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Einführung in die Philosophie der Neuzeit

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<strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>1. VorlesungDie „<strong>Neuzeit</strong>“ ist e<strong>in</strong>e Epochen-Bezeichnung, neben Antike und Mittelalter <strong>die</strong> dritte, <strong>die</strong> wirgewohnt s<strong>in</strong>d, auf <strong>die</strong> Geschichte, vor allem auf <strong>die</strong> Europäische, aber nicht nur auf sie,anzuwenden. „Epoche“ ist e<strong>in</strong> griechisches Wort, e<strong>in</strong> Substantiv, das von dem Verb ἐπέχωstammt, was soviel heißt wie: aufhalten, verzögern, <strong>in</strong>nehalten, anhalten. Die Epoche - imS<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>es Epochen-Begriffs - ist demnach so etwas wie e<strong>in</strong> Ort, an dem e<strong>in</strong>e Bewegungaufhört, um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Bewegung überzugehen. Daher verwendet man <strong>in</strong> <strong>die</strong>semZusammenhang auch gern den Begriff <strong>der</strong> „Schwelle“. Auch sie ist e<strong>in</strong> Ort des Übergangsvon e<strong>in</strong>em Ort zum an<strong>der</strong>en.Nun ist das Zu-Ende-Gehen e<strong>in</strong>er Bewegung, e<strong>in</strong>es Zeitabschnitts, zunächst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>emetaphorische Sprechweise, es äußert sich als Metapher. Denn natürlich hält <strong>die</strong> Zeitnicht an. Sie geht plötzlich nicht langsamer. Jedenfalls gehen wir davon aus, dass dasJahr 1650 genau so lang war wie das Jahr 1750 - mit ger<strong>in</strong>gsten Abweichungen. Was ane<strong>in</strong> Ende kommt s<strong>in</strong>d bestimmte Bedeutungen, Merkmale, <strong>die</strong> wir e<strong>in</strong>er Epochezuschreiben. Diese Zuschreibungen s<strong>in</strong>d sehr verschiedenartig, sie entstammenverschiedenen Perspektiven. Es ist gewiss so, dass e<strong>in</strong> Naturwissenschaftler den Beg<strong>in</strong>n<strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> an<strong>der</strong>s beschreibt als e<strong>in</strong> Philosoph o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Kunsthistoriker. Und selbst <strong>in</strong>den jeweiligen „Diszipl<strong>in</strong>en“ - wenn ich das e<strong>in</strong>mal so nennen darf - gibt es jeweilsunterschiedliche Zugänge zu den Epochen, unterschiedliche Merkmale, <strong>die</strong>, wie gesagt,stets zugeschriebene s<strong>in</strong>d.Mit <strong>die</strong>ser Auffassung e<strong>in</strong>er Epoche als e<strong>in</strong>em Zeitabschnitt, <strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>enÜbergangspunkt, e<strong>in</strong>e Schwelle etc., gekennzeichnet ist, hängt dann nicht nur <strong>die</strong> Fragenach dem Anfang, son<strong>der</strong>n auch nach dem Ende <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> zusammen. Wann hat <strong>die</strong><strong>Neuzeit</strong> aufgehört? Hat sie überhaupt aufgehört? Ist <strong>die</strong> „Mo<strong>der</strong>ne“ e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>?Ist <strong>die</strong> „Postmo<strong>der</strong>ne“ e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> „Mo<strong>der</strong>ne“? Ist das Zeitgenössische, das, was geradegedacht wird, e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>? O<strong>der</strong> hat vielleicht <strong>die</strong> Geschichte überhaupt aufgehört- und wir bef<strong>in</strong>den uns nicht nur außerhalb <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>, son<strong>der</strong>n auch außerhalb e<strong>in</strong>erEpoche? Was wären denn <strong>die</strong> essentiellen Merkmale unserer Zeit? Gewiss - dass e<strong>in</strong>eEpoche schon über sich selbst als Epoche Bescheid weiß, ist e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er Fall. (Dasgeschieht dort, wo überhaupt <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> „Epoche“ und d.h. <strong>die</strong> Aufteilung <strong>der</strong>Weltgeschichte <strong>in</strong> Antike, Mittelalter und <strong>Neuzeit</strong> aufkommt. Das geschieht, wie billig, erst<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> und zwar ke<strong>in</strong>eswegs <strong>in</strong> <strong>der</strong> frühen, son<strong>der</strong>n doch wohl erst im 18. o<strong>der</strong> 19.Jahrhun<strong>der</strong>t. Dort entsteht dann auch erst überhaupt so etwas wie e<strong>in</strong> „historischesBewusstse<strong>in</strong>“.)1


Dass es verschiedene Zuschreibungen gibt - und dass <strong>die</strong>se auch als „möglich“ anerkannts<strong>in</strong>d, zeigt bereits, dass <strong>die</strong> Epochen nicht so monolithisch s<strong>in</strong>d, wie wir sie zumeistverstehen. Die Epochen selbst s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> sich vielfältig, versammeln Unterschiede,Spannungen <strong>in</strong> sich. Und es s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Spannungen, <strong>die</strong> dann schließlich zu e<strong>in</strong>em Endeführen. Dann nämlich offenbar, wenn <strong>die</strong> Spannungen zu stark werden, wenn e<strong>in</strong> Gedankeo<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Phänomen nicht mehr e<strong>in</strong>gebunden werden kann <strong>in</strong> <strong>die</strong> Tradition, <strong>in</strong> dasGewohnte etc. Lassen Sie uns e<strong>in</strong>en Blick auf <strong>die</strong> Epochenschwelle zwischen demMittelalter und <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> werfen - zunächst e<strong>in</strong>mal ganz allgeme<strong>in</strong>, dann <strong>in</strong> Bezug auf<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> und d.h. am Ausgang des Mittelalters: auf <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>in</strong> ihrem Bezugzur Religion, d.h. zum Christentum.In <strong>der</strong> historischen Sichtweise kann z.B. so etwas wie <strong>die</strong> Entdeckung Amerikas vonChristoph Kolumbus im Jahre 1492 als <strong>der</strong> Anfang <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> gefasst werden. OhneZweifel hat <strong>die</strong> Entdeckung <strong>die</strong>ses an<strong>der</strong>en Kont<strong>in</strong>ents das Weltverständnis desMittelalters revolutioniert. Man traf auf Menschen, <strong>die</strong> ganz offensichtlich nicht christlichlebten - und das auch ganz gut konnten. Freilich reagierte <strong>die</strong> alte Welt zunächst daraufmit Eroberung und Massenmord - aber dennoch hatte das geschlossene Bild desMittelalters e<strong>in</strong>en Sprung bekommen.O<strong>der</strong> - e<strong>in</strong>e überaus wichtige Entdeckung, wichtiger vielleicht noch als <strong>die</strong> Amerikas - war<strong>die</strong> Erf<strong>in</strong>dung o<strong>der</strong> Verbesserung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg <strong>in</strong> <strong>der</strong>ersten Hälfte des 15. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Dieses Me<strong>die</strong>n-Ereignis stellt e<strong>in</strong>en überaus großenE<strong>in</strong>schnitt dar, <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>s auf <strong>die</strong> Wissenschaften und dabei auch auf <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>größten E<strong>in</strong>fluss ausübte. Das Buch wurde zu e<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong> zugänglichen Gegenstand.Dem entsprach dann e<strong>in</strong>e verstärkte Alphabetisierung <strong>der</strong> Menschen, mit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellenLektüre dann e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bedeutung des <strong>in</strong>dividuellen Denkens überhaupt.Die Philosophen ten<strong>die</strong>ren für gewöhnlich dazu, <strong>die</strong> me<strong>die</strong>nhistorischen Großereignisse zuvernachlässigen, so als wäre <strong>der</strong> Buchdruck nicht etwas wichtiges für das Denken - nichtnur übrigens für <strong>die</strong> Verbreitung, son<strong>der</strong>n auch für <strong>die</strong> Art und Weise des Denkens. StellenSie sich vor, dass Sie gar nicht <strong>die</strong> Möglichkeit haben, e<strong>in</strong>en Text <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gewissenAuflagenzahl zu verteilen, dass Sie womöglich auf e<strong>in</strong>e Handschrift, <strong>die</strong> nur wie<strong>der</strong>abgeschrieben werden kann, angewiesen s<strong>in</strong>d. (Das lässt sich auf den Übergang von <strong>der</strong>mechanischen o<strong>der</strong> elektrischen Schreibmasch<strong>in</strong>e zum Computer übertragen. DasArbeiten am Computer hat <strong>die</strong> Herstellung e<strong>in</strong>es Textes noch e<strong>in</strong>mal tief verän<strong>der</strong>t. Soetwas lässt auch das Denken selber nicht unberührt. Die Geschw<strong>in</strong>digkeit <strong>der</strong> Produktionvon Texten ist e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>e geworden. Vielleicht ist auch das Denken schnellergeworden, vielleicht musste es schneller werden - was für <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> aber schlechtist. Zurück zur <strong>Neuzeit</strong>.)2


E<strong>in</strong>e Sicht, <strong>die</strong> ich persönlich favorisiere, <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>dung des Buchdruckszusammenhängt, ist <strong>die</strong> Emanzipation <strong>der</strong> Naturwissenschaft zu e<strong>in</strong>em zwischen Theorieund Experiment sich entwickelndem Wissen. Was me<strong>in</strong>t das? Nehmen wir Aristoteles,<strong>die</strong>ser für das ganze Mittelalter wichtige Philosoph (nun könnte man schon sagen: ja aber,Platon war auch wichtig und Plot<strong>in</strong> etc. - jede Epoche ist vielfältiger als wir me<strong>in</strong>en).Aristoteles prägt e<strong>in</strong> gewisses Verständnis <strong>der</strong> θεωρία. Das Höchste, was <strong>der</strong> Philosophleisten kann, ist <strong>die</strong> Betrachtung des Göttlichen, das als das sich selber denkende Denkencharakterisiert wird. Das ist <strong>die</strong> Theorie - re<strong>in</strong>e Betrachtung des sich selber Denkens. Daskonnte sehr gut auf das Christentum übertragen werden. Der Philosoph des Mittelalters -nicht selten Mönch - betrachtet Gott und nichts an<strong>der</strong>es. Das neuzeitliche Verständnis <strong>der</strong>Theorie bezieht sich aber vor allem auf <strong>die</strong> Natur, wobei <strong>die</strong>se nun Gegenstand <strong>der</strong>Betrachtung wird. Da ist dann wichtig, dass jede Aussage über <strong>die</strong> Natur auf ihrenWahrheitsgehalt h<strong>in</strong> befragt wird. Nehmen wir das sogenannte geozentrische o<strong>der</strong>ptolemäische Weltbild, das für das ganze Mittelalter verb<strong>in</strong>dlich war. Claudius Ptolemäuslebte zwischen 100 und 160 nach Christi Geburt. Er war e<strong>in</strong> Mathematiker, <strong>der</strong> auf Grundvon bestimmten sehr groben Beobachtungen <strong>die</strong> Theorie aufstellte, wonach sich <strong>die</strong>Sonne wie auch an<strong>der</strong>e Planeten um <strong>die</strong> Erde bewegen. Dieses geozentrische Weltbildwurde durch Nicolaus Kopernikus (1473-1543) revolutioniert. Nicht <strong>die</strong> Erde bef<strong>in</strong>det sichim Mittelpunkt des Universums, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> Sonne. Doch Kopernikus hatte <strong>die</strong>se Theorie<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Werk De revolutionibus orbium coelestium wie<strong>der</strong>um eben nur als e<strong>in</strong>emathematische Hypothese e<strong>in</strong>geführt. Damit konnte sich das Mittelalter, sprich: konntesich das Christentum und auch Rom durchaus arrangieren. Hier stand sozusagen e<strong>in</strong>eHypothese gegen das geozentrische Weltbild, nach dem <strong>die</strong> Erde das Zentrum desUniversums se<strong>in</strong> musste, weil es dem Willen Gottes entsprach. Das wurde aber <strong>in</strong> <strong>die</strong> Luftgesprengt, als e<strong>in</strong> gewisser Galileo Galilei (1564-1642) begann, <strong>die</strong> technischenInnovationen se<strong>in</strong>er Zeit, sprich: e<strong>in</strong> Teleskop (bzw. e<strong>in</strong> Mikroskop) <strong>in</strong> <strong>der</strong>Naturbetrachtung anzuwenden. Nun g<strong>in</strong>g es nicht mehr um Hypothesen, son<strong>der</strong>n um ihreVerifikation o<strong>der</strong> Falsifikation. Die Naturwissenschaft begann, experimentell gesichertesWissen zu for<strong>der</strong>n und e<strong>in</strong>zubr<strong>in</strong>gen. Das war e<strong>in</strong> ganz neues Verständnis von „Wissen“überhaupt. Auch <strong>die</strong> Philosophen des Mittelalters sprachen von e<strong>in</strong>em „Wissen“ und von<strong>der</strong> „Wahrheit“ - doch wie noch Aristoteles hätten sie nicht daran gedacht, dass nur das alswirkliches „Wissen“ gelten dürfe, was sich empirisch verifizieren ließe - e<strong>in</strong> Gedanke, <strong>der</strong>übrigens <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> bis heute sehr wesentlich betrifft. Der Übergang vom Mittelalterzur <strong>Neuzeit</strong> hängt demnach u.a. auch mit <strong>der</strong> Bedeutung zusammen, <strong>die</strong> wir <strong>der</strong> Technikund dem naturwissenschaftlichen Begriff des „Wissens“ zuschreiben. Es leuchtet e<strong>in</strong>, dass<strong>die</strong>se Zuschreibung auch mit <strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>dung des Buchdrucks zusammenhängt. Denn auch<strong>die</strong>se war ja nichts an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>novative Technologie.Noch e<strong>in</strong> Gedanke: wenn wir sagen können, <strong>die</strong> Technik ist an <strong>der</strong> Epochenschwelle vomMittelalter zur <strong>Neuzeit</strong> von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung, dann könnte dagegen e<strong>in</strong>gewendet3


werden, dass es ja schon immer Technik gegeben habe. Klar - wie hätten <strong>die</strong> Ägypter <strong>die</strong>Pyramiden, <strong>die</strong> Römer das Colosseum, <strong>die</strong> Griechen ihre Tempel, das Mittelalter se<strong>in</strong>eKathedralen bauchen können ohne Technik. Doch sowohl <strong>die</strong> Antike als auch dasMittelalter hatten <strong>die</strong> Möglichkeit, <strong>die</strong> Technik <strong>in</strong> ihr vorherrschendes Weltverständnis zu<strong>in</strong>tegrieren. Die Technik war und blieb latent, d.h. sie geriet we<strong>der</strong> mit essentiellenE<strong>in</strong>sichten <strong>der</strong> Philosophen noch mit Glaubenswahrheiten des Christentums <strong>in</strong> Konflikt.Wenn aber das Mittelalter noch <strong>die</strong> Technik <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Welt <strong>in</strong>tegrieren konnte, so beg<strong>in</strong>ntmit <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> <strong>die</strong> Technik selber alles <strong>in</strong> sich zu <strong>in</strong>tegrieren. Es gibt z.B. ke<strong>in</strong>en Gottmehr, <strong>der</strong> <strong>die</strong> Erde geschaffen hat, <strong>die</strong> Natur war nicht mehr göttlicher Herkunft. Sie wurdenun naturwissenschaftlich und d.h. technisch-mathematisch untersucht und damit <strong>in</strong><strong>die</strong>sen neuen Stil zu denken <strong>in</strong>tegriert. Die <strong>Neuzeit</strong> hat demnach nicht <strong>die</strong> Technikerfunden, sie hat nur ganz neue und entscheidende Möglichkeiten <strong>in</strong> ihr erkannt.Inwiefern das auf <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> Auswirkungen hatte, ist natürlich e<strong>in</strong>e wichtige Frage,<strong>die</strong> ich später beantworten möchte. Heute möchte ich noch e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Deutungsstrang<strong>der</strong> Epochen<strong>in</strong>terpretation des Verhältnisses von Mittelalter und <strong>Neuzeit</strong> betrachten.Dieser hängt mit dem Verständnis <strong>der</strong> Bedeutung des Menschen als solchen zusammen.Was o<strong>der</strong> wer war <strong>der</strong> Mensch des Mittelalters? Wer ist er <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>, am Anfang <strong>der</strong><strong>Neuzeit</strong>? Und wie gehört <strong>die</strong>se Frage und ihre Antwort <strong>in</strong> den Kontext des schonBesprochenen?Nehmen wir Thomas von Aqu<strong>in</strong>, dem vielleicht wichtigsten Philosophen des Mittelalters.Nun, für Thomas ist Aristoteles e<strong>in</strong>e wichtige Referenz. In De anima hatte Aristotelesgezeigt, <strong>in</strong>wiefern <strong>die</strong> Seele auch <strong>in</strong> Fragen <strong>der</strong> Erkenntnis von Bedeutung ist. Der Menschbesteht demnach aus e<strong>in</strong>er Seele und e<strong>in</strong>em Körper, wobei <strong>die</strong> Erkenntnis des S<strong>in</strong>nlichenund vor allem auch des Übers<strong>in</strong>nlichen (z.B. <strong>der</strong> Ideen o<strong>der</strong> auch e<strong>in</strong>fach <strong>der</strong> logischenGesetze) dem nous o<strong>der</strong> dem <strong>in</strong>tellectus (dem Verstand o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vernunft) zukommt.Soweit im Großen und Ganzen e<strong>in</strong>e Auffassung, <strong>die</strong> sich nicht beson<strong>der</strong>s von <strong>der</strong> <strong>der</strong><strong>Neuzeit</strong> zu unterscheiden sche<strong>in</strong>t. Doch nun geht es darum, zu bestimmen, <strong>in</strong> welcherWelt e<strong>in</strong> solcher Mensch sich bef<strong>in</strong>det. Diese nun ist von e<strong>in</strong>em ordo bestimmt, <strong>der</strong> ganzund gar christlich ist. Gott ist <strong>die</strong> höchste Wahrheit (dem Glauben zugänglich), höchstesSeiendes überhaupt (summum ens), <strong>der</strong> Mensch ist Geschöpf Gottes, ens creatum, alsTeil <strong>der</strong> Schöpfung überhaupt. In <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht richtet sich alle Praxis, alles Verhalten <strong>in</strong><strong>der</strong> Welt, nach <strong>die</strong>sem ordo.Das bedeutet, dass <strong>der</strong> Mensch Teil des ordos ist, dass er ganz dar<strong>in</strong> aufgeht, dass erdar<strong>in</strong> se<strong>in</strong> Glück und Unglück f<strong>in</strong>det - und dass er sich im christlichen Glauben auf <strong>die</strong>Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Welt auf das postmortale Leben vorzubereiten hat. Die Existenz hier undjetzt hat stets vorläufigen Charakter, es gibt noch e<strong>in</strong> An<strong>der</strong>es, ganz An<strong>der</strong>es. DiesesAn<strong>der</strong>e hängt zudem noch mit e<strong>in</strong>em letzten Gericht zusammen, d.h. mit e<strong>in</strong>er4


letzth<strong>in</strong>nigen Prüfung dessen, was hier und jetzt getan und nicht getan worden ist. Mitan<strong>der</strong>en Worten: es geht um Gott - nicht um das e<strong>in</strong>zelne Subjekt mit se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>dividuellenÄngsten und Hoffnungen.Das wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> <strong>in</strong> vielfältiger H<strong>in</strong>sicht an<strong>der</strong>s. Ich beziehe mich dabei zunächste<strong>in</strong>mal auf e<strong>in</strong>en Text aus <strong>der</strong> politischen <strong>Philosophie</strong> - vielleicht weil <strong>die</strong> Politik bzw. <strong>die</strong>politische <strong>Philosophie</strong> den Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt betreffend sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>eKompetenz hat - jedenfalls sollten wir doch annehmen, dass e<strong>in</strong> politischer Philosoph sichmit dem Menschen und <strong>der</strong> Welt beson<strong>der</strong>s gut auskennt (ob das so stimmt, lasse ichdah<strong>in</strong>gestellt). Ich beziehe mich dementsprechend auf e<strong>in</strong>en Text politischer <strong>Philosophie</strong>aus dem Mittelalter sowie auf e<strong>in</strong>en aus <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>. Auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite haben wir Demonarchia von Dante Alighieri aus dem Jahre 1316, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite NiccoloMachiavellis Il pr<strong>in</strong>cipe aus dem Jahre 1513.Dantes Text geht von <strong>der</strong> mittelalterlichen politischen Sphäre aus. Diese hat es mit zweibzw. mit drei relevanten Mächten zu tun. Für Dante konstituiert sie sich <strong>in</strong> den Gestaltendes römischen Kaisers, des Monarchen (Alle<strong>in</strong>herrschers), und des Papstes <strong>die</strong> politischeSphäre, von <strong>der</strong> er auszugehen hat. Die Frage ist nun nicht nur <strong>die</strong>, wie sich <strong>die</strong>se beidenMächte zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verhalten, son<strong>der</strong>n wie sich <strong>die</strong>se beiden Mächte <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong>edritte, nämlich <strong>die</strong> göttliche Macht, verhalten. Dabei muss er zunächst davon ausgehen,dass <strong>der</strong> Papst Stellvertreter Christi, d.h. Gottes, ist, was ihn ansche<strong>in</strong>end dazuprädest<strong>in</strong>iert, auch über den römischen Kaiser zu herrschen, denn klar ist, dass <strong>die</strong>höchste Herrschaft bei Gott liegt. (Hier spielen ziemlich handfeste Fragen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, denn imMittelalter war <strong>die</strong> politische Sphäre stets durch den Konflikt zwischen den Päpsten undden weltlichen Herrschern geprägt). Doch Dante argumentiert an<strong>der</strong>s. Er kommt nicht zudem Schluss, dass sich <strong>der</strong> römische Kaiser dem Papst unterwerfen müsse. Dante ist sichüber se<strong>in</strong>e orig<strong>in</strong>elle Lösung des Problems bewusst. So sagt er, dass se<strong>in</strong>e Untersuchung„vielleicht e<strong>in</strong>ige Entrüstung mir gegenüber hervorrufen“ werde, „da <strong>die</strong>se Wahrheit nichtohne das Erröten gewisser Leute enthüllt werden“ könne. Dante behauptet nämlich e<strong>in</strong>eUnabhängigkeit des Monarchen von <strong>der</strong> Kirche, <strong>der</strong>en Herrschaftsbereich er auf dasJenseits festlegt. Hier - <strong>in</strong> <strong>der</strong> zeitlichen Welt - herrscht das Imperium, <strong>in</strong> <strong>der</strong> ewigen Weltherrscht <strong>die</strong> Kirche.Wenn wir nun Machiavellis Il pr<strong>in</strong>cipe, d.h. das Buch über den „Fürsten“ zur Hand nehmen,so wird ganz äußerlich betrachtet <strong>der</strong> Unterschied zu Dante sehr schnell klar. Bereits aufden ersten Seiten macht Machiavelli deutlich, worum es ihm geht. Das Buch ist Lorenzode Medici gewidmet, e<strong>in</strong>em „echten“ Fürsten also, und soll ihm zeigen, wie vernünftigregiert werden kann. „Vernünftig“ ist natürlich e<strong>in</strong>e ungenaue Bestimmung. Was tutMachiavelli? „Ich kann Ihnen nichts Besseres anbieten als <strong>die</strong> Mittel, alles das, was ich <strong>in</strong><strong>der</strong> Schule des Unglücks durch so viele Jahre erlernt habe, <strong>in</strong> kurzer Zeit fassen zu5


können.“, heißt es. Die Schule des Unglücks ist für Machiavelli <strong>der</strong> Titel für se<strong>in</strong>e eigenenErfahrungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik <strong>der</strong> Stadt Florenz. Dort hatte er <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat lange Jahre gearbeitetund wusste daher sozusagen, wovon er sprach. Machiavelli bezieht se<strong>in</strong> Wissen über <strong>die</strong>Politik aus nichts an<strong>der</strong>em - und das ist entscheidend - aus nichts an<strong>der</strong>em als aus se<strong>in</strong>ersubjektiven Erfahrung, wobei Erfahrung hier nicht e<strong>in</strong>fach heißt: Empirie, son<strong>der</strong>n ebenLebens-Erfahrung.Das bedeutet, dass <strong>der</strong> mittelalterliche ordo mit Gott an se<strong>in</strong>er Spitze ke<strong>in</strong>e Rolle mehrspielt. Die Religion wird vielmehr für den Fürst e<strong>in</strong> Gegenstand se<strong>in</strong>er auf Effizienz bzw.Erfolg ausgerichteten Politik. Die Politik hat sich nicht mehr e<strong>in</strong>er obersten göttlichenMacht unterzuordnen, ja, sie hat sich noch nicht e<strong>in</strong>mal mehr - wie bei Dante - mit ihrause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>zusetzen. So heißt es e<strong>in</strong>mal bei Machiavelli: „Man kann als richtigvoraussetzen: E<strong>in</strong> Fürst, und namentlich e<strong>in</strong> neuer Fürst, kann nicht so handeln, wie <strong>die</strong>Menschen gewöhnlich handeln sollten, um rechtschaffen genannt zu werden; dasStaatserfor<strong>der</strong>nis nötigt ihn oft, Treue und Gauben zu brechen und <strong>der</strong> Menschenliebe,<strong>der</strong> Menschlichkeit und Religion entgegen zu handeln.“ (XVIII) Das ist e<strong>in</strong> Gedanke, <strong>der</strong> imMittelalter nicht geäußert wurde und wohl auch nicht geäußert werden konnte. Die Politikbehauptet sich mit Machiavelli zum ersten Mal (abgesehen natürlich von den antiken,vorchristlichen Texten) als e<strong>in</strong> alle<strong>in</strong> weltliches Wissen, als <strong>die</strong> höchste und daher freieFähigkeit, zu herrschen.Das nun, so kann man doch sagen, hat mit e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Auffassung des Menschen zutun. Und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat kann man sagen, dass Machiavelli nicht nur das Menschenbild desMittelalters, wonach e<strong>in</strong> Hauptmerkmal dar<strong>in</strong> besteht, dass <strong>der</strong> Mensch ens creatum ist,ablehnt - d.h. dass er es <strong>in</strong> <strong>der</strong> politischen Sphäre für irrelevant hält -, son<strong>der</strong>n dass ersogar das Aristotelische Verständnis des Menschen, wonach es im menschlichen Lebene<strong>in</strong>e gewisse Teleologie gibt, e<strong>in</strong>e Bewegung auf e<strong>in</strong> Ziel h<strong>in</strong>, negiert. Was <strong>die</strong> Praxis desMenschen bestimmt ist e<strong>in</strong> freier Wille im Verhältnis zur Fortuna, zum Schicksal, wenn Sieso wollen. D.h. es gibt <strong>in</strong> den Handlungen des Menschen immer <strong>die</strong> Stelle, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong>eletzth<strong>in</strong> unbeherrschbare Macht sich zeigt. Man kann sich als Fürst zwar <strong>die</strong>ser Machtannähern, man muss sich sogar irgendwie auf sie e<strong>in</strong>lassen, aber man muss sich dochdarüber im Klaren se<strong>in</strong>, dass hier etwas grundsätzlich Unberechenbares waltet. Dasbedeutet, dass <strong>die</strong> politische Sphäre von unbeherrschbaren Schwankungen bestimmtbleibt. Der Mensch ist <strong>die</strong>sen unbeherrschbaren Schwankungen ausgeliefert. Er ist alsogleichsam nichts an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik ausgesetztes Wesen, er ist ganz und garpolitisch demnach. Das enthält ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e theologische Sphäre. Der Mensch istganz frei davon.Vielleicht zeigt sich bereits <strong>in</strong> den Titeln De monarchia und Il pr<strong>in</strong>cipe e<strong>in</strong>e Verschiebungim Verständnis des Menschen an: auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite das Late<strong>in</strong>ische mit dem Gewicht6


auf <strong>die</strong> Staatsform als solche, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en das Italienische mit dem Subjekt <strong>der</strong> Macht,dem Fürsten selbst. Freilich, man muss dabei sehr vorsichtig se<strong>in</strong>. So gab es im Mittelalterden sogenannten „Fürstenspiegel“, Ermahnungsschriften, <strong>die</strong> sich an konkrete Herrscherwendeten. Machiavellis Text steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gewissen H<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Tradition. Dochse<strong>in</strong>e Radikalität <strong>der</strong> Ausschaltung des Christlichen bildet e<strong>in</strong>e unübersehbare Differenz zuihr.Die Frage ist nun, ob wir nicht auf Seiten <strong>der</strong> Religion e<strong>in</strong>e ähnliche Bewegung wie <strong>die</strong>f<strong>in</strong>den können, <strong>die</strong> wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politischen <strong>Philosophie</strong> f<strong>in</strong>den. Verblieb <strong>die</strong> Religionsozusagen im Mittelalter o<strong>der</strong> hat sie sich durch e<strong>in</strong>e eigene Innovation demEpochenwechsel angepasst? Da gibt es nun tatsächlich e<strong>in</strong> Phänomen, das genanntwerden muss: <strong>die</strong> Reformation, Mart<strong>in</strong> Luthers tiefe Wirkung auf das Christentum.Natürlich kann ich Ihnen hier nicht e<strong>in</strong>en echten Überblick über <strong>die</strong> Geschichte <strong>der</strong>Reformation o<strong>der</strong> des Protestantismus geben - das kann ich auch gar nicht. Ich möchtemich nur auf e<strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong> bekanntes Faktum beziehen. Bei Luther f<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>eHerausstellung <strong>der</strong> vier Sola-Formulierungen. Den reformierten Christ gibt es solascriptura, sola Christus, sola gratia und sola fide, d.h. alle<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> Schrift,auf Grund von Christus, auf Grund <strong>der</strong> Gnade und auf Grund des Glaubens. Was <strong>in</strong> <strong>die</strong>serAufzählung nicht vorkommt, ist <strong>die</strong> Kirche. Für das protestantische Christentum spielt <strong>die</strong>Kirche e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle. Das hat e<strong>in</strong>en tiefen E<strong>in</strong>schnitt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Auffassung desVerhältnisses zwischen Gott und Mensch h<strong>in</strong>terlassen. Während <strong>die</strong> katholische Kirchedaran festhält, dass sie Stellvertreter ist und das <strong>die</strong> Geistlichen <strong>die</strong> Vermittler s<strong>in</strong>dzwischen Gott und Mensch, sieht <strong>der</strong> Protestantismus e<strong>in</strong>e Unmittelbarkeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> nunje<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne Mensch sich im Verhältnis zu Gott bef<strong>in</strong>det. Das <strong>in</strong>tensiviert den Blick auf<strong>die</strong> Individualität des E<strong>in</strong>zelnen, auf se<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zigartiges Gewissen, für das ke<strong>in</strong>e Institutionzuständig ist, das von ke<strong>in</strong>er Institution vertreten wird. Sie wissen vielleicht, dass MaxWeber <strong>die</strong> Entstehung des Kapitalismus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Spielart des Protestantismus (1904), imCalv<strong>in</strong>ismus gesehen hat. Dabei spielt e<strong>in</strong>e spezifische Fassung des Verständnisses des„Berufes“ und <strong>der</strong> Identifikation mit ihr e<strong>in</strong>e Rolle. Ich unterlasse, das jetzt weiterauszuführen.Fassen wir e<strong>in</strong>mal alle Merkmale des Epochenwandels vom Mittelalter zur <strong>Neuzeit</strong>zusammen. Ich hatte von <strong>der</strong> Entdeckung Amerikas gesprochen, von <strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>dung desBuchdrucks bzw. <strong>der</strong> umfassenden Entwicklung neuer Technologien, von ihrem E<strong>in</strong>schlagauf das Verständnis von Theorie, von Wissen schlechth<strong>in</strong>, vom e<strong>in</strong>em Wandel <strong>in</strong> <strong>der</strong>Auffassung <strong>der</strong> politischen Sphäre bzw. des politischen Subjekts sowie von e<strong>in</strong>em Wandelim Bereich <strong>der</strong> Religion selbst, d.h. im Protestantismus, <strong>in</strong> dem <strong>die</strong> Rolle <strong>der</strong> Kirchereduziert wird. Das ist <strong>die</strong> Landschaft, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich das Mittelalter <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong> wälzt, <strong>in</strong> <strong>der</strong>etwas zu Ende geht, anhält, um <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> gewandelt neu zu ersche<strong>in</strong>en (o<strong>der</strong> - wie imFalle des Christentums - vielleicht ganz zu verschw<strong>in</strong>den - was allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong> langer7


