven<br />

Geist: ohne <strong>die</strong>jenigen zu zwingen suchen, <strong>die</strong> sie<br />

nicht teilen. Wenn anders, so wäre der Bürgerkrieg<br />

da.<br />

Wir sagen den Freunden des russischen Beispiels,<br />

dass ausserhalb des ökonomischen Regimes, das<br />

<strong>die</strong> Übereinstimmung aller verlangt, sie ihre Volkskommissare<br />

haben können; den Sozialisten, dass<br />

sie ihre Auffassungen aussprechen. Das wird uns<br />

nicht im geringsten genieren, und wir werden uns<br />

da<strong>mit</strong> begnügen zu verhindern, dass eine Fraktion<br />

sich auf <strong>die</strong> andere stürzt, und dafür sorgen, dass<br />

der Produktions-, und Verteilungsapparat in den<br />

Händen der Produzenten selbst bleibt.<br />

Freiheit, ja absolute Freiheit in politischer Beziehung,<br />

aber Zusammenarbeit aller Kräfte in ökonomischer<br />

Hinsicht, gleiche Verteilung der Produkte.<br />

Was ist gegen eine so organisierte Gesellschaft zu<br />

sagen? •<br />

man <strong>die</strong> Situation sofort <strong>mit</strong> aller Deutlichkeit. Deshalb<br />

<strong>die</strong> Erbitterung des Kampfes; deshalb das Interesse<br />

des internationalen Faschismus, seinen iberischen<br />

Parteigängern zu helfen. Die Ar beiter führen<br />

den Krieg — den einzigen heiligen Krieg der Zeit<br />

und machen zugleich <strong>die</strong> Revolution: sie ändern<br />

<strong>die</strong> Grundlagen einer ungerechten Zivilisation und<br />

vernichten <strong>die</strong> Voraussetzungen der Ausbeutung<br />

des Menschen durch den Menschen.<br />

Wir wollen es nicht leugnen, weil es sinnlos wäre:<br />

wir führen einen Krieg - und wir machen zu gleicher<br />

Zeit eine Revolution. Und in beiden kommen<br />

wir so weit wie es uns unsere Fähigkeiten erlauben.<br />

Es gibt Schwierigkeiten; äussere — und innere, <strong>die</strong><br />

grösser sind, weil sie in uns selbst begründet sind.<br />

Wir werden den Krieg gewinnen, wenn wir fähig<br />

dazu sind; wie wir <strong>die</strong> Revolution zum Siege führen<br />

werden, wenn wir fähig dazu sind. Und zwar nicht<br />

so sehr auf Grund unserer Tapferkeit als auf Grund<br />

der Intelligenz, der Vernunft und des gesunden<br />

Menschenverstandes. Wir haben eine wirkliche Aktionsbasis:<br />

<strong>die</strong> Produktionszentren. Die Arbeitsstellen,<br />

<strong>die</strong> Syndikate, <strong>die</strong> Industrieföderationen haben<br />

<strong>die</strong> wichtigste und nicht zu ersetzende Rolle innerhalb<br />

der wirt schaftlichen Rekonstruktion Spaniens


arrikade sieben - April 2012<br />

zur Gewinnung des Krieges und für den Triumph<br />

der Revolution. Wir haben viele Monate verloren.<br />

Die Militanten der Arbeiterorganisationen haben<br />

sich gezwungen gesehen, impro visierte Posten zu<br />

bekleiden im aktiven Kampfe. Die Syndikate waren<br />

so gut wie verlassen. Sie hatten vom ersten Tage an<br />

nicht <strong>die</strong> Stellung, <strong>die</strong> ihnen bei der Organisierung<br />

der Produktion und der Verteilung zukam. Daran<br />

haben wir alle Schuld.<br />

Aber alle Zeichen deuten darauf hin, dass man<br />

zu den Syndikaten zurückkehrt und dass man<br />

begriffen hat, dass unsere wahrhafte und unverrückbare<br />

Basis <strong>die</strong> organisierte Arbeit ist. Ohne<br />

wirksame Siege auf <strong>die</strong>sem Gebiet nützen uns auch<br />

<strong>die</strong> Siege nichts, <strong>die</strong> wir auf anderen Gebieten erkämpfen.<br />

Die Verwandlung unserer Syndikate aus<br />

Kampforganisationen gegen den Kapita lismus, <strong>die</strong><br />

sie früher waren, in Organe für <strong>die</strong> Verwaltung der<br />

Wirtschaft wird uns viel Arbeit kosten. Wir begreifen<br />

wie sich aus dem ein Jahrhundert dau ernden<br />

Kampf bilden musste; wir wis sen, dass es schwer<br />

halten wird, sich den neuen Verhältnissen anzupassen.<br />

Aber <strong>die</strong>se Dinge sind unvermeidlich. In<br />

ih nen liegt der Schlüssel zu unserem Siege.<br />

Wir beanspruchen für <strong>die</strong> Syndikate, <strong>die</strong> sich den<br />

neuen Verhältnissen angepasst haben, eine Stelle in<br />

der ersten Reihe der Organisierung der Wirtschaft.<br />

Alles, was man ohne <strong>die</strong> Syndikate tut, führt zum<br />

Staatskapitalismus oder zum privaten Kapitalismus.<br />

Die ökonomische Formel des Spanien vom<br />

19. Juli ist gegeben in der zahlenmässigen Macht<br />

und in der historischen Verwurzelung der Arbeiterorganisationen.<br />

Sie zeigen uns den geraden Weg<br />

zur Überwindung des Schmarotzertums und der<br />

Un gerechtigkeit.<br />

Unsere jungen und alten Militanten mögen sich<br />

beeilen, ihren Posten ein zunehmen und sich voll<br />

geistiger Ver antwortung in <strong>die</strong> Linie des Sieges zu<br />

stellen: an ihren Arbeitsplatz. Auf <strong>die</strong> sem Platz waren<br />

wir gestern unbesieg bar; hier hielten wir gegen<br />

alle Tyran nei stand; auf ihm müssen wir heute unbesiegbar<br />

sein in der harmonischen und wirksamen<br />

Konstruktion der neuen Welt, der neuen Wirtschaft<br />

und der neuen Kultur. •<br />

11<br />

Aus:<br />

DIE SO Z I A L E RE V O L U T I O N<br />

Nr. 10, 1937. Digitalisiert<br />

von der Anarchistischen<br />

Bibliothek und Archiv Wien<br />

»Arbeiter!<br />

Reiht euch ein in <strong>die</strong> Columna de Hierro!«<br />

BA U S S E T für <strong>die</strong> Eiserne Kolonne der CNT-FAI<br />

Valencias 1936 - Format: 33 x 25 cm<br />

»Schreibt Euch ein in <strong>die</strong> Miliz der POUM!«<br />

Anwerbeplakat der »Kolonne Lenin« der POUM,<br />

Barcelona 1936<br />

»Ohne Disziplin - kein Sieg!«<br />

Künstler: Arturo Ballester<br />

Herausgeber: Sozialistische Partei PSOE<br />

Format: 71 x 102 cm<br />

Herstellung: ORTEGA Valencia - Vertreib: UGT-CNT


12<br />

DI E G O AB A D D E SA N T I L L Á N:<br />

El anarquismo y<br />

la revolución en Espana,<br />

Escritos 1930/38<br />

„Die Öffentlichkeit ist heutzutage, insbesondere der Teil, der<br />

keine manuelle Tätigkeit ausübt, weitgehend unwissend über<br />

Berufe und Arbeitsprozesse, selbst wenn sie vor ihrer Tür<br />

stattfinden. So ist <strong>die</strong> Mehrheit der Mittelklasse nicht nur<br />

wehrlos gegenüber groben Verfälschungen, sondern auch, was<br />

noch ernster ist, ganze Welten entfernt von jeder Sympathie<br />

<strong>mit</strong> dem Leben eines Betriebs.“<br />

• WilliaM Morris<br />

“Ich bin davon überzeugt, daß es nur einen Weg gibt, <strong>die</strong>ses<br />

Übel loszuwerden, nämlich den, ein sozialistisches Wirtschaftssystem<br />

zu etablieren, begleitet von einem Bildungssystem,<br />

das sich an sozialen Zielsetzungen orientiert.<br />

In solch einer Wirtschaft gehören <strong>die</strong> Produktions<strong>mit</strong>tel der<br />

Gesellschaft selbst und ihr Gebrauch wird geplant. Eine Planwirtschaft,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Produktion auf den Bedarf der<br />

Gemeinschaft einstellt, würde <strong>die</strong> durchzuführende Arbeit<br />

unter all denjeni„Die Öffentlichkeit ist heutzutage, insbesondere<br />

der Teil, der keine manuelle Tätigkeit ausübt, weitgehend<br />

unwissend über Berufe und Arbeitsprozesse, selbst wenn sie<br />

vor ihrer Tür stattfinden. So ist <strong>die</strong> Mehrheit der Mittelklasse<br />

nicht nur wehrlos gegenüber groben Verfälschungen, sondern<br />

auch, was noch ernster ist, ganze Welten entfernt von jeder<br />

Sympathie <strong>mit</strong> dem Leben eines Betriebs.“<br />

• WilliaM Morris<br />

“Ich bin davon überzeugt, daß es nur einen Weg gibt, <strong>die</strong>ses<br />

Übel loszuwerden, nämlich den, ein sozialistisches Wirtschaftssystem<br />

zu etablieren, begleitet von einem Bildungssystem,<br />

das sich an sozialen Zielsetzungen orientiert.<br />

In solch einer Wirtschaft gehören <strong>die</strong> Produktions<strong>mit</strong>tel der<br />

Gesellschaft selbst und ihr Gebrauch wird geplant.<br />

Eine Planwirtschaft, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Produktion auf den Bedarf der<br />

Gemeinschaft einstellt, würde <strong>die</strong> durchzuführende Arbeit<br />

unter all denjenigen verteilen, <strong>die</strong> in der Lage sind zu arbeiten<br />

und sie würde jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind<br />

einen Lebensunterhalt garantieren.”<br />

• AlBert Einstein<br />

„Wenn der Mensch nicht andere ausbeutet, muss er<br />

selbst arbeiten, um zu leben. Wie pri<strong>mit</strong>iv und einfach<br />

seine Arbeitsmethode auch immer sein mag, allein durch<br />

<strong>die</strong> Tatsache, dass er etwas produziert, hat er sich über<br />

das Tier erhoben und man hat ihn <strong>mit</strong> Recht als das<br />

„Tier, das produziert“ definiert. Aber <strong>die</strong> Arbeit ist für<br />

den Menschen nicht nur eine unentrinnbare<br />

Notwendigkeit. Sie befreit ihn auch von der<br />

Natur und macht ihn zu einem sozialen und<br />

unabhängigen Wesen. Im Arbeitsprozess, das<br />

heißt, durch das Gestalten und Verändern der<br />

Natur außerhalb seiner selbst formt und verändert<br />

er auch sich selbst.“<br />

• EriCH FroMM<br />

Die kleine Vorgeschichte.<br />

Die kleine Vorgeschichte: Während des<br />

Verfassens <strong>die</strong>ses Artikels unterrichtete ich<br />

einen der Übersetzer, dass es <strong>mit</strong> den Zitaten,<br />

betreffend Santillán, ein Problem gäbe.<br />

Er erklärte sich als nicht zuständig und gab<br />

<strong>mit</strong> meinem Einverständnis <strong>die</strong> Mails an<br />

den Verlag weiter. Mir wurde dann eine<br />

Stellungnahme von Hr. Seidman zugeleitet.<br />

In <strong>die</strong>ser stellte Hr. Seidman <strong>die</strong> meisten<br />

seiner Zitate <strong>mit</strong> den Quellen bei Santillán<br />

zusammen, stellte fest, dass er alle<br />

Zitate geprüft habe, alle Zitate korrekt und<br />

<strong>die</strong> angedeuteten Einwände falsch seien.<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

Zum Buch “Gegen <strong>die</strong> Arbeit” von Michael Seidman<br />

Wenn man genauer hinsieht, ist es ganz anders.<br />

Der Verlag war zufriedengestellt. Durch <strong>die</strong>se Hinweise<br />

waren da<strong>mit</strong> immerhin alle Zitatfundstellen<br />

komplett und es kann jetzt auf alles eingegangen<br />

werden.<br />

Viele Aussagen in dem Buch von Seidman kamen<br />

mir unplausibel, unbelastbar und an den Haaren<br />

herbeigezogen vor. Daraufhin bin ich einigen<br />

Quellenangaben, <strong>die</strong> leicht erreichbar waren, nachgegangen<br />

und beziehe mich hier auf <strong>die</strong> zwei Bücher<br />

von Diego Abad de Santillán: El anarquismo y<br />

la revolución en Espana, Escritos 1930/38 (A) und El<br />

organismo económico de la revolución (B). Beide sind<br />

im spanischen Original abgelegt unter www.scribd.<br />

com, so dass <strong>die</strong>se Kurzdarstellung nachgeprüft<br />

werden kann. (Ich hoffe da<strong>mit</strong> keine schützenswerten<br />

Rechte zu verletzen.) <strong>Seidmans</strong> Buch erschien<br />

in englischer Sprache, zuletzt in deutscher Übersetzung<br />

(<strong>die</strong> meist genauestens, aber ohne Quellenabgleich<br />

der englischen Ausgabe folgt). Eine spanische<br />

Ausgabe, in der <strong>die</strong> Differenzen sicher aufgefallen<br />

wären, gibt es nicht. Die betreffende Passage ab S.<br />

81 ist ein wesentlicher Teil des Buches; Teile davon<br />

sind in das Redemanuskript für <strong>die</strong> Buchvorstellungsrundreise<br />

übernommen und womöglich vorgelesen<br />

worden (abgedruckt in Graswurzelrevolution<br />

Nov. 2011).<br />

Es ist der Vorwurf zu machen, dass Hr. Seidman<br />

praktisch durchgehend <strong>die</strong>se beiden Quellen auf<br />

durchschaubare Weise benützt, um Santillán und<br />

<strong>die</strong> spanischen Syndikalisten zu diskreditieren und<br />

ihnen „das Wort im Mund umzudrehen“. Es wird<br />

ungenau oder falsch übersetzt, aus dem Zusammenhang<br />

gerissen, durch Beiwörter verfälscht und<br />

Unzusammenpassendes montiert, bis nichts mehr<br />

stimmt und unvoreingenommene LeserInnen sich<br />

fragen, was da <strong>mit</strong> den spanischen Anarchisten<br />

passiert sein muss. Hr. Seidman legt Wert darauf,<br />

dass alles seine Quelle hat. Nicht ganz richtig, aber<br />

da<strong>mit</strong> auch nicht besser, denn das Schnipselwerk<br />

zeigt <strong>die</strong> Bemühung, Quellenfragmente zu verwenden,<br />

um daraus Interpretationen und Suggestionen<br />

zu kreieren, <strong>die</strong> an Santilláns Position völlig vorbeigehen.<br />

(Wenn jemand fragen würde, warum einer<br />

sich <strong>die</strong> Mühe macht, das aufzudröseln: Sowas darf<br />

nicht durchgehen; mal da<strong>mit</strong> angefangen, muß<br />

man es zu Ende bringen – und aus zunehmender<br />

Sympathie <strong>mit</strong> Diego Abad de Santillán.) Es ist<br />

schon ein gelungenes Stück, <strong>die</strong>se Schmähung des<br />

Syndikalismus in einem libertären Verlag unterzubringen.<br />

Emanzipation und Arbeit in Gegensatz zu<br />

bringen (unter Vorschiebung eines einseitig dargestellten<br />

„Arbeiterwiderstandes“) ist <strong>die</strong> andere<br />

Seite davon. Diese Haltung anzunehmen wäre eine<br />

Selbstverabschiedung von jeder Relevanz im realen<br />

gesellschaftlichen Leben, in dem sich (fast) alles um<br />

<strong>die</strong> Arbeit dreht. Darauf kann hier aber leider aus<br />

Platzgründen nicht eingegangen werden. Die Zitate<br />

kommen dann nacheinander, aber zuerst zu der<br />

Story des Buches.<br />

Seidman nimmt <strong>die</strong> Schriften Santilláns als Beweis<strong>mit</strong>tel<br />

dafür, dass <strong>die</strong> spanischen Syndikalisten<br />

in den dreißiger Jahren bei ihrer verstärkten Orientierung<br />

auf Gewerkschaften und Industrie <strong>mit</strong><br />

der Befürwortung der Anwendung der modernen<br />

Industrie auch Taylorismus, Fordismus, <strong>die</strong> Ar-


arrikade sieben - April 2012<br />

beitskraft auspressende Rationalisierung, Akkordarbeit,<br />

Arbeitszwang, Arbeitsverherrlichung im<br />

Pack <strong>mit</strong>übernommen hätten. Mit dem kapitalismus-gleichen<br />

Ziel, möglichst viel Leistung aus den<br />

ArbeiterInnen herauszuholen und sie letztlich als<br />

Werkzeuge ihres „Produktivismus“ zu benützen.<br />

„Santillán wandelte sich vom eifrigen Kritiker kapitalistischer<br />

Technologie und Arbeitsorganisation zum<br />

enthusiastischen Befürworter derselben.“ (S. 81)<br />

Diese Behauptung ist meiner Meinung nach<br />

erstmal deshalb falsch, weil sie, richtiges Zitieren<br />

vorausgesetzt, durch <strong>die</strong> Quellen nicht gestützt,<br />

sondern entkräftet wird. Sie ist es auch wegen Mißachtung<br />

der Regeln einfacher Logik. Die Industrie<br />

ist ebenso wie Handwerk, Landwirtschaft oder Wissenschaft<br />

nicht per se kapitalistisch. Die Übergänge<br />

sind fließend, sie ist eine komplexe Form und ein<br />

Produkt menschlicher Arbeit. Sie der Herrschaft<br />

der Besitzenden zu entziehen ist möglich, weil <strong>die</strong>se<br />

in ihr keine notwendige Funktion ausüben. Die<br />

kapitalistische Beherrschung der Industrie ist keine<br />

Wesenseigenheit, sondern eine Okkupation oder<br />

Enteignung derer, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Arbeit machen. Die Zuversicht<br />

Santilláns, dass <strong>die</strong> Industrie zum Nutzen<br />

aller Menschen eingesetzt werden kann in Zustimmung<br />

zu kapitalistischen Ausbeutungsformen umzumünzen<br />

– das ist gemacht im wesentlichen <strong>mit</strong><br />

Wortspielereien und gespeist aus Denkblockaden:<br />

Arbeit: ungewollt, Industrie: unverstanden, ArbeiterInnenselbstverwaltung:<br />

unmöglich.<br />

Im Grunde ist es so: Santillán hatte wie viele<br />

andere Libertäre das Ziel: Wohlstand für alle! Er<br />

nennt auch Großzügigkeit und einen gewissen<br />

Überfluß als Bedingung für eine freie Gesellschaft.<br />

Allein um das Lebensnotwenige für alle zur Verfügung<br />

stellen zu können, sieht er <strong>die</strong> Notwendigkeit,<br />

über das in Spanien vorherrschende Handwerk<br />

und <strong>die</strong> Kleinproduktion hinauszugehen und das<br />

industrielle Potential zu entwickeln. Die Industrie<br />

war <strong>die</strong> Verheißung einer Zukunft, in der das Elend<br />

besiegt und, auch nach Santillán, <strong>mit</strong> verringerter<br />

(!) Arbeitsanstrengung <strong>die</strong> Bedürfnisse aller befriedigt<br />

werden könnten. Er versucht, auf ökonomische<br />

Fragen ökonomische Antworten zu geben<br />

und <strong>die</strong> schwierige Verbindung <strong>mit</strong> dem Ziel einer<br />

libertären Gesellschaft zu finden. Die positiven wie<br />

<strong>die</strong> zerstörerischen Auswirkungen der Industrialisierung<br />

sind jetzt deutlicher zu sehen als vor 75<br />

Jahren und <strong>die</strong> zu beantwortenden Probleme sind<br />

dramatisch angewachsen. (Meine eigene Hoffnung<br />

wäre, dass sich das Industriezeitalter als Durchgangsphase<br />

erweist hin zu einer bescheideneren<br />

und klügeren Daseinsweise der Menschen in Einklang<br />

<strong>mit</strong> der Erde.) Da <strong>die</strong> Ökonomie <strong>die</strong> „Politik“<br />

beherrscht, sind machbare ökonomische Alternativen<br />

umso mehr ausschlaggebend. Natürlich ist es<br />

in gewissem Sinne eine undankbare Aufgabe der<br />

sich Santillán stellte. Ihr wird oft ausgewichen oder<br />

davon geträumt, dass übermorgen alle Arbeit von<br />

Maschinen verrichtet wird (und da<strong>mit</strong> das Problem<br />

anstrengungslos gelöst wäre).<br />

Das erste Zitat ist überhaupt nicht zu beanstanden:<br />

„Der moderne Industrialismus nach dem Muster<br />

von Ford ist reiner Faschismus, rechtmäßiger Despotismus.<br />

In den großen, rationalisierten Betrieben ist das Individuum<br />

nichts, <strong>die</strong> Maschine alles. Diejenigen unter<br />

uns, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Freiheit lieben, sind nicht nur Feinde des<br />

staatlichen Faschismus, sondern auch des wirtschaftlichen<br />

Faschismus.“ (S. 81)<br />

Dann habe es bei Santillán einen „plötzlichen Sinneswandel“<br />

gegeben:<br />

– „Er bemerkte anerkennend, dass <strong>die</strong> Taylorisierung<br />

<strong>die</strong> ‚unproduktiven Bewegungen des Einzelnen’ beseitigt<br />

und seine ‚Produktivität’ gesteigert habe:<br />

‚Es ist nicht nötig, <strong>die</strong> derzeitige technische Organisation<br />

der kapitalistischen Gesellschaft zu zerstören, sondern<br />

wir müssen sie nutzen.<br />

Die Revolution wird der Fabrik als Privateigentum<br />

ein Ende bereiten. Aber wenn <strong>die</strong> Fabrik bestehen und,<br />

unserer Meinung nach verbessert werden muss, dann<br />

muss man wissen, wie sie funktioniert. Die Tatsache,<br />

dass sie gesellschaftliches Eigentum wird, ändert das<br />

Wesen der Produktion oder <strong>die</strong> Produktionsmethoden<br />

nicht. Die Verteilung der Produktion wird sich ändern<br />

und gerechter werden.’” (S. 82)<br />

Das Vorangestellte enthält Bruchstücke eines<br />

zehn Zeilen langen Satzes, in dem Santillán den<br />

Taylorismus beschreibt und nicht befürwortet:<br />

„Neben <strong>die</strong>sem nicht bezifferbaren Zuwachs an verfügbarer<br />

und nutzbarer Energie wurden weitere Perfektionierungsmaßnahmen<br />

durchgeführt; zum Beispiel <strong>die</strong> Taylorisierung,<br />

<strong>die</strong> unproduktive Bewegungen des Einzelnen<br />

beseitigt und seine Produktivität erhöht, wobei <strong>die</strong> menschliche<br />

Arbeitskraft in der Fabrik bis zur Erschöpfung<br />

in Anspruch genommen wird; andere Prozesse, <strong>die</strong> dem<br />

gleichen Zweck <strong>die</strong>nen, bei denen aber nicht der Mensch,<br />

sondern <strong>die</strong> Maschinen, <strong>die</strong> automatischen Anlagen, <strong>die</strong><br />

Organisation der Produktion im Mittelpunkt stehen,<br />

sind verschiedene Perfektionierungsmaßnahmen, <strong>die</strong> als<br />

industrielle Rationalisierung bezeichnet werden. Alte<br />

Maschinen werden ausgesondert und durch neuartige<br />

Apparate ersetzt, deren Betreiben nur ein unbedeutendes<br />

Eingreifen des Arbeiters erfordert; <strong>die</strong> Produktion wird<br />

so organisiert, dass <strong>die</strong>se Fabrik sich nur auf ein bestimmtes<br />

Teil, etc. spezialisiert. Dank <strong>die</strong>ser Taylorisierung<br />

bei den Menschen und <strong>die</strong>ser Rationalisierung bei den<br />

Werkzeugen lässt sich <strong>die</strong> Produktionskapazität unter<br />

Verringerung der Zahl der beteiligten Hände in unvorstellbarem<br />

Umfang erhöhen.“ (A, S. 124, <strong>die</strong>se und<br />

nachfolgende Übersetzungen durch eine staatlich<br />

geprüfte Dolmetscherin)<br />

Der Doppelpunkt soll<br />

eine Bestätigung durch<br />

das anschließend Zitierte<br />

vortäuschen, das aus zwei<br />

anderen Artikeln genommen<br />

ist (von A, S. 156 und<br />

203). Warum montiert<br />

Seidman hier drei Stellen?<br />

Denkbar wäre, um<br />

dem Taylorismus-Vorwurf<br />

mehr „Fleisch“ zu<br />

spen<strong>die</strong>ren, denn <strong>die</strong>ses<br />

Highlight der Santillán-<br />

“Kritik“ bestünde sonst<br />

nur aus einem falsch bewerteten<br />

Satzbruchteil;<br />

der ganze Satz wird stattdessen<br />

ja den LeserInnen<br />

vorenthalten. Und es soll<br />

wohl suggeriert werden,<br />

dass nach der Revolution<br />

der vorgefundene Taylorismus<br />

als Bestandteil der<br />

technischen Organisation<br />

(?) konsequent weiterbetrieben<br />

werden würde.<br />

13<br />

Plakat der sozialistischen<br />

UGT-Metallergewerkschaft<br />

Barcelona:<br />

»Wir siegen<br />

<strong>mit</strong> Disziplin!«


14<br />

»Eifert ihm nach, dem<br />

Volkshelden!«<br />

Plakat nach<br />

Durrutis Tod<br />

CR I S T Ó B A L AR T E C H E<br />

gehörte der Gewerkschaft<br />

der professionellen<br />

Illustratoren (Sindicato de<br />

Dibujantes Profesionales,<br />

SDP - UGT) an.<br />

Die Arbeiterin fordert ihre<br />

Genossen auf, an <strong>die</strong><br />

Front zu gehen<br />

»Die Milizen brauchen<br />

Dich!«<br />

Barcelona 1936<br />

Atlántida AG<br />

Format: 140 x 100 cm<br />

Das ist aber genau nicht <strong>die</strong> Absicht Santilláns,<br />

denn wenn nicht wieder ein kleiner Teil sorgsam<br />

herausgeschnitten wäre, wäre zu lesen:<br />

„[Der II. anarchistische Kongress vertritt <strong>die</strong> Auffassung]<br />

dass es nicht notwendig ist, <strong>die</strong> in der kapitalistischen<br />

Gesellschaft erreichte technische Organisation zu<br />

zerstören, sondern dass der Mensch sich ihrer be<strong>die</strong>nen<br />

soll, wenn er sich Schritt für Schritt aus der Sklaverei<br />

befreien möchte, ihm auferlegt durch <strong>die</strong> dringendsten<br />

Bedürfnisse. Nur, sie muss beherrscht werden. Wir empfehlen<br />

nicht <strong>die</strong> Anpassung des Menschen an <strong>die</strong> Maschine,<br />

sondern alle menschlichen Anstrengungen darauf zu<br />

richten, <strong>die</strong> Maschine an den Menschen anzupassen und<br />

dabei das Konzept der Freiheit und menschlichen Würde<br />

lebendig zu erhalten.<br />

In der postkapitalistischen Wirtschaft stehen <strong>die</strong><br />

Maschinen im Dienste der ganzen Gesellschaft, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

modernsten wissenschaftlichen Arbeitsmethoden zum<br />

Wohle aller anwendet.“ (A, S. 156. Diese Stelle ist von<br />

Santillán zitiert aus einer Resolution des anarchistischen<br />

Kongresses von 1932 in Rosario, Argentinien)<br />

Später im Buch schaukelt sich das ohne jeden<br />

Beleg hoch zur Behauptung, <strong>die</strong> Gewerkschaften<br />

hätten Taylorismus oft eingesetzt: Gegen <strong>die</strong> Arbeit,<br />

S. 156 und 202. Leider wurde der Taylorismus-<br />

Vorwurf schon mehrfach abgeschrieben. Erstaunlich,<br />

wie leicht so eine schwere Anklage aufgrund<br />

einer winzigen (Fehl-)Indizie von manchen gern<br />

geglaubt wird.<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

– „Wie viele andere libertäre Aktivisten betonte der<br />

CNT-Führer <strong>die</strong> Notwendigkeit, das ‚Parasitentum’ zu<br />

beseitigen und für Arbeit für alle zu sorgen. Arbeit sei<br />

in einer revolutionären Gesellschaft sowohl Recht als<br />

Pflicht, und er pflichtete dem alten Sprichwort bei ‚Wer<br />

nicht arbeitet, soll auch nicht essen’:<br />

‘Wir suchen keine Freundschaften in der Fabrik. (…)<br />

Was uns vor allem in der Fabrik interessiert, ist, dass unser<br />

Arbeitskollege seinen Job versteht und ihn ausführt,<br />

ohne dass es Schwierigkeiten gibt, etwa weil er unerfahren<br />

ist oder <strong>die</strong> Funktionsweise des Ganzen nicht kennt.<br />

Das Heil liegt in der Arbeit und der Tag wird kommen,<br />

da <strong>die</strong> Arbeiter es wollen. Die Anarchisten, <strong>die</strong> einzige<br />

Strömung, <strong>die</strong> nicht versucht, auf Kosten anderer<br />

zu leben, kämpft für <strong>die</strong>sen Tag.’” (S. 82)<br />

Ein Bild von freudlosen, klösterlichen Arbeitshäusern<br />

drängt sich auf ... denn hier wird subtil der<br />

Bogen gespannt von Parasitentum zu Pflicht, zu<br />

keine Freundschaften und dem Heil in der Arbeit.<br />

Die zwei dem Zitat vorangestellten Sätze bringen<br />

Gedanken, <strong>die</strong> nicht nur Aktivisten eigen sind, sondern<br />

Ausgebeuteten zu allen Zeiten aus tiefstem<br />

Herzen kommen (<strong>die</strong> auch Professoren geläufig<br />

sind; Tip: im Internet nach „Jason Read“ und „parasites“<br />

suchen).<br />

Der <strong>mit</strong>tlere Teil hat eine ganz andere, nachvollziehbare<br />

Aussage in seinem wirklichen Zusammenhang:<br />

Bei Santillán lautet <strong>die</strong>se Stelle: (A, S. 204):<br />

“In unseren anarchistischen Kreisen herrscht anscheinend<br />

ein wenig Verwirrung über das Wesen des gesellschaftlichen<br />

Zusammenlebens, des Zusammenschlusses<br />

aus Affinität und der Funktion der Wirtschaft. Die<br />

Vorstellungen einiger Kameraden sind von den Bildern<br />

glücklicher Arka<strong>die</strong>n, freier Kommunen, beeinflußt. Aber<br />

Arka<strong>die</strong>n ist Vergangenheit; in der Zukunft wird es ganz<br />

andere Bedingungen geben. In der Fabrik geht es uns<br />

nicht um <strong>die</strong> Affinität wie bei einer Ehe, einer Freundschaft<br />

oder im gesellschaftlichen Bereich. In der Fabrik<br />

sind wir vor allem daran interessiert, einen Arbeitskollegen<br />

zu haben, der sich <strong>mit</strong> seiner Arbeit auskennt<br />

und sie ausführt, ohne durch seine Unerfahrenheit oder<br />

Unfähigkeit Probleme im Gesamtablauf zu verursachen.<br />

Das Zusammenleben in der Fabrik beruht nicht auf der<br />

Affinität der Charaktere, sondern auf Arbeitsfähigkeiten,<br />

auf Berufserfahrung. Kurz gesagt hat <strong>die</strong> Affinitätsgruppe,<br />

<strong>die</strong> sich im gesellschaftlichen Leben bildet, keine spezifische<br />

Funktion im Wirtschaftsleben.”<br />

Seidman hat es hier nicht genaugenommen<br />

<strong>mit</strong> afinidad (Verwandtschaft, Anziehung ...) und<br />

amistad (Freundschaft). Was Santillán sagen will<br />

ist aber aus dem Arbeitsleben heraus gut verständlich:<br />

Er vergleicht eine freie Kommune (eher <strong>die</strong><br />

Ausnahme) <strong>mit</strong> einem Betrieb, in dem man sich <strong>die</strong><br />

KollegInnen nicht aussuchen kann. Es ist kein frei<br />

gewähltes Miteinander, sondern ein Zusammentreffen<br />

verschiedener Altersgruppen, Mentalitäten,<br />

Geschlechter, Lebenseinstellungen. Freundschaft<br />

ist nicht Zutrittsvoraussetzung; sie entsteht bei der<br />

gemeinsamen Arbeit und darüberhinaus oder sie<br />

entsteht manchmal auch nicht. Kennen wir doch?<br />

Das Mißverständliche, was Seidman hier zudem<br />

reinträgt, ist, dass er Angelegenheiten innerhalb des<br />

Betriebs und der Belegschaft vermischt <strong>mit</strong> einer<br />

Gruppe, <strong>die</strong> außerhalb der Arbeitswelt steht, eben<br />

den „Parasiten“ (Blutsaugern). Denen, <strong>die</strong> nicht daran<br />

denken zu arbeiten, weil sie von Profit leben<br />

oder dem Klerus, Adel, Militär oder Herrschaftsapparat<br />

angehören. Diese Schichten waren in Spanien<br />

besonders aufgebläht, sie lasteten schwer auf denen,<br />

<strong>die</strong> gearbeitet haben und konsumierten mehr<br />

als <strong>die</strong> Produzenten. Nach Santillán übte damals<br />

nur eine Minderheit der Bevölkerung eine Tätigkeit<br />

aus, <strong>die</strong> nützliche Gebrauchswerte herstellte.<br />

(Heute nicht viel anders, aber vielleicht nicht so<br />

offensichtlich.) Dann liegt es doch nahe zu überlegen:<br />

Wenn alle Arbeitsfähigen was tun, wenn wir<br />

dazu Technik und Wissenschaft anwenden, wenn<br />

kein sinnloser Luxus mehr hergestellt wird, dann<br />

.... hätten alle reichlich und müßten nur den halben<br />

Tag arbeiten!<br />

Mit einem Sprung sind wir durch den dritten<br />

Bestandteil in einem Artikel über <strong>die</strong> Situation un<strong>mit</strong>telbar<br />

nach dem Wahlsieg der Frente Popular im<br />

Februar 1936 gelandet:<br />

„Für <strong>die</strong>ses Ergebnis wollte man unsere Unterstützung?<br />

Schon bald werdet ihr, Industrie- und Landarbeiter,<br />

arbeitslose Techniker, Selbstständige, Frauen und<br />

Männer, es sehen; schon bald werdet ihr sehen, dass wir<br />

euch nur <strong>die</strong> Wahrheit gesagt haben. Eure Lage wird<br />

heute <strong>die</strong> gleiche sein wie gestern und wenn sich daran<br />

etwas ändert, dann zum Schlechteren.<br />

Das kann nicht anders sein. Die Probleme in Spanien<br />

sind Probleme, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> Arbeit, Schweiß, fruchttragenden<br />

Anstrengungen, aber auch <strong>mit</strong> Freiheit und Gerechtigkeit<br />

gelöst werden können. Und weder Linke noch Rechte<br />

noch das Zentrum können sie lösen, da sie pflichtgemäß<br />

das Parasitentum, <strong>die</strong> Arbeitslosigkeit, <strong>die</strong> Ungerechtigkeit<br />

und <strong>die</strong> Sklaverei aufrechterhalten müssen.<br />

Den Weg haben wir bereits aufgezeigt: er besteht im<br />

Übereinkommen der Produzenten, ein monströses System<br />

zu beseitigen, das den freien Zugang zur Arbeit<br />

nicht erlaubt und eine beispiellose Beschäftigungslosigkeit<br />

von Arbeitern, Bauern und Technikern ermöglicht,<br />

während es Boden und nutzbare Ressourcen in Fülle gibt<br />

und halb Spanien langsam an Hunger und Entbehrungen<br />

zu Grunde geht.


arrikade sieben - April 2012<br />

Die Rettung liegt in der Arbeit. Und der Tag wird<br />

kommen, an dem <strong>die</strong> Arbeiter sich nach ihr [<strong>die</strong>ser Rettung]<br />

sehnen. Für <strong>die</strong>sen Tag kämpfen wir Anarchisten<br />

als einzige gesellschaftliche Geistesströmung, <strong>die</strong> nicht<br />

versucht, auf Kosten der Anstrengungen anderer zu leben;<br />

aber das geht nicht über das Parlament, da will ich<br />

niemandem etwas vormachen.“ (A, S. 313)<br />

Da hat <strong>die</strong> deutsche Übersetzung noch eins<br />

draufgelegt (salvatión –> salvation –> Heil). Santillán<br />

vergleicht hier <strong>die</strong> Möglichkeiten der „Rettung“<br />

aus der zerrütteten Situation Spaniens durch politische<br />

oder ökonomische Aktion. Syndikalisten setzen<br />

nun mal keine Hoffnungen auf <strong>die</strong> Wahlurne.<br />

Und in der Ökonomie ist in ihrem Verständnis <strong>die</strong><br />

lebendige Arbeit im Fokus, nicht <strong>die</strong> tote Arbeit in<br />

Gestalt von Produktions<strong>mit</strong>teln oder Investitionen.<br />

– „Außerdem brauche Spanien eine leistungsfähige<br />

Automobilindustrie (etwa nach amerikanischen Vorbild):<br />

‚Vor noch nicht allzu vielen Jahren war das Automobil<br />

eine Seltenheit. (…) Heutzutage ist es fast ein<br />

proletarisches Fahrzeug, das in unserer Kultur heimisch<br />

ist, und es muss für alle, absolut alle Einwohner des Landes<br />

erwerbbar werden. (…) Wir bevorzugen <strong>die</strong> Ford-<br />

Fabrik, in der es keine Spekulation mehr gibt, in der <strong>die</strong><br />

Gesundheit der Belegschaft gewahrt ist und <strong>die</strong> Löhne<br />

steigen. Das Ergebnis ist besser als ein winziger Betrieb<br />

in Barcelona.’” (S. 89)<br />

Dieses Zitat ist ein Mix von zwei weit auseinander<br />

liegenden Stellen in Santilláns anderer Schrift<br />

(B, S. 58 und 156). Santillán war für <strong>die</strong> Errichtung<br />

von Autofabriken. Vielleicht verständlich, wenn<br />

man daran denkt, dass ein großer Teil der Bevölkerung<br />

damals zu Fuß auf der Landstrasse von Stadt<br />

zu Stadt marschierte, mangels Geld und Beförderungs<strong>mit</strong>teln.<br />

Aber ein Anarchist, der will, dass<br />

sich möglichst alle ein Auto kaufen können, ein<br />

Beförderer des Autowahns? Nein, denn bei Santillán<br />

steht: “Ein Automobil … muss für alle, absolut alle<br />

Einwohner des Landes, <strong>die</strong> es brauchen, in Reichweite<br />

sein.” (B, Seite 58. In der englischen Ausgabe war<br />

das noch korrekt, der Fehler entstand bei der Übersetzung<br />

ins Deutsche.)<br />

Die beiden letzten Sätze in ihrem Zusammenhang:<br />

“Vor allem hier wird <strong>die</strong> Notwendigkeit einer engen<br />

Beziehung zwischen allen verbundenen Kräften deutlich.<br />

Auf den ersten Blick erzeugt <strong>die</strong>ser ganze Mechanismus<br />

ein Gefühl des Misstrauens, weil man sofort das<br />

leitende Zentrum entdeckt, <strong>die</strong> Diktatur der Bürokratie.<br />

Wir leugnen nicht <strong>die</strong> Gefahr von Abweichungen in<br />

<strong>die</strong>sem Sinne, Abweichungen, wie sie in einem unzusammenhängenden,<br />

zerteilten, dem Zufall überlassenen<br />

Transportsystem ebenfalls vorkommen könnten; bei <strong>die</strong>ser<br />

Form hätte man jedoch den Vorteil der Produktivität<br />

und Effizienz. Die gleichen Nachteile des Bürokratismus,<br />

des Autoritarismus, können sowohl in einer kleinen Autofabrik<br />

in Barcelona als auch in einer Fabrik wie der von<br />

Ford in Detroit vorkommen; das praktische Ergebnis der<br />

Anstrengung ist jedoch unterschiedlich und wir bevorzugen<br />

<strong>die</strong> Ford-Fabrik, in der nach der Abschaffung der<br />

Spekulation <strong>mit</strong> einer besseren Gesundheitsversorgung<br />

des Personals und höheren Löhnen ein besseres Ergebnis<br />

erzielt wird als in dem sehr kleinen Betrieb in Barcelona.”<br />

(B, S. 156)<br />

Im Text von Santillán <strong>die</strong>nt <strong>die</strong> Ford-Fabrik als<br />

Beispiel für <strong>die</strong> effizientere Herstellung von Gütern<br />

in einem Großbetrieb im Vergleich zu verstreuten<br />

Kleinbetrieben, und er nennt <strong>mit</strong> kapitalis-tischen<br />

Großbetrieben verbundene<br />

Gefahren. Nicht zuletzt<br />

steht <strong>die</strong>ser Abschnitt<br />

im Kapitel über das Transportwesen;<br />

Intention ist<br />

<strong>die</strong> Vermeidung hohen<br />

Transportaufwands zwischen<br />

den Produktionsstätten<br />

und der Vorteil<br />

durch Serienproduktion.<br />

Nachdem hier das Wort<br />

„Ford“ gefallen ist, wird<br />

es weiter hinten auf S. 201<br />

wieder aufgegriffen: „Santillán<br />

hatte den Fordismus befürwortet...“<br />

Ach ja, da war<br />

doch was ... wird schon<br />

was dran sein ...<br />

Das waren alle drei im<br />

Text herausgehobenen längeren<br />

Zitate. Noch zu einigen<br />

indirekten Zitaten:<br />

– “Zudem sei der Kapitalismus<br />

unfähig, den höchsten<br />

Arbeitsertrag aus seinen<br />

Arbeitern herauszuziehen.”<br />

(S. 88) Bei Santillán steht:<br />

“In Bezug auf <strong>die</strong> menschliche Arbeit, sowohl Kopf- wie<br />

Handarbeit, nützt das jetzige ökonomische System nur<br />

50 Prozent der Leistungskapazität.” (B, S. 52) Dann<br />

zählt Santillán Arbeitslose in verschiedenen Bereichen<br />

auf, denn es geht an <strong>die</strong>ser Stelle um Nichtbeschäftigung<br />

oder Arbeitslosigkeit!<br />

– „Freizeit, Faulheit und Parasitentum seien entwürdigend<br />

und müßten beseitigt werden.“ (S. 89)<br />

Quelle, wenn es sie gibt, nicht gefunden.<br />

– „Der CNT-Führer beklagte, dass sich <strong>die</strong> Veranlagung,<br />

ohne Arbeit zu leben durch <strong>die</strong> gesamte spanische<br />

Geschichte gezogen habe…“ (S. 89)<br />

Bei Santillán steht das Gegenteil: „Eine Tendenz zu<br />

leben ohne zu arbeiten – im übrigen sehr menschlich –<br />

wurde zu allen Zeiten gegen Spanien vorgebracht. Diese<br />

von oberflächlichen Beobachtern viel zu sehr betonte<br />

Tendenz hat Spanien einen besonderen Ruf verschafft.<br />

Aber <strong>die</strong>se Tendenz ist das Merkmal der privilegierten<br />

Klassen; Spaniens Arbeiter und Bauern sind äußerst arbeitssam<br />

und wir, <strong>die</strong> wir viele Länder kennen, können<br />

<strong>die</strong> These irgendeiner Unterlegenheit nicht bestätigen,<br />

etwa hinsichtlich der Fähigkeiten oder der Ausdauer in<br />

der Arbeit. Es gibt Spanier in den modernsten Fabriken<br />

der Vereinigten Staaten, in der argentinischen Pampa, in<br />

allen Klimazonen, an allen Arbeitsorten der Welt, gleich<br />

<strong>mit</strong> allen anderen. Wenn sie etwas unterscheidet, dann<br />

vielleicht ihr stärkerer Geist der Unabhängigkeit, ihre<br />

größere Neigung zu Rebellion. Deshalb wurde ihnen an<br />

verschiedenen Stellen der Zugang verwehrt, nicht wegen<br />

schlechterer Arbeit.“ (B, S. 69/70)<br />

– “Santillán hielt fest, dass es ‚in einem Regime organisierter<br />

Arbeit sehr schwer ist, außerhalb der Produktion<br />

zu leben.’” (S. 96) Auch hier ein nicht unwesentlicher<br />

Satz sehr verkürzt:<br />

„Arbeit wird ein Recht und auch eine Pflicht sein. Einige<br />

intelligente Minderheiten werden keinerlei Zwang<br />

irgendeiner Art benötigen, um das Notwendige und<br />

darüber hinaus zu arbeiten. Aber wird das bei allen so<br />

sein?<br />

15<br />

CNT-Plakat:<br />

»Gruß den<br />

heroischen Kämpfern<br />

der Freiheit!«<br />

CNT-Plakat: »Unsere<br />

Küsten werden von unseren<br />

heldenhaften<br />

Seeleuten verteidigt!«


16<br />

Plakat der CNT - FAI<br />

Künstler: TO N Y VI D A L<br />

Barcelona 1936<br />

Druckerei: Seix Barral<br />

Format: 52 x 68 cm<br />

An dem Tag, an dem<br />

sie sich ihrer Vorurteile<br />

entledigt haben,<br />

an <strong>die</strong>sem Tag erst können<br />

<strong>die</strong> Historiker eine<br />

ernsthafte Stu<strong>die</strong><br />

der Volksbewegung<br />

unternehmen, <strong>die</strong> das<br />

republikanische Spanien<br />

erschüttert<br />

und eine der markantesten<br />

sozialen<br />

Revolutionen<br />

der Geschichte hervorgebracht<br />

hat.<br />

• NoaM CHoMsKY<br />

Das Wirtschaftsleben darf nicht unterbrochen werden;<br />

im Gegenteil, <strong>die</strong> Revolution soll kräftig zur Belebung<br />

desselben beitragen und es ist notwendig zu wissen,<br />

auf welchen Grundlagen wir schon jetzt aufbauen<br />

müssen, um während und nach der Revolution ohne <strong>die</strong><br />

Genehmigung des Kapitalisten und ohne <strong>die</strong> Erlaubnis<br />

des Staates weiter zu produzieren, zu verteilen und zu<br />

konsumieren, nicht nur <strong>die</strong> Anhänger der Revolution,<br />

sondern auch <strong>die</strong> Gegner, <strong>die</strong> Nichtgewinnbaren, <strong>die</strong><br />

