ACKERN, SÄEN, ERNTEN, HINSTELLEN – BITTE SCHÖN!
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01 2011<br />
bitter<br />
<strong>BITTE</strong>R SWEET SYMPHONY<br />
von Dominik Rose<br />
«Das Leben», so klagte vor einigen Jahren schon die britische<br />
Rockband The Verve, «ist eine bittersüße Symphonie». Gut möglich,<br />
dass dieser Aphorismus auch Mike Leigh durch den Kopf<br />
spukte, als er seinen neuen Film Another Year drehte, denn die<br />
episodische Alltagschronik aus dem Leben eines älteren Ehe -<br />
paares ist ebenso schmerzhaft wie schön geraten.<br />
Im Zentrum der sich über den Zeitraum eines Jahres erstreckenden<br />
Geschichte begegnen wir Tom (Jim Broadbent) und Gerri<br />
(Ruth Sheen), beide um die sechzig und seit vielen Jahren glücklich<br />
miteinander verheiratet. Tom arbeitet als Geologe, Gerri ist<br />
als Therapeutin beim Gesundheitsamt beschäftigt. Die beiden<br />
leben am Stadtrand von London, lieben es gemeinsam zu gärtnern<br />
und am Abend Freunde zu empfangen. Und hier kommen<br />
auch schon die Probleme ins Haus, denn so harmonisch ihr eigenes<br />
Leben auch verlaufen mag, manche ihrer Freunde sind wahre<br />
Nervenbündel und -sägen.<br />
So etwa Gerris chaotische Arbeitskollegin Mary (Lesley Manville),<br />
die schwer unter ihrem fortschreitenden Alter leidet und den<br />
Frust über ihr unfreiwilliges Single-Dasein gern mit reichlich<br />
Alkohol herunterspült. Um Ken (Peter Wight), einen alten<br />
Jugendfreund von Tom, stehen die Dinge ebenfalls schlecht, da er<br />
den Spaß an seinem Leben verloren hat und die innere Leere mit<br />
unmäßigen Fressattacken zu kompensieren versucht. Auch Toms<br />
Bruder Ronnie (David Bradley) ist eine dieser verloren wirkenden<br />
Gestalten, paralysiert vom Tod seiner Frau und zu allem Übel<br />
mit einem neurotisch feindseligen Sohn geschlagen …<br />
Hinter den einzelnen Figuren verbergen sich zwar leidvolle<br />
Schicksale, doch der Film bewahrt sich durchgängig einen optimistischen<br />
Ton, der das Unglück nicht ausspart, aber den Blick<br />
auf den größeren Zusammenhang richtet. Tragik und Komik<br />
kulturtipp 35<br />
liegen oft dicht beieinander, etwa wenn die unglückselige Mary<br />
sich ausgerechnet in Joe verguckt, den dreißigjährigen Sohn von<br />
Tom und Gerri. Auf einer sommerlichen Gartenparty kommt es<br />
zu einer verzweifelt komischen Szene, in der die angesäuselte<br />
Mary ihrem jungen, etwas perplexen Schwarm Avancen macht,<br />
ohne offen mit der Sprache heraus zu wollen. Die Mühe ist<br />
ohnedies vergebens, denn einige Monate später trifft sie Joe in<br />
Begleitung seiner neuen Freundin an, der grotesk vergnügten<br />
Katie. Dieses zufällige Aufeinandertreffen im Haus ihrer Freunde<br />
gerät zu einem Paradestück an peinlicher Beklemmung und<br />
verdeckter Feindseligkeit.<br />
Another Year ist vor allem ein Meisterstück an pointierten<br />
Dialogen und einem großartig aufgelegten Schauspiel-<br />
Ensemble, aus dem vielleicht Lesley Manville als verzweifelte<br />
Exzentrikerin herausragt. Die Figuren fühlen sich bis in die kleinen<br />
Nebenrollen hinein authentisch und lebensnah an, was<br />
ohnehin eine Stärke von Mike Leighs Filmen ist, der sich auch<br />
diesmal einer sentimentalen Botschaft verweigert und den bisweilen<br />
indifferenten Charakter des Lebens in seiner Komplexität<br />
bestehen lässt. Den vier Jahrszeiten kommt hierbei eine besondere<br />
Bedeutung zu, da sie nicht nur die Geschichte in vier<br />
Abschnitte gliedern, sondern weil jede einzelne von ihnen in<br />
Verbindung zu dem steht, was sich dramaturgisch ereignet. Das<br />
Fortschreiten der Zeit mag ein schmerzhafter Prozess sein, ihm<br />
wohnt im Kreislauf der Natur jedoch eine Ordnung inne, mit der<br />
Tom und Gerri als Hauptfiguren in Harmonie leben. Die<br />
Möglichkeit, ein glück liches Leben zu führen <strong>–</strong> und zugleich das<br />
Scheitern daran, ist das zentrale Thema des Films. ■<br />
Another Year ist ab dem 27. Januar 2011 in<br />
sweet<br />
den deutschen Kinos zu sehen.