Vorgang ist). In <strong>die</strong>ser Landschaft ist dann auch e<strong>in</strong>e Dichtung wie <strong>die</strong> von „Romeo undJulia“ (1595) o<strong>der</strong> des „Hamlet“ (1602) möglich; Dichtungen, <strong>in</strong> denen im Großen undGanzen jenseits des Christentums E<strong>in</strong>zelschicksale dramatisiert werden.Nun hat man sich den Übergang vom Mittelalter zur <strong>Neuzeit</strong> - ich hoffe, dass das klar ist -nicht so vorzustellen, als würde das Christentum als weltbestimmende Macht desMittelalters e<strong>in</strong>fach wegbrechen, als wären <strong>die</strong> Philosophen <strong>der</strong> frühen <strong>Neuzeit</strong>, also z.B.Descartes, Hobbes und Leibniz schlechth<strong>in</strong> atheistische o<strong>der</strong> gar gottlose Philosophen.Dass Gott im Denken <strong>der</strong> frühen <strong>Neuzeit</strong>, im sogenannten „Rationalismus“, natürlich noche<strong>in</strong>e große Rolle spielt, wissen Sie und wenn nicht, werde ich es Ihnen zeigen. Aber <strong>die</strong>Rolle, <strong>die</strong> Gott o<strong>der</strong> das Göttliche nunmehr im Denken spielt, ist e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e geworden.Gott ist nicht mehr <strong>der</strong> im Pr<strong>in</strong>zip philosophisch nicht erreichbare Herrscher, dem man sichim Glauben und im Gebet - jenseits <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> also - nähern kann, son<strong>der</strong>n Gott wirdso etwas wie e<strong>in</strong>e causa prima, e<strong>in</strong>e erste Ursache, <strong>die</strong> Ursache ihrer selbst ist, causa sui.Freilich kann sich auch <strong>die</strong>ser Gedanke auf das Mittelalter und <strong>die</strong> Antike beziehen, doches gibt so erhebliche Unterschiede (z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Auffassung, was e<strong>in</strong>e „Ursache“ (causa)ist), dass Unterschiede zwischen Mittelalter und <strong>Neuzeit</strong> auch hier aufgezeigt werdenkönnen.Die abschließende Frage heute, <strong>die</strong> bereits <strong>in</strong> <strong>die</strong> nächste Stunde h<strong>in</strong>überführt, ist <strong>die</strong>, objene Landschaft, <strong>die</strong> ich gerade gezeichnet habe, e<strong>in</strong>en Zusammenhang bildet, <strong>in</strong> demdas e<strong>in</strong>e mit dem an<strong>der</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art von Wechselwirkung steht, o<strong>der</strong> ob dasZusammentreffen <strong>der</strong> Merkmale des Epochenwandels e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>er Zufall ist. Die Antwortkann man natürlich vorwegnehmen. Als <strong>Philosophie</strong>rende müssen wir davon ausgehen,dass es hier e<strong>in</strong>en großen Zusammenhang gibt. Ich möchte dabei <strong>die</strong> Merkmale, <strong>die</strong> ichzusammengebracht habe, e<strong>in</strong>mal so beschreiben: <strong>die</strong> umfassende Entwicklung neuerTechnologien im Rahmen <strong>der</strong> Naturwissenschaften hängt mit bestimmten Bewegungen <strong>in</strong><strong>der</strong> Theologie und <strong>Philosophie</strong> zusammen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e reagiert auf <strong>die</strong> an<strong>der</strong>e, <strong>die</strong>Bewegungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Theologie und <strong>Philosophie</strong> lassen e<strong>in</strong> neues Verständnis desMenschen zur Ersche<strong>in</strong>ung kommen, <strong>die</strong> Kunst manifestiert <strong>die</strong>se Ersche<strong>in</strong>ung <strong>in</strong>Theaterstücken wie „Romeo und Julia“ o<strong>der</strong> „Hamlet“, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bildenden Kunst, <strong>die</strong> sichaus dem Kirchenraum verabschiedet und autonom zu werden beg<strong>in</strong>nt.Dieser ganze Zusammenhang schlägt sich nie<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Werk, mit dem z.B. Hegel <strong>die</strong><strong>Neuzeit</strong> emphatisch beg<strong>in</strong>nen lässt. In se<strong>in</strong>en Vorlesungen zur Geschichte <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>heißt es e<strong>in</strong>mal: „Wir kommen eigentlich jetzt erst zur <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> neuen Welt undfangen <strong>die</strong>se mit Cartesius an. Mit ihm treten wir eigentlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e selbständige<strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>, welche weiß, daß sie selbständig aus <strong>der</strong> Vernunft kommt und daß dasSelbstbewusstse<strong>in</strong> wesentliches Moment des Wahren ist. Hier können wir sagen, s<strong>in</strong>d wirzu Hause und können wie <strong>der</strong> Schiffer nach langer Umherfahrt auf <strong>der</strong> ungestümen8


See ,Land‘ rufen; Cartesius ist e<strong>in</strong>er von den Menschen, <strong>die</strong> wie<strong>der</strong> mit allem von vornangefangen haben; und mit ihm hebt <strong>die</strong> Bildung <strong>der</strong> neueren Zeit an.“ René Descartes(1596-1650) ist <strong>die</strong> Ikone - könnte man schon fast sagen - des Beg<strong>in</strong>ns <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>. Nunsagt Hegel schon, warum: weil „das Selbstbewußtse<strong>in</strong> wesentliches Moment des Wahren“ist. Was damit gesagt se<strong>in</strong> soll, müssen wir im Folgenden verstehen.Das Werk, auf das ich mich hier e<strong>in</strong>lassen werde, hat den vollen Titel: Meditationes deprima philosophia <strong>in</strong> quibus Dei existentia et animae humanae a corpore dist<strong>in</strong>ctiodemonstrantur“, zu Deutsch: „Meditationen über <strong>die</strong> erste <strong>Philosophie</strong>, <strong>in</strong> denen dasDase<strong>in</strong> Gottes und <strong>die</strong> Verschiedenheit <strong>der</strong> menschlichen Seele vom Körper bewiesenwerden“. Das Werk stammt aus dem Jahre 1641. Schauen wir uns zunächst e<strong>in</strong>mal denaufwendigen Titel an. Ich lasse das erste Wort erst e<strong>in</strong>mal außer Betracht. Es geht um <strong>die</strong>prima philosophia. Dieser Begriff geht auf Aristoteles zurück. Auf Griechisch heißt primaphilosophia πρώτη φιλοσοφία. Diese <strong>Philosophie</strong> ist e<strong>in</strong>erseits Ontologie, d.h. sie fragt:was ist das Seiende (als Seiendes)? Diese Frage enthält dann <strong>die</strong> weitere: was ist imhöchsten S<strong>in</strong>ne seiend? Mit <strong>die</strong>ser Frage wird <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> Theologie (nicht imchristlichen S<strong>in</strong>ne natürlich), denn das höchste Seiende ist für Aristoteles das Göttliche.Was Aristoteles so zusammenfasst, ist Gegenstand se<strong>in</strong>er Vorlesungen über <strong>die</strong>„Metaphysik“, über das Wissen, dass sich mit dem beschäftigt, was über das S<strong>in</strong>nliche, <strong>die</strong>Physik, h<strong>in</strong>ausgeht (<strong>die</strong> an<strong>der</strong>e Erläuterung des Titels ist hier nicht wichtig). Was demnachDescartes mit den Meditationen vorlegt, ist e<strong>in</strong>e Metaphysik, ist metaphysisches Denken.Das letzte Wort des Titels lautet: demonstrantur. Die Meditationes verstehen sich also alse<strong>in</strong>e demonstratio, wobei <strong>die</strong> demonstratio <strong>in</strong> den Meditationen selbst geleistet wird. E<strong>in</strong>edemonstratio ist e<strong>in</strong> Beweis, <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs hier bei Descartes nichts mit <strong>der</strong> Empirie zu tunhat. Die Demonstration <strong>der</strong> Wahrheit e<strong>in</strong>es Gedankens, se<strong>in</strong>e Prüfung, geschieht alle<strong>in</strong> imDenken, als Denken. Das bedeutet nicht, dass <strong>die</strong> Natur und das Wissen über sie ke<strong>in</strong>eBedeutung hat, im Gegenteil: Descartes ist e<strong>in</strong> Philosoph, <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Naturwissenschaftse<strong>in</strong>er Zeit stellt und <strong>der</strong> wichtige Beiträge (z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mathematik) leistet. Doch <strong>der</strong>Anspruch, den Descartes erhebt, ist, dass <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> im Denken alle<strong>in</strong> begründetwerden müsse. Deshalb nennt man <strong>die</strong>se Art von <strong>Philosophie</strong> auch „Rationalismus“, wobei<strong>die</strong>se Bezeichnungen zumeist nicht sehr wichtig s<strong>in</strong>d. Man muss wissen, was siebezeichnen.Was soll demonstriert werden? Zunächst e<strong>in</strong>mal: <strong>die</strong> Existenz Gottes. Damit - so könnteman sagen - zeigt Descartes bereits e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung mit dem Denken des Mittelalters an.Denn e<strong>in</strong>en sogenannten Gottesbeweis, e<strong>in</strong> Argument, dass alle<strong>in</strong> aus dem Verstand <strong>die</strong>Existenz Gottes „beweisen“ will, kennen wir von Anselm von Canterbury (1033-1109). Derhatte es natürlich nicht nötig, Gott zu beweisen, weil ihm <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Glauben <strong>die</strong> ExistenzGottes gewiss war. Doch er me<strong>in</strong>te, dass eben auch <strong>der</strong> Verstand ganz aus sich selbst9


das Argument entwickeln konnte, das beweist, dass Gott existiert. Diese Intention hatDescartes nicht. Für ihn hat <strong>der</strong> Gottesbeweis (o<strong>der</strong> <strong>die</strong> beiden Gottesbeweise, <strong>die</strong> wir <strong>in</strong>den Meditationen f<strong>in</strong>den) e<strong>in</strong>e bestimmte Funktion. In e<strong>in</strong>er gewissen H<strong>in</strong>sicht ist <strong>der</strong>Gottesbeweis bei Descartes sogar noch wichtiger als bei Anselm. Doch genau das, dassim Bereich des Denkens Gott e<strong>in</strong>e bestimmte rationale Funktion hat, zeigt schon, <strong>in</strong>wiefernsich Descartes auch vom Mittelalter entfernt. Gott - wie auch immer <strong>in</strong>teressant - erfüllte<strong>in</strong>e vernünftige Rolle - natürlich glaubt auch <strong>der</strong> Privatmann Descartes an Gott - aber<strong>die</strong>ser Glaube spielt ke<strong>in</strong>e philosophische Rolle mehr.Neben Gott werden dann noch genannt <strong>die</strong> anima humanae und das corpus mitsamt e<strong>in</strong>erdist<strong>in</strong>ctio, <strong>die</strong> menschliche Seele und <strong>der</strong> Körper <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Unterschied von <strong>der</strong> Seele.Dieser Unterschied ist dem Denken freilich schon seit Platon bekannt. Wer da genauereswissen will, muss den „Phaidon“ lesen. Seele und Körper bilden <strong>die</strong> beiden Bestandteile,aus denen <strong>der</strong> Mensch besteht. Die Seele ist dabei natürlich e<strong>in</strong> denkende Seele, <strong>die</strong>mens o<strong>der</strong> <strong>der</strong> animus, gehören zur Seele. Davon unterschieden - und zwar <strong>in</strong> radikalerWeise - wird <strong>der</strong> Körper. Das schon deshalb, weil <strong>die</strong> Seele unsterblich ist. Descartes willnun zwar <strong>in</strong> den Meditationen ke<strong>in</strong>eswegs <strong>die</strong> Unsterblichkeit <strong>der</strong> Seele beweisen, doch ermöchte sozusagen <strong>die</strong> Vorarbeit dazu leisten. Er geht demnach von ihr aus. Dass imUnterschied zur Seele <strong>der</strong> Körper verfällt und stirbt, ist deutlich. Es muss daher e<strong>in</strong>edist<strong>in</strong>ctio geben. Diese wird <strong>in</strong> den Meditationen demonstriert.Wovon Descartes hier spricht, was er hier nennt, bezeichnet er an<strong>der</strong>swo als <strong>die</strong> dreiSubstanzen, von denen <strong>die</strong> erste <strong>Philosophie</strong> ausgehen muss. Der Begriff <strong>der</strong> substantiaist e<strong>in</strong> altehrwürdiger <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> überhaupt. Er geht zurück auf das griechische Wortοὐσία, was es schon bei Platon, aber erst Recht bei Aristoteles gibt. Eigentlich besagt <strong>die</strong>substantia, was etwas eigentlich ist, was je<strong>der</strong> Bestimmung, <strong>die</strong> man e<strong>in</strong>em Seiendengeben kann, zugrundeliegt. An <strong>der</strong> Kuh ist <strong>die</strong> Substanz, was „kuhig“ ist, was e<strong>in</strong>e Kuh zurKuh macht. Sagen wir e<strong>in</strong>mal: ihre spezifische Form (d.h. auch ihr Stoff) und dass sie lebt.Das <strong>die</strong> Kuh schwarz- o<strong>der</strong> braunweiß o<strong>der</strong> me<strong>in</strong>etwegen p<strong>in</strong>k ist, gehört nicht zurSubstanz, das kommt sozusagen h<strong>in</strong>zu, ist akzidentiell. Soweit <strong>die</strong> Herkunft des Begriffes.Bei Descartes ist das nun aber noch e<strong>in</strong> wenig an<strong>der</strong>s als bei Aristoteles. Für <strong>die</strong>sennämlich ist jedes Seiende e<strong>in</strong>e ousía. Bei Descartes zieht sich alles Seiende auf <strong>die</strong> dreigenannten Substanzen zusammen. E<strong>in</strong>e davon wird als unendliche Substanz bezeichnet:Gott. Die an<strong>der</strong>en beiden s<strong>in</strong>d endliche Substanzen: <strong>die</strong> res cogitans (das Denken) und<strong>die</strong> res extensa (<strong>der</strong> Körper, <strong>die</strong> Ausdehnung). Alles Seiende ist demnach entwe<strong>der</strong> Gott,Denken und/o<strong>der</strong> Körper. E<strong>in</strong> Tisch z.B. ist ausgedehnt, denkt aber nicht.Bleibt noch das letzte Wort: Meditationen. Dieses Wort ist schlecht zu übersetzen. Esstammt vom Verb meditari, nachdenken, nachs<strong>in</strong>nen, sich vielleicht bes<strong>in</strong>nen. Wir kennen<strong>die</strong> Meditation eher als e<strong>in</strong>e spirituelle Übung, e<strong>in</strong>e Selbstversenkung. Doch das me<strong>in</strong>t10


Descartes natürlich nicht so. Bei ihm geht es um das Denken als Grund <strong>der</strong> ersten<strong>Philosophie</strong>, <strong>der</strong> Metaphysik. Alle<strong>in</strong> im Denken sollen <strong>die</strong> ersten Gegenstände <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> entfaltet und d.h. demonstriert werden. Das Denken ist das A und O <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong>. Man könnte me<strong>in</strong>en: das sei banal. Doch ke<strong>in</strong>eswegs: denn bereits im Titelwird gesagt, wo das eigentliche Fundament <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> zu suchen ist. Nicht <strong>in</strong> Gott,son<strong>der</strong>n im Denken (auch nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erfahrung). Von ihm geht <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> aus undzu ihm kommt sie zurück. Das ist e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf den Epochenwandel vom Mittelalter zur<strong>Neuzeit</strong>. Die <strong>Philosophie</strong> ist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie e<strong>in</strong> Denken.Was das besagen soll, erfahren wir dann <strong>in</strong> <strong>der</strong> nächsten Woche.11


2. VorlesungIch habe <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Woche e<strong>in</strong>e Landschaft zu zeichnen versucht, <strong>die</strong> den Übergangvom Mittelalter zur <strong>Neuzeit</strong> verdeutlicht. Dazu b<strong>in</strong> ich zu folgenden Elementen <strong>die</strong>serLandschaft gekommen: Es gibt umfassende Entwicklungen neuer Technologien imRahmen <strong>der</strong> Naturwissenschaften, <strong>die</strong> das Wissen als solches, das, was Wissen heißt,verän<strong>der</strong>n. Durch das Teleskop werden astronomische Aussagen überprüfbar. Dasgeozentrische Weltbild wird durch das heliozentrische abgelöst. Das hat großeKonsequenzen zunächst für <strong>die</strong> Theologie, <strong>die</strong> aber im Mittelalter mit <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>identisch ist. Die <strong>Philosophie</strong> tritt aus ihrem Verhältnis zur Theologie heraus und beg<strong>in</strong>nt,sich zu emanzipieren. Zugleich aber nähert sie sich den neuen Entdeckungen <strong>der</strong>Naturwissenschaft an. Das neue Verständnis des Wissens, <strong>die</strong> Krise <strong>der</strong> Theologie, lässte<strong>in</strong> neues Verständnis des Menschen entstehen. Die Kunst manifestiert <strong>die</strong>ses neueVerständnis <strong>in</strong> Theaterstücken wie „Romeo und Julia“ o<strong>der</strong> „Hamlet“, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bildendenKunst, <strong>die</strong> sich nicht mehr nur mit christlichen Motiven zu beschäftigen braucht(Renaissance).Dieser ganze Zusammenhang schlägt sich nie<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Werk, mit dem Hegel <strong>die</strong><strong>Neuzeit</strong> emphatisch beg<strong>in</strong>nen lässt. In se<strong>in</strong>en Vorlesungen zur Geschichte <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>heißt es e<strong>in</strong>mal: „Wir kommen eigentlich jetzt erst zur <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> neuen Welt undfangen <strong>die</strong>se mit Cartesius an. Mit ihm treten wir eigentlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e selbständige<strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>, welche weiß, daß sie selbständig aus <strong>der</strong> Vernunft kommt und daß dasSelbstbewusstse<strong>in</strong> wesentliches Moment des Wahren ist. Hier können wir sagen, s<strong>in</strong>d wirzu Hause und können wie <strong>der</strong> Schiffer nach langer Umherfahrt auf <strong>der</strong> ungestümenSee ,Land‘ rufen; Cartesius ist e<strong>in</strong>er von den Menschen, <strong>die</strong> wie<strong>der</strong> mit allem von vornangefangen haben; und mit ihm hebt <strong>die</strong> Bildung <strong>der</strong> neueren Zeit an.“ René Descartes(1596-1650) ist <strong>die</strong> Ikone des Beg<strong>in</strong>ns <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>. Wir müssen verstehen, warum.Das Werk, das uns zeigen kann, was Hegel me<strong>in</strong>t, hat den Titel: Meditationes de primaphilosophia <strong>in</strong> quibus Dei existentia et animae humanae a corpore dist<strong>in</strong>ctiodemonstrantur“, zu Deutsch: „Meditationen über <strong>die</strong> erste <strong>Philosophie</strong>, <strong>in</strong> denen dasDase<strong>in</strong> Gottes und <strong>die</strong> Verschiedenheit <strong>der</strong> menschlichen Seele vom Körper bewiesenwerden“. Sie stammen aus dem Jahre 1641. Wir haben uns den Titel recht genauangesehen. Wir haben bemerkt, dass es Descartes um <strong>die</strong> prima philosophia, d.h. um <strong>die</strong>Metaphysik geht, um e<strong>in</strong> Denken, das fragt: was ist das Seiende als solches - und was istdas höchste Seiende (erkläre Meta-physik). Wir haben zur Kenntnis genommen, dass dortvon Gott, <strong>der</strong> Seele und dem Körper <strong>die</strong> Rede ist. Wir haben auch gesehen, wie wichtig<strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> meditatio ist, des Nachs<strong>in</strong>nens, des Denkens.12


Ich möchte bevor ich zu dem Aufbau des Werkes zunächst noch etwas Weiteres zu<strong>die</strong>sem Titel sagen, weil er wirklich <strong>in</strong>teressant und sprechend ist. Wovon Descartes hierspricht, was er hier nennt, bezeichnet er an<strong>der</strong>swo als <strong>die</strong> drei Substanzen, von denen <strong>die</strong>erste <strong>Philosophie</strong> ausgehen muss. Der Begriff <strong>der</strong> substantia ist e<strong>in</strong> altehrwürdiger <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> überhaupt. Er geht zurück auf das griechische Wort οὐσία, was es schon beiPlaton, aber erst Recht bei Aristoteles gibt. Grundsätzlich besagt <strong>die</strong> substantia, wasetwas eigentlich ist, was je<strong>der</strong> Bestimmung, <strong>die</strong> man e<strong>in</strong>em Seienden geben kann,zugrundeliegt. An <strong>der</strong> Kuh ist <strong>die</strong> Substanz, was „kuhig“ ist, was e<strong>in</strong>e Kuh zur Kuh macht.Sagen wir e<strong>in</strong>mal: ihre spezifische Form (d.h. auch ihr Stoff) und dass sie lebt. Dass <strong>die</strong>Kuh schwarz- o<strong>der</strong> braunweiß o<strong>der</strong> me<strong>in</strong>etwegen p<strong>in</strong>k ist, gehört nicht zur Substanz, daskommt sozusagen h<strong>in</strong>zu, ist akzidentiell. Denn es gibt eben so und so farbige Kühe.Soweit <strong>die</strong> Herkunft des Begriffes. Bei Descartes ist das nun aber noch e<strong>in</strong> wenig an<strong>der</strong>sals bei Aristoteles. Für <strong>die</strong>sen nämlich ist jedes Seiende e<strong>in</strong>e ousía. Bei Descartes ziehtsich alles Seiende auf <strong>die</strong> drei genannten Substanzen zusammen. E<strong>in</strong>e davon wird alsunendliche Substanz bezeichnet: Gott. Die an<strong>der</strong>en beiden s<strong>in</strong>d endliche Substanzen: <strong>die</strong>res cogitans (das Denken) und <strong>die</strong> res extensa (<strong>der</strong> Körper, <strong>die</strong> Ausdehnung). AllesSeiende ist demnach entwe<strong>der</strong> Gott, Denken und/o<strong>der</strong> Körper. E<strong>in</strong> Tisch z.B. istausgedehnt, denkt aber nicht. Das Descartes von <strong>die</strong>sen drei Substanzen ausgeht, istwichtig, vor allem dann, wenn wir das Denken Sp<strong>in</strong>ozas verstehen wollen - auf den wirauch bald zu sprechen kommen werden.Nun also zum Aufbau <strong>die</strong>ses wichtigen Werkes (übrigens selbstverständlich nicht e<strong>in</strong>zigen,Descartes hat noch an<strong>der</strong>e wichtige Werke verfasst (z.B. den Discours de la méthode,1637 - <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Methode hängt mit dem zusammen, was ich e<strong>in</strong> neues Konzept desWissens genannt habe), aber ich konzentriere mich auf <strong>die</strong> Meditationen. Von ihnen gibtes sechs. Ich nenne e<strong>in</strong>mal kurz so etwas wie Überschriften. Die erste Meditation hat denTitel: Woran man zweifeln kann; <strong>die</strong> zweite: Über <strong>die</strong> Natur des menschlichen Geistes;dass se<strong>in</strong>e Erkenntnis ursprünglicher ist als <strong>die</strong> des Körpers; <strong>die</strong> dritte: Über das Dase<strong>in</strong>Gottes; <strong>die</strong> vierte: Über Wahrheit und Falschheit; <strong>die</strong> fünfte: Über das Wesen <strong>der</strong>materiellen D<strong>in</strong>ge und nochmals über das Dase<strong>in</strong> Gottes; <strong>die</strong> sechste: Über das Dase<strong>in</strong><strong>der</strong> materiellen D<strong>in</strong>ge und den substantiellen Unterschied zwischen Seele und Körper.Das s<strong>in</strong>d nicht <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zigen Teile <strong>der</strong> Meditationen. Sehr <strong>in</strong>teressant und m.E. wichtig istauch <strong>die</strong> Widmung des ganzen Buches an <strong>die</strong> heilige theologische Fakultät <strong>der</strong> Sorbonne<strong>in</strong> Paris. Wir müssen wissen, dass noch im Jahre 1600 Giordano Bruno <strong>in</strong> Rom öffentlichverbrannt wurde, weil ihn <strong>die</strong> Inquisition <strong>der</strong> Ketzerei beschuldigte. Ich sagte es: <strong>die</strong>Theologie befand sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise - und e<strong>in</strong>e Institution <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krise ist zuweilenunberechenbar (Galilei unter Hausarrest gestellt).Ich werde mich zunächst auf das beziehen, was Hegel über Descartes behauptet: „Wirkommen eigentlich jetzt erst zur <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> neuen Welt und fangen <strong>die</strong>se mit13


Cartesius an. Mit ihm treten wir eigentlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e selbständige <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>, welcheweiß, daß sie selbständig aus <strong>der</strong> Vernunft kommt und daß das Selbstbewusstse<strong>in</strong>wesentliches Moment des Wahren ist. Hier können wir sagen, s<strong>in</strong>d wir zu Hause undkönnen wie <strong>der</strong> Schiffer nach langer Umherfahrt auf <strong>der</strong> ungestümen See ,Land‘ rufen;Cartesius ist e<strong>in</strong>er von den Menschen, <strong>die</strong> wie<strong>der</strong> mit allem von vorn angefangen haben;und mit ihm hebt <strong>die</strong> Bildung <strong>der</strong> neueren Zeit an.“ Ich möchte das auf zwei bzw. dreiAussagen reduzieren: 1. <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> des Descartes komme „selbständig aus <strong>der</strong>Vernunft“; 2. das „Selbstbewusstse<strong>in</strong> sei wesentliches Moment des Wahren“ (ob das zweio<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Gedanke ist, braucht uns nicht zu <strong>in</strong>teressieren); 3. Descartes hat „mit allem vonvorn angefangen“.Ich beg<strong>in</strong>ne mit <strong>der</strong> dritten Bemerkung. Sie führt uns <strong>in</strong> <strong>die</strong> erste Meditation mit dem Titel„Woran man zweifeln kann“. Diese beg<strong>in</strong>nt nämlich: „Schon vor e<strong>in</strong>er Reihe von Jahrenhabe ich bemerkt, wieviel Falsches ist <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Jugend habe gelten lassen und wiezweifelhaft alles ist, was ich hernach darauf aufgebaut, daß ich daher e<strong>in</strong>mal im Lebenalles von Grund aus umstoßen und von den ersten Grundlagen an neu beg<strong>in</strong>nen müsse,wenn ich jemals für etwas Unerschütterliches und Bleibendes <strong>in</strong> den Wissenschaftenfesten Halt schaffen wollte.“ Der Satz sagt demnach ganz unmittelbar, was Hegelbehauptet: Descartes sagt, er habe bemerkt, dass das, was er früher gelernt habe undwas er darauf aufgebaut habe, falsch sei. Er müsse also noch e<strong>in</strong>mal von vorn anfangen.Doch so e<strong>in</strong>fach ist es nicht. Der Satz enthält schon sehr philosophische Aussagen.Wichtig ist zu hören, dass Descartes von den Grundlagen spricht, von dem, was allem zuGrunde liegt: von den Fundamenten (lat. fundamentum). Offenbar hat Descartes <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erJugend nämlich geme<strong>in</strong>t, er habe e<strong>in</strong>e spezifisches Fundament, auf das er alles, was erdenken wollte, hatte aufbauen können. Doch nun hat er festgestellt, dass <strong>die</strong>sesFundament e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>bildung war. Alles ist zweifelhaft geworden. Man muss also, was manfrüher aufgebaut hat, wie<strong>der</strong> umstoßen, um zu e<strong>in</strong>em neuen Fundament zu kommen.Dieses Fundament aber wird genauer bezeichnet: er wolle nämlich etwasUnerschütterliches und Bleibendes f<strong>in</strong>den, um den Wissenschaften Stabilität zu verleihen.Mit an<strong>der</strong>en Worten: es geht um das Fundament <strong>der</strong> Wissenschaften, um das Fundamentdes Wissens. Und um zu <strong>die</strong>sem neuen Fundament zu kommen, muss man allesumstoßen, was man früher für wahr hielt. Das me<strong>in</strong>t Hegel, wenn er sagt, dass Descartes„mit allem von vorn angefangen“ habe. Er hat <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong>, <strong>die</strong> Wissenschaften neubegründet - jedenfalls <strong>in</strong> den Augen Hegels.Wie nun geht Descartes dabei <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Meditation vor? Er gibt an, dass er nicht gutalle Me<strong>in</strong>ungen, <strong>die</strong> er seit se<strong>in</strong>er Jugend gehabt habe, wi<strong>der</strong>legen könne. Das wäre e<strong>in</strong>endlose Arbeit. Vielmehr me<strong>in</strong>t er, dass er sich auf <strong>die</strong> Pr<strong>in</strong>zipien stürzen müsse, vondenen se<strong>in</strong>e alten Me<strong>in</strong>ungen gestützt worden seien. Pr<strong>in</strong>zipien s<strong>in</strong>d aber nichts an<strong>der</strong>es14