Unzufriedenen.<br />

Man befürchtet, dass in einer freien Gesellschaft <strong>die</strong><br />

Faulenzer, <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> nicht bereit sind, produktiv zu<br />

arbeiten, leicht jeder Verpflichtung ausweichen könnten;<br />

es ist jedoch in einem System der organisierten Arbeit<br />

sehr schwierig, abseits der Produktion zu leben; ein<br />

Übermaß an Zwang und Strenge wäre mehr zu fürchten<br />

als ein Lockern der Bindungen des produktiven Zusammenhalts.<br />

Deshalb haben wir immer gesagt, dass <strong>die</strong> kommende<br />

Revolution, der <strong>die</strong> Anarchisten ihre Begeisterung, ihren<br />

Kampfgeist, ihre Selbstlosigkeit widmen, keine Revolution<br />

sein wird, nach der Widerstand gegen den Autoritätsgeist<br />

keine Daseinsberechtigung mehr hätte; nach<br />

der Zerschlagung des Kapitalismus wartet eine lange<br />

und reiche libertäre Arbeit auf uns, da sich <strong>die</strong> jahrhundertelange<br />

Erziehung durch und für <strong>die</strong> Obrigkeit nicht<br />

<strong>mit</strong> einem einzigen wuchtigen Schlag auslöschen läßt.“<br />

(B, S. 93/94)<br />

Eine grobe Fälschung der Meinung anderer Syndikalisten<br />

und Anarchisten findet sich ebenfalls<br />

auf Seite 96. Seidman: „Vor <strong>die</strong> Wahl gestellt zwischen<br />

Arbeiterbeteiligung an der Produktion und Leistungsfähigkeit<br />

der Produktion deuteten einige Libertäre ihre<br />

Antwort an: ‚Der libertäre Sozialismus hat nie das Recht<br />

bestritten, sich denen zu widersetzen, <strong>die</strong> das kollektive<br />

Leben beeinträchtigen können.’ Anarchosyndikalisten<br />

wären berechtigt, ein Individuum zu bestrafen, ‚das sich<br />

aus Böswilligkeit oder einem anderen Grund der zuvor<br />

vereinbarten Disziplin nicht beugen will.’”<br />

Die Quelle: Gaston Leval, Conceptos económicos en<br />

el socialismo libertario (Buenos Aires, 1935). Internetquelle<br />

für <strong>die</strong> Recherche: https://we.riseup.net/jessecohn/experimental-translation-wiki.<br />

Dort steht es so:<br />

„Der libertäre Sozialismus hat nie das Recht bestritten,<br />

sich denen zu widersetzen, <strong>die</strong> das kollektive Leben<br />

beeinträchtigen können. Einfach gesagt lehnt er es ab,<br />

den Normen zu folgen, <strong>die</strong> von allen strafenden Schulen<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

der Autoritären und des Kapitalismus vorgegeben werden.<br />

Zum Umgang <strong>mit</strong> den Faulpelzen meint Kropotkin,<br />

indem er <strong>die</strong> Frage auf das Wesentliche reduziert: wenn<br />

sie der Gesellschaft nicht wirklich Schaden zufügen,<br />

muss man sie aushalten und durch moralischen Druck<br />

versuchen, sie dazu zu bewegen, ihr Verhalten zu ändern.<br />

Aber im gebotenen Fall gibt es auch radikalere<br />

Mittel: ‚Nehmen wir eine Gruppe Freiwilliger an, <strong>die</strong><br />

sich zu einer Unternehmung vereinigt haben und für ihr<br />

Gelingen zusammen arbeiten. Ein Genosse bildet eine<br />

Ausnahme und fehlt häufig auf seinem Posten. Sollte<br />

man nun seinetwegen <strong>die</strong> freie Gruppierung aufgeben,<br />

einen Präsidenten wählen, welchem das Recht zustände,<br />

Strafen zu verhängen, oder, wie es in der Akademie der<br />

Brauch ist, Besuchsmarken zu verteilen? Es ist augenscheinlich,<br />

dass man weder das eine noch das andere tun<br />

wird, sondern dass man eines Tages zu dem Kameraden,<br />

der <strong>die</strong> Unternehmung zu gefährden droht, sagen wird:<br />

Mein Freund, wir würden gerne <strong>mit</strong> dir zusammenarbeiten;<br />

aber wenn du so häufig an deinem Posten fehlst,<br />

oder deine Arbeit nachlässig verrichtest, so müssen wir<br />

uns trennen. Geh du und suche dir andere Kameraden,<br />

<strong>die</strong> sich deine Lässigkeit gefallen lassen.’*<br />

Diese Auffassung steht nicht allein. Jean Grave erklärte<br />

kategorisch: ‚So wie sich jedes Individuum den Willkürakten<br />

einer Gruppe entziehen kann, kann <strong>die</strong> Gruppe<br />

ihre Zusammenarbeit <strong>mit</strong> einem Individuum aufkündigen,<br />

das aus Böswilligkeit oder einem anderen Motiv<br />

sich in dem Zusammenspiel der aufgeteilten Arbeit<br />

nicht der vorher vereinbarten Disziplin beugen will.’”<br />

[* aus Kropotkin, Die Eroberung des Brotes]<br />

Kann man sich so vertun, dass der Kern der Aussage<br />

ins Gegenteil verkehrt wird?<br />

Mehr habe ich nicht nachgeforscht, möchte aber<br />

vermuten: es zieht sich durch. Die Quellenmanipulationen<br />

und <strong>die</strong> Thesen <strong>Seidmans</strong> stehen für mich<br />

in einem engen Wechselverhältnis: das eine bedingt<br />

das andere. Hier wird gutgläubigen LeserInnen<br />

schon <strong>mit</strong> dem Ausgangsmaterial <strong>die</strong> verdrehte<br />

Auslegung in den Mund gelöffelt! Offen bleibt, wie<br />

Seidman <strong>mit</strong> anderen, insbesondere den weniger<br />

leicht zugänglichen Quellen umgesprungen ist.<br />

Wenn <strong>die</strong>se Recherche überprüft ist, liegt es noch<br />

am Verlag. Dieses Buch sollte in Zukunft ehrlicherweise<br />

nur noch <strong>mit</strong> einem Aufkleber ausgeliefert<br />

werden: “Vorsicht! Für richtige Quellenwiedergabe<br />

stehen wir nicht gerade. Kann nicht als Sekundärquelle<br />

verwendet werden!”<br />

• HANS HANFSTINGL (municwob@web.de)<br />

März 2012 (Sämtliche Auslassungen durch<br />

Seidman; Unterstreichungen <strong>die</strong>nen<br />

nur der Hervorhebung)<br />

zur Veröffentlichung in der <strong>barrikade</strong> # 7


arrikade sieben - April 2012<br />

Seidman’s Plakat-Märchen<br />

»Viele der Plakatkünstler waren schon vor der Revolution<br />

in der Werbebranche tätig gewesen, und sie arbeiteten<br />

nicht nur für eine, sondern für mehrere Organisationen.<br />

So entwarf etwa ein Funktionär der Gewerkschaft<br />

der Berufsdesigner Poster für <strong>die</strong> CNT, <strong>die</strong> UGT, <strong>die</strong><br />

PSUC und <strong>die</strong> Generalitat. Seine Gewerkschaft stellte<br />

sogar für den POUM, <strong>die</strong> unabhängige kommunistische<br />

Organisation, Plakate her. Es entstand ein ökumenischer<br />

Stil, der (trotz leichter thematischer Unterschiede)<br />

sowohl <strong>die</strong> Arbeiter als auch <strong>die</strong> Produktivkräfte<br />

in nahezu identischer Weise darstellte. Selbst als sich<br />

Anarchosyndikalisten und Kommunisten im Mai 1937<br />

in den Straßen von Barcelona gegenseitig umbrachten,<br />

blieb <strong>die</strong> ästhetische Einheit der Volksfront bestehen.<br />

Ideologische Auseinandersetzungen und Machtkämpfe<br />

hinderten konkurrierende Organisationen nicht, ähnliche<br />

Darstellungen ihrer vorgeblichen Basis zu akzeptieren.<br />

(…)<br />

Die Figuren wären ununterscheidbar, wären da nicht<br />

ihre Gerätschaften und ihre Körperhaltung. Lebendiges<br />

Rot und Schwarz, <strong>die</strong> Farben der anarchistischen Bewegung,<br />

verstärkten das Profil der mächtigen Arbeiter.<br />

Die Titelzeile lautete: Genosse, arbeite und kämpfe für<br />

<strong>die</strong> Revolution. Niemals bildeten <strong>die</strong> Künstler <strong>die</strong> Arbeiter<br />

und Soldaten auf den Plakaten müde, hungrig oder<br />

krank ab. (…)<br />

Die Interpretation der Plakate hilft uns zu verstehen,<br />

wie einerseits Marxisten und Anarchosyndikalisten sich<br />

<strong>die</strong> Arbeiterklasse im wahrsten Sinne des Wortes vorstellten,<br />

und wie <strong>die</strong> Revolutionäre andererseits auf das<br />

reale Verhalten der Arbeiter während des Bürgerkriegs<br />

und der Revolution reagierten«<br />

• Graswurzelrevolution Nr. 363, November 2011<br />

Es ist also eine Anklage gegen einen der Künstler,<br />

der sich verschiedenen Gewerkschaften und Parteien<br />

grafisch zur Verfügung stellt – und es sogar<br />

wagt, <strong>die</strong> „unabhängige kommunistische Organisation“,<br />

also <strong>die</strong> POUM, plakativ zu unterstützen.<br />

Überall gröhlten <strong>die</strong> Kommunisten von der Volksfront<br />

und <strong>die</strong> CNT und UGT hatten 1938 gar ihre<br />

Fusion zur Einheitsgewerkschaft beschlossen.<br />

Diese Anschuldigungen sind infam und lächerlich.<br />

Genauso könnte man Seidman diskreditieren,<br />

weil er Bücher schreibt – für Geld und eben<strong>die</strong>se<br />

auch noch in kapitalistischen Verlagshäusern oder<br />

Universitätsverlagen herausgibt …<br />

Unabhängig davon, dass wohl keine Werbung<br />

und schon gar keine Propaganda, weder heute<br />

noch seinerzeit, negativ <strong>die</strong> eigenen Ziele darstellen<br />

würde, wir keine/r müde Arbeiter/innen oder<br />

verhungerte Kinder oder sterbenskranke Rentner/<br />

innen für eine Lebensversicherung oder den Beitritt<br />

zu einer Organisation abbilden. Aber was solls,<br />

Seidman weiß es eben besser.<br />

“Unglücklicherweise”, kommentiert Seidman<br />

selbst seine magere Beweisführung (es gibt keine<br />

einzigen Quellenhinweis für seine Behauptungen<br />

zur ‚Kunst in der Revolution’ auf den Seiten 161-<br />

167 in seinem Buch), „ist es sehr schwierig, wenn<br />

nicht gar unmöglich, <strong>die</strong> Wirkung <strong>die</strong>ser Plakate auf das<br />

Verhalten der Arbeiterklasse Barcelonas abzuschätzen:<br />

Rowdys und Graffiti-Künstler avant le lettre rissen viele<br />

Plakate herunter oder überdeckten sie, kaum dass sie an<br />

den Wänden angebracht waren. Bisher gibt es kaum Belege<br />

dafür, dass der sozialistische Realismus der Frente<br />

popular <strong>die</strong> Produktion oder <strong>die</strong> Kampfbereitschaft gesteigert<br />

hätte.“<br />

Also mal wieder – zu welchem Zeitpunkt ergeht<br />

<strong>die</strong>se „Analyse“? Wann tauchten <strong>die</strong> angeblichen<br />

Graffiti-Aktionisten „ihrer Zeit voraus“ denn auf?<br />

Und wer hatte Zeit, den Plakat-Kolonnen hinterher<br />

zu laufen und deren Arbeit zu übermalen oder abzureißen?<br />

Wie Seidman arbeitet, beweist folgender Satz:<br />

„Ein Plakat der CNT, das in Barcelona für das Departemento<br />

de orden público de Aragon hergestellt wurde,<br />

stellt einen dicken Mann dar, (…) Am unteren Rand<br />

stand zu lesen: Der faule Mann ist ein Faschist.“ (S. 164)<br />

Wir haben das Plakat auf der dritten Umschlagseite<br />

<strong>die</strong>ser <strong>barrikade</strong> abgedruckt. Auch wenn der Rat<br />

von Aragón vom CNT-Militanten JoaQuin Ascaso<br />

präsi<strong>die</strong>rt und <strong>die</strong> Behörde für Öffentliche Ordnung<br />

durch den Genossen Adolfo Ballano (bis<br />

zur Auflösung des ConseJo De AraGÓn im August<br />

1937), so ist es nicht einfach „ein Plakat der CNT“,<br />

sondern der CNT-UGT-Regierung Aragóns.<br />

Natürlich packt Seidman hier auch seine Kritik<br />

am Personenkult um Durruti <strong>mit</strong> hinein, den er<br />

<strong>mit</strong> dem bolschewistischen Kult um – Stalin vergleicht.<br />

Und das, obwohl er selbst schreibt, dass<br />

erst aufgrund der kommunistischen Propaganda<br />

um Marx, Lenin und Stalin „<strong>die</strong> Libertären <strong>mit</strong> Fotografien,<br />

Zeichnungen und Porträits von Durruti, dessen<br />

Bild in der anarchosyndikalistischen Presse ebenso allgegenwärtig<br />

schien wie das Konterfei Stalins in kommunistischen<br />

Veröffentlichungen antworteten“. Es „schien“<br />

also so – das ist <strong>die</strong> reinste Meinungsmache und<br />

Manipulation! (S. 165). Auch dürfte es einen feinen<br />

Unterschied machen, ob man Lenin und Stalin als<br />

Lichtgestalten - eben Führer! - darstellt oder nach<br />

Durrutis Tod <strong>die</strong> Arbeiterschaft auffordert: ¡I<strong>mit</strong>ad<br />

el hero del pueblo! (S. 14 oben) Also identifiziert Euch<br />

<strong>mit</strong> ihm, seinen Zielen, eifert ihm nach. Das hat <strong>mit</strong><br />

einem Heiligenschein nichts zu tun.<br />

Aus dem Bildband Palette und Flamme – Plakate<br />

aus dem Spanischen Bürgerkrieg von John Tisa<br />

AR T U R O BA L L E S T E R<br />

17<br />

Maler, Illustrator und<br />

Plakatkünstler, geboren<br />

in Valencia 1892, dort<br />

auch gestorben 1981.<br />

Er stu<strong>die</strong>rte Kunst<br />

und Handel. Nach der<br />

Ausbildung arbeitete er als<br />

Illustrator für verschiedene<br />

Zeitschriften Valencias.<br />

Seine Plakate während<br />

des Bürgerkrieges<br />

gehören zu seinen<br />

wichtigsten Arbeiten (siehe<br />

u.a. Seite 11 für <strong>die</strong> UGT).<br />

Er arbeitete hauptsächlich<br />

für <strong>die</strong> CNT, <strong>die</strong> stärkste<br />

Gewerkschaft Spaniens.<br />

Die Plakate von Arturo<br />

Ballester zeigen ihm<br />

besonders beeinfl ußt vom<br />

sowjetischen Realismus.<br />

Er war berühmt für seinen<br />

art deco style.<br />

Er wurde <strong>mit</strong> dem Epitaph<br />

„Künstler der Republik“<br />

beerdigt.<br />

Sein Bruder VI N C E N T<br />

BA L L E S T E R entwarf<br />

ebenfalls Plakate<br />

während <strong>die</strong>ser Zeit.<br />

BA L D I A VI L A T Ó<br />

auch: XA V I E R BA D I A VI L A T Ó<br />

Während des Bürgerkrieges<br />

arbeitete er für <strong>die</strong><br />

CNT und FAI<br />

(siehe Plakat Seite 19).<br />

Nach seiner Flucht nach<br />

Frankreich arbeitete<br />

er als kommerziellen<br />

Grafi ker u.a. für <strong>die</strong> Fluggesellschaft<br />

Air France<br />

und entwarf eines ihrer<br />

berühmtesten Plakate.<br />

Er setzte sein Engagement<br />

gegen Franco und<br />

dessen Repression<br />

fort und unterstütze<br />

<strong>die</strong> anarchistische<br />

SIA (Solidaridad<br />

Internacional Antifascista),<br />

<strong>die</strong> internationale<br />

antifaschistische Hilfe<br />

organisierte.<br />

Ende der Fünfziger<br />

Jahre wanderte er nach<br />

Südamerika aus, wo sich<br />

seine Spur verliert.<br />

Das Werk Images de<br />

l’Espagne Franquiste,<br />

veröfffentlichete er 1947<br />

in Paris für <strong>die</strong> Allianz<br />

der Demokratischen<br />

Kräfte Spaniens. Der<br />

dreisprachige Text -<br />

Spanisch, Französisch<br />

und Englisch - des<br />

Filmemachers MA T E O<br />

SA N T O S, erläuterte BA D I A<br />

VI L A T Ós kraftvolle und<br />

farbige Lithografi en, <strong>die</strong><br />

seinen surrealistischen<br />

Einfl uß deutlich machten.


18<br />

»Der Seemann:<br />

ein Held!«<br />

CNT - AIT<br />

Plakat-Nachweise:<br />

Seite 19 - gegenüber:<br />

»Habgier. Militarismus.<br />

Krieg - das ist<br />

Faschismus.<br />

Vernichten wir ihn <strong>mit</strong><br />

vereinten Kräften.«<br />

Künstler: BA D I A VI L A T Ó -<br />

CNT -Format: 71 x 102 cm<br />

Seite 25:<br />

»Kultur! Die faschistische<br />

Barbarei gegen<br />

Madrid«<br />

Künstler: MU R O - CNT-AIT<br />

Format: 71 x 102 cm<br />

Viele weitere Plakate,<br />

sortiert nach Künstlern und<br />

Themen hier:<br />

SO C I E D A D BE N É F I C A D E<br />

HI S T O R I A D O R E S AF I C I O N A D O S<br />

Y CR E A D O R E S:<br />

www.arte.sbhac.net<br />

(Sofia-Press, 1980), also einem bulgarischen<br />

kommunistischen Verlag<br />

(!), dokumentiere ich mal folgende<br />

künstlerische Betrachtungen:<br />

„Andere [Plakate] erschienen in<br />

den graphischen Unternehmen Grafos<br />

Collectivitzada, Barcelona; Lt. Cromo,<br />

Madrid; LYF, Madrid; Lito Martin,<br />

Madrid; Empressa Collectivitzada, Barcelona;<br />

Barguño, Barcelona; S. Dura,<br />

Valencia.<br />

Die Grafiker, Drucker, Zeichner,<br />

Lithografen arbeiteten unter den erschwerten<br />

Bedingungen von Luftangriffen,<br />

Artilleriebeschuß, bei niedrigen<br />

Lebens<strong>mit</strong>tel- und Heizstoffrationen,<br />

unzureichender Stromversorgung für<br />

<strong>die</strong> Beleuchtung und den Maschinenbetrieb<br />

usw. Und doch [haben] ihre Leistungen<br />

auch für uns eine inspirierende<br />

Wirkung bewahrt.<br />

Die ästhetischen Tendenzen der<br />

Künstler variieren wesentlich. Sie<br />

schwankten zwischen dem relativen<br />

Naturalismus eines Bardasano und der<br />

außergewöhnlich talentierten Satire eines<br />

Pujol. (…) Muro be<strong>die</strong>nte sich bei<br />

der vernichtenden Anklage gegen den<br />

Faschismus in „Kultur“ der Fotomontage.<br />

Renau orchestrierte <strong>die</strong> realistische<br />

Montage einer geballten Faust, <strong>die</strong> aus<br />

einem Wald von Bajonetten auf dem Plakat<br />

„El Comisario“ (Der Kommissar)<br />

herausragt.“ Und: „Arturo Ballester<br />

erreicht ebenfalls ein Gefühl von Stilreinheit<br />

und Kraft in seinem klassisch<br />

dargestellten Soldaten vor dem Hintergrund<br />

der griechischen Siegesstatue<br />

in „Sin Disciplina No Hay Victoria“<br />

(Ohne Disziplin – kein Sieg).“<br />

Abschließend bemerkt AnthonY ToneY, seines<br />

Zeichens Akademiker der Nationalen DesiGn-AKa-<br />

DeMie der USA und Veteran der ABraHaM LinColn-<br />

BriGaDe: „Das sind nur einige der Plakate, <strong>die</strong> mir besonders<br />

wirkungsvoll erscheinen.“<br />

Insgesamt enthält der Bildband 158 Plakate von<br />

57 namentlich identifizierten und 23 von unbekannten<br />

Künstlern. Arturo Ballester wird <strong>mit</strong> nur 3<br />

Plakaten – Bauer: <strong>die</strong>s ist Dein Platz (sieh zweite Umschlag<br />

links unten) für <strong>die</strong> FederaciÓn Regional de<br />

CamPesinos de LeVante der CNT; El Pueblo – Tageszeitung<br />

der Syndikalistische Partei und eben Ohne<br />

Disziplin – Kein Sieg! für <strong>die</strong> SoZialistische Partei<br />

PSOE (siehe S. 11) – dokumentiert.<br />

Seidman führt auch keinerlei Quelle für <strong>die</strong> Behauptung<br />

an, dass es einen professionellen Grafikern<br />

gab, der mal kommunisisch-marxistische<br />

oder eben anarchistische Plakate anfertigte – der<br />

ausgerechnet auch noch [Berufs-]Funktionär der<br />

Designer-Gewerkschaft (welcher Organisation?) gewesen<br />

sein. Es könnte natürlich Ballester gewesen<br />

sein, der für <strong>die</strong> UGT und <strong>die</strong> CNT tätig war. Und<br />

sein Brot hat er später sogar <strong>mit</strong> professionellen Arbeiten<br />

u.a. für <strong>die</strong> Air FranCe im Exil ver<strong>die</strong>nt.<br />

Aber was soll‘s, denn „bisher gibt es kaum Belege<br />

dafür, dass der sozialistische Realismus“, egal welcher<br />

Plakate, „<strong>die</strong> Produktion oder <strong>die</strong> Kampfbereitschaft gesteigert<br />

hätte“ ...<br />

• Folkert Mohrhof<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

Michael Seidman:<br />

„Niemals bildeten <strong>die</strong> Künstler <strong>die</strong> Arbeiter und Soldaten<br />

auf den Plakaten müde, hungrig oder krank ab. Die<br />

Produktions<strong>mit</strong>tel – <strong>die</strong> Fabriken, Höfe und Werkstätten<br />

– wurden, ganz gleich wie hässlich sie waren, ebenso<br />

idealisiert wie <strong>die</strong> mutigen, starken und kraftstrotzenden<br />

Männer und Frauen, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Sache lebten und starben.“<br />

Seidman Beweise: Frauen sähen aus wie Männer -<br />

alle sind nur »Material«, »Masse« ... eben <strong>die</strong>s zeigt<br />

das untenstehende Plakat der MuJeres LiBres nicht:<br />

»Frauen! Eure Familie ist <strong>die</strong> Basis für alle Kämpfer<br />

für <strong>die</strong> Freiheit!«<br />

Plakat der CNT für <strong>die</strong> anarchistische<br />

Frauenorganisation MuJeres LieBres<br />

Künstler: JOSÉ MARÍA GALLO


arrikade sieben - April 2012<br />

19


20<br />

»Der Ultralinke.<br />

In unterschiedlicher<br />

Verkleidung lauert er<br />

im Hintergrund, um<br />

im Dunkeln besser<br />

zu töten. Vernichten<br />

wir ihn, wo wir ihn<br />

fi nden.«<br />

Autor: PU Y O L - Internationale<br />

Rote Hilfe<br />

Format: 71 x 102 cm<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

Die stalinistische Propaganda<br />

»Die Gerüchtemacher.<br />

Kampf bis zum Tod den<br />

Gerüchtemachern! Mit<br />

defaitistischen Schreien<br />

versuchen sie, den<br />

Kampfgeist der Front<br />

und im Hinterland zu<br />

brechen.«<br />

Künstler: PU Y O L - Internationale<br />

Rote Hilfe<br />

Format: 71 x 102 cm<br />

»Der Pessimist.<br />

Unerbittlicher Kampf<br />

dem Pessimisten! Er<br />

sät Mutlosigkeit unter<br />

dem antifaschistischen<br />

Volk.«<br />

Künstler: PU Y O L - Internationale<br />

Rote Hilfe<br />

Format: 71 x 102 cm<br />

So kommentierte der kommunistische Veteran der<br />

amerikanischen LinColn-BriGaDe AnthonY ToneY <strong>die</strong>se<br />

vier Plakate aus dem Bildband Palette und Flamme,<br />

produziert für <strong>die</strong> Internationale Rote HilFe - (S.R.I.):<br />

»Die fünf satirischen Litografien von Pujol sind einfach<br />

unglaublich. Sie erscheinen so einfach und sind zugleich<br />

dermaßen kompliziert <strong>mit</strong>einander verflochten. Seine Gestalten<br />

kommen aus ser Tiefe seines von Gefühl und Selbstkontrolle<br />

erfüllten Wesens.<br />

Jede von ihnen ist eine schwarz-weiß schraffierte Gestalt<br />

<strong>mit</strong> einem Text darunter. Plastisch und überhaupt vollständig<br />

organisiert, erreichen <strong>die</strong> Gestalten eine tief in unser Bewußtsein<br />

dringende Einheit von Phantasie und Realität.<br />

Besonders in „El Acaparador“ (Der Hamsterer), wo <strong>die</strong><br />

ausschlaggebende Wiederholung der Form oval <strong>mit</strong> schön<br />

abgestimmten Abwandlungen erscheint, um <strong>die</strong> Konzeption<br />

von der Habgier aufzugreifen und weiterzuentwickeln.<br />

„El Pessimista“ (Der Pessimist) findet einen wirksamen<br />

Ausdruck in der Hyperbolisierung der Körperhaltung und<br />

des Gesichtsausdrucks. Hier sind <strong>die</strong> bestimmenden rhytmischen<br />

Wiederholungen dreieckig und bildnerisch kontrolliert,<br />

um das Gefühl innerer Erregung und Verzweiflung<br />

wiederzugeben. Die Litografien sind auch heute von unveränderter<br />

Aktualität.« •<br />

»Der Hamsterer.<br />

Harter Kampf dem<br />

Hamsterer! Seine<br />

Aufgabe - den Krieg zu<br />

erschweren! Geben wir<br />

ihm es nach Gebühr!«<br />

Künstler: PU Y O L - Internationale<br />

Rote Hilfe<br />

Format: 71 x 91 cm


arrikade sieben - April 2012<br />

21<br />

»Katalanen!<br />

Besser aufrecht<br />

sterben, als auf Knien<br />

leben!«<br />

Eine Plakat-Wand - nach Seidman wurde<br />

alles immer sofort abgerissen ...<br />

Das Schicksal der spanischen Kinder<br />

Künstler: BA R D A S A N O<br />

- Volksfront von Katalonien<br />

Format: 76 x 107 cm<br />

Woche der Kinder<br />

1937<br />

KÜ N S T L E R: JO S E LU I S RE Y<br />

VILA (SIM) - war Mitglied<br />

keiner Gewerkschaft,<br />

arbeitete aber für <strong>die</strong><br />

katalanische Regierung,<br />

<strong>die</strong> Generalitat<br />

UGT CNT Barcelona<br />

Format: 50 x 36 cm<br />

»Schicksal, das Hitler der deutschen Jugend<br />

bestimmt!«<br />

»Madrid -<br />

<strong>die</strong> „militärische“ Praxis<br />

der Rebellen,<br />

wenn ihr das duldet,<br />

dann kommen<br />

Eure Kinder als nächste<br />

dran!«<br />

Künstler: unbekannt<br />

Herausgeber:<br />

Propagandaministerium<br />

Format: 51 x 66 cm


22<br />

Michael Seidman<br />

Republic of Egos (2002)<br />

Die Bürgerkriegslage in<br />

Spanien am 20. Juli 1936<br />

und im März 1939<br />

Rezension von<br />

• HolguÍn, San<strong>die</strong>, Creating Spaniards. Culture<br />

and National Identity in Republican Spain. Madison:<br />

University of Wisconsin Press, 2002, 264 pp.<br />

ISBN: 0 299 17630 4 (cloth); 0 299 17634 7 (paper)<br />

• Seidman, Michael, Republic of Egos. A Social<br />

History of the Spanish Civil War. Madison:<br />

University of Wisconsin Press, 2002, 304 pp.<br />

ISBN: 0 299 17860 9 (cloth); 0 299 17864 1 (paper)<br />

Die Geschichtsschreibung des Spanischen Bürgerkrieges<br />

(1936 – 1939) hat sich in vergleichbaren<br />

Bahnen entwickelt wie <strong>die</strong> Europas des 20. Jahrhunderts<br />

insgesamt – allerdings <strong>mit</strong> einer zeitlichen<br />

Verzögerung, <strong>die</strong> sich aus der Langlebigkeit<br />

der Franco-Diktatur (1939 – 1975), <strong>die</strong> aus <strong>die</strong>sem<br />

Krieg entstand, ergab. Zuerst erschienen <strong>die</strong> Werke<br />

über <strong>die</strong> diplomatische, staatspolitische und ökonomische<br />

Geschichte, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> der schnellen<br />

Internationalisierung des Konfliktes und seiner Bedeutung<br />

für <strong>die</strong> großen Mächte beschäftigten. Diese<br />

waren vor allem Ergebnisse von Forschungen,<br />

<strong>die</strong> außerhalb Spaniens stattfanden, da <strong>die</strong> Diktatur<br />

den Zugang zu den Quellen allen außer den eigenen<br />

Propagandisten verwehrte oder deren Veröffentlichung,<br />

außer zu Zwecken der Apologie oder<br />

Hagiographie, verhinderte. In den späten 1970er<br />

und frühen 1980er Jahren erschienen neue Arbeiten<br />

– einschließlich solche von Spaniern, denn <strong>die</strong> Ankunft<br />

der Demokratie löste eine langsame Tauperiode<br />

aus. Diese analysierten <strong>die</strong> interne politische<br />

Entwicklung der kriegführenden Seiten in Spanien<br />

und ihr Verhältnis zur europäischen Polarisierung<br />

in den 1930er Jahren. Hierin eingeschlossen waren<br />

<strong>die</strong> ersten Analysen des Francismus im Vergleich<br />

zum europäischen Faschismus und Forschungen<br />

über <strong>die</strong> Internationalen Brigaden, <strong>die</strong> auf Seiten<br />

der Republik kämpften – daran wird weiter gearbeitet,<br />

in letzterem Falle allein schon wegen der<br />

Öffnung der Moskauer Archive. Während des<br />

vergangenen Jahrzehnts<br />

arbeitet eine neue Generation<br />

von Historikern in<br />

Spanien <strong>mit</strong> dem Fokus<br />

auf den Krieg als einen<br />

zivilen Konflikt, der <strong>die</strong><br />

gesamte Gesellschaft einbezogen<br />

hat.<br />

Diese neue Forschung<br />

betrachtet <strong>die</strong> lange Periode<br />

des ‚uncivil peace‘<br />

<strong>mit</strong> ihren Massentötungen<br />

und Inhaftierungen,<br />

<strong>die</strong> dem francististischen<br />

militärischen<br />

Sieg am 1. April 1939<br />

folgte. Dies geschieht<br />

aus Gründen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Geschichtsschreibung<br />

deutlich<br />

<strong>mit</strong> den Ansprüchen<br />

der Erinnerung und Wiedergutmachung<br />

in der<br />

Gegenwart verbinden.<br />

Besonders sind Historiker<br />

daran interessiert,<br />

wie und warum <strong>die</strong> Gesellschaft<br />

und der Staat<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

Helen Graham<br />

»… eine Verteidigung des neo-liberalen Wirtschaftsliberalismus« 1<br />

in Spanien <strong>mit</strong> dem Mitteln der brutalen Ausschließung<br />

besonderer Gruppen rekonstruiert wurde.<br />

Eine Hauptbedeutung kommt hier der Erforschung<br />

des Dreh- und Angelpunktes von Francos Repressionsmaschinerie<br />

zu: der Denunziation. Diese schuf<br />

dichte Netze der Komplizität zwischen Regime und<br />

Gesellschaft, durch <strong>die</strong> ‚einfache Spanier‘ grundlegend<br />

in <strong>die</strong> Unterdrückung ihrer republikanischen<br />

Mitbürger verwickelt wurden. Wenn sie gelingt,<br />

erreicht <strong>die</strong>se Arbeit <strong>die</strong> schwierige Synthese, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> Sozialgeschichte verlangt, um Veränderungen<br />

(oder deren Fehlen) zu erklären, und ganz besonders<br />

zu erklären, wie solche Prozesse durch <strong>die</strong> Interaktion<br />

der Makro- und Mikroebenen der Macht<br />

geprägt werden. Denn eine überzeugende historische<br />

Analyse der modernen Gesellschaft muß<br />

einerseits das komplexe Verhältnis zwischen nationaler<br />

und internationaler Politik und Ökonomie<br />

und andererseits <strong>die</strong> Dynamiken des alltäglichen<br />

Lebens beachten. Sie muß ebenfalls <strong>die</strong> vielfältigen<br />

Interaktionen zwischen der politischen Autorität,<br />

der historisch wirksamen, aber eklektischen, Traditionen<br />

und Werte der Gesellschaft und der vollen<br />

Reichweite von kollektiven Identitäten und darin<br />

enthaltenen individuellen Subjektivitäten in Rechnung<br />

stellen.<br />

Auch außerhalb Spaniens konzentrieren sich jetzt<br />

Historiker ebenfalls auf soziale und kulturelle Themen,<br />

wie <strong>die</strong> Bücher aus der University of Wisconsin<br />

Press zeigen, <strong>die</strong> hier besprochen werden. Das<br />

von Sandy Holguín behandelt ein wichtiges und<br />

unerforschtes Thema: den Versuch der fortschrittlichen<br />

regierenden Eliten im Spanien der 1930er<br />

Jahre, <strong>die</strong> Massen durch Kulturprojekte zu Nationalisieren/Republikanisieren,<br />

<strong>die</strong> in ihrer Form,<br />

weniger in ihrem Inhalt, innovativ waren. Dies beinhaltete<br />

Theatertruppen, <strong>die</strong> das klassische Drama<br />

in <strong>die</strong> Dörfer Spaniens brachten (obwohl das in der<br />

Praxis hauptsächlich Dörfer in Kastilien, Spaniens<br />

zentralistisches Herzland, betraf) und <strong>die</strong> misiones<br />

pedagógicas, <strong>die</strong> Wanderlehrer, deren Hauptaufgabe<br />

es war, den ländlichen Massen <strong>die</strong> Grundlagen<br />

des Lesens und Schreibens beizubringen. Holguíns<br />

Werk ist eine gewissenhaft zusammengestellte Stu<strong>die</strong><br />

<strong>mit</strong> einigen wunderbaren Archivfotos. Aber es<br />

ist eher beschreibend als analysierend und auf jeden<br />

Fall zu eng fokussiert. Das Material zur kulturellen<br />

Politik wird völlig ohne Bezug zu seiner Rezeption<br />

oder zum größeren Bild der republikanischen Reform<br />

und der Kräfte, <strong>die</strong> sie herausforderte, gezeigt.<br />

Der Mangel eines solchen Kontextes bedeutet, daß<br />

Holguín das zentrale Thema der ‚Schaffung der<br />

Spanier‘ [Creating Spaniards] nicht fruchtbringend<br />

ansprechen kann. In der Tat wirft ihr Gebrauch der<br />

Begriffe ‚Spanien‘ und ‚Spanier‘ (und auch ‚Europäer‘)<br />

viele Fragen auf, sobald <strong>die</strong>se auf <strong>die</strong> 1930er<br />

Jahre bezogen werden. Das Schlußkapitel über den<br />

Spanischen Bürgerkrieg allerdings ist das bei weitem<br />

problematischte, da es zahlreiche faktische und<br />

interpretatorische Fehler enthält. Anstatt sich <strong>mit</strong><br />

spekulativen Mutmaßungen über <strong>die</strong> Kulturpolitik<br />

nach einen angenommenen republikanischen Sieg<br />

zu beschäftigen, wäre Dr. Holguín besser beraten<br />

gewesen, das tatsächliche Wiederaufkommen des<br />

liberalen paternalistischen Kulturprojektes der Republik<br />

während der Staatsrekonstruktion von 1937<br />

zu untersuchen.


arrikade sieben - April 2012<br />

Michael <strong>Seidmans</strong> Hintergrund, in der Republic<br />

of Egos, ist ebenfalls der Bürgerkrieg, und auch hier<br />

hauptsächlich aus der Perspektive des republikanischen<br />

Spanien betrachtet. Der Autor behauptet<br />

ausdrücklich, eine Sozialgeschichte geschrieben<br />

zu haben. Das aber stellt sich aus einer Reihe von<br />

Gründen als problematisch heraus. Erstens schließt<br />

<strong>die</strong> eigentümlich statische thematische Struktur, <strong>die</strong><br />

Seidman adaptiert, <strong>die</strong> Analyse aus, wie <strong>die</strong> materiellen<br />

Bedingungen, <strong>die</strong> gesellschaftliche Erfahrung<br />

und <strong>die</strong> unterschiedlichen Bedeutungen, <strong>die</strong> ihnen<br />

Gruppen und Individuen zumaßen, sich während<br />

des Krieges entwickelten. Obwohl ein normaler<br />

Leser es durch <strong>die</strong> Lektüre des Buches wahrscheinlich<br />

nicht <strong>mit</strong>bekommen würde, so lagen zwischen<br />

1938 und 1936 Welten, was <strong>die</strong> Bedingungen des<br />

täglichen Lebens im republikanischen Spanien und<br />

<strong>die</strong> variierenden Erwartungen der Bevölkerung für<br />

<strong>die</strong> Zukunft betraf. Das lag zum nicht geringen Teil<br />

an dem sich verschlechternden internationalen diplomatischen<br />

Klima und dem Einfluß des ökonomischen<br />

Embargos, das sich gegen <strong>die</strong> Republik<br />

richtete, als Konsequenz der von den europäischen<br />

Mächten verhängten Politik der Nichteinmischung.<br />

Dies hatte einen direkten und in wachsendem<br />

Maße zerstörerischen Effekt auf <strong>die</strong> Fähigkeit der<br />

Republik, ihre Armee und Bevölkerung zu versorgen,<br />

und so<strong>mit</strong> auf jeden Aspekt des Lebens im republikanischen<br />

Spanien. Am Ende sollte <strong>die</strong> daraus<br />

resultierende Krise, <strong>die</strong> zu ernsthaftem Hunger<br />

führte, alles untergraben, einschließlich der politischen<br />

Legiti<strong>mit</strong>ät der Republik. Doch <strong>Seidmans</strong><br />

Beitrag ignoriert <strong>die</strong> Tatsache, daß das alltägliche<br />

Leben, welches er beschreibt, eigentlich von dem<br />

‚größeren Bild‘ geformt war. Aus irgend einem<br />

Grund scheint der Verfasser zu denken, daß <strong>die</strong>s<br />

als Thema einer völlig anderen Art von historischer<br />

Untersuchung abgetrennt werden kann.<br />

<strong>Seidmans</strong> Gliederung ist auch auf andere Art<br />

höchst fraglich. Ihre fast völlige Mißachtung der<br />

Chronologie bedeutet, daß der Autor in zahlreiche<br />

Widersprüche verfällt. Manchmal sind sie real (auf<br />

Seite 27 wird der Bürgerkrieg als ein Konflikt beschrieben,<br />

in den <strong>die</strong> Massen nicht verwickelt waren,<br />

während der Autor, ohne weiteren eigenen<br />

Kommentar, auf Seite 47 <strong>die</strong> Selbsteinschätzung der<br />

rebellierenden Militärs zitiert, daß <strong>die</strong> arbeitenden<br />

Massen gegen sie wären). Bei anderen Gelegenheiten<br />

ergeben sich <strong>die</strong> Widersprüche als Nebeneffekt<br />

seiner mangelhafte Gliederung: <strong>die</strong> republikanischen<br />

Milizen waren effektiv (S. 29; S. 34), dann<br />

wieder nicht (S. 42 & ff.). Tatsächlich waren sie im<br />

städtischen Straßenkampf effektiv, aber schwach,<br />

wenn sie in der konventionellen Kriegsführung im<br />

offenen Gelände gegen reguläre Truppen eingesetzt<br />

wurden. Seidman macht <strong>die</strong>sen Unterschied,<br />

der von kardinaler Bedeutung für <strong>die</strong> Entwicklung<br />

der militärischen, politischen und sozialen Organisation<br />

im republikanischen Spanien war, nicht annähernd<br />

genug deutlich. Aber ob nun real oder nur<br />

scheinbar, solche Widersprüche (und es gibt viele<br />

davon) werden unter normalen Lesern und Studenten,<br />

<strong>die</strong> eine kohärente Analyse zeitlicher Entwicklungen<br />

suchen, ernste Verwirrung anrichten.<br />

Was wir durchgängig in <strong>die</strong>sem Buch bekommen,<br />

ist überhaupt keine wirkliche historische Analyse,<br />

sondern eher ein Schliddern über <strong>die</strong> Oberfläche,<br />

ein beschreibendes Kompendium , zusammengestellt<br />

aus archivalischen oder bibliographischen<br />

Schnipseln, <strong>die</strong> in keine besondere Richtung führen.<br />

Die Primär- und Sekundärreferenzen sind<br />

gelegentlich nachlässig (einige der archivalischen<br />

Referenzen sind in der Tat ziemlich merkwürdig),<br />

und der regelmäßige Gebrauch veralteten angloamerikanischen<br />

Schrifttums ist unakzeptabel, wo<br />

eine umfangreiche Zahl spezieller spanischer historischer<br />

Werke jetzt problemlos zur Verfügung<br />

steht. Was sich im Detail summiert, summiert sich<br />

auch in den verallgemeinernden Abschweifungen.<br />

Diese werfen jede Menge entscheidender Fragen<br />

auf und sind, gelegentlich, erschreckend schlecht<br />

durchdacht. Wo ist der Beweis, daß ein ‚gemeinsam<br />

geteilter Katholizismus Einfluß darauf nahm,<br />

<strong>die</strong> brutalsten Aspekte des Krieges zu mildern‘?<br />

Psychologische und physische Ausrottung konnte<br />

regelmäßig bei fanatischen, ultramontanen[2] Katholiken<br />

beobachtet werden, gegen <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong><br />

sie als <strong>die</strong> schlimmsten ‚Häretiker‘ ansahen, genau<br />

weil ihr Leben soziale Modernität und liberalen katholischen<br />

Glauben kombinierte. Im Bürgerkrieg<br />

wurde das, was einen Katholiken ausmachte, genauso<br />

wie das, was einen Spanier ausmachte, brutal<br />

herausgefordert.<br />

Aber der schwerste Fehler in <strong>Seidmans</strong> Arbeit<br />

– ob nun als Sozialgeschichte oder als Geschichte<br />

tout court – ist ihr Scheitern, <strong>die</strong> intimen Verbindungen<br />

zwischen massenhafter politischer Mobilisierung,<br />

kulturellem Wandel und individueller<br />

Identität/Subjektivität im Europa der 1930er Jahre<br />

zu verstehen. Ideologie war nichts zusätzlich ‚Aufgepropftes‘,<br />

wie uns Seidman glauben machen<br />

möchte. Sie war ein integraler Bestandteil des gesellschaftlichen<br />

Bewußtseins, der Wahrnehmung<br />

der Leute von sich Selbst – und <strong>mit</strong> ‚Leuten‘ meine<br />

ich ‚gewöhnliche Leute‘, nicht nur eine politische<br />

Avantgarde. Natürlich gab es Gemeinschaften, <strong>die</strong><br />

am Rande der Kriegserfahrungen blieben (ein Ausnahmefall<br />

wurde von Norman Lewis in Voices of<br />

the Old Sea skizziert). Aber Dr. Seidman erkundet<br />

<strong>die</strong>se Frage nicht wirklich. Stattdessen versucht er<br />

etwas zu leugnen, auf das sogar seine eigenen empirischen<br />

Beweise hindeuten: daß <strong>die</strong> Mobilisierung<br />

im republikanischen Spanien eine gesellschaftliche<br />

und kulturelle Massenereignis war – tatsächlich ein<br />

psychisches/seelisches Ereignis. Er diskutiert selbst<br />

Möglichkeiten, <strong>die</strong> <strong>die</strong> republikanische Mobilisierung<br />

für Tausende junger Frauen eröffnete. Es gibt<br />

zahllose Zeugnisse, <strong>die</strong> andeuten, wie persönliche<br />

und politische Wandlungen in den Leben junger<br />

spanischer Frauen unauflöslich verbunden waren,<br />

<strong>die</strong> der sozialistisch-kommunistischen Jugendorganisation<br />

(JSU) beitraten, <strong>die</strong> Hunderttausende<br />

während des Krieges mobilisierte. Eine Geschlechter-<br />

und Generationsrevolution fand statt, in den<br />

Köpfen der Leute ebenso wie auf der Straße. Die<br />

Jugend explo<strong>die</strong>rte auf <strong>die</strong> politische Bühne im<br />

republikanischen Spanien der Kriegszeit – der Beweis<br />

dafür findet sich<br />

überall in den Quellen,<br />

wenn man nur weiß,<br />

wo man suchen muß.<br />

Michael <strong>Seidmans</strong> reduktiver<br />

Text erzählt<br />

uns weniger über <strong>die</strong><br />

Sozialgeschichte des<br />

republikanischen Spaniens<br />

der Kriegszeit als<br />

vielmehr darüber, wie<br />

23<br />

Seidman aktuelles Buch -<br />

Die Siegreichen Konterrevolution<br />

(2011)


24<br />

HE L E N GR A H A M<br />

Republikanische<br />

Gefangene im Franco-KZ<br />

in Ocaña, 1952<br />

der gegenwärtige politische Impuls dafür gesorgt<br />

hat, daß <strong>die</strong> 1930er Jahre viel weiter in den Hintergrund<br />

getreten sind als es ihrer tatsächlichen historischen<br />

Distanz entspricht. Glücklicherweise ist <strong>die</strong><br />

innovative Sozialgeschichte dabei, ein Korrektiv zu<br />

bieten, indem sie das pschychische Leben der linken<br />

Massenpolitik im Europa der Zwischenkriegszeit<br />

untersucht.<br />

<strong>Seidmans</strong> enge Verbundenheit <strong>mit</strong> der ‚universellen<br />

