HOFFNUNG KIND SCHMERZ GEHEIMNIS ... - Sven Assmann
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produktionsnotizen<br />
Gedanken zu DAS GEHEIME LEBEN DER<br />
WORTE von JOHN BERGER<br />
Während ich den Film sehe, denke ich nicht<br />
an Schauspielkunst, Ausstattung oder Drehorte.<br />
Die Protagonisten leben, was sie sind.<br />
Ihre Schwächen sind wie unsere eigenen:<br />
Konsequenzen des Lebens. Die Orte – eine<br />
Fabrik, ein Lager, eine Ölbohrinsel, ein<br />
Helikopterlandeplatz – werden Teile unserer<br />
alltäglichen Umgebung.<br />
Der Abstand zwischen der Geschichte und<br />
unserem Alltag ist gering. Deshalb fühlte ich<br />
mich an die Filme von Rossellini und De Sica<br />
erinnert, die im Nachkriegsitalien entstanden<br />
sind. Die Weltsicht dieses Films, wie auch<br />
seine Ästhetik, ist natürlich ganz anders.<br />
Was dieser Film mit dem Italienischen Neorealismus<br />
gemeinsam hat, ist das Gefühl,<br />
dass das tägliche Leben heilig ist.<br />
Vor sechzig Jahren erkannten die Italiener<br />
sich in diesen Filmen. Sie erkannten darin<br />
ihre Probleme, ihre verwüsteten Straßen,<br />
ihre Überlebenstricks und eben diesen besonderen<br />
historischen Augenblick, in den<br />
sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />
hineingeworfen worden waren.<br />
Auch die Protagonisten in DAS GEHEIME<br />
LEBEN DER WORTE haben sich bestimmte<br />
Überlebensstrategien zugelegt. Alle sind sie<br />
auf irgendeine Art verwundet.<br />
Eines der wiederkehrenden Motive dieses<br />
Films sind die Speisen und das Vergnügen<br />
am Kochen und Essen. Ein anderes Motiv<br />
stellt das Scherzen dar: Man macht einen<br />
Witz, weil in diesem Moment sonst nichts<br />
geht. Beides erinnert daran, dass das Leben,<br />
allen Widrigkeiten zum Trotz, ein Geschenk<br />
ist. Auf dem Unterdeck der Bohrplattform<br />
lebt eine Gans, die von einem Meereskundler,<br />
der Tag und Nacht die Kraft der Wellen<br />
misst, gezähmt wurde. Ein Vorbote. Der Film<br />
handelt von dem Verlangen, das hinter dem<br />
Gedanken „Das Leben ist ein Geschenk“<br />
steht. Ich benutze unnötig große Worte.<br />
Man sollte eher auf die kleinen Wörter in<br />
dem Film achten. Sie sagen alles.<br />
Dieser Film ist irgendwo auf dem weiten<br />
Feld der Martyrien ausgedacht worden. Wie<br />
viele Gemälde haben sich im Laufe der Jahrhunderte<br />
auf dieses bezogen? Eine stattliche<br />
Anzahl. Doch heute ist das Verständnis<br />
vom Martyrium aus der Vorstellung der Reichen<br />
und der Medien, die sie kontrollieren,<br />
ausgelöscht und durch die Idee der Befreiung<br />
ersetzt worden. Befreiung von Schmerz<br />
und Gewalt, die man sich mit Geld und den<br />
falschen Versprechungen von Gebrauchsartikeln<br />
sichert. In diesem Film gibt es diese<br />
Befreiung nicht. Deshalb identifizieren wir<br />
uns mit ihm.<br />
Auch einen Kult des Schmerzes gibt es dort<br />
nicht. Er entwirft einfach nur eine Vision<br />
davon, wie das Leiden manchmal zu einer<br />
gemeinsamen Erlösung führt. Nie simplifiziert.<br />
Nie glatt. Aber altertümlich. Etwas,<br />
das die, die keine Macht haben, manchmal<br />
entdecken.<br />
Josef, der verletzte und erblindete Arbeiter,<br />
erlitt seine Verletzungen bei einem Versuch<br />
einen anderen Arbeiter zu retten, der sich<br />
selbst umbringen wollte – obwohl Josef<br />
das nicht wusste. Durch Josefs Wunden<br />
und Einsamkeit wird es Hanna möglich, das,<br />
was man ihr angetan hat, zu überwinden und<br />
– gegen alle Wahrscheinlichkeit – wieder<br />
unberührt zu werden. Die Namen von zwei<br />
Menschen – Josef – Hanna – enthalten die<br />
Wörter die eine ganze Lebensspanne füllen.<br />
Und wie der vietnamesische Schriftsteller<br />
Le Thi Diem Thuy so wunderschön gesagt<br />
hat: „Lass das Wort bescheiden sein, lasst<br />
sie wissen, dass die Welt nicht mit Wörtern<br />
begann, sondern mit zwei eng aneinander<br />
gepressten Körpern, der eine weinend, der<br />
andere singend.“<br />
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