als Grundsätze. Wie<strong>der</strong> geht es also um <strong>die</strong> ersten Gedanken, <strong>die</strong> ersten Grundlagen, <strong>die</strong>Descartes angreifen muss, um zu e<strong>in</strong>em wahren Fundament für se<strong>in</strong> Denken o<strong>der</strong> für dasDenken überhaupt zu gelangen. Wie aber kann Descartes <strong>die</strong>se Pr<strong>in</strong>zipien angreifen?Was tut er?Die Überschrift <strong>der</strong> ersten Meditation lautet ja: woran man zweifeln (dubitare) kann.Descartes nennt das Wort im Text zunächst nicht. Doch es ist klar, dass er genau damitbeg<strong>in</strong>nt: er beg<strong>in</strong>nt ziemlich schnell, zu zweifeln. Woran? Gehen wir e<strong>in</strong>mal densogenannten Zweifelsgang von Descartes mit.So heißt es zuerst: „Alles nämlich, was ich bisher am ehesten für wahr gehalten habe,verdanke ich den S<strong>in</strong>ne o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vermittlung <strong>der</strong> S<strong>in</strong>ne. Nun aber b<strong>in</strong> ichdah<strong>in</strong>tergekommen, dass <strong>die</strong>se uns bisweilen täuschen, und es ist e<strong>in</strong> Gebot <strong>der</strong> Klugheit,denen niemals ganz zu trauen, <strong>die</strong> uns auch nur e<strong>in</strong>mal getäuscht haben.“ Das ist <strong>der</strong>erste Zweifel: <strong>der</strong> Zweifel an <strong>der</strong> Wahrnehmung. Das ist ja auch naheliegend. Denn:beg<strong>in</strong>nt nicht alle unsere Erkenntnis ständig irgendwie mit <strong>der</strong> Wahrnehmung? UnserLeben würde sich jedenfalls sehr stark än<strong>der</strong>n, wenn wir plötzlich bl<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> taub wären.Wir orientieren uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt wie selbstverständlich durch <strong>die</strong> Wahrnehmung. Nununterscheidet Descartes <strong>die</strong> S<strong>in</strong>ne und <strong>die</strong> Vermittlung <strong>der</strong> S<strong>in</strong>ne - das ist leicht zuerklären: er me<strong>in</strong>t nur, dass wir e<strong>in</strong>erseits unmittelbar D<strong>in</strong>ge sehen und hören, dann kannuns aber auch z.B. e<strong>in</strong> Lehrer o<strong>der</strong> Professor etwas mitteilen über D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> man nichtunmittelbar sieht. Nun hören wir vermittelt etwas über D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> wir vielleicht erst späterwirklich unmittelbar erfahren.Sowohl <strong>die</strong> unmittelbare und <strong>die</strong> mittelbare S<strong>in</strong>neswahrnehmung kann täuschen. Wieaber? Ist das kle<strong>in</strong>e D<strong>in</strong>g da, was ich da sehe, wirklich e<strong>in</strong>e Maus - o<strong>der</strong> ist es nur e<strong>in</strong>Blatt? Ist das Gebäude dah<strong>in</strong>ten nicht ganz nahe (<strong>in</strong> Wirklichkeit aber ist es weit entfernt -es ist nur riesig groß, ersche<strong>in</strong>t deshalb als nah, was es nicht ist)? Ist <strong>die</strong>se Gestalt danicht <strong>die</strong>ser bestimmte? Man kann sich vielfach täuschen. D.h. Wahrnehmung ist nicht <strong>der</strong>Garant für absolut gewisses Wissen (freilich: gewaltig konstruierte Meßapparate s<strong>in</strong>detwas an<strong>der</strong>es als <strong>die</strong> natürliche Wahrnehmung, von <strong>der</strong> Descartes ausgeht - aber selbst<strong>die</strong>se Meßapparate müssen bei bestimmten Fragen immer mehrfach Messungendurchführen, um Fehler auszuschließen).Nun aber hat Descartes sogleich selbst e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>wand parat. Gewiss, man kann sich beibestimmten Wahrnehmungsfragen täuschen, doch schließlich gibt es auch D<strong>in</strong>ge, andenen man gar nicht zweifeln könne (hier fällt <strong>der</strong> Begriff zum ersten Mal). Das Beispiel,das er hat, lautet: „so z.B. dass ich jetzt hier b<strong>in</strong>, dass ich, mit me<strong>in</strong>em W<strong>in</strong>terrockangetan, am Kam<strong>in</strong> sitze, dass ich <strong>die</strong>ses Papier mit den Händen betaste und ähnliches;vollends, dass <strong>die</strong>se Hände selbst, dass überhaupt me<strong>in</strong> ganzer Körper da ist, wie könnte15


man mir das abstreiten?“ Es ist klar, was er me<strong>in</strong>t: wie könnte ich daran zweifeln, dass ichgerade hier stehe und e<strong>in</strong>e Vorlesung gebe? Wie könnten Sie zweifeln, dass Sie da sitzenund sich mit Ihrem Nachbarn unterhalten - o<strong>der</strong> sogar zuhören? Descartes schließt aus,dass se<strong>in</strong> Gehirn nicht bee<strong>in</strong>flusst ist durch Krankheit o<strong>der</strong> Drogen. Freilich: <strong>die</strong>se könnene<strong>in</strong>em Halluz<strong>in</strong>ationen verschaffen. Aber dann ist man eben, wie Descartes sagt: demens,d.h. soviel wie von S<strong>in</strong>nen, nicht mehr Herr se<strong>in</strong>er selbst. Er me<strong>in</strong>t damit, dass wir jas<strong>in</strong>nvollerweise <strong>die</strong>sen Unterschied machen. Wenn nun e<strong>in</strong>er hier im Raum aufschreienwürde, weil er Darth Va<strong>der</strong> sehen würde, würden wir ihn doch als wahns<strong>in</strong>nig bezeichnen.Wenn aber jemand sagen würde, er sähe mich hier stehen, dann fänden wir alle <strong>die</strong>seAussage völlig unbezweifelbar.Doch Descartes kennt e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Phänomen, dass uns zweifeln lässt: den Traum. ImTraum b<strong>in</strong> ich da und dort, ganz klar, ganz <strong>in</strong>tensiv. Ich habe deutliche Wahrnehmungen,ich fühle etwas. Ist das aber wirklich so? Habe ich im Traum genauso <strong>in</strong>tensiveTasterfahrungen wie im Wachen? Ich kann doch sagen: ich rede hier zu Ihnen, ich denkedoch, dass das so ist. Descartes aber - und das ist doch schon e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressanteBeobachtung - sagt dazu: „Als wenn ich mich nicht entsänne, dass ich sonst auch schonim Traum durch ähnliche Gedankengänge genarrt worden b<strong>in</strong>.“ Das will sagen: wir habendoch schon <strong>in</strong> Träumen gezweifelt, ob das auch wahr ist, was wir da erfahren. Das istselbst e<strong>in</strong>e Traumerfahrung, kann uns also ke<strong>in</strong> Argument gegen den Traum liefern.Descartes konze<strong>die</strong>rt: „dass Wachse<strong>in</strong> und Träumen niemals durch sichere Kennzeichenunterscheiden werden können“. Also träume ich vielleicht hier? Träume ich Sie mir?Wie kommt Descartes da heraus? (Das Thema ist ja sehr <strong>in</strong>teressant, kann jetzt aber nichtweiter durchgespielt werden.) Er sagt, dass es <strong>in</strong> Träumen doch allgeme<strong>in</strong>e Sachverhaltegibt, <strong>die</strong> davon unabhängig s<strong>in</strong>d, ob wir sie träumen - <strong>die</strong> also allgeme<strong>in</strong>e Geltungbeanspruchen können - ganz gleich, ob wir wachen o<strong>der</strong> träumen. Was s<strong>in</strong>d das fürallgeme<strong>in</strong>e Geltungen? Dass zu e<strong>in</strong>em Körper gehört so etwas wie Ausdehnung, Qualität,Quantität und Raum und Zeit - das, was <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> seit Aristoteles Kategorien nennt.Ich sage: da ist e<strong>in</strong>e Frau. Es kann se<strong>in</strong>, dass ich das träume: doch <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong>Quantität „e<strong>in</strong>s“, <strong>die</strong> gilt ganz gleich, ob ich träume o<strong>der</strong> schlafe.So sagt Descartes, dass <strong>die</strong> Arithmetik, <strong>die</strong> Geometrie und an<strong>der</strong>e Wissenschaften <strong>die</strong>serArt, <strong>die</strong> nur von den allere<strong>in</strong>fachsten und allgeme<strong>in</strong>sten Gegenständen handeln und sichwenig darum kümmern, ob <strong>die</strong>se <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirklichkeit vorhanden s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> nicht, etwas vonzweifelsfreier Gewissheit haben: 2+3= 5 - das gilt ganz gleich, ob ich schlafe o<strong>der</strong> wache.Es ist nicht unwichtig, dass also <strong>die</strong> Mathematik den Traume<strong>in</strong>wand auflöst. 2+3=5 istwahr, ob geträumt o<strong>der</strong> nicht. Ich könnte also doch sagen: hier haben wir das Fundament,das Descartes ja sucht. Der Traum kann gegen <strong>die</strong> Mathematik nicht an. E<strong>in</strong> Dreieck hatdrei Ecken - auch im Traum.16


Doch - <strong>der</strong> Zweifelsgang ist noch nicht zu Ende - denn es gibt e<strong>in</strong>e Möglichkeit, selbst an<strong>der</strong> Mathematik zu zweifeln.Descartes spricht von e<strong>in</strong>er „alten Überzeugung“ (vetus op<strong>in</strong>io). Diese besagt: dass ese<strong>in</strong>en Gott gibt und dass <strong>die</strong>ser Gott so, wie Descartes sei, ihn geschaffen habe. Diesealte Überzeugung hat bei Descartes - wie wir sehen werden - e<strong>in</strong>e große Bedeutung. Hierführt er noch nicht aus, was genau er damit me<strong>in</strong>t. Doch was er aus <strong>die</strong>ser Überzeugungherleitet, ist nun, dass er <strong>die</strong>sem Gott zutraut, er könne all das, von dem wir ausgehen,dass es existiert, f<strong>in</strong>gieren. Es ist nun also nicht mehr <strong>der</strong> Traum, <strong>der</strong> uns zweifeln lässt,ob wir alle hier <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Hörsaal s<strong>in</strong>d. Nach Descartes könnte Gott es so machen, dasswir glauben, wir seien hier - <strong>in</strong> Wirklichkeit ist aber alles nur Sche<strong>in</strong>. Noch mehr traut er<strong>die</strong>sem Gott zu - nämlich dass er uns nur vorgaukelt, 2+3=5. In Wahrheit könnte das dochgar nicht stimmen.Descartes macht sich sogleich e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>wand: Gott sei doch das summum bonum, dashöchste Gute. Daher würde er doch bestimmt se<strong>in</strong> Geschöpf, also den denkendenDescartes, nicht so sehr täuschen, dass <strong>die</strong> ganze Schöpfung nur e<strong>in</strong>e Fiktion sei. Gewiss- doch wenn er schon so gut ist, warum täuschen wir uns dann überhaupt? Dass wir unszuweilen täuschen, ist aber gewiss. Das ist e<strong>in</strong> schwieriges Problem, wie wir gleich sehenwerden.Zunächst aber etwas zu <strong>die</strong>sem Gottesverständnis. Dieses nämlich stammt sozusagenaus dem Mittelalter. Es war Wilhelm von Ockham (1288-1347), e<strong>in</strong> Franziskaner-Philosoph, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Denken ernst macht mit <strong>der</strong> Idee e<strong>in</strong>es omnipotenten Gottes,e<strong>in</strong>es Gottes also, <strong>der</strong> kraft <strong>der</strong> Allmacht e<strong>in</strong>e creatio ex nihilo, e<strong>in</strong>e Schöpfung aus demNichts vollziehen konnte. Dieser Gott ist so allmächtig, dass er auch <strong>die</strong> mathematischenGesetze geschaffen hat. Hat er <strong>die</strong>se aber geschaffen, so kann er sie auch verän<strong>der</strong>n,d.h. er könnte sozusagen <strong>die</strong> alten mathematischen Gesetze durch neue ersetzen. Dasshat er doch Konsequenzen, denn was gilt uns als gewisser, dass 1+1=2 ist? Deshalb sagtDescartes auch: „Freilich möchte es wohl manche geben, <strong>die</strong> lieber leugnen würden, dasse<strong>in</strong> so mächtiger Gott überhaupt existiert, als dass sie an <strong>die</strong> Ungewissheit aller an<strong>der</strong>enD<strong>in</strong>ge glaubten“. Will sagen: Lieber haben wir e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Idee von Gott, nämlich z.B.dass er nicht allmächtig ist, als dass wir akzeptieren könnten, selbst <strong>die</strong> Mathematik seiungewiss. (Gottesidee des „Voluntarismus“.) Descartes aber hat <strong>die</strong>se Idee von Gott,nämlich <strong>die</strong> <strong>der</strong> Allmacht. Doch - er sche<strong>in</strong>t zunächst <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung abzuwiegelnund sagt nur: mit denen, <strong>die</strong> also e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Vorstellung von Gott haben, wolle er nichtstreiten.17


Was für ihn aber übrig bleibt aus <strong>der</strong> Untersuchung, das ist <strong>die</strong> Gewissheit, dass er sichtäuschen kann, dass er also e<strong>in</strong> unvollkommenes, endliches Wesen ist. Nun könnte manzwar wie<strong>der</strong> zu den alten Me<strong>in</strong>ungen und Überzeugungen zurückkehren, doch Descarteswill bei se<strong>in</strong>em Zweifel bleiben. Ausdrücklich wird dabei festgestellt, dass das auch garnicht so gefährlich sei, weil es ja nicht ums Handeln (um <strong>die</strong> Praxis), son<strong>der</strong>n um dasErkennen (<strong>die</strong> Theorie) geht. (Es ist e<strong>in</strong> Gedanke des Descartes, dass das Wichtigste fürden Menschen das Handeln, <strong>die</strong> Praxis ist - nicht <strong>die</strong> Theorie.)Damit kehrt er zu se<strong>in</strong>em Gottesargument zurück, wobei er - se<strong>in</strong>er christlichenÜberzeugung entsprechend - Gott nun durch e<strong>in</strong>en genius malignus, e<strong>in</strong>en bösen Geist,ersetzt. Es könnte ja so se<strong>in</strong>en bösen Geist geben, <strong>der</strong> uns <strong>in</strong> allem re<strong>in</strong>legt, sogar <strong>in</strong>Bezug auf <strong>die</strong> mathematischen Gesetze re<strong>in</strong>legt. Es könnte doch se<strong>in</strong>, dass alles e<strong>in</strong>egeschaffene Fiktion ist. Das bedeutet dann aber, dass es zunächst e<strong>in</strong>mal nichts gibt,woran ich mich noch halten könnte. Alles ist nun ungewiss, alles ist unwahr.Das ist <strong>der</strong> Zweifelsgang, wie Descartes ihn <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Meditation vollzieht. Das, was erbesagt, ist: es gibt ke<strong>in</strong>e Gewissheit (certitudo). Das ist aber e<strong>in</strong> wichtiger Gedanke, <strong>der</strong>kurz auch erläutert werden muss. Wahrheit und Gewissheit s<strong>in</strong>d nicht ganz dasselbe.Zwar ist all das, was gewiss ist, auch wahr. Doch es gibt Wahres, das braucht noch nichtgewiss zu se<strong>in</strong>. Wenn ich Ihnen jetzt mitteilen würde, dass <strong>in</strong> Frankfurt e<strong>in</strong>e schwereterroristische Attacke stattgefunden hat, dann könnte das wahr se<strong>in</strong> - doch Sie werdensich so verhalten, als wäre das noch nicht gewiss. Sie werden me<strong>in</strong>e Mitteilungüberprüfen, sie auf ihren Wahrheitsgehalt h<strong>in</strong> untersuchen. Erst wenn Sie sich zureichend<strong>in</strong>formiert haben, werden Sie Gewissheit haben. Freilich - und das ist ja hier wichtig -selbst wenn Sie <strong>die</strong> Sachen aus dem Fernsehen erfahren, könnte das doch immer noche<strong>in</strong>e große Fiktion se<strong>in</strong>. Schließlich könnte doch das Fernsehen o<strong>der</strong> könnten <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>nuns doch e<strong>in</strong>fach etwas vorspielen.Descartes sucht nach Gewissheit und spielt <strong>die</strong> Möglichkeit durch, dass nichts gewiss ist.Denn es könnte ja e<strong>in</strong> Riesenmedium (e<strong>in</strong> böser Geist) alles nur ersche<strong>in</strong>en lassen, ohnedass etwas so ist, wie es sche<strong>in</strong>t. An <strong>die</strong>ser Stelle geschieht <strong>die</strong> Wendung. Es wird e<strong>in</strong>eGewissheit gefunden.Descartes hat mit <strong>der</strong> Generalverdächtigung, alles könnte e<strong>in</strong>e Fiktion se<strong>in</strong>, sich vor allemdarauf bezogen, dass ke<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>neswahrnehmung, ke<strong>in</strong> Körper, ke<strong>in</strong>e Gestalt, ke<strong>in</strong>eAusdehnung, ke<strong>in</strong>e Bewegung und ke<strong>in</strong> Ort existieren. Mit an<strong>der</strong>en Worten: all das, waswir für <strong>die</strong> objektiv existierende Welt halten - h<strong>in</strong>zugerechnet den eigenen Körper, <strong>der</strong> <strong>in</strong><strong>der</strong> Tat ja auf e<strong>in</strong>e bestimmte Weise zur Welt gehört. Nun aber stutzt Descartes und erfragt: „B<strong>in</strong> ich etwa so an den Körper und <strong>die</strong> S<strong>in</strong>ne gebunden, dass ich ohne sie nichtse<strong>in</strong> kann?“ An <strong>die</strong>ser Stelle bricht <strong>der</strong> Riss zwischen res extensa und res cogitans auf,18


zwischen den beiden endlichen Substanzen, von denen am Anfang <strong>die</strong> Rede war. Es me<strong>in</strong>Denken und es gibt offenbar me<strong>in</strong>en Körper (d.h. <strong>die</strong> ausgedehnte Welt). Wie steht denn<strong>die</strong>ses Denken zur ausgedehnten Welt? Und - e<strong>in</strong>e noch wichtigere Frage - <strong>die</strong> Frageüberhaupt an <strong>die</strong>ser Stelle - <strong>die</strong>se riesige Fiktion des bösen Geistes - bezieht <strong>die</strong> sich aufdas Denken genauso wie auf <strong>die</strong> ausgedehnte Welt?Es gibt e<strong>in</strong>en bösen Geist, <strong>der</strong> mich täuscht - das ist <strong>die</strong> Annahme. Gut, er mag michtäuschen, aber er muss doch mich täuschen. Wenn er mich täuscht, so muss dochunzweifelhaft gegeben se<strong>in</strong>, dass ich b<strong>in</strong>. Nun sagt Descartes: „Er täusche mich, soviel erkann, niemals wird er doch fertigbr<strong>in</strong>gen, dass ich nichts b<strong>in</strong>, solange ich denke, dass ichetwas sei.“ Das ist <strong>der</strong> Schritt zu jener so berühmten Formulierung: cogitatio est, ego sum,ego existo, certum est. Das Denken ist es. Ich b<strong>in</strong>, ich existiere, das ist gewiss. Das ist <strong>der</strong>Gedanke, <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Worten: ego cogito, ergo sum (je pense, donc je suis.) gefasst wird,e<strong>in</strong>e Formulierung, <strong>die</strong> so <strong>in</strong> den Meditationen nicht auftaucht, <strong>die</strong> aber doch <strong>der</strong> Sachenach dort geme<strong>in</strong>t ist.Was heißt das? Der Zweifel kann an allem zweifeln, nicht aber, dass e<strong>in</strong> Subjektvorausgesetzt werden muss, dass <strong>die</strong>sen Zweifel vollzieht. Zu <strong>die</strong>ser Erkenntnis kommtDescartes eben durch <strong>die</strong>sen Zweifel. Diese Erkenntnis ist aber gewiss - was ihrenCharakter ausmacht. Es kann ja se<strong>in</strong>, dass alles e<strong>in</strong>e Täuschung ist, ich kann aber nichtgetäuscht werden darüber, dass ich vorausgesetzt werden muss, um getäuscht zuwerden. Das ego cogito, ergo sum ist demnach <strong>die</strong> erste Gewissheit, <strong>die</strong> erste Gewissheit<strong>der</strong> prima philosophia, das fundamentum absolutum <strong>in</strong>concussum - wie man <strong>in</strong>Cartesianischer Diktion gesagt hat, d.h. das absolute unerschütterliche Fundament. D.h.<strong>der</strong> Satz ich denke, also b<strong>in</strong> ich, ist <strong>der</strong> erste absolut gewisse Satz e<strong>in</strong>er Wissenschaft, <strong>die</strong>nun e<strong>in</strong> festes Fundament besitzt.Das hat e<strong>in</strong>e große Wirkung gehabt. Rufen wir uns noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, was Hegelüber Descartes gesagt hat. 1. hat er gesagt, dass Descartes noch e<strong>in</strong>mal mit allem neuangefangen habe. Wir haben bereits gehört, dass Descartes das selbst sagt. 2. sagtHegel aber auch noch: „Mit ihm treten wir eigentlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e selbständige <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>,welche weiß, daß sie selbständig aus <strong>der</strong> Vernunft kommt und daß das Selbstbewusstse<strong>in</strong>wesentliches Moment des Wahren ist.“ Dieser Satz bezieht sich auf das fundamentumabsolutum <strong>in</strong>concussum, ego cogito, ergo sum. Hegel fasst <strong>die</strong>se erste Erkenntnis - als <strong>die</strong>Descartes den Satz versteht - als e<strong>in</strong>e Erkenntnis <strong>der</strong> Vernunft, <strong>die</strong> sich selbständig zu<strong>die</strong>ser Erkenntnis gebracht hat. So werde das „Selbstbewusstse<strong>in</strong>“ - Hegel spricht auchvon <strong>der</strong> „Subjektivität“ - „wesentliches Moment des Wahren“ - d.h. dass das Subjekt undse<strong>in</strong> sich über sich selbst verständigen nun zu allem gehört, was jemals gewusst werdenkann. Denn <strong>der</strong> Satz, ich denke, also b<strong>in</strong> ich, impliziert nach Hegel den Gedanken, dass<strong>die</strong>ses Ich bei je<strong>der</strong> Erkenntnis als e<strong>in</strong> Selbstverhältnis anwesend se<strong>in</strong> muss. Erkenntnis19


edeutet: dass ich weiß, dass ich <strong>die</strong>se Erkenntnis habe, bedeutet, dass ich mich selbstweiß, dass ich mir selbst bewusst b<strong>in</strong>.Gewiss - das ist e<strong>in</strong>e Interpretation, doch <strong>die</strong>se Interpretation ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> sehr mächtig geworden. Man hat Descartes gleichsam zum Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong>Subjektivitätsphilosophie o<strong>der</strong> -theorie gemacht, zum Stifter e<strong>in</strong>er Tradition, <strong>die</strong> sich als„idealistische“ Tradition bezeichnen lässt. Denker wie Kant o<strong>der</strong> eben Hegel s<strong>in</strong>dHauptvertreter <strong>die</strong>ser Tradition. Ob Descartes wirklich vorhatte, e<strong>in</strong>e solche Tradition zustiften, mag dah<strong>in</strong>gestellt bleiben. Zu se<strong>in</strong>er Zeit wurde er wegen <strong>die</strong>ser Begründung <strong>der</strong>prima philosophia durchaus stark kritisiert. Auch hat es zu allen Zeiten e<strong>in</strong>e Tradition <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> gegeben, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se subjektivitätstheoretische Begründung <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>ke<strong>in</strong>eswegs mitgetragen hat - z.B. <strong>der</strong> Materialismus, auf den ich noch zu sprechenkommen werde. Ob Descartes also <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne mo<strong>der</strong>n ist, wie Hegel ihn sieht, iste<strong>in</strong>e offene Frage.Kehren wir aber noch e<strong>in</strong>mal zurück zu dem Problem, wie es sich bei Descartes darstellt.Wir wollen ja wirklich verstehen, was hier so neu und ungewöhnlich und wichtig ist - wasdas alles womöglich mit dem Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>, mit dem Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es neuenMenschenverständnis o<strong>der</strong> Menschenbild zu tun hat. Man sagt, dass das ego cogito, ergosum e<strong>in</strong>e Idee <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>führt, <strong>die</strong> es vorher noch nicht gab, nämlich dass imDenken, im Sich-Selbst-Denken <strong>die</strong> Grundlage für alles Denken und Erkennen überhaupt,ja für alles Se<strong>in</strong> liegt. Denn wenn das Denken <strong>die</strong> Voraussetzung aller Erkenntnis ist, dannist sie <strong>die</strong> Voraussetzung von allem Se<strong>in</strong> - auch des Nicht-erkennbaren, denn auch <strong>die</strong>sesist schon im Bezug auf das Erkennen bestimmt. Mit Descartes lässt sich also sagen: Se<strong>in</strong>= Denken. Dass das Sich-selbst-Denken Grundlage von Allem ist, kann late<strong>in</strong>isch sogefasst werden, dass das Sich-selbst-Denken Subjekt von Allem ist - e<strong>in</strong> Wort, dassDescartes, wenn überhaupt, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne selten benutzt, das er viel eher noch <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em mittelalterlichen S<strong>in</strong>ne benutzt, wo es genau das Gegenteil bedeutet, nämlich„Objekt“. Aber das ist nicht so wichtig: das Denken ist jetzt Subjekt des Se<strong>in</strong>s schlechth<strong>in</strong>.Dieser Begriff entstammt e<strong>in</strong>er Übersetzung aus dem Griechischen, und zwar des Wortes:ὑποκείμενον, das Zugrundeliegende, e<strong>in</strong> Begriff, den Aristoteles geprägt hat und <strong>der</strong> ihnauf <strong>die</strong> Substanz bezogen hat. Das Denken ist das Subjekt, das Zugrundeliegende vonAllem - e<strong>in</strong> Gedanke, <strong>der</strong> dem Aristoteles und dem Mittelalter fremd gewesen ist, mit demalso, so wird gesagt, <strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong> beg<strong>in</strong>nt.(Ich möchte an <strong>die</strong>ser Stelle e<strong>in</strong> Missverständnis ausräumen, das viele Anfänger <strong>in</strong> <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> teilen. Die meisten anfangenden Studenten und Student<strong>in</strong>nen kommen mitdem Vorurteil <strong>in</strong> das Studium, dass das Subjekt <strong>die</strong> Voraussetzung des Subjektiven sei.Das Subjektive wird dann so verstanden, dass man sagt: was ich für wichtig und richtighalte, halte eben erst e<strong>in</strong>mal ich für wichtig und richtig, e<strong>in</strong> An<strong>der</strong>er kann das für unwichtig20


und unrichtig halten - das ist eben „subjektiv“. Das ist e<strong>in</strong> falscher und unphilosophischerGebrauch des Wortes. Am Ich denke des Descartes ist überhaupt nichts „Subjektives“.Das Ich denke ist <strong>die</strong> Formel für das Subjekt im Allgeme<strong>in</strong>en und schlechth<strong>in</strong>. Es gibt ke<strong>in</strong>Subjekt, das ke<strong>in</strong> „Ich denke“ ist. Dieser Gedanke ist natürlich auch selbst nichts„Subjektives“, also man kann nicht sagen: „ego cogito, ergo sum“, denkt Descartes ... Ichme<strong>in</strong>e aber, dass das ganz an<strong>der</strong>s ist. Das ist selbstredend Uns<strong>in</strong>n. Was wir so im Alltagfür „subjektiv“ halten, das haben <strong>die</strong> Philosophen von Anfang an als „Me<strong>in</strong>ung“ bezeichnet.Die „Me<strong>in</strong>ung“ ist aber von <strong>der</strong> „Wahrheit“ unterschieden. Ich kann demnach „me<strong>in</strong>en“,dass Marco Reus e<strong>in</strong> besserer Fußballer ist als Julian Draxler, ich kann aber nicht„me<strong>in</strong>en“, dass 1+1=2 ist. Sie können also <strong>in</strong> bestimmten Diskussionen (z.b: über Politik)<strong>die</strong> Sätze anfangen mit: „Ich me<strong>in</strong>e aber.“ Sie können aber nicht sagen, es sei e<strong>in</strong>„subjektiver“ Standpunkt, das Obama besser als Put<strong>in</strong> ist - auch das bleibt eben e<strong>in</strong>eMe<strong>in</strong>ung. Mit an<strong>der</strong>en Worten: „subjektiv“ <strong>in</strong> philosophischer H<strong>in</strong>sicht heißt nur: demSubjekt entsprechend, aber ke<strong>in</strong>eswegs dem jeweiligen Subjekt entsprechend. „Subjektiv“ist das, was ganz allgeme<strong>in</strong> dem „Subjekt“ zugesprochen werden muss - dass es z.B.Denken ist.)Zurück zu dem Effekt, den <strong>die</strong> erste und <strong>die</strong> zweite Meditation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> gemacht haben. Descartes hatte natürlich e<strong>in</strong>e solche Revolution gar nicht imBlick. Er wollte ke<strong>in</strong>eswegs behaupten, dass alles Se<strong>in</strong> nur Se<strong>in</strong> ist, wenn es gedachtwerden kann. Er wollte lediglich e<strong>in</strong>e erste, absolut gewisse Erkenntnis f<strong>in</strong>den, um auf ihrse<strong>in</strong>e Wissenschaft zu begründen. Man hat das auch so gefasst, dass <strong>der</strong> Zweifel an<strong>die</strong>ser Stelle e<strong>in</strong>e methodische Bedeutung. Der Zweifel <strong>die</strong>nt nur dazu, <strong>die</strong>se ersteGewissheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis zu f<strong>in</strong>den. Er hat gar ke<strong>in</strong>e weitere Bedeutung. Darübermüssen wir uns klar se<strong>in</strong>. Für gewöhnlich me<strong>in</strong>en wir, <strong>der</strong> Satz: ich denke, also b<strong>in</strong> ich,möchte me<strong>in</strong>e Existenz mit Gewissheit beweisen. Das ist aber nicht <strong>der</strong> Fall. Das „ergo“suggeriert nur e<strong>in</strong>en Schluss, <strong>der</strong> so gar nicht funktioniert. Es geht vielmehr darum, dassich <strong>in</strong>tuitiv das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er res cogitans voraussetzen muss, wenn e<strong>in</strong> Denkengeschieht. Ich habe e<strong>in</strong> Recht dazu, das vorauszusetzen. Diesbezüglich gibt es e<strong>in</strong>eErkenntnis, <strong>die</strong> sich als wahr herausstellt, denn ich kann nicht von e<strong>in</strong>emNichtvorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Ich auf e<strong>in</strong> Denken kommen. Wir hören gleichsam immer schonzuviel <strong>in</strong> dem Satz - <strong>der</strong>, wie gesagt, für Descartes e<strong>in</strong>en eher methodischen S<strong>in</strong>n hat.Dass das so ist, bezeugt m.E. <strong>die</strong> dritte Meditation mit <strong>der</strong> Überschrift: Über das Dase<strong>in</strong>Gottes. Von <strong>der</strong> zweiten Meditation mit <strong>der</strong> Überschrift Über <strong>die</strong> Natur des menschlichenGeistes aus gesehen, legt sich nicht unbed<strong>in</strong>gt nahe, dass e<strong>in</strong>e dritte folgt, <strong>die</strong> sich nun<strong>der</strong> Existenz Gottes widmet. Wozu braucht man noch Gott, wenn <strong>die</strong> prima philosophia sogut auf e<strong>in</strong>er ersten Gewissheit begründet wird? Da taucht am Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> drittenMeditation e<strong>in</strong> seltsamer Gedanke auf. Descartes kommt wie<strong>der</strong> auf das Problem zusprechen, dass er e<strong>in</strong>en bösen Geist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Zweifelsgang e<strong>in</strong>gesetzt hat. Nun weist er21


darauf h<strong>in</strong>, dass er ke<strong>in</strong>e Veranlassung habe, von <strong>der</strong> Existenz e<strong>in</strong>es solchen bösenGottes auszugehen, ja, dass er noch nicht e<strong>in</strong>mal weiß, ob es Gott überhaupt gibt. Das seija erst e<strong>in</strong>mal nur e<strong>in</strong> Vorurteil. Und daher fällt e<strong>in</strong> fragwürdiges Licht auf denZweifelsgang. Solange Gottes Dase<strong>in</strong> nicht bewiesen ist, ist <strong>der</strong> Zweifelsgangunbefriedigend. Ja, Descartes sagt den seltsamen Satz: „Denn solange das unbekannt ist(ob Gott existiert und ob er e<strong>in</strong> Betrüger se<strong>in</strong> kann), glaube ich nicht, dass ich über irgendetwas an<strong>der</strong>es völlig gewiss se<strong>in</strong> kann.“Das ist nun e<strong>in</strong> überraschend traditioneller Gedanke, <strong>der</strong> <strong>die</strong> zweite Meditation mit ihreransche<strong>in</strong>enden Radikalität ziemlich relativiert. Die Existenz Gottes muss demnach e<strong>in</strong>eerste Gewissheit se<strong>in</strong>, von <strong>der</strong> alle weiteren Gewissheiten abhängen. Das kl<strong>in</strong>gt dann abernoch durchaus nach Mittelalter, will sagen: <strong>der</strong> Gedanke, <strong>die</strong> Existenz Gottes ist <strong>die</strong>Voraussetzung von allem - das ist strukturell betrachtet e<strong>in</strong> Gedanke <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> desMittelalters. Es ist aber für uns erst e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Frage, ob Descartes mit se<strong>in</strong>er drittenMeditation Ähnliches will wie <strong>die</strong> Philosophen des Mittelalters. Ja, was will er überhauptmit dem Beweis vom Dase<strong>in</strong> Gottes? Das ist e<strong>in</strong>e Frage, <strong>die</strong> ich heute nicht mehr zubeantworten versuchen möchte. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit nicht überstrapazieren.Zuletzt möchte ich nur noch e<strong>in</strong>mal betonen, dass ich anfangs behauptete, <strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong>beg<strong>in</strong>ne auch mit e<strong>in</strong>em neuen Menschenbild. Wenn für das Mittelalter <strong>der</strong> Mensch enscreatum ist, also Geschöpf Gottes, e<strong>in</strong> Geschöpf unter an<strong>der</strong>en Geschöpfen (zwar erstesGeschöpf, weil Ebenbild Gottes, aber doch eben Geschöpf), e<strong>in</strong> Geschöpf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er vonGott geschaffenen Ordnung, so ist <strong>der</strong> Mensch <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> das freiere Individuum, dassich aus dem ordo des Mittelalters löst und sich auf e<strong>in</strong>en Weg begibt, <strong>der</strong> dann <strong>in</strong> <strong>der</strong>„Aufklärung“ endet. Ich hatte das ja <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Woche an dem Vergleich von Dantes Demonarchia und Machiavellis Il pr<strong>in</strong>cipe zu zeigen gesucht. Descartes entspricht <strong>die</strong>serInterpretation natürlich gleichsam, <strong>in</strong>dem er das Ich denke, das Subjekt, zum absolutenund unerschütterlichen Fundament des Wissens macht.In <strong>der</strong> nächsten Woche werden wir uns noch <strong>die</strong> dritte Meditation genauer anschauen,denn sie ist wichtig für das, was nach Descartes als <strong>Neuzeit</strong> gilt.22