Individualität‘, sowieso ein völlig unhistorischer<br />

Begriff, ist bei einem Sozialhistoriker um so<br />

befremdlicher, da zu dessen Aufgaben <strong>die</strong> präzise<br />

Identifizierung der Besonderheiten der Kultur und<br />

<strong>die</strong> Untersuchung, wie und warum sich Mentalitäten<br />

im Laufe der Zeit ändern, gehört. Die erschreckend<br />

statischen und undurchsichtigen Kategorien<br />

von ‚Zynismus‘ und ‚Opportunismus‘, <strong>die</strong> er aufmarschieren<br />

läßt, passen schlecht zu einer sozialgeschichtlichen<br />

Analyse, deren Funktion sein sollte,<br />

Verhalten in Bezug auf den spezifischen Gang der<br />

spanischen gesellschaftlich und politischen Entwicklung<br />

vor und während des Bürgerkrieges zu<br />

erklären. Doch für den Autor sind ‚Massenapathie<br />

und Gleichgütigkeit‘ eine statische Kategorie<br />

für <strong>die</strong> ganzen 1930er Jahre, tatsächlich für <strong>die</strong><br />

gesamte moderne spanische Geschichte (S. 26); es<br />

mangelt <strong>Seidmans</strong> Analyse großenteils an Schattierung<br />

und Nuancierung. (Dieser Mangel an analytischem<br />

Ertrag ist auch ein Problem in Holguíns<br />

Buch – siehe beispielsweise ‚Spaniens anscheinend<br />

ziellose Geschichte …‘ (S. 4).) Eine Richtung, <strong>die</strong><br />

ein Sozialhistoriker erkunden könnte, würde den<br />

‚Opportunismus‘ <strong>mit</strong> einem traditionellen und tief<br />

eingewachsenen klientelistischen oder auf Patronage<br />

gegründeten Verständnis von Politik und Leben<br />

verbinden. Menschen traten politischen Parteien<br />

oder anderen Organisationen eher bei, um materielle<br />

Wohltaten und berufliches Fortkommen zu<br />

erlangen, nicht so sehr, weil sie ein Element einer<br />

politischen Vision teilten. Nichtdestoweniger ist<br />

einer der grundlegenden Punkte im Spanien der<br />

1930er Jahre, als einer Übergangszeit, daß <strong>die</strong> Politik<br />

regelmäßig beides gleichzeitig bedeutete. ‚Zynismus‘<br />

war ebenfalls ein grundlegender Bestandteil,<br />

der sich aus den vielen und unterschiedlichen<br />

Formen der Kriegsmüdigkeit ergab, <strong>die</strong> sich 1938<br />

unausweichlich intensivierte, als sich <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bedingungen<br />

des täglichen Lebens wie <strong>die</strong> internationale<br />

Position der Republik dramatisch verschlechterten.<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

Die bei weitem bizarrste Darbietung des gesamten<br />

Buches ist <strong>Seidmans</strong> einleitende Erklärung, daß<br />

<strong>die</strong> Männer, Frauen und Kinder des republikanischen<br />

Spanien, indem sie taten, was getan werden<br />

mußte, um sich <strong>die</strong> grundlegenden Lebens<strong>mit</strong>tel<br />

in einer Zeit von wirtschaftlicher Verwerfung und<br />

Mangel, <strong>die</strong> durch den Krieg verursacht wurden,<br />

zu beschaffen, <strong>mit</strong> ihren ‚gewinnsüchtigen, konsumorientierten<br />

und unternehmerischen Impulsen‘<br />

‚<strong>die</strong> Grundlage für <strong>die</strong> heutige Konsumgesellschaft‘<br />

legten. Kein Beispiel dafür wird diskutiert. Auch<br />

nicht anderweitig, denn trotz aller Beschwörungen<br />

‚des Individuums‘ durch Seidman erforscht sein<br />

Text nirgendwo <strong>die</strong> inneren Beweggründe seiner<br />

historischen Subjekte – weder Soldaten noch Zivilisten.<br />

Aber wie ist es ohne <strong>die</strong>s möglich zu wissen,<br />

welche gefühlsmäßigen Investitionen <strong>die</strong> Leute in<br />

<strong>die</strong> Nahrung und Massenprodukte tätigten, <strong>die</strong> sie<br />

sammelten? In einem Buch, das <strong>mit</strong> Referenzen auf<br />

‚das Individuum‘ zugemüllt ist, gibt <strong>die</strong> Nichtbeachtung<br />

von Subjektivitäten dem Leser in der Tat<br />

einen wichtigen Schlüssel zu den Absichten des<br />

Autors. Es ist nicht eine historische Rekonstruktion<br />

von Bewußtsein, das Dr. Seidman beschäftigt,<br />

sondern eine Verteidigung des neoliberalen Wirtschaftsindividualismus<br />

– soviel also zum ‚Tod‘ der<br />

Ideologie, <strong>die</strong> er verfrüht verkündet.<br />

Indem <strong>die</strong> Sozialgeschichte <strong>die</strong> Dimension der<br />

inneren Beweggründe [interiority] <strong>mit</strong> einbezieht,<br />

erlaubt sie den Menschen, über ihre gleichzeitige<br />

Mitgliedschaft in kollektiven Kategorien wie Klasse<br />

und Geschlecht hinaus ‚sie selbst zu sein‘. Dr.<br />

Seidman steht dem Gebrauch solcher Kategorien<br />

durch Historiker sehr kritisch gegenüber. Aber<br />

seine eigenen sind weit weniger flexibel und nuanciert.<br />

Was uns eine brauchbare Sozialgeschichte<br />

wirklich zeigen kann ist, daß sich <strong>die</strong> Menschen<br />

der Vergangenheit von uns so unterscheiden, wie<br />

wir uns untereinander unterscheiden. Doch Michael<br />

Seidman scheint zu beabsichtigen, sie (und uns)<br />

an seine engen und standartisierten konsumorientierten<br />

Kategorien zu ketten. Seine beschränkte und<br />

beschränkende Analyse des republikanischen Spanien<br />

der 1930er Jahre ver<strong>mit</strong>telt nichts von seinen<br />

Möglichkeiten, nichts von seiner Energie oder seinen<br />

Träumen. Gegenüber der rohen und triumphalistischen<br />

Teleologie [3] des Autors sollten wir im<br />

Gedächtnis behalten, daß es in jener Vergangenheit<br />

bessere Zukünfte gab als <strong>die</strong>jenige, <strong>die</strong> wir heute<br />

haben. •<br />

Anmerkungen:<br />

[1] JO U R N A L O F SP A N I S H<br />

CU L T U R A L ST U D I E S, Vol. 4/2003 – alle Anmerkungen und<br />

[eckigen Klammern] im Text stammen vom Übersetzer.<br />

[2] dem Papst fanatisch treu ergeben.<br />

[3] Teleologie: philosophische Anschauung von dem<br />

(angeblich) vorherbestimmten Lauf der Dinge und Ereignisse.


arrikade sieben - April 2012<br />

25


26<br />

Archiv<br />

Karl Roche<br />

Das Archiv Karl Roche<br />

versteht sich als Regionales<br />

Archiv zur Dokumentation<br />

des Anarchosyndikalismus in<br />

Hamburg, das <strong>die</strong> Geschichte<br />

<strong>die</strong>ser Bewegung in Hamburg<br />

- Altona und Umgebung,<br />

ehemals Groß-Hamburg,<br />

dokumentieren möchte.<br />

Ziel der Forschung ist <strong>die</strong> Aufarbeitung<br />

des geschichtlichen<br />

Anteils derjenigen Genossinnen<br />

und Genossen, <strong>die</strong> für<br />

den freiheitlichen Sozialmus<br />

und Anarchismus<br />

gekämpft haben.<br />

Der Verdrängung <strong>die</strong>ses Teil<br />

der radikalen Arbeiterbewegung<br />

soll entgegen<br />

gewirkt werden.<br />

Namensgeber ist der 1862<br />

in Königsberg geborene<br />

Genosse Karl Roche - eine<br />

führende Persönlichkeit beim<br />

Aufbau der FAUD/S,<br />

er verstarb am<br />

1. Januar 1931 im Alter von<br />

69 Jahren in Hamburg.<br />

Diese bisher nicht erzählte<br />

Geschichte bzw. <strong>die</strong> bewußt<br />

von sozial-demokratischer und<br />

parteikommunistischbolschewistischer<br />

Seite<br />

totgeschwiegene Seite der<br />

revolutionären Ereignisse in<br />

Hamburg soll aus dem Dunkel<br />

der Geschichte der<br />

interessierten Öffentlichkeit<br />

näher gebracht werden.<br />

Um <strong>die</strong> Erinnerung an den<br />

ungewöhnlichen Aktivisten<br />

ka r l ro c h e aufrecht zu<br />

erhalten, publizieren wir<br />

eigene Untersuchungen<br />

und dokumentieren<br />

seine wichtigsten Texte.<br />

Denn, obwohl ka r l ro c h e<br />

in den Nachkriegsjahren und<br />

1919 v.a. auf der Vulcan-Werft<br />

ein begnadeter Aufrührer und<br />

Revolutionär war, schrieb er<br />

bereits im April 1914:<br />

„Ich kann <strong>mit</strong> der Feder ruhiger<br />

reden als <strong>mit</strong> der Zunge ...“<br />

Dem tragen wir <strong>mit</strong> der<br />

Publizierung seiner politischen<br />

Texte aus der Revolutionszeit<br />

Rechnung:<br />

Möge <strong>die</strong> Erde Dir leicht<br />

sein, Genosse!<br />

AKR - RADAS Hamburg<br />

Anarchosyndikalistische Theorie - II. Teil<br />

Selbstverwaltete Betriebe als ‚konstruktiver Sozialismus‘<br />

Kollektiv-Genossenschaften als Modell für einen konstruktiven Sozialismus?<br />

„Von den Arbeitern selbstbestimmte Unternehmen sind eine Lösung, wie sie in den Erfahrungen<br />

von Kapitalismus und Sozialismus gleichermaßen begründet liegt. Indem wir von<br />

den Arbeitern selbstbestimmte Betriebe einrichten, vervollständigen wir, was vergangene<br />

demokratische Revolutionen begonnen haben, als sie <strong>die</strong> Gesellschaften über Monarchien und<br />

Autokratien hinaus transformiert haben. Die Produktion zu demokratisieren, kann<br />

<strong>die</strong> Demokratie über den Punkt hinaus bringen, wo sie bloß ein Wahl-Ritual ist,<br />

das <strong>die</strong> Herrschaft des 1% über <strong>die</strong> übrigen 99% ermöglicht.“<br />

• Richard Wolff - Übernehmt <strong>die</strong> Produktion! (10.12.2011)<br />

karl ro c H e und <strong>die</strong> Genossenschaftsfrage 1911 – 1914<br />

Den Kapitalismus kann man nicht totglauben,<br />

den Kapitalismus muß man totkämpfen!<br />

Bereits zum 10. Kongreß der FVdG 1911 in Magdeburg<br />

sollte der Pionier-Redaktuer FritZ KÖster<br />

ein Referat zur Stellung des Syndikalismus zum Genossenschaftswesen<br />

halten. Der Vortrag konnte<br />

nicht gehalten werden (aus Zeitgründen?) und<br />

so lesen wir im „Resumé“ des ungehaltenen Beitrages<br />

in vier Folgen im Pionier (24-28/1912) u.a.<br />

Eine vernichtende Kritik an der neugegründeten<br />

Versicherungsgesellschaft „Volksfürsorge“, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

SPD-unterstellten Gewerkschaften und Genossenschaften<br />

zum 1. Januar des Jahres gründeten („eine<br />

gewerkschaftlich-genossenschaftliche Volks-Versicherungs-Aktiengesellschaft“).<br />

Heftig ihr Fett bekamen auch <strong>die</strong> Funktionäre Arbeiteraristokraten<br />

weg, der <strong>die</strong> Tatsache anführte,<br />

daß der Zentralverband der Genossenschaften<br />

(dem ZDK) bereits eine Unterstützungskasse für<br />

<strong>die</strong> Genossenschaftsfunktionäre besäße, „<strong>die</strong> bereits<br />

ein vermögen von über 2 Millionen Mark angesammelt<br />

hat“, und der „mehr als 5000 versicherte(n) Funktionären<br />

angehören“. Außerdem erwähnt er das „Tarifamt“,<br />

das eingesetzt wurde, „um Streitigkeiten zwischen<br />

den Gewerkschaften und den Genossenschaften<br />

über Differenzen zu schlichten, <strong>die</strong> aus dem Arbeitsverhältnis<br />

in Genossenschaftsbetrieben hervorgehen“.<br />

Als Ergebnis seiner Ausarbeitung kommt der<br />

Genosse KÖster zu dem Ergebnis, daß <strong>die</strong> FVdG-<br />

Genossen sich „den bestehenden Konsumgenossenschaften“<br />

anzuschließen: „1. Aus Prinzip. 2. Der<br />

gebotenen Vorteile halber. 3. Um jeder an seiner Stelle<br />

und in Verbindung <strong>mit</strong> den weitblickenden Mitgliedern<br />

der Konsumvereine dahin zu wirken, daß das Genossenschaftswesen<br />

zu einem wirklichen, un<strong>mit</strong>telbaren Stützpunkt<br />

für <strong>die</strong> wirtschaftlichen Kämpfe der Lohnarbeiter<br />

um- und ausgebaut wird.“ Darunter verstand er <strong>die</strong><br />

Unterstützung bei Streiks, denn <strong>die</strong> Kraft und <strong>die</strong><br />

Verbreitung der Konsumgenossenschaften würde<br />

es doch möglich machen, durch „Massenaufkochen“<br />

und „Feldküchen“ <strong>die</strong> „Leute vor dem Hunger zu<br />

schützen“, statt sie <strong>mit</strong> barem Streikgeld zu unterstützen.<br />

So könnte <strong>die</strong> Streikmoral gestärkt und <strong>die</strong><br />

Konflikte länger durchgehalten werden.<br />

Diese Position vertrat Karl Roche nicht; bereits<br />

in seinem ersten Artikel zu <strong>die</strong>sem Thema, in der<br />

Nr. 4 von 1911 des Pionier argumentierte er gegen<br />

<strong>die</strong> Ansichten KÖsters. Für den 11. Kongreß der<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

FVdG wurde er dann aufgefordert, ein entsprechendes<br />

Referat zu halten.<br />

Gewerkschaften und Genossenschaften<br />

Die drei „großen Heersäulen“, <strong>mit</strong> welchen <strong>die</strong><br />

sozialdemokratische Arbeiterbewegung den Klassenstaat<br />

belagert, heißen: Partei, Gewerkschaften,<br />

Genossenschaften. Dazu soll nun auch noch eine<br />

vierte „Kampforganisation“ geschaffen werden;<br />

<strong>die</strong> „Volksfürsorge“, eine von den Gewerkschaften<br />

und Genossenschaften getragene Volksversicherung,<br />

welche dem Aufsichtsamte für <strong>die</strong> Privatversicherung<br />

unterstellt werden soll. Da<strong>mit</strong> wird dann<br />

<strong>die</strong> Arbeiterbewegung juristisch dem Klassenstaate<br />

eingeordnet werden und <strong>die</strong> entente cordiale<br />

zwischen Kapitalismus und dem Sozialismus der<br />

deutschen Sozialdemokratie ist fertig. Gewiß wird<br />

<strong>die</strong>se neue Gründung formell nichts <strong>mit</strong> der Sozialdemokratie<br />

zu tun haben, ebenso wie ja auch das<br />

Gehäuse bei den Gewerkschaften undGenossenschaften<br />

blaßroter schillert. Aber der Inhalt wird<br />

derselbe seine: eine Zwingburg, in deren Verließe<br />

der proletarische Klassenkampf langsam dahingemordet<br />

wird. Alle vier Organisationen werden<br />

gegenseitig ihre Mitglieder sich zuzuschieben suchen,<br />

wie es heute schon zwischen Partei, Gewerkschaften<br />

und Genossenschaften geschieht; in allen<br />

hat der Proletarier Beiträge zu zahlen, sich den Beschlüssen<br />

zu fügen und Disziplin zu wahren. Und<br />

über allen werden thronen: sozialdemokratische<br />

„Größen“. Die Firma: Bebel, Legien, von Elm wird<br />

wohl erweitert werden um einen Kaufmann Müller<br />

oder einen sonstigen Konzessionsschulzen. Die<br />

große proletarische Versicherungsgesellschaft ist<br />

fertig. Der Kapitalismus wird ausgehöhlt: <strong>die</strong> Lohnarbeiter<br />

erobern nicht mehr <strong>die</strong> Produktions<strong>mit</strong>tel,<br />

sie kaufen sie von den Unternehmern allmählich<br />

auf. Die Kapitallosen kaufen das Kapital: das Schaf<br />

frißt sich in den Wolf hinein und wird dann eine<br />

herrliche Antilope werden, genannt „sozialdemokratischer<br />

Sozialismus“. Daß das Generalblödsinn<br />

ist, liegt auf der Hand; aber es ist <strong>die</strong> Theorie derer<br />

um Legien und von Elm und <strong>die</strong>se beherrscht <strong>die</strong><br />

proletarische Taktik im Klassenkampf. Gleich den<br />

Trödlern, <strong>die</strong> an ein verschimmeltes Stück Geld<br />

ihre Stunden setzen, verhökern und vertrottelt das<br />

sozialdemokratische Tribunal <strong>die</strong> Begriffslehre des


arrikade sieben - April 2012<br />

Klassenkampfes, einiger Scheffel Korn wegen, <strong>mit</strong><br />

denen sich <strong>die</strong> bürgerliche Gesellschaft Ruhe erkauft<br />

vor der proletarischen Revolution.<br />

„Der immerfort an schaler Zunge klebt,<br />

Mit gieriger Hand nach Schätzen gräbt,<br />

Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet.“<br />

K.R.<br />

• Der Pionier, 1. Jahrgang, Nr. 4 – 22. November 1911<br />

* * *<br />

Genossenschaften und Syndikalismus<br />

Die Geschäftskommission der Freien Vereinigung<br />

deutscher Gewerkschaften hat mich aufgefordert, dem<br />

11. Kongreß, der am Himmelfahrtstag in Berlin beginnt,<br />

ein Referat über <strong>die</strong> Stellung der Syndikalisten zu den<br />

Genossenschaften zu halten und meine Gedanken in<br />

einer Resolution zusammenzufassen. Ich kann <strong>mit</strong> der<br />

Feder ruhiger reden als <strong>mit</strong> der Zunge und unterbreite<br />

daher den Genossen und Kongreßteilnehmern meine<br />

Ansichten schon vor dem Kongreß. Man möge sich auf<br />

<strong>die</strong> Diskussion vorbereiten.<br />

Karl Roche.<br />

Aber <strong>die</strong> Konsumgenossenschaften sind ein Stück<br />

Syndikalismus, denn sie üben direkte ökonomische<br />

Aktion: sie erhöhen den Reallohn der Arbeiters,<br />

sie lehren ihn, gemeinschaftlich <strong>mit</strong> den Klassengenossen<br />

seine wirtschaftlichen Angelegenheiten<br />

selbst zu ordnen, sie schalten den politisch reaktionären<br />

und volkswirtschaftlich schädlichen Zwischenhandel<br />

aus, sie bringen <strong>die</strong> Arbeiterfrau dem<br />

genossenschaftlichem Denken näher, sie – sind ein<br />

Stück sozialistischer Ideologie, aber sie sind nicht<br />

und können nicht sein sozialistische Praxis. Es läuft<br />

aber <strong>die</strong> Theorie der Staudinger und v. Elm darauf<br />

hinaus, <strong>die</strong> Konsumgenossenschaften und deren<br />

Eigenproduktion den Arbeitern als sozialistische<br />

Praxis darzustellen, ihnen aufzureden, man könne<br />

<strong>mit</strong> der durch <strong>die</strong> konsumgenossenschaftlich beginnende<br />

Eigenproduktion zunächst in einer Ecke<br />

der kapitalistischen Wirtschaftsordnung <strong>mit</strong> dem<br />

Sozialismus beginnen, sich immer weiter ausbreiten,<br />

<strong>die</strong> Handelstreibenden und Industriellen mehr<br />

und mehr verdrängen, zu gleicher Zeit <strong>die</strong> Arbeiter<br />

sozialistisch denken, leben und handeln lehren<br />

und – so den Kapitalismus schließlich überwinden.<br />

Auch freie Sozialisten, <strong>die</strong> uns nahestehen, und<br />

Siedlungsgenossenschafter gibt es, <strong>die</strong> das sozialistische<br />

Hineinleben in den Kapitalismus propagieren<br />

und <strong>die</strong> darum<strong>die</strong> syndikalistischen Waffen:<br />

Streiks, Solidaritäts-, Massen- und Generalstreiks<br />

verwerfen. (...)<br />

Man tut den Inspiratoren des Zentralverbandes<br />

deutscher Konsumvereine wohl nicht unrecht,<br />

wenn man ihnen auf ihr Hineinwachsen in den Kapitalismus<br />

antwortet, daß ist eine Verzweiflungstheorie.<br />

Sie ist aufgestellt worden von den sogenannten<br />

Revisionisten in der sozialdemokratischen<br />

Partei. Die ärgsten Dränger nach rechts: Bernstein,<br />

v. Elm, Peus u.a. standen und stehen heute noch zu<br />

ihr. Und es darf ihnen nicht abgesprochen werden,<br />

daß sie den Mut hatten, ihrer Überzeugung <strong>die</strong> Tat<br />

folgen zu lassen. Nicht <strong>die</strong> Überzeugung von der<br />

Richtigkeit ihrer Desperadotheorie meinen wir.<br />

Ein Bernstein z.B., der marx wie kaum ein anderer<br />

kennt, kann unmöglich einen Professor Staudinger<br />

ernst nehmen. Es war und ist vielmehr <strong>die</strong> Überzeugung<br />

von der gänzlichen Erfolglosigkeit der<br />

parlamentarisch-politischen Aktion. (...) Nach dem<br />

Muster der englischen Trade Unions richteten sich<br />

<strong>die</strong> zentralen Gewerkschaften ein, und da kam es<br />

ganz von selbst, daß auch das englische Genossenschaftswesen<br />

in Deutschland vorbildlich wurde.<br />

Die Revisionisten griffen danach, sie griffen nach<br />

der direkten ökonomischen Aktion, handelten unbewußt<br />

syndikalistisch aus Verzweiflung an den<br />

parlamentarischen Mißerfolgen. (...)<br />

Die Arbeiter wollen nicht nur Augenblickserfolge,<br />

der Sozialismus liegt ihnen im Sinn. Mit dem<br />

Parlamentarismus ist das sozialistische Sehnen<br />

nicht zu befriedigen, zur ganzen direkten ökonomischen<br />

Aktion, zum vollendeten und bewußten<br />

Syndikalismus gebricht es den Führern wie Massen<br />

an Mut. Da hilft man sich <strong>mit</strong> einer kühn konstruierten<br />

Theorie, <strong>die</strong> den Kapitalismus als Sozialismus<br />

auslegt. Im nächsten Artikel werden wir <strong>die</strong>se<br />

Theorie zerpflücken.<br />

• Die EiniGKeit, 18. Jahrgang, Nr. 16 - 18. April 1914<br />

(Teil II.)<br />

Die antikpaitalistische Aushöhlungstheorie der<br />

neutralen Genossenschafter ist, wenn sie auch in<br />

England nicht Raum gewinnen konnte, doch auf<br />

dem Kontinent sein spezifisch deutsches Geistesprodukt.<br />

Zwar wird sie in Belgien abgelehnt, dort<br />

sind sogar Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften<br />

organisch verbunden. Aber in Frankreich<br />

hat sie den Sieg davon getragen, indem zu<br />

Beginn 1913 <strong>die</strong> bisher den Klassenkampf betonende<br />

‚Bourse coopérative socialiste‘ ihre antikapitalistische<br />

Tendenz verleugnete, um sich <strong>mit</strong> der<br />

anderen Richtung ‚Ecole Nimoise‘ verschmelzen<br />

zu können. In der Schweiz waltet der Geist Dr.<br />

Hans Müllers in den Genossenschaften; er ist der<br />

starke Kopf unter den Sozialisten, <strong>die</strong> den Kapitalismus<br />

überwinden wollen ohne Klassenkampf.<br />

Wir werden uns da<strong>mit</strong> eingehender befassen im<br />

„Pionier“ bei der Besprechung des jüngst erschienenen<br />

Buches von Vandelvelde : „Neutrale und<br />

sozialistische Genossenschaftsbewegung“, das für<br />

jeden Arbeiter, der über den Klassenkampf nachdenkt,<br />

sehr lesenswert ist. Die deutschen Genossenschaftstheoretiker<br />

sind ganz besonderer Art.<br />

Ihre wissenschaftliche Kapazität ist Herr Professor<br />

F. Staudinger in Darmstadt, der bestreitet, Sozialist<br />

zu sein und doch eine Genossenschaftstheorie<br />

aufstellt und in ihrem Sinne <strong>mit</strong> Energie arbeitet,<br />

<strong>die</strong> zum Sozialismus führen soll. Bei einem deutschen<br />

Professor ist ja alles möglich. Solche komplizierte<br />

Wissenschaftlichkeit gibt brauchbaren Stoff<br />

für Theaterstücke. Herr Heinrich Kaufmann, eine<br />

andere Leuchte <strong>die</strong>ser Theorie, war ehemals Volksschullehrer,<br />

dann sozialdemokratischer Redakteur;<br />

er ist heute noch organisierter Sozialdemokrat und<br />

findet nichts darin, zum Streikfonds der Buchdruckereiunternehmer<br />

Genossenschaftsgelder einzuzahlen<br />

(siehe dazu den separaten Artikel). Herr v.<br />

Elm, ein ehemaliger Zigarrensortierer, der Dritte<br />

im Bunde, hat zweifellos drei Kammern im Hirn:<br />

eine für <strong>die</strong> sozialdemokratische Politik, <strong>die</strong> ihm,<br />

wenns glücken will, ein Reichtagsmandat einträgt,<br />

eine für <strong>die</strong> neutrale Gewerkschaftsbewegung unter<br />

Ausschluß aller Revolutionäre, und eine für<br />

<strong>die</strong> neutrale Genossenschaftstheorie, <strong>die</strong> den Klassenkampf<br />

überhaupt ableugnet. Dieses homogene<br />

Dreimännerkollegium, ist maßgebend im Zentralverband<br />

Deutscher Konsumvereine, der den<br />

deutschen Arbeitergenossenschaften <strong>die</strong> Richtung<br />

weist. Die Grundgestalt darin ist Professor Staudin-<br />

27<br />

Vor ungefähr<br />

zwanzig Jahren<br />

bemerkte Kropotkin<br />

einmal in einem<br />

Aufsatz in ‚Freedorn‘,<br />

daß <strong>die</strong> englische<br />

Arbeiterschaft heute<br />

über einen Organisationsapparat<br />

gebiete,<br />

der sie jederzeit in<br />

den Stund setze, eine<br />

vollständige Umgestaltung<br />

des gesellschaftlichen<br />

Lebens<br />

im Sinne des Sozialismus<br />

vorzunehmen.<br />

Er berief sich dabei<br />

auf <strong>die</strong> drei großen<br />

Bewegungen der<br />

englischen Arbeiterklasse:<br />

<strong>die</strong> Gewerkschaften,<br />

<strong>die</strong> Genossenschaften<br />

und den<br />

Munizipalsozialismus.<br />

Nach seiner Meinung<br />

waren <strong>die</strong> Gewerkschaften<br />

das geeignetste<br />

Instrument für<br />

eine sozialistische<br />

Umgestaltung der<br />

Produktion, <strong>die</strong><br />

Genossenschaften<br />

für eine solche des<br />

Konsums, während<br />

der Munizipal-Sozialismus<br />

im Verein <strong>mit</strong><br />

den zahllosen freiwilligen<br />

Organisationen<br />

für alle möglichen<br />

Zwecke am besten<br />

der Befriedigung<br />

allgemein kultureller<br />

Bedürfnisse vorstehen<br />

konnte. Es handele<br />

sich gegenwärtig<br />

hauptsächlich darum,<br />

<strong>die</strong>se drei Bewegungen<br />

synthetisch<br />

zusammenzufassen<br />

und ihnen ein gemeinschaftlichcs<br />

konstruktives<br />

sozialistisches<br />

Ziel zu geben.<br />

»Ich bin gegen <strong>die</strong> Arbeitslosenversicherung<br />

- es<br />

macht <strong>die</strong> Leute nur faul.«


28<br />

Kongregation =<br />

(von lateinisch: con<br />

‚zusammen‘, grex ‚Herde‘,<br />

‚Schar‘) steht für <strong>die</strong> Leute<br />

zusammenhalten. Die<br />

Glaubenskongregation ist<br />

eine von Papst Paul III.<br />

1542 als Kongregation der<br />

römischen und allgemeinen<br />

Inquisition gegründete<br />

Zentralbehörde.<br />

Ihre Aufgabe ist der Schutz<br />

der römisch-katholische<br />

Kirche vor Häresien,<br />

also abweichenden<br />

Glaubensvorstellungen.<br />

seiner Auslegung der deutschen Genossenschaftstheorie<br />

müssen wir uns hier auseinandersetzen.<br />

Wir wollen vorerst einen Grundirrtum aus der<br />

Welt schaffen, der daraus entstanden ist, daß man<br />

„genossenschaftlich“ <strong>mit</strong> „sozialistisch“ durcheinanderwirft<br />

und verwechselt. Auch Vandervelde,<br />

dem wir sonst in vielem beipflichten müssen, sagt<br />

in seinem bekannten Buche in der Vorrede kurzerhand:<br />

der Sozialismus sei genossenschaftlich und<br />

jede Genossenschaft sei sozialistisch. So sehr wahr<br />

das erste ist, so grundfalsch ist das zweite. Der<br />

Sozialismus hat zur wirtschaftlichen Grundlage<br />

<strong>die</strong> genossenschaftliche Produktion, <strong>die</strong> genossenschaftliche<br />

Distribution, den genossenschaftlichen<br />

Verbrauch und bis zu einer normalen Grenze auch<br />

<strong>die</strong> genossenschaftlichen Bedürfnisse, Vergnügen<br />

usw. Erst das Zusammenwirken <strong>die</strong>ser genossenschaftlichen<br />

Funktionen macht den Sozialismus<br />

aus. Genossenschaftlich und sozialistisch ist untrennbar<br />

von einander. Aber <strong>die</strong> Genossenschaften,<br />

<strong>mit</strong> denen wir uns befassen, haben keins <strong>die</strong>ser sozialistischen<br />

Merkmale. Ihre genossenschaftlichen<br />

Funktionen besorgen Lohnarbeiter. Die Konsumgenossenschaften<br />

betrieben kapitalistischen Merkantilismus<br />

und zu dem Zwecke stellen sie Hilfskräfte<br />

an und wirtschaften auf Überschüsse hin,<br />

<strong>die</strong> nicht etwa den Angestellten und Arbeitern,<br />

sondern den Genossenschaftsträgern gehören. Die<br />

Konsumgenossenschaften, welche Eigenproduktion<br />

betreiben oder durch <strong>die</strong> Großeinkaufsgesellschaft<br />

Eigenproduktion betreiben lassen, sind nicht<br />

nur Konsumenten-, sondern auch Produzentenvereinigungen,<br />

das letztere ebenfalls im ausbeuterischen<br />

Sinne, da <strong>die</strong> Genossenschaften selbst<br />

nicht produzieren, aber Lohnarbeiter anstellen und<br />

produzieren lassen. Also auch hier keine Spur von<br />

Sozialismus. Über genossenschaftlichen Verbrauch<br />

und Bedarf brauchen wir nichts weiter zu sagen.<br />

Beides ist ausgeschlossen, so lange <strong>die</strong> Genossenschaften<br />

kapitalistisch erzeugen und verkaufen<br />

müssen. Das „Sozialistische“ unserer heutigen Genossenschaften<br />

besteht lediglich in ihren sozialen<br />

Leistungen und in ihrer Förderung der sozialistischen<br />

Propaganda. Aber <strong>die</strong> Propaganda für den<br />

Sozialismus ist noch nicht Sozialismus, sonst wären<br />

unbewußt und ungewollt <strong>die</strong> brutalsten Unternehmer,<br />

<strong>die</strong> den Arbeiter durch ihr Benehmen auf <strong>die</strong><br />

Klassengegensätze hinweisen, auch Sozialisten.<br />

Und <strong>die</strong> sozialen Leistungen der Genossenschaften<br />

haben erst recht nichts Sozialistisches an sich. Indem<br />

sie dem Kapitalismus Lasten abnehmen, konsoli<strong>die</strong>ren<br />

sie ihn doch! Übrigens ist das meiste an<br />

den sozialen Leistungen der Genossenschaften wie<br />

in den privaten und staatlichen Betrieben auch, nur<br />

Geschrei. Die Hamburger „Produktion“, ein Konsumverein<br />

<strong>mit</strong> eigenbetrieben, der als der größte in<br />

Deutschland 70 000 Mitglieder hat, leistete im Jahre<br />

1913 1 Prozent der Umsatzsumme für soziale Zwecke.<br />

Und <strong>die</strong> Geschäftsleitung erklärt dazu in ihrem<br />

Jahresbericht, da<strong>mit</strong> sei wohl das äußerste erreicht,<br />

was <strong>die</strong> Genossenschaft für ihre Angestellten und<br />

Arbeiter in sozialer Hinsicht tun könne. Die Mitglieder<br />

aber erhielten in demselben Jahre 5 Prozent<br />

auf ihren Notfonds gut geschrieben. Der Notfonds<br />

ist eine Ansammlung der Rückvergütung und er<br />

wird ausgezahlt, wenn das Mitglied in soziale Not<br />

gerät. Die Ausbeuter haben also auf ein Sechstel des<br />

Profits verzichtet zugunsten der Ausgebeuteten.<br />

Ist das etwa Sozialismus?!“<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

Dann widmet sich Karl Roche der Arbeitsverhältnisse<br />

in den ZDK-Genossenschaften. Hierzu zitiert<br />

er den Professor Staudinger, der „<strong>die</strong> günstige<br />

Gelegenheit“ nutzt, um „einen Reklameartikel für <strong>die</strong><br />

Genossenschaften zu schreiben und dabei seine Theorie<br />

bis ins kleinste auszurollen. Der Mann, der nicht als Sozialist<br />

verschrien werden will, beginnt den theoretischen<br />

Teil seines Aufsatzes: »Die Genossenschaft wird heute<br />

noch nicht von allen ihren Mitgliedern und allen ihren<br />

Angestellten als ein wirklich neues soziales Gemeinwesen<br />

angesehen, innerhalb dessen es keinen Klassenunterschied<br />

von Unternehmern und Arbeitern gibt.«<br />

Das ist eigentlich schon gleich <strong>die</strong> Kongregation der<br />

ganzen Genossenschaftstheorie des Zentralverbandes<br />

Deutscher Konsumvereine. Über den praktischen Wert<br />

der Theorie steigen aber sofort Zweifel auf. Z.B. Hatte<br />

denn Herr Kaufmann auch nicht <strong>die</strong> notwendige Einsicht,<br />

als er in Hamburg zu den Buchdruckereibesitzern<br />

ging und dort scharf machte gegen <strong>die</strong> Buchdruckergehilfen<br />

in dem von ihm geleiteten Verlag?“ [siehe: In einer<br />

SPD-Musterfabrik, S. 8]<br />

• Die Einigkeit, 18. Jahrgang, Nr. 18 - Berlin, 2. Mai 1914<br />

Im Schlußteil seines schriftlichen Referates macht<br />

Roche auch deutlich, wie der Terror der sozialdemokratischen<br />

Zentralgewerkschaften sich in den<br />

„neutralen Genossenschaften“ auswirkten: „Wir<br />

wissen auch, daß es heute in fast allen Genossenschaften<br />

dem freien Sozialisten unmöglich ist, außer als bloßes<br />

Mitglied <strong>mit</strong>tätig zu sein. Die zentralen Gewerkschaften<br />

üben auch hier den denkbar schofelsten Terrorismus aus.<br />

In Hamburg haben wir es erlebt, daß ein Mitglied der<br />

„Produktion“ nicht an ihren Bauten arbeiten durfte,<br />

weil er syndikalistisch und nicht zentral organisiert war.<br />

Aber das alles beweist noch nicht <strong>die</strong> Zweckmäßigkeit der<br />

Siedlungsgenossenschaften, beweist noch nicht <strong>die</strong> Entbehrlichkeit<br />

der direkten Aktion des Syndikalismus.“<br />

Als Konsequenz seines Vortrages empfiehlt<br />

Roche den Mitglieder der syndikalistischen Bewegung,<br />

sich den Konsumgenossenschaft anzuschließen,<br />

„soweit sie darin einen wirtschaftlichen<br />

Gegenwartsvorteil für sich erkennen. (...) Die Arbeiter<br />

müssen ihre ganze Kraft und Energie den<br />

syndikalistischen Gewerkschaften zuwenden. Das<br />

sind <strong>die</strong> Organisationen, wo sie kampfgenossenschaftlich<br />

denken und handeln müssen. Diese und<br />

nur <strong>die</strong>se werden den Kapitalismus beseitigen und<br />

den staatslosen Sozialismus herbeiführen, der <strong>die</strong><br />

genossenschaftliche materielle und ideelle Arbeit<br />

zur Voraussetzung hat.“<br />

• Die EiniGKeit, 18. Jahrgang, Nr. 19 - Berlin, 9. Mai 1914<br />

Der Kapitalismus muß totgekämpft werden!<br />

Auf dem 11. Kongreß der FVdG, vom 21.-23. Mai<br />

1914 in Berlin abgehalten, stellt Roche sein Referat<br />

nur noch kurz vor und argumentiert in der Diskussion<br />

für das Genossenschaftswesen <strong>mit</strong> folgenden<br />

Worten:<br />

„Ist der Grundcharakter unserer Organisation genossenschaftlich,<br />

sind es unsere Kämpfe, so ist unser Ziel<br />

erst recht durch und durch vom genossenschaftlichen<br />

Geiste durchglüht – und ohne <strong>die</strong>sen nicht durchführbar.<br />

Wir wollen den freien, den staatslosen Sozialismus<br />

im Gegensatz zur Sozialdemokratie, <strong>die</strong> einen neuen<br />

Staat <strong>mit</strong> einer womöglich noch größeren Zentralgewalt<br />

wie sie der heutige Staat hat, erstrebt. Wir wollen, <strong>die</strong><br />

Kommune, weil wir <strong>die</strong> Lohnarbeit abschaffen und <strong>die</strong><br />

Produktions<strong>mit</strong>tel den Arbeitern aushändigen wollen;


arrikade sieben - April 2012<br />

Die Genossenschaften aber haben <strong>die</strong> einstigen Voraussetzungen ihrer Bestrehungen<br />

längst vergessen und sieh in Organe der kapitalistischen Gesellschuft<br />

umgewandelt. Wir wollen nicht bestreiten, daß sie auch in <strong>die</strong>ser Form dem<br />

einzelnen Arbeiter noch von bescheidenem Nutzen sein können; aber der<br />

sozialistische Fernblick, den Robert Owen einst hatte, ist ihnen verlorengegangen<br />

und zusammen <strong>mit</strong> ihm der Drang zur konstruktiven sozialistischen Betätigung.<br />

Und doch stehen wir heute wieder vor einer Wende, wo sich <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

für ein konstruktives Wirken im Sinne des Sozialismus mehr und mehr bemerkbar<br />

macht und Verständnis findet. In jedem Lande sind bereits Ansätze eines solchen<br />

Wirkens wahrzunehmen. Aus <strong>die</strong>sem Grunde halten wir eine ernste Betrachtung über<br />

<strong>die</strong> verschiedenen Fomen des konstruktiven Sozialismus, von den ersten Versuchen<br />

des alten Experimentalsozialismus bis zum modernen Gildensozialismus,<br />

für geboten.<br />

• RUDOLF ROCKER<br />

wir wollen <strong>die</strong> Dezentralisation der wirtschaftlichen<br />

Kräfte, soweit <strong>die</strong> Technik das gestattet und <strong>die</strong> Produktivität<br />

der Arbeit nicht darunter leidet. Das wollen wir<br />

im Interesse der persönlichen Freiheit jedes einzelnen.<br />

Stellen wir uns aber <strong>die</strong>s ideale gesellschaftliche Zukunftsgebilde,<br />

so müssen wir uns dessen auch bewußt<br />

sein, daß es ohne den ausgeprägtesten genossenschaftlichen<br />

Geist, der <strong>die</strong> Persönlichkeit beherrscht, nicht<br />

durchführbar sein wird.“<br />

Das es im Kapitalismus keine sozialistischen<br />

Genossenschaften geben kann, erklärt Roche so:<br />

„Sozialistische Genossenschaften müßten unter Ausschaltung<br />

der Lohnarbeit Güter für den Verbrauch und<br />

nicht für den Warenhandel erzeugen, sozialistische Genossenschaften<br />

dürfen nicht Waren von ahgestellten<br />

Lohnarbeitern austauschen lassen, sondern haben jegliche<br />

Lohnarbeit sowohl bei der Eigenproduktion wie im<br />

Vertrieb unter <strong>die</strong> Mitglieder grundsätzlich abzulehnen.<br />

Jegliche genossenschaftliche Arbeit, <strong>die</strong> gegen Lohn ausgeführt<br />

wird, ist nicht sozialistisch – sie ist kapitalistisch<br />

und da wir Genossenschaften ohne Mithilfe der Lohnarbeit<br />

nicht haben, so haben wir auch keine sozialistischen<br />

Genossenschaften. Alle bestehenden Genossenschaften<br />

müssen kapitalistisch sein, da sie von der Warenproduktion<br />

und dem Warenverschleiß abhängig sind. Der<br />

Kapitalismus läßt sich nicht zerlegen in kapitalistisch<br />

und sozialistisch; er ist ein wirtschaftliches Ganzes und<br />

<strong>die</strong> Genossenschaften sind naturgemäß wirtschaftsorganisch<br />

<strong>mit</strong> ihm verbunden. So wenig wie in der auf der<br />

Lohnarbeit ruhenden Produktionsweise es sozialistische<br />

Genossenschaften geben kann – ebensowenig können <strong>die</strong>se<br />

Genossenschaften der oder ein Weg zum Sozialismus<br />

sein.“<br />

Als „interessant und beinahe spaßhaft“ analysiert<br />

Roche, „wie sich <strong>die</strong> modernen Genossenschaftstheoretiker,<br />

an deren Spitze Dr. Hans Müller in der Schweiz,<br />

<strong>die</strong> Ablösung des Kapitalismus durch <strong>die</strong> Arbeiterkonsumvereine<br />

denken. Der Kapitalismus soll nach Müller<br />

überwunden werden durch das Sparen der Arbeiter. (...)<br />

Sozialdemokratische Theoretiker , wie Kautsky, Rosa<br />

Luxemburg, Pannekoek und andere erkennen natürlich<br />

den Unsinn <strong>die</strong>sesGrundsatzes, aber sie sagen nichts dagegen,<br />

weil <strong>die</strong> Genossenschaften einen gewaltigen Einfluß<br />

auf <strong>die</strong> sozialdemokratische Arbeiterbewegung haben.<br />

Sie haben nicht den Mut, gegen das unmarxistische<br />

und unkämpferische Prinzip <strong>die</strong>ser Genossenschaften<br />

anzutreten.“ Roche zitiert dann Müller wie folgt aus<br />

der KonsuMGenossensCHaFtliCHen RunDsCHau: „ ...<br />

der moderne Arbeiter ...ist darauf bedacht, <strong>die</strong> Genossenschaft<br />

in jeder Weise kapitalkräftig zu machen. Seine<br />

Genossenschaft ist seine Sparkasse, in der er seine überschüssigen<br />

Groschen anlegt, und sie ist gleichzeitig sein<br />

Kollektivkapital, <strong>mit</strong> dem er das Privatkapital aus dem<br />

Sattel heben will.“<br />

Der Kongreß reagiert auf <strong>die</strong>ses Zitat <strong>mit</strong> „Heiterkeit“<br />

und beschließt dann eine Resolution, <strong>die</strong> zwar<br />

den kapitalistischen Charakter der sozialdemokratischen<br />

Genossenschaften aufgrund der Warenproduktion<br />

und der Lohnarbeit deutlich benennt, aber<br />

auch erklärt:<br />

„Aber nichtsdestoweniger führen <strong>die</strong> Konsumgenossenschaften<br />

ein Stück direkter öknomomischer Aktion<br />

gegen den Kapitalismus durch. Sie schalten das parasitäre<br />

Kleinhandelsgewerbe aus und ver<strong>mit</strong>teln dessen<br />

Profite ihren Mitgliedern. Da<strong>mit</strong> erhöhen sie ihren Arbeiter<strong>mit</strong>gliedern<br />

den Reallohn und heben deren soziale<br />

Existenzmöglichkeit.“<br />

Gegen <strong>die</strong> Gründung von Produktivgenossenschaften<br />

durch Mitglieder der FVdG erklärt der<br />

Kongreß abschließend: „Solche Gründungen sind<br />

sind lediglich als private Unternehmungen zu betrachten.<br />

Mittel aus den syndikalistischen Organisationen<br />

dürfen dazu nicht verwendet werden.“<br />

• Protokoll über <strong>die</strong> Verhandlungen vom 11. Kongreß der<br />

FVdG, 1914<br />

Roches letzten Beitrag finden wir kurz vor<br />

Kriegsausbruch 1914:<br />

Genossenschaftliches.<br />

Wer möchte wohl den Wald von Literatur – <strong>die</strong><br />

knorrigen und schlanken Baumriesen, das Unterholz<br />

und Gestrüpp und auch viel poetisches Blumenwerk<br />

– zu übersehen, den der Sozialismus<br />

schon auf den Markt und vor das interessierte Publikum<br />

geworfen hat. Jeder, der zur Feder greift<br />

und nicht als Reaktionär gelten möchte, liebäugelt<br />

<strong>mit</strong> dem Sozialismus. Es gibt ja „Sozialisten“ in<br />

des Königs Rock und auf Thronen; es gibt „Sozialisten“<br />

in der Heilsarmee, und dazwischen tummelt<br />

sich eine breite Herde sozialistischer Denker<br />

oder Schaumschläger.<br />

Es wird heute bald jede Bewegung, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong><br />