Dritte VorlesungIn <strong>der</strong> letzten Woche haben mich Unwetter davon abgehalten, pünktlich zu ersche<strong>in</strong>en und<strong>die</strong> Vorlesung wie geplant zu halten. Dennoch habe ich dann schon e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> <strong>die</strong>„Meditationen“ des Descartes e<strong>in</strong>geführt. Ich werde kurz wie<strong>der</strong>holen, was wir da gehörthaben, um dann fortzufahren.Zunächst noch e<strong>in</strong>mal zum Aufbau des Werkes. Es gibt sechs Meditationen. Die ersteMeditation hat den Titel: Woran man zweifeln kann; <strong>die</strong> zweite: Über <strong>die</strong> Natur desmenschlichen Geistes; dass se<strong>in</strong>e Erkenntnis ursprünglicher ist als <strong>die</strong> des Körpers; <strong>die</strong>dritte: Über das Dase<strong>in</strong> Gottes; <strong>die</strong> vierte: Über Wahrheit und Falschheit; <strong>die</strong> fünfte: Überdas Wesen <strong>der</strong> materiellen D<strong>in</strong>ge und nochmals über das Dase<strong>in</strong> Gottes; <strong>die</strong> sechste:Über das Dase<strong>in</strong> <strong>der</strong> materiellen D<strong>in</strong>ge und den substantiellen Unterschied zwischenSeele und Körper. Uns geht es um <strong>die</strong> ersten drei Meditationen.Um zu verstehen, was an Descartes so „neu“ ist, was ihn also als den ersten Denker <strong>der</strong><strong>Neuzeit</strong> ausweist, habe ich auf e<strong>in</strong> Zitat von Georg Wilhelm Friedrich Hegel h<strong>in</strong>gewiesen,aus se<strong>in</strong>en Vorlesungen über <strong>die</strong> „Geschichte <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>“. Ich möchte <strong>die</strong>ses Zitatnicht noch e<strong>in</strong>mal vorlesen, son<strong>der</strong>n auf zwei bzw. drei Aussagen reduzieren: 1. <strong>die</strong><strong>Philosophie</strong> des Descartes komme „selbständig aus <strong>der</strong> Vernunft“; 2. das„Selbstbewusstse<strong>in</strong> sei wesentliches Moment des Wahren“ (ob das zwei o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>Gedanke ist, braucht uns nicht zu <strong>in</strong>teressieren); 3. Descartes hat „mit allem von vornangefangen“.Die dritte Bemerkung war schnell aufzulösen, denn Descartes sagt am Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> 1.Meditation selber, dass ihm all se<strong>in</strong>e alten Überzeugungen zweifelhaft geworden seien, sodass er noch e<strong>in</strong>mal ganz von vorn habe anfangen müssen. Ich hatte aber daraufh<strong>in</strong>gewiesen, dass <strong>die</strong>ser Anfang doch e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>er ist. Es geht nicht e<strong>in</strong>fach darum,alles noch e<strong>in</strong>mal zu durchdenken, was man für wahr hielt, son<strong>der</strong>n darum, auf e<strong>in</strong> erstesunerschütterliches Fundament zu kommen. Es geht darum, e<strong>in</strong>e erste unerschütterlicheErkenntnis zu f<strong>in</strong>den, auf welcher dann e<strong>in</strong>e neue und vor allem echte Wissenschaftaufbauen kann. Denn es ist ja klar, sollte irgende<strong>in</strong> Wissen auf e<strong>in</strong>em schwachen undunsicheren Grund aufbauen, ist es im eigentlichen S<strong>in</strong>ne gar nicht als Wissen zubezeichnen.Was tut Descartes nun, um an e<strong>in</strong> solches Fundament zu gelangen? Er beg<strong>in</strong>nt, an Allemzu zweifeln. Die erste Meditation lautet: Woran man zweifeln kann. Diesen Zweifelsganghatten wir hier schon e<strong>in</strong> wenig verfolgt. Zunächst beg<strong>in</strong>nt Descartes, gleichsam amunmittelbaren Wissen zu zweifeln, d.h. an <strong>der</strong> Wahrnehmung. Die Wahrnehmung täuschtoft genug, also ist ihr Wahrheitsgehalt begrenzt. Aber - E<strong>in</strong>wand dagegen - dass wir hier23


s<strong>in</strong>d, dass ich e<strong>in</strong>en Vortrag halte, dass ist doch bestimmt wahr. Ne<strong>in</strong>, auch daran kannman zweifeln, denn wir träumen oft genug auf e<strong>in</strong>e solche Weise, dass wir wirklichme<strong>in</strong>en, dass Geträumte sei absolut real. Ja, zuweilen träumen wir sogar, dass wirträumen, so dass das Argument, wir könnten ja jetzt sagen, dass wir manchmal träumen,<strong>in</strong> Wahrheit ke<strong>in</strong>es ist.Wie kommt Descartes da heraus? (Das Thema ist ja sehr <strong>in</strong>teressant, kann jetzt aber nichtweiter durchgespielt werden.) Er sagt, dass es <strong>in</strong> Träumen doch allgeme<strong>in</strong>e Sachverhaltegibt, <strong>die</strong> davon unabhängig s<strong>in</strong>d, ob wir sie träumen - <strong>die</strong> also allgeme<strong>in</strong>e Geltungbeanspruchen können - ganz gleich, ob wir wachen o<strong>der</strong> träumen. Was s<strong>in</strong>d das fürallgeme<strong>in</strong>e Geltungen? Dass zu e<strong>in</strong>em Körper gehört so etwas wie Ausdehnung, Qualität,Quantität und Raum und Zeit - das, was <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> seit Aristoteles Kategorien nennt.Ich sage: da ist e<strong>in</strong>e Frau. Es kann se<strong>in</strong>, dass ich das träume: doch <strong>die</strong> Kategorie <strong>der</strong>Quantität „e<strong>in</strong>s“, <strong>die</strong> gilt ganz gleich, ob ich träume o<strong>der</strong> schlafe.So sagt Descartes, dass <strong>die</strong> Arithmetik, <strong>die</strong> Geometrie und an<strong>der</strong>e Wissenschaften <strong>die</strong>serArt, <strong>die</strong> nur von den allere<strong>in</strong>fachsten und allgeme<strong>in</strong>sten Gegenständen handeln und sichwenig darum kümmern, ob <strong>die</strong>se <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wirklichkeit vorhanden s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> nicht, etwas vonzweifelsfreier Gewissheit haben: 2+3= 5 - das gilt ganz gleich, ob ich schlafe o<strong>der</strong> wache.Es ist nicht unwichtig, dass also <strong>die</strong> Mathematik den Traume<strong>in</strong>wand auflöst. 2+3=5 istwahr, ob geträumt o<strong>der</strong> nicht. Ich könnte also doch sagen: hier haben wir das Fundament,das Descartes ja sucht. Der Traum kann gegen <strong>die</strong> Mathematik nicht an. E<strong>in</strong> Dreieck hatdrei Ecken - auch im Traum.Doch - <strong>der</strong> Zweifelsgang ist noch nicht zu Ende - denn es gibt e<strong>in</strong>e Möglichkeit, selbst an<strong>der</strong> Mathematik zu zweifeln.Descartes spricht von e<strong>in</strong>er „alten Überzeugung“ (vetus op<strong>in</strong>io). Diese besagt: dass ese<strong>in</strong>en Gott gibt und dass <strong>die</strong>ser Gott so, wie Descartes sei, ihn geschaffen habe. Diesealte Überzeugung hat bei Descartes - wie wir sehen werden - e<strong>in</strong>e große Bedeutung. Hierführt er noch nicht aus, was genau er damit me<strong>in</strong>t. Doch was er aus <strong>die</strong>ser Überzeugungherleitet, ist nun, dass er <strong>die</strong>sem Gott zutraut, er könne all das, von dem wir ausgehen,dass es existiert, f<strong>in</strong>gieren. Es ist nun also nicht mehr <strong>der</strong> Traum, <strong>der</strong> uns zweifeln lässt,ob wir alle hier <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Hörsaal s<strong>in</strong>d. Nach Descartes könnte Gott es so machen, dasswir glauben, wir seien hier - <strong>in</strong> Wirklichkeit ist aber alles nur Sche<strong>in</strong>. Noch mehr traut er<strong>die</strong>sem Gott zu - nämlich dass er uns nur vorgaukelt, 2+3=5. In Wahrheit könnte das dochgar nicht stimmen.Descartes macht sich sogleich e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>wand: Gott sei doch das summum bonum, dashöchste Gute. Daher würde er doch bestimmt se<strong>in</strong> Geschöpf, also den denkenden24


Descartes, nicht so sehr täuschen, dass <strong>die</strong> ganze Schöpfung nur e<strong>in</strong>e Fiktion sei. Gewiss- doch wenn er schon so gut ist, warum täuschen wir uns dann überhaupt? Dass wir unszuweilen täuschen, ist aber gewiss. Das ist e<strong>in</strong> schwieriges Problem, wie wir gleich sehenwerden.Zunächst aber etwas zu <strong>die</strong>sem Gottesverständnis. In <strong>der</strong> dritten Meditation, auf <strong>die</strong> wirgleich e<strong>in</strong>gehen werden, heißt es: „Unter dem Namen ,Gott“ verstehe ich e<strong>in</strong>e Substanz,<strong>die</strong> unendlich, unabhängig, allwissend und allmächtig ist - und von <strong>der</strong> ich selbstgeschaffen b<strong>in</strong>.“ E<strong>in</strong>e sehr wichtige Bestimmung. Diese stammt sozusagen aus demMittelalter. Es war Wilhelm von Ockham (1288-1347), e<strong>in</strong> Franziskaner-Philosoph, <strong>der</strong> <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em Denken ernst macht mit <strong>der</strong> Idee e<strong>in</strong>es omnipotenten Gottes, e<strong>in</strong>es Gottes also,<strong>der</strong> kraft <strong>der</strong> Allmacht e<strong>in</strong>e creatio ex nihilo, e<strong>in</strong>e Schöpfung aus dem Nichts vollziehenkonnte. Dieser Gott ist so allmächtig, dass er auch <strong>die</strong> mathematischen Gesetzegeschaffen hat. Hat er <strong>die</strong>se aber geschaffen, so kann er sie auch verän<strong>der</strong>n, d.h. erkönnte sozusagen <strong>die</strong> alten mathematischen Gesetze durch neue ersetzen. Dass hat erdoch Konsequenzen, denn was gilt uns als gewisser, dass 1+1=2 ist? Deshalb sagtDescartes auch: „Freilich möchte es wohl manche geben, <strong>die</strong> lieber leugnen würden, dasse<strong>in</strong> so mächtiger Gott überhaupt existiert, als dass sie an <strong>die</strong> Ungewissheit aller an<strong>der</strong>enD<strong>in</strong>ge glaubten“. Will sagen: Lieber haben wir e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Idee von Gott, nämlich z.B.dass er nicht allmächtig ist, als dass wir akzeptieren könnten, selbst <strong>die</strong> Mathematik seiungewiss. (Gottesidee des „Voluntarismus“.) Descartes aber hat <strong>die</strong>se Idee von Gott,nämlich <strong>die</strong> <strong>der</strong> Allmacht. Doch - er sche<strong>in</strong>t zunächst <strong>die</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung abzuwiegelnund sagt nur: mit denen, <strong>die</strong> also e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Vorstellung von Gott haben, wolle er nichtstreiten.Was für ihn aber übrig bleibt aus <strong>der</strong> Untersuchung, das ist <strong>die</strong> Gewissheit, dass er sichtäuschen kann, dass er also e<strong>in</strong> unvollkommenes, endliches Wesen ist. Nun könnte manzwar wie<strong>der</strong> zu den alten Me<strong>in</strong>ungen und Überzeugungen zurückkehren, doch Descarteswill bei se<strong>in</strong>em Zweifel bleiben. Ausdrücklich wird dabei festgestellt, dass das auch garnicht so gefährlich sei, weil es ja nicht ums Handeln (um <strong>die</strong> Praxis), son<strong>der</strong>n um dasErkennen (<strong>die</strong> Theorie) geht. (Es ist e<strong>in</strong> Gedanke des Descartes, dass das Wichtigste fürden Menschen das Handeln, <strong>die</strong> Praxis ist - nicht <strong>die</strong> Theorie.)Damit kehrt er zu se<strong>in</strong>em Gottesargument zurück, wobei er - se<strong>in</strong>er christlichenÜberzeugung entsprechend - Gott nun durch e<strong>in</strong>en genius malignus, e<strong>in</strong>en bösen Geist,ersetzt. Es könnte ja so se<strong>in</strong>en bösen Geist geben, <strong>der</strong> uns <strong>in</strong> allem re<strong>in</strong>legt, sogar <strong>in</strong>Bezug auf <strong>die</strong> mathematischen Gesetze re<strong>in</strong>legt. Es könnte doch se<strong>in</strong>, dass alles e<strong>in</strong>egeschaffene Fiktion ist. Das bedeutet dann aber, dass es zunächst e<strong>in</strong>mal nichts gibt,woran ich mich noch halten könnte. Alles ist nun ungewiss, alles ist unwahr.25


Das ist <strong>der</strong> Zweifelsgang, wie Descartes ihn <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Meditation vollzieht. Das, was erbesagt, ist: es gibt ke<strong>in</strong>e Gewissheit (certitudo). Das ist aber e<strong>in</strong> wichtiger Gedanke, <strong>der</strong>kurz auch erläutert werden muss. Wahrheit und Gewissheit s<strong>in</strong>d nicht ganz dasselbe.Zwar ist all das, was gewiss ist, auch wahr. Doch es gibt Wahres, das braucht noch nichtgewiss zu se<strong>in</strong>. Wenn ich Ihnen jetzt mitteilen würde, dass <strong>in</strong> Frankfurt e<strong>in</strong>e schwereterroristische Attacke stattgefunden hat, dann könnte das wahr se<strong>in</strong> - doch Sie werdensich so verhalten, als wäre das noch nicht gewiss. Sie werden me<strong>in</strong>e Mitteilungüberprüfen, sie auf ihren Wahrheitsgehalt h<strong>in</strong> untersuchen. Erst wenn Sie sich zureichend<strong>in</strong>formiert haben, werden Sie Gewissheit haben. Freilich - und das ist ja hier wichtig -selbst wenn Sie <strong>die</strong> Sachen aus dem Fernsehen erfahren, könnte das doch immer noche<strong>in</strong>e große Fiktion se<strong>in</strong>. Schließlich könnte doch das Fernsehen o<strong>der</strong> könnten <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>nuns doch e<strong>in</strong>fach etwas vorspielen.Descartes wäre aber ke<strong>in</strong> Denker, wenn er nicht selber <strong>die</strong> Gewissheit def<strong>in</strong>ieren würde.Nach Descartes gibt es nämlich e<strong>in</strong>e regula generalis, e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Regel, an <strong>der</strong> iche<strong>in</strong>e wahre Erkenntnis erkennen kann: nämlich dass ich das Wahre klar und deutliche<strong>in</strong>sehe (clare et dist<strong>in</strong>cte percipio). Ich sehe das klar und deutlich e<strong>in</strong>, von dem ich e<strong>in</strong>eklare und deutlich Idee (idea) besitze. Dazu später. Wir werden sehen, dass zur völligenGewissheit noch etwas dazugehört, dass es sozusagen e<strong>in</strong>e Bed<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> Möglichkeit<strong>der</strong> Gewissheit gibt.Descartes sucht nach Gewissheit und spielt <strong>die</strong> Möglichkeit durch, dass nichts gewiss ist.Denn es könnte ja e<strong>in</strong> Riesenmedium (e<strong>in</strong> böser Geist) alles nur ersche<strong>in</strong>en lassen, ohnedass etwas so ist, wie es sche<strong>in</strong>t. An <strong>die</strong>ser Stelle geschieht <strong>die</strong> Wendung. Es wird e<strong>in</strong>eGewissheit gefunden.Descartes hat mit <strong>der</strong> Generalverdächtigung, alles könnte e<strong>in</strong>e Fiktion se<strong>in</strong>, sich vor allemdarauf bezogen, dass ke<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>neswahrnehmung, ke<strong>in</strong> Körper, ke<strong>in</strong>e Gestalt, ke<strong>in</strong>eAusdehnung, ke<strong>in</strong>e Bewegung und ke<strong>in</strong> Ort existieren. Mit an<strong>der</strong>en Worten: all das, waswir für <strong>die</strong> objektiv existierende Welt halten - h<strong>in</strong>zugerechnet den eigenen Körper, <strong>der</strong> <strong>in</strong><strong>der</strong> Tat ja auf e<strong>in</strong>e bestimmte Weise zur Welt gehört. Nun aber stutzt Descartes und erfragt: „B<strong>in</strong> ich etwa so an den Körper und <strong>die</strong> S<strong>in</strong>ne gebunden, dass ich ohne sie nichtse<strong>in</strong> kann?“ An <strong>die</strong>ser Stelle bricht <strong>der</strong> Riss zwischen res extensa und res cogitans auf,zwischen den beiden endlichen Substanzen, von denen am Anfang <strong>die</strong> Rede war. Es me<strong>in</strong>Denken und es gibt offenbar me<strong>in</strong>en Körper (d.h. <strong>die</strong> ausgedehnte Welt). Wie steht denn<strong>die</strong>ses Denken zur ausgedehnten Welt? Und - e<strong>in</strong>e noch wichtigere Frage - <strong>die</strong> Frageüberhaupt an <strong>die</strong>ser Stelle - <strong>die</strong>se riesige Fiktion des bösen Geistes - bezieht <strong>die</strong> sich aufdas Denken genauso wie auf <strong>die</strong> ausgedehnte Welt?26


Es gibt e<strong>in</strong>en bösen Geist, <strong>der</strong> mich täuscht - das ist <strong>die</strong> Annahme. Gut, er mag michtäuschen, aber er muss doch mich täuschen. Wenn er mich täuscht, so muss dochunzweifelhaft gegeben se<strong>in</strong>, dass ich b<strong>in</strong>. Nun sagt Descartes: „Er täusche mich, soviel erkann, niemals wird er doch fertigbr<strong>in</strong>gen, dass ich nichts b<strong>in</strong>, solange ich denke, dass ichetwas sei.“ Das ist <strong>der</strong> Schritt zu jener so berühmten Formulierung: cogitatio est, ego sum,ego existo, certum est. Das Denken ist es. Ich b<strong>in</strong>, ich existiere, das ist gewiss. Das ist <strong>der</strong>Gedanke, <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Worten: ego cogito, ergo sum (je pense, donc je suis.) gefasst wird,e<strong>in</strong>e Formulierung, <strong>die</strong> so <strong>in</strong> den Meditationen nicht auftaucht, <strong>die</strong> aber doch <strong>der</strong> Sachenach dort geme<strong>in</strong>t ist.Was heißt das? Der Zweifel kann an allem zweifeln, nicht aber, dass e<strong>in</strong> Subjektvorausgesetzt werden muss, dass <strong>die</strong>sen Zweifel vollzieht. Zu <strong>die</strong>ser Erkenntnis kommtDescartes eben durch <strong>die</strong>sen Zweifel. Diese Erkenntnis ist aber gewiss - was ihrenCharakter ausmacht. Es kann ja se<strong>in</strong>, dass alles e<strong>in</strong>e Täuschung ist, ich kann aber nichtgetäuscht werden darüber, dass ich vorausgesetzt werden muss, um getäuscht zuwerden. Das ego cogito, ergo sum ist demnach <strong>die</strong> erste Gewissheit, <strong>die</strong> erste Gewissheit<strong>der</strong> prima philosophia, das fundamentum absolutum <strong>in</strong>concussum - wie man <strong>in</strong>Cartesianischer Diktion gesagt hat, d.h. das absolute unerschütterliche Fundament. D.h.<strong>der</strong> Satz ich denke, also b<strong>in</strong> ich, ist <strong>der</strong> erste absolut gewisse Satz e<strong>in</strong>er Wissenschaft, <strong>die</strong>nun e<strong>in</strong> festes Fundament besitzt.Das hat e<strong>in</strong>e große Wirkung gehabt. Rufen wir uns noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, was Hegelüber Descartes gesagt hat. 1. hat er gesagt, dass Descartes noch e<strong>in</strong>mal mit allem neuangefangen habe. Wir haben bereits gehört, dass Descartes das selbst sagt. 2. sagtHegel aber auch noch: „Mit ihm treten wir eigentlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e selbständige <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>,welche weiß, daß sie selbständig aus <strong>der</strong> Vernunft kommt und daß das Selbstbewusstse<strong>in</strong>wesentliches Moment des Wahren ist.“ Dieser Satz bezieht sich auf das fundamentumabsolutum <strong>in</strong>concussum, ego cogito, ergo sum. Hegel fasst <strong>die</strong>se erste Erkenntnis - als <strong>die</strong>Descartes den Satz versteht - als e<strong>in</strong>e Erkenntnis <strong>der</strong> Vernunft, <strong>die</strong> sich selbständig zu<strong>die</strong>ser Erkenntnis gebracht hat. So werde das „Selbstbewusstse<strong>in</strong>“ - Hegel spricht auchvon <strong>der</strong> „Subjektivität“ - „wesentliches Moment des Wahren“ - d.h. dass das Subjekt undse<strong>in</strong> sich über sich selbst verständigen nun zu allem gehört, was jemals gewusst werdenkann. Denn <strong>der</strong> Satz, ich denke, also b<strong>in</strong> ich, impliziert nach Hegel den Gedanken, dass<strong>die</strong>ses Ich bei je<strong>der</strong> Erkenntnis als e<strong>in</strong> Selbstverhältnis anwesend se<strong>in</strong> muss. Erkenntnisbedeutet: dass ich weiß, dass ich <strong>die</strong>se Erkenntnis habe, bedeutet, dass ich mich selbstweiß, dass ich mir selbst bewusst b<strong>in</strong>.Gewiss - das ist e<strong>in</strong>e Interpretation, doch <strong>die</strong>se Interpretation ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> sehr mächtig geworden. Man hat Descartes gleichsam zum Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong>Subjektivitätsphilosophie o<strong>der</strong> -theorie gemacht, zum Stifter e<strong>in</strong>er Tradition, <strong>die</strong> sich als27


„idealistische“ Tradition bezeichnen lässt. Denker wie Kant o<strong>der</strong> eben Hegel s<strong>in</strong>dHauptvertreter <strong>die</strong>ser Tradition. Ob Descartes wirklich vorhatte, e<strong>in</strong>e solche Tradition zustiften, mag dah<strong>in</strong>gestellt bleiben. Zu se<strong>in</strong>er Zeit wurde er wegen <strong>die</strong>ser Begründung <strong>der</strong>prima philosophia durchaus stark kritisiert. Auch hat es zu allen Zeiten e<strong>in</strong>e Tradition <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> gegeben, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se subjektivitätstheoretische Begründung <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>ke<strong>in</strong>eswegs mitgetragen hat - z.B. <strong>der</strong> Materialismus, auf den ich noch zu sprechenkommen werde. Ob Descartes also <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne mo<strong>der</strong>n ist, wie Hegel ihn sieht, iste<strong>in</strong>e offene Frage.Kehren wir aber noch e<strong>in</strong>mal zurück zu dem Problem, wie es sich bei Descartes darstellt.Wir wollen ja wirklich verstehen, was hier so neu und ungewöhnlich und wichtig ist - wasdas alles womöglich mit dem Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>, mit dem Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>es neuenMenschenverständnis o<strong>der</strong> Menschenbild zu tun hat. Man sagt, dass das ego cogito, ergosum e<strong>in</strong>e Idee <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>führt, <strong>die</strong> es vorher noch nicht gab, nämlich dass imDenken, im Sich-Selbst-Denken <strong>die</strong> Grundlage für alles Denken und Erkennen überhaupt,ja für alles Se<strong>in</strong> liegt. Denn wenn das Denken <strong>die</strong> Voraussetzung aller Erkenntnis ist, dannist sie <strong>die</strong> Voraussetzung von allem Se<strong>in</strong> - auch des Nicht-erkennbaren, denn auch <strong>die</strong>sesist schon im Bezug auf das Erkennen bestimmt. Mit Descartes lässt sich also sagen: Se<strong>in</strong>= Denken. Dass das Sich-selbst-Denken Grundlage von Allem ist, kann late<strong>in</strong>isch sogefasst werden, dass das Sich-selbst-Denken Subjekt von Allem ist - e<strong>in</strong> Wort, dassDescartes, wenn überhaupt, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne selten benutzt, das er viel eher noch <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em mittelalterlichen S<strong>in</strong>ne benutzt, wo es genau das Gegenteil bedeutet, nämlich„Objekt“. Aber das ist nicht so wichtig: das Denken ist jetzt Subjekt des Se<strong>in</strong>s schlechth<strong>in</strong>.Dieser Begriff entstammt e<strong>in</strong>er Übersetzung aus dem Griechischen, und zwar des Wortes:ὑποκείμενον, das Zugrundeliegende, e<strong>in</strong> Begriff, den Aristoteles geprägt hat und <strong>der</strong> ihnauf <strong>die</strong> Substanz bezogen hat. Das Denken ist das Subjekt, das Zugrundeliegende vonAllem - e<strong>in</strong> Gedanke, <strong>der</strong> dem Aristoteles und dem Mittelalter fremd gewesen ist, mit demalso, so wird gesagt, <strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong> beg<strong>in</strong>nt.(Ich möchte an <strong>die</strong>ser Stelle e<strong>in</strong> Missverständnis ausräumen, das viele Anfänger <strong>in</strong> <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> teilen. Die meisten anfangenden Studenten und Student<strong>in</strong>nen kommen mitdem Vorurteil <strong>in</strong> das Studium, dass das Subjekt <strong>die</strong> Voraussetzung des Subjektiven sei.Das Subjektive wird dann so verstanden, dass man sagt: was ich für wichtig und richtighalte, halte eben erst e<strong>in</strong>mal ich für wichtig und richtig, e<strong>in</strong> An<strong>der</strong>er kann das für unwichtigund unrichtig halten - das ist eben „subjektiv“. Das ist e<strong>in</strong> falscher und unphilosophischerGebrauch des Wortes. Am Ich denke des Descartes ist überhaupt nichts „Subjektives“.Das Ich denke ist <strong>die</strong> Formel für das Subjekt im Allgeme<strong>in</strong>en und schlechth<strong>in</strong>. Es gibt ke<strong>in</strong>Subjekt, das ke<strong>in</strong> „Ich denke“ ist. Dieser Gedanke ist natürlich auch selbst nichts„Subjektives“, also man kann nicht sagen: „ego cogito, ergo sum“, denkt Descartes ... Ichme<strong>in</strong>e aber, dass das ganz an<strong>der</strong>s ist. Das ist selbstredend Uns<strong>in</strong>n. Was wir so im Alltag28


für „subjektiv“ halten, das haben <strong>die</strong> Philosophen von Anfang an als „Me<strong>in</strong>ung“ bezeichnet.Die „Me<strong>in</strong>ung“ ist aber von <strong>der</strong> „Wahrheit“ unterschieden. Ich kann demnach „me<strong>in</strong>en“,dass Marco Reus e<strong>in</strong> besserer Fußballer ist als Julian Draxler, ich kann aber nicht„me<strong>in</strong>en“, dass 1+1=2 ist. Sie können also <strong>in</strong> bestimmten Diskussionen (z.b: über Politik)<strong>die</strong> Sätze anfangen mit: „Ich me<strong>in</strong>e aber.“ Sie können aber nicht sagen, es sei e<strong>in</strong>„subjektiver“ Standpunkt, das Obama besser als Put<strong>in</strong> ist - auch das bleibt eben e<strong>in</strong>eMe<strong>in</strong>ung. Mit an<strong>der</strong>en Worten: „subjektiv“ <strong>in</strong> philosophischer H<strong>in</strong>sicht heißt nur: demSubjekt entsprechend, aber ke<strong>in</strong>eswegs dem jeweiligen Subjekt entsprechend. „Subjektiv“ist das, was ganz allgeme<strong>in</strong> dem „Subjekt“ zugesprochen werden muss - dass es z.B.Denken ist.)Zurück zu dem Effekt, den <strong>die</strong> erste und <strong>die</strong> zweite Meditation <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> gemacht haben. Descartes hatte natürlich e<strong>in</strong>e solche Revolution gar nicht imBlick. Er wollte ke<strong>in</strong>eswegs behaupten, dass alles Se<strong>in</strong> nur Se<strong>in</strong> ist, wenn es gedachtwerden kann. Er wollte lediglich e<strong>in</strong>e erste, absolut gewisse Erkenntnis f<strong>in</strong>den, um auf ihrse<strong>in</strong>e Wissenschaft zu begründen. Man hat das auch so gefasst, dass <strong>der</strong> Zweifel an<strong>die</strong>ser Stelle e<strong>in</strong>e methodische Bedeutung. Der Zweifel <strong>die</strong>nt nur dazu, <strong>die</strong>se ersteGewissheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erkenntnis zu f<strong>in</strong>den. Er hat gar ke<strong>in</strong>e weitere Bedeutung. Darübermüssen wir uns klar se<strong>in</strong>. Für gewöhnlich me<strong>in</strong>en wir, <strong>der</strong> Satz: ich denke, also b<strong>in</strong> ich,möchte me<strong>in</strong>e Existenz mit Gewissheit beweisen. Das ist aber nicht <strong>der</strong> Fall. Das „ergo“suggeriert nur e<strong>in</strong>en Schluss, <strong>der</strong> so gar nicht funktioniert. Es geht vielmehr darum, dassich <strong>in</strong>tuitiv das Vorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er res cogitans voraussetzen muss, wenn e<strong>in</strong> Denkengeschieht. Ich habe e<strong>in</strong> Recht dazu, das vorauszusetzen. Diesbezüglich gibt es e<strong>in</strong>eErkenntnis, <strong>die</strong> sich als wahr herausstellt, denn ich kann nicht von e<strong>in</strong>emNichtvorhandense<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Ich auf e<strong>in</strong> Denken kommen. Wir hören gleichsam immer schonzuviel <strong>in</strong> dem Satz - <strong>der</strong>, wie gesagt, für Descartes e<strong>in</strong>en eher methodischen S<strong>in</strong>n hat.Dass das so ist, bezeugt m.E. <strong>die</strong> dritte Meditation mit <strong>der</strong> Überschrift: Über das Dase<strong>in</strong>Gottes. Von <strong>der</strong> zweiten Meditation mit <strong>der</strong> Überschrift Über <strong>die</strong> Natur des menschlichenGeistes aus gesehen, legt sich nicht unbed<strong>in</strong>gt nahe, dass e<strong>in</strong>e dritte folgt, <strong>die</strong> sich nun<strong>der</strong> Existenz Gottes widmet. Wozu braucht man noch Gott, wenn <strong>die</strong> prima philosophia sogut auf e<strong>in</strong>er ersten Gewissheit begründet wird? Da taucht am Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> drittenMeditation e<strong>in</strong> seltsamer Gedanke auf. Descartes kommt wie<strong>der</strong> auf das Problem zusprechen, dass er e<strong>in</strong>en bösen Geist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Zweifelsgang e<strong>in</strong>gesetzt hat. Nun weist erdarauf h<strong>in</strong>, dass er ke<strong>in</strong>e Veranlassung habe, von <strong>der</strong> Existenz e<strong>in</strong>es solchen bösenGottes auszugehen, ja, dass er noch nicht e<strong>in</strong>mal weiß, ob es Gott überhaupt gibt. Das seija erst e<strong>in</strong>mal nur e<strong>in</strong> Vorurteil. Und daher fällt e<strong>in</strong> fragwürdiges Licht auf denZweifelsgang. Solange Gottes Dase<strong>in</strong> nicht bewiesen ist, ist <strong>der</strong> Zweifelsgangunbefriedigend. Ja, Descartes sagt den seltsamen Satz: „Denn solange das unbekannt ist29


(ob Gott existiert und ob er e<strong>in</strong> Betrüger se<strong>in</strong> kann), glaube ich nicht, dass ich über irgendetwas an<strong>der</strong>es völlig gewiss se<strong>in</strong> kann.“Das ist es also, was ich vorh<strong>in</strong> me<strong>in</strong>te, als ich davon sprach, dass <strong>die</strong> Wahrheit beiDescartes von e<strong>in</strong>er klaren und deutlichen Erkenntnis abhängt, dass sie dar<strong>in</strong> besteht.Von Gewissheit, me<strong>in</strong>t Descartes, könne man erst sprechen, wenn <strong>die</strong> Existenz Gotteserwiesen ist. Das ist e<strong>in</strong> seltsamer Gedanken, <strong>der</strong> zunächst ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>leuchten will.Was kann damit geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong>? Das kann nur mit dem ontologischen Status <strong>der</strong> Satzes Ichdenke, also b<strong>in</strong> ich, zusammenhängen. Was me<strong>in</strong>t ontologischer Status? Ontologie ist <strong>die</strong>Lehre vom Se<strong>in</strong>. Die prima philosophia ist Metaphysik und als solche eben auchOntologie. Die Ontologie fragt: was ist das Seiende bzw. das Seiende als solches, was istdas höchste Seiende. D.h. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ontologie geht es um das, was ist, was - wenn Sie sowollen - existiert, was es überhaupt heißt, dass etwas existiert und dass etwas nichtexistiert.Gewissheit über das Seiende, über das Se<strong>in</strong> zu bekommen, hängt demnach bei Descartesdamit zusammen, zu wissen, dass Existenz geschieht, dass ich wirklich existiere. Sagtdass denn nicht <strong>der</strong> erste Satz: ich denke, also b<strong>in</strong> ich? Ich habe darauf h<strong>in</strong>gewiesen,dass <strong>die</strong>ser Satz gleichsam eher methodische Bedeutung h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Erkenntnis hat.Es geht um e<strong>in</strong>e absolut sichere Erkenntnis, <strong>die</strong> aber offenbar nicht auf <strong>die</strong> Existenz desErkannten angewiesen ist. Was soll das wie<strong>der</strong>um bedeuten? Sie sehen, Descartes istnicht ganz so e<strong>in</strong>fach, wie man manchmal me<strong>in</strong>en möchte. (Man hat relativ schnellgefragt, warum Descartes eigentlich <strong>die</strong> dritte Meditation, den Gottesbeweis noch braucht.Das soll aber nun klar werden.)Am Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> dritten Meditation teilt Descartes se<strong>in</strong>e Gedanken <strong>in</strong> drei Klassen e<strong>in</strong>. Diee<strong>in</strong>en nennt er Vorstellungen (ideae - <strong>die</strong> stets auf e<strong>in</strong> Bild (imago) bezogen s<strong>in</strong>d), <strong>die</strong>nächsten Willensakte o<strong>der</strong> Affekte (voluntates sive affectus) und <strong>die</strong> dritten Urteile(iudicia). Nun sagt Descartes, dass <strong>die</strong> <strong>die</strong> beiden ersten Klassen eigentlich nichtverifizierbar s<strong>in</strong>d, will sagen, ich kann mir ja Alles vorstellen und ich kann Alles begehren -ich kann mir e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>horn vorstellen o<strong>der</strong> Aphrodite begehren - das kann nicht wahr undnicht falsch se<strong>in</strong>. Wahr und falsch können <strong>die</strong> Vorstellungen erst werden, wenn ich sie aufetwas außer mir beziehe, wenn ich mich vom Denken weg <strong>in</strong> <strong>die</strong> Welt bewege, wenn ichme<strong>in</strong>e, dass ich e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>horn wirklich gesehen habe, dass E<strong>in</strong>hörner wirklich existieren.Das ist Aufgabe des Urteils. Ich sage: das gibt es, das gibt es nicht. Jetzt ist es möglich,sich zu irren. Bliebe ich nur <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Gedanken, bliebe ich nur im Denken, könnte ichniemals irren.30


Im Folgenden beschäftigt sich Descartes mit dem Charakter <strong>der</strong> Vorstellungen. Woherstammen sie (<strong>die</strong> ich alle <strong>in</strong> mir vorf<strong>in</strong>de)? Er unterscheidet vorläufig drei Ursprünge: <strong>die</strong>e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d angeboren (e<strong>in</strong>geboren), <strong>die</strong> zweiten erworben, <strong>die</strong> dritten von mir selbstgemacht. Was „D<strong>in</strong>g“ o<strong>der</strong> „Wahrheit“ o<strong>der</strong> „Denken“ heißt, sagt Descartes, das f<strong>in</strong>de ichoffenbar <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er „Natur“, d.h. das habe ich nicht selbst gemacht, son<strong>der</strong>n ist mir alsMensch angeboren (das teilen alle Menschen); was e<strong>in</strong> Geräusch ist, was <strong>die</strong> Sonne istund Wärme, das weiß ich von „Außen“ her, d.h. e<strong>in</strong> Wissen davon habe ich erworben; wase<strong>in</strong> E<strong>in</strong>horn ist, das habe ich selbst ausgedacht.Ich habe also Vorstellungen. Doch - fragt Descartes implizit - können mir <strong>die</strong>seVorstellungen mit Gewissheit zeigen, sozusagen beweisen, dass <strong>die</strong> Welt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> ichsche<strong>in</strong>bar existiere, selber existiert? Ich weiß zwar mit Gewissheit, dass ich denke, dassich e<strong>in</strong> denkendes D<strong>in</strong>g (res cogitans) b<strong>in</strong>, weiß ich aber dadurch, dass das Ganzeschlechth<strong>in</strong> existiert? - E<strong>in</strong>e seltsame Frage, könnte man sagen. Wie sollte denn dasmöglich se<strong>in</strong>, dass ich weiß, dass ich denkend existiere - als Denken - und dennochkönnte das Ganze, <strong>in</strong> dem ich b<strong>in</strong>, nicht se<strong>in</strong>? Zunächst e<strong>in</strong>mal: hat Descartes e<strong>in</strong>enAnlass, da überhaupt noch e<strong>in</strong>mal den Zweifel zu wie<strong>der</strong>holen, ihn noch e<strong>in</strong>mal spielen zulassen - wenn auch nicht explizit. Er gibt e<strong>in</strong> Beispiel, das für <strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong> sprechend: „Sof<strong>in</strong>de ich <strong>in</strong> mir zwei verschiedene Vorstellungen von <strong>der</strong> Sonne: Die e<strong>in</strong>e gleichsam ausden S<strong>in</strong>nen geschöpft, und <strong>die</strong>se mag am ehesten zu denen zu zählen se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> ich fürerworben halte; sie läßt mir <strong>die</strong> Sonne sehr kle<strong>in</strong> ersche<strong>in</strong>en. Die an<strong>der</strong>e h<strong>in</strong>gegen denBerechnungen <strong>der</strong> Astronomie entnommen, d.h. gewissen mir angeborenen Begriffenabgewonnen (Mathematik) o<strong>der</strong> <strong>in</strong> irgend e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Weise von mir zustande gebracht;sie zeigt mir <strong>die</strong> Sonne e<strong>in</strong>igemale größer als <strong>die</strong> Erde. In <strong>der</strong> Tat, beide können nicht<strong>der</strong>selben außer mir existierenden Sonne ähnlich se<strong>in</strong>, und <strong>die</strong> Vernunft (ratio) überzeugtmich, daß ihr <strong>die</strong> am unähnlichsten ist, <strong>die</strong> ihr doch am unmittelbarsten entsprungen zuse<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t.“ Nämlich <strong>die</strong> aus den bloßen S<strong>in</strong>nen, aus den S<strong>in</strong>nen, <strong>die</strong> nicht auf <strong>die</strong>Mathematik sich begründen, <strong>die</strong> nicht <strong>die</strong> technischen Möglichkeiten <strong>der</strong> Mathematiknutzen: <strong>die</strong>se s<strong>in</strong>nliche Auffassung <strong>der</strong> Sonne ist falsch.Die Konsequenz, <strong>die</strong> Descartes aus solchen Überlegungen zieht, ist <strong>die</strong>, dass es ke<strong>in</strong>enzuverlässigen Grund, ke<strong>in</strong>e Gewissheit (ex certo aliquo iudicio) gibt, <strong>die</strong> darauf schließenlässt, es existiere e<strong>in</strong>e Welt außerhalb me<strong>in</strong>es Denkens. Sie sehen: es geht um <strong>die</strong> Fragenach <strong>der</strong> Gewissheit. Descartes könnte zwar sagen: schön und gut - ich habe da soVorstellungen, <strong>die</strong> ich wohl erworben habe, aber <strong>die</strong> können mir nicht mit Gewissheitbeweisen, dass sie auf e<strong>in</strong> Seiendes verweisen, das außerhalb me<strong>in</strong>er existiert. D.h. ichweiß noch nicht mit Gewissheit, ob es <strong>die</strong> Welt gibt, ob es Ausdehnung gibt, d.h. auch, obes mich als Körper gibt.31


Wie löst Descartes <strong>die</strong>ses Problem? Zunächst e<strong>in</strong>mal bezieht er sich wie<strong>der</strong> auf <strong>die</strong>Vorstellungen, <strong>die</strong> ich habe. Wenn ich z.B. Vorstellungen nehme wie „rot“, „leer“, „glatt“,etc. dann kann ich sagen dass <strong>die</strong>se unterschiedslos me<strong>in</strong>e Vorstellungen se<strong>in</strong> können.Doch beziehe ich mich auf Substanzen, sagt Descartes, dann haben <strong>die</strong> doch offenbare<strong>in</strong>en größeren Bedeutungsgehalt. (Im Late<strong>in</strong>ischen steht da realitas obiectiva - das istaber <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>E<strong>in</strong>führung</strong>sveranstaltung nur so zu erklären, <strong>in</strong>dem man e<strong>in</strong>e gewisseGefahr <strong>der</strong> Missverständlichkeit <strong>in</strong> Kauf nimmt: realitas heißt bis zu Kant nicht das, was wirdarunter verstehen, nämlich gleichsam Wirklichkeit. Realitas heißt vielmehr soviel wieSachhaltigkeit, unabhängig davon, ob das Geme<strong>in</strong>te wirklich existiert o<strong>der</strong> nicht. Sage ich„rot“, dann beziehe ich mich nur auf e<strong>in</strong> Akzidenz, sage ich „Pferd“ o<strong>der</strong> sogar so etwaswie „Ausdehnung“, dann beziehe ich mich auf e<strong>in</strong>e Substanz, d.h. schon mehr realitas,und sage ich dann noch „Gott“, dann hat das noch mehr realitas, denn Gott ist ja ke<strong>in</strong>eendliche, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e unendliche Substanz). Dass aber Descartes hier sich auf Gottbezieht, ist natürlich ke<strong>in</strong> Zufall. Es gibt e<strong>in</strong>e Vorstellung von Gott, <strong>der</strong> ewig, unendlich,allwissend, allmächtig und <strong>der</strong> Schöpfer aller D<strong>in</strong>ge ist. Das ist entscheidend.Wir müssen jetzt nicht nur aufpassen, wie <strong>der</strong> Gottesbeweis funktioniert, <strong>der</strong> jetztunmittelbar folgt, son<strong>der</strong>n wir müssen auch aufmerksam se<strong>in</strong>, wie Gott zunächste<strong>in</strong>geführt wird. Descartes sagt zunächst, dass es klar ist, dass m<strong>in</strong>destens ebensovielSachhaltigkeit (realitas) <strong>in</strong> <strong>der</strong> wirkenden Ursache (causa efficiens) se<strong>in</strong> muss wie <strong>in</strong> <strong>der</strong>Wirkung <strong>die</strong>ser Ursache. - Sie treten gegen e<strong>in</strong>en Ball. Ihr Tritt ist <strong>die</strong> Wirkursache für denfliegenden Ball. Nun muss <strong>der</strong> Ball ebenso fliegen, wie Sie ihn treten - also e<strong>in</strong>malschneller, weil härter, e<strong>in</strong>mal langsamer, weil sie nicht so hart gegen ihn traten. Das me<strong>in</strong>t,<strong>der</strong> Ball würde nicht so fliegen, wenn sie überhaupt nicht dagegen getreten hätten, nochauch kann <strong>der</strong> Ball viel schneller fliegen als wie sie ihn traten. In Descartes‘ Sprache: Eskann nichts aus Nichts entstehen und es kann auch nichts Vollkommeneres aus demweniger Vollkommenen entstehen. Mit an<strong>der</strong>en Worten, es geht hier um <strong>die</strong> Kausalität.Bei dem, was Descartes jetzt erklärt, geht es nicht nur darum, dass alles e<strong>in</strong>e Ursachebesitzen muss - dass nicht plötzlich da e<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> ist, wo vorher ke<strong>in</strong>er war, ohne dass ese<strong>in</strong>e Ursache dafür gibt, dass da jetzt e<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> ist, dass me<strong>in</strong>e Vorstellungen, selbst, wennsie eben nur <strong>in</strong>nere Vorstellungen s<strong>in</strong>d, ebenso auf Ursachen zurückgehen - es geht nichtnur darum, son<strong>der</strong>n es geht darum, dass alles jeweils e<strong>in</strong>en entsprechenden Sachgehalthaben muss. Die Vorstellung „rot“ muss auf e<strong>in</strong>e ihr sachgehaltsmäßig entsprechendeSache zurückgehen, <strong>die</strong> Vorstellung „Ausdehnung“ ebenso, ebenso natürlich - und das istsehr wichtig - <strong>die</strong> Vorstellung „Gott“. All me<strong>in</strong>e Vorstellungen können o<strong>der</strong> müssen: 1.entwe<strong>der</strong> <strong>die</strong>sen Sachgehalten entsprechen (denn hier gibt es e<strong>in</strong>en Kausalnexus) o<strong>der</strong>h<strong>in</strong>ter ihnen zurückbleiben - was d.h. wird gleich klar. (Das ist alles etwas vere<strong>in</strong>facht, aberdoch, glaube ich, noch richtig und klar.)32


In Bezug auf <strong>die</strong> Kausalität führt Descartes noch e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Gedanken e<strong>in</strong>. Es kann jase<strong>in</strong>, dass me<strong>in</strong>e Vorstellungen gleichsam alle aus sich selbst entstehen - will sagen, dasses sich hier um bloße Bedeutungen handelt, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>em Sachgehalt von Außen herentsprechen. Doch das könne dann nicht <strong>in</strong>s Unendliche so fortgehen. Es muss e<strong>in</strong>ecausa prima, e<strong>in</strong>e erste Ursache geben, <strong>die</strong> als e<strong>in</strong> Archetyp ersche<strong>in</strong>t, <strong>die</strong> den ganzenSachgehalt, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> den Vorstellungen (als Bedeutung) entfaltet, enthält. Darausschließt Descartes, dass me<strong>in</strong>e Vorstellungen als Bil<strong>der</strong> zwar h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Vollkommenheit<strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge zurückbleiben können, denen sie entlehnt s<strong>in</strong>d, doch sie können niemals etwasGrößeres o<strong>der</strong> Vollkommeneres enthalten. Das lässt sich nun sehr leicht zeigen an <strong>der</strong>Vorstellung „Gott“.Denn me<strong>in</strong>e Vorstellung von Gott kann nicht so vollkommen se<strong>in</strong>, wie Gott selbst. Ja, wasVollkommenheit überhaupt bedeutet, das kann ich nur von Gott her kennen, denn Gott istdas allervollkommenste Seiende schlechth<strong>in</strong>. Die Vorstellung Gott kann daher nicht vonmir stammen, denn ich b<strong>in</strong> mitnichten e<strong>in</strong> so perfektes Wesen wie er. Ich b<strong>in</strong> z.B. als e<strong>in</strong>eKomposition von cogitatio und extensio endlich - weil eben das corpus zerfällt - cogitatiound extensio s<strong>in</strong>d endliche Substanzen. Gott aber ist e<strong>in</strong>e unendliche Substanz. Wennaber Gott das allerperfekteste Wesen ist - und das muss er sozusagen per def<strong>in</strong>itionemse<strong>in</strong> - dann, so Descartes, existiert er notwendig. Warum? Weil ich e<strong>in</strong>e Vorstellung vone<strong>in</strong>er unendlichen Substanz habe - <strong>die</strong> kann nur von ihm selbst kommen - also existiert er- d.h. er existiert natürlich außerhalb me<strong>in</strong>er Vorstellungen notwendig - weil er eben <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er Vollkommenheit unvorstellbar ist.Er<strong>in</strong>nern wir uns noch e<strong>in</strong>mal: Descartes sagt, wenn ich nicht weiß, ob Gott existiert, dannweiß ich nicht mit Gewissheit, ob es - außerhalb me<strong>in</strong>em Denken - überhaupt etwasexistiert. Nun weiß ich aber, dass Gott existiert, das me<strong>in</strong>t, dass ich nun auch mitGewissheit sagen kann, dass <strong>die</strong> Welt und <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Welt ich als Körper existiere. Das sagtDescartes ganz e<strong>in</strong>drücklich. Er fragt nämlich, woher er sei? Auch das <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong>causa, <strong>der</strong> Ursache. Die Antwort ist klar: <strong>die</strong> Ursache für me<strong>in</strong>e Existenz ist, ich existierekraft <strong>der</strong> Ursache - Gott. Das aber nicht so, dass Gott mich e<strong>in</strong>mal geschaffen hätte, weiler alles geschaffen hat, ne<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n weil Gott mich <strong>in</strong> jedem Augenblick schafft, weil er <strong>in</strong>jedem Augenblick Ursache me<strong>in</strong>er Existenz und d.h. <strong>der</strong> Existenz <strong>der</strong> Welt ist. E<strong>in</strong> solchesSchaffen nennt man creatio cont<strong>in</strong>ua. - Gott ist <strong>die</strong> Ursache, <strong>die</strong> immer alles schafft.Woher aber ist Gott? Gott ist <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Ursache, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Ursache bedarf, erist Ursache se<strong>in</strong>er selbst (causa sui), vollkommene Ursache, absolute Ursache, wenn Sieso wollen. Gott ist also causa prima et ultima et sui - aber als Ursache e<strong>in</strong>er creatiocont<strong>in</strong>ua. Dass e<strong>in</strong>e solche Ursache existieren muss, weil ohne sie überhaupt nichtsexistiert, das ist für Descartes e<strong>in</strong>e klare und deutliche Idee, d.h. das gilt mit Gewissheit.33


Das ist <strong>die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> dritten Meditation, <strong>die</strong> Bedeutung des Gottesbeweises. Da Gottals <strong>der</strong> kont<strong>in</strong>uierliche Schöpfer von mir und d.h. von <strong>der</strong> Welt bewiesen ist, kann ich mitGewissheit sagen, dass überhaupt etwas existiert und das jetzt <strong>die</strong> Wissenschafttatsächlich auch e<strong>in</strong>en Gegenstand hat, auf den sie sich beziehen kann. Es sche<strong>in</strong>t aberklar zu se<strong>in</strong>, um was für e<strong>in</strong>en Gott es sich hier handelt. Es ist <strong>der</strong> Gott als causa sui etprima et ultima - als Garant <strong>der</strong> Kausalität. Erschöpft er sich als <strong>die</strong>ser Gott so beiDescartes?Gegen Ende <strong>der</strong> dritten Meditation sagt Descartes: „Bevor ich das aber sorgfältigeruntersuche (d.h. Gott als das vollkommenste Seiende ke<strong>in</strong> Betrüger se<strong>in</strong> kann) undzugleich <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en Wahrheiten prüfe, <strong>die</strong> daraus geschlossen werden können, will ichhier e<strong>in</strong>e Zeit langt bei <strong>der</strong> Betrachtung Gottes (contemplatio Dei) verweilen, se<strong>in</strong>eEigenschaften bei mir erwägen und <strong>die</strong> Schönheit <strong>die</strong>ses unermesslichen Lichtes, soweites <strong>der</strong> Blick me<strong>in</strong>es gleichsam schwachsichtigen Geistes erträgt, anschauen, bewun<strong>der</strong>nund anbeten. Denn wie uns <strong>der</strong> Glaube lehrt, dass e<strong>in</strong>zig und alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Betrachtung<strong>der</strong> göttlichen Majestät <strong>die</strong> höchste Seligkeit des an<strong>der</strong>en Lebens besteht, so machen wirauch jetzt schon <strong>die</strong> Erfahrung, daß wir aus <strong>der</strong> gegenwärtigen, freilich vielunvollkommeneren Betrachtung <strong>die</strong> höchste Lust schöpfen können, zu <strong>der</strong> wir <strong>in</strong> <strong>die</strong>semLeben fähig s<strong>in</strong>d.“ Ist das e<strong>in</strong> Rest Mittelalter bei Descartes?Dazu abschließend: ich me<strong>in</strong>e, dass <strong>der</strong> neuzeitliche Rationalismus, <strong>der</strong> mit Descartesanhebt, genau <strong>die</strong>se beiden Momente vere<strong>in</strong>igt: er behauptet, fähig zu se<strong>in</strong>, Gott undSelbst (Ich) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Konzept absoluter Kausalität (Rationalität) e<strong>in</strong>holen zu können -dennoch aber verzichtet er nicht auf <strong>die</strong> über <strong>die</strong> ratio h<strong>in</strong>ausgehende Dimension desGlaubens. Freilich kann man fragen: warum tut er das? warum verzichtet er nicht, wenn erdoch schon behauptet, dass ich all das rational denken kann, was dann auch nochgeglaubt wird? Vielleicht ist <strong>die</strong> Frage berechtigt und man kann auf rhetorische Gründeverweisen - ich sagte ja bereist, dass <strong>die</strong> Inquisition stets e<strong>in</strong> Auge auf solche Schriftenwie <strong>die</strong> Meditationes war - und vielleicht gibt es auch rhetorische Gründe. Doch mir sche<strong>in</strong>t<strong>der</strong> eigentliche Rationalismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat dar<strong>in</strong> zu liegen, dass <strong>die</strong> absolute ratio angebetetwird, eben weil sie e<strong>in</strong> so vollkommenes Seiendes ist.Dazu mehr beim nächsten Mal.34


Vierte VorlesungAm Beg<strong>in</strong>n <strong>die</strong>ser Vorlesung möchte ich noch e<strong>in</strong>mal zusammenfassen, was wir von RenéDescartes über den Anfang <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> gelernt haben. Zudem möchte ich noch etwash<strong>in</strong>zufügen, d.h. Momente von Descartes‘ Denken zu dem, was wir schon hörten,h<strong>in</strong>zufügen.1. Descartes sucht und f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong> neues Fundament <strong>der</strong> prima philosophia bzw. <strong>der</strong>Wissenschaft im cogito, ergo sum, d.h. im Subjekt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> res cogitans, d.h. im Denken.Dieses Fundament verbürgt absolute Gewissheit, denn dass ich denke, also b<strong>in</strong>, ist e<strong>in</strong>eabsolut gewisse Erkenntnis. Man könnte sagen: ich könnte <strong>in</strong> Allem getäuscht werden,ich kann an Allem zweifeln, aber ich muss doch notwendig erkennen, dass ich es b<strong>in</strong>,<strong>der</strong> getäuscht werden muss bzw. <strong>der</strong> zweifelt, wenn ich getäuscht werde. DieseErkenntnis kann demnach ke<strong>in</strong>e Täuschung se<strong>in</strong>. Was sagt das über den Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong><strong>Neuzeit</strong>? Wenn im Mittelalter Gott das Fundament des Denkens war, so ist es jetzt <strong>der</strong>Mensch, bzw. das Denken des Menschen. Das ist e<strong>in</strong> gewaltiger Schritt, <strong>der</strong> dann von<strong>der</strong> Religionskritik und Aufklärung fortgesetzt worden ist. Wenn Nietzsche <strong>in</strong> <strong>der</strong>„Fröhlichen Wissenschaft“ den Tod Gottes denkt, dann könnten wir sagen, beg<strong>in</strong>nt dasSterben Gottes am Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> - auch wenn natürlich Descartes ke<strong>in</strong>en Zweifeldaran lässt, dass Gott e<strong>in</strong> notwendiges Seiendes für <strong>die</strong> prima philosophia bleibt. Wirer<strong>in</strong>nern uns, dass <strong>die</strong> Meditationen ja das Ziel haben, <strong>die</strong> Existenz Gottes zu beweisen.2. Der Beweis <strong>der</strong> Existenz Gottes <strong>in</strong> <strong>der</strong> Dritten Meditation, <strong>die</strong>ser Beweis, den ich <strong>in</strong> <strong>der</strong>letzten Wochen vielleicht etwas zu ausführlich dargestellt habe, ist eigentlich e<strong>in</strong>Beweis, dass das Seiende sich schlechth<strong>in</strong> kausal organisiert. Alles, was es gibt,geschieht im Verhältnis von Ursache und Wirkung. Alles wirkt, ist als causa e<strong>in</strong>e causaefficiens, e<strong>in</strong>e wirkende Ursache. Dabei differenziert Descartes <strong>die</strong> Ursachen: es gibtAkzidenzen als Ursachen, z.B. rot; es gibt e<strong>in</strong>e Substanz als Ursache, z.B. dasausgedehnte D<strong>in</strong>g; und es gibt e<strong>in</strong>e unendliche Substanz als Ursache, nämlich Gott, <strong>die</strong>causa prima et ultima et sui. Er ist <strong>die</strong> Wirkursache des Ganzen, er schafft <strong>die</strong> Welt, undzwar nicht nur e<strong>in</strong>mal, son<strong>der</strong>n kont<strong>in</strong>uierlich. D.h. er schafft den Menschen ständig.Damit beweist Descartes also nicht nur, dass das Denken auf e<strong>in</strong>e Außenwelt stößt, <strong>die</strong>es erkennen kann, son<strong>der</strong>n dass <strong>die</strong>se Außenwelt auch erkennbar ist, weil sie absolutkausal aufgebaut ist. Das ist das Zentrum des Rationalismus. Die ratio, <strong>die</strong> Vernunft, <strong>die</strong>rechnende Vernunft, könnte man sagen, denn ratio heißt eigentlich Rechnung, gehtdavon aus, dass das Seiende im Ganzen absolut erkennbar ist. Descartes sagt zwarausdrücklich, dass Gott nicht zu <strong>die</strong>sem erkennbaren Ganzen gehört (er ist unendlichund kann daher von e<strong>in</strong>em endlichen Verstand nicht erkannt werden), dennoch ist Gottals causa prima et ultima gleichsam <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kausalketten des Seienden <strong>in</strong>tegriert worden.3. Ich möchte zwei D<strong>in</strong>ge h<strong>in</strong>zufügen. 1. bzw. 3. <strong>die</strong> von Descartes für das Erkennengefor<strong>der</strong>te Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Methode. In den Regulae ad directionem <strong>in</strong>genii, e<strong>in</strong>e35


frühere Schrift, <strong>die</strong> Ende <strong>der</strong> zwanziger Jahre des 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts unvollendet blieb,spricht Descartes von <strong>der</strong> Notwendigkeit e<strong>in</strong>er Methode für <strong>die</strong> Wissenschaft. Dabeiwird sogleich <strong>die</strong> Methode def<strong>in</strong>iert: „Unter Methode aber verstehe ich zuverlässige undleicht zu befolgende Regeln, so daß, wer sich pünktlich an sie hält, niemals etwasFalsches für wahr unterstellt und, <strong>in</strong>dem er ke<strong>in</strong>e geistige Mühe nutzlos verschwendet,son<strong>der</strong>n se<strong>in</strong> Wissen Stück für Stück ständig erweitert, <strong>die</strong> wahre Erkenntnis allesdessen erreicht, wozu er fähig ist.“ Wissenschaft heißt Methodenwissen. OhneMethode, ke<strong>in</strong> Wissen. Hatte das vorneuzeitliche Wissen ke<strong>in</strong>e Methode? Natürlichlässt sich das so nicht sagen. Selbstverständlich fragte <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> immerirgendwie, wie lässt sich etwas erkennen. Aber sie führte nicht den Begriff <strong>der</strong> Methodee<strong>in</strong>, wie es das neuzeitliche Denken tut. Vor allem muss dabei gefragt werden: um wasfür e<strong>in</strong>e Methode handelt es sich? Die Methode aller Methoden ist <strong>die</strong> Mathematik, <strong>die</strong>Arithmetik und <strong>die</strong> Geometrie. Daran lässt sich nun besser <strong>der</strong> Unterschied zwischen,sagen wir, dem griechisch-antiken und dem neuzeitlichen Denken zeigen. Platon z.B.war sich <strong>der</strong> Wichtigkeit <strong>der</strong> Mathematik bewusst. Für ihn war sie so etwas wie e<strong>in</strong>Modell des Denkens mit Ideen. Platon wendete <strong>die</strong> Geometrie auch schon auf dasnatürlich Seiende an, aber, so können wir sagen, eher aus Gründen <strong>der</strong> Ordnung undSchönheit des Seienden überhaupt. Der Aufbau <strong>der</strong> Natur war <strong>in</strong> sich regelmäßiggeformt. Dabei blieb <strong>die</strong> Erkenntnis. Nun, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>, f<strong>in</strong>det <strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong>eMathematisierung <strong>der</strong> Natur statt, als sie messbar wird. Das Messen aber ist e<strong>in</strong>espezifische Anwendung <strong>der</strong> Mathematik, <strong>die</strong> Platon fremd geblieben ist. Man könntesagen, dass für Platon mit <strong>der</strong> Mathematik <strong>die</strong> Möglichkeit gegeben war, e<strong>in</strong>eTheoretisierung <strong>der</strong> Natur zu vollziehen. Für Descartes <strong>die</strong>nte <strong>die</strong> Mathematik dazu, dasDenken als e<strong>in</strong>e Praxis des Erkennens zu entwerfen. Die Wissenschaft begann imMessen, sich <strong>die</strong> Natur zu entwerfen. Daher spricht Descartes im „Discours de laméthode“ (1637) davon, dass <strong>der</strong> Mensch nun „maître et possesseur de la nature“ sei,Beherrscher und Besitzer <strong>der</strong> Natur. Doch wir müssen noch e<strong>in</strong> Element <strong>der</strong>Methodisierung und Mathematisierung des Wissens nennen. Die Mathematik blieb nichtnur vor den Türen <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> stehen, sie drang auch <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> selbst e<strong>in</strong>.Descartes und z.B. Sp<strong>in</strong>oza sprachen von e<strong>in</strong>em Denken more geometrico. Der mosgeometricus wurde <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> selbst e<strong>in</strong>geführt. Er bildet e<strong>in</strong> Modell desDenkens, das man sich an Euklids Elementen bzw. <strong>der</strong> griechischen Fun<strong>die</strong>rung <strong>der</strong>Geometrie abgeschaut haben will. So wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> „Ethik“ des Sp<strong>in</strong>oza, auf <strong>die</strong> ich nochzu sprechen kommen werde, das Denken schlechth<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kette von Propositionenund dazugehörigen Demonstrationen, d.h. <strong>in</strong> Lehrsätzen und Beweisen, entfaltet. Damitwollte man <strong>die</strong> Gewissheit und Sicherheit, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Mathematik dem Denken vermittelt,direkt <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>führen. Nicht nur <strong>die</strong> Natur, auch <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> solltemathematisiert werden. Das führt dann4. dazu, dass e<strong>in</strong> Wissensideal schlechth<strong>in</strong> für das Denken entsteht, <strong>die</strong> Mathesisuniversalis. Mit <strong>die</strong>sem Begriff, auf den sich z.B. auch Leibniz bezieht, wird e<strong>in</strong>e36