Anteilnahme der Arbeiterschaft reflektiert, als sozialistisch<br />

bezeichnet. Die Arbeiter haben Augen und<br />

Ohren aufzuhalten, um das Falsche vom Wahren<br />

zu erkennen.<br />

Identisch <strong>mit</strong>einander sind <strong>die</strong> Begriffe „genossenschaftlich“<br />

und „sozialistisch“. Nur müssen sie<br />

auseinandergehalten werden, wenn es sich um <strong>die</strong><br />

sozialistische Bemäntelung kapitalistischer Entwicklungsphasen<br />

handelt.<br />

kr.<br />

• Der Pionier, 4. Jahrgang, Nr. 31 – 8. August 1914<br />

29


30<br />

Quellen:<br />

Gerhard BotZ –<br />

Der Arbeiter-Sschriftsteller<br />

Carl Dopf (1883-1968)<br />

und <strong>die</strong> anarchistische<br />

Subkultur – in:<br />

Im Schatten der Arbeiterbewegung<br />

– Zur<br />

Geschichte des Anarchismus<br />

in Österreich<br />

und Deutschland<br />

(o. Jahr).<br />

Karl DoPf war u.a.<br />

Mitherausgeber der<br />

Huren-Zeitschriften Der<br />

PranGer (1921) und<br />

Herausgaber von Der<br />

KraKeHler (Das Blatt<br />

der Eigenbrödtler, 1922)<br />

und Das SiGnal (Kampf-<br />

Organ der Versprengten,<br />

1924) in Hamburg<br />

arbeitete er <strong>mit</strong> Karl<br />

Langer an dessen<br />

Alarm <strong>mit</strong>, zieht sich<br />

jedoch von den Freien<br />

Sozialisten zurück, als<br />

einige der Mitglieder<br />

sich an Plündeungen<br />

und Gewalttaten<br />

(Sülzeunruhen 1919)<br />

beteiligen.<br />

BeFreiunG<br />

& ErKenntis – Wien,<br />

Redaktion: Rudolf<br />

Großmann. (Schriftstellername:<br />

Pierre Ramus)<br />

Dank an das Anarchistische<br />

Archiv Wien,<br />

das uns den Artikel<br />

von Karl DoPf<br />

zur Verfügung<br />

gestellt hat.<br />

In einer sozialdemokratischen Musterfabrik<br />

des ZDK - Genossenschaftsverbandes 1913<br />

In der Papierwarenfabrik der Verlagsgesellschaft<br />

deutscher Konsumvereine des zdk in Hamburg – hier<br />

wurden zentral alle Drucksachen und Zeitschriften<br />

des Verbandes hergestellt – gab es eine syndikalistische<br />

Gewerkschaftsgruppe der FVdG, wie der<br />

Hilfsarbeiter Karl DoPf in seinen Erinnerungen zu<br />

berichten weiß: er arbeitete „über zehn Jahre lang in<br />

<strong>die</strong>sem Betrieb, der in produktionstechnischer wie sozialer<br />

Hinsicht als Musterbetrieb galt, dessen Organisation<br />

des Arbeitsprozesses jedoch dopf weniger »sozialistisch«<br />

erschien, als er es sich vorgestellt hatte. Grund<br />

der Unzufriedenheit waren <strong>die</strong> innerbetriebliche Hierarchie,<br />

<strong>die</strong> starken Lohnunterschiede und überhaupt der<br />

hier herrschende »preußische Geist«. Die Hilfsarbeiter,<br />

zuunterst in der betrieblichen Pyramide, scheinen hier<br />

ihre eigenen Vorstellungen von einem »gerechten Sozialismus«<br />

entwickelt zu haben und schon vor dem Ersten<br />

Weltkrieg anarchosyndikalistisch orientiert gewesen zu<br />

sein. Daher vermied es Dopf, der zwar nominell Mitglied<br />

der deutschen sozialdemokratischen Gewerkschaftsorganisation<br />

wurde, der SPD beizutreten. Die Bedeutung<br />

<strong>die</strong>ser betrieblichen Verhältnisse für <strong>die</strong> weitere weltanschauliche<br />

Entwicklung Dopf s liegt auf der Hand.“<br />

(BotZ) •<br />

In der österreichischen anarchistischen Zeitschrift<br />

ErKenntnis & BeFreiunG (Nr. 9 / 1923) schreibt DoPf<br />

u.a. folgendes: „Die genossenschaftliche Fabrik,<br />

wie sie <strong>die</strong> Sozialdemokratie geschaffen hat, ist dasselbe<br />

wie eine kapitalistische Aktiengesellschaft, nur <strong>mit</strong><br />

dem Unterchied, daß der Reingewinn, der bei jener in<br />

<strong>die</strong> Tasche der Aktionäre wandert, hier den beteiligten<br />

Genossenschaften zufällt, in denen Arbeiter organisiert<br />

sind. Da<strong>mit</strong> ist aber meines Erachtens im System der<br />

Ausbeutung nicht geändert und wird nie etwas geändert<br />

werden. (...) Wer den Ertrag meiner Arbeit bekommt,<br />

ist mein Ausbeuter, ganz gleich, ob er sich zur Kapitalistenklasse<br />

oder zum Proletariat rechnet.“ Später<br />

schreibt DoPf von den Methoden im zdk-Betrieb<br />

und charakterisiert <strong>die</strong> Funktionsträger der Genossenschaft<br />

nach dem Ausscheiden der „bürgerlich<br />

gesinnten Menschen“ aus der Betriebsleitung als<br />

„durchwegs von proletarischen Emportkömmlingen“<br />

durchsetzt, unter denen „Zustände einreißen, wie<br />

ich sie in keiner kapiatlsitischen Bude gesehen habe“.<br />

DoPf meint, er könnte ein Buch schreiben über <strong>die</strong><br />

Zustände, „<strong>die</strong> beweisen, daß <strong>die</strong> Praxis der genossenschaftlichen<br />

Betriebsführung nichts, aber nicht das Geringste<br />

<strong>mit</strong> dem geiste des Sozialismus oder auch <strong>mit</strong><br />

den wahren Zielen des Genossenschaftsgedankens zu<br />

tun hat“. Die Ursache sieht er vor allem in <strong>die</strong>sem<br />

Übel: „Im genossenschaftsbetriebe habe ich selbst bei äußerster<br />

Anstrengung, noch nie ein anderes Wort gehört,<br />

als daß eben wieder nicht genug geschafft worden sei.<br />

Das Problem von der Steigerung der Leistungen liegt<br />

den Herren Genossenschaftsführern allen im Kopf, und<br />

daher glauben sie auch, es nur lösen zu können, wenn<br />

sie recht viele, möglichst hinter jedem Arbeiter einen Antreiber<br />

stehen haben, anstatt, was vernünftiger wäre, an<br />

jeder Arbeitsstelle genügend produktiv schaffende Kräfte<br />

wirken zu lassen.“ Und das geht dann so weit, daß<br />

in der genossenschaftlichen Fabrik „nur strengste<br />

Disziplin“ herrscht, „und jeder hat sich ohne Widerspruch<br />

der Autorität seines Vorgesetzten unterzuordnen.<br />

Tut er <strong>die</strong>s nicht, wird sofort <strong>die</strong> Hungerpeitsche<br />

Mastkorb • Theorie [Ausblick auf den libertären Kommunismus]<br />

geschwungen, das heißt man entledigt sich seiner oder<br />

droht ihm wenigstens.“ ... „So kommt es dann, daß viele<br />

Arbeiter herumlaufen, <strong>die</strong> sich ihr Wochengeld auf anderer<br />

Leute Knochen ver<strong>die</strong>nen können, wenn sie sich<br />

durch einen schmutziger Stehkragen als <strong>die</strong> »bevorzugte<br />

Proletarierklasse« kenntlich zeigen. Schließlich tragen<br />

auch noch <strong>die</strong> famosen Tarifverträge der Gewerkschaften<br />

dazu bei, <strong>die</strong> bestimmen, daß der ungelernte Arbeiter<br />

jede ihm befohlene Arbeit auszuführen hat. Wenn also<br />

ein Vorgsetzter befiehlt, daß man ihm <strong>die</strong> Stiefel putzen<br />

oder einem Unteroffizier <strong>die</strong> Knöpfe blank zu scheuern<br />

hat, dann hat man <strong>die</strong>s ohne Widerspruch auszuführen,<br />

weil es irgendwo im Tarif steht.“ •<br />

Heinrich Kaufmann und<br />

<strong>die</strong> Buchdruckergehilfen in Hamburg<br />

In der EiniGKeit erschien am 25. Oktober 1913 noch<br />

ein Nachtrag zur Buchdrucker-Auseinandersetzung<br />

in Hamburg durch Roche:<br />

„Ausgewiesen. Wir haben im Mai d.J. In der ‚Einigkeit‘<br />

berichtet, daß <strong>die</strong> Buchdrucker in der Verlagsgesellschaft<br />

Deutscher Konsumvereine zu Hamburg ihre Stellungen<br />

kündigten, weil Herr Heinr. Kaufmann, ehemals<br />

Volksschullehrer, dann sozialdemokratischer Redakteur<br />

und jetzt „Prinzipal“ bei genannter Gesellschaft, Buchdrucker<br />

gemaßregelt hatte. Der Streit wurde damals<br />

durch Schlichtung beigelegt, und <strong>die</strong> Buchdrucker blieben<br />

an ihren Plätzen. Herr Kaufmann hat sich wiederholt<br />

berühmt gemacht und zuletzt dadurch, daß er in<br />

seiner Eigenschaft als Prinzipal der Verlagsgesellschaft<br />

der Unternehmerorganisation beitrat und Genossenschaftsgeld,<br />

also vorwiegend Groschen aus den Taschen<br />

der organisierten Arbeiter, in eine Antistreikkasse der<br />

Buchdruckerprinzipalität zahlte. Solche genossenschaftliche<br />

Förderung der Arbeiterinteressen ist ihm dann von<br />

der Gesellschaft verboten worden. Aber welcher Zeitgenosse<br />

baut nicht gerne seine eigenen Lorbeeren! Als der<br />

Konflikt im Mai beigelegt war, da ging Herr Kaufmann<br />

in <strong>die</strong> Prinzipalsversammlung und machte gegen <strong>die</strong><br />

Buchdruckergehilfen scharf.“<br />

Herr Kaufmann wollte gar einen Teil des Vermögen<br />

des Deutschen Buchdruckerverbandes per Gerichtsvollzieher<br />

eintreiben, weil ihm der Tarif <strong>die</strong>ser<br />

sozialdemokratischen Gewerkschaft „zu revolutionär“<br />

erschien. Das klappt aber nicht, denn „Geldopfer<br />

waren nicht beizutreiben [gewesen]. Also hat man<br />

sich anders zu helfen gesucht. Der Wortführer der Gehilfen<br />

in dem Konflikt war der Buchdrucker Steinhardt; er<br />

hat auch auf dem Verbandstage in Danzig <strong>die</strong> Interessen<br />

der Hamburger Buchdrucker gegen den Zentralvorstand<br />

energisch vertreten. Er ist also, wie <strong>die</strong> „Instanzen“ da<br />

so zu nennen belieben, ein gewerkschaftliches Rauhbein.<br />

Nun hat Steinhardt einen Geburtsfehler: er ist nämlich<br />

außerhalb der „schwarzweißroten“ Grenzen zur Welt<br />

gekommen. Das wurde ihm zum Verhängnis. Der Hamburger<br />

Senat hat ihn jetzt, nachdem er schon 12 Jahre<br />

hier lebte, ausgewiesen. Wir behaupten natürlich nicht,<br />

daß <strong>die</strong> Verlagsanstalt Deutscher Konsumvereine zu der<br />

Ausweisung den Anstoß gab; denn was nicht zu beweisen<br />

ist, darf nicht behauptet werden. Aber kann das nicht<br />

ein Blinder <strong>mit</strong> dem Krückstock sehen? K.“ •<br />

• Die EiniGKeit, Nr. 43 – Berlin, 25.10.1913


arrikade sieben - April 2012<br />

Tabellarischer Sozialismus<br />

Die sozialdemokratischen Genossenschaftsbetriebe<br />

sind nichts weiter als kapitalistische Firmen<br />

gewesen. Der „Sozialismus“ <strong>die</strong>ser Herrschaften,<br />

<strong>die</strong> im August 1914 dem Schlachtruf des Kaisers in<br />

den Untergang und <strong>die</strong> unvollendete Revolution<br />

von 1918 folgten, zeichnet sich allein durch eine<br />

penible und pedantische Buchhalterei aus; hätte<br />

es damals elektronische Tabellenkalkulationsprogramme<br />

gegeben, hießen sicherlich noch heute<br />

„FortsCHritt“, „BeBel“ oder „Lasalle“ heißen. Die<br />

Geschäftstüchtigkeit der Herren ZDK-Führer ist<br />

so umtriebig wie nachhaltig – für ihre Taschen.<br />

Das lässt sich allein am Bericht der VerlaGsanstalt<br />

Des zDK für 1913 nachweisen. Dort steht nämlich,<br />

dass <strong>die</strong> Verlagsgesellschaft praktischerweise<br />

in Personalunion vom Vorstand und Aufsichtsrat<br />

des ZDK geführt wird. Über <strong>die</strong> Entlohnung<br />

kann spekuliert werden – ehrenamtlich haben <strong>die</strong><br />

Mitglieder des Geschäftsführenden Vorstandes<br />

nicht gearbeitet. Ihre „sozialen Netzwerke“, <strong>die</strong><br />

zwischen den Betrieben der Genossenschaften<br />

und der Partei bestanden, waren ausgeklügelt.<br />

Sprachlos macht eigentlich <strong>die</strong> Tatsache, daß alle<br />

größeren Firmen des ZDK keine Genossenschaften<br />

waren, sondern GmbHs, wo dann das genossenschaftliche<br />

Prinzip nicht mehr galt - jede/r hat<br />

nur eine Stimme; das war praktisch ...<br />

Während Frauen und Männer in den Werkstätten<br />

miserabel bezahlt, aber permanent kontrolliert<br />

und <strong>die</strong> Leistungen tabellarisch erfasst wurden.<br />

Wie vieler Schreiber bedurfte es wohl zur Erstellung<br />

der täglichen Akkord-Listen und Übersichten?<br />

Karl Roche schrieb 1910 in seiner <strong>Abrechnung</strong><br />

<strong>mit</strong> seiner sozialdemokratischen Bauhilfsarbeiter-Zentralgewerkschaft<br />

in Hamburg, dass er<br />

<strong>die</strong> Zahlen zusammengestellt und am Stehpult in<br />

der Küche des Gewerkschaftsvorstandsbüros und<br />

auch zu Hause am Küchentisch erstellte, während<br />

der Vorsitzender sie dann als sein geistiges Eigentum<br />

veröffentlichte.<br />

Frauen galten seinerzeit nur als Hilfsarbeiterinnen,<br />

<strong>die</strong> Tüten kleben durften. Aber selbst das war<br />

vielen organisierten Arbeiter-Männern noch zu<br />

viel. Roche erklärte in einem Diskussionsbeitrag,<br />

dass <strong>die</strong> vielen Frauen in den Genossenschaften<br />

nur als Verkäuferinnen beschäftigt würden …<br />

Das Lohnsystem entsprach vollkommen den<br />

kapitalistischen Verträgen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Zentralgewerkschaften<br />

aushandelten – je mehr Lohngruppen<br />

und Altersunterschiede zum Tragen kamen, desto<br />

besser. Hierarchie überall, wohin man blickt.<br />

Was für ein Sozialismus ist das, der nicht danach<br />

fragt, wie es den Arbeiterinnen und Arbeitern in<br />

ihren Fabriken „geht“, ob sie sich wohlfühlten?<br />

Die Beschäftigten sollten zufrieden sein, weil<br />

dort „nur“ 49 Stunden statt 52 gearbeitet werden<br />

mußte, <strong>die</strong> Arbeitszeit also um fast 6% geringer<br />

sei als anderswo. Und <strong>die</strong> kleinlichen Regelungen<br />

aller möglichen Dinge wurden <strong>mit</strong> Zentralgewerkschaften<br />

ausgehandelt, teils selbstherrlich<br />

vom Vorstand erlassen.<br />

Wir dokumentieren hier auszugsweise <strong>die</strong><br />

Lohntarife aus den Lohnverhältnissen bei der Verlagsanstalt<br />

des Zentralverbandes der deutschen Konsumvereine<br />

1913 - entnommen dem ZDK-Jahrbuch<br />

1913 (Seiten 544-548). • fm<br />

HeinRiCH Ka U F m a n n (1864 – 1928)<br />

... war maßgeblich an der Gründung des Zentralverbandes<br />

deutscher Konsumvereine e.V. beteiligt und gilt als <strong>die</strong> Vaterfigur<br />

der deutschen Konsumgenossenschaftsbewegung.<br />

Geboren 1864 in Bredegatt (Nordschleswig) als Sohn<br />

eines Gastwirtes und Krämers wurde er Lehrer, zunächst<br />

in Kiel, dann an der privaten Paßmannschen Schule in<br />

Hamburg. Dort bekam er Einblick in das Elend vieler Arbeiterfamilien.<br />

In seiner Freizeit unterrichtete er in einem<br />

Kellerlokal des Fortbildungsvereins Barmbek-Uhlenhorst<br />

wissensdurstige Arbeiter. Der Fortbildungsverein wurde<br />

von den Behörden kurzerhand geschlossen, als er in den<br />

Verdacht geriet, Anarchisten in seinen Reihen zu haben.<br />

1894 übernahm Kaufmann <strong>die</strong> Geschäftsführung und<br />

<strong>die</strong> Lokalredaktion des neu gegründeten sozialdemokratischen<br />

„Volksblatt für Harburg und Wilhelmsburg“. In<br />

Harburg tratt er dem kleinen örtlichen Konsumverein<br />

bei und sorgte <strong>mit</strong> reger Werbung in den Arbeiterkreisen<br />

für weitere Beitritte. Durch <strong>die</strong>se Arbeit kam er <strong>mit</strong> der<br />

noch jungen Großeinkaufsgesellschaft deutscher Konsumvereine<br />

mbH (GEG) in Hamburg in Kontakt. Dort übernahm<br />

er 1900 <strong>die</strong> Leitung des „Wochenberichtes“ <strong>die</strong> er in eine<br />

konsumgenossenschaftliche Werbe- und Fachzeitschrift<br />

umgestaltete.<br />

Als auf dem Kreuznacher Genossenschaftstag 1902 <strong>die</strong><br />

GEG, der Verband sächsischer Konsumvereine sowie 98<br />

Konsumvereine aus dem Allgemeinen Verband (Schulze-<br />

Delitzsch) der Genossenschaften ausgeschlossen wurden,<br />

nahm Kaufmann <strong>die</strong> Gründung eines eigenen konsumgenossenschaftlichen<br />

Verbandes in <strong>die</strong> Hand. Bereits im<br />

Mai 1903 wurde in Dresden durch 621 Delegierte von 302<br />

Konsumgenossenschaften der Zentralverband deutscher<br />

Konsumvereine e.V. gegründet. Kaufmann kümmerte sich<br />

um den Aufbau der Verlagsanstalt des Zentralverbandes,<br />

deren Geschäftsführer er wurde. Dort wurden <strong>die</strong> einflussreichen<br />

Blätter „Konsumgenossenschaftliche Rundschau“<br />

und „Konsumgenossenschaftliches Volksblatt“ herausgegeben.<br />

Er drängte auf eine enge Zusammenarbeit<br />

<strong>mit</strong> den Gewerkschaften und sorgte dafür, dass für <strong>die</strong><br />

konsumgenossenschaftlichen Betriebe vorbildliche Tarifverträge<br />

abgeschlossen wurden. Er war der Motor für<br />

<strong>die</strong> Gründung der gewerkschaftlich-genossenschaftlichen<br />

Lebensversicherungsgesellschaft „Volksfürsorge AG“.<br />

Als Heinrich Kaufmann 1928 im Alter von 64 Jahren<br />

starb, war <strong>die</strong> Zahl der Konsumgenossenschaften im ZdK<br />

auf 1.024, <strong>die</strong> der Verteilungsstellen auf 10.124 und <strong>die</strong><br />

der Mitglieder auf über 3 Millionen angestiegen. •<br />

• http://www.kaufmann-stiftung.de (gekürzt)<br />

ad O L F V On eLm (1857-1916)<br />

... war 1898 Initiator zur Gründung der Konsum-, Bauund<br />

Sparverein „Produktion“ eGmbH, Hamburg, im Jahre<br />

1899.<br />

Im Jahr 1905 hat Von Elm auf dem 5. Gewerkschaftskongress<br />

in Köln als erster versucht, <strong>die</strong> beiden Bewegungen<br />

Konsumgenossenschaften und Gewerkschaften als <strong>die</strong><br />

beiden großen sozialwirtschaftlich und sozialpolitisch<br />

bedeutsamen Massenorganisationen auf eine Grundlage<br />

zu stellen. Der Kongress empfahl nach dem Referat von<br />

von Elm den Gewerkschafts<strong>mit</strong>gliedern den Beitritt in <strong>die</strong><br />

Konsumgenossenschaften. Eine Empfehlung bezüglich<br />

der SPD wurde in <strong>die</strong>sem Zusammenhang nicht gegeben,<br />

da <strong>die</strong> konsumgenossenschaftlichen Grundsätze eine<br />

parteipolitische Neutralität vorsahen. Doch praktisch war<br />

<strong>mit</strong> <strong>die</strong>sem Beschluss das Drei-Säulen-Kartell von SPD,<br />

Sozialistischen Gewerkschaften und der Konsumgenossenschaftsbewegung<br />

der Hamburger Richtung endgültig<br />

besiegelt.<br />

Von Elm war ein Gründer der gewerkschaftlich-genossenschaftlichen<br />

„Versicherungs-Aktiengesellschaft Volksfürsorge“,<br />

deren erster Vorstand er <strong>mit</strong> Friedrich Lesche<br />

wurde. Die Volksfürsorge nahm am 1. Juli 1913 ihren Geschäftsbetrieb<br />

auf.<br />

AdolPh Von Elm starb 1916 an seinem Schreibtisch. •<br />

31


arrikade sieben - April 2012<br />

Worauf es ankommt: Das Prinzip<br />

In DoPfs Schilderungen voraus ging ein interessanter<br />

redaktioneller Beitrag Zur Theorie<br />

und Praxis im Genossenschaftswesen:<br />

„Worauf es ankommt, ist das Prinzip. Selbst<br />

eine revolutionäre Gewerkschaftsbewegung –<br />

was der französische Syndikalismus <strong>mit</strong> einer<br />

Mitgliedschaft von mindestens einer halben<br />

Million vor dem Kriege war – führt das Proletariat<br />

nicht zur genossenschaftlichen Eigenwirtschaft,<br />

befähigt es noch nicht dazu, beläßt<br />

es im Kreise des bürgerlichen Lohnsystems<br />

und seiner Produktion, ist außer Stande, <strong>die</strong><br />

Konkurrenz der Arbeiter untereinander aufzuheben<br />

und schmälert selbst beim höchsten<br />

Lohnsatz nicht <strong>die</strong> Profitrate des Unternehmers.<br />

Alles das aber kann <strong>die</strong> kleinste, wirklich<br />

sozialistische Genossenschaft tun, wenn ihre<br />

Mitglieder es erstreben und <strong>die</strong>sen Prinzipien<br />

treu bleiben. (...)<br />

Hier hätte der Synsikalismus eine historische<br />

Aufgabe zu erfüllen, er müßte der sozialdemokratischen<br />

Korrumpierung des Genossenschaftsprinzips<br />

eine Verwirklichung desselben<br />

entgegenstellen, wodurch <strong>die</strong> Arbeiter zunehmend<br />

wirtschaftlich unabhängig vom Kapitalismus<br />

und zugleich praktisch geschult für<br />

<strong>die</strong> soziale Revolution werden, den produktive<br />

Grundlage legend, was eine nursyndikalistischeBewegung<br />

nie zu leisten vermag.“<br />

• ErKenntnis & BeFreieunG, Nr. 9 / 1923<br />

Der zdk - heute<br />

Seit vielen Jahren kümmert sich der Hamburger Genossenschaftsverband<br />

zdk sehr intensiv um genossenschaftliche Neugründungen.<br />

Außerdem sind <strong>die</strong> dortigen Kolleginnen und<br />

Kollegen bemüht, <strong>die</strong> Positionen und Notwendigkeiten kleiner<br />

Genossenschaften (z.B. Prüfungskosten) im Rahmen ihrer<br />

Möglichkeiten auf politischer und gesamt-genossenschaftlicher<br />

Ebene (meist gegen <strong>die</strong> übermächtige und starrköpfige<br />

Haltung der Raiffeisen- und Genossenschaftsbanken-Verbandsfunktionäre)<br />

zu positionieren und den Grundgedanken<br />

des Genossenschaftswesen zu verteidigen.<br />

Wer eine Genossenschaft gründen möchte, sollte sich an <strong>die</strong>se<br />

engagierten Menschen wenden, sie helfen uneigennützig<br />

und kompetent in allen Fragen - von der juristischen Betreuung<br />

einer Gründung (Satzung, inkl. Prüfungsverbandkontrolle)<br />

bis hin zur buchhalterischen und steuerlichen Beratung.<br />

• www.zdk-hamburg.coop<br />

33<br />

Foto: Yan Liang (L2XY2)


34 Harpune & Torpedo •<br />

KA R L RO C H E<br />

Vorbemerkung<br />

I.<br />

Die ‚wilden‘ Streiks der letzten beiden Jahre des<br />

1. Weltkrieges in Deutschland, besonders <strong>die</strong> großen<br />

Januarstreiks von 1918, hatten eine breite oppositionelle<br />

revolutionäre Strömung innerhalb<br />

wie außerhalb der gewerkschaftlich organisierten<br />

Arbeiterklasse gestärkt. Neben der von den sozialdemokratischen<br />

Gewerkschaftsführungen bei<br />

Kriegsausbruch verkündeten Burgfriedenspolitik<br />

und deren ‚vertrauensvoller‘ Zusammenarbeit <strong>mit</strong><br />

der kaiserlichen Reichsführung und dem Militär<br />

waren es <strong>die</strong> abwiegelnden Aktivitäten in den<br />

Streikbewegungen des Krieges, <strong>die</strong> eine starke Verbitterung<br />

hervorriefen, aber unter den Bedingungen<br />

des Kriegsrechtes und der allgegenwärtigen<br />

Repression kaum organisatorische Konsequenzen<br />

hatte. [1] Mit der Revolution im November 1918 fielen<br />

<strong>die</strong>se Hindernisse fort.<br />

Die Streikbewegungen des Frühjahres 1919 brachten<br />

eine Vielfalt von revolutionären Betriebsräten,<br />

Aktionsko<strong>mit</strong>ees etc. hervor, aus denen <strong>die</strong> Kerne<br />

der Anfang 1920 dann reichsweit gegründeten Allgemeinen<br />

Arbeiter-Union Deutschlands (AAUD) entstand.<br />

Einen Teil der oppositionellen Gewerkschafter<br />

und der bisher Unorganisierten in der ersten<br />

Phase der Revolution konnte <strong>die</strong> syndikalistische<br />

Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften auffangen,<br />

<strong>die</strong> bei Kriegsbeginn 1914 zwischen 6.000 und<br />

7.000 Mitglieder hatte und <strong>die</strong> Kriegszeit halblegal<br />

überdauerte. Zumindest dort, wo organisatorische<br />

Kerne existierten, erlebte <strong>die</strong> FVdG einen rasanten<br />

Zuwachs, so daß <strong>die</strong> Syndikalistische Konferenz,<br />

<strong>die</strong> vom 26. – 27. Dezember 1918 in Berlin stattfand,<br />

schon gut 60.000 Mitglieder vertrat. [2] Aber es entstanden<br />

auch lokale oder regionale Unionen, <strong>mit</strong><br />

Zentren im Ruhrgebiet, Mittel- und Norddeutschland.<br />

[3]<br />

II.<br />

Die KPD(S) hatte auf ihrem Gründungskongreß ein<br />

antiparlamentarisches Programm verabschiedet,<br />

und nur durch Rosa LuXemBurgs Intervention konnten<br />

ausdrücklich anti-gewerkschaftliche Beschlüsse<br />

des Parteitages (darunter auch den zur Gründung<br />

einer Einheitsorganisation) <strong>mit</strong> einem Trick (Überweisung<br />

an den »Ausschuß für wirtschaftliche Fragen«)<br />

verhindert werden. [4] Aber auch sie war der<br />

Ansicht, daß <strong>die</strong> Rolle der Gewerkschaften von<br />

den (revolutionären) Arbeiter- und Soldaten- und<br />

Betriebsräten übernommen werden würde. [5] Dennoch:<br />

<strong>die</strong> Gewerkschaftsfrage blieb in der jungen<br />

KPD ungeklärt.<br />

In der »Phase der Linksradikalen Aktionseinheit«<br />

(Bock) [6] , also etwa bis Mitte 1919, arbeiteten alle revolutionären<br />

Richtungen (Syndikalisten, KPD und<br />

Teile der USPD) – mal mehr, mal weniger spannungsfrei<br />

– zusammen. Doppel<strong>mit</strong>gliedschaften<br />

in einer <strong>die</strong>ser Parteien und der FVdG waren nicht<br />

ungewöhnlich. In ihrer ersten programmatischen<br />

Erklärung hatte <strong>die</strong> FVdG übrigens empfohlen, »allerorten<br />

<strong>mit</strong> den am weitesten linksstehenden Gruppen<br />

der Arbeiterbewegung: den Unabhängigen, dem Spartakusbund,<br />

in wirtschaftlichen und politischen Fragen<br />

gemeinsam zu handeln«. [7]<br />

Historisches - Geschichte<br />

Die 3. Reichskonferenz der AAUD<br />

12. - 14. Juni 1920 in Leipzig<br />

Rudolf Rocker, der aus dem englischen Exil nach<br />

Kriegsende zur Freien Vereinigung gestoßen war,<br />

hatte zwar schon im Februar 1919 gegen bestimmte<br />

Anschauungen in der marxistischen Arbeiterbewegung<br />

polemisiert (Rolle der Gewerkschaften,<br />

zwangsläufiger Übergang vom Kapitalismus zum<br />

Sozialismus, Zentralismus, sozialistischer Übergangsstaat,<br />

um einige zentrale Punkte zu nennen),<br />

aber das traf zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt eher <strong>die</strong> Mehrheits-Sozialdemokratie<br />

und den reformistischen<br />

Flügel der USPD. [8]<br />

III.<br />

Im Sommer 1919 verschärfte sich dann <strong>die</strong> Polemik<br />

zwischen Syndikalisten und der KP-Führung,<br />

besonders, da <strong>die</strong> Zentrale der KPD(S) (unterstützt<br />

und angetrieben durch <strong>die</strong> russischen Bolschewiki)<br />

<strong>die</strong> anti-parlamentarische und anti-gewerkschaftliche<br />

Linie des Gründungsparteitages revi<strong>die</strong>ren<br />

wollte. Mitte Juni 1919 erschien ein Aufruf »An <strong>die</strong><br />

Syndikalisten in der KPD!« [9] , der de facto – bei Strafe<br />

des Ausschlusses – eine bedingungslose Unterordnung<br />

unter <strong>die</strong> Parteilinie der Zentrale verlangte<br />

(Politische Partei als wichtigster Faktor im Klassenkampf,<br />

strikte Zentralisierung, keine unabhängigen<br />

Teilaktionen). Anfang Juli veröffentlichte der<br />

Syndikalist ein KPD-internes Dokument, das konstatierte,<br />

»daß niemand Kommunist und Syndikalist<br />

zugleich sein kann. (…) Daher weg <strong>mit</strong> dem kräftezersplitternden<br />

Syndikalismus«. [10] Man schlug erstmal<br />

den Sack, aber man meinte den Esel: <strong>die</strong> ‚hauseigenen‘<br />

Linksradikalen.<br />

Der Machtkampf innerhalb der KPD, der parallel<br />

<strong>mit</strong> dem Kampf gegen ‚den Syndikalismus‘<br />

geführt wurde, endete <strong>mit</strong> dem von der Zentrale<br />

um Paul LeVi manipulierten 2. Parteitag (20. – 24.<br />

Oktober 1919), auf dem <strong>die</strong> antiparlamentarischantigewerkschaftliche<br />

Mehrheit der Partei<strong>mit</strong>glieder<br />

aus der Partei gedrängt wurde. [11] Darunter befanden<br />

sich <strong>die</strong> Mitgliederstärksten Bezirke Nord<br />

(<strong>mit</strong> Zentrum Hamburg), Nordwest (<strong>mit</strong> Zentrum<br />

Bremen), Niedersachsen, Groß-Berlin und Dresden.<br />

[12] Die Opposition organisierte sich zunächst<br />

über Bremen in der Informationsstelle der Gesamtopposition<br />

der KPD(S), um den Kampf um <strong>die</strong> Partei<br />

aufzunehmen. Sie hielt weiter am Aufbau einer eigenständigen<br />

revolutionären Gewerkschaftsbewegung<br />

außerhalb der reformistisch-sozialdemokratischen<br />

Gewerkschaftsbewegung fest und betrieb<br />

<strong>die</strong> reichsweite Gründung einer unionistischen<br />

Organisation. [13]<br />

IV.<br />

Auf der 1. Reichskonferenz der AAUD vom 14. – 16.<br />

Februar 1920 [14] in Hannover war Karl Roche [15] der<br />

Gegenspieler von Karl Becker, der <strong>die</strong> Richtlinien<br />

der Bremer Informationsstelle der Gesamtopposition in<br />

der KPD(S) vertrat. Becker lehnte <strong>die</strong> Einheitsorganisation,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Partei überflüssig machen würde,<br />

ab. Die von den Hamburger Unionisten vorgelegten<br />

Richtlinien [16] bezeichnete Becker als »syndikalistisch«<br />

– wo<strong>mit</strong> er nicht nur in Anbetracht der Vergangenheit<br />

Roches nicht ganz Unrecht hatte – und<br />

lehnte den dort propagierten Föderalismus ab. Die<br />

Unionen sollten als wirtschaftliche Hilfsorganisationen<br />

der KPD(S) agieren, um »alle Betriebe der


arrikade sieben - April 2012<br />

wichtigsten Industrie- und Verkehrszweige durch ein<br />

fest gefügtes Vertrauensmännersystem zu erfassen.« [17]<br />

Die auf <strong>die</strong>ser ersten Konferenz naturgemäß noch<br />

etwas verworrene Diskussion wurde am 16 Februar<br />

von der Polizei beendet, <strong>die</strong> <strong>die</strong> 150 Teilnehmer<br />

verhaftete. Vorher wurden <strong>die</strong> Hamburger Richtlinien<br />

allerdings als Basis für eine Überarbeitung akzeptiert,<br />

<strong>die</strong> in einer reichsweiten Diskussion überarbeitet<br />

werden sollten [18] . Die Redaktion des neuen<br />

Entwurfs übernahm Hamburg [19] . Da <strong>die</strong> Bremer<br />

KPD-Opposition um Becker und Paul FrÖlich<br />

sich nicht an der Gründung der KAPD im April<br />

1920 beteiligte [20] und zur KPD-Zentrale zurückkehrte,<br />

verlagerte sich der Vorort der Unionisten<br />

nach Hamburg.<br />

Auf der 2. Reichskonferenz der AAUD am 9. bis<br />

10. Mai 1920 in Berlin wurde der von den Hamburgern<br />

aus der vorhergehenden Diskussion kondensierten<br />

Entwurf eines Organisationsstatuts angenommen.<br />

Die Schlapphüte der Berliner Sicherheitspolizei<br />

(Sipo) berichteten darüber:<br />

Ȇber den Verlauf des zweiten Kongresses der Allgemeinen<br />

Arbeiter-Union in Berlin ist folgendes zu berichten:<br />

Der Kongress war von 32 Bezirks- bzw. örtlichen Organisationen<br />

beschickt, auch <strong>die</strong> ‚Freie Bergarbeiter-Union’<br />

war vertreten. Das Präsidium des Kongresses hatten<br />

<strong>die</strong> Genossen Klein – Berlin, RoCHe – Hamburg und<br />

UlriCH – Bremen.<br />

(...) aber eine sehr verschiedene Anschauung offenbarte<br />

sich bei der Debatte über Partei und B.O. Die Hamburger<br />

Vertreter, <strong>die</strong> übrigens auch auf dem Kongress eine<br />

führende Rolle spielten, vertreten den reinen Unionsgedanken<br />

und betrachten <strong>die</strong> Parteigebilde als absterbende<br />

vorrevolutionäre Organisation. Die Zusammenfassung<br />

und Organisation des revolutionären Proletariats habe<br />

im Betriebe zu geschehen und auch vom Betriebe aus sei<br />

– nach Ansicht des Hamburger Unionsführers RoCHe –<br />

der revolutionäre Kampf zu führen.<br />

(...) Der Genosse Kallert, Vertreter der Freien Bergarbeiter-Union<br />

gab bekannt, dass seine Organisation<br />

45.000 Mitglieder und 5 Angestellte habe. Sie baue sich<br />

auf „Schachtorganisationen“ auf (Industriegruppenorganisation).<br />

Er erklärte, dass sich <strong>die</strong> Freie Bergarbeiter-<br />

Union als Industriegruppenorganisation der A.A.U.<br />

anzuschließen beabsichtige.«<br />

Die Konferenz endete <strong>mit</strong> einem Sieg der Hamburger,<br />

Hamburg wurde zum Sitz der Reichswirtschaftsrates<br />

der AAU bestimmt.« [21] V.<br />

Das hier dokumentierte Protokoll der 3. Reichskonferenz<br />

(RK) der AAU zeigt den Wendepunkt<br />

in der der Union an: den Sieg der KAPD-Fraktion<br />

über <strong>die</strong> Vertreter des Gedankens der Einheitsorganisation.<br />

Die im April 1920 gegründeten KAPD [22]<br />

setzte mehrheitlich auf <strong>die</strong> Mitgliedschaft in der<br />

Kommunistischen Internationale, und <strong>die</strong> Berliner<br />

Führungsgruppe um Karl SchrÖder, Arthur<br />

Goldstein und Bernhard ReichenBach vertrat<br />

sowohl für <strong>die</strong> Partei wie <strong>die</strong> Union ein zentralistisches<br />

Organisationsmodell und war Gegner der<br />

Einheitsorganisation. Der endgültige Bruch fand<br />

allerdings erst nach der 4. Reichskonferenz im<br />

Juni 1921 statt [23] , als der föderalistische Flügel um<br />

Otto Rühle, FranZ PfemPfert und Karl Roche <strong>die</strong><br />

AAU-Einheitsorganisation gründete. [24]<br />

• Jonnie SCHliCHtinG<br />

Protokoll der Tagung der [3.]<br />

Reichskonferenz der Allgem[einen]<br />

Arb[eiter]-U[nion] [in Leipzig]<br />

(12. – 14. Dez[ember] 1920) [25]<br />

Tagesordnung [26]<br />

0. Wahl des Bureaus und der Mandatsprüfungskommission.<br />

1. Die allgemeine politische Lage (Referat Z. Berlin<br />

[Karl Zech, Pseudonym von Karl SchrÖder])<br />

2. Programm und Stellung zur Partei<br />

3. Stellung zur 3. Internationale (Referat S. Berlin<br />

[AleXander SchWaB])<br />

4. Gesetzliche oder revol[utionäre] Räte (Referat R.<br />

Berlin [Bernhard ReichenBach])<br />

5. Internationale Verbindungen<br />

6. Abstimmung über das Programm<br />

7. Presse<br />

8. Organisatorisches<br />

Die am 12. Dezember in Leipzig tagende dritte<br />

Reichskonferenz der Allgemeinen Arbeiter-Union<br />

Deutschlands wird <strong>mit</strong> einem kurzen Vorwort des<br />

Vorsitzenden eröffnet.<br />

Nach Wahl eines Bureaus wird eine Mandatsprüfungs-Kommission<br />

gebildet. Diese setzt sich aus je<br />

einem Genossen der Bezirke Groß-Berlin, Mittel-<br />

Deutschland 2, Niederlausitz, Sachsen und Mansfeld<br />

zusammen.<br />

Nach dem Bericht der Kommission sind folgende<br />

Wirtschaftsbezirke anwesend:<br />

Westsachsen 5 Delegierte, Ostsachsen 3, Berlin 7,<br />

Mitteldeutschland 2: 6, Niederlausitz 3, Pommern<br />

2, Brandenburg 1, Westdeutschland 7, Ostpreußen<br />

1, Württemberg 1, Thüringen 2, Hamburg 3, Mansfeld<br />

1, Hannover 1, Hessen 1, Oldenburg 1, Chemnitz<br />

1, Magdeburg 1, Quedlinburg 1, Schöningen 1,<br />

Braunschweig 1.<br />

Beanstandet wurde das Mandat des Genossen<br />

MÖhrling-Braunschweig. Die Versammlung beschloß,<br />

das Mandat anzuerkennen, lediglich um<br />

<strong>die</strong> Richtung Braunschweig vertreten zu wissen.<br />

Die Tagesordnung wird in der vorgeschlagenen<br />

Form (siehe KAMPFRUF Nr. 31, Beilage 2) [27] angenommen.<br />

Hamburg bezweifelt <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

des Punkt 1 der Tagesordnung und legt Verwahrung<br />

ein gegen angeblich zu häufige Reichskonferenzen.<br />

Ein Antrag von Hamburg und Württemberg, <strong>die</strong><br />

Referate nur von Genossen halten zu lassen, <strong>die</strong><br />

Mitglieder der AAU. sind und ein Mandat haben,<br />

Gästen in der Diskussion nur von Fall zu Fall das<br />

Wort zu erteilen, wird angenommen.<br />

Das Referat über <strong>die</strong> allgemeine Lage hält Z.<br />

(Berlin) [Karl Zech, ein Pseudonym von Karl<br />

SchrÖder]. (Siehe KAMPFRUF Nummer 34.) Die<br />

Vertreterin Magdeburgs fordert Stellungnahme zur<br />

Erwerbslosenfrage, da KAPD.- und Unions<strong>mit</strong>glieder<br />

sich in einzelnen Orten über <strong>die</strong> Lösung <strong>die</strong>ses<br />

Problems nicht klar sind und durchaus ungangbare<br />

Wege vorschlagen, indem sie sich gegen arbeitende<br />

Frauen, Ausländer usw. wenden.<br />

Genosse Henning, Eisenach, schließt sich den<br />

Ausführungen Z.‘s an, vermißt jedoch <strong>die</strong> Konse-<br />

35


36 Harpune & Torpedo •<br />

Präsenzliste:<br />

Vertretene Wirtschaftsbezirke,<br />

Ortsgruppen und Delegierte:<br />

Groß-Berlin: (7) AR T H U R GO L D-<br />

S T E I N; WA L T H E R KÄ M P F (?); BE R N-<br />

H A R D RE I C H E N B A C H; DR. KA R L<br />

SC H R Ö D E R (alias Karl Zech); Dr.<br />

AL E X A N D E R SC H W A B; W.<br />

Brandenburg: (1)<br />

Braunschweig: (1) MÖ H R L I N G<br />

Chemnitz: (1)<br />

Hamburg: (3) DO V I D A T; JA K O B I;<br />

KA R L RO C H E<br />

Hannover: (1)<br />

Hessen: (1) SA N S (Frankfurt/M)<br />

Magdeburg: (1) [Genossin]<br />

Mansfeld: (1)<br />

Mitteldeutschland 2: (6) AR N D T;<br />

KR O H N<br />

Niederlausitz: (3) Mond<br />

Oldenburg: (1)<br />

Ostsachsen: (3) Adrian; Seifert;<br />

Menzel<br />

Ostpreußen: (1)<br />

Pommern: (2)<br />

Quedlinburg: (1)<br />

Schöningen: (1)<br />

Thüringen: (2) HE N N I N G (Eisenach)<br />

Westdeutschland: (7) Behrendt;<br />

KA R L BR E N N E R; JA G E R;<br />

KL Ö E R [?]; RÖ G E R; SC H U L Z;<br />

WE B I G<br />

Westsachsen: (5)<br />

Württemberg: (1) MA U C H<br />

Gäste: HE D R I C H<br />

(Niederlausitz?); TH Y S S E N<br />

quenz, <strong>die</strong> sich aus dem gezeichneten Bild ergibt.<br />

Seiner Ansicht nach liegt im Orient und China der<br />

Brennpunkt der Weltrevolution.<br />

Genosse Sans, Frankfurt a. M., fordert von der<br />

Union erhöhte Aufmerksamkeit bei kommenden<br />

Eisenbahnerstreiks.<br />

Roche, Hamburg, weist darauf hin, daß sich <strong>die</strong><br />

Revolution im Orient und Ostasien in anderen Bahnen<br />

und <strong>mit</strong> anderen Tendenzen fortentwickelt als<br />

in Europa. (nationalreligiöser Einschlag.) Er wendet<br />

sich gegen <strong>die</strong> politische Auffassung, <strong>die</strong> vom<br />

Braunschweiger Organ vertreten wird und betont,<br />

daß <strong>die</strong> Union weder eine I.W.W. [28] noch eine<br />

W.I.I.U. [29] werden darf. Spricht dann von den neuen<br />

Methoden der Unternehmer, <strong>die</strong> Arbeiter am<br />

Aktienkapital zu interessieren und weist <strong>die</strong> weitere<br />

Konzentration des Kapitalismus nach. Er warnt<br />

davor, <strong>die</strong> Arbeiterschaft zu zersplittern dadurch,<br />

daß man Arbeitslose und Arbeitende gegeneinander<br />

ins Feld führt.<br />

Arndt, Mitteldeutschland 2, schildert <strong>die</strong> neue<br />

Front der Konterrevolution gegen Sowjet-Rußland,<br />

<strong>die</strong> im Entstehen begriffen ist, zeichnet in großen<br />

Zügen <strong>die</strong> ökonomischen Ursachen und Folgen des<br />

Krieges und betont, daß <strong>die</strong> Bourgeoisie nur noch<br />

existenzfähig sein kann, wenn zehn bis fünfzehn<br />

Millionen Proletarier zugrunde gehen. Aus <strong>die</strong>sem<br />

Grunde heraus erklärt sich auch <strong>die</strong> Bestrebung,<br />

<strong>die</strong> Erwerbslosenunterstützung abzuschaffen. Er<br />

wendet sich gegen einen dezentralistischen Aufbau<br />

der Union und betont, daß der Staat <strong>mit</strong> Orgesch [30] ,<br />

Betriebspolizei, neuen Schlichtungsverordnungen,<br />

durchaus zentralistisch gegen streikende Proletarier<br />

vorgeht. Als Beispiel sieht er den letzten Elektrizitätsarbeiterstreik<br />

an. Er kritisiert aufs schärfste den<br />

Einigungsparteitag der KPD. [31] , <strong>die</strong> oberflächliche<br />

Behandlung des Erwerbslosenproblems auf <strong>die</strong>sem<br />

und stellt fest, daß <strong>die</strong> Parole »Kontrolle der Produktion«<br />

darauf hinauslaufen muß, <strong>die</strong> alten mehrheitssozialistischen<br />