Methode bezeichnet, für <strong>die</strong> <strong>die</strong> Mathematik als e<strong>in</strong> universelles Erkenntnismittelersche<strong>in</strong>t. Alles, was Ordnung und Maß aufweisen kann, was für Ordnung und Maß -bzw. dem Messen - zugänglich ist, wird als pr<strong>in</strong>zipieller Gegenstand des Wissensgedacht. Für Descartes wird <strong>die</strong> Algebra e<strong>in</strong> wichtiges Moment des Denkens undErkennens. Noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Grundlegung <strong>der</strong> Kybernetik bei Norbert Wiener ist <strong>die</strong>serBegriff <strong>der</strong> mathesis universalis wichtig. Inwiefern bedeutet er etwas für unsMerkwürdiges? Was ist daran beson<strong>der</strong>s, dass wir es nennen müssen? Ist nicht Allespr<strong>in</strong>zipiell erkennbar? Vielleicht: aber denken Sie daran, dass Descartes <strong>die</strong> rescogitans und <strong>die</strong> res extensa unterscheidet. Alles Seiende ist Denken und/o<strong>der</strong>Ausdehnung. Wie kommen nun Denken und Ausdehnung im Menschen zusammen?Wie können Denken und Ausdehnung, Seele und Körper überhaupt zusammen können,wenn doch <strong>die</strong> Seele e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Substanz als <strong>der</strong> Körper ist? Warum hebe ich denArm, wenn ich will? Es gibt im Gehirn e<strong>in</strong>e Drüse, sagt Descartes, „<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>die</strong> Seele ihreFunktion spezieller ausübt als <strong>in</strong> jedem an<strong>der</strong>en Teil des Körpers“. Das sagt er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erSpätschrift „Les passions de l‘âme“ (1649). Descartes sagt nun nicht, wie manchedenken, <strong>die</strong> Seele sitzt als Zirbeldrüse im Gehirn, so als sei <strong>die</strong> Seele e<strong>in</strong> Gegenstand.Aber er reagiert doch auf das Problem, dass zwei Substanzen wie Seele undAusdehnung im Grunde nicht zusammenkommen können, damit, dass er das Gehirnals spezifische Sphäre e<strong>in</strong>er Berührung von Seele und Körper bezeichnet. Das aber istm.E. e<strong>in</strong> nachgerade spezifischer Gedanke, wenn man bedenkt, dass ja <strong>die</strong> Seele vorallem als Denken aufgefasst wird. Descartes gehört demnach also nicht zu denen, <strong>die</strong><strong>die</strong> Seele <strong>in</strong> e<strong>in</strong> messbares Objekt <strong>der</strong> Mathesis universalis überführen. Doch er legtgleichsam das Fundament dafür. Wenn ich also fragte, was denn das Beson<strong>der</strong>e an <strong>der</strong>Mathesis universalis ist, an <strong>die</strong>ser durchgängigen Mathematisierung <strong>der</strong> Natur, dannbesteht <strong>die</strong>ses Beson<strong>der</strong>e dar<strong>in</strong>, dass bald nach Descartes Alles als messbar betrachtetworden ist, auch so etwas wie e<strong>in</strong> Gefühl. Und noch e<strong>in</strong> Gedanke gehört alsKonsequenz zu e<strong>in</strong>er solchen Mathesis universalis h<strong>in</strong>zu. Wenn Alles als pr<strong>in</strong>zipiellmessbar verstanden wird, wenn Alles <strong>in</strong> messbaren Ursache-Wirkungs-Beziehungengeschieht, dann ist nur noch das, was eben so messbar ist. Se<strong>in</strong> heißt dann: messbarse<strong>in</strong>. Was nicht messbar ist, ist nicht. Das ist e<strong>in</strong> Gedanke von e<strong>in</strong>er ungeheuerlichenTragweite.Das waren <strong>die</strong> zwei Elemente des Descarteschen Denkens, <strong>die</strong> ich noch nachtragenwollte: <strong>die</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> Methode für das Denken und <strong>die</strong> Mathesis universalis alsProjekt e<strong>in</strong>er neuzeitlich begründeten Wissenschaft.Ich komme nun zu e<strong>in</strong>em Mann, <strong>der</strong> früher geboren wurde und später starb als Descartes,zu Thomas Hobbes (1588-1679). Hobbes gehört auch zu jenen Lesern <strong>der</strong> Meditationendes Descartes, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e obiectio, e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>wand, dagegen verfasste, auf den wie<strong>der</strong>umDescartes antwortet. Es gibt sieben solcher obiectiones und eben sieben Antworten. Se37


werden auch zuweilen <strong>in</strong> den Ausgaben <strong>der</strong> Meditationen gleich mitveröffentlicht. Hobbeskannte also Descartes, auch persönlich übrigens. Was Hobbes dachte, gehört demnachauch <strong>in</strong> <strong>die</strong> Welt des Descartes und an<strong>der</strong>sherum. Doch mitnichten ließe sich sagen, dasssie das Gleiche o<strong>der</strong> auch nur gleich dachten.Die philosophische Bedeutung von Hobbes wird ganz klar <strong>der</strong> politischen <strong>Philosophie</strong>zugeordnet. Der „Leviathan“ gilt als se<strong>in</strong> Hauptwerk und mith<strong>in</strong> als e<strong>in</strong> Hauptwerk <strong>der</strong>politischen <strong>Philosophie</strong> schlechth<strong>in</strong>. Doch e<strong>in</strong>e solche E<strong>in</strong>schätzung ist problematisch.Wenn man <strong>die</strong> politische <strong>Philosophie</strong> so versteht, dass es <strong>in</strong> ihr darum geht, <strong>die</strong>Grundlagen und Regeln für e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>wesen zu entwickeln, dann geht Hobbes<strong>Philosophie</strong>ren darüber h<strong>in</strong>aus. Die Grundlagen und Regeln e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>wesens s<strong>in</strong>dnach Hobbes nicht zu verstehen, wenn man nicht vorher bedenkt, was o<strong>der</strong> wer <strong>der</strong>Mensch ist, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Geme<strong>in</strong>wesen lebt. Die Frage nach dem Menschen ist aber <strong>die</strong>nach <strong>der</strong> Natur des Menschen (Natur auch im S<strong>in</strong>ne von natura), was wie<strong>der</strong>um <strong>die</strong> Fragenach <strong>der</strong> Natur im Allgeme<strong>in</strong>en impliziert. Hobbes Denken geht also <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne weitüber <strong>die</strong> bloße Frage nach den Grundlagen und Regeln für das Geme<strong>in</strong>wesen h<strong>in</strong>aus,auch wenn er <strong>die</strong>se Frage wohl für <strong>die</strong> wichtigste schlechth<strong>in</strong> gehalten hat.Hobbes veröffentlichte den „Leviathan“, zu dem ich gleich kommen werde, im Jahr 1651.Doch schon 1642 hatte er e<strong>in</strong>e Schrift veröffentlicht, <strong>die</strong> den Titel „De cive“ trägt, es ist <strong>der</strong>dritte Teil e<strong>in</strong>er Trilogie neben den Schriften „De corpore“ und „De hom<strong>in</strong>i“, später verfasstals <strong>der</strong> „Leviathan“. In „De cive“ hat Hobbes auf Late<strong>in</strong>isch ausgeführt, was im „Leviathan“englisch entfaltet wird. Wer also nicht sogleich den opulenteren Text des „Leviathan“ lesenmöchte, kann mit „De cive“ beg<strong>in</strong>nen. Dort wird er sozusagen e<strong>in</strong>e Zusammenfassungdessen f<strong>in</strong>den, was dann freilich im „Leviathan“ großartiger ausgeführt wird.Das Buch heißt im ganzen Titel: „Leviathan, o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Materie, Form und Macht e<strong>in</strong>eskirchlichen und staatlichen Geme<strong>in</strong>wesens“. Der Titel ist demnach vielsagend. Dochzunächst: wer o<strong>der</strong> was ist <strong>der</strong> Leviathan? Darüber ließe sich schon <strong>die</strong> nächsten dreiStunden reden. Ich muss das lei<strong>der</strong> abkürzen. Der Leviathan ist e<strong>in</strong> mythischesUngeheuer (Krokodil, Schlange, Drache, Wal), das am prom<strong>in</strong>entesten im AltenTestament, im Buch Hiob ersche<strong>in</strong>t. Dort spricht Gott vom Leviathan als e<strong>in</strong>emSeeungeheuer, dessen Stärke weit über <strong>die</strong> des Hiob h<strong>in</strong>ausgeht und <strong>die</strong> nur von ihmselbst, von Gott, gezügelt werden kann. Hobbes selber bezeichnet e<strong>in</strong>mal mit dem„Leviathan“ das Geme<strong>in</strong>wesen, den Staat selbst, als e<strong>in</strong>en „sterblichen Gott, dem wir unterdem unsterblichen Gott unseren Frieden und unsere Sicherheit verdanken“. Freilich -damit ist noch nicht gesagt, warum Hobbes den Staat ausgerechnet als e<strong>in</strong> solchesUngeheuer auffasst. Und es wird auch nicht noch genauer gesagt. (Im Gegenteil, es wirdnoch etwas an<strong>der</strong>es gesagt, wie wir gleich sehen.) Das hat dann viele politischePhilosophen immer wie<strong>der</strong> dazu getrieben, <strong>die</strong>se Frage aufzuwerfen: warum ist <strong>der</strong> Staat38


e<strong>in</strong> Ungeheuer, das von Gott kontrolliert wird? Am bekanntesten wahrsche<strong>in</strong>lich ist CarlSchmitts Buch „Der Leviathan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Staatslehre des Thomas Hobbes. S<strong>in</strong>n undFehlschlag e<strong>in</strong>es politischen Symbols“ von 1938, e<strong>in</strong> Buch, das wie<strong>der</strong>um m<strong>in</strong>destens sorätselhaft ist wie Hobbes‘ Titelwahl.Ich lasse <strong>die</strong>ses Rätsel ungelöst und komme zur E<strong>in</strong>leitung <strong>in</strong> das Werk, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es amBeg<strong>in</strong>n heißt: „Die Natur (<strong>die</strong> Kunstfertigkeit, vermittelst welcher Gott <strong>die</strong> Welt erschaffenhat und regiert), wird durch <strong>die</strong> Kunstfertigkeit (art) des Menschen, wie <strong>in</strong> vielen an<strong>der</strong>enD<strong>in</strong>gen, so auch hier<strong>in</strong> nachgeahmt, daß sie e<strong>in</strong> künstliches Tier erschaffen kann. Denn daja das Leben nur e<strong>in</strong>e Bewegung von Glie<strong>der</strong>n ist, <strong>der</strong>en Beg<strong>in</strong>n <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>em Hauptteilliegt, warum können wir dann nicht sagen, daß alle Automaten (Masch<strong>in</strong>en (eng<strong>in</strong>es), <strong>die</strong>sich durch Fe<strong>der</strong>n und Rä<strong>der</strong> bewegen, wie es e<strong>in</strong>e Uhr tut) e<strong>in</strong> künstliches Leben haben?Denn was ist das Herz an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong>e Fe<strong>der</strong>, was s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Nerven an<strong>der</strong>es als lauterStränge und <strong>die</strong> Gelenke an<strong>der</strong>es als lauter Rä<strong>der</strong>, <strong>die</strong> dem ganzen Körper Bewegungverleihen, wie es vom Konstrukteur beabsichtigt wurde? Die Kunstfertigkeit geht nochweiter, <strong>in</strong>dem sie jenes vernunftbegabte und höchst vortreffliche Werk <strong>der</strong> Natur, denMenschen, nachahmt. Denn durch Kunstfertigkeit wird jener große Leviathan,Geme<strong>in</strong>wesen o<strong>der</strong> Staat genannt (civitas), erschaffen, <strong>der</strong> nur e<strong>in</strong> künstlicher Mensch ist(wenn auch von größere Statur und Kraft als <strong>der</strong> natürliche Mensch, für dessen Schutzund Verteidigung er beabsichtigt wurde) und <strong>in</strong> dem <strong>die</strong> Souveränität e<strong>in</strong>e künstliche Seeleist“ etc. Ich bleibe zunächst e<strong>in</strong>mal hier und <strong>in</strong>terpretiere das Zitierte. Wir werden sehen,dass das mitunter zu Descartes führt - und zugleich von ihm weg.Was soll das, dass Hobbes hier vom artificial animal, vom artificial life, von eng<strong>in</strong>esspricht? Ist das e<strong>in</strong>e Metapher? Ne<strong>in</strong>. Ich hatte bereits ausgeführt, dass Descartes zweiSubstanzen unterscheidet: <strong>die</strong> res cogitans und <strong>die</strong> res extensa. Das ist <strong>die</strong>Unterscheidung zwischen Seele und Körper, zwischen Idee und Materie. Die Materie istfür Descartes a priori Ausdehnung. Sie besteht aus Korpuskeln, aus kle<strong>in</strong>en Teilchen, sieist also teilbar, wobei Descartes sich von den Atomisten unterscheidet, da es nach ihmke<strong>in</strong> Unteilbares kle<strong>in</strong>stes Teilchen gibt. Alles was ausgedehnt ist, ist weiter teilbar. Das isthier aber nicht wichtig. Wichtig ist vielmehr, dass <strong>die</strong> so ausgedehnte Natur o<strong>der</strong> Materievor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> vorh<strong>in</strong> bereits erwähnten Auffassung <strong>der</strong> Kausalität re<strong>in</strong>mechanisch verstanden wird. Alles, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur geschieht, ist mechanischer Natur, istMechanismus. Mechanismus heißt dann zugleich auch: im Wesentlichen berechenbar. Ichzitierte bereits, dass Descartes den Menschen als „maître et possesseur de la nature“bezeichnet. Das kann er nur se<strong>in</strong>, weil <strong>die</strong> Natur e<strong>in</strong> berechenbarer Mechanismus ist.Hobbes schließt sich <strong>die</strong>ser Auffassung <strong>in</strong>sofern an, als er an<strong>der</strong>s als Descartes <strong>die</strong>an<strong>der</strong>e Substanz, <strong>die</strong> res cogitans, durchstreicht. Mit an<strong>der</strong>en Worten: für Hobbes gibt esnur Materie, Hobbes ist e<strong>in</strong> Materialist. Das Ganze des Seienden ist für Hobbes - Materie.Das bedeutet, dass es über <strong>die</strong> <strong>in</strong> sich mechanisch organisierte Natur h<strong>in</strong>aus gar nichts39


an<strong>der</strong>es gibt. Nun, Sie werden vielleicht sagen: Gott. Aber das ist durchaus <strong>die</strong> Frage:welche Rolle spielt Gott bei Hobbes? Der dritte und vierte Teil des Leviathan hat <strong>die</strong>Überschriften: vom christlichen Geme<strong>in</strong>wesen und vom Königreich <strong>der</strong> F<strong>in</strong>sternis. So kannman von Außen betrachtet sagen, es gibt doch Gott bei Hobbes. Doch das ist nicht sosicher. Der Leviathan wurde unmittelbar als e<strong>in</strong> atheistisches Buch geradezu verfolgt. Undes ist e<strong>in</strong>e Frage, <strong>die</strong> ich hier nicht beantworten möchte, ob <strong>der</strong> dritte und vierte Teil desLeviathan so etwas wie e<strong>in</strong> politische Theologie enthält.Hobbes - ich sagte das vorh<strong>in</strong> - teilt also mit Descartes <strong>die</strong> Auffassung, dass <strong>die</strong> Natur e<strong>in</strong>Mechanismus ist, er lehnt aber <strong>die</strong> Begründung <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> auf e<strong>in</strong>e immaterielleSubstanz des Denkens ab. Damit steht Hobbes auch quer zu <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>-Tradition,<strong>die</strong> von Descartes auf dem cogito ergo sum begründet worden ist. Wenn Sie e<strong>in</strong>mal beiHegel nachschauen, was er über <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Vorlesungen zur Geschichte <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>geschrieben hat und das mit dem vergleichen, was er zu Descartes zu sagen hat, dannwerden Sie schnell sehen, dass Hegel sich nicht beson<strong>der</strong>s für Hobbes <strong>in</strong>teressiert. „Se<strong>in</strong>eAnsichten s<strong>in</strong>d seicht, empirisch; <strong>die</strong> Gründe und Sätze dafür s<strong>in</strong>d orig<strong>in</strong>eller Art, sie s<strong>in</strong>daus dem natürlichen Bedürfnis genommen.“ (III, 227) Immerh<strong>in</strong> - wenn Hobbes schon e<strong>in</strong>seichter und empirischer Denker ist, dann doch wenigstens „orig<strong>in</strong>ell“. (Unter Empirikerversteht Hegel hier Materialist.)Wenn Hobbes hier den Menschen als e<strong>in</strong>en Mechanismus <strong>der</strong> Natur auffasst und denStaat, d.h. den Leviathan, als e<strong>in</strong>en künstlichen Supermenschen, dann ist das, wie gesagt,ke<strong>in</strong>e Metapher und ke<strong>in</strong> Symbol, son<strong>der</strong>n genauso geme<strong>in</strong>t. Es gibt ke<strong>in</strong>en Anlass,Mensch und Staat an<strong>der</strong>s zu denken. So wird ja auch <strong>die</strong> Souveränität als „artificial soul“charakterisiert. Selbst <strong>die</strong> Seele kann also noch mechanisch hergestellt werden. D.h.natürlich, dass es e<strong>in</strong>e Seele, wie sie traditionell verstanden wird, nämlich immateriell, fürHobbes (<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>) nicht gibt.Das wirft auch e<strong>in</strong> Licht auf das Verständnis <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> bzw. <strong>der</strong> Vernunft selbst. FürDescartes ist es auf Grund se<strong>in</strong>er res cogitans, e<strong>in</strong>em per def<strong>in</strong>itionem immateriellenDenken, möglich, <strong>die</strong> Existenz Gottes auszudenken. Wir können auch sagen: beiDescartes bleibt dem Denken e<strong>in</strong>e übers<strong>in</strong>nliche Sphäre erhalten, alle<strong>in</strong> deshalb, weil esja selbst als nicht-s<strong>in</strong>nlich verstanden wird (trotz <strong>der</strong> Zirbeldrüse). Doch für Hobbes wird<strong>die</strong> Vernunft schlechth<strong>in</strong> zum Rechnen: „Kurz gesagt, wo Platz für Addition undSubtraktion ist, da ist auch Platz für Vernunft; und wo <strong>die</strong>se ke<strong>in</strong>en Platz haben, da hat <strong>die</strong>Vernunft gar nichts zu schaffen.“ Und weiter heißt es: „Aus <strong>die</strong>sem allen können wirdef<strong>in</strong>ieren (das heißt bestimmen), was mit <strong>die</strong>sem Wort Vernunft geme<strong>in</strong>t ist, wenn wir siezu den geistigen Fähigkeiten rechnen. Denn Vernunft <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne ist nichts als dasBerechnen (das heißt das Ad<strong>die</strong>ren und Subtrahieren) <strong>der</strong> Folgen allgeme<strong>in</strong>er Namen,über <strong>die</strong> wir uns zum Kennzeichen und Kundtun unsere Gedanken gee<strong>in</strong>igt haben; ich40


sage Kennzeichnen, wenn wir für uns rechnen, und Kundtun, wenn wir unsereBerechnungen an<strong>der</strong>en Menschen demonstrieren o<strong>der</strong> darlegen wollen.“ Reason istreckon<strong>in</strong>g. Man darf das nicht so e<strong>in</strong>fach übergehen, wenn man sich mit Hobbesbeschäftigt. Es handelt sich zwar bei <strong>die</strong>sen Gedanken nicht um jene, <strong>die</strong> immer wie<strong>der</strong>genannt werden, wenn <strong>der</strong> Name Hobbes fällt (wir werden <strong>die</strong>se Gedanken nochkennenlernen), aber es ist doch wichtig zu verstehen, dass für Hobbes Denken nichtsan<strong>der</strong>es als Ad<strong>die</strong>ren und Subtrahieren ist.Nun muss natürlich gefragt werden, was Hobbes mit den Folgen allgeme<strong>in</strong>er Namen(consequences of general names) me<strong>in</strong>t. Was s<strong>in</strong>d denn hier allgeme<strong>in</strong>e Namen? Dazulässt sich sagen, dass Hobbes vier Arten von Namen unterscheidet. Ich nenne nur e<strong>in</strong>mal<strong>die</strong> ersten zwei, damit wir hier sehen, dass Hobbes sich bei se<strong>in</strong>em Verständnis vonreckon<strong>in</strong>g etwas denkt. Der erste Oberbegriff für Name ist, dass e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g als Materie o<strong>der</strong>Körper <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Berechnung e<strong>in</strong>gehen kann. Beispiele s<strong>in</strong>d: „lebendig, wahrnehmbar,vernünftig, heiß, kalt, bewegt, ruhig“. Bei all <strong>die</strong>sen Namen ist das Wort Materie o<strong>der</strong>Körper zu ergänzen. O<strong>der</strong> wir nehmen e<strong>in</strong> Akzidenz o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Qualität: daß es bewegtwird, daß es so lang ist, daß es heiß ist etc. All das kommt an e<strong>in</strong>er Materie vor. Wirersetzen aber jetzt z.B. <strong>die</strong> Eigenschaft lebendig durch den Namen Leben. Das ist danne<strong>in</strong> abstrakter Name, <strong>der</strong> zwar nicht von <strong>der</strong> Materie, aber von <strong>der</strong> Berechnung <strong>der</strong>Materie getrennt sei. Was will Hobbes mit <strong>die</strong>sen beiden Arten von Namen klarmachen?Was ist daran Addition und Subtraktion? Hobbes me<strong>in</strong>t: dass e<strong>in</strong>e affirmative Aussagedar<strong>in</strong> besteht, dass wir sagen: „lebendig“ + „Körper“ o<strong>der</strong> „so lang“ + Tisch. Der Körper istlebendig. Der Tisch ist so lang. E<strong>in</strong>fach „lebendig“ o<strong>der</strong> „so lang“ reicht für e<strong>in</strong>envernünftigen Satz nicht aus. Wir ad<strong>die</strong>ren zu <strong>der</strong> Eigenschaft „lebendig“ das „Leben“,wodurch das „lebendig“ ersetzt wird. Im Gegensatz dazu das Subtrahieren: <strong>der</strong> Körper istnicht lebendig. Nun geht <strong>die</strong> Bezeichnung consequences of general names noch darüberh<strong>in</strong>aus. Denn jetzt besteht das Rechnen dar<strong>in</strong>, verschiedene Sätze durch Ad<strong>die</strong>ren undSubtrahieren zusammenzubr<strong>in</strong>gen. Immer kommt etwas dazu o<strong>der</strong> etwas wird abgezogen.„Die Sonne geht unter und sie ist rot.“ Das ist e<strong>in</strong>e Addition.Das Milieu, <strong>in</strong> dem <strong>die</strong>ser Umgang mit allgeme<strong>in</strong>en Namen stattf<strong>in</strong>det, ist <strong>die</strong> - Natur undd.h. für Hobbes ohneh<strong>in</strong> <strong>die</strong> Materie (es gibt nichts an<strong>der</strong>es). Das bedeutet, dass <strong>die</strong>allgeme<strong>in</strong>en Namen stets auf etwas bezogen s<strong>in</strong>d, was materiell gegeben ist. In <strong>die</strong>semS<strong>in</strong>ne setzen alle Bedeutungen, alle Namen, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Mensch benutzt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dungan. Es gebe ke<strong>in</strong>en Begriff im menschlichen Geist, <strong>der</strong> nicht zuerst ganz o<strong>der</strong> teilweise <strong>in</strong>den S<strong>in</strong>nesorganen erzeugt worden ist (<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht beschäftigt sich Hobbes auchmit dem Traum, aber ganz an<strong>der</strong>s als Descartes: Hobbes me<strong>in</strong>t, dass <strong>die</strong> Träume nurdann für wirklich gehalten werden können, wenn man nicht weiß, dass man schläft: „wersich ordentlich mit allem Aufwand schlagen legt, kann, falls ihm e<strong>in</strong>e unheimliche undungeheuerliche E<strong>in</strong>bildung kommt, sie kaum für etwas an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong>en Traum halten.“41


Das ist natürlich meilenweit von <strong>der</strong> sozusagen „spekulativen“ Atmosphäre desTraumarguments im Zweifelgang entfernt. Übrigens sagt Hobbes dann auch sogleich,dass Träume aus <strong>der</strong> Störung e<strong>in</strong>iger <strong>in</strong>nerer Körperteile verursacht werden - Sie sehen,er ist daran <strong>in</strong>teressiert, <strong>die</strong> materielle Herkunft - d.h. <strong>die</strong> wirkende Ursache - des Traumeszu bezeichnen.)Hobbes, so könnte man <strong>in</strong> Bezug auf Hegel sagen, ist Empirist, weil er Materialist ist. Esgibt nichts an<strong>der</strong>es als Materie, als e<strong>in</strong>e mechanische Natur. Daher muss Erkenntnisnotwendig empirisch se<strong>in</strong>, d.h. auf Erfahrung (o<strong>der</strong> Empf<strong>in</strong>dung) beruhen. Ich lasse dasaber jetzt auf sich beruhen, da das für e<strong>in</strong>e <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> ohneh<strong>in</strong> schon zu weit geht. Ichwollte Ihnen nur zeigen, dass Hobbes ke<strong>in</strong>eswegs bei e<strong>in</strong>em cogito ergo sum anfangenmuss, selbst wenn er Zeitgenosse von Descartes ist. (E<strong>in</strong> E<strong>in</strong>wand von Hobbes gegenDescartes‘ Meditationen ist z.B.: „<strong>die</strong> res cogitans muss etwas Körperliches se<strong>in</strong>, denn,wie es sche<strong>in</strong>t, s<strong>in</strong>d alle Subjekte von Tätigkeiten als etwas Körperliches, Materiellesaufzufassen“. Sie sehen - so denkt e<strong>in</strong> Materialist.)Nun aber zu den zentralen Gedanken des Leviathan, wenn wir ihn vor allem als e<strong>in</strong>epolitische Schrift lesen. E<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wichtigen Gedanken für <strong>die</strong> politische <strong>Philosophie</strong> ist <strong>der</strong>,dass das Geme<strong>in</strong>wesen, <strong>der</strong> Staat, <strong>der</strong> Leviathan durch e<strong>in</strong>en Vertrag zustande kommt.Man spricht von e<strong>in</strong>er Tradition <strong>der</strong> Vertragstheorie o<strong>der</strong> des Kontraktualismus. DieseTheorie beg<strong>in</strong>nt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zustand, <strong>in</strong> dem <strong>der</strong> Staat noch nicht gegeben ist. Es gibt e<strong>in</strong>enNaturzustand (natural condition) des Menschen. Dieser Naturzustand ist e<strong>in</strong> solcher e<strong>in</strong>erersten Gleichheit des Menschen, e<strong>in</strong>er Gleichheit von Natur. Die besteht zunächst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erGleichheit <strong>der</strong> Fähigkeiten, körperlicher und <strong>in</strong>tellektueller Fähigkeiten. Die erste zeigt sichdar<strong>in</strong>, dass auch <strong>der</strong> körperlich Schwächere den Stärkeren töten kann - so wenn er sichmit an<strong>der</strong>en verbündet o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en geheimen Anschlag plant. Die zweite zeigt sich dar<strong>in</strong>,dass je<strong>der</strong> me<strong>in</strong>t, es gäbe im Grunde ke<strong>in</strong>en Weiseren als man selbst es sei. Je<strong>der</strong>sche<strong>in</strong>t mit se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tellektuellen Ausstattung zufrieden zu se<strong>in</strong>, das ist e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf<strong>die</strong>se Gleichheit.Aus <strong>die</strong>ser (körperlichen und <strong>in</strong>tellektuellen) Gleichheit <strong>der</strong> Fähigkeiten erwächst nun auch<strong>die</strong> Hoffnung, unsere Ziele zu erreichen. Diese Hoffnung wird enttäuscht, wenn aber zweiMenschen es auf e<strong>in</strong>e Sache abgesehen haben, <strong>die</strong> es nur e<strong>in</strong>mal gibt. Diese Sache, aufwelche es Menschen abgesehen haben, <strong>die</strong>nen hauptsächlich <strong>der</strong> Selbsterhaltung,zuweilen aber auch dem Vergnügen, sagt Hobbes. Wenn aber nun zwei Menschenversuchen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Sache <strong>in</strong> ihren Besitz zu br<strong>in</strong>gen, müssen sie versuchen, den an<strong>der</strong>enzu vernichten o<strong>der</strong> zu unterwerfen (denn man braucht ja <strong>die</strong>se e<strong>in</strong>e Sache, kann ohne sienicht se<strong>in</strong>). H<strong>in</strong>zu kommt: es gibt ke<strong>in</strong> Recht, dass <strong>die</strong> Sache regeln könnte. Es gibt nochke<strong>in</strong> Privateigentum im rechtlichen S<strong>in</strong>ne (das gibt es erst im Staat). O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s gesagt:je<strong>der</strong> hat e<strong>in</strong> Recht auf Alles.42


Aus <strong>die</strong>ser Situation entsteht e<strong>in</strong>e ständige Unsicherheit, e<strong>in</strong>e Situation des Menschen, <strong>in</strong><strong>der</strong> er ke<strong>in</strong> Vergnügen f<strong>in</strong>den kann. Ständig muss er um se<strong>in</strong> Leben fürchten, <strong>in</strong>dem fürse<strong>in</strong>e Selbsterhaltung zu sorgen hat. Ständig muss er dabei den An<strong>der</strong>en <strong>in</strong> <strong>die</strong> Querekommen, sowie <strong>die</strong> An<strong>der</strong>en ihm <strong>in</strong> <strong>die</strong> Quere kommen. Das ist e<strong>in</strong> Zustand, den Hobbesauf englisch „war of every man aga<strong>in</strong>st every man“, den Krieg e<strong>in</strong>es jeden gegen jedennennt. Dazu gehört nun ke<strong>in</strong>eswegs <strong>die</strong> eigentliche Schlacht, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Zeitraum, <strong>in</strong>dem <strong>der</strong> Wille zum Kampf h<strong>in</strong>reichend bekannt ist, d.h. <strong>in</strong> welchem ich weiß, dass ich denAn<strong>der</strong>en töten muss, sowie er mich töten muss. Daraus entsteht für den Menschen e<strong>in</strong>eständige Furcht vor dem gewaltsamen Tod und, so Hobbes, „das Leben des Mensch iste<strong>in</strong>sam, armselig, wi<strong>der</strong>wärtig, vertiert und kurz“.Hobbes setzt h<strong>in</strong>zu: vielleicht kl<strong>in</strong>gt das etwas hart, was ich hier sage. All das ersche<strong>in</strong>t alse<strong>in</strong>e bloße Behauptung. Aber es gibt doch e<strong>in</strong>e Erfahrung, <strong>die</strong> zeigt, dass Hobbes Rechthat. Wenn wir e<strong>in</strong>e Reise machen, bewaffnen wir uns o<strong>der</strong> suchen uns e<strong>in</strong>e guteBegleitung; wenn wir schlafen gehen, verschließen wir <strong>die</strong> Türen; <strong>in</strong> unserem Hausverschließen wir <strong>die</strong> Schränke. Vielleicht bewaffnen wir uns nicht mehr, wenn wirverreisen. Aber - wir <strong>in</strong>formieren uns doch, ob das Gebiet, <strong>in</strong> das wir uns begeben, sicherist. Dass wir unsere Wohnungen und Häuser abschließen, stimmt allerd<strong>in</strong>gs ohneh<strong>in</strong>.Man hat gesagt, dass <strong>die</strong>se Idee von e<strong>in</strong>em Naturzustand mit Hobbes Erfahrung desenglischen Bürgerkriegs zusammenhänge. In <strong>der</strong> Tat sagt er, dass man im Bürgerkriegsehen könne, was passiert, wenn es ke<strong>in</strong>e öffentliche Gewalt mehr gebe, <strong>die</strong> für <strong>die</strong>E<strong>in</strong>haltung <strong>der</strong> öffentlichen Ordnung e<strong>in</strong>trete. Es ist auch <strong>die</strong>se Äußerung, <strong>die</strong> zeigt, dassHobbes möglicherweise <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Ausführungen zum Naturzustand nicht e<strong>in</strong>fach nur e<strong>in</strong>e„Konstruktion“ im Blick hatte. E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Beispiel s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> „wilden Völker <strong>in</strong> vielen TeilenAmerikas“. Wenn auch <strong>der</strong> Naturzustand nicht „allgeme<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> ganzen Welt“ geherrschthat, so eben doch vielleicht <strong>in</strong> bestimmten Teilen o<strong>der</strong> Perioden. Ich sage das deshalb,weil <strong>in</strong> den meisten Interpretationen von Hobbes e<strong>in</strong>fach mitgeteilt wird, <strong>der</strong> Kriegszustandsei eben e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e Fiktion, e<strong>in</strong>e Konstruktion: so als würde man sofort sagen wollen,ne<strong>in</strong>, so schlimm, wie Hobbes das schil<strong>der</strong>t, ist <strong>der</strong> Mensch <strong>in</strong> Wirklichkeit doch nicht. Werdas aber denkt, <strong>der</strong> versteht Hobbes nicht. Von Natur aus ist <strong>der</strong> Mensch genauso.Diese ständige Furcht vor e<strong>in</strong>em gewaltsamen Tod bei gleichzeitigem Verlangen nachD<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> das Leben angenehm machen, führen dazu, dass <strong>der</strong> Mensch siche<strong>in</strong>verstanden erklärt, e<strong>in</strong>en Vertrag abzuschließen. Hier nun kommt <strong>die</strong> rechnendeVernunft <strong>in</strong>s Spiel. Sie legt, so Hobbes, geeignete Friedensartikel nahe, auf <strong>der</strong>enGrundlage dann <strong>der</strong> Vertrag geschlossen werden könne. Hier ist zu sagen, dass <strong>der</strong>Schritt zum Vertragsschluss, zum Friedensschluss, ke<strong>in</strong>er emphatischen Zusageentspricht, son<strong>der</strong>n dass genau das geschieht, was <strong>die</strong> rechnende Vernunft antreibt: <strong>der</strong>43


Mensch will e<strong>in</strong>fach angenehm <strong>in</strong> Ruhe leben und nicht im ständigen Kampf ums Dase<strong>in</strong>sterben. Etwas an<strong>der</strong>es legt ihm <strong>die</strong> Vernunft nicht nahe.Was s<strong>in</strong>d nun <strong>die</strong>se Friedensartikel, von denen Hobbes spricht? Es seien Naturgesetze,sagt Hobbes. E<strong>in</strong> Naturgesetz, e<strong>in</strong>e lex naturalis, wird unterschieden vom jus naturale,vom Naturrecht. Über das sagt Hobbes, dass <strong>der</strong> Mensch von Natur aus das Recht habe,se<strong>in</strong>er Freiheit gemäß alles für se<strong>in</strong>e Selbsterhaltung zu tun, d.h. se<strong>in</strong>e ihm zur Verfügungstehende Macht dafür e<strong>in</strong>zusetzen. Dieses Naturrecht wird <strong>der</strong> Mensch auch im Staatnicht verlieren. Hobbes geht davon aus, dass <strong>der</strong> Mensch z.B. von Natur das Recht dazuhat, sich <strong>der</strong> Polizei zu wi<strong>der</strong>setzen, wenn <strong>die</strong> ihm se<strong>in</strong>e Freiheit nehmen will (Freiheitheißt für Hobbes, sich frei bewegen zu können). D.h. freilich nicht, dass <strong>die</strong> Polizei ke<strong>in</strong>Recht habe, sie ihm zu nehmen. Im Gegenteil, wie wir sehen werden.E<strong>in</strong> Naturgesetz ist dagegen e<strong>in</strong>e von <strong>der</strong> Vernunft entdeckte Vorschrift o<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>eRegel, <strong>die</strong> dem Menschen erlaubt, se<strong>in</strong> Leben zu sichern, o<strong>der</strong> negativ formuliert, ihmverbietet, sich se<strong>in</strong> Leben zu zerstören. Während also das Naturrecht e<strong>in</strong>e Freiheitformuliert, formuliert das Naturgesetz e<strong>in</strong>e Verpflichtung.Das Recht im Naturzustand garantiert dem Menschen alles, was se<strong>in</strong> Überleben sichert.Er hat e<strong>in</strong> Recht auf alles, sogar auf den Körper des An<strong>der</strong>en, sagt Hobbes. Mit <strong>die</strong>semRecht, das <strong>die</strong> Freiheit des Menschen zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt, kommt er aber gleichsamnicht so beson<strong>der</strong>s weit. Er wird stets vorzeitig sterben. Daraus entspr<strong>in</strong>gt dann das ersteNaturgesetz, <strong>die</strong> erste Verpflichtung, nämlich dass <strong>der</strong> Mensch nach Frieden strebensollte, soweit er <strong>die</strong> Hoffnung hat, ihn zu erlangen und zu halten. Das ist das ersteNaturgesetz. Muss er aber <strong>die</strong>ser Hoffnung entsagen, tritt wie<strong>der</strong> das Naturrecht <strong>in</strong> Kraftund er kann alle Hilfen und Vorteile des Krieges suchen und von ihnen Gebrauch machen.Von <strong>die</strong>sem ersten Naturgesetz, das dem Menschen dazu verpflichtet, nach Frieden zustreben, wird das zweite abgeleitet, nämlich dann, wenn auch <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en Menschendazu bereit s<strong>in</strong>d, auf se<strong>in</strong> Recht auf Alles zu verzichten und mit so viel Freiheit gegen denan<strong>der</strong>en zufrieden zu se<strong>in</strong>, wie er an<strong>der</strong>en gegen sich selbst zugestehen würde. Dennsolange man an se<strong>in</strong>em Recht auf Alles festhält, wird <strong>der</strong> Kriegszustand fortgesetztwerden.Die Entsagung des Rechts auf Alles bedarf e<strong>in</strong>er ausdrücklichen Erklärung. Das wird <strong>der</strong>Vertrag, <strong>der</strong> Gesellschaftsvertrag se<strong>in</strong>. Auf ihn werde ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> nächsten Woche e<strong>in</strong>gehen.Auch wird <strong>die</strong> Frage zu stellen se<strong>in</strong>, wie denn <strong>die</strong>ser Vertrag wohl e<strong>in</strong>gehalten werdenkann. Was als neuzeitlich an <strong>die</strong>sem Denken zu bezeichnen ist, liegt doch wohl schon auf<strong>der</strong> Hand. E<strong>in</strong>mal ist da <strong>der</strong> Materialismus, dem Hobbes anhängt, aber auch - wie schon44


ei Machiavelli - <strong>in</strong> <strong>der</strong> Staatsgründung notwendig auf Gott zurückzugehen. Der Staatentsteht aus Überlegungen <strong>der</strong> rechnenden Vernunft.Fünfte Vorlesung45


Was ich anstrebe <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Vorlesung, das ist, dass wir erkennen, <strong>in</strong>wiefern <strong>die</strong> wichtigstenPhilosophen <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> e<strong>in</strong>en Kontext bilden, <strong>in</strong> dem ihre Schriften stets aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>verweisen. Wir beg<strong>in</strong>nen dann nicht nur zu verstehen, was <strong>der</strong> o<strong>der</strong> <strong>der</strong> gedacht hat - <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> ist das ja ohneh<strong>in</strong> recht dürftig -, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>wiefern <strong>die</strong> Denkermite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Zusammenhang bilden, <strong>in</strong> dem er e<strong>in</strong>e sich so auf den an<strong>der</strong>en bezieht,<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e so, alle aber eben doch bestimmte Grundlagen teilen. Wenn e<strong>in</strong> solches Netzvon Verb<strong>in</strong>dungen, von philosophischen Gedanken entsteht, dann ist e<strong>in</strong> essentiellerZweck <strong>der</strong> Vorlesung erreicht. Es ist also wenig s<strong>in</strong>nvoll, <strong>die</strong> besprochenen Abhandlungennur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er abstrakten Reihe zu betrachten. Die Denker <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> wussten, was <strong>der</strong>jeweils an<strong>der</strong>e dachte, und sie reagierten darauf.Thomas Hobbes z.B. kannte Descartes. Er schrieb e<strong>in</strong>e obiectio zu den Meditationes. In<strong>die</strong>ser obiectio richtete sich e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wände gegen Descartes‘ Differenzierung zweierendlicher Substanzen, nämlich <strong>der</strong> res cogitans und <strong>der</strong> res extensa: „<strong>die</strong> res cogitansmuss etwas Körperliches se<strong>in</strong>, denn, wie es sche<strong>in</strong>t, s<strong>in</strong>d alle Subjekte von Tätigkeiten alsetwas Körperliches, Materielles aufzufassen“, schreibt Hobbes. Hobbes bezweifelt also,dass es e<strong>in</strong> immaterielles Denken gibt, e<strong>in</strong>e immaterielle Seele, bzw. er bezweifelt, dass<strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>die</strong>se <strong>in</strong> ihrer Existenz beweisen kann. Das aber entfernt Hobbes nicht soweit von Descartes, dass <strong>die</strong>se sozusagen nichts mehr mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu tun haben.Denn 1. sah auch Descartes <strong>die</strong>ses Problem, <strong>in</strong>dem er <strong>die</strong> Seele <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gewissenH<strong>in</strong>sicht mit <strong>der</strong> Zirbeldrüse im Gehirn verband, d.h. selbst wusste, dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> völligenUnabhängigkeit <strong>der</strong> beiden Substanzen e<strong>in</strong>e Schwierigkeit liegt; und 2. liegt zwischen <strong>der</strong>Auffassung <strong>der</strong> Natur bei Hobbes und Descartes kaum e<strong>in</strong> Unterschied vor. Für Descartesist <strong>die</strong> Natur re<strong>in</strong>e Extension, Ausdehnung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es Bewegung gibt, <strong>die</strong> re<strong>in</strong>eOrtsbewegung ist. Alles ist nicht nur Stoff, son<strong>der</strong>n aus e<strong>in</strong>er Art von Stoff bestimmt.Dieser ist korpuskular unendlich teilbar, weswegen Descartes nicht als Atomistanzusprechen ist. In e<strong>in</strong>er solchen Natur geschieht alles mechanisch, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong> Körperauf den an<strong>der</strong>en e<strong>in</strong>wirkt. Die sich bewegenden Körper ersche<strong>in</strong>en als „Masch<strong>in</strong>en“, alsmechanische Gebilde, <strong>die</strong>, im Falle <strong>der</strong> Tiere, noch nicht e<strong>in</strong>mal Affekte haben, weil Tieren<strong>die</strong> res cogitans nicht eignet, nach Descartes. Das ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Konsequenz auch bei Hobbesso. Hobbes ist Materialist, <strong>die</strong> Körper bee<strong>in</strong>flussen sich kausal gegenseitig, ohne dassihnen e<strong>in</strong> immaterielles Denken zugesprochen werden könnte. Insofern ist <strong>der</strong> Leviathan,<strong>der</strong> Staat, nichts an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong> artificial animal mit e<strong>in</strong>er artificial soul, man könnte auchsagen, ganz und gar technisches Produkt des Menschen. Und betrachten wir den Staatnicht genauso? Ist nicht auch für uns <strong>der</strong> Staat e<strong>in</strong> technisches Produkt des Menschen?Dar<strong>in</strong> besteht also e<strong>in</strong>e große Mo<strong>der</strong>nität des Thomas Hobbes.46


Ich habe dabei zunächst darauf h<strong>in</strong>gewiesen, wie Hobbes reason, Vernunft, bestimmt.Reason ist bei Hobbes reckon<strong>in</strong>g. E<strong>in</strong>e solche Bestimmung <strong>der</strong> Vernunft ist natürlich auchauf den grundlegenden Materialismus abgestimmt. Wenn wir den Menschen betrachten,wie er sich im Naturzustand bef<strong>in</strong>det und ihn dann verlässt, dann gehört dazu nichtsan<strong>der</strong>es als Berechnung, sowohl im Naturzustand als auch an <strong>der</strong> Stelle se<strong>in</strong>esVerlassens.Im Naturzustand geht es dem Menschen darum, zu überleben. Das kann er nur, <strong>in</strong>dem ersich <strong>die</strong> Mittel sichert, mit und von denen er nichts an<strong>der</strong>es als leben kann (selbst wennHobbes auch von Vergnügen spricht, geht es zunächst um <strong>die</strong> bloße Selbsterhaltung).Dabei besteht <strong>die</strong> Rechnung schon dar<strong>in</strong>, dass <strong>der</strong> Mensch kalkulieren kann, wie <strong>der</strong> sich<strong>die</strong> Mittel gegen e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> mehrere An<strong>der</strong>e sichert, d.h. wie er den o<strong>der</strong> <strong>die</strong> An<strong>der</strong>en <strong>in</strong>Schach hält bzw. tötet. Das bedeutet natürlich auch, er muss im Blick haben, wie <strong>die</strong>An<strong>der</strong>en ihn nicht töten können. Es geht um Sicherheit - und wenn ich nicht sehen würde,dass es e<strong>in</strong> wenig fragwürdig ist, hier an <strong>die</strong> certitudo des cogito bei Descartes zuer<strong>in</strong>nern, dass wir also am Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Wissenschaft e<strong>in</strong>e absolut sichere Erkenntnisbrauchen - dann würde ich eben doch genau daran er<strong>in</strong>nern. - Mit an<strong>der</strong>en Worten: <strong>in</strong> <strong>der</strong><strong>Neuzeit</strong> geht es vielfach darum, den Menschen <strong>in</strong> Sicherheit zu br<strong>in</strong>gen. Leibniz ist e<strong>in</strong>Miterf<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> Lebensversicherung, d.h. ihrer mathematischen Ermöglichung. Das ist e<strong>in</strong>bemerkenswertes Phänomen, f<strong>in</strong>de ich.So rechnet sich dann auch <strong>der</strong> Mensch vernünftig aus, dass er im Naturzustand wenigerÜberlebenschancen hat als im Staat. Jedenfalls hat er im Staat, wie wir sehen werden,nicht stets damit zu tun, für se<strong>in</strong> bloßes Überleben zu arbeiten. Die ständige Furcht vore<strong>in</strong>em gewaltsamen Tod bei gleichzeitigem Verlangen nach D<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> das Lebenangenehm machen, führen dazu, dass <strong>der</strong> Mensch sich e<strong>in</strong>verstanden erklärt, e<strong>in</strong>enVertrag abzuschließen. Die Vernunft legt, so Hobbes, geeignete Friedensartikel nahe, auf<strong>der</strong>en Grundlage dann <strong>der</strong> Vertrag geschlossen werden könne.Diese Friedensartikel (Friede ist bei Hobbes Nicht-Krieg) s<strong>in</strong>d Naturgesetze, sagt Hobbes.E<strong>in</strong> Naturgesetz, e<strong>in</strong>e lex naturalis, wird unterschieden vom jus naturale, vom Naturrecht.Über das sagt Hobbes, dass <strong>der</strong> Mensch von Natur aus das Recht habe, se<strong>in</strong>er Freiheitgemäß alles für se<strong>in</strong>e Selbsterhaltung zu tun, d.h. se<strong>in</strong>e ihm zur Verfügung stehendeMacht dafür e<strong>in</strong>zusetzen. Dieses Naturrecht wird <strong>der</strong> Mensch auch im Staat nichtverlieren. Hobbes geht davon aus, dass <strong>der</strong> Mensch z.B. von Natur das Recht dazu hat,sich <strong>der</strong> Polizei zu wi<strong>der</strong>setzen, wenn <strong>die</strong> ihm se<strong>in</strong>e Freiheit nehmen will (Freiheit heißt fürHobbes, sich frei bewegen zu können). D.h. freilich nicht, dass <strong>die</strong> Polizei ke<strong>in</strong> Rechthabe, sie ihm zu nehmen. Im Gegenteil, wie wir sehen werden.47


E<strong>in</strong> Naturgesetz ist dagegen e<strong>in</strong>e von <strong>der</strong> Vernunft entdeckte Vorschrift o<strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>eRegel, <strong>die</strong> dem Menschen erlaubt, se<strong>in</strong> Leben zu sichern, o<strong>der</strong> negativ formuliert, ihmverbietet, se<strong>in</strong> Leben zu zerstören. Während also das Naturrecht e<strong>in</strong>e Freiheit formuliert,formuliert das Naturgesetz e<strong>in</strong>e Verpflichtung.Das Recht im Naturzustand garantiert dem Menschen alles, was se<strong>in</strong> Überleben sichert.Er hat e<strong>in</strong> Recht auf alles, sogar auf den Körper des An<strong>der</strong>en, sagt Hobbes. Mit <strong>die</strong>semRecht, das <strong>die</strong> Freiheit des Menschen zum Ausdruck br<strong>in</strong>gt, kommt er aber gleichsamnicht so beson<strong>der</strong>s weit. Er wird stets vorzeitig sterben. Daraus entspr<strong>in</strong>gt dann das ersteNaturgesetz, <strong>die</strong> erste Verpflichtung, nämlich dass <strong>der</strong> Mensch nach Frieden strebensollte, soweit er <strong>die</strong> Hoffnung hat, ihn zu erlangen und zu halten. Das ist das ersteNaturgesetz. Muss er aber <strong>die</strong>ser Hoffnung entsagen, tritt wie<strong>der</strong> das Naturrecht <strong>in</strong> Kraftund er kann alle Hilfen und Vorteile des Krieges suchen und von ihnen Gebrauch machen.(Sie sehen den kalkulativen Charakter.)Von <strong>die</strong>sem ersten Naturgesetz, das dem Menschen dazu verpflichtet, nach Frieden zustreben, wird das zweite abgeleitet, nämlich dann, wenn auch <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en Menschendazu bereit s<strong>in</strong>d, auf se<strong>in</strong> Recht auf Alles zu verzichten und mit so viel Freiheit gegen denan<strong>der</strong>en zufrieden zu se<strong>in</strong>, wie er an<strong>der</strong>en gegen sich selbst zugestehen würde. Dennsolange man an se<strong>in</strong>em Recht auf Alles festhält, wird <strong>der</strong> Kriegszustand fortgesetztwerden.Hier muss noch etwas an<strong>der</strong>es berücksichtigt werden. In dem Augenblick, wo <strong>die</strong>Menschen ihrem Recht auf Alles entsagen bzw. - wie wir sehen werden - <strong>die</strong>ses Recht ane<strong>in</strong>e bestimmte Institution übertragen, entsteht gleichsam e<strong>in</strong> neues Recht, nämlich dasRecht auf Eigentum. In dem Moment, wo ich davon absehe, dass mir Alles gehört, kannmir Etwas gehören. Nun gehe ich davon aus, dass ich Etwas dem An<strong>der</strong>en nicht mehrstreitig mache, wie <strong>der</strong> davon absehen kann, es mir streitig zu machen.Die Entsagung des Rechts auf Alles bedarf aber e<strong>in</strong>er ausdrücklichen Erklärung. DieseErklärung, so Hobbes, muss <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em willentlichen und h<strong>in</strong>reichenden Zeichen o<strong>der</strong> <strong>in</strong>mehreren Zeichen bestehen. An <strong>die</strong>ser Stelle kommt <strong>der</strong> Vertrag <strong>in</strong>s Spiel, denn: „Diegegenseitige Übertragung von Rechten nennen <strong>die</strong> Menschen Vertrag.“ E<strong>in</strong> Vertrag alsomuss den Kriegszustand von jedem mit jedem beenden. Mit ihm entsteht dann natürlichauch das Recht auf Eigentum bzw. überhaupt Eigentum. Doch mit dem Vertrag tretenneue Schwierigkeiten auf. Denn sogleich kann <strong>die</strong> Frage gestellt werden, was hält <strong>die</strong>Menschen dazu an, den Vertrag e<strong>in</strong>zuhalten.Hobbes me<strong>in</strong>t, dass <strong>die</strong> Vernunft nicht nur zwei Naturgesetze kennt, son<strong>der</strong>n nochsiebzehn weitere, d.h. <strong>in</strong>sgesamt neunzehn. Wir brauchen nun nicht alle weiteren48


Naturgesetze kennenzulernen, son<strong>der</strong>n nur noch das dritte, das <strong>die</strong> Gerechtigkeit betrifft.Dem Naturgesetz, dass wir verpflichtet s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en das Recht zu übertragen, das<strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Anwendung den Frieden <strong>der</strong> Menschheit beh<strong>in</strong><strong>der</strong>t, folgt das, dass Verträge zuerfüllen s<strong>in</strong>d (pacta sunt servanda - e<strong>in</strong>e Formel, <strong>die</strong> aus dem römischen Recht stammt -Vertragstreue). Ohne <strong>die</strong>ses Naturgesetz seien Verträge, nach Hobbes, nur leere Worte.Das Naturgesetz aber besteht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gerechtigkeit? Was aber ist Gerechtigkeit hier?Hobbes def<strong>in</strong>iert: Ungerechtigkeit ist <strong>die</strong> Nichterfüllung von Verträgen, Gerechtigkeit ihreErfüllung. Das ist für Hobbes vollkommen ausreichend. Damit aber kommt e<strong>in</strong> gewissesProblem auf. Den Unterschied von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit kann es nur imGeme<strong>in</strong>wesen geben, d.h. im Zustand des Vertrags. Dieser aber muss e<strong>in</strong>gehaltenwerden. Er wird aber nicht e<strong>in</strong>gehalten, wenn e<strong>in</strong> Vertragspartner aus <strong>der</strong> Furcht vor <strong>der</strong>Nichterfüllung wie<strong>der</strong> den Kriegszustand vorzieht. D.h. dann aber, dass es e<strong>in</strong>e zw<strong>in</strong>gendeMacht geben muss, <strong>die</strong> den Menschen zur Erfüllung se<strong>in</strong>er Verträge anhält. Diesezw<strong>in</strong>gende Macht muss größer se<strong>in</strong> als <strong>der</strong> Vorteil, den <strong>die</strong> Menschen durch den Bruchihrer Verträge erwarten. Diese zw<strong>in</strong>gende Macht kann dann auch das Eigentum sicher,das <strong>die</strong> Menschen sich aneignen und sichern könne, wenn sie den Naturzustandverlassen.Diese zw<strong>in</strong>gende Macht ist nach Hobbes nun so zentral, dass er davon ausgeht, dass <strong>die</strong>Naturgesetze als solche nicht ausreichen würden, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>mal entstandenes Geme<strong>in</strong>wesen<strong>in</strong> Bestand zu halten. Halten wir zunächst e<strong>in</strong>mal fest: das Geme<strong>in</strong>wesen, das mit demVertrag entstanden ist, hat ke<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en S<strong>in</strong>n und Zweck als den, den Menschengleichsam vor sich selbst zu sichern. Erst <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser relativen Sicherheit kann er nämlich e<strong>in</strong>Leben führen, das nicht <strong>in</strong> ständigem Krieg besteht (obwohl freilich <strong>der</strong> Krieg als steteMöglichkeit h<strong>in</strong>ter dem Staat o<strong>der</strong> - man könnte auch sagen - unterhalb <strong>der</strong>gesellschaftlichen Oberfläche droht). Man hat das später als <strong>die</strong> Entstehung des„Liberalismus“ (Tönnies) <strong>in</strong>terpretiert. Warum? Weil Hobbes - so sagt man - den Staatdarauf reduziert, se<strong>in</strong>en Bürgern Sicherheit zu geben. Das ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zigeBedeutung, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Staat hat.Nun aber zu <strong>der</strong> „zw<strong>in</strong>genden Macht“, <strong>die</strong> den Menschen dazu anhält, den Vertrage<strong>in</strong>zuhalten. Hobbes sagt zunächst: „Und Verträge ohne das Schwert s<strong>in</strong>d nur Worte undhaben überhaupt ke<strong>in</strong>e Kraft, e<strong>in</strong>en Menschen zu sichern.“ Warum? ließe sich fragen. Hatdenn <strong>die</strong> Vernunft nicht ergeben, dass <strong>der</strong> Mensch sich an den Naturgesetzen orientieren,sich mit ihnen verpflichten kann? Für Hobbes s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Affekte des Menschen später als <strong>die</strong>Vernunft. „Parteilichkeit, Hochmut, Rachedurst und <strong>der</strong>gleichen“ ru<strong>in</strong>ieren <strong>die</strong> Vernunft.Zwar rechnet <strong>die</strong> Vernunft und sie rechnet für sich selbst, doch <strong>die</strong> Gemütsbewegungens<strong>in</strong>d stärker.49


Wie also hält <strong>der</strong> Mensch im Geme<strong>in</strong>wesen Ruhe? Indem er se<strong>in</strong> Recht auf Alles delegiert.An wen? An e<strong>in</strong>en Menschen o<strong>der</strong> an e<strong>in</strong>e Versammlung von Menschen - wie Hobbesimmer wie<strong>der</strong> sagt. Das ist <strong>der</strong> Ursprung des Souveräns bzw. <strong>der</strong> Souveränität. D.h. ich -so Hobbes - übertrage <strong>die</strong>sem Souverän das Recht, mich zu regieren, wenn auch du ihm<strong>die</strong>ses Recht erteilst (an<strong>der</strong>nfalls gilt wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kriegszustand). Das ist eben <strong>der</strong> S<strong>in</strong>n desVertrags, den alle mit allen schließen - natürlich nicht konkret, aber doch im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>esLebens <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Geme<strong>in</strong>wesen. (Ich habe nie mit Ihnen ausgemacht, dass Sie mich nichterschießen, ich Sie nicht erschieße - aber doch halten wir uns daran - warum?)Wir halten uns an den Vertrag, weil wir an den Souverän das Recht auf Alles abgegebenhaben, das Recht auf Alles, das impliziert, dass wir auch den An<strong>der</strong>en nehmen o<strong>der</strong> dasswir ihm das Leben nehmen können, wenn wir es müssen. Der Souverän hat - als E<strong>in</strong>zigerim Geme<strong>in</strong>wesen - das Recht zu töten, er besitzt das Schwert. Er ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat <strong>der</strong>absolute Souverän, dem Legislative, Exekutive und Jurisdiktion eignen - wäre das nicht<strong>der</strong> Fall, wäre er überhaupt ke<strong>in</strong> Souverän mehr im S<strong>in</strong>ne Hobbes‘. Also - ich sehe davonab, Sie zu töten, weil ich dann vom Souverän getötet werden kann. Die zw<strong>in</strong>gende Macht,<strong>die</strong> noch stärker als unsere Gemütsbewegungen ist, weil sie sich selber als e<strong>in</strong> Affekt undzwar als <strong>der</strong> wahrsche<strong>in</strong>lich stärkste Affekt überhaupt äußert, ist <strong>die</strong> Angst vor demgewaltsamen Tod. Das ist <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zigartige Macht des Leviathan, dass er das Recht hat, zutöten. Dieser Tod muss auch deshalb notwendig gewaltsam se<strong>in</strong>, weil vom E<strong>in</strong>zelnen nichterwartet werden kann, dass er auf se<strong>in</strong>e Freiheit, se<strong>in</strong>en eigenen Körper zu verteidigen,verzichtet.Der Vertrag wird e<strong>in</strong>gehalten, weil <strong>der</strong> Souverän tötet, weil er töten kann. Diese Macht istfür den Leviathan unverzichtbar. Sie hat nicht unbed<strong>in</strong>gt etwas mit <strong>der</strong> Legalität <strong>der</strong>Todesstrafe zu tun - wenn natürlich <strong>die</strong>se auch bei Hobbes als höchste mögliche Strafe(noch über <strong>der</strong> Folter) gegeben ist. Es geht vielmehr um e<strong>in</strong> Gewaltmonopol, nachwelchem <strong>der</strong> Staat den E<strong>in</strong>zelnen, <strong>der</strong> sich gegen den Staat wendet, gegen dasGeme<strong>in</strong>wesen wendet, töten kann. So gibt es z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> BRD zwar ke<strong>in</strong>e Todesstrafe,aber es gibt bei <strong>der</strong> Polizei freilich das Recht, <strong>die</strong> körperliche Unversehrtheit <strong>der</strong> Exekutivezu sichern. D.h. es gibt e<strong>in</strong> Recht, e<strong>in</strong>en Angriff auf den Staat durch den Tod abzuwenden.(Über das „Recht“ <strong>der</strong> Demokratie im Zustand <strong>der</strong> Bedrohung kann man sich e<strong>in</strong>enÜberblick verschaffen, wenn man sich e<strong>in</strong>mal anguckt, was <strong>in</strong> den siebziger Jahren desletzten Jahrhun<strong>der</strong>ts mit <strong>der</strong> so genannten Roten Armee Fraktion geschah.)Der Leviathan von Thomas Hobbes ist e<strong>in</strong> gewaltiges Werk, dessen Wirkungsgeschichtenoch nicht an e<strong>in</strong> Ende gekommen ist. Dennoch ist es ziemlich bald kritisiert worden.Hören wir Folgendes: „Von e<strong>in</strong>em Geme<strong>in</strong>wesen, dessen Untertanen nicht zu den Waffengreifen, weil sie durch Furcht e<strong>in</strong>geschüchtert s<strong>in</strong>d, läßt sich eher sagen, daß es ohneKrieg ist, als daß es sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zustand des Friedens bef<strong>in</strong>det. Frieden nämlich ist nicht50