Parolen den Arbeitern in neuer<br />

Aufmachung zu servieren, <strong>die</strong> Arbeiterschaft für<br />

eine erhöhte Produktion zu interessieren. Kommt<br />

zum Schluß und fordert zentralistischen Aufbau<br />

der Union, der allein nur für einen einheitliche Leitung<br />

und Durchführung kommender notwendiger<br />

Aktionen in Frage kommen kann.<br />

Folgende Resolution zur Erwerbslosenfrage wurde<br />

von der Konferenz einstimmig angenommen:<br />

Die AAU. ist der grundsätzlichen Auffassung, daß<br />

das Arbeitslosenproblem innerhalb des kapitalistischen<br />

Wirtschaft nicht gelöst werden kann. Die Reichskonferenz<br />

der AAU. hält es für <strong>die</strong> Pflicht einer revolutionären<br />

Organisation, den Arbeitslosen <strong>die</strong>sen Sachverhalt<br />

klar zum Bewußtsein zu bringen. Insbesondere protestiert<br />

<strong>die</strong> AAU. gegen jede opportunistische Politik in<br />

der Behandlung der Arbeitslosenfrage. Sie lehnt es ab, in<br />

den Reihen der Arbeitslosen <strong>die</strong> Illusion zu wecken bzw.<br />

zu stärken, daß ihnen durch sogenannte konkrete Forderungen<br />

geholfen werden könnte. Die AAU. ist der Auffassung,<br />

daß den Arbeitslosen nur durch ihre eigene<br />

Kraft in Verbindung <strong>mit</strong> den arbeitenden Genossen<br />

geholfen werden kann. Die einzige Hilfe besteht in der<br />

Errichtung der proletarischen Diktatur.<br />

Im zweiten Punkt der Tagesordnung: Programm<br />

und Stellung zur Partei beschäftigt sich W., Berlin<br />

<strong>mit</strong> den Gegensätzen zwischen der Prinzipienerklärung<br />

Braunschweigs, den Berliner Leitsätzen<br />

und den Essener Leitsätzen. Er hält das Berliner<br />

Programm für das richtige.<br />

Historisches - Geschichte<br />

Genosse Brenner – Westdeutschland geht aus<br />

von dem wirtschaftlichen Zerfall, bei Fortbestehen<br />

der kapitalistischen Wirtschaftsweise kann <strong>die</strong> Lage<br />

des Gesamtproletariats nicht geändert werden. Das<br />

Proletariat ist zersplittert. Politische sind niemals<br />

in der Lage, eine einheitliche Front des Proletariats<br />

herzustellen. Sie haben in entscheidenden Situationen<br />

stets versagt. Allerdings ist der Besitz der politischen<br />

Macht <strong>die</strong> Voraussetzung für <strong>die</strong> Gestaltung<br />

der kommunistischen Wirtschaft. Die Vorbedingung<br />

für den Sieg des Proletariats ist, den Kampf<br />

des Proletariats zu einem bewußten zu gestalten.<br />

Wir werden aber Niederlagen zu verzeichnen haben,<br />

wenn wir nicht aus dem Vergangenen lernen.<br />

Daher muß auch im Programm klar und scharf gesagt<br />

werden, was <strong>die</strong> Union will. Der Begriff »Diktatur<br />

des Proletariats« genügt nicht. Wir müssen<br />

schärfer formulieren, was wir unter »Diktatur des<br />

Proletariats« verstanden haben wollen. Das wird<br />

klar in den von Westdeutschland vorgeschlagenen<br />

Richtlinien gesagt. Wir dürfen nicht einer einzelnen<br />

Partei besondere Konzessionen machen, denn dann<br />

könnten <strong>die</strong> anderen Parteien dasselbe verlangen.<br />

Genosse Roche, Hamburg, stellt fest, daß Hamburg<br />

<strong>mit</strong> allen anderen konform geht in der Verurteilung<br />

der Braunschweiger Prinzipienerklärung.<br />

Hamburg ist sich <strong>mit</strong> Berlin prinzipiell einig darin,<br />

für Sowjet-Rußland nicht nur durch Propaganda,<br />

sondern auch durch <strong>die</strong> Tat einzutreten. Dannen-<br />

Berg (Braunschweig) gehört der W.I.I.U., Amerika,<br />

an. Derselben Organisation, <strong>die</strong> während des Krieges<br />

dem Sozialchauvinismus huldigte.<br />

Das Vorgehen in Braunschweig ist nichts anderes<br />

als Bildung rechtssozialistischer Zellen in der Union.<br />

Er schildert in kurzen Umrissen <strong>die</strong> Existenz<br />

der Parteien als Kapitalinteressenten-Gruppen.<br />

Proletarier aber haben keinen Besitz, daher keine<br />

besonderen Interessen und daher auch keine Interessengruppen<br />

notwendig. Das Wesen einer Partei<br />

bedingt es, daß sie innerhalb der Klasse zur Diktatur<br />

streben muß. Diktatur und Partei sind eng <strong>mit</strong>einander<br />

verbunden. Führer müssen überwunden<br />

werden. Wie können und sollen sie überwunden<br />

werden? Nur dadurch, daß <strong>die</strong> B.O. [32] lediglich<br />

Lohnarbeiter aufnimmt, wie es <strong>die</strong> IWW. bereits<br />

tut. Partei<strong>mit</strong>glieder sind meist Intellektuelle. Zentralismus,<br />

ganz gleich in welcher Form, ist stets <strong>mit</strong><br />

Führerpolitik identisch, während im Föderalismus<br />

der Wille der Masse zum Ausdruck kommt. Die<br />

Syndikalisten lehnen den politischen Kampf nicht<br />

ab.<br />

Gen[osse] RÖger, Westdeutschland, nimmt Stellung<br />

gegen <strong>die</strong> Partei, da <strong>die</strong> BO. eine einheitliche<br />

Organisation darstellt. Wenn <strong>die</strong> KAP. groß ist, da<br />

wird sie ebenso wie andere Parteien werden. Daß<br />

sie <strong>die</strong>sen Weg schon geht, beweisen Köthen und<br />

Velbert [33] . Sie zeigen, daß auch in der KAPD. von<br />

»oben« herunter bestimmt wird. Die Braunschweiger<br />

Prinzipienerklärung ist indiskutabel. Die Berliner<br />

Leitsätze sind abzulehnen, da sie in der Frage<br />

Partei, Syndikalismus und auch Diktatur des Proletariats<br />

nicht klar und scharf genug sind. Er empfiehlt<br />

<strong>die</strong> Annahme der Essener Leitsätze.<br />

Genosse G., Berlin [Arthur Goldstein]. Auf<br />

Grund der Struktur der kapitalistischen Weltwirtschaft<br />

ist eine Trennung ökonomischer und politischer<br />

Faktoren unmöglich. Die Partei nach Art der<br />

KAPD. ist noch eine Notwendigkeit. Sie kann nicht<br />

<strong>mit</strong> den anderen politischen Organisationen bis


arrikade sieben - April 2012<br />

zum Spartakusbund zusammengeworfen werden.<br />

Er skizziert <strong>die</strong> Arbeit der KAP., besonders während<br />

des Kapp-Putsches und weist zurück, daß <strong>die</strong><br />

Vorgänge in Köthen und Velbert auf das Schuldkonto<br />

des Hauptausschusses zu setzen sind.<br />

Genosse ThYssen als Gast schildert auf Grund<br />

praktischer Erfahrungen das Verhältnis von Partei<br />

und Union und zeigt an Beispielen, daß da, wo<br />

im Reiche keine KAP. zur Verteidigung der Union<br />

stand, <strong>die</strong> Union zusehends versumpfte. Das Diskutieren<br />

über Zentralismus und Föderalismus ist<br />

öde Wortklauberei. Er empfiehlt den Delegierten,<br />

durch <strong>die</strong> Tat Überbleibsel falscher zentralistischer<br />

Gestaltung, insbesondere Personenkult, auszumerzen.<br />

Seifert, Ostsachsen, erläutert <strong>die</strong> Verhältnisse<br />

seines Bezirks. Er verwahrt sich gegen <strong>die</strong> Festsetzung<br />

eines einheitlichen Programms, da in jedem<br />

Wirtschaftsbezirk <strong>die</strong> Verhältnisse anders sind. In<br />

Ostsachsen ist das Proletariat am weitesten vorgeschritten.<br />

Das ist zu ersehen an seiner Negation der<br />

politischen Parteien überhaupt und auch daran,<br />

daß <strong>die</strong> Genossen in Ostsachsen Volksversammlungen<br />

als bürgerliche Propaganda<strong>mit</strong>tel überwunden<br />

haben.<br />

MÖhrling, Braunschweig, verwahrt sich dagegen,<br />

daß DannenBerg <strong>mit</strong> Braunschweig identifiziert<br />

wird. Die Braunschweiger Genossen legen<br />

auf <strong>die</strong> Annahme der Prinzipienerklärung keinen<br />

großen Wert. Sie werden sich den Beschlüssen der<br />

Konferenz unterwerfen, aber nicht abgehen von<br />

dem Aufbau nach Industrien.<br />

Arndt, Mitteldeutschland 2, spricht über <strong>die</strong><br />

Frage »Bezirks- oder Industrie-Unionismus« und<br />

empfiehlt, bei der bezirksweisen Zusammenfassung<br />

zu bleiben, da sie <strong>die</strong> einzig richtige und notwendige<br />

sei zur Schulung und Organisierung des<br />

Kampfes. Die Zellenbildung, wie sie <strong>die</strong> Genossen<br />

aus Ostsachsen propagieren, bedeutet Sprengung<br />

der Union. Jede Zelle stellt eine besondere Interessengemeinschaft<br />

dar, <strong>die</strong> auf einen engen Kreis<br />

beschränkt bleibt. Diese Interessengemeinschaft<br />

wird andere Gemeinschaften nach sich ziehen, so<br />

daß auf <strong>die</strong>sem Wege ein Spaltpilz hineingetragen<br />

ist. Die Konsequenz des Vorgehens der Genossen<br />

in Ostsachsen, <strong>die</strong> heute schon zur Ablehnung der<br />

Volksversammlungen gelangt sind, wird <strong>die</strong> sein,<br />

daß <strong>die</strong>se Genossen in nächster Zeit jegliche Organisation<br />

überhaupt ablehnen. KAP. und Union<br />

müssen in enger Kampfgemeinschaft zueinander<br />

stehen.<br />

Die Einheitsorganisation, wie sie von einem großen<br />

Teil der Genossen [in Ostsachsen] propagiert<br />

wird, wird und kann nur im Stadium der Diktatur<br />

des Proletariats zur Tatsache werden. Wir wollen<br />

keine Herrschaft der Partei über uns, wir gehen <strong>mit</strong><br />

der KAP. konform, soweit sie revolutionär bleibt.<br />

Entfernt sie sich vom konsequenten Kommunismus,<br />

dann entfernen auch wir uns von ihr und<br />

werden sie bekämpfen. Die BO. befolgte bisher<br />

<strong>die</strong> Parolen der KAPD., weil <strong>die</strong> KAP. <strong>die</strong> einzige<br />

revol[utionäre] Partei ist. Sie wird dasselbe auch in<br />

Zukunft tun, wenn <strong>die</strong> KAP. auf demselben Boden<br />

weiterschreitet.<br />

Adrian, Ostsachsen, lehnt Parteien überhaupt<br />

ab, da Parteien in der Vergangenheit stets versagt<br />

haben und auch in der Zukunft versagen müssen.<br />

Parteien sind überflüssig, auch <strong>die</strong> KAP., da es ja<br />

Aufgabe der Union ist, das Proletariat als Klasse zusammen<br />

zu fassen. Auch er kommt zur Ablehnung<br />

eines einheitlichen Programms, da jeder Bezirk auf<br />

Grund ökonomischer und sonstiger Besonderheiten<br />

besondere Interessen, besondere Entwicklungsgrade<br />

im Proletariat u[nd] a[nderes] m[ehr] aufzuweisen<br />

hat. Die KAP. als Mutter der AAU. ist eine<br />

alte Person und muß sterben.<br />

Mond, Niederlausitz, wendet sich gegen Ostsachsen<br />

und erklärt, daß man auch in der Niederlausitz<br />

versucht, von Ostsachsen [aus] einzudringen,<br />

jedoch ohne Erfolg.<br />

Genosse Hedrich als Gast tritt Mond entgegen<br />

und glaubt feststellen zu können, daß auch <strong>die</strong> Proletarier<br />

in der Niederlausitz in der großen Mehrzahl<br />

gegen politische Parteien sind. Wenn man <strong>die</strong><br />

Massen in den Betrieben fragt, antworten sie, geht<br />

los <strong>mit</strong> allen politischen Parteien.<br />

K. Berlin [Walther KÄmPf?], schält noch einmal<br />

<strong>die</strong> Gegensätze der Auffassungen heraus, stellt fest,<br />

daß Westdeutschland und Ostsachsen nicht einig<br />

gehen, spricht für Anerkennung der Partei und<br />

empfiehlt <strong>die</strong> Annahme der Berliner Leitsätze.<br />

Im gleichen Sinne äußert sich Gen[osse] Sans,<br />

Frankfurt a[m] M[ain].<br />

DoVidat, Hamburg, erklärt, daß <strong>die</strong> Hamburger<br />

nicht gegen <strong>die</strong> Partei sind, sondern sich nur gegen<br />

<strong>die</strong> Parteien wenden, wo sie sich den proletarischen<br />

Klassenkämpfen entgegenstellen. Er wünscht im<br />

Namen seiner Genossen eine Änderung des Programms<br />

in der Frage der Stellung zu den Syndikalisten<br />

und zur Partei. In Hamburg geht der Aufbau<br />

der Union nach Industriegruppen vor sich.<br />

Gen[osse] MenZel, Ostsachsen, glaubt den Grund<br />

der Meinungsverschiedenheiten in der Fragestellung<br />

»Zentralismus oder Föderalismus« gefunden<br />

zu haben. Berlin vertritt den straffen Zentralismus,<br />

Ostsachsen, Hamburg und Westdeutschland den<br />

Föderalismus.<br />

JakoBi, Hamburg, plä<strong>die</strong>rt gegen <strong>die</strong> Partei, da<br />

<strong>die</strong> KAP. nicht <strong>die</strong> Partei ist, <strong>die</strong> den Rätegedanken<br />

propagieren kann, allein schon auf Grund ihres<br />

Programms. Wenn wir uns unter <strong>die</strong> Fittiche einer<br />

Partei stellen sollten, müssen wir uns jener Partei<br />

unterstellen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Mehrheit am Orte hat.<br />

Ein Antrag auf Schluß der Debatte wurde angenommen<br />

und ebenfalls ein Antrag auf Wahl einer<br />

Programm-Kommission. Sie setzt sich aus je drei<br />

Genossen der zwei verschiedenen Auffassungen<br />

zusammen.<br />

Der dritte Punkt der Tagesordnung, Stellung<br />

zur 3. Internationale, wurde auf einstimmigen Beschluß<br />

hinausgeschoben, bis einheitliche Leitsätze<br />

von der R.K. [34] angenommen wären.<br />

Zum Punkt 4 »Gesetzliche oder revol[utionäre]<br />

Räte« hielt R. Berlin [Bernhard ReichenBach]<br />

das Referat. Er kam zur strikten Ablehnung der<br />

ges[etzlichen] Räte und empfahl <strong>die</strong> Fortbildung<br />

revolut[ionärer] Aktionsausschüsse oder<br />

pol[itischer] Arbeiterräte.<br />

In der Ablehnung der ges[etzlichen] Räte ist sich<br />

<strong>die</strong> Konferenz bis auf <strong>die</strong> Vertreter Westsachsens<br />

einig.<br />

5. Punkt der Tagesordnung „Internationale Verbindungen“.<br />

Roche-Hamburg teilt <strong>mit</strong>, daß <strong>die</strong> Hamburger<br />

37<br />

[1] BO C K 1969, S. 80ff.<br />

[2] AI G T E 1930, S. 162<br />

[3] BO C K 1969, S. 125<br />

[4] Wenigstens ein<br />

Vertreter der FVdG,<br />

ER N S T RI E G E R (Berlin-<br />

Hohenschönhausen),<br />

war auf dem<br />

Gründungsparteitag<br />

anwesend und vertrat<br />

deren Positionen (s. WE B E R<br />

1993, S. 122f., S. 150f.,<br />

S. 159 [Antrag RI E G E R<br />

zur Tarifvertragspolitik]),<br />

S. 338f. [Biograhische<br />

Hinweise]<br />

[5] WE B E R 1993, S. 162 ff.<br />

[6] BO C K 1969, S. 87ff.<br />

[7] Was wollen <strong>die</strong><br />

Syndikalisten? Der<br />

Syndikalismus lebt!; in:<br />

Der Syndikalist, Jg. 1,<br />

Nr. 1, 14. 12. 1918, S. 1;<br />

der Text ist in BO C K 1969,<br />

S. 351 – 353, abgedruckt,<br />

das Zitat S. 352 – warum<br />

BO C K (1969, S. 104)<br />

daraus eine Empfehlung<br />

zum Parteibeitritt liest,<br />

ist nicht ersichtlich. Daß<br />

es de facto so von vielen<br />

interpretiert wurde, steht<br />

auf einem anderen Blatt.<br />

[8] RO C K E R 1919<br />

[9] nachgedruckt in BO C K<br />

1969, S. 359 f.<br />

[10] Die kommunistische<br />

Partei und der<br />

Syndikalismus; in: Der<br />

Syndikalist (Berlin), Jg.<br />

I, Nr. 30, 5. 7. 1919; s.a.<br />

BR A N D T 1919<br />

[11] S. KPD 2. PA R T E I T A G<br />

1919; s. a. BO C K 1969, S.<br />

139 ff.; BO C K 1977<br />

[12]S. KPD 3. PA R T E I T A G<br />

1920<br />

[13] Auf ihrem Höhepunkt<br />

hatte <strong>die</strong> AAUD 1920/21<br />

keine 200.000 Mitglieder(s.<br />

BO C K 1969, S. 195 f.),<br />

übte aber, ähnlich wie <strong>die</strong><br />

Syndikalisten, in ihren<br />

Hochburgen zeitweilig<br />

einen bestimmenden<br />

Einfl uß aus.<br />

[14] BÖ T C H E R (1922,<br />

S. 71) nennt irrtümlich<br />

den April 1920 als<br />

Gründungsdatum.<br />

[15] RO C H E, langjähriger<br />

Aktivist und Funktionär in<br />

der sozialdemokratisch<br />

beeinfl ußten<br />

Gewerkschaftsbewegung<br />

im Kaiserreich (zuletzt<br />

in Hamburg), war 1909<br />

zur Freien Vereinigung<br />

übergetreten und schon<br />

vor dem Ausbruch des<br />

1. Weltkriegs einer ihrer<br />

rührigsten Aktivisten. Er<br />

verfaßte unter anderem<br />

das erste Programm der<br />

FVdG nach dem Krieg<br />

(erstmals nachgedruckt in<br />

RO C H E 2009).


38<br />

Noch vor Gründung der<br />

FAUD im Dezember<br />

1919 ging er <strong>mit</strong> der<br />

Mehrheit der Hamburger<br />

Syndikalistischen<br />

Föderation zur Arbeiter-<br />

Union, und war an<br />

hervorragender Stelle<br />

an der Gründung der<br />

AAUD beteiligt, wo er<br />

einer der führenden<br />

Leute des Gedankens<br />

der Einheitsorganisation<br />

war; außerdem agitierte<br />

er für <strong>die</strong> oppositionelle<br />

Hamburger KPD, später<br />

KAPD. Nach der Spaltung<br />

der AAUD im Oktober<br />

1921 wurde er einer der<br />

führenden Köpfe der<br />

AAUE. Mitte 1924 kehrte<br />

RO C H E zur FAUD zurück<br />

(ausführlich dazu AR C H I V<br />

KA R L RO C H E 2009).<br />

[16] Richtlinien für <strong>die</strong><br />

Arbeiter-Union; in: KAZ<br />

(HH), Jg. II, Nr. 23, 28. 1.<br />

1920, S. 4<br />

[17] BO C K 1969, S. 190<br />

[18] BO C K 1969, S. 190<br />

[19] Richtlinien für <strong>die</strong><br />

Allgemeine Arbeiter-Union;<br />

in: KAZ (HH), Jg. II, Nr.<br />

51, 29. 3. 1920, S. 3<br />

[20] Der<br />

Gründungsparteitag der<br />

KAPD tagte am 4. und<br />

5. April 1920 in Berlin; s.<br />

BO C K 1977<br />

[21] StAB 4,65 – 604,<br />

Dokument 88 (Bericht der<br />

Sipo Berlin Nr. 257 vom<br />

15. 5. 1920)<br />

[22] s. BO C K 1969, S. 225<br />

ff.; BO C K 1977<br />

[23] wir beabsichtigen,<br />

das Protokoll der 4. RK<br />

der AAUD (Juni 1921)<br />

in einer der nächsten<br />

Ausgaben der <strong>barrikade</strong><br />

zu veröffentlichen.<br />

[24] s. BO C K 1969, S. 195<br />

ff., S. 214 ff.<br />

[25] Nach: Der<br />

Kampfruf. Organ der<br />

Allgemeinen Arbeiter-<br />

Union (Revolutionäre<br />

Betriebsorganisation), Jg.<br />

1, Nr. 35 (Berlin) [Dritte<br />

Dezemberwoche 1920],<br />

S. 2-3.<br />

Orthographie und<br />

Zeichensetzung wurden bis<br />

auf wenige Ausnahmen,<br />

<strong>die</strong> in den Anmerkungen<br />

ausgewiesen sind, nicht<br />

verändert. Sämtliche<br />

[eckigen] Klammern sind<br />

vom Bearbeiter, ebenso <strong>die</strong><br />

Anmerkungen. Der besseren<br />

Übersichtlichkeit sind <strong>die</strong><br />

Zeitschriftennamen und<br />

Tagesordnungspunkte fett, <strong>die</strong><br />

Eigennamen in KA P I T Ä L C H E N,<br />

der Text der Dokumente,<br />

Resolutionen etc. kursiv,<br />

deren Überschriften kursivfett<br />

gedruckt.<br />

in enger Verbindung <strong>mit</strong> der I.W.W. stehen. Er<br />

verlas einen Aufruf der I.W.W., der ausklang <strong>mit</strong><br />

dem Wunsch zur Unterstützung der in Amerika<br />

Inhaftierten. Sammellisten sollen benutzt werden.<br />

R[oche] hält <strong>die</strong>sen Weg nicht für zweckmäßig, da<br />

wir bei dem ungünstigen Stand der Valuta nicht<br />

imstande wären, den amerikanischen Genossen<br />

nennenswerte Unterstützung zuteil werden lassen.<br />

Eine Resolution, <strong>die</strong> volle Solidarität ausspricht,<br />

wird angenommen.<br />

Sans-Frankfurt a[m] M[ain] schildert <strong>die</strong> Verhältnisse<br />

im besetzten Gebiet, besonders in Mainz, und<br />

bittet, daß seitens des Arbeitsausschusses <strong>die</strong>sen<br />

Gebieten erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet wird.<br />

Die Abstimmung über das Programm ergibt Annahme<br />

folgender Fassung:<br />

Programm<br />

1. Die AAU. kämpft um <strong>die</strong> Zusammenfassung des<br />

Proletariats als Klasse.<br />

2. Ihr Ziel ist <strong>die</strong> klassenlose Gesellschaft, <strong>die</strong> nächste<br />

Etappe <strong>die</strong> Diktatur des Proletariats, d.h. <strong>die</strong> ausschließliche<br />

Willensbestimmung des Proletariats über alle politischen<br />

und wirtschaftlichen Einrichtungen der Gesellschaft<br />

vermöge der Räteorganisation.<br />

3. Die allmähliche Durchsetzung des Rätegedankens<br />

ist <strong>die</strong> fortschreitende Selbstbewußtseinsentwicklung der<br />

proletarischen Klasse. Die eigentlichen Diktatoren sind<br />

Beauftragte der Räte, <strong>die</strong> deren Beschlüsse auszuführen<br />

haben. Die Räte können jederzeit durch ihre Mandatgeber<br />

abberufen werden. Sogenannte »Führer« können nur<br />

als Berater in Frage kommen.<br />

4. Die AAU lehnt alle reformistischen und opportunistischen<br />

Kampfmethoden ab.<br />

5. Die AAU. wendet sich gegen jede Beteiligung am<br />

Parlamentarismus, denn sie bedeutet Sabotage des Rätegedankens.<br />

6. Ebenso verwirft <strong>die</strong> AAU. jede Beteiligung an gesetzlichen<br />

Betriebsräten als eine gefährliche Arbeitsgemeinschaft<br />

<strong>mit</strong> dem Unternehmertum.<br />

7. Die AAU. wendet sich gegen den Syndikalismus,<br />

soweit er dem Rätegedanken ablehnend gegenübersteht.<br />

8. Insbesondere aber wendet sich <strong>die</strong> AAU. <strong>mit</strong> äußerster<br />

Schärfe gegen <strong>die</strong> Gewerkschaften als das Hauptbollwerk<br />

gegen <strong>die</strong> Fortentwicklung der proletarischen<br />

Revolution in Deutschland, als das Hauptbollwerk gegen<br />

<strong>die</strong> Einigung des Proletariats als Klasse.<br />

9. Die Einheitsorganisation ist das Ziel der AAU. Alle<br />

ihre Bestrebungen werden darauf gerichtet sein, <strong>die</strong>ses<br />

Ziel zu erreichen. Ohne <strong>die</strong> Existenzberechtigung der<br />

politischen Parteien anzuerkennen (denn <strong>die</strong> geschichtliche<br />

Entwicklung drängt zu ihrer Auflösung), führt<br />

<strong>die</strong> AAU. gegen <strong>die</strong> politische Organisation der KAP.,<br />

<strong>die</strong> Ziel und Kampfesweise <strong>mit</strong> der AAU. gemein hat,<br />

keinen Kampf, sondern ist bestrebt, in revolutionärem<br />

Kampf <strong>mit</strong> ihr gemeinsam vorzugehen.<br />

10. Die Aufgabe der AAU. ist <strong>die</strong> Revolution im Betriebe.<br />

Sie läßt sich <strong>die</strong> politische und wirtschaftliche<br />

Schulung der Arbeiter angelegen sein.<br />

11. In der Phase der Ergreifung der politischen Macht<br />

wird <strong>die</strong> BO. selbst ein Glied der proletarischen Diktatur,<br />

ausgeübt im Betriebe durch <strong>die</strong> auf der BO. sich erhebenden<br />

Betriebsräte. Die BO. tritt dafür ein, daß <strong>die</strong><br />

politische Gewalt immer nur von der Exekutive der Räte<br />

ausgeübt wird.<br />

Harpune & Torpedo •<br />

Historisches - Geschichte<br />

3. Punkt »Stellung zur 3. Internationale«. S.-<br />

Berlin [AleXander SchWaB] begründet <strong>die</strong> Berliner<br />

Resolution.<br />

Die Diskussion ergab, abgesehen von Ostsachsen,<br />

einheitliche Auffassung. Es wurde folgende<br />

Resolution <strong>mit</strong> großer Mehrheit angenommen.<br />

Die AAU. erklärt, daß sie auf Grund ihres Programms<br />

und ihrer revolutionären Aktivität zur kommunistischen<br />

Internationale gehört. Sie legt dem Exekutivko<strong>mit</strong>ee ihr<br />

Programm vor und fordert Stellungnahme des Exekutivko<strong>mit</strong>ees<br />

zu <strong>die</strong>ser Erklärung.<br />

Ostsachsen erklärt sich aus Prinzip gegen <strong>die</strong> 3.<br />

Intern[ationale], auch gegen den Anschluß als sympathisierende<br />

Organisation.<br />

Nach Annahme der Resolution gab Seifert, Ostsachsen,<br />

im Namen der Delegierten von Ostsachsen,<br />

Württemberg, Westdeutschland und Braunschweig<br />

folgende Erklärung ab:<br />

Die unterzeichneten Vertreter der verschiedenen<br />

Wirtschaftsbezirke erklären, daß sie nach wie vor auf<br />

dem Standpunkte stehen, daß ein Anschluß an <strong>die</strong> 3. Internationale[,]<br />

und wenn auch nur als sympathisierende<br />

Organisation[,] für sie nicht in Frage kommen kann.<br />

Die Unterzeichneten stehen noch voll und ganz auf<br />

dem Boden der in der Reichswirtschafts[rats]sitzung in<br />

Hamburg angenommenen und im „Kampfruf“ veröffentlichten<br />

Resolution und sagen, daß sie in dem herrschenden<br />

System in Rußland nur den Ausdruck einer<br />

Parteiherrschaft erblicken und <strong>die</strong> dort ausgeübte Diktatur<br />

nicht als Diktatur des Proletariats ansehen, sondern,<br />

daß <strong>die</strong>selbe nur eine Parteidiktatur im wahrsten Sinne<br />

des Wortes darstellt, ganz abgesehen davon, daß durch<br />

<strong>die</strong> Vertreter des russ[ischen] Systems und durch <strong>die</strong> 3.<br />

Internationale erklärt worden ist, daß <strong>die</strong> AAU. in ihrem<br />

jetzigen Aufbau nicht anerkannt wird.<br />

Obwohl nun <strong>die</strong> unterzeichneten Vertreter den Anschluß<br />

an <strong>die</strong> 3. Internationale ablehnen, stehen sie nicht<br />

an, dem russischen Proletariat ihre volle Sympathie und<br />

ihre größte Hochachtung in seinem [35] heroischen Kampfe<br />

auszudrücken. Sie sind der Ansicht, daß der deutsche<br />

Arbeiter und vor allem <strong>die</strong> AAU. dem kämpfenden russischen<br />

Proletariate viel mehr nützen können, wenn sie<br />

alle Kräfte dazu verwenden, <strong>die</strong> Revolution in Deutschland<br />

<strong>mit</strong> allen Mitteln vorwärtszutreiben.<br />

Die Internationale wird nicht dort sein, wo man bestimmt,<br />

sondern sie wird dort sein, wo Proletarier kämpfen.<br />

Unterzeichnet von<br />

Adrian, Seifert, MenZel, Ostsachsen.<br />

Mauch, Württemberg.<br />

Brenner, KlÖer [? [36] ], RÖger, WeBig, SchulZ, Jager,<br />

Behrendt, Westdeutschland.<br />

MÖhrling, Braunschweig.<br />

Zum Punkt »Presse« referierte ein Genosse des<br />

Arbeitsausschusses und begrüßte es, daß einige<br />

Wirtschaftsbezirke zur Schaffung eigener Organe<br />

übergegangen sind. Er kritisierte aber scharf <strong>die</strong><br />

Schreibweise einzelner Organe, insbesondere <strong>die</strong><br />

des »Klassenkampfes« und der Braunschweiger<br />

»AAU.«. Schnelle Berichterstattung ist dringend<br />

notwendig. In der Diskussion war man sich einig<br />

in der Auffassung, daß ein einheitliches Organ für<br />

<strong>die</strong> AAU. nicht empfehlenswert sei.<br />

Zum Punkt »Organisatorisches« wurde zunächst<br />

der Bericht des Arbeitsausschusses entgegengenommen.


arrikade sieben - April 2012<br />

Das Organisationsstatut ist nicht überall eingehalten<br />

worden.<br />

Notwendig ist eine enge Arbeitsgemeinschaft der<br />

BO. im Reiche. In Zukunft muß <strong>die</strong> Arbeit einheitlich<br />

gestaltet werden. Empfohlen wird der Konferenz<br />

<strong>die</strong> Festsetzung eines Mindestbeitrages von 1<br />

M[ark] pro Woche.<br />

Die Debatte spitzt sich zu auf <strong>die</strong> Frage, ob <strong>die</strong><br />

Beschlüsse der Konferenz bindend sind oder nicht.<br />

Krohn, Mitteldeutschland, sprach sich für bindende<br />

Beschlüsse aus, während <strong>die</strong> Genossen aus<br />

Hamburg, Ostsachsen und Westdeutschland in der<br />

Reichskonferenz lediglich eine orientierende Besprechung<br />

sehen wollen.<br />

Zur Finanzierung des RWR. [37] verlangt Hamburg<br />

zunächst eine Rechnungslegung seitens des<br />

Arbeitsausschusses und wünscht Aufbringung der<br />

Mittel durch Umlageverfahren.<br />

Mit Zweidrittel-Mehrheit wird folgender Beschluß<br />

gefaßt:<br />

Erneuerter Beschluß<br />

Die Beschlüsse der Reichskonferenz sind für <strong>die</strong> Mitglieder<br />

bindend, wenn programmatische und organisatorische<br />

Fragen der Gesamt<strong>mit</strong>gliedschaft so frühzeitig<br />

unterbreitet worden sind, daß eine gründliche Stellungnahme<br />

ihnen möglich war.<br />

Wirtschaftsbezirke, <strong>die</strong> sich derartigen Reichskonferenzbeschlüssen<br />

nicht fügen, stellen sich selbständig<br />

außerhalb der AAU.<br />

Literatur<br />

Aigte 1930: Gerhard Aigte, Über <strong>die</strong> Entwicklung<br />

der revolutionären syndikalistischen Arbeiterbewegung<br />

Frankreichs und Deutschlands in der Krieges- und<br />

Nachkriegszeit. Freie wissenschaftliche Arbeit; in:<br />

Die Internationale. Zeitschrift für revolutionäre<br />

Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen<br />

Neuaufbau. Hrgg. von der Freien Arbeiter-Union<br />

Deutschlands (AS), Jg. IV, H. 2 (Dezember<br />

1930) bis H. 10 (August 1931)<br />

ArchiV Karl Roche 2009: ArchiV Karl Roche,<br />

Wer war Karl Roche? Eine biographische Skizze; in:<br />

Roche 2009<br />

Bock 1969: Hans Manfred Bock, Syndikalismus<br />

und Linkskommunismus von 1918 – 1923. Zur Geschichte<br />

und Soziologie der Freien Arbeiter-Union<br />

Deutschlands (Syndikalisten), der Allgemeinen<br />

Arbeiter-Union Deutschlands und der Kommunistischen<br />

Arbeiter-Partei Deutschlands (Marburger<br />

Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft 15),<br />

Meisenheim am Glan (Anton Hain)<br />

Bock 1977: Hans Manfred Bock (Hrg.), Bericht<br />

über den Gründungs-Parteitag der Kommunistischen<br />

Arbeiter-Partei Deutschlands am 4. und 5. April 1920<br />

in Berlin; in: Arbeiterbewegung – Theorie und<br />

Geschichte. Jahrbuch, Band 5: Kritik des Leninismus,<br />

Frankfurt/M 1977 (Fischer)<br />

BÖtcher 1922: Hans BÖtcher, Zur revolutionären<br />

Gewerkschaftsbewegung in Amerika, Deutschland und<br />

England. Eine vergleichende Betrachtung, Jena<br />

(Gustav Fischer)<br />

Brandt 1919: F. Brandt, Syndikalismus und Kommunismus.<br />

Ein Vortrag [Juni 1919]. Hrgg. von der<br />

KPD(S), o. O.<br />

Beschlossen wurde ferner, <strong>die</strong> Auslagen des Arbeitsausschusses<br />

durch Umlage zu decken, wogegen<br />

der Arbeitsausschuß den Bezirken monatliche<br />

<strong>Abrechnung</strong> vorlegen soll.<br />

Zur Referentenfrage wurde beschlossen, 60<br />

M[ark] Lohnausfall, 20 M[ark] Spesen und Fahrt<br />

für Arbeitende, 40 M[ark] Spesen und Fahrt für Arbeitslose<br />

festzusetzen.<br />

Die nächste Tagung des RWR. soll in Eisenach<br />

stattfinden.<br />

Die Reichskonferenz schloß <strong>mit</strong> einem Hoch auf<br />

<strong>die</strong> 3. Internationale.<br />

KAZ (HH): Kommunistische Arbeiter-Zeitung<br />

(Hamburg) [Tageszeitung der Hamburger KPD<br />

bzw. der KAPD]<br />

KPD ₂. Parteitag 1919: Bericht über den 2. Parteitag<br />

der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund)<br />

vom 20. bis 24. Oktober 1919, o. O., o. J.<br />

KPD ₃. Parteitag 1920: Bericht über den 3. Parteitag<br />

der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund)<br />

am 25. und 26. Februar 1920, o. O., o. J.<br />

Roche 2009: Karl Roche, Sozialismus und Syndikalismus.<br />

Agitationsschriften aus dem Jahre 1919.<br />

Archiv Karl Roche, Heft 2, Moers (Syndikat A)<br />

Rocker 1919: Rudolf Rocker, Wir und <strong>die</strong> Marxisten;<br />

in: Der Syndikalist (Berlin), Jg. I, Nr. 10, 15. 2.<br />

1919, S. 1 (Nachdruck in <strong>barrikade</strong> Nr. 2/November<br />

2009, S. 12 – 13)<br />

Rocker [1919]: Rudolf Rocker, Prinzipienerklärung<br />

des Syndikalismus. Referat des Genossen Rudolf<br />

Rocker auf dem 12. Syndikalisten-Kongreß, abgehalten<br />

vom 27. bis 30. Dezember 1919 in dem<br />

»Luisenstädtischen Realgymnasium« zu Berlin,<br />

Dresdener Straße; in: F. BarWich/ E. Gerlach/ A.<br />

Lehning/ R. Rocker/ H. Rüdiger, Arbeiterselbstverwaltung,<br />

Räte, Syndikalismus, Berlin/W 1973 (Karin<br />

Kramer)<br />

StAB: Staatsarchiv Bremen<br />

WeBer 1993: Hermann WeBer (Hrg.), Die Gründung<br />

der KPD. Protokoll und Materialien des<br />

Gründungsparteitages der Kommunistischen Partei<br />

Deutschlands 1918/1919. 2. erw. Aufl. Berlin<br />

(Karl Dietz) [1. Aufl. 1969]<br />

Weitere Materialien zur AAUD finden sich in der<br />

<strong>barrikade</strong> Nr. 2/November 2009 und Nr. 6/November 2011<br />

39<br />

[26] Die Tagesordnung ist<br />

aufgrund des vorliegenden<br />

Protokolls rekonstruiert.<br />

[27] lag mir nicht vor.<br />

[28] Industrial Workers of<br />

the World; im Kampfruf<br />

nur I.W.<br />

[29] Workers International<br />

Industrial Union,<br />

eine parteibejahende<br />

Abspaltung der IWW;<br />

im Kampfruf fälschlich<br />

W.I.I.W. Ihr Gegenstück<br />

in Deutschland war<br />

<strong>die</strong> Sozialistische<br />

Industrie-Arbeiter-Union<br />

Deutschlands (SIAUD)<br />

unter KA R L DA N N E N B E R G; s.<br />

Bock 1969, S. 211 – 214<br />

[30] Orgesch:<br />

»Organisation Escherich«,<br />

1920 gegründet von<br />

dem Forstrat und<br />

monarchistischen<br />

bayerischen Politiker<br />

GE O R G ES C H E R I C H<br />

(1870-1941). Die<br />

Orgesch war Anfang<br />

der 20er Jahre eine der<br />

wichtigsten und größten<br />

konterrevolutionären und<br />

antirepublikanischen<br />

paramilitärischen<br />

Organisationen im<br />

Deutschen Reich. Siehe<br />

http://de.wikipedia.org/<br />

wiki/Georg_Escherich.<br />

[31] Gemeint ist <strong>die</strong><br />

Vereinigung von KPD<br />

(Spartakusbund) und<br />

USPD (Linke) zur VKPD;<br />

der Vereinigungsparteitag<br />

fand vom 4. – 7.<br />

Dezember 1920 in Berlin<br />

statt.<br />

[32] Betriebs-Organisation,<br />

<strong>die</strong> Basisorganisation der<br />

AAU<br />

[33] In den Städten<br />

Köthen (bei Dessau)<br />

und Velbert (Ruhrgebiet)<br />

hatten im August<br />

1920 KAPD-Anhänger<br />

geputscht und sehr<br />

kurzlebige Räterepubliken<br />

ausgerufen.<br />

[34] R.K. = Reichs-<br />

Konferenz; im Kampfruf<br />

fälschlich P.K.<br />

[35] im Kampfruf fälschlich:<br />

ihrem<br />

[36] Vorlage schlecht<br />

lesbar<br />

[37] Reichswirtschaftsrat,<br />

oberstes Exekutivorgan<br />

der AAU


40<br />

Harpune & Torpedo •<br />

Historisches - Geschichte<br />

RU D O L F ROCKERs<br />

»Zur Betrachtung der Lage in Deutschland«<br />

Von Hans Jürgen Degen<br />

RU D O L F RO C K E R<br />

(Mainz 1873- New York<br />

1958) - führender<br />

anarchistischer und anarchosyndikalistischer<br />

Theoretiker<br />

der FAUD/AS und<br />

der sozial-revolutionären<br />

Internationalen Arbeiter-<br />

Assoziation (IAA-AIT), der<br />

Mitbegründer er 1922 in<br />

Berlin war.<br />

„Wesentliche Impulse für <strong>die</strong> von den westdeutschen<br />

Anarchisten geführte (Nachkriegs-) Diskussion kamen<br />

von den ins Ausland geflohenen ehemaligen<br />

FAUD-Aktivisten ...“ 1<br />

Es waren eindeutig nur „Impulse“, <strong>die</strong> auch R.<br />

Rocker in seiner 1947 erschienen Schrift „Zur Betrachtung<br />

der Lage in Deutschland“ 2 der deutschen<br />

rest-anarchosyndikalistischen Bewegung geben<br />

konnte: Die Schrift war bewußt nicht konzipiert<br />

als Anleitung zum „richtigen“ Handeln; sie war<br />

lediglich eine präzise Zusammenfassung, eine<br />

Bündelung der vorhandenen theoretischen und<br />

organisatorischen Vorstellungen der deutschen<br />

Anarchosyndikalisten im Nachkriegsdeutschland.<br />

Unmißverständlich stellte A. Leinau in einem Brief<br />

an R. Rocker hierzu fest: „Deine Broschüre bestätigt<br />

unsere Erkenntnisse und trug dazu bei, bei manchen Kameraden<br />

Unklarheiten zu beseitigen.“ 3<br />

Die Idee zur Initialzündung der Rocker-Broschüre<br />

ging vermutlich zurück auf <strong>die</strong> Abschriften<br />

eines <strong>mit</strong> Rocker-Zitaten gespickten (aus dem<br />

Schriftwechsel <strong>mit</strong> H. Rüdiger) Briefes von H. Rüdiger<br />

im Oktober 1946, <strong>die</strong> er an deutsche Freunde<br />

schickte. Dieser Brief kursierte unter interessierten<br />

Anarchosyndikalisten. Rüdigers Intention war,<br />

<strong>die</strong> Rocker-„Ideen“, <strong>die</strong> sich „in den letzten 14 Jahren“<br />

herausgebildet hatten, wiederzugeben. Die<br />

Rocker-Zitate drehten sich um <strong>die</strong> „Grundfragen“<br />

des Anarchosyndikalismus. Zu „Unsere(n) Ideen!“<br />

schrieb Rüdiger:<br />

„Die Welt hat sich verändert, seit wir <strong>die</strong>se Ideen bei<br />

der Gründung der IAA formulierten. Die Ausgangspunkte<br />

haben sich verändert, <strong>die</strong> Menschen sind nicht<br />

mehr <strong>die</strong> gleichen, <strong>die</strong> un<strong>mit</strong>telbaren und ferneren Ziele<br />

von damals stehen nicht mehr in derselben Form vor<br />

uns.“<br />

Dies zu belegen war der Sinn des Rüdiger-Briefes<br />

<strong>mit</strong> den ausführlichen Rocker-Zitaten. 4<br />

Im Dezember 1946 schrieb A. Benner an R. Rocker:<br />

„Durch Auszüge aus deinen Briefen an Rüdiger und<br />

Fritz B. (gemeint ist wohl der Bruder von A. Benner,<br />

Fritz Benner, Verf.) bin ich nämlich in etwa im Bilde!<br />

Wir bitten dich sehr ... eine kleine Broschüre ... in<br />

deutsch über <strong>die</strong> heutige Lage und unsere Stellung als<br />

freiheitliche Sozialisten zu schreiben. Denn es fehlt uns<br />

sehr, konkretes schriftliches Material !“ 5<br />

Ein Brief von A. Leinau an H. Rüdiger belegt,<br />

daß weitere Briefe von „Genossen“ an R. Rocker<br />

1945/46 den Wunsch nach einer klärenden Schrift<br />

von ihm ausdrückten. 6 Die Rocker-Broschüre basierte<br />

eindeutig auf den Vorstellungen vieler deutscher<br />

Anarchosyndikalisten, <strong>die</strong> ihre „Meinungen“<br />

1945-1946 in Briefen an ihre exilierten Freunde im<br />

Ausland – so u.a. an R. Rocker – kundtaten. 7<br />

Das Manuskript für <strong>die</strong> Broschüre stellte Rocker<br />

im Januar 1947 fertig. 8 Die Broschüre wurde dann<br />

in Stockholm <strong>mit</strong> Hilfe der SAC und IAA gedruckt; 9<br />

sie traf Mitte/Ende Juni 1947 – also nach FFS-Gründung<br />

- in Deutschland ein. 10<br />

Rockers „Zur Betrachtung der Lage in Deutschland“<br />

ruht auf vier zentralen Kernpunkten: 1. Organisationsfrage<br />

für <strong>die</strong> Anarchosyndikalisten; 2.<br />

Stellung zu den Parteien, Gewerkschaften u.a. sozialen<br />

und politischen Strömungen; 3. Vorschläge<br />

zur politischen Tätigkeit für <strong>die</strong> Anarchosyndikalisten;<br />

4. grundsätzliche theoretisch-politische Erörterungen.<br />

Nach R. Rockers Vorstellung stellte sich für <strong>die</strong><br />

deutschen Anarchosyndikalisten nach dem Ende<br />

der Nazi-Diktatur <strong>die</strong> Organisationsfrage völlig<br />

neu:<br />

„Von der alten FAUD sind <strong>die</strong> letzten Ansätze verschwunden.<br />

... an eine Wiederbelebung unserer alten<br />

Bewegung in ihrer gewesenen Form unter den heutigen<br />

Umständen (kann) kaum gedacht werden ..., da alle Vorbedingungen<br />

dazu fehlen.“ 11<br />

Schon <strong>die</strong> FAUD, so Rocker, habe ihre eigentliche<br />

gewerkschaftliche Funktion nie richtig erfüllen<br />

können. Die FAUD wäre auch „in ihren besten<br />

Zeiten“ nicht zu „grossen selbständigen Aktionen“ fähig<br />

gewesen. Das eigentliche wertvolle, konstruktive<br />

ihrer Arbeit sei gewesen, „das geistige Erbe des<br />

freiheitlichen Sozialismus zu wahren und zu mehren“.<br />

Ihre „mündliche Erziehungsarbeit“ hätte viel „zur<br />

Verbreitung freiheitlicher Ideen“ beigetragen. 12 Auch<br />

heute gelte es, freiheitliche Ideen nach außen zu<br />

vertreten. Um <strong>die</strong>s aber effektiv zu können, sollten<br />

sich <strong>die</strong> Anarchosyndikalisten in einem „Bund freiheitlicher<br />

Föderalisten“ oder „Bund der Föderalisten“<br />

zusammenschließen. Diese Organisation sollte<br />

nicht nur dazu <strong>die</strong>nen „unsere zerstreuten Kräfte zusammenzufassen,<br />

sondern (auch) um bestimmte Aufgaben<br />

zu erfüllen, <strong>die</strong> ohne einen solchen Zusammenschluss<br />

nicht ausführbar sind“: z.B. Produktion freiheitlicher<br />

Literatur und Herausgabe eines „Organ(s), in dem<br />

wir unsere Ideen, Vorschläge und Anregungen ungestört<br />

zum Ausdruck bringen können ...“ 13<br />

Nachdrücklich plä<strong>die</strong>rte Rocker für <strong>die</strong> Autonomie<br />

der eigenen Organisation bei gleichzeitiger<br />

Zusammenarbeit „<strong>mit</strong> anderen“ Organisationen.<br />

„Zusammenarbeit und einfacher Verschmelzung <strong>mit</strong><br />

politischen Parteien, <strong>die</strong> ganz andere Ziele verfolgen“,<br />

lehnte er dagegen kategorisch ab. Kooperationen<br />

könnte es nur geben ohne „Preisgabe grundsätzlicher<br />

Ideen“. 14<br />

Angesichts der desolaten geistigen Verfassung<br />

des deutschen Volkes nach zwölf Jahren Nazi-<br />

Diktatur stand für Rocker fest, „dass gerade heute in<br />

Deutschland eine selbständige, freiheitliche Bewegung<br />

notwendiger ist, denn je zuvor“. Aber eine solche Bewegung<br />

habe nur „Erfolg“, wenn „wir ... in manchen<br />

Dingen umlernen und unsere Tätigkeit den neuen Verhältnissen<br />

anpassen“ und „neue Methoden der Betätigung“<br />

anwenden. 15<br />

Rocker Stellungnahme zu den Parteien u.a. „politischen“<br />

Strömungen ist äußerst differenziert. Da<br />

sich Anarchosyndikalisten ohnehin nach 1945 nur<br />

in „linken“ Parteien organisierten (wenn überhaupt),<br />

setzte sich Rocker auch in erster Linie <strong>mit</strong><br />

<strong>die</strong>sen auseinander: <strong>mit</strong> der „SEP“ (SED) und SPD.


arrikade sieben - April 2012<br />

„Die SEP“, schrieb er, setze sich „<strong>mit</strong> allem Nachdruck<br />

für eine zentralistische deutsche Regierung“ ein.<br />

Ihre Argumentation dafür hole sie „aus der Rüstkammer<br />

des Nationalismus“. Sie sei „ein grundsätzlicher<br />

Gegner aller föderalistischen Versuche“. Ihre „Tätigkeit<br />

(sei) vom Kreml bestimmt“ <strong>mit</strong> der Zielrichtung, <strong>die</strong><br />

„Hegemonie über Europa“ zu erlangen: <strong>die</strong> „im Kriege<br />

gewonnene Machtstellung“ zur Ausdehnung „ihre(r)<br />

Einflussphäre immer weiter nach Westen“. Schon deshalb<br />

stehe <strong>die</strong>se Partei grundsätzlich dem „Gedanken<br />

einer europäischen Föderation feindlich gegenüber“. 16<br />

Diese Partei zeige, daß das alte Links-Rechts-<br />

Schema „jeden Geltungswert eingebüsst“ habe. Denn<br />

„heute ... (stehe <strong>die</strong>se) `äusserste Linke‘ vollständig auf<br />

dem Boden eines neuen Absolutismus“: eine „durch<br />

und durch reaktionäre Ideologie“:<br />

„Die Kommunistischen Parteien und ihre Verbündeten<br />

in allen Ländern ..., <strong>die</strong> heute <strong>die</strong> `äusserste Linke‘<br />

repräsentieren, erstreben überall <strong>die</strong> Diktatur eines totalen<br />

Staates nach russischem Muster, der durch <strong>die</strong> Entwicklung<br />

eines allmächtigen Staatskapitalismus einen<br />

Grad der Macht erreicht, <strong>die</strong> sogar der fürstliche Absolutismus<br />

nie erringen konnte.“ 17<br />

Selbstredend für Rocker: Einer solchen „äussersten<br />

Linken“ solle kein freiheitlicher Sozialist verbunden<br />

sein.<br />

Auch in der SPD sah Rocker keine zukunftsgestaltende<br />

gesellschaftliche Kraft. Die SPD sei zu<br />

sehr ihrer Vergangenheit als zentralistische Partei<br />

verhaftet. Und nur unter dem „Druck der Umstände“,<br />

mache <strong>die</strong> SPD Konzessionen in Richtung Föderalismus.<br />

In Wirklichkeit aber, so Rockers Einschätzung,<br />

„glauben ihre heutigen Führer, dass der<br />

wirtschaftliche und soziale Aufbau Deutschlands nur<br />

durch eine einheitliche zentrale Regierung erreicht werden<br />

kann“. Deshalb „halte (er) es ... für völlig ausgeschlossen,<br />

dass wir durch unseren Eintritt in solche Körperschaften<br />

deren Bestrebungen wesentlich beeinflussen<br />

können“. Eher bestünde <strong>die</strong> Gefahr, daß das „geistige<br />

Erbe“ des freiheitlichen Sozialismus „allmählich<br />

vollständig verloren“ gehen würde. Es müßten<br />

eben „Zugeständnisse“ gemacht werden, <strong>die</strong> „auf ...<br />

Kosten der inneren Überzeugung“ gingen; es käme zu<br />

einer „Verwaschenheit der Gedanken“. 18<br />

Auch für <strong>die</strong> KPD konnte Rocker selbstverständlich<br />

keine Empfehlung für ein Engagement der Anarchosyndikalisten<br />

abgeben.<br />

Eine andere Stellung als zu den „linken“ Parteien<br />

nahm Rocker gegenüber den Gewerkschaften ein.<br />

Sie war eher positiv. In den Gewerkschaften sah<br />

er eine Bewegung, <strong>die</strong> im „Prinzip der Selbsthilfe“<br />

verankert sei. Im Gegensatz zu der alten von vor<br />

1933 würde <strong>die</strong> heutige Gewerkschaftsbewegung<br />

vor „ganz neuen Aufgaben“ stehen. Hierin lag für<br />

Rocker <strong>die</strong> große Chance der ehemaligen FAUDler:<br />

Wie alle anderen gesellschaftlichen Gruppierungen<br />

müßten auch <strong>die</strong> Gewerkschaften „wieder neu beginnen<br />

... und aus <strong>die</strong>sem Grunde (wären sie) für neue<br />

Ideen leichter empfänglich“. Von Vorteil wäre auch,<br />

daß <strong>die</strong> alte Führungsgarde der Gewerkschaften<br />

entweder nicht mehr lebt oder zu alt sei. Rocker<br />

setzte auf <strong>die</strong> jüngeren Kräfte, <strong>die</strong> „wahrscheinlich ...<br />

aus den bitteren Erfahrungen der letzten Vergangenheit<br />

etwas gelernt haben“ und <strong>mit</strong> „reiner Lohnpolitik“ keine<br />

Politik mehr machen würden. „Umsomehr werden<br />

sich daher <strong>die</strong> neuen Gewerkschaften <strong>mit</strong> der Frage des<br />

Wiederaufbaus beschäftigen müssen, zu der sie als Organisation<br />

der Produzenten von selbst<br />

berufen sind.“ An <strong>die</strong>sem Punkt sah<br />

Rocker den Einstieg der Anarchosyndikalisten:<br />

sie würden von den<br />

„Verhältnissen begünstigt“, um ihre<br />

Ideen in <strong>die</strong> Gewerkschaften einzubringen:<br />

„Gerade der konstruktive Gedanke<br />

über <strong>die</strong> wirtschaftliche Bedeutung<br />

der Gewerkschaften als Organe für<br />

<strong>die</strong> Verwaltung der gesellschaftlichen<br />

Produktion ... kann ... hier <strong>die</strong> besten<br />

Dienste leisten, wenn er zweckmäßig<br />

und den neuen Verhältnissen entsprechend<br />

entwickelt wird.“<br />

Rocker sprach sich in <strong>die</strong>sem<br />

Zusammenhang auch für „Einrichtung<br />

der Arbeiterräte der einzelnen<br />

Industrien und Produktionszweige“<br />

aus. Aber er verbreitete keinen<br />

Zweckoptimismus über <strong>die</strong> Möglichkeiten<br />

und Ergebnisse der Gewerkschaftsarbeit:<br />

„Sogar <strong>die</strong> revolutionärste Gewerkschaftsbewegung<br />

kann sich den wirtschaftlichen<br />

und sozialen Bedingungen ihrer heutigen<br />

Umwelt nicht willkürlich entziehen. Ihre revolutionäre<br />

Bedeutung liegt in ihren Zukunftsbestrebungen, aber in<br />

ihren praktischen Kämpfen ums tägliche Brot oder für<br />

<strong>die</strong> Verteidigung ihrer menschlichen Rechte ist auch sie<br />

gezwungen sich den gegebenen Verhältnissen anzupassen<br />

...“<br />

Und jede „Bewegung wird lediglich durch ihre Ziele<br />

bestimmt, <strong>die</strong> sie sich stellt und durch <strong>die</strong> inneren Entwicklungsmöglichkeiten,<br />

<strong>die</strong> sie in sich trägt, um <strong>die</strong>sen<br />

Zielen näher zu kommen ...“ 19<br />

Es verstand sich also von selbst, daß Rocker den<br />

deutschen Anarchosyndikalisten <strong>die</strong> Arbeit in den<br />

Gewerkschaften nahelegte. Aber den wesentlichen<br />

Aufgabenbereich für den freiheitlichen Sozialismus<br />

sah er – gespeist aus historischen und eigenen Erfahrungen<br />

– besonders in der deutschen Situation<br />

nach 1945 viel weiter gespannt – z.B. in den Genossenschaften.<br />

Im Zusammenhang <strong>mit</strong> der sozialen und wirtschaftlichen<br />

Erneuerung der Gesellschaft waren für<br />

Rocker <strong>die</strong> Genossenschaften von zentraler Bedeutung.<br />

Ihnen sollten <strong>die</strong> freiheitlichen Sozialisten in<br />

„Zukunft viel mehr Aufmerksamkeit schenken, als das<br />

bisher geschehen“ wäre. Rockers Begründung für<br />

<strong>die</strong>se Anregung, sich in <strong>die</strong>ser international agierenden<br />

Bewegung zu engagieren, war deren soziale<br />

Verankerung und Tätigkeit in breiten Bevölkerungskreisen:<br />

sie kümmere sich um den „Schutz<br />

der Verbraucher“ und basiere auf dem „Prinzip der<br />

Selbsthilfe“. Da <strong>die</strong> Genossenschaftsbewegung „aus<br />

den praktischen Bedürfnissen des sozialen Lebens hervorgegangen“<br />

sei, wäre <strong>die</strong>se Bewegung <strong>mit</strong> dem<br />

Anarchosyndikalismus weitgehend kongruent. Im<br />

übrigen hätten sich <strong>die</strong> Genossenschaften „vielseitige<br />

Erfahrungen (und) eine Menge praktischer Kenntnisse<br />

und administrativer Fähigkeiten auf dem Gebiet<br />

der Verbrauchswirtschaft erworben“; <strong>die</strong>se könnten<br />

den Anarchosyndikalisten „beim Wiederaufbau unschätzbare<br />

Dienste leisten“:<br />

„Je mehr geschulte Kräfte uns zur Verfügung stehen,<br />

desto bessere Arbeit werden wir leisten können, desto<br />

leichter werden wir imstande sein, Irrtümer zu ver-<br />

Anmerkungen:<br />

41<br />

FFS: Föderation freiheitlicher<br />

Sozialisten – Nachfolgeorganisation<br />

der FAUD<br />

zwischen 1945 und 1960<br />

1) MA N F R E D BU R A Z E R O-<br />

V I C: Anarchismus und<br />

Anarcho-Syndikalismus<br />

in Westdeutschland<br />

nach 1945. Schriftliche<br />

Hausarbeit zur Erlangung<br />

des Grades eines Magister<br />

Artium. Fakultät für<br />

Geschichtswissenschaft,<br />

Ruhr-Universität Bochum,<br />

Juli 1990, S. 20<br />

2) RU D O L F RO C K E R: Zur<br />

Betrachtung der Lage in<br />

Deutschland. Die Möglichkeiten<br />

einer freiheitlichen<br />

Bewegung. Vorwort<br />

Helmut Rüdiger, New<br />

York, London, Stockholm<br />

1947 (Neuaufl age unter<br />

dem Titel: Die Möglichkeit<br />

einer anarchistischen und<br />

syndikalistischen Bewegung.<br />

Eine Einschätzung<br />

der Lage in Deutschland,<br />

Frankfurt/M. 1978)<br />

3) Brief von A. Leinau<br />

(Darmstadt) an R. Rocker,<br />

14.12.1947 (Nachlaß<br />

Rocker; IISG)<br />

92<br />

4) Offener Brief („Lieber<br />

Genosse!“) von H. RÜ-<br />

D I G E R, Mitte Oktober 1947<br />

(Sammlung Rüdiger; PA<br />

Degen)<br />

5) Brief von A. BE N N E R<br />

(Wuppertal) an R. Rocker,<br />

30.12.1946 (Nachlaß<br />

Rocker; IISG)<br />

6) Vgl. Brief von A. LE I N A U<br />

(Darmstadt) an H. Rüdiger,<br />

18.10.1947 (Nachlaß<br />

Rüdiger; IISG)


42<br />

7) Vgl. A. LE I N A U: Die<br />

Föderation Freiheitlicher<br />

Sozialisten und Rockers<br />

Broschüre, in: Mitteilungen<br />

deutscher Anarchisten.<br />

‚Gruppe Bakunin‘, o.O.<br />

(London), o.D. (ca. Ende<br />

1947), S. 5<br />

8) Vgl. G. BA R T S C H:<br />

Anarchismus in Deutschland<br />

1945-1965, Bd. I,<br />

Hannover 1975, S. 99<br />

- Vgl. Anmerkung, in: R.<br />

Rocker: Zur Betrachtung<br />

der Lage ..., a.a.O., S. 4;<br />

vgl. dazu auch Brief von<br />

G. Doster (Hagalund)<br />

an R. Rocker, 27.3.1947<br />

(Nachlaß Rocker; IISG)<br />

10) Vgl. Brief von G.<br />

DO S T E R (Hagalund) an R.<br />

Rocker, 3.6.1947 (Nachlaß<br />

Rocker; IISG)<br />

11) R. RO C K E R: Zur<br />

Betrachtung der Lage ...,<br />

a.a.O., S. 5<br />

12) Ebd., S. 10<br />

13) Ebd., S. 13<br />

14) Ebd.<br />

15) Ebd., S. 17<br />

16) Ebd., S. 12<br />

17) Ebd., S. 9<br />

18) Ebd., S. 12f<br />

19) Ebd., S. 28f.<br />

20) Ebd., S. 29<br />

21) Ebd., S. 19<br />

22) Ebd., S. 20f<br />

23) Ebd., S. 19<br />

24) Ebd., S. 24<br />

25) Ebd., S. 35<br />

26) Ebd., S. 6f.<br />

27) Siehe G. BA R T S C H: Anarchismus<br />

in Deutschland<br />

..., a.a.O., S. 108-121<br />

28) JO H N OL D A Y alias<br />

AR T H U R WILLIAM OL D A Y<br />

(1905-1977), britisch-deutscher<br />

Künstler. Beteiligung<br />

am Spartakusaufstand. Agitator<br />

der ‚Kommunistischen<br />

Jugend‘. Dann „räteanarchistischer<br />

Agitator“. Nach<br />

1933 Widerstandsarbeit.<br />

Flucht nach Großbritannien.<br />

Dort 1939 Zwangsrekrutierung.<br />

OL D A Y desertiert und<br />

nimmt eine neue Identität<br />

an. Antimilitaristische Agitation.<br />

1946 Initiator der ‚Internationalen<br />

Bakunin-Gruppe‘.<br />

Dann Gründung des<br />

anarcho-kommunistischen<br />

‚Spartakusbundes‘. Ende<br />

der 40er Jahre Rückzug aus<br />

der politischen Arbeit und<br />

Übersiedelung nach Australien.<br />

Ende der 60er Jahre<br />

wieder in London und als<br />

sozialkritischer Cartoonist<br />

für anarchistische und unionistische<br />

Blätter tätig. (PE-<br />

T E R PE T E R S E N: John Olday.<br />

Künstler und Kämpfer für<br />

<strong>die</strong> soziale Revolution. in:<br />

‚Trafi k. Internationales Journal<br />

zur Kultur und Anarchie‘,<br />

Nr. 21, o.O. (Essen) und<br />

o.D., S. 18-21<br />

meiden und dauerhafte Grundlagen für <strong>die</strong> Zukunft zu<br />

schaffen.“<br />

Rocker verurteilte <strong>die</strong> bisherige Geringschätzung<br />

der Genossenschaften wegen deren Anpassung an<br />

<strong>die</strong> „kapitalistische Umwelt“; denn <strong>die</strong>s sei „nicht<br />

stichhaltig“, weil das auch für andere soziale Bewegungen<br />

zuträfe – so auch für den Syndikalismus.<br />

Er sah <strong>die</strong> Genossenschaften nicht nur gegenwartsfixiert:<br />

Sie „erstreben ... <strong>die</strong> Beseitigung jeder<br />

Profitwirtschaft und eine Neugestaltung des gesellschaftlichen<br />

Lebens auf der Grundlage einer gerechten<br />

Verteilung der Arbeitserzeugnisse“. Deshalb sollten<br />

<strong>die</strong> „Genossen“ in den Genossenschaften aktiv werden.<br />

Nicht aber „ihre Kräfte in alten Parteibildungen<br />

nutzlos vergeuden“. 20<br />

Rocker wähnte nach 1945 <strong>die</strong> „ganze soziale Verwaltung“<br />

Deutschlands „fast ausschließlich in den<br />

Händen der Gemeinden“. Deshalb seien ihnen „Aufgaben<br />

gestellt“, wie sonst nur dem zentralistischen<br />

Staat. Und <strong>die</strong>s sei <strong>die</strong> Stunde des „Gemeindesozialismus“.<br />

„Der ganze Wiederaufbau des Landes“, schrieb er,<br />

„ist heute im wesentlichen von den Gemeinden abhängig“.<br />

Diese neue Situation sei für Deutschland und<br />

darüberhinaus für „ganz Europa von der grössten<br />

Bedeutung“. Wenn <strong>die</strong> Menschen <strong>die</strong>s erkennen<br />

würden, könnte eine „Neugestaltung ihres sozialen<br />

Lebens auf gänzlich veränderten Grundlagen“ möglich<br />

werden. 21 Um <strong>die</strong>se „Neugestaltung“ aber voran zu<br />

bringen, war Rocker der Überzeugung, daß sich <strong>die</strong><br />

Anarchosyndikalisten voll an den „administrativen<br />

Arbeiten der Gemeinden“ beteiligen sollten. Denn da<strong>mit</strong><br />

könnten sie <strong>die</strong> Vorstellungen des „freiheitlichen<br />

und föderativen Sozialismus praktisch zur Geltung ...<br />

bringen“. Rocker verkannte jedoch nicht <strong>die</strong> vorhandenen<br />

staatlich-autoritären Strukturen in den<br />

Gemeinden. Trotzdem sah er keine Alternative zur<br />

Gemeindearbeit, weil der „Wiederaufbau des Landes<br />

vollständig von den Gemeinden“ abhängen würde. 22<br />

Gemeindearbeit als Arbeit für den freiheitlichen<br />

Sozialismus:<br />

„Wenn der Sozialismus überhaupt durchführbar ist,<br />

so kann <strong>die</strong>s bloss von unten auf geschehen durch eine<br />

Föderation freier Gemeinden, ... <strong>die</strong> (<strong>die</strong>) Grundlagen für<br />

eine neue soziale Ordnung legen, ... <strong>die</strong> in der Freiheit<br />

des Menschen, in der solidarischen Betätigung gegenseitiger<br />

Hilfe und einer sozialen Gerechtigkeit für alle ihren<br />

Ausdruck finden.“<br />

In einem solchen Gemeindesozialismus meinte<br />

Rocker den Machtmißbrauch von Minderheiten<br />

unterbinden zu können. Auch der „Machtpolitik“<br />

würde durch <strong>die</strong> Überschaubarkeit der Gemeindepolitik<br />

ein Riegel vorgeschoben. Der Gemeindesozialismus<br />

würde <strong>die</strong> „tote Mechanik der zentralen Organisation<br />

durch <strong>die</strong> Assoziation“ überwinden. Durch<br />

<strong>die</strong>se „föderative Verbundenheit der Gemeinden“ würde<br />

sich ein fruchtbarer Prozeß der Gegenseitigkeit<br />

durch Austausch von praktischen Erfahrungen ergeben.<br />

Das wäre eine Freiwilligkeit gegenüber der<br />

„zentralistischen Zusammenschweissung aller sozialen<br />

Lebensäusserungen“.<br />

Rocker setzte der „öde(n) Unifor<strong>mit</strong>ät“, der „künstlich<br />

ausgedachten sozialen Systeme“ „praktisches und<br />

schöpferisches Handeln“ der Individuen entgegen.<br />

In der überschaubaren Gemeinde sah er noch <strong>die</strong>se<br />

Möglichkeiten. 23<br />

Harpune & Torpedo •<br />

Historisches - Geschichte<br />

„Ein Sozialismus föderierter Gemeinden wird nicht<br />

überall <strong>die</strong> gleichen Formen annehmen, sondern in jedem<br />

Gemeinwesen das zu erreichen versuchen, was unter<br />

den obwaltenden Verhältnissen möglich ist und den<br />

Wünschen und Bedürfnissen seiner Bewohner am besten<br />

entspricht.“ 24<br />

Die Föderationen der „von sozialistischem Geist<br />

durchdrungener Gemeinden“ war für Rocker <strong>die</strong> Basis<br />

einer europäischen Föderation. Seine konkrete<br />

Utopie war ein „ ... föderiertes Deutschland ... (als) der<br />

Grundstein für eine Föderation europäischer Völker und<br />

darüber hinaus einer Weltföderation, in deren Rahmen<br />

jeder Menschengruppe ihr Eigenleben gesichert und<br />

durch gleiche Rechte und gleiche Interessen gewährleistet<br />

werden“. 25<br />

Als Voraussetzungen jeglicher praktisch-politischer<br />

Arbeit der freiheitlichen Sozialisten im<br />

Nachkriegsdeutschland sah Rocker das Ablegen<br />

aller „toten Gedankenbilder“ und - jeglichen Dogmatismus<br />

abzuschwören: „Die Wahrheiten von gestern<br />

entwickeln sich stets zu den Lügen von heute, wenn wir<br />

ihnen den absoluten Charakter beilegen.“<br />

Rocker verwarf in seiner Schrift jegliche Art gesellschaftlicher<br />

„Gesamtlösungen“; denn <strong>die</strong>se bedeute<br />

Vereinheitlichung, und <strong>die</strong>s wiederum stehe<br />

konträr zu freiheitlichem Denken und Handeln.<br />

Letztlich sei <strong>die</strong>s reaktionär: „Die Reaktion beginnt<br />

immer dort, wo man das Leben auf eine bestimmte Norm<br />

zu bringen versucht.“ 26<br />

G. Bartsch räumte der Pro- und Kontra-Diskussion<br />

um <strong>die</strong> Rocker-Broschüre einen ungewöhnlich<br />

breiten Raum ein. 27 Er wies ihr da<strong>mit</strong><br />

den Stellenwert als Scheidemarke zwischen den<br />

sich neu orientierenden anarchistischen Kräften<br />

zu: der Kampf um Gewinnung von Anhängern<br />

entweder für den traditionellen Anarchismus oder<br />

für den (revisionistischen) Anarchosyndikalismus.<br />

Doch bei Erscheinen der Rocker-Broschüre (Juni<br />

1947) waren im Nachkriegsdeutschland schon <strong>die</strong><br />

organisatorischen Weichen gestellt: Die Pfingsten<br />

1947 gegründete FFS hatte im wesentlichen alle<br />

noch rekrutierbaren Anarchosyndikalisten erfaßt;<br />

<strong>die</strong> kommunistischen Anarchisten hatten sich sowohl<br />

in Mülheim/Ruhr, in Berlin und an anderen<br />

Orten in kleinen Gruppen zusammengefunden;<br />

<strong>die</strong> ‚Kulturföderation freier Sozialisten und Antimilitaristen‘<br />

wurde im Frühjahr 1947 (vermutlich<br />

einige Wochen vor der FFS) gegründet. So konnte<br />

der Hauptkontrahent Rockers, John OldaY 28, <strong>mit</strong><br />

seiner Gegenposition zur Rocker-Konzeption für<br />

seine ‚Internationale Bakunin-Gruppe‘ kaum neue<br />

Anhänger gewinnen. Letztlich war <strong>die</strong> Schlammschlacht<br />

zwischen den Rocker- und OldaY-Anhängern<br />

nur ein Sturm im anarchistischen Wasserglas.<br />

In ihren Grundaussagen waren <strong>die</strong> Überlegungen<br />

Rockers <strong>die</strong> schriftlich fixierten theoretisch-praktischen<br />

Vorstellungen der deutschen<br />

Nachkriegs-Anarchosyndikalisten: In ihrer kommunalpolitischen<br />

Arbeit, in ihrer Gewerkschaftstätigkeit<br />

wurden sie durch Rocker nur bestätigt; in<br />

ihrer Parteiarbeit - <strong>die</strong> Rocker verwarf - ließen sich<br />

viele nicht beirren, aber einige werden wohl wegen<br />

der Ausführungen Rockers ihre Parteiarbeit aufgegebenen<br />

haben; und <strong>mit</strong> der Bildung der FFS kamen<br />

sie Rockers organisatorischen Vorstellungen<br />

sehr nahe.<br />

Das ehemalige FAUD-Mitglied, <strong>die</strong> Spanienkämpferin<br />

Martha Wüstemann-LeWin (1908-1992)


arrikade sieben - April 2012<br />

charakterisierte <strong>die</strong> Rocker-Broschüre als „ein<br />

großangelegtes Antwortschreiben“ (wohl auf <strong>die</strong> Anregungen<br />

aus Deutschland für Rocker) <strong>mit</strong> einer<br />

„Menge ganz interessante(r) Ausführungen und auch<br />

praktischer Vorschläge“. 29 Karl Dingler schrieb von<br />

einer „ganze(n) Welt“, <strong>die</strong> Rocker <strong>mit</strong> <strong>die</strong>ser Schrift<br />

erschlossen hätte. 30 Der Schriftsteller und Rocker-<br />

Freund Theodor PlieVier (1892-1955) war nach<br />

Aussagen von K. Dingler „voll begeisterter Zustimmung“<br />

über den Inhalt der Broschüre. 31<br />

Für A. Leinau war <strong>die</strong> Rocker-Broschüre das<br />

„Rüstzeug ... (um) endlich einmal das auszusprechen,<br />

was uns bisher nicht möglich war“ – wegen nicht vorhandenem<br />

Papier und Druckmöglichkeiten. „Das<br />

was Du hier sagst“, schrieb A. Leinau, „ist voll und<br />

ganz so, wie wir hier <strong>die</strong> Lage selbst beurteilen und darum<br />

bedeutet Deine Darlegung für uns Genossen speziell,<br />

nichts Neues im Wesentlichen. Ich glaube auch<br />

nicht fehl zu gehen, ... dass Du zu Deinen Schlüssen<br />

<strong>mit</strong> durch <strong>die</strong> Briefe aller Kameraden aus Deutschland<br />

gekommen bist.“ 32 A. Leinau betonte nachdrücklich,<br />

daß viele von Rockers Anregungen schon un<strong>mit</strong>telbar<br />

nach Kriegsende von Anarchosyndikalisten<br />

praktiziert wurden: Arbeit in den Gewerkschaften,<br />

in verschiedenen Organisationen und nicht zuletzt<br />

in den Kommunen. Und <strong>die</strong>se Arbeit sei, so Leinau,<br />

<strong>die</strong> „pri<strong>mit</strong>ivste Aufbauarbeit (<strong>die</strong>) längst wieder verboten“<br />

sei, gewesen. Es wäre schon wieder (1947) so,<br />

daß vom grünen Tisch aus „reguliert“, „organisiert“<br />

werde. Der „Neuaufbau (geschehe) von oben nach unten“.<br />

Alle Eigeninitiative der „Gemeinden ist so<br />

gut wie ausgeschlossen“, da sie „ihre Direktiven von<br />

oben“ bekämen. Dennoch betonte A. Leinau, daß<br />

im „Gemeindesozialismus“ <strong>die</strong> „Wurzel“ der Gesellschaft<br />

liege. 33<br />

Das ‚U.S. Information Center‘ (Berlin) vertrat in<br />

ihrem Presse<strong>die</strong>nst <strong>die</strong> Meinung, daß <strong>die</strong> Broschüre<br />

von R. Rocker – „einer der bedeutendsten Köpfe der<br />

internationalen syndikalistischen Gewerkschaftsbewegung“<br />

– quasi Mobilisierungscharakter habe:<br />

„Seine (Rockers) politischen, antimarxistischen, doch<br />

libertär sozialistischen Ansichten könnten ... das Fundament<br />

sein für eine freiheitliche Bewegung in Deutschland,<br />

weil ROCKERs politische Auffassungen in unverfälschtem<br />

Geist der Freiheit konsequent föderalistisch<br />

sind.“ 34<br />

Die Kritiken aus den Reihen der FFS1er an einzelnen<br />

Vorstellungen der Rocker-Konzeption gingen<br />

fast völlig unter in der Auseinandersetzung <strong>mit</strong> der<br />

Position der ‚Gruppe Bakunin‘ <strong>mit</strong> J. OldaY 35 und<br />

deren Befürworter in England und Deutschland.<br />

In der Londoner anarchistischen Zeitschrift<br />

‚Freedom‘ vom 16. August 1947 erschien von OldaY<br />

<strong>die</strong> heftigste Kritik an der Rocker-Broschüre. 36 Sein<br />

Hauptkritikpunkt war der „reformistische“ Vorschlag<br />

Rockers, in den Gemeinden aktiv zu werden.<br />

In ihm erblickte OldaY den „Versuch, <strong>die</strong> deutschen<br />

Anarchisten in den Dienst der Militärregierung<br />

zu spannen“. Denn unabhängige „Gemeinde- und<br />

Stadträte ... (gäbe) es in Deutschland unter den<br />

Besatzungsmächten nicht“. 37 Ein anderer Kritiker<br />

der kommunalpolitischen Vorstellungen Rockers<br />

sprach <strong>die</strong>sem <strong>die</strong> Originalität seiner Vorschläge<br />

ab: „<strong>die</strong> Rocker-Broschüre ... bietet ... nach meiner Beurteilung<br />

nichts Neues, schon vor zwanzig Jahren hat<br />

Pierre Ramus in viel besserer Form über <strong>die</strong> Autonomie<br />

der Gemeinden ohne Autorität geschrieben“. 38 Der<br />

deutsche Altanarchist Lothar Feldmann (England)<br />

denunzierte <strong>die</strong> „aktive Mitarbeit“ in den Gemeinden<br />

an „verantwortlichen Stellen“ und <strong>die</strong> „Beteiligung<br />

an Gemeindewahlen“ schlicht als „Reaktion“. 39<br />

An anderer Stelle wurde <strong>die</strong> Frage gestellt: „Soweit<br />

seid ihr schon gesunken, dass ihr euch <strong>mit</strong> dem kapitalistisch<br />

foederalistischen Europa zufrieden gebt?“ Und:<br />

„Ich würde an eurer Stelle schon gleich <strong>mit</strong> dem Aufbau<br />

am Kapitalismus helfen, wenn ihr ihn schon nicht untergraben<br />

wollt.“ 40 Ironisch wünschte Willi HuPPertZ<br />

„den Stadt- und Gemeinde-Aspiranten viel Glück und<br />

ebenso den Mitarbeitern in Gewerkschaften und Genossenschaften.<br />

Heil und Sieg auf dem Vulkan auf welchem<br />

sie den Tanz um das goldene Kalb <strong>mit</strong>tanzen wollen.“ 41<br />

Die von Rocker vorgeschlagene Gewerkschaftsarbeit,<br />

so ein Stuttgarter Kritiker, dürfte kaum „von<br />

Erfolg gekrönt“ sein: „Wo <strong>die</strong> Herren vom schwarzen<br />

und roten Tuch sitzen, da fliegen wir doch nur raus.“<br />

Statt Gewerkschaftsarbeit solle man lieber „Gemeinschaftssiedlungen“<br />

gründen. 42 OldaYs Kritik in ‚Freedom‘<br />

an Rockers Vorschlägen zur Gewerkschaftsarbeit<br />

komprimierte er so:<br />

„Auf der einen Seite schreibt er (Rocker) von der eisernen<br />

Maschine der Gewerkschaftsbürokratie, Zentralismus<br />

und dessen tödlicher Wirkung auf den Klassenkampf,<br />

auf einer anderen Seite befürwortet er, <strong>die</strong>sen<br />

beizutreten. Er zeigt auf, daß <strong>die</strong> F.A.U.D. damals trotz<br />

ihrer 150 000 Mitglieder nicht stark genug war, um <strong>die</strong><br />

anderen Millionen von organisierten Arbeitern zur Aktion<br />

zu bewegen, kurz darauf sagt er betreffs einer neuen<br />

Bewegung: Die Anzahl zählt nicht und glaubt, daß <strong>die</strong><br />

Wenigen von heute ihre Ideen <strong>mit</strong> Erfolg in <strong>die</strong> großen<br />

Organisationen tragen und sie beeinflussen können.“ 43<br />

Prononcierte Kritik an Rockers Gewerkschaftsvorstellungen<br />

kam aus „Berlin, Russischer Sektor“:<br />

„Wenn ersterer (Rocker) Mitarbeit in den Gewerkschaften<br />

verlangt, dann ist das abzulehnen. Mitarbeiten<br />

wollen wir nicht, aber Mitglieder wollen wir sein und<br />

auf <strong>die</strong> anderen Kollegen in unserem Sinne einwirken.<br />

Wenn Gen. F. (Feldmann, Verf.) Mitgliedschaft <strong>mit</strong><br />

Mitarbeit gleichsetzt, dann ist er auf dem Holzweg. Mitgliedschaft<br />

in den Gewerkschaften ist noch lange kein<br />

Selbstmord, sondern nach unseren Erfahrungen <strong>die</strong> einzige<br />

Möglichkeit den freiheitl. Sozialismus in <strong>die</strong> Massen<br />

zu tragen.“ 44<br />

Eigentlich, so <strong>die</strong> Schreiber aus dem Russischen<br />

Sektor realistisch, hätten „sich <strong>die</strong> Genossen in ...<br />

(den) Haare(n) wegen einer Sache, <strong>die</strong> <strong>die</strong>sen Aufwand<br />

gar nicht wert ist“. 45<br />

Carl Langer (Hamburg), Leiter der „Kulturföderation<br />

freier Sozialisten und Antimilitaristen“,<br />

verstieg sich in seiner Kritik an Rockers Positionen<br />

zu der Behauptung, „dass ehemalige Mitglieder<br />

der FAUD. sich auf Grund der RoCKer-Broschüre der<br />

KPD. angeschlossen“ hätten. 46 Unter anderem gab er<br />

deshalb an H. Rüdiger den Rat, dem „alten Senior<br />

Rocker ... (einen) Gefallen (zu) erweisen“, da<strong>mit</strong> sein<br />

„Namen sauber“ bleibe: ,,... schweigt über das was <strong>die</strong>se<br />

Broschüre hervorgerufen hat und über <strong>die</strong>jenigen <strong>die</strong><br />

Rocker, der in gutem Glauben gehandelt hat ..., solchen<br />

Quatsch berichtet haben, dass er solche Wege vorschlagen<br />

konnte. Diese Zwittergestalten haben <strong>die</strong> Broschüre<br />

als Deckmantel benutzt und sabotieren nur oder verschimpfieren<br />

unsere ganze Bewegung.“ 47<br />

Heinrich EVertZ (Düsseldorf) von den „Kommunisten-Anarchisten“<br />

stellte <strong>die</strong> Behauptung auf:<br />

„Die in den hiesigen Gebieten versuchte Parteibildung“<br />

von Anarchosyndikalisten „als Resultat der Rockerbroschüre<br />

ist ad acta gelegt worden; zwar nicht dem ei-<br />

43<br />

29) Brief von MA R T H A<br />

(WÜ S T E M A N N-LE W I N) (Paris)<br />

an H. RÜ D I G E R, o.D. (ca.<br />

Ende 1947) (Nachlaß Wüstemann;<br />

PA Degen)<br />

30) Brief von K. DI N G L E R<br />

(Göppingen) an R. Rocker,<br />

29.7.1947 (Nachlaß Rocker;<br />

IISG)<br />

31) Brief von K. DI N G L E R<br />

(Göppingen) an R. Rocker,<br />

10.9.1947 und 16.11.1947<br />

(beide Nachlaß Rocker;<br />

IISG)<br />

32) Brief von A. LE I N A U<br />

(Darmstadt) an R. Rocker,<br />

15.6.1947 (Nachlaß Rocker;<br />

IISG)<br />

33) Ebd.<br />

34) RU D O L F RO C K E R: Zur<br />

Betrachtung der Lage<br />

in Deutschland (New<br />

York, 1947), in: Lektorat.<br />

Aus Zeitungen und<br />

Zeitschriften des U.S.<br />

Information Center, Berlin<br />

(Politik, 10.7.48), S. 1<br />

35) Vgl. über J. Olday<br />

und <strong>die</strong> ‚Gruppe Bakunin‘<br />

P. Peterson: John Olday.<br />

Künstler und Kämpfer für<br />

<strong>die</strong> soziale Revolution ...,<br />

a.a.O.<br />

36) Die Zeitschrift ‚Freedom‘<br />

wurde vom Verf.<br />

nicht eingesehen.<br />

37) G. BA R T S C H: Anarchismus<br />

in Deutschland ...,<br />

a.a.O., S.113<br />

38) E.E. (Stuttgart): (ohne<br />

Titel), in: Mitteilungen<br />

deutscher Anarchisten,<br />

o.O. (London), o.D. (ca.<br />

Anfang 1948), S. (23)<br />

39) LO T H A R FE L D M A N N:<br />

(ohne Titel), in: Mitteilungen<br />

deutscher Anarchisten,<br />

o.O. (London),<br />

o.D. (Ende 1947), S. 4<br />

40) E.E (Stuttgart) ...,<br />

a.a.O.<br />

41) W.H. (WILLI HU P P E R T Z):<br />

(ohne Titel), in: Mitteilungen<br />

deutscher Anarchisten,<br />

o.O. (London),<br />

o.D. (1948), S. (13)<br />

42) E.E. (Stuttgart) ...,<br />

a.a.O.<br />

43) Zit. in: G. BA R T S C H:<br />

Schulen und Praxis des<br />

Anarchismus, Troisdorf<br />

1975, S. 195<br />

44) Aus dem Rundschreiben<br />

unserer Genossen<br />

des Ruhrgebiets, Nr. 13,<br />

o.D., in: G. Bartsch: Anarchismus<br />

in Deutschland ...,<br />

a.a.O., S.111<br />

45) Ebd.


44<br />

46) C. Langer (Hamburg)<br />

in einem offenen Brief<br />

(Liebe Kameraden!),<br />

27.9.1947 (PA Freitag)<br />

47) Brief von C. LA N G E R<br />

(Hamburg) an H. Rüdiger,<br />

31.12.1947 (Nachlaß<br />

Rüdiger; IISG)<br />

48) Zuschrift von H. EV E R T Z<br />

(Düsseldorf) an C. Langer,<br />

o.D., in: (Kulturföderation-)<br />

Rundbrief, Februar 1948,<br />

S. 3<br />

49) H. RÜ D I G E R: (ohne<br />

Titel), in: Mitteilungen<br />

deutscher Anarchisten,<br />

o.O. (London), o.D. (Ende<br />

1947), S. 9<br />

50) A. LE I N A U: (ohne Titel),<br />

in: Mitteilungen deutscher<br />

Anarchisten ..., ebd., S. 7<br />

51) W. BE N N E R: Rockers<br />

Einstellung über <strong>die</strong><br />

freiheitliche Bewegung, in:<br />

Ebd, S. 10<br />

52) Brief von F. BE N N E R<br />

(Stockholm) an R. Rocker,<br />

27.1.1948 (Nachlaß Rocker;<br />

IISG)<br />

53) Brief von F. Benner<br />

(Stockholm)<br />

an R. Rocker, 21.9.1947<br />

(Nachlaß Rocker; IISG)<br />

54) Brief von A. SO U C H Y<br />

(Mexiko) an C. Langer,<br />

Dezember 1947, in: (Kulturföderation-)<br />

Rundbrief,<br />

Januar 1948, S. 4<br />

55) „Sammelbrief“, Anfang<br />

Oktober 1947, S. 28,<br />

(Hagalund, Schweden,<br />

Hrsg: Helmut Rüdiger)<br />

56) ‚Gruppe Bakunin‘:<br />

(ohne Titel), in: Mitteilungen<br />

deutscher Anarchisten,<br />

o.O. (London),<br />

o.D. (Ende 1947), S. (3)<br />

• aus: Anarchismus in<br />

Deutschland 1945-1960<br />

– Die Föderation Freiheitlicher<br />

Sozialisten;<br />

Ulm 2002, Seite 92-105<br />

(überarbeitete und<br />

ergänzte Neuauflage in<br />

Vorbereitung)<br />

genen Antrieb folgend, als vielmehr infolge Nichtgenehmigung<br />

durch <strong>die</strong> Militärbeh(örde)“. 48<br />

H. Rüdiger war wohl der entschiedenste Verteidiger<br />

Rockers gegenüber dessen Kritikern. Er war<br />

ihm „von Herzen dankbar, dass er anstelle einer blossen<br />

Agitationsbroschüre, anstelle von allgemeinen Plattheiten,<br />

wie sie vielleicht OlDaY mehr erfreut hätte, eine<br />

soziologisch tiefschürfende Stu<strong>die</strong>“ vorgelegt hätte, <strong>die</strong><br />

„jede(r) sektiererische(n) Einstellung“ entbehre. 49<br />

A. Leinau räumte in der Diskussion ein, daß<br />

sich seit Erscheinen der Rocker-Broschüre <strong>die</strong><br />

Lage in Deutschland schon etwas geändert habe:<br />

<strong>die</strong> „Zentralisierung Deutschlands schon wieder weit<br />

fortgeschritten ist“. Das ändere aber nichts an der<br />

„grundsätzlich(en)“ Richtigkeit der Aussagen Rockers<br />

zu den Gegenwartsfragen und zu den Arbeitsfeldern<br />

für freiheitliche Sozialisten. 50<br />

Willi Benner begrüßte <strong>die</strong> Rocker-Broschüre,<br />

weil sie <strong>mit</strong> den „rein destruktiven Gedankengängen”<br />

aufräume, <strong>die</strong> noch bei vielen freiheitlichen Sozialisten<br />

vorherrschten. Die Mitwirkung am Wiederaufbau<br />

Deutschlands sei keineswegs „‚Revisionismus‘<br />

(und auch) keine `Realpolitik‘ im schlechten<br />

Sinne“. W. Benner meinte, es mache einfach keinen<br />

Sinn mehr, sich abseits der Gesellschaft zu stellen,<br />

sich gleichgültig gegenüber den „Formen ... (der)<br />

politische(n) Gestaltung seines Landes“ zu verhalten.<br />

Und das gerade auch in einer Zeit, wo <strong>die</strong> „Reaktion“<br />

schon wieder an Macht gewinne. 51<br />

Seinen Bruder FritZ Benner versetzte <strong>die</strong> Kritik<br />

OldaYs an der Rocker-Broschüre so in Rage, daß<br />

er dem „Oldayschwein ... per Rundschreiben einen auf<br />

den Deckel geben“ wollte. Er prophezeite OldaY und<br />

„ Der Anarchismus als gesellschaftspolitische<br />

Perspektive ist bei uns an seinem Ende angekommen.<br />

Viel hat er von seinem libertären Gehalt verloren.<br />

Auch ist er Spielwiese von ‚Gescheiterten‘<br />

geworden. Anarchismus ist fast nur noch ein historisches<br />

Relikt. Er ist nicht mehr Lebensentwurf<br />

und -haltung, nicht mehr selbstständiges konzeptionelles<br />

Denken und Verwirklichen.“<br />

• HA N S JÜ R G E N DE G E N - Die richtige Idee für eine falsche Welt?<br />

Perspektiven der Anarchie (S. 121)<br />

„ Das Internet schürt<br />

Freiheitsillusionen für <strong>die</strong><br />

Vielen: Indem <strong>die</strong> Individuen<br />

das Private öffentlich<br />

machen, entblößen sie sich.<br />

Dass sie es tun, ist schon<br />

Ausdruck ihres Manipuliertsein:<br />

Ausleben des Narzissmus<br />

in der kapitalgesteuerten<br />

narzisstischen Gesellschaft.<br />

Die narzisstische Massenentblößung<br />

als Ersatz für <strong>die</strong><br />

pfäffische Ohrenbeichte?<br />

Die Geständnisse (oft noch<br />

<strong>mit</strong> eigenen „Steckbriefen“)<br />

entbehren nicht religiösen<br />

Gehabes. Alles das hat <strong>mit</strong><br />

Freiheit nichts zu tun.<br />

Im Gegenteil. Wer das<br />

Private zerstört, unterwirft<br />

sich dem Diktat des<br />

Konformismus. Zugespitzt:<br />

‚Im Internet gehe<br />

ich verloren als Mensch’<br />

(Jeff Spalko).“<br />

Harpune & Torpedo •<br />

Historisches - Geschichte<br />

seinen „Brüdern“, daß sie „in eigenem Stank ersticken“<br />

würden. 52 Im übrigen hatte er <strong>die</strong> „Broschüre<br />

... <strong>mit</strong> größtem Interesse und <strong>mit</strong> äußerster Andacht<br />

stu<strong>die</strong>rt“. 53<br />

A. SouchY (Mexiko) nahm eine eigene Position<br />

subtiler Kritik der Rocker-Broschüre ein. An C.<br />

Langer schrieb er:<br />

„Deine Mitteilungen über <strong>die</strong> Wirkung der Broschüre<br />

Rudolf Rockers waren für mich sehr interessant. Ich hatte<br />

mich vor einem Jahr auch <strong>mit</strong> dem Gedanken befaßt, eine<br />

Broschüre über Deutschland, d.h. für unsere Genossen<br />

zu schreiben, ließ es aber bei einigen Artikeln bewenden,<br />

denn ich sagte mir, daß wir draußen, im Ausland, doch<br />

nicht <strong>die</strong> Lage richtig zu beurteilen imstande sind.“ 54<br />

H. Rüdiger resümierte den ganzen Konflikt um<br />

<strong>die</strong> Rocker-Broschüre als den von zwei konträren<br />

ideologischen Positionen:<br />

„Ich sehe hier in Wirklichkeit etwas anderes, eine Entwicklung,<br />

<strong>die</strong> heute durch unsere Bewegung in allen<br />

Ländern geht: <strong>die</strong> Scheidung der konstruktiv von den<br />

rein destruktiv eingestellten Geistern.“ 55<br />

Dagegen resümierte <strong>die</strong> ‚Gruppe Bakunin‘:<br />

„Rocker, Ruediger und Anhang, moegen <strong>die</strong> alten (anarchistischen,<br />

Verf.) Grundsaetze als `allgemeine demagogische<br />

Plattheiten‘ zum Kehricht werfen und sie <strong>mit</strong><br />

neuen `tiefschürfenden‘ Zusaetzen versehen.... Wir haben<br />

nichts in den neuen Richtungsweisungen entdeckt,<br />

was nicht schon ... in den Resolutionen der Bakunin Sektion<br />

der Ersten Internationale und in den Schriften der<br />

klassischen Revolutionaere enthalten war.<br />

Das Neue das uns von den Rockerianem angeboten<br />

wird, erweist sich als nichts anderes als verkappter Opportunismus.“<br />

56 •<br />

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arrikade sieben - April 2012<br />

Bücher<br />

Skorpion<br />

45<br />

Kein Befehlen – Kein Gehorchen!<br />

Der Sozialismus ist nicht nur eine Messer- und<br />

Untergang der Bewegung –<br />

Gabelfrage, er ist das Problem einer neuen<br />

der Rest rudert in Rettungsbooten bis 1933 weiter<br />

gesellschaftlichen Kultur, <strong>die</strong> auf ganz neuen Grundlage<br />

zu errichten ist, und <strong>die</strong> vor allem in den Geistern und Das – von lokalen Sondersituationen einmal abgesehen<br />

– einsetzende Abwandern der Massen zu<br />

Herzen Wurzeln schlagen muss. – RU D O L F RO C K E R, 1931<br />

Es geht um eine „marginale“ Bewegung? Aber <strong>die</strong> konkurrierenden sozialrevolutionären Organisationen<br />

ab 1920/21 wird von DÖhring ebensowenig<br />

Geschichte der anarchosyndikalistischen Jugendbewegung<br />

ist m.E. ebenso „marginal“ wie <strong>die</strong> der ausreichend erklärt, wie er seine Vermutungen<br />

DKP-Jugend oder <strong>die</strong> der Jungliberalen der FDP. über den Mitgliederschwund (S. 234 ff) der AS-<br />

Im Gegensatz zu den beiden Partei-Jugendorganisationen<br />

waren <strong>die</strong> syndikalistisch-anarchistischen kann. Ursache dafür ist <strong>die</strong> Tatsache, daß hierzu<br />

Bewegung ab 1923 bei jung wie alt untermauern<br />

Jugendlichen der SAJD (ab 1922 reichsweit zusammengeschlossen)<br />

der Weimarer Zeit jedoch viel au-<br />

Statistiken vorliegen.<br />

keine wirklich fun<strong>die</strong>rten Untersuchungen oder<br />

tonomer von der FAUD/AS als es den erwachsenen Meine Auffassung ist, daß es nicht allein organisatorische<br />

Mängel gewesen sind, ich vermute eher<br />

Gewerkschaftsgenoss[inn]en gefallen hat. Sie wollten<br />

eine Gewerkschafts-FAUD-Jugend. Dazu gaben massen- und sozialpsychologische Gründe für das<br />

sich <strong>die</strong> deutschen Jugendlichen ebensowenig her, massenhafte Ausscheiden. Passiver Austritt aufgrund<br />

fehlender Beitragszahlungen in der aufkom-<br />

wie zeitlich etwas später <strong>die</strong> jungen Erwachsenen,<br />

<strong>die</strong> auf der iberischen Halbinsel <strong>die</strong> FIJL – <strong>die</strong> Iberische<br />

Föderation der Libertäre Jugend – 10 Jahre später Rheinlandbesetzung seitens französischer Truppen<br />

menden Wirtschaftskrise (u.a. verursacht durch <strong>die</strong><br />

gründeten. Und zwar als eigenständige libertäre zur Erzwingen der Reparationszahlungen aufgrund<br />

des verlorenen I. Weltkrieges; <strong>die</strong> Weltwirt-<br />

Organisation <strong>mit</strong> eigenen Vorstellungen.<br />

Übrigens machten beide Organisationen – <strong>die</strong> schaftskrise von 1929 deutete sich ebenfalls bereits<br />

FIJL wie auch <strong>die</strong> SAJD – <strong>die</strong> gleichen Geburtswehen<br />

der ideologischen Klärung – libertär oder gewesen sein. Denn bei den anderen Bewegungen<br />

an) kann nicht der einzige oder wesentliche Grund<br />

klassenkämpferisch – durch. Die FIJL entstand erst und Parteien (kommunistisch oder unionistischen<br />

1932 nach der Primo de RiVera-Dikatur; <strong>die</strong> deutsche<br />

Bewegung hatte bereits früher Jugendgruppen werden. Und <strong>mit</strong> der Einstellung der Hauskassie-<br />

Organisationen) mußten ja auch Beiträge gezahlt<br />

und in der Zeit des I. WK entstanden neue, große rung brach sicherlich der Kontakt zu den einfachen<br />

Jugendorganisationen, <strong>die</strong> sich klar und unmißverständlich<br />

antimilitaristisch positionierten (wie Gewerkschaftslokalen, in den Betrieben, in den Er-<br />

Mitgliedern ab, aber wurde nicht weiterhin in den<br />

z.B. <strong>die</strong> Hamburg-Altonaer Freie Jugend), <strong>die</strong> vom werbslosen-Versammlungen kassiert?<br />

Kaiserreich bespitzelt und zerschlagen wurden. Sie Die Passivität muß ihre Ursachen haben. Warum<br />

waren übrigens <strong>die</strong> Keimzelle der späteren linksradikalen<br />

Organisationen.<br />

so desinteressiert und nicht aktionsbereit? Hierzu<br />

aber waren <strong>die</strong> »Massen« nach dem Kapp-Putsch<br />

Auf der iberischen Halbinsel<br />

liefert DÖhring keine ausreichende Erklärung; sie<br />

wäre aber für das Gesamtverständnis des Scheitern<br />

„ist unbestritten, daß es bereits zuvor Jugendgruppen<br />

im Umkreis von CNT-FAI gegeben hatte. Der<br />

der deutschen Revolution so dringend erforderlich.<br />

– Vielleicht lag es ‚einfach’ daran, daß nach der gescheiterten<br />

Novemberrevolution 1918/19 nur für<br />

Gründungskongreß der FIJL fand vom 18. bis zum<br />

22. August 1932 in Madrid statt, wobei vor allem Delegationen<br />

aus Granada, Valencia, Madrid und Bar-<br />

wenige Jahre noch genügend revolutionärer Elan<br />

in größeren Teilen der Arbeiterbewegung steckte,<br />

celona teilnahmen. Mit <strong>die</strong>ser Versammlung beginnt<br />

der aber dann verebbte, als sich das kapitalistischbürgerliche<br />

System wieder gefestigt hatte; <strong>die</strong> Zei-<br />

<strong>die</strong> Geschichte der FIJL, da dort <strong>die</strong> PrinziPienerKlÄrunG<br />

verabschiedet wurde, <strong>die</strong> in den Mitgliedsausweisen<br />

stand und <strong>die</strong> das Verhalten der Organisation<br />

ten für Umstürze und Putschversuche – ob kommunistisch<br />

oder rechtsradikal (Kapp-Putsch 1920,<br />

während des Bürgerkriegs und des Exils leiten sollte.<br />

Mitteldeutscher Aufstand 1921 und Hamburger<br />

Jedoch entwickelte sich nicht alles harmonisch und Aufstand 1923) – endgültig endete und das Blut der<br />

ohne Probleme. Von Anfang an gab es zwei Strömungen,<br />

oder Einschätzungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Organisationsform<br />

Proleten nicht mehr so „hochkochte“.<br />

betrafen: Diejenigen, <strong>die</strong> der Meinung waren, daß <strong>die</strong> Daß <strong>die</strong> FAUD aus einer syndikalistischen Bewegung<br />

inhaltliche durch ihre Hinwendung bzw.<br />

LiBertÄre JuGenD, genauso wie <strong>die</strong> Ateneos [Anm.<br />

des Rezensenten: Libertäre Kultur- und Stadtteilzentren],<br />

Abteilungen für Bildung und Propaganda inmus<br />

durch den Zusatz „AS“ im Jahre 1922 eine Fehl-<br />

ideologische Entwicklung zum Anarchosyndikalisnerhalb<br />

der FeDeraCiÓn AnarQuista IBÉriCa (FAI) entwicklung durchlief – wie DÖhring anmerkt (S.<br />

sein sollten und <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> neue Jugendbewegung<br />

eine komplette Autonomie in Anspruch entwickelte sich aus der rein syndikalistischen Be-<br />

238), vermag ich nicht nachzuvollziehen. Generell<br />

nahmen, um <strong>die</strong> Probleme unabhängig von den anderen<br />

Organisationen bewerten zu können und unter organisationen der IAA angehörten, eine ‚politisch‘<br />

wegung in allen Ländern, in denen Gewerkschafts-<br />

Jugendlichen und Studenten eigenständig tätig werden<br />

zu können.“ 1 dem Ziel eines libertären Kommunismus. Die<br />

viel klarer definierter Anarchosyndikalismus <strong>mit</strong><br />

Ur-<br />

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426 Seiten – 14,- €uro<br />

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(1) SA L V A D O R GU R U C H A R R I y<br />

TO M Á S IB Á Ñ E Z - Insurgencia<br />

Libertaria. Las Juventudes<br />

Libertarias contra<br />

la dictadura franquista,<br />

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46<br />

(2) HA R T M U T RÜ B N E R<br />

– Rezension in: IWK<br />

4/06: „Anstatt <strong>die</strong><br />

syndikalistische Bewegung<br />

als integralen Bestandteil<br />

der Rätebewegung und<br />

als eine Unterströmung<br />

einer breit gefächerten<br />

unionistischen<br />

Arbeiterbewegung in<br />

der Weimarer Republik<br />

einzuordnen, wird sie<br />

lediglich als isoliertes<br />

Phänomen betrachtet.“<br />

(Seite 539)<br />

(3) AN T O N PA N N E K O E K<br />

– trat 1921 der CPN-<br />

Linksabspaltung,<br />

der Kommunistische<br />

Arbeiterpartei der<br />

Niederlande (KAPN) bei;<br />

In seinem Artikel Der<br />

deutsche Syndikalismus<br />

schreibt er: „Nur wer<br />

wie der Syndikalismus<br />

das Symptom für <strong>die</strong><br />

Ursache hält, kann<br />

glauben, dass durch<br />

einfache Beseitigung<br />

der Zentralisation und<br />

der Führermacht <strong>die</strong><br />

alte Angriffskraft wieder<br />

hergestellt wird. Schlimmer<br />

noch; da<strong>mit</strong> würde<br />

gerade das Gegenteil<br />

erreicht werden.“ Presse<br />

Korrespondenz der<br />

„Bremer Bürgerzeitung“<br />

vom 29.11.1913<br />

(4) Der Syndikalist, 14. Jg.<br />

(1932), Nr. 15<br />

(5) KA R L RO C H E – Die<br />

Menschen fehlen! in: Die<br />

Internationale, Jahrgang 2,<br />

Heft 1, November 1928<br />

(6) Brief RO C K E R an HE L M U T<br />

RÜ D I G E R – 22.7.1933 (IISG)<br />

(7) HA R T M U T RÜ B N E R<br />

– Linksradikalismus<br />

in der aktuellen<br />

Geschichtsschreibung.<br />

Teil 1: Der heimatkundige<br />

Anarchosyndikalismus in:<br />

Gegner Zeitschrift gegen<br />

Politik (Nr. 22/ April 2008,<br />

Seite 33)<br />

sache dafür ist sicherlich der Zusammenbruch der<br />

französischen CGT bzw. ihrer Übernahme und<br />

Unterordnung unter <strong>die</strong> KP Frankreichs (allein <strong>die</strong><br />

italienische USI versteht sich bis heute als revolutionär-syndikalistisch);<br />

auch <strong>die</strong> Gründungen der<br />

Kommunistischen Parteien trugen <strong>mit</strong> zu <strong>die</strong>ser<br />

ideologischen Klärung bei.<br />

Diese These, <strong>die</strong> den rein syndikalistischen Standpunkt<br />

DÖhrings zu verteidigen scheint, vertritt u.a.<br />

der Politikwissenschaftler SchÖttler, der den rapiden<br />

Mitgliederschwund der FAUD/S auf „<strong>die</strong> auch<br />

in der Namensgebung vollzogene Verschmelzung des<br />

Syndikalismus <strong>mit</strong> dem Anarchismus („Anarchosyndikalismus“)“<br />

verantwortlich macht. Wie DÖhring<br />

halte ich <strong>die</strong>se Position für falsch was <strong>die</strong> FAUD/AS<br />

angeht. Der Syndikalismus wurde seitens der SPD<br />

bereits seit Jahrzehnten als „Anarcho-Sozialismus“<br />

abwertend und verächtlich tituliert. Für <strong>die</strong> SAJD<br />

gilt <strong>die</strong>s umsoweniger, als sie „eine größere Toleranz<br />

in der Zusammenarbeit … besonders <strong>mit</strong> der Jugend der<br />

unionistischen Vereinigungen“ der AAU und AAUE<br />

vertrat (S. 248). Diese weniger ‚sektiererische‘ Haltung<br />

übernahm später auch <strong>die</strong> FAUD/AS bei den<br />

entsprechenden regionalen und lokalen Kartellbildungen<br />

der antiautoritären Revolutionäre.<br />

Natürlich hatte <strong>die</strong> idelogisch klarere Ausrichtung<br />

Konsequenzen: Aufgabe der Betriebsrätsmandate,<br />

Rausschmiß von Partei- und Kirchen<strong>mit</strong>gliedern.<br />

Und so kam es, daß „<strong>die</strong> in Massen der<br />

Organisation beitretenden Neu<strong>mit</strong>glieder zu 90 Prozent<br />

nicht integriert werden konnten“. (S. 238). Die FAUD/<br />

AS sank auf knapp 30.000 Mitglieder im Jahre 1923<br />

– <strong>die</strong> SAJD von 4.000 (1925) auf 3-500 Mitglieder<br />

Anfang der Dreißiger Jahre, „wofür sehr unterschiedliche<br />

Faktoren auf ökonomischer, politischer, kultureller<br />

und juristischer Ebene maßgebend und begünstigend<br />

waren.“ (S. 241)<br />

Eine andere These – <strong>die</strong> MaX Nettlau in Band<br />

VI seiner GesCHiCHte Der AnarCHie vertritt – besagt,<br />

daß es allein nur deshalb zur Gründung der<br />

FAUD/S 1919 im Ruhrgebiet kam, weil <strong>die</strong> sich vereinigende<br />

syndikalistische FVdG und verschiedene<br />

kommunistische Arbeiter-Unionen auf <strong>die</strong> Position<br />

der „Diktatur des Proletarias“ verständigen konnten.<br />

Diese Position wurde maßgeblich von Karl Roche<br />

aus Hamburg vertreten – und u.a. von Rudolf<br />

Rocker bekämpft. Vielleicht lag es auch an <strong>die</strong>ser<br />

Auseinandersetzung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Bewegung schwächte<br />

und zur Abwanderung der »Massen« zu linkskommunistischen<br />

Gruppen oder eben direkt zur<br />

KPD führten. Nachdenklich sollte DÖhring auch<br />

stimmen – was er ja selbst erforscht hat (siehe u.a.:<br />

DÖhring: Da<strong>mit</strong> in Bayern Frühling werde! 2007), daß<br />

nach dem II. Weltkrieg auch weiterhin führende<br />

FAUD-Genossen in <strong>die</strong> KPD eintraten ...<br />

Da <strong>die</strong> Arbeitermassen 1919 bis 1923 ja nun<br />

nicht der bürgerlichen Schicht angehörten, ist<br />

es zwar unverständlich, aber das Bedürfnis vieler<br />

Arbeiter~innen, endlich in „der Gesellschaft“<br />

des bürgerlichen Systems der Weimarer Republik<br />

(immerhin war ein Kaiser verjagt worden und es<br />

herrschte/regierte eine SPD-Regierung) anzukommen<br />

und als „Bürgerprolet“ ernst genommen und<br />

juristisch anerkannt zu werden (<strong>die</strong> Gewerkschaften<br />

wurden als Organisationen erst durch das<br />

Hilfs<strong>die</strong>nstgesetz von 1916 notgedrungen seitens<br />

des kaiserlich-bürgerlichen Staats anerkannt und<br />

<strong>mit</strong> Vorläufern der Betriebsräte für <strong>die</strong> Verwaltung<br />

Bücher │ Skorpion • Rezensionen<br />

der Arbeitskräfte und der Lebens<strong>mit</strong>telversorgung<br />

offiziell zu Verhandlungspartnern der Kapitalisten<br />

und des Staates) – dürfte ein weiterer wichtiger<br />

Grund gewesen sein. Denn das war mehr als sich<br />

manch’ sozialdemokratischer Arbeiter vorstellen<br />

konnte. Und <strong>die</strong> meisten „Revolutionäre“ kamen<br />

eben aus der reaktionären SPD und viele kehrten<br />

zu ihr zurück.<br />

Wer sich von <strong>die</strong>ser Betrachtungsweise der historischen<br />

Entwicklung zum Sozialismus à la rechte<br />

MSPD lossagte, war längst Sozialrevolutionär, syndikalistisch<br />

oder anarchistisch (ich erinnere nur an<br />

Johann Most) überzeugt – <strong>die</strong> meisten anderen<br />

wurden erst nach dem Stahlgewitter des I. Weltkrieges<br />

„Kommunist“. 2<br />

Wichtig ist bestimmt auch, daß der ‚Verrat‘ bei<br />

den älteren Genossen weniger schwer wirkte als<br />

bei den aus dem Massenmorden des Weltkrieges<br />

heimgekehrten oder zur Rüstungsindustrie abkomman<strong>die</strong>rten<br />

und zwangsverpflichteten jungen<br />

Arbeitern.<br />

Es ist ein Unterschied, ob mensch [hier meist<br />

immer noch eigentlich ‚Mann‘] sich in einer revolutionären,<br />

gärendenden, aus dem Kriegschaos<br />

entstandenen gesellschaftlichen Situation, <strong>die</strong> eine<br />

wirkliche revolutionäre Veränderung möglich erscheinen<br />

läßt – sich engagiert oder eben in konsoli<strong>die</strong>rten<br />

gesellschaftlichen Verhältnissen weiterhin<br />

„gegen den Ozean anpfeifen“ (TucholskY) will. Rudolf<br />

Rocker sagte bereits um 1920, daß <strong>die</strong> Zeit<br />

der Aufstände und Putsche und der Revolution<br />

beendet sei, weil es aussichtslos wäre, gegen einen<br />

neuerstarkten Militarismus preußischer Prägung<br />

anzurennen – das wäre Selbstmord und würde nur<br />

in einem Schlachthaus enden. Die Konsequenz daraus<br />

dürfte für viele gewesen sein, na, dann kann ich<br />

ja gleich zu den Reformisten der KP oder Sozialdemokraten<br />

gehen, <strong>die</strong> einen krakelen noch lauthals<br />

revolutionär herum, während sich <strong>die</strong> anderen um<br />

ihre Genoss~innen „sorgen“ – <strong>mit</strong> Konsum- und<br />

Wohnungsbau-Genossenschaften, Partei, Gewerkschaft,<br />

Arbeitersport; ein auskömmliches Leben<br />

war‘s vielleicht nicht – aber man setzte nicht jeden<br />

Tag sein Lebens und da<strong>mit</strong> das der eigenen Frau<br />

und Kinder aufs Spiel.<br />

* * *<br />

Wie perfide das sozialdemokratische Spielchen<br />

<strong>mit</strong> den restlichen, nicht liqui<strong>die</strong>rten Revolutionären<br />

in den Betrieben und der Erwerbslosigkeit<br />

funktionierte, beschreibt DÖhring ausgezeichnet<br />

an knappen Beispielen. Dieser Bruch der Klassensolidarität<br />

seitens der SPD brachte nur der KPD<br />

und den Nazis regen Zulauf. Hier wird der Bogen<br />

deutlich, wie aus enttäuschter Hingabe zur Revolution<br />

auch schnell Konterrevolution werden kann.<br />

Denn es besteht wohl kein Zweifel darüber, daß<br />

Nazis und Kozis (so wurden <strong>die</strong> KP-Mitglieder auch<br />

genannt) allein den Sozis den Rang abliefen, weil<br />

sie neue Futtertröge und Pöstchen anzubieten hatten,<br />

<strong>die</strong> bei den anderen »Arbeiter-Parteien« längst<br />

besetzt waren. Und das <strong>die</strong> »Massenpsychologie<br />

des Faschismus« auch für <strong>die</strong> Kozis gilt, wissen wir<br />

längst: Kadavergehorsam war dort ebenso oberste<br />

Pflicht wie bei den Nazis. Erstere wurden zusätzlich<br />

durch Kaderschulungen gequält und politisch<br />

‚neutralsiert’, sie machten jede politische (Kehrt-)<br />

Wendung ihrer Partei <strong>mit</strong>, elender konnte man als<br />

Prolet seine Gesinnung eigentlich nicht verraten.


arrikade sieben - April 2012<br />

Wo sich <strong>die</strong> Masse der 150.000 ehemaligen Mitglieder<br />

der FAUD/S später organisiert haben, ist<br />

nicht nachweisbar … dazu fehlt einfach statistisches<br />

Material (wer hätte das auch erstellen sollen – <strong>die</strong><br />

„freien“ Gewerkschaften haben sicherlich ‚Buch‘<br />

über <strong>die</strong> erzwungenen oder freiwilligen Übertritte<br />

ehemals ‚feindlicher Brüder‘ penibel aufgezeichnet,<br />

aber ich kenne keine Arbeit darüber – ebenso wie<br />

es kein echtes Material von Überläufen von Kozis<br />

zu Nazis oder von der FAUD zu AAUD/E regional<br />

oder reichsweit gibt).<br />

Ganz wichtig ist mir, herauszuarbeiten, daß <strong>die</strong><br />

sozialdemokratische Führung und ihre Funktionäre<br />

durch ihren neuerlichen Verrat an andersdenkenden<br />

Arbeiter~innen eine verflucht dicke Schuld auf<br />

ihre Schultern geladen hat. Diese verbrecherische<br />

Haltung gegenüber den verbliebenen revolutionären<br />

Klassengenossen ist noch immer ungesühnt.<br />

* * *<br />

Am Rande sei hier noch erwähnt, daß der<br />

Historiker und selbsternannte Pabst der AS-<br />

Forschung Hartmut Rübner (Freiheit und Brot, 1994)<br />

der Auffassung ist, daß der „Syndikalismus nur<br />

eine Untergliederung des Unionismus“ 3 sei. Daß<br />

es kaum dümmer und einfältiger geht, beweist<br />

<strong>die</strong> Tatsache, daß <strong>die</strong> linkskommunistischen<br />

Strömungen innerhalb der SPD bis 1917<br />

(LiCHtstraHlen, Berlin und ArBeiterPolitiK,<br />

Bremen) keinerlei syndikalistische Tendenzen<br />

hatten, beide lehnten <strong>die</strong> Freie VereiniGunG Der<br />

DeutsCHen GewerKsCHaFten/FVdG – sozialistischlokalistische<br />

Gewerkschaften seit 1897 ab, deren<br />

Bruch <strong>mit</strong> der SPD politisch wie organisatorisch<br />

bereits endgültig 1906 (Massenstreikdebatte)<br />

erfolgte. Diese Linken brachen erst <strong>mit</strong> „ihrer“ Partei<br />

nach der Kriegs- und ‚Burgfrieden’-Politik der SPD<br />

oder gar erst nach der Novemberrevolution 1918/19<br />

und sprangen erst jetzt auf den unionistischen<br />

Zug auf (siehe dazu Pannekoek und seine<br />

ablehnende Haltung gegenüber dem „deutschen<br />

Syndikalismus“ von 1913 4 ) und entwickelten<br />

aus der spontanen Rätebewegung ihre Ideologie<br />

des Rätekommunismus, in den dann auch<br />

syndikalistische Ideen und Konzepte eingeflossen.<br />

Der 19. und da<strong>mit</strong> letzte Kongreß der FAUD im<br />

Jahre 1932 erklärte: „<strong>die</strong> FAUD steht nach wie vor<br />

auf der Grundlage ihrer Prinzipienerklärung des Jahres<br />

1919; sie sieht in revolutionärer Gewerkschaftsarbeit<br />

und fortschreitender Erweiterung der ökonomischen<br />

Einflußsphäre der Arbeiterschaft durch direkte Aktion<br />

den Weg zum Kampfe gegen <strong>die</strong> faschistische Gefahr,<br />

politische Unterdrückung überhaupt und jede Form<br />

der wirtschaftlichen Ausbeutung (...) Sie bekämpft das<br />

System der Klassengesellschaft in allen Formen.“ 5<br />

* * *<br />

Einige etwas andere Erklärungsmuster<br />

Denn <strong>die</strong> zu schnellen Bewunderer und <strong>die</strong> plötzlich<br />

Überzeugten sind selten das Salz der Erde<br />

– B.TraVen, ₁₉₁₉<br />

Natürlich ist es richtig, wenn DÖhring als Erklärung<br />

für <strong>die</strong> Defizite der Anarchosyndikalisten<br />

wie der syndikalistisch-anarchistischen Jugend Rudolf<br />

Rocker zitiert, ‚<strong>die</strong> Zeit habe nicht ausgereicht,<br />

um genügend Genossinnen und Genossen in kürzester<br />

Zeit zu geschulten und ausgebildeten Kadern zu haben‘<br />

(S. 238), der es bedarf, um eine Massenbewegung<br />

von 150.000 Mitgliedern politisch-ideologisch „auf<br />

Kurs“ zu bringen und so <strong>die</strong> sozialrevolutionären<br />

Inhalte des Anarchosyndikalismus zu verankern<br />

und fest zu vertäuen. Oder wie Karl Roche sagte:<br />

Es den Genossen „in <strong>die</strong> Hirne zu hämmern!“ oder<br />

auch resigniert festzustellen: „uns fehlen <strong>die</strong> Menschen,<br />

weil <strong>die</strong> Menschen fehlen“ 6 – ‚fehlen‘ kann hier<br />

sicherlich auch im doppelten Sinne von verfehlen,<br />

scheitern, interpretiert werden.<br />

Deshalb sei an den Satz Rudolf Rockers erinnert,<br />

der seine eigenen Überlegungen zum Niedergang<br />

der FAUD/SAJD kurz und präzise zusammenfaßt:<br />

»Organisation ist eine notwendige Sache, aber<br />

wenn darüber der Geist und der Impuls des Handelns<br />

erstickt wird, so ist sie schädlich. Das hat Deutschland<br />

erfahren müssen in <strong>die</strong>ser schweren Zeit. Man<br />

hat dort lediglich organisiert, um alles auf eine bestimmte<br />

Norm zu bringen und verlor dabei <strong>die</strong> Beweglichkeit<br />

und <strong>die</strong> Initiative des Handels.« 5<br />

Wer <strong>die</strong> eigenen Genossinnen und Genossen<br />

nicht schult, der verliert. Es sollen keine stromlinienförmigen,<br />

JA-sagenden Kader gezüchtet werden.<br />

Es soll vielmehr der „neue Mensch“ (Roche sprach<br />

vom ganzheitlichen „Kulturmenschen“) gefördert<br />

und befähigt werden, lebenslang einen selbständigen,<br />

eigenen Weg als Klassenkämpfer zu gehen.<br />

Durch Bildungsmaßnahmen und Selbstschulung<br />

sollten wir uns in <strong>die</strong> Lage versetzen, allein und in<br />

unseren Gruppen (Gewerkschaften und Kollektiven),<br />

unserem Umfeld, eigene Positionen zu entwickeln<br />

und Meinungen zu vertreten, <strong>die</strong> <strong>mit</strong> unseren<br />

Ideen bzw. den Überzeugungen des libertären<br />

Kommunismus im Einklang stehen. Nur mündige<br />

Genoss~innen sind kein Stimmvieh.<br />

Aber Organisation ist eben auch nicht alles – vor<br />

allem ist es auch sehr deutsch. Wer eine Gesellschaft<br />

nach dem Vorbild des preußisch-militaristischem<br />

‚Kriegssozialismus’ organisieren will (wie <strong>die</strong> SPD<br />

unter EBert & Noske) – oder nach dem Vorbild der<br />

Reichsbahn (wie Lenin), der endet möglicherweise<br />

<strong>mit</strong> seiner Politik in Auschwitz oder an der Rampe<br />

eines stalinistischen GuLag.<br />

Die von DÖhring angesprochenen Überläufer<br />

der SAJD/FAUD zu den Stalinisten machen sehr<br />

deutlich, daß Schulungen (also Bildung und Qualifizierung<br />

auf Kosten der Organisation) für einige<br />

schlagfertige und begabte Genoss~innen allein<br />

nicht ausreichend ist. Sie wollen entlohnt werden<br />

Äußerst informativ<br />

und lesenswert!<br />

47<br />

HE L G E DÖ H R I N G -<br />

Mutige Kämpfergestalten<br />

- Syndikalismus in<br />

Schlesien 1918 bis 1930<br />

Edition AV, März 2012<br />

ISBN 978-3-86841-064-8<br />

120 Seiten, 12 €<br />

Kundgebung der<br />

SC H W A R Z E N SC H A R<br />

in Ratibor im März 1929


48<br />

Bücher │ Skorpion • Rezensionen<br />

für ihre Entbehrungen als Agitator, Schriftsteller<br />

oder Redakteur einer Zeitung, sie wollen belohnt<br />

werden; letztlich wünschen sie sich Privilegien, <strong>die</strong><br />

sie über <strong>die</strong> einfachen Mitglieder der Bewegung in<br />

den Betrieben als Funktionäre erheben. Wie „wir“<br />

<strong>die</strong>se persönlichen Eitelkeiten und Machtgelüste in<br />

den Griff bekommen – das ist mir leider auch nach<br />

über 35 Jahren in unserer kleinen Bewegung ein<br />

Rätsel …<br />

* * *<br />

Ein hervorragendes Lesebuch, aber ebenso auch<br />

ein klassisches Lehrbuch für junge Genossinnen<br />

und Genossen, <strong>die</strong> sich in <strong>die</strong> Geschichte der klassenkämpferischen<br />

libertären Jugend Deutschlands<br />

einarbeiten wollen.<br />

Geradezu bewunderswert ist „<strong>die</strong> distanzlose Affinität“<br />

gegenüber dem Gegenstand seiner Untersuchung,<br />

<strong>die</strong> DÖhring an den Tag legt. „Sein wissenschaftlicher<br />

Anspruch“ (beides ‚Kritikpunkte’ von<br />

RüBner) soll eben nicht ein intellektuell-wissenschaftliches<br />

Publikum zufriedenstellen, sondern<br />

junge Linksradikale und Anarchistinnen erreichen<br />

und vom klassenkämpferischen Anarchosyndikalismus<br />

überzeugen.<br />

Mit <strong>die</strong>sem Buch kann man neue Genossinnen<br />

und Genossen gewinnen, vom anarchistischen<br />

Klassenkampf auf kollektiver Grundlage überzeugen.<br />

Und nochmals, DÖhring beweist, daß „im Gegensatz<br />

zu den linkskommunistischen Bewegungen [ist]<br />

<strong>die</strong> Geschichte der anarchosyndikalistischen ‚Freien Arbeiter-Union<br />

Deutschlands’ inzwischen längst kein Geheimnis<br />

mehr“ ist (ein weiterer Vorwurf RüBners 7 ),<br />

hält <strong>die</strong>ser anmaßenden Kritik, <strong>die</strong> ihm anhand seiner<br />

bisherigen Bücher über unsere Bewegung „profunde<br />

Ahnungslosigkeit“ bescheint, den Spiegel vor:<br />

• Band 1 beschreibt <strong>die</strong> Entwicklung der SAJD von<br />

1918 bis 1933 und ergänzt <strong>die</strong>se Geschichtsschreibung<br />

durch sechs ausführliche Porträts fünf führender<br />

SAJD-Genossen und der Genossin Anni Zerr.<br />

Im Abschnitt Treffen der Generationen finden sich<br />

Nachrufe und Erzählungen über Begegnungen <strong>mit</strong><br />

acht Altgenossen, <strong>die</strong> den Faschismus überlebten.<br />

• Band 2 widmet sich dann dem Kapitel Jugend nach<br />

1945 und Ausblick vor allem der Gründung und den<br />

Zielen der Anarchosyndikalistischen Jugend seit 2009.<br />

• Allein auf einhundert Seiten werden im Band 3<br />

historische Satzungen, Grundsatzerklärungen und<br />

Zeitungsartikel ebenso dokumentiert wie aktuelle<br />

Texte der seit einiger Zeit aktiven ASJ-Gruppen –<br />

Anarchosyndikalistische Jugend, <strong>die</strong> sich als eigenständige<br />

Organisation nahe zur FAU verstehen.<br />

Die von DÖhring aufgezählten 13 Eckpunkte der<br />

Erneuerung einer syndikalistisch-anarchistischen Jugendbewegung<br />

(S. 273 f) kann ich aus eigener Erfahrung<br />

vollständig unterschreiben, denn <strong>die</strong>se gelten<br />

für jede sozialrevolutionäre Bewegung oder Organisation,<br />

<strong>die</strong> ernst genommen werden will, egal ob<br />

jung oder alt.<br />

Organisiert Lesekreise und öffentliche Lesungen<br />

<strong>mit</strong> dem Genossen DÖhring, das meiner Meinung<br />

nach für jeden Jugendlichen erschwinglich sein sollte,<br />

denn das über 400 Seiten vollfette Buch kostet<br />

nur schlappe 14 Euro, das ist sicherlich der uneigennützigen<br />

Unterstützung des Berner Apropos-Verlages<br />

(fast <strong>die</strong> komplette ging an der AS-Me<strong>die</strong>nvertrieb<br />

Syndikat-A in Moers) und der unentgeltlichen Arbeit<br />

des Autors und der Gestalter geschuldet, denen<br />

ich hier<strong>mit</strong> ‚unseren Dank’ dafür aussprechen<br />

möchte. • fm<br />

Nachbemerkung: Der Rudolf Rocker-Rechteherr<br />

Heiner Becker hat Helge DÖhring „strafbewehrt“<br />

per Unterlassungserklärung verboten, eigenständige<br />

Texte Rockers zur Jugend abzudrucken (S. 22).<br />

Auch das sollten wir uns merken.<br />

Müllers Novemberrevolution<br />

RI C H A R D MÜLLER<br />

Eine Geschichte der<br />

Novemberrevolution<br />

Neuausgabe der Bände<br />

„Vom Kaiserreich zur<br />

Republik“, „Die Novemberrevolution“,<br />

„Der Bürgerkrieg in<br />

Deutschland“<br />

756 Seiten - 19,95 plus<br />

Porto = 21,85 Euro<br />

DieBuchmacherei@web.de<br />

Mit einer Einleitung zur Neuausgabe von Ralf<br />

Hoffrogge, Berlin 2011, 755 Seiten Broschur, <strong>mit</strong><br />

zahlreichen Fotos und Faksimiles.<br />

I.<br />

Richard Müller, der Mann <strong>mit</strong> dem Allerweltsnamen,<br />

war Metallarbeiter (Dreher) und eine der<br />

wichtigen Personen der Revolution von 1918. Als<br />

Vorsitzender der Revolutionären Obleute der Berliner<br />

Metallbetriebe – einer bemerkenswerten Organisation<br />

der Metallarbeiterschaft der Berliner Großbetriebe,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Notwendigkeiten der illegalen<br />

Arbeit unter dem Ausnahmezustand des 1. Weltkrieges<br />

<strong>mit</strong> einer strikten basisdemokratischen Entscheidungsstruktur<br />

erfolgreich kombinierte – saß<br />

er an der zentralen Schaltstelle der großen Streiks<br />

während des 1. Weltkrieges (1916, 1917, 1918). Die<br />

Revolutionären Obleute, und <strong>mit</strong> ihnen ihr Sprecher<br />

Richard Müller, spielten in der Vorbereitung<br />

und Durchführung der Revolution von 1918 ein<br />

weitaus wichtigere Rolle als etwa der (sowohl von<br />

parteikommunistischer wie konterrevolutionärer<br />

Seite) ziemlich überbewertete Spartakusbund um<br />

Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wobei sich<br />

beide Gruppierungen politisch durchaus nahe<br />

standen und der Spartakusbund inhaltlich einiges<br />

zur Radikalisierung der Obleute beitrug. Trotzdem<br />

lehnten <strong>die</strong> Obleute den Beitritt zur Silvester 1918<br />

gegründeten KPD wegen der mangelnden Verankerung<br />

der neuen Partei in den Betrieben ab und<br />

verblieben in der USPD.<br />

Daß <strong>die</strong> Revolutionäre in Berlin im November<br />

1918 von der Matrosenrevolte in Kiel bei ihrer Planung<br />

des bewaffneten Aufstandes überrascht und<br />

überrollt wurden, zeigt allerdings, daß Revolutionen<br />

doch eher spontan ausbrechen. Trotzdem hatte<br />

<strong>die</strong> Planung etwas für sich, denn sie verlieh der<br />

Revolte zumindest in Berlin zeitweise eine Richtung.<br />

Als Vorsitzender des Vollzugsrates der deutschen<br />

Arbeiter- und Soldatenräte in den ersten Wochen<br />

der Revolution war Richard Müller sogar Oberhaupt<br />

des Deutschen Reiches, das sich für kurze<br />

Zeit eine »Sozialistische Republik« nannte (wo<strong>mit</strong><br />

er der Nachfolger von Kaiser Wilhelm II. und Vorgänger<br />

des Reichspräsidenten Friedrich Ebert war)<br />

– der einzige revolutionäre Sozialist, der jemals in<br />

Deutschland solch eine Position innehatte.<br />

Als wichtiger Rätetheoretiker ist Müller in der<br />

zweiten Phase der Revolution in Erscheinung getreten,<br />

<strong>mit</strong> der von ihm und Ernst Däumig herausgegebenen<br />

Zeitschrift »Der Arbeiterrat«. Kurzfristig<br />

gehörte er der Zentrale der Vereinigten Kommu-


arrikade sieben - April 2012<br />

nistischen Partei Deutschlands (VKPD) an, zu der<br />

er Ende 1920 <strong>mit</strong> der USPD-Linken kam. 1921 war<br />

Richard Müller Delegierter auf dem III. Kongreß<br />

der Kommunistischen Internationale (KI) und der<br />

parallel dazu stattfindenden Gründung der Roten<br />

Gewerkschafts-Internationale (RGI). Er wurde aber<br />

schon Anfang 1922 aus der Partei ausgeschlossen,<br />

da er sich <strong>mit</strong> Paul Levi und dessen Kritik am Mitteldeutschen<br />

Aufstand (der sogenannten Märzaktion<br />

1921) solidarisiert hatte. Allerdings schloß er<br />

sich nicht Levis Kommunistischer Arbeitsgemeinschaft<br />

(KAG) an.<br />

Müller zog sich einige Jahre aus der aktiven Politik<br />

zurück. Ende der 20er Jahre war er dann noch<br />

einmal kürzere Zeit im Deutschen Industrie-Verband<br />

(DIV) aktiv (zusammen <strong>mit</strong> Karl Korsch), bis<br />

er 1929 offenbar endgültig ins Privatleben entschwand.<br />

Er hatte als Bauunternehmer einigen Erfolg<br />

und war schon 1930 Millionär geworden. »Seine<br />

politischen Ideen blieben dabei irgendwann auf<br />

der Strecke. Auch ein Richard Müller war nicht<br />

gefeit gegen <strong>die</strong> korrumpierende Wirkung guter<br />

Geschäfte.« schreibt sein Biograph Hofrogge. Während<br />

der Nazi-Zeit lebte Müller <strong>mit</strong> seiner Familie<br />

anscheinend unbehelligt in Berlin, aktiven Widerstand<br />

hat er offenbar nicht geleistet. Richard Müller<br />

starb 1943 in Berlin.<br />

II.<br />

»Er inspirierte viele Fußnoten, jedoch kaum Debatten«,<br />

schrieb Richard Müllers Biograph Ralf<br />

Hoffrogge über dessen dreibändige Geschichte der<br />

deutschen Novemberrevolution, <strong>die</strong> in den Jahren<br />

1924 und 1925 herauskam und jetzt in einem Band<br />

neu erschienen ist. Müller hatte <strong>die</strong> Zeit nach dem<br />

Rauswurf aus der KPD genutzt, um <strong>die</strong> erste umfassende<br />

Geschichte der Novemberrevolution vom<br />

revolutionären Standpunkt zu schreiben. Er konnte<br />

sich dabei auf ein umfangreiches Dokumenten-<br />

Archiv stützen, das er seit dem ‘Großen Krieg’<br />

und während der Revolutionszeit angelegt hatte<br />

(darunter das einzige noch existierende Exemplar<br />

der Protokolle des Vollzugsrates, dessen Akten auf<br />

Befehl Gustav Noskes bei der gewaltsamen Auflösung<br />

des Vollzugsrates vernichtet worden waren).<br />

Viele <strong>die</strong>ser Dokumente sind in Richard Müllers<br />

Geschichte der Novemberrevolution abgedruckt,<br />

z.T. als Faksimile. Allein das macht <strong>die</strong> Arbeit zu einer<br />

unverzichtbaren Quelle für alle, <strong>die</strong> sich <strong>mit</strong> der<br />

Geschichte der Novemberrevolution befassen. Allerdings<br />

sind seine politischen Schlußfolgerungen<br />

den bürgerlichen und sozialdemokratischen Republikanern<br />

in der Weimarer Republik zu revolutionär<br />

und auf jeden Fall zu unangenehm gewesen,<br />

zeigten sie doch schäbige Rolle, <strong>die</strong> <strong>die</strong> sozialdemokratische<br />

Führung mehrheitlich in Kriegs- und<br />

Revolutionszeit gespielt hatte. Die stalinistische<br />

KPD strickte hingegen an ihrer eigenen Legende<br />

und negierte <strong>die</strong> hervorragende Rolle der Revolutionären<br />

Obleute in der Revolution; außerdem hatte<br />

man <strong>mit</strong>tlerweile beim Genossen Stalin gelernt, daß<br />

ein geschaßter ‘Abweichler’ eine Unperson ist. Dies<br />

setzte sich nach dem 2. Weltkrieg in dem verdoppelten<br />

deutschen Staat fort. Ralf Hofrogge bringt<br />

das auf den Punkt: »In der Regel wurde Müller<br />

für seine Faktendarstellung in beiden deutschen<br />

Staaten gerne zitiert, seine Interpretationen jedoch<br />

ignoriert.« Für <strong>die</strong> ‘herrschende Meinung’ in der<br />

BRD (selbstverständlich auch in der Geschichtswissenschaft)<br />

stand Deutschland 1918/19 »zwischen<br />

Rätediktatur und sozialer Demokratie« (Walter<br />

Tormin), während in der DDR <strong>die</strong> Novemberrevolution<br />

sowieso nur eine bürgerlichen Revolution<br />

war (wie Walter Ulbricht höchstselbst im Juni<br />

1958 dekretierte und da<strong>mit</strong> eine Historikerdebatte<br />

um den Charakter und <strong>die</strong> Akteure der Revolution<br />

‘abschloß’). Dabei blieb es im wesentlichen bis zum<br />

Ende des SED-Staates in der 2. Novemberrevolution<br />

– 1989. In der BRD gab es indes abweichende<br />

Interpretationen von der ‘herrschenden Meinung’,<br />

<strong>die</strong> dort nicht <strong>mit</strong> Knast bestraft wurden – ich nenne<br />

nur Fritz Opel und Peter v. Oertzen, <strong>die</strong> schon in<br />

den 1950er und frühen 1960er Jahren <strong>die</strong> Rolle der<br />

Revolutionären Obleute würdigten – aber es waren<br />

Einzelkämpfer.<br />

III.<br />

Erst <strong>mit</strong> der Außerparlamentarischen Opposition<br />

(APO) der 1960er Jahre wurde der herrschende<br />

Konsens der BRD erschüttert und vermehrt auch<br />

eine andere Betrachtung der Novemberrevolution<br />

1918 und der Weimarer Republik ‘salonfähig’. Das<br />

führte zur Wiederentdeckung des Rätetheoretikers<br />

und des Historikers Richard Müller. Seine Geschichte<br />

der Novemberrevolution wurde 1974 vom<br />

Westberliner Verlag Olle & Wolter nachgedruckt,<br />

eine 2. Auflage erschien 1979 – beide Ausgaben<br />

<strong>mit</strong>tlerweile durchaus gesuchte antiquarische Raritäten.<br />

Müllers Geschichte gehört zu den grundlegenden<br />

historischen Schriften über <strong>die</strong> Novemberrevolution<br />

1918 und ihr Scheitern. Sie steht in einer Reihe<br />

<strong>mit</strong> dem Werk von Erhard Lucas zur »Märzrevolution<br />

1920« im Ruhrgebiet. Man kann also dem Verlag<br />

garnicht hoch genug anrechnen, <strong>die</strong>ses wichtige<br />

Werk beinahe 90 Jahre nach seinem ersten Erscheinen<br />

(und über 30 Jahre nach dem letzten Erscheinen<br />

des Reprints) wieder zugänglich gemacht zu<br />

haben, noch dazu in einer recht wohlfeilen Ausgabe.<br />

Ralf Hofrogges Einleitung zu Neuausgabe, eine<br />

gelungene kurze Einführung in Leben und Werk<br />

Richard Müllers und <strong>die</strong> Rezeption seiner Revolutionsgeschichte,<br />

rundet <strong>die</strong> Edition ab.<br />

IV.<br />

Abschließend sei auch noch auf<br />

• Ralf Hoffrogge - Richard Müller. Der Mann hinter<br />

der Novemberrevolution, Berlin 2008, 233 Seiten<br />

<strong>mit</strong> Abb. (Hardcover), Karl Dietz Verlag<br />

hingewiesen. Auf <strong>die</strong>ser Pionierarbeit basiert sein<br />

Vorwort, und das Buch, eine politische Biographie<br />

Müllers, ist (nicht nur) eine lohnende ergänzende<br />

Lektüre zur Revolutionsgeschichte.<br />

• Jonnie SCHliCHtinG<br />

Vollzugsratsausweis Nr. 1 von EM I L BA R T H, unterschrieben<br />

durch RI C H A R D MÜLLER und BR U T U S MO L K E N B U H R als<br />

Vorsitzende des BE R L I N E R VO L L Z U G S R A T E S - 12.11.1918<br />

49<br />

DI E T M A R LA N G E<br />

Massenstreik und<br />

Schießbefehl<br />

Der Generalstreik und<br />

<strong>die</strong> Märzkämpfe<br />

in Berlin 1919<br />

Lo.g.o – Berlin, Band 1<br />

ISBN 978-3-942885-14-0<br />

In einer historischen Trilogie<br />

unter dem Obertitel<br />

Vom Kaiserreich zur Republik<br />

verfasste Richard<br />

Müller, Metallarbeiter und<br />

Vorsitzender des Vollzugsrats<br />

der Arbeiter- und<br />

Soldatenräte deutschen<br />

Novemberrevolution<br />

einen ungewöhnlichen<br />

Zeitzeugenbreicht. Seine<br />

packend erzählten Bände<br />

inspirierten Historiker wie<br />

Sebastian Haffner und<br />

sind Standardwerk und<br />

Geheimtipp zugleich.<br />

Jetzt sind sie <strong>die</strong> drei<br />

Bände in einem Band gebündelt<br />

wieder verfügbar.


50<br />

Auf dem Weg - Gelebte<br />

Utopie einer Kooperative<br />

in Venezuela<br />

Die Buchmacherei Berlin<br />

Eine „führerlose“ Organisation in Bewegung – geht das?<br />

Über den autonomen Genossenschaftsverband CECOSESOLA<br />

im Bundesland Lara von Venezuela.<br />

Mit rund 20.000 Mitgliedern in diversen eigenständigen<br />

Genossenschaften und Kollektivbetrieben um<br />

<strong>die</strong> regionale Landeshauptstand Barquisimeto [eine<br />

Million Einwohner westlich von Caracas gelegen]<br />

berichtet das neue Buch der Berliner Buchmacherei<br />

Auf dem Weg – Gelebte Utopie einer Kooperative in<br />

Venezuela. Nun, es ist eben nicht eine Kooperative,<br />

sondern der regionale Dachverband, eben CEN-<br />

TRAL COOPERATIVA DE SERVICIOS SOCIALES<br />

DEL ESTADO LARA und <strong>die</strong>ser Zusammenschluß<br />

erwirtschaftete einen Umsatz von umgerechnet 100<br />

Millionen US$ (430 Mio. Bolívares) im Jahr 2010.<br />

Kann eine Entscheidungsfindung in so einem<br />

großen „Betrieb“ tatsächlich immer „im Konsens“<br />

getroffen werden, wie <strong>die</strong> Autoren behaupten<br />

und der „unorthodoxe“ Marxist John HolloWaY<br />

(Die Welt verändern, ohne <strong>die</strong> Macht zu übernehmen)<br />

tatkräftig bestätigt? Wozu bedarf es dann aber gut<br />

6 Prozent an „Hauptamtlichen“, <strong>die</strong> als trabajadores<br />

asociados den doppelten Mindestlohn als Vorschuß<br />

ver<strong>die</strong>nen? – Beachtlich auch, daß sich jedes<br />

Mitglied <strong>die</strong>se verantwortlichen Tätigkeiten<br />

noch selbst aussuchen kann. Wie funktionieren<br />

„horizontale Strukturen“, wie eine Selbstverwaltung<br />

ohne Chefs, denn „Rotation ist Prinzip: Niemand soll<br />

sich auf bestimmten Posten einbunkern oder es sich auf<br />

Kosten anderer bequem machen. Die Aufgabe in der<br />

Verwaltung werden immer von neuen Kooperativistas<br />

übernommen, da<strong>mit</strong> möglichst viele auch <strong>die</strong>se Bereiche<br />

kennenlernen und sich entsprechende Kompetenzen<br />

aneignen können.“ (S. 8)<br />

»Unsere Treffen werden so zu Möglichkeiten, ein<br />

»Wir« ohne Grenzen zu erleben. Ein Wir, das auch<br />

bedeutet, dass wir uns Kriterien zu eigen machen, <strong>die</strong> wir<br />

alle teilen. Flexible Kriterien, <strong>die</strong> im Konsens geändert<br />

werden, wenn sich <strong>die</strong> Umstände andern und wir uns in<br />

der Reflexion verändern. Diese gemeinsamen Kriterien<br />

erleichtern <strong>die</strong> Beteiligung aller an den Entscheidungen.<br />

Es gibt kein Leitungsgremium, keinen Geschäftsführer<br />

und keine Aufsicht mehr, auf denen wir uns »ausruhen«<br />

könnten, um uns da<strong>mit</strong> der eigenen Verantwortung<br />

zu entziehen. Wir versuchen dafür zu sorgen, dass <strong>die</strong><br />

Treffen nicht zu einem Ersatz für <strong>die</strong> Geschäftsleitung<br />

oder den Geschäftsführer werden, denn auch das würde<br />

unsere Entwicklung beschneiden. Wir fällen zwar<br />

weiterhin Entscheidungen auf unseren Treffen, aber<br />

auf der Grundlage unserer jeweiligen gemeinsamen<br />

Kriterien soll auch jede Person oder Gruppe <strong>die</strong><br />

Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, <strong>die</strong><br />

im Alltag getroffen werden müssen. Genauso wie alle<br />

Anwesenden gleichermaßen für Entscheidungen, <strong>die</strong><br />

auf einer Versammlung zustande gekommen sind, <strong>die</strong><br />

Verantwortung tragen. Eine Verantwortung, <strong>die</strong> je<br />

nachdem auch beinhalten kann, dass man für verursachte<br />

Schäden finanziell aufkommt.« (Seite 127)<br />

Daraus „ergibt sich, dass Konsens für uns etwas<br />

Bücher │ Skorpion • Rezensionen<br />

völlig anderes bedeutet als Einstimmigkeit. Für <strong>die</strong><br />

Einstimmigkeit müssen alle Mitglieder anwesend<br />

einer Gruppe oder Organisation anwesend sein. Das<br />

entspricht einer Abstimmung, bei der alle dafür sind.<br />

In unserem Fall ist <strong>die</strong> Entscheidung Konsens, wenn<br />

sie unserem »Wir« entspricht, d.h. den Kriterien, <strong>die</strong><br />

wir in <strong>die</strong>sem Moment teilen – unabhängig davon, ob<br />

<strong>die</strong>se Entscheidung von einer Person, einer informellen<br />

Gruppe oder auf einer Versammlung gefällt wurde.“<br />

Daß <strong>die</strong>se Form der Entscheidungsfindung<br />

nichts <strong>mit</strong> unserer deutschen Vorstellung von<br />

einem „Konsens“ zu tun hat, ist augenfällig.<br />

Wenn es möglich ist, daß nur eine einzige Person<br />

aufgrund ihres »Wir«-Gefühls in einem Moment<br />

etwas entscheidet, dann führt das zwangsläufig<br />

zu der Erkenntnis, daß „es keine »endgültigen«<br />

Entscheidungen, außer in den Fällen, in denen für<br />

Verbesserungen keine Zeit mehr bleibt“ gibt. Daraus<br />

folgt dann konsequent: „Es gibt jederzeit das Recht<br />

zu protestieren. Das Thema kann jederzeit und auf<br />

jedem Treffen neu verhandelt werden, falls jemand<br />

nicht einverstanden oder der Meinung ist, dass beim<br />

Zustandekommen des Beschlusses persönliche Kriterien<br />

<strong>die</strong> Überhand gewonnen haben.“<br />

In der Realität bedeutet <strong>die</strong>s – nach jahrelangen<br />

eigenen Erfahrung in einem recht überschaubaren<br />

Kollektivbetrieb –, dass einmal gefällte Entscheidungen<br />

nicht mehr hinterfragt werden, weil rückwirkend<br />

kaum Änderungen möglich sind im ökonomischen<br />

Alltag oder es extrem unangenehm sein<br />

kann, immer und immer auf einem oder mehreren<br />

Fehlern eines einzelnen oder einer kleinen „informellen<br />

Gruppe“ des Kollektivs herumzuhacken.<br />

Diese blauäugige Verklärung der realen Umstände,<br />

<strong>die</strong> in einem wirtschaftlichen Betrieb bestehen, sind<br />

evident. Wer macht sich gerne zum Kritiker, wenn<br />

hinter dem Rücken der Mehrheit Entscheidungen<br />

gefällt wurden, <strong>die</strong> dann jedoch »endgültig« sind,<br />

weil zum Beispiel Verträge nicht so einfach durch<br />

ein späteres Plenum rückgängig gemacht werden<br />

können? Die Welt um uns herum besteht eben nicht<br />

aus „Gutmenschen“, <strong>die</strong> einsehen, daß ein Vorstand<br />

oder ein anderes Gremium einer Genossenschaft<br />

einen bösen Schnitzer gemacht hat, der von<br />

einem Plenum nachträglich aufgehoben wurde.<br />

„Diese Art Entscheidungen zu treffen, kann<br />

offensichtlich zu Chaos und Fehltritten führen, <strong>die</strong><br />

unter Umständen große ökonomische Verluste nach<br />

sich ziehen. Aber alle ökonomischen Verluste werden<br />

um ein Vielfaches kompensiert durch <strong>die</strong> Flexibilität<br />

und Dynamik, <strong>die</strong> in der Organisation entsteht,<br />

dadurch dass wir uns von den kulturellen Fesseln<br />

befreien, <strong>die</strong> unser aller Kapazitäten und kreatives<br />

Potenzial einengen. Heute reiben wir uns nicht mehr<br />

im schäbigen Hickhack interner Machtkämpfe auf. Und<br />

unsere menschlichen Möglichkeiten sind nicht mehr


arrikade sieben - April 2012<br />

in hierarchischen Beziehungen eingeschlossen oder im<br />

Dickicht parlamentarischer Regelungen gefangen, <strong>mit</strong><br />

denen angeblich <strong>die</strong> Beteiligung geregelt wird. Normen<br />

auf der Grundlage von Misstrauen, <strong>die</strong> letzten Endes<br />

eine wirkliche Beteiligung nur behindern.<br />

Mit der Zeit wird das Modell der Repräsentation<br />

und Vertretung durch eine verantwortliche, direkte und<br />

alltägliche Beteiligung ersetzt. Die Treffen haben sich<br />

in Räume verwandelt, <strong>die</strong> ohne Einschränkung für jede<br />

und jeden offen stehen. Bei den Themen, <strong>die</strong> behandelt<br />

werden können, gibt es keine Eingrenzung.<br />

Es gibt keine Abstimmungen. Alle Mitglieder oder<br />

Treffen machen sich <strong>die</strong> Entscheidungen zu eigen, <strong>die</strong><br />

auf der Grundlage der gemeinsamen Kriterien zustande<br />

gekommen sind. Ein Quorum für Beschlussfähigkeit ist<br />

da<strong>mit</strong> hinfällig.<br />

Ist das nicht alles ziemlich verrückt? Vielleicht - aber<br />

wir wissen aus eigener Erfahrung, dass das Ganze<br />

funktionieren kann, wenn wir den gegenseitigen Respekt<br />

und <strong>die</strong> Solidarität in unserem Zusammensein vertiefen.<br />

Wenn all <strong>die</strong> Energien freigesetzt werden, <strong>die</strong> im Dickicht<br />

der starren Organisationsformen, <strong>die</strong> unsere Kultur zu<br />

bieten hat, gefangen sind. So entsteht <strong>die</strong> solidarische<br />

Kraft, ...“ (Seite 128)<br />

Die Entscheidungsfindung bei CECOSESOLA ist<br />

mehr als fragwürdig – nicht weil sie „chaotisch“,<br />

sondern weil sie m.E. strukturlos ist. Sollte es<br />

Gruppierungen oder Einzelindividuen geben,<br />

<strong>die</strong> das Unternehmen übernehmen wollen, dann<br />

bilden sie eben <strong>die</strong>se „informellen Gruppen“ und<br />

fällen Entscheidungen gegen das »Wir«-Gefühl der<br />

meistens doch schweigenden Mehrheit. Und selbst<br />

wenn falsche Beschlüsse revi<strong>die</strong>rt werden können,<br />

ist es eventuell fatal, weil sie unter „Umständen<br />

große ökonomische Verluste nach sich ziehen“. Und<br />

wer will dafür schon gerne verantwortlich gemacht<br />

werden?<br />

Etwas Zahlensalat<br />

Für mich ist der Umgang <strong>mit</strong> Zahlen in <strong>die</strong>sem<br />

Buch doch etwas gewöhnungsbedürftig bzw. auch<br />

fragwürdig. CECOSESOLA wurde 1967 gegründet<br />

bzw. erst 1974 zu einem Dachverband mehrerer<br />

kleiner – hauptsächlich von Priestern initiierter<br />

Spar- und Kreditgenossenschaften – und dann<br />

heißt es plötzlich, dass sie ganze 12 Mitglieder<br />

waren, bevor sie <strong>mit</strong> staatlichen Förder<strong>mit</strong>teln<br />

eine lokale Busverkehrsgenossenschaft, <strong>die</strong> SCT,<br />

gründeten und dadurch in kürzester Zeit wegen<br />

der benötigten Busfahrer│innen auf mehr als 300<br />

Genoss│innen anwuchsen.<br />

Fragwürdig ist auch das »Wir«, das das Buch oder<br />

den Bericht geschrieben hat. Es scheint so, als wenn<br />

selbstlose Berater <strong>mit</strong> dem gesamtgesellschaftlichen<br />

Konzept für Genossenschaften hier angetreten<br />

sind - und auch federführend alles begleitet und<br />

geleitet haben, trotz der Infiltration von Spionen,<br />

Gegnern und Polizeispitzeln. Das wäre beachtlich<br />

und gleichzeitig bedenklich, denn alles wird von<br />

möglicherweise immer noch den gleichen Leuten<br />

„informell“ angeleitet, <strong>die</strong> eigentlich längst hätten<br />

in der Masse der Mitglieder verschwinden müssen,<br />

wie „Fische im Wasser“ halt ...<br />

Genossenschaft vs. Gewerkschaft<br />

Ein spannender Punkt in der Entwicklung von<br />

CECOSESOLA zu „einer sozialen Organisation,<br />

einer Bewegung“, ist <strong>die</strong> Auseinandersetzung in<br />

der Buslinien-Kooperative über den Sinn einer<br />

Gewerkschaft (in Venezuela sind nur Betriebsgewerkschaften<br />

erlaubt). Hier erklären <strong>die</strong><br />

Verfasser ganz deutlich, daß sie der Auffasssung<br />

sind, daß es keiner gewerkschaftlichen Vertretung<br />

der Genossenschafts<strong>mit</strong>glieder bedarf. Der zu den<br />

überhöhter Lohnforderungen einiger machtgeiler<br />

und auf Pöstchensuche befindlicher Agitatoren<br />

einer (linken?) Partei als Argument angeführte<br />

Spruch lautet: „Wenn in der Küche Schmalhans waltet,<br />

kann man keine Gelage feiern.“<br />

Das ist wirklich nicht spaßig, bedenkt man,<br />

daß ansonsten in dem Text sehr gerne von der<br />

Verantwortung für <strong>die</strong> Gemeinschaft, <strong>die</strong> Kommune<br />

und <strong>die</strong> Verankerung in der übrigen Gesellschaft<br />

geredet wird. Eine Kontrolle durch betriebsfremde<br />

Gewerkschafter soll also nicht stattfinden – alles<br />

dreht sich im eigenen Saft bzw. wird durch interne<br />

„Transparenz“ und eine ordentliche Buchführung,<br />

<strong>die</strong> nachvollziehbar macht, daß keine Superlöhne<br />

gezahlt werden können, überflüssig. Natürlich<br />

waren <strong>die</strong> Vorwürfe der opponierenden und<br />

demagogisch agitierenden Gewerkschafts-<br />

Möchtegern-Funktionäre (vielleicht erhofften sie<br />

sich einen besseren Lohn oder gar eine Freistellung<br />

als Betriebsgewerkschaftsfunktionär) im Sinne<br />

der Kooperative nicht sinnvoll. Eine außer- bzw.<br />

überbetriebliche Kontrolle durch eine Gewerkschaft<br />

sollte jedoch zu den üblichen Gepflogenheiten<br />

gehören.<br />

Das AL CAPONE-Problem<br />

CECOSESOLA hat nur <strong>die</strong> staatliche Kontrolle vor<br />

der Zerschlagung gerettet; weil <strong>die</strong> Buchhaltung<br />

(und wer lernt so etwas in wenigen Wochen?) akurat<br />

war, konnten <strong>die</strong> Staatskontrolleure nichts finden,<br />

um <strong>die</strong> soziale Kooperative zu liqui<strong>die</strong>ren, was <strong>die</strong><br />

interne Opposition forderte. Auch hieraus ist zu<br />

lernen - auch für uns in Deutschland. Oder gerade<br />

hier. Wenn sie Dich politisch mundtot machen<br />

wollen, sollte <strong>die</strong> Buchhaltung stimmen, sonst<br />

ergeht es einem wie Al CaPone, dem berüchtigsten<br />

Gangster der amerikanischen Geschichte: ihm<br />

konnte kein Mord vorgeworfen werden, aber<br />

er wanderte in den Knast wegen mangelnder<br />

Steuerzahlungen und einer „fehlerhaften“,<br />

maipulierten Buchhaltung ...<br />

CHAVEZ und sein Pseudo-Sozialismus<br />

Ein völlig neues Genossenschafts- bzw. Kooperativengesetz<br />

gibt es in Venezuela seit ChaVeZ am<br />

Ruder ist. Aber der Presidente hat auch das Recht,<br />

„antisozialistische“ Betriebe – und das sind im<br />

pseudorevolutionär-sozialistisch-staatlichem Diskurs<br />

der Bolivaristen um den Putschisten ChaVeZ<br />

eben genauso autonome Kollektivbetriebe wie kapitalistische<br />

Aktiengesellschaften, wenn es seiner<br />

Politik gefällt und es ihm gerade mal in den Kram<br />

paßt. Darüber steht auch etwas in <strong>die</strong>ser wirklich<br />

spannenden Geschichte. Und zwar deutlicher, als<br />

es sich <strong>die</strong> Freunde des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“<br />

venezolanischer Prägung überhaupt vorstellen<br />

können. Das dürfte so<strong>mit</strong> schon fast wieder<br />

„reaktionär“ sein, denn wie Luis Alfredo Delgado<br />

Bello auszugsweise zitiert wird: „Wir müssen dagegen<br />

kämpfen, dass Kooperativismus und Chavismus<br />

gleich gesetzt werden. Mit <strong>die</strong>ser Vorstellung wird der<br />

Kooperativismus zu einen weiteren Objekt der Pola-<br />

51<br />

»Wir streben etwas<br />

Erhabeneres und<br />

Gerechteres an, das<br />

Gemeingut oder <strong>die</strong><br />

Gütergemeinschaft.<br />

Kein individuelles<br />

Landeigentum mehr:<br />

<strong>die</strong> Erde gehört niemandem.<br />

Wir verlangen,<br />

wir fordern den<br />

gemeinsamen Genuss<br />

der Früchte der Erde:<br />

<strong>die</strong> Früchte gehören<br />

allen. Wir erklären,<br />

nicht länger ertragen<br />

zu können, dass <strong>die</strong><br />

überwältigende Mehrheit<br />

der Menschen<br />

im Dienste und nach<br />

dem Belieben einer<br />

winzigen Minderheit<br />

arbeitet und sich<br />

abquält.<br />

Lange genug, allzu<br />

lange haben weniger<br />

als eine Million<br />

Menschen über das<br />

verfügt, was mehr als<br />

zwanzig Millionen<br />

ihresgleichen gehört.<br />

Schluss endlich <strong>mit</strong><br />

<strong>die</strong>sem gewaltigen<br />

Ärgernis, das unseren<br />

Nachfahren unglaublich<br />

erscheinen wird!<br />

Schluss endlich <strong>mit</strong><br />

den empörenden Unterschieden<br />

zwischen<br />

Reichen und Armen,<br />

Großen und Kleinen,<br />

Herren und Knechten,<br />

Herrschenden und<br />

Beherrschten.<br />

Es darf keinen anderen<br />

Unterschied mehr<br />

zwischen den Menschen<br />

geben als den<br />

des Alters und des<br />

Geschlechts. Nachdem<br />

alle <strong>die</strong>selben Bedürfnisse<br />

und <strong>die</strong>selben<br />

Familien haben,<br />

soll es für sie auch<br />

nur ein und <strong>die</strong>selbe<br />

Erziehung, <strong>die</strong>selbe<br />

Ernährung geben.«<br />

Manifeste des Égaux,<br />

Das Manifest der<br />

Gleichen<br />

Sylvain Maréchal (1750 bis<br />

1803): Manifeste des Égaux,<br />

abgedruckt in: Babeuf:<br />

Verschwörung<br />

John Anthony Scott:<br />

François Noël Babeuf und<br />

<strong>die</strong> Verschwörung für <strong>die</strong><br />

Gleichheit, in: Gracchus Babeuf:<br />

Die Verschwörung für <strong>die</strong> Gleichheit.<br />

Rede über <strong>die</strong> Legiti<strong>mit</strong>ät<br />

des Widerstandes, hrsg. von<br />

J. A. Scott, Hamburg 1988, S. 11.


52<br />

risierung, das angegriffen oder<br />

unterstützt wird, je nachdem,<br />

welche Position <strong>die</strong> Betreffenden<br />

gegenüber der Regierung haben.<br />

(…) Beiden liegt <strong>die</strong> Einschätzung<br />

zugrunde, <strong>die</strong> Politik sei wichtiger<br />

als <strong>die</strong> Kooperativen. Das Genossenschaftswesen<br />

wird anderen<br />

politischen Zielen untergeordnet.<br />

Die Kooperative wird nicht als politische<br />

und soziale Option an sich<br />

gesehen, <strong>die</strong> in der Lage ist, hier<br />

und heute von uns aus eine andere<br />

Gesellschaft aufzubauen, wie wir<br />

sie wollen. Diese Sichtweise ist zutiefst<br />

politisch und unterscheidet<br />

sich grundlegend von derjenigen,<br />

<strong>die</strong> immer wieder verkündet, dass<br />

es notwendig sei, <strong>die</strong> Macht zu<br />

übernehmen, um den Anderen <strong>die</strong><br />

eigene Sichtweise von Gesellschaft<br />

aufzudrängen. Als Kooperativistas<br />

bauen wir tagtäglich eine neue Gesellschaft<br />

auf. Da<strong>mit</strong> zeigen wir<br />

uns selbst und allen Anderen, dass<br />

eine andere Welt möglich ist.“ (S. 151 – „Venezuela:<br />

Frascasaron las cooperativas?“)<br />

Genossenschaften sind nicht per sé oder Definition<br />

etwas Gutes – das wissen wir, seit auch Schlipsträger<br />

ihre modernen Firmenkonstrukte genossenschaftlich<br />

organisieren oder der Sozialabbau durch<br />

privat Selbsthilfe-Genossenschaften kompensiert<br />

werden sollen. Genossenschaften sollen der bürgerlichen<br />

Gesellschaft helfen, Probleme kostengünstig<br />

(also über freiwilllige Lohndrückerei und<br />

Selbstausbeutung) unter dem Deckmantel der<br />

„Bürgerbeteiligung“ zu verwalten. Mit „Selbstermächtigung“<br />

hat das nichts zu tun. Genauso, wie<br />

in Venezuela kapitalistische oder auch staatliche<br />

Unternehmen Teilbereiche genossenschaftlich ausgliedern,<br />

um <strong>die</strong> Kosten zu drücken – und auch<br />

etablierte Genossenschaften gliedern Nichtgenosse<br />

als Lohnarbeiter│innen aus. Der Staat macht es sich<br />

bequem, indem er sozialpolitisches Engagement in<br />

Armutsquartieren und Elendsvierteln befördert,<br />

da<strong>mit</strong> <strong>die</strong> Armen sich selbst um <strong>die</strong> Lebens<strong>mit</strong>telund<br />

Gesundheitsversorgung kümmern. Daraus<br />

Bücher │ Skorpion • Rezensionen<br />

kann „solidarische Ökonomie“ entstehen, muss es<br />

aber nicht.<br />

Das größte Problem für deutsche Verhältnisse<br />

ist der Vergleich. Was alles in Venezuela möglich<br />

ist, stößt hier sofort an gesetzliche Grenzen und<br />

erfordert einen Kampf um den durch den Nationalsozialismus<br />

eingeschränkten und gefesselten<br />

Genossenschaftsgedanken. Genossenschaften dürfen<br />

hierzulande keine Kreditgeschäfte machen – da<br />

kommen hier gleich <strong>die</strong> Herren <strong>mit</strong> dem Schlapphut<br />

der BaFin (Bundesfinanzaufsicht), statt sich<br />

um wichtigere Dinge zu kümmern. Das bedeutet<br />

schlicht, daß hiesige Genossenschaften ihren Mitgliedern<br />

keine Kredite geben dürfen in Notzeiten<br />

oder auch als Konzept. Dazu bedarf es einer genossenschaftlichen<br />

Bank – also weiterer staatlicher<br />

Kontrollinstanzen und Behörden.<br />

Abschließend sei ausdrücklich <strong>die</strong>ses Buch denjenigen<br />

empfohlen, <strong>die</strong> eine „andere Welt“ wollen<br />

und dabei lieber „handeln“ als politisch nur rumlamentieren<br />

und <strong>die</strong> Macht übernehmen wollen. Alternative<br />

und solidarische Ökonomie <strong>mit</strong> dem Kapitalismus<br />

in allen unseren Knochen ist bestimmt<br />

eine KnochenArbeit, aber es geht darum, nicht alle<br />

Utopien auf den berühmten St. Nimmerleinstag<br />

nach dem großen Kladderadatsch zu verschieben –<br />

der in den deutschen Breitengraden mehr als Lichtjahre<br />

entfernt ist.<br />

• fm<br />

Nachtrag – Tupamaros<br />

Es hat nach dem Erscheinen des Buches wohl interessiert,<br />

ob denn nicht ehamlige uruguayische Tupamaros<br />

an der Gründung von CECOSESOLA beteiligt<br />

gewesen wären. Deutsche Linke brauchen immer<br />

Führer, nur sie können Gewichtiges angestoßen haben,<br />

sonst fehlt ihnen der Glaube daran. In <strong>die</strong>sem<br />

Fall ist <strong>die</strong> Antwort unzweideutig: „Kein Tupamaro<br />

hat je an dem Projekt <strong>mit</strong>gewirkt; schon gar nicht bei<br />

der Gründung.“ (Contraste, April 2012).<br />

Das beruhigt mich ungemein, denn derartige Projekte<br />

funktionieren wohl gerade deshalb, weil hier<br />

eher Pfaffen als leninistische Guerilleros das Sagen<br />

haben; dabei haben beide Fraktionen längst ihre<br />

Heiligenscheine verloren ...


arrikade sieben - April 2012<br />

Gelungene Spurensuche<br />

Mathieu Houle-Courcelles Buch zum Anarchismus<br />

im kanadischen Quebec macht Geschichte von<br />

unten und ihre Akteure lebendig.<br />

Forschungen zur lokal-geschichtlichen Historie<br />

können über das reine Darstellen geschichtlicher<br />

Fakten hinaus Erfahrungen ver<strong>mit</strong>teln und Motivation<br />

und Inspiration für heutige Auseinandersetzungen<br />

und Entwicklungen frei setzen. Mit seinem<br />

Buch ist <strong>die</strong>s dem Autoren und Genossen Mathieu<br />

Houle-Courcelles gelungen. 1999 begann er <strong>mit</strong> der<br />

Forschung zur Geschichte der anarchistischen Bewegung<br />

in der französischsprachigen Provinz Quebec.<br />

Die Ausgangslage war sehr dürftig. Vieles war<br />

nicht bekannt bzw. wurde von Historikern konkurrierender<br />

sozialistischer Strömungen nicht beachtet,<br />

von der offiziellen bürgerlichen Geschichtsschreibung<br />

gar nicht erst zu sprechen. Quebec war<br />

eine der reaktionärsten klerikal-katholischen Ecken<br />

Kanadas. Es waren vor der französischen Revolution<br />

geflohene erz-reaktionäre katholische Priester<br />

<strong>die</strong> Quebec ihren Stempel aufdrückten. Sie übten<br />

<strong>die</strong> Macht aus und verdammten freiheitliche Gedanken,<br />

Aufklärung und das Eintreten für bessere<br />

Lebens- und Arbeitsbedingungen gegen <strong>die</strong> „gottgewollte<br />

Ordnung“. Sie trafen sich dabei <strong>mit</strong> den<br />

Interessen von Kapitalisten, bürgerlichen Politikern<br />

und Regierung. Denn als <strong>die</strong> Arbeiterbewegung<br />

aufkam, Klassenbewusstsein entwickelte und<br />

<strong>die</strong> Ausbeutung und Besitzverhältnisse nicht nur in<br />

Frage stellte sondern in Form von gewerkschaftlicher<br />

Selbstorganisation und Streiks herausforderte<br />

erkannten <strong>die</strong>se Kräfte <strong>die</strong> potentielle Gefahr<br />

für ihre eigene Macht. Mathieu Houle-Courcelles<br />

beschreibt in den verschiedenen Kapiteln des<br />

Buches in chronologischer Abfolge anschaulich <strong>die</strong><br />

ersten Organisierungsbemühungen und Erfolge<br />

der Arbeiter, oftmals angeführt von Anarchisten,<br />

Syndikalisten und radikalen Humanisten wie z.B.<br />

Arthur Buies (1840-1901) in den 1860er Jahren bis<br />

hin zur Emigration einer Gruppe spanischer Anarchosyndikalisten<br />

der CNT, <strong>die</strong> in Revolution und<br />

Bürgerkrieg von 1936 gekämpft hatten und sich<br />

schließlich 1953 in Quebec niederließen.<br />

Einen zeitweiligen Höhepunkt erreichte <strong>die</strong> anarchistische<br />

Bewegung in Quebec <strong>mit</strong> der Zuwanderung<br />

jüdischer Arbeiterfamilien aus Osteuropa,<br />

<strong>die</strong> auf der Flucht vor antise<strong>mit</strong>ischen Gesetzen<br />

und Pogromen zu Ende des 19. Jahrhunderts auf<br />

den amerikanischen Kontinent kamen. Unter ihnen<br />

befand sich der aus der Bukowina stammende<br />

Anarchist Hirsch Hershmann (1876-1955), der 1903<br />

in Montreal schließlich <strong>die</strong> erste Anarchistische<br />

Buchhandlung eröffnete und <strong>die</strong> Zeitung „Der<br />

Telegrapher“ in jiddischer Sprache herausgab. Als<br />

„wichtigstes Organ jüdischer Anarchisten in Nordamerika“<br />

wurde aber <strong>die</strong> „Di FraYe ArBaYter<br />

SHtiMe“ (Die Freie Arbeiterstimme) aus New York<br />

vertrieben. Besonders unter den Textilarbeitern<br />

spielten <strong>die</strong>se jüdischen Arbeiteranarchisten eine<br />

aktive Rolle und führten erfolgreiche Streiks. Diese<br />

klassenbewussten Arbeiter waren dann auch<br />

<strong>die</strong>jenigen, welche <strong>die</strong> erste Demonstration zum<br />

1. Mai in der Geschichte Montreals im Jahr 1906<br />

initiierten. Die sprachlichen Probleme zwischen<br />

den migrierten Arbeitern und der einheimischen<br />

(Arbeiter)-Bevölkerung konnten bei solchen Gelegenheiten<br />

überwunden werden und führten zu<br />

einer gemeinsamen Aktion aller Lohnabhängigen.<br />

Und 1905 gründete sich in Montreal eine kämpferische<br />

Gewerkschaft der Industrial Workers of the<br />

World (IWW), <strong>die</strong>, wie Mathieu Houle-Courcelles<br />

detailliert darlegt, nicht nur von den Kapitalisten<br />

erbittert bekämpft wurde, sondern ebenso von der<br />

reformistischen Mehrheitsgewerkschaften AFL, in<br />

welcher zudem Sozialisten aktiv waren, <strong>die</strong> dem<br />

Syndikalismus ablehnend gegenüberstanden sowie<br />

katholischer klassenkampffeindlicher Gewerkschaften.<br />

Diesen gelang es <strong>die</strong> IWW zu marginalisieren.<br />

Das Buch zieht den schwarzen bzw. schwarzroten<br />

Faden bis in <strong>die</strong> 1960er Jahre fort und es ist<br />

schwer möglich alle relevanten Ereignisse an <strong>die</strong>ser<br />

Stelle aufzuführen. Stichpunkte sind der Generalstreik<br />

von 1912, <strong>die</strong> mehrmaligen öffentlichen Auftritte<br />

von Emma Goldmann und Rudolf Rocker in<br />

Montreal, der Widerstand gegen <strong>die</strong> Einführung<br />

der Wehrpflicht, <strong>die</strong> Streiks der Fischer und der Besuch<br />

des französischen Anarchisten Daniel Guerin<br />

in den 1950er Jahren. Hervorgehoben werden muss<br />

aber noch <strong>die</strong> 1925 erfolgte Gründung der Arbeiteruniversität,<br />

der „Universite Ouvriere“, einer von<br />

klassenbewussten Arbeitern selbst-organisierten<br />

Institution. Mit <strong>die</strong>ser wurde Aufklärung und Zugang<br />

zu Wissen für Arbeiterinnen und Arbeiter<br />

auf ein starkes Fundament gestellt. Die katholische<br />

Geistlichkeit wetterte gegen sie, <strong>die</strong> dortigen aufklärerischen<br />

Thesen und herausgegebenen Schriften<br />

und Mitglieder der katholischen Jugendorganisation<br />

überfielen das Gebäude und zerstörten Einrichtungsgegenstände.<br />

Das Buch liest man in einem Zug durch. Es<br />

ist ausgesprochen Faktenreich, gut geschrieben<br />

und veranschaulicht <strong>die</strong> alltäglichen Probleme<br />

und Kämpfe; es macht <strong>die</strong> Akteure des sozialen<br />

Kampfes lebendig. Langatmig fand ich nur <strong>die</strong><br />

Beschreibungen der Künstlergruppe der „Automatisten“<br />

– aber das ist sicherlich Geschmackssache.<br />

Zu Wünschen ist, das der Autor nachlegt. Die interessante<br />

Geschichte des Anarchismus in Quebec<br />

endet nicht 1960 sondern reicht bis zum heutigen<br />

Tag und geht weiter. Wie er in seiner Schlussbetrachtung<br />

ausführt, hat der Anarchismus in Quebec<br />

in den „letzten zehn Jahren einen beispiellosen<br />

Aufschwung erlebt und auf diverse soziale Bewegungen<br />

eingewirkt.“ Die letzten 50 Jahre warten<br />

also ebenfalls auf ihre Erforschung und Darstellung.<br />

Diese Forschung wird vom bürgerlich-kapitalistischen<br />

Wissenschaftsbetrieb in Kanada übrigens<br />

kaum beachtet und kritisch beäugt. Obwohl <strong>die</strong><br />

Quellen, <strong>die</strong> der Autor für seine Arbeit benutzte,<br />

gut belegt und dokumentiert sind, zählen sie dort<br />

offenbar nicht als Fakten, weil der Autor kein „stu<strong>die</strong>rter“<br />

Historiker ist. Was soll man aber auch<br />

anderes aus <strong>die</strong>sen Kreisen erwarten? Fest steht:<br />

Ohne ihn hätte wohl niemals <strong>die</strong> Erforschung des<br />

Anarchismus in Quebec stattgefunden. Denn; und<br />

das ist eine der Schlussfolgerungen nach dem Lesen<br />

des Buches; der Anarchismus wurde vom ersten<br />

Auftreten bis zum heutigen Tag entweder verschwiegen<br />

oder verleumdet und immer bekämpft.<br />

Mathieu Houle-Courcelles Schlusswort ist deshalb<br />

auch ein klarer Standpunkt: „Die Libertären können<br />

sich nur auf sich selbst verlassen, wenn sie <strong>die</strong><br />

Geschichte ihrer Bewegung entdecken und erzählen<br />

wollen.“ • Martin Veith<br />

53<br />

MA T H I E U HO U L E-CO U R C E L L E S:<br />

Auf den Spuren des<br />

Anarchismus in Quebec<br />

(1860-1960),<br />

ins Deutsche übersetzt<br />

von Fred Kautz,<br />

Edition AV,<br />

ISBN 978-3-86841-051-8,<br />

190 Seiten


058_rocker_kapp.cov.indd 1-2<br />

059_linow_arbeitsrecht.cov.indd 1-2<br />

17.07.2010 8:04:16 Uhr<br />

54<br />

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bestelltelefon / Fax: +49 (0) 28 41 53 73 16<br />

E-Mail: syndikat-a@fau.org<br />

web: www.syndikat-a.de<br />

syndikat-a@fau.org · www.syndikat-a.de<br />

Folkert Mohrhof<br />

Der syndikalistische Streik<br />

auf dem Ozean-Dampfer<br />

‚Vaterland‘ 1914 ▲<br />

nur als <strong>pdf</strong>-verfügbar auf<br />

unserer Webseite<br />

Folkert Mohrhof<br />

▲ Strike Bike - Eine<br />

Belegschaft schreibt<br />

Geschichte<br />

nur als <strong>pdf</strong>-verfügbar auf der<br />

www.syndikalismus.tk-Webseite<br />

am 13. März 1920 versuchte <strong>die</strong> deutschnationale Rechte zum ersten<br />

Mal, sich an <strong>die</strong> Macht zu putschen. Dieser – nach einem seiner anführer<br />

„kapp-Putsch“ genannte – Staatsstreich brach bin nen einiger<br />

tage zusammen. Dazu wesentlich beigetragen hatte der bislang größte<br />

Generalstreik in der deutschen Geschichte und der bewaffente Wider<br />

stand von arbeitermilizen an vielen Orten. Nur we nige tage spä -<br />

ter jedoch hetzte <strong>die</strong> soeben gerettete Reichs regierung, <strong>die</strong> gleichen<br />

Putschtruppen gegen das Pro letariat u. a. des Ruhrgebietes. Unter iquismol oreriurerci tis nullam verit laore esto do commy niate conulluptat.<br />

der verantwortung des SPD-Ministers Noske schlu gen dessen rechtsextreme<br />

Freikorps <strong>die</strong> „Märzrevolution“ (titelbild) nieder und ver an-<br />

Uptat dolestrud tem vendre er adio od exerat. Se modo odolore magna ad<br />

stalteten ein blutbad unter den geschlagenen ar bei te rinnen. min utat, susciduis dionsequat, si.<br />

Der vorliegende text aus der Feder des bekannten deutschen anarcho-<br />

Syndikalisten Rudolf Rocker, wurde im archiv der schwedischen syndi<br />

kalistischen Gewerkschaft SaC (wieder)entdeckt. Da das deutschsprachige<br />

Manuskript für <strong>die</strong> schwedische broschüre „kapp-kuppen“<br />

verschollen ging, wurde es für <strong>die</strong> vorliegende broschüre aus dem<br />

Schwe dischen rück übersetzt. Eine historische Einordnung und umfang<br />

reiche Quellen und verweise runden <strong>die</strong>se deutschsprachige<br />

Erst ver öffentlichung des textes von Rudolf Rocker ab.<br />

EUR 2,50<br />

http://www.syndikat-a.de<br />

▲ Karl Roche-Texte 1919,<br />

70 Seiten, AKR - € 3,50<br />

<strong>barrikade</strong><br />

Ausgabe # 7<br />

November 2012<br />

Magna commy nostrud delenim Rudolf voluptatum Rocker dignismolore duis nullamconsed<br />

magna coreetu msandiamet, susto od euguerat. Ut ilisl ing eugue tet ilisim<br />

adipsum sandiat, commodit Der digna Kapp-Putsch<br />

commolorem zzrit ad et wis nulpute<br />

magnim vel ulla faccumsandre delenim in erat aliquis dolut la commod ex<br />

euguerat. Lan velestinisi. Eine Schilderung aus dem Deutschland<br />

der Noske-Diktatur<br />

Luptat incinci lissim dionsecte dolorem alis nit am dolupta tuerostrud tat<br />

alit am quatueratis adiamco nsenim dolessi. eraesed tat. Ommy nullandrem<br />

zzriliq uamcons equissim quamcon sequat. irit, quisis alismolummy nim<br />

vulput dolestrud dunt nibh ex ea amet ad dolorper susto dit dolorpero<br />

odoloborer autat pratie voloreetum volore modo odiam, con ulla aut illaor<br />

alisi.<br />

Agna facinis 58 dipsum nibh SyNDikat euguer am, vel a eros MEDiENvERtRiEb<br />

nos nonulla ndipsum duis<br />

am zzrilla consectet iure euis ex eugait acip etuerosto od doluptat<br />

praessectet, suscilit, quat. em zzrilit lor iriure coreetum alit vendio dignisci<br />

ting exerosto commy nonum in hendrem dit nosto cortinim ip ent nit<br />

ipsum in ea aut dolorer cipisi tat vulputa tueratum dolut verat la feu.<br />

Der Kapp-Putsch ▲<br />

Rudolf Rocker<br />

- rückübersetzter Test von<br />

1920, geschrieben für <strong>die</strong><br />

http://www.syndikat-a.de<br />

schwedische SAC<br />

Diese Ausgabe wurde von der<br />

ASG Hamburg-Altona finanziert<br />

Fritz Linow<br />

„ Wer <strong>die</strong> Macht hat,<br />

hat das Recht!“<br />

Gewerkschaftsbewegung<br />

und Arbeitsrecht<br />

59 SyndikAt A Me<strong>die</strong>nvertrieb<br />

18.07.2010 8:06:40 Uhr<br />

Wer <strong>die</strong> Macht hat hat das Recht!<br />

von Fritz Linow<br />

Einleitung: Zur Entstehungsgeschichte des Arbeitsrechts,<br />

Gewerkschaftsbewegung und Arbeitsrecht<br />

(FAUD-Broschüre aus dem Jahre 1928), Artikel in<br />

DIE INTERNATIONALE von 1928-1932: Gewerkschaftsbewegung<br />

und Arbeitsrecht, Klassenkampf<br />

und Sozialpolitik, Gewerkschaftliche Interessenvertretung<br />

und Arbeitsgerichtsbarkeit, Das Problem<br />

der „wirtschaftlichen Vereinigung“, Betrachtungen<br />

zum Gesetz über Arbeitsver<strong>mit</strong>tlung und Arbeitslosenversicherung,<br />

Haftung der Gewerkschaften bei<br />

Streiks, Das Arbeitszeitrecht, Gewerkschaftspolitik<br />

und Schlichtungswesen, Kollektivvertrag und direkte<br />

Aktion sowie Eine unmögliche Entscheidung<br />

des Reichsarbeitsgerichts<br />

▲ 64 Seiten A4-Großformat - Preis: 4,50 €<br />

ila 354, April 2012<br />

Anarchismus in Lateinamerika<br />

Der erste deutschsprachige Überblick über<br />

Geschichte und Gegenwart des lateinamerikanischen<br />

Anarchismus<br />

Ingesamt 14 Beiträge und Interviews zu<br />

den anarchistischen Bewegungen in Argentinien,<br />

Bolivien, Brasilien, Chile, Cuba, Mexiko und Uruguay<br />

den frühen Anarchafeministinnen<br />

dem wechselvollen Verhältnis der lateinamerikanischen<br />

Linken zum Staat<br />

dem Autor B. Traven in Mexiko<br />

dem Verhältnis von Zapatismus und Anarchismus<br />

den Kämpfen der heutigen sozialen Bewegungen um<br />

Selbstorganisation und Autonomie<br />

Die ila 354 hat 64 Seiten. Sie kann zum Preis von<br />

5,- Euro (+ 0,50 Euro Porto) bestellt werden bei:<br />

vertrieb@ila-bonn.de oder unter: www.ila-web.de<br />

Restexemplare # eins - € 2,--<br />

Die ersten fünf Ausgaben der <strong>barrikade</strong> - teilweise als <strong>pdf</strong> verfügbar<br />

Restexemplare # zwo - € 3,-- Exemplare # drei - € 3,50 Exemplare # vier - € 3,50<br />

<strong>barrikade</strong> # 8<br />

Der Streik jüdischer<br />

Schneider in London 1912<br />

RUDOLF ROCKERS Aufstieg zum<br />

anarchosyndikalistischen<br />

Agitator und Organisator der<br />

jiddischen Arbeiterklasse<br />

Exemplare # fünf - € 4,50<br />

FAUD gegen Allgemeine Arbeiter-Union 1921<br />

• Ideologische Auseinandersetzung<br />

zwischen Anarchosyndikalismus<br />

und rätekommunistischem Unionismus<br />

Nr. 2 • November 2009<br />

3,- Euro<br />

• Interview <strong>mit</strong> dem ICEA - Spanien<br />

• Der Konterrevolutionär StD. Dr. Joachim Paschen


arrikade sieben - April 2012<br />

55<br />

»Rettet <strong>die</strong> Produktion!« - UGT<br />

Kommunistische Partei: »Der Kommissar - Nerv unserer Volksarmee«<br />

(Grafi scher Bettrieb Grafi cos Valencia von UGT │ CNT) - Künstler: RE N A U<br />

»Ein Besoffener ist ein Parasit.<br />

Eliminiert ihn!«<br />

Das Amt für Öffentliche Ordnung von Aragon - gleiche Technik,<br />

zwei verschiedene Künstler (J.D.P. und Artel)<br />

»Der Müßiggänger<br />

ist ein Faschist«, 1937


• Für libertären Kommunismus & Rätedemokratie!<br />

# 7 - sieben<br />

Empfohlener Verkaufspreis: 5 €

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