<strong>die</strong> Abwesenheit von Krieg (wie Hobbes behauptet), son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e Tugend (virtus), <strong>die</strong>e<strong>in</strong>er Stärke des Charakters entspr<strong>in</strong>gt“. E<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>wesen, „bei dem <strong>der</strong> Frieden von <strong>der</strong>Verzagtheit <strong>der</strong> Untertanen abhängt, <strong>die</strong> man wie e<strong>in</strong>e Herde führt, um sie lediglich zuSklaven abzurichten“, kann man „angemessener ,E<strong>in</strong>öde‘ als ,Geme<strong>in</strong>wesen‘ nennen“.Das schreibt rund zwanzig Jahre nach Hobbes Leviathan e<strong>in</strong> gewisser Baruch de Sp<strong>in</strong>oza<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Tractatus politicus. Sp<strong>in</strong>oza will Hobbes mit <strong>die</strong>sem Gedanken treffen - undvielleicht trifft er auch etwas. Doch es lässt sich nicht sagen, dass se<strong>in</strong> Tractatus politicusden Leviathan etwa verdrängt hätte. Es wird sich vielmehr sagen lassen, dass <strong>der</strong>Leviathan <strong>die</strong> Konzeption e<strong>in</strong>er Politik enthält und darstellt, <strong>die</strong> nach wie vor e<strong>in</strong>igeÜberzeugungskraft hat.Dennoch hat Sp<strong>in</strong>oza zum neuzeitlichen Denken etwas beigetragen, was wir bei Hobbesso nicht f<strong>in</strong>den. Weniger aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Tractatus politicus, <strong>der</strong> sich mit Hobbesbeschäftigt, als <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Tractatus theologico-politicus von 1670 und vor allem mit <strong>der</strong>Schrift Ethica ord<strong>in</strong>e geometrico demonstrata, <strong>der</strong> 1677, d.h. posthum veröffentlichtenHauptschrift des Philosophen, <strong>die</strong> allerd<strong>in</strong>gs vor dem Tractatus theologico-politicusentstand. 1677 war also Sp<strong>in</strong>oza schon tot. Er starb im Februar 1677 und wurde 1632 <strong>in</strong>Amsterdam, im jüdischen Getto, geboren. Das bedeutet, dass Hobbes früher geborenwurde und später starb (1588-1679). Wie ich bereits sagte, e<strong>in</strong> ungewöhnliches Alter,wobei Sp<strong>in</strong>oza natürlich auch ziemlich früh starb.Sp<strong>in</strong>ozas Biographie ist - wie auch <strong>die</strong> von Descartes - <strong>in</strong>teressant, vielleicht noch<strong>in</strong>teressanter. Sp<strong>in</strong>oza wurde nämlich schon früh, so um 1655, aus se<strong>in</strong>er jüdischenGeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Amsterdam ausgestoßen und mit e<strong>in</strong>em Bann belegt, wonach den Judenverboten wurde, sich mit Sp<strong>in</strong>oza schriftlich o<strong>der</strong> mündlich zu verständigen. Offenbarwaren se<strong>in</strong>e Gedanken zu freis<strong>in</strong>nig. Davon gibt se<strong>in</strong> Tractatus theologico-politicusAuskunft, das erste Werk, das e<strong>in</strong>e konsequente Bibelkritik vorträgt, d.h. das auf e<strong>in</strong>egewisse Weise Religionskritik übt, ohne allerd<strong>in</strong>gs etwa <strong>die</strong> Religion als solcheanzugreifen. Vielmehr geht es ihm z.B. um e<strong>in</strong>e Trennung von Religion und Staat, wasnatürlich zu se<strong>in</strong>er Zeit ke<strong>in</strong> Gedanke war, den man öffentlich diskutieren konnte.Sp<strong>in</strong>oza war schon zu Lebzeiten e<strong>in</strong>e berüchtigte Gestalt, <strong>die</strong> nur unter dem Schutz <strong>der</strong>Brü<strong>der</strong> de Witt <strong>in</strong> Den Haag e<strong>in</strong>igermaßen unbehelligt leben konnte. Geld erhielt er z.T.von <strong>die</strong>sen reichen liberalen Politikern sowie aus se<strong>in</strong>er Tätigkeit des L<strong>in</strong>senschleifens fürMikro- und Teleskope. Er war immerh<strong>in</strong> so berühmt, dass ihm <strong>die</strong> Universität Heidelberge<strong>in</strong>e Stelle anbot, <strong>die</strong> er mit <strong>der</strong> Mitteilung ablehnte, dass er als öffentlicher Professor nichtdas hätte denken können, was er denken wollte. Er starb dann recht früh. Er lebte sehre<strong>in</strong>fach, und war - nach all den Zeugen - <strong>die</strong> ihm begegneten, e<strong>in</strong> sehr freundlicher Mann -ganz im Gegensatz zu se<strong>in</strong>em Ruf, dem ihn <strong>der</strong> Tractatus theologico-politicus und vorallem <strong>die</strong> Ethik e<strong>in</strong>brachte. Mit <strong>der</strong> möchte ich mich im Folgenden beschäftigen.51


Die Ethik heißt <strong>in</strong>sgesamt: Ethica ord<strong>in</strong>e geometrico demonstrata. Ethik <strong>in</strong> geometrischerOrdnung bewiesen. Das zeigt schon, dass Sp<strong>in</strong>oza e<strong>in</strong>er Methode folgt. Diese Methode ist<strong>der</strong> mos geometricus. Wir hatten schon bei Descartes von ihm gehört. E<strong>in</strong>e deduktiveMethode <strong>der</strong> Ableitung von Begriffen, <strong>die</strong> sich an den Elementen des Euklids orientieren,wobei das leichter gesagt als getan ist. Denn wie übertragen wir geometrischeVerhältnisse <strong>in</strong> <strong>die</strong> Sprache? Das ist e<strong>in</strong> Problem, das Descartes o<strong>der</strong> Sp<strong>in</strong>oza nichtgesehen haben. Wir müssen aber sagen, dass Sp<strong>in</strong>oza mit <strong>die</strong>ser Methode am weitestengegangen ist.Die Ethik hat fünf Teile: 1. Über Gott; 2. Über <strong>die</strong> Natur und den Ursprung des Geistes; 3.Über den Ursprung und <strong>die</strong> Natur <strong>der</strong> Affekte; 4. Über <strong>die</strong> menschliche Knechtschaft o<strong>der</strong><strong>die</strong> Macht <strong>der</strong> Affekte; 5. Über <strong>die</strong> Macht des Verstandes o<strong>der</strong> <strong>die</strong> menschliche Freiheit.Von den Überschriften aus gesehen verstehen wir auch jetzt, warum das Buch Ethik heißt.Es geht um <strong>die</strong> menschliche Freiheit.Die geometrische Methode schlägt sich nun so wie<strong>der</strong>, dass je<strong>der</strong> Teil mit Def<strong>in</strong>itionenbeg<strong>in</strong>nt, <strong>die</strong> sodann expliziert werden. Dann gibt es Axiomata. Sowohl <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>itionen alsauch <strong>die</strong> Axiomata s<strong>in</strong>d nummeriert. Im ersten Teil De Deo gibt es acht Def<strong>in</strong>itionen undsieben Axiomata. Dann gibt es jeweils e<strong>in</strong>e Reihe von Propositionen, Lehrsätzen, imersten Teil 36, <strong>die</strong> dann stets auch demonstriert bzw. bewiesen werden. Der Schluss desersten Teils ist e<strong>in</strong> langer Appendix, d.h. Anhang. Die Sequenzierung <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>itionen,Axiomata und Propositionen ist nun natürlich nicht beliebig, son<strong>der</strong>n soll deduktivverlaufen. Allgeme<strong>in</strong>ere Bestimmungen werden vorausgesetzt, aus denen sich dann Konsequenzenergeben.Wenn ich vorh<strong>in</strong> von dem Netz sprach, dem Bedeutungsnetz, das sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Vorlesungergeben soll, wenn wir <strong>die</strong> Schlüsseltexte <strong>die</strong>ser Epoche bedenken, dann wird an <strong>die</strong>semPunkt klar, dass Descartes, Hobbes und Sp<strong>in</strong>oza - je<strong>der</strong> auf se<strong>in</strong>e Weise (Sp<strong>in</strong>oza näheran Descartes als an Hobbes - wie sich gleich zeigen wird) - e<strong>in</strong>e Nähe zur Mathematikteilen. Die Vernunft ist wirklich e<strong>in</strong> Berechnen von Kausalverhältnissen - wenn man so will.Und das wird bei Sp<strong>in</strong>oza vielleicht so deutlich wie sonst bei ke<strong>in</strong>em - wobei wir abersehen werden, wie Sp<strong>in</strong>oza an entscheidenden Stellen irgendwie über <strong>die</strong> berechnendeVernunft h<strong>in</strong>ausgeht.Also tauchen wir e<strong>in</strong> wenig <strong>in</strong> Sp<strong>in</strong>oza e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>die</strong>ses höchst bemerkenswerte Denken.Tauchen wir an e<strong>in</strong>er Stelle e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> sich nahelegt. Wenn Sp<strong>in</strong>ozas Denken dem mosgeometricus gehorcht, wenn es sich als deduktiv versteht, <strong>in</strong>dem es aus VoraussetzungenKonsequenzen ableitet, dann muss ganz am Anfang sich <strong>die</strong> wichtigste, <strong>die</strong> essentiellsteVoraussetzung f<strong>in</strong>den. Ganz am Anfang bef<strong>in</strong>det sich <strong>die</strong> erste Def<strong>in</strong>ition <strong>in</strong> dem Teil De52


Deo. Sie lautet: „1. Per causam sui <strong>in</strong>telligo id, Unter Ursache se<strong>in</strong>er selbst verstehe ichdas, dessen Wesen <strong>die</strong> Existenz e<strong>in</strong>schließt, o<strong>der</strong> das, dessen Natur nur als existierendbegriffen werden kann.“ Es ist <strong>die</strong> causa sui, <strong>die</strong> ich <strong>in</strong> Bezug auf Descartes schonansprach. Causa sui - Ursache ihrer selbst. Es kann nur e<strong>in</strong>e Ursache ihrer selbst geben,nur e<strong>in</strong>e Ursache, <strong>die</strong> sich selbst verursacht, <strong>die</strong> also nicht auf e<strong>in</strong>e vorangegangeneWirkung angewiesen ist, sich aus ihr ergibt. Das ist Gott. Die Denkfigur, auf <strong>die</strong> Sp<strong>in</strong>ozahier zurückgeht, kennen wir aus dem sogenannten ontologischen Gottesbeweis, denzuerst Anselm von Canterbury formulierte, <strong>der</strong> aber auch bei Descartes <strong>in</strong> denMeditationen anwesend ist. Die essentia Gottes ist <strong>in</strong>f<strong>in</strong>it, es kann ihm nichts fehlen - dennwürde ihm etwas fehlen, wi<strong>der</strong>spräche das eben er essentia Gottes. Demnach muss ihmnotwendig das Se<strong>in</strong> zukommen, Gott muss notwendig existieren - <strong>in</strong>sofern Gott jazum<strong>in</strong>dest mehr se<strong>in</strong> muss als <strong>die</strong>ser Tisch hier o<strong>der</strong> ich o<strong>der</strong> sie o<strong>der</strong> wir alle geme<strong>in</strong>sam.Da aber alles Seiende verursachtes Seiendes ist, alles Seiende e<strong>in</strong>e Ursache habenmuss, ist Gott nicht nur causa prima et ultima von allem Seienden, also erste Wirkursachevon Allem (Gott ist <strong>der</strong> Schöpfer), son<strong>der</strong>n eben auch causa sui - Ursache von sich selbst.Sp<strong>in</strong>oza kann <strong>die</strong>sen Gedanken auch an<strong>der</strong>s fassen - und zwar <strong>in</strong> <strong>der</strong> 34. Proposition, im34. Lehrsatz. Der lautet nämlich schlicht: „Dei potentia est ipsa ipsius essentia.“ „DieMacht Gottes ist se<strong>in</strong> Wesen selbst.“ Macht und Wesen s<strong>in</strong>d bei Gott identisch. Die MachtGottes zeigt sich aber beson<strong>der</strong>s dar<strong>in</strong>, dass er als e<strong>in</strong>ziges Seiendes aus sich selbstheraus existieren kann. Das sagt dann <strong>die</strong> demonstratio: „Denn aus <strong>der</strong> Notwendigkeitse<strong>in</strong>es Wesens alle<strong>in</strong> folgt, dass Gott <strong>die</strong> Ursache se<strong>in</strong>er selbst und aller D<strong>in</strong>ge ist.Folglich ist <strong>die</strong> Macht Gottes, durch welche er und alles ist und handelt, se<strong>in</strong> Wesenselbst.“ Gott ist so mächtig, dass <strong>die</strong>se Macht, <strong>die</strong>ses Vermögen von selbst <strong>in</strong>s Se<strong>in</strong>übergeht. Ja se<strong>in</strong>e Macht zeigt sich gerade dar<strong>in</strong>.Gehen wir weiter zur zweiten Def<strong>in</strong>ition, wir wollen alle acht durchgehen. Sie lautet:„Endlich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Art heißt e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, das durch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es von gleicher Natur begrenztwerden kann. E<strong>in</strong> Körper z.B. heißt endlich, weil wir stets e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>e größerenbegreifen. Ebenso wird das Denken durch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Denken begrenzt. Dagegen wirde<strong>in</strong> Körper nicht durch das Denken noch das Denken durch e<strong>in</strong>en Körper begrenzt.“ DieDef<strong>in</strong>ition von f<strong>in</strong>itum, von endlich, ist <strong>die</strong> Begrenzung e<strong>in</strong>es D<strong>in</strong>ges durch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>esD<strong>in</strong>g von gleicher Natur. D<strong>in</strong>g heißt hier res. Nun spricht aber Sp<strong>in</strong>oza im weiteren nur vonzwei D<strong>in</strong>gen, nämlich Denken und Körper, cogitatio und corpus. Es begrenzen sich nunDenken und Denken, Körper und Körper, aber nicht Denken und Körper. Das tun sieaufgrund <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition, dass sich gleiche D<strong>in</strong>ge begrenzen, so dass sie sich verendlichen.Ist das Denken aber e<strong>in</strong>e res, e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g? Ja, wenn wir uns an Descartes‘ Bestimmung <strong>der</strong>e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> drei Substanzen er<strong>in</strong>nern, nämlich an <strong>die</strong> res cogitans, <strong>die</strong> mit <strong>der</strong> res extensazusammengenannt wird und beim Menschen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>e Komposition bilden. Sp<strong>in</strong>ozaspricht hier demnach <strong>die</strong> Sprache des Descartes. Er spricht nicht nur <strong>die</strong> Sprache. Wir53


werden sehen, dass er sich be<strong>in</strong>ahe überall auf ihn bezieht. Der e<strong>in</strong>zige Text, den Sp<strong>in</strong>ozazu Lebzeiten unter se<strong>in</strong>em eigenen Namen veröffentlichte, trägt den Titel: Descartes‘Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> auf geometrische Weise begründet, 1663 erschienen <strong>in</strong>Amsterdam. Sp<strong>in</strong>oza hat sich <strong>in</strong>tensiv mit Descartes ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt, man kannsagen, dass Descartes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gewissen H<strong>in</strong>sicht Sp<strong>in</strong>ozas Lehrer war.Die Frage ist nicht nur, was wir mit <strong>die</strong>ser zweiten Def<strong>in</strong>ition an <strong>die</strong>ser Stelle anfangensollen, <strong>die</strong> Frage ist, was wir überhaupt mit solchen Def<strong>in</strong>itionen anfangen sollen. Aber -wenn es sich hier um e<strong>in</strong> Denken more geometrico handelt, dann können wir von denVoraussetzungen nicht verlangen, dass sie uns sogleich sagen, wozu sie alsVoraussetzungen <strong>die</strong>nen. Das wird sich dann jeweils im Gang <strong>der</strong> Deduktionen zeigenmüssen. Und natürlich zeigt es sich auch bei Sp<strong>in</strong>oza.Zur dritten Def<strong>in</strong>ition: „Unter Substanz verstehe ich das, was <strong>in</strong> sich (<strong>in</strong> se) ist und durchsich begriffen wird; d.h. das, dessen Begriff nicht den Begriff e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en D<strong>in</strong>ges nötighat, um daraus gebildet zu werden.“ Bei <strong>die</strong>ser Def<strong>in</strong>ition gibt es das Beson<strong>der</strong>e, dass <strong>die</strong>Substanz <strong>in</strong> sich ist. Was soll das heißen, könnte man fragen? Zunächst e<strong>in</strong>mal: dass <strong>die</strong>Substanz sich nicht von e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Begriff her erklären lassen soll, ist e<strong>in</strong>e klassischeBestimmung. Wenn wir auf <strong>die</strong> Aristotelische Bestimmung <strong>der</strong> ousía, d.h. des griechischenBegriffs für Substanz zurückgehen, dann besagt auch er, ohne def<strong>in</strong>iert zu werden, dassich das, was Kuh heißt, nur durch <strong>die</strong> Kuh, das Kuhige verstehen kann. Erst recht kann ich<strong>die</strong> Substanz <strong>der</strong> Kuh nicht verstehen, wenn ich sage: schwarz o<strong>der</strong> weiß, flauschig mitOhren etc. Aber - was heißt: dass <strong>die</strong> Substanz <strong>in</strong> sich ist?Descartes bestimmt <strong>die</strong> Substanz folgen<strong>der</strong>maßen: „Unter Substanz können wir nur e<strong>in</strong>D<strong>in</strong>g verstehen, das so existiert, dass es zu se<strong>in</strong>er Existenz ke<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en D<strong>in</strong>gesbedarf.“ Das ist e<strong>in</strong> gefährliche Def<strong>in</strong>ition für Descartes. Denn klar ist, dass sie sich aufGott anwenden lässt. Gott ist auch für Descartes causa sui. Er bedarf ke<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>enD<strong>in</strong>ges, um zu existieren. Aber gilt das auch für <strong>die</strong> res cogitans und <strong>die</strong> res extensa? S<strong>in</strong>dsie auch causae suarum, Ursachen ihrer selbst? Das dürfte nicht se<strong>in</strong>, denn <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zigecausa sui ist Gott. Deshalb sagt Descartes auch wirklich irgendwo, dass <strong>die</strong> Substanz imeigentlichen S<strong>in</strong>ne, nämlich <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige unendliche Substanz Gott ist. Denken undAusdehnung s<strong>in</strong>d endlich, denn gemäß des Satzes vom Wi<strong>der</strong>spruch wird e<strong>in</strong> Denkendurch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es, e<strong>in</strong> Körper durch den an<strong>der</strong>en begrenzt. Aber, wie gefragt, was heißthier „<strong>in</strong> sich se<strong>in</strong>“? Das wird sich gleich zeigen.Gehen wir weiter zur vierten Def<strong>in</strong>ition: „Unter Attribut verstehe ich das an das Substanz,was <strong>der</strong> Verstand als zu ihrem Wesen gehörig erkennt.“ Attributum, das Zugeteilte,Zugeordnete, wird vom <strong>in</strong>tellectus erkannt. Das Attribut hängt an <strong>der</strong> Substanz, Attributheißt: e<strong>in</strong>er Substanz zugeordnet se<strong>in</strong>. Das ist e<strong>in</strong> Gedanke, <strong>der</strong> nicht bei Descartes zu54


f<strong>in</strong>den ist. Wir werden sehen, dass Sp<strong>in</strong>oza sich hier von Descartes lösen und zu se<strong>in</strong>ereigenen Radikalität f<strong>in</strong>den wird.Die fünfte Def<strong>in</strong>ition lautet: „Unter Modus verstehe ich <strong>die</strong> Affektionen <strong>der</strong> Substanz o<strong>der</strong>das, was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en ist, durch das es auch begriffen wird.“ Das ist e<strong>in</strong>e schwierigeDef<strong>in</strong>ition, e<strong>in</strong>e schwierige Ausdrucksweise. „Affektionen <strong>der</strong> Substanz“ - das bedeutet,dass <strong>der</strong> Substanz gewisse Bestimmungen eignen, <strong>die</strong> ihr gleichsam äußerlich s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong>also nicht zu ihr selbst <strong>in</strong> sich selbst gehören. Die Substanz ist „<strong>in</strong> sich“, <strong>die</strong> modi <strong>der</strong>Substanz s<strong>in</strong>d „<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en“. Nehmen wir e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en Tisch, dann ist <strong>die</strong>ser Tischnicht wie <strong>die</strong> Substanz <strong>in</strong> sich, son<strong>der</strong>n er ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en, er ist abhängig z.B. vonUrsachen, <strong>die</strong> nicht <strong>in</strong> ihm s<strong>in</strong>d (<strong>der</strong> Tischler ist nicht im Tisch). E<strong>in</strong> Modus <strong>der</strong> Substanz,so können wir hier schon e<strong>in</strong>mal sagen, ist <strong>die</strong> Existenz von Tischen bzw. ganz allgeme<strong>in</strong><strong>die</strong> D<strong>in</strong>gwelt. Die D<strong>in</strong>ge s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en. Wor<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d sie? Dazu gleich.Weiter zur sechsten Def<strong>in</strong>ition: „Unter Gott verstehe ich das absolut unendliche Seiende,d.h. <strong>die</strong> Substanz, <strong>die</strong> aus unendlichen Attributen besteht, von denen e<strong>in</strong> jedes ewiges undunendliches Wesen ausdrückt.“ Nun fällt zum ersten Mal <strong>der</strong> Begriff Gott. Ich hatte ihnbereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Def<strong>in</strong>ition mitgenannt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sp<strong>in</strong>oza von <strong>der</strong> Ursache se<strong>in</strong>er selbstspricht, was ja bedeutet, „se<strong>in</strong>er“, „dessen Wesen <strong>die</strong> Existenz e<strong>in</strong>schließt“, d.h. aber dochdas Wesen Gottes. In <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht wird <strong>die</strong> erste Def<strong>in</strong>ition mit <strong>der</strong> dritten und viertenverknüpft. Gott ist als das absolut unendliche Seiende Substanz, <strong>die</strong> aus unendlichenAttributen besteht. Jedes <strong>die</strong>ser Attribute drückt ewiges unendliches Wesen aus -exprimare, das ist e<strong>in</strong> eigentümlicher Gedanke des Sp<strong>in</strong>oza. Er bezieht sich auf denUnterschied <strong>in</strong> sich und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en. Was etwas ausdrückt, kommt von e<strong>in</strong>emInneren <strong>in</strong>s Äußere. Von <strong>der</strong> Substanz hörten wir, sie sei <strong>in</strong> sich. Insofern ihr nun Attributezukommen, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se <strong>in</strong> <strong>der</strong> Substanz, drücken also das unendliche Wesen <strong>der</strong> Substanzaus. Es gibt zu <strong>die</strong>ser Def<strong>in</strong>ition e<strong>in</strong>e Explikation, <strong>die</strong> ich aber übergehe.Hier möchte ich schon etwas h<strong>in</strong>zufügen, dass Sp<strong>in</strong>oza an <strong>die</strong>ser Stelle noch nicht sagt.Er sagt es eigentlich sogar durchaus später, im zweiten Teil als Proposition 1 und 2. Dortwird gesagt: „Das Denken ist e<strong>in</strong> Attribut Gottes, o<strong>der</strong> Gott ist e<strong>in</strong> denkendes D<strong>in</strong>g.“ sowie:„Die Ausdehnung ist e<strong>in</strong> Attribut Gottes, o<strong>der</strong> Gott ist e<strong>in</strong> ausgedehntes D<strong>in</strong>g.“ Hier kehrensie also wie<strong>der</strong>, <strong>die</strong> Cartesischen Substanzen <strong>der</strong> res cogitans und <strong>der</strong> res extensa. DieSubstanz bzw. Gott (wir wissen, dass <strong>die</strong>se identisch s<strong>in</strong>d für Sp<strong>in</strong>oza) hat unendlicheAttribute. Doch <strong>der</strong> Verstand kann nur zwei kennen, zwei erkennen: das Denken und <strong>die</strong>Ausdehnung. Das ist e<strong>in</strong>e implizite Kritik an Descartes von Sp<strong>in</strong>oza. Denken undAusdehnung können ke<strong>in</strong>e Substanzen se<strong>in</strong>, weil sie endlich s<strong>in</strong>d, durch sich selberbegrenzbar. Daher gibt es nur e<strong>in</strong>e Substanz. Das dürfen Sie aber nicht e<strong>in</strong>fach sonebenbei hören, son<strong>der</strong>n jetzt müssen sich ihre Ohren spitzen: es gibt nur e<strong>in</strong>e Substanz,und <strong>die</strong>se ist <strong>in</strong> sich.55


In sich bedeutet nun: <strong>die</strong> Substanz ist absolut unendlich. D.h. sie hat nichts mehr, was sichnoch außerhalb ihrer bef<strong>in</strong>den würde. Würde es so etwas geben, wäre sie ke<strong>in</strong>e Substanz.Das me<strong>in</strong>t dann, dass alles sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Substanz bef<strong>in</strong>det. Wir hörten ja: <strong>die</strong> Substanzo<strong>der</strong> Gott ist e<strong>in</strong> denkendes D<strong>in</strong>g, <strong>die</strong> Substanz o<strong>der</strong> Gott ist e<strong>in</strong> ausgedehntes D<strong>in</strong>g. Dasmuss so se<strong>in</strong>, <strong>in</strong>sofern Denken und Ausdehnung Attribute <strong>der</strong> Substanz s<strong>in</strong>d, und alssolche von <strong>der</strong> Substanz her kommen, drücken sie <strong>die</strong> Substanz aus. Denken undAusdehnung drücken also Gott aus, denn <strong>der</strong> ist ja <strong>die</strong> Substanz. Wie ist das möglich?was ist das für e<strong>in</strong> Gott, was für e<strong>in</strong>e Substanz?Die Substanz, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich alles bef<strong>in</strong>det, <strong>die</strong> selber <strong>in</strong> sich ist, ist <strong>die</strong> Substanz von Allemo<strong>der</strong> - ist Alles. Das liegt schon daran, dass <strong>die</strong> Substanz unendlich ist. Wenn sieunendlich ist, kann sie nicht begrenzt werden. Ist dann aber Gott nicht Alles? Nun - er istnach Sp<strong>in</strong>oza <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat <strong>die</strong> Natur selbst, <strong>in</strong>sofern wir unter Natur nicht e<strong>in</strong> begrenztesSeiendes verstehen, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> unendliches, ewiges. Deshalb kann Sp<strong>in</strong>oza sagen, Gottist e<strong>in</strong> denkendes und ausgedehntes D<strong>in</strong>g, Gott ist Denken und Ausdehnung, Denken undAusdehnung drücken Gott aus. Denken und Ausdehnung stehen aber für alles, was esgibt, bilden <strong>die</strong> Bestimmung <strong>der</strong> Natur - denn auch <strong>der</strong> Mensch ist ja Teil <strong>der</strong> Natur. Deussive natura - es gibt e<strong>in</strong>e Stelle im vierten Teil <strong>der</strong> Ethik, <strong>die</strong> lautet: „aeternum namqueillud, & <strong>in</strong>f<strong>in</strong>itum Ens, quod Deum, seu Naturam appellamus, eadem, qua existit,necessitate agit.“ Jenes ewige und endliche Seiende, das wir Gott o<strong>der</strong> Natur nennen,handelt vielmehr mit <strong>der</strong>selben Notwendigkeit, mit <strong>der</strong> es existiert.“ Woh<strong>in</strong> ist <strong>die</strong>Geometrie da geraten? Was ist da geschehen? Gott ist <strong>die</strong> Natur, <strong>die</strong> Natur ist Gott?Sp<strong>in</strong>oza, <strong>der</strong> Denker des Pantheismus, <strong>der</strong> teuflische Denker, <strong>der</strong> Gott mit <strong>der</strong> Naturidentifiziert. E<strong>in</strong> Gedanke, <strong>der</strong> ebenso angezogen hat wie er abstieß. Be<strong>in</strong>ahe alle Denkerdes sogenannten Deutschen Idealismus waren e<strong>in</strong>mal Sp<strong>in</strong>ozisten. Wie ich es schonfrüher tat, möchte ich auch hier e<strong>in</strong>e Stelle aus den Vorlesungen zur Geschichte <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong> von Hegel vorlesen: „Wenn man anfängt zu philosophieren, so muß manzuerst Sp<strong>in</strong>ozist se<strong>in</strong>. Die Seele muß sich baden <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Äther <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Substanz, <strong>in</strong><strong>der</strong> alles, was man für wahr gehalten hat, untergegangen ist. Es ist <strong>die</strong>se Negation allesBeson<strong>der</strong>en, zu <strong>der</strong> je<strong>der</strong> Philosoph gekommen se<strong>in</strong> muß: es ist <strong>die</strong> Befreiung des Geistesund se<strong>in</strong>e absolute Grundlage.“Sp<strong>in</strong>oza ist e<strong>in</strong> fasz<strong>in</strong>ieren<strong>der</strong> Philosoph.56


Sechste VorlesungHegel schreibt über Sp<strong>in</strong>oza: „Wenn man anfängt zu philosophieren, so muß man zuerstSp<strong>in</strong>ozist se<strong>in</strong>. Die Seele muß sich baden <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Äther <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Substanz, <strong>in</strong> <strong>der</strong>alles, was man für wahr gehalten hat, untergegangen ist. Es ist <strong>die</strong>se Negation allesBeson<strong>der</strong>en, zu <strong>der</strong> je<strong>der</strong> Philosoph gekommen se<strong>in</strong> muß: es ist <strong>die</strong> Befreiung des Geistesund se<strong>in</strong>e absolute Grundlage.“ Diese schönen Worte über Sp<strong>in</strong>oza kann man immerwie<strong>der</strong> lesen und hören. Doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> geht es um mehr als nur um schöneWorte. Man muss Hegels Worte auch verstehen. Was heißt es, dass es hier um „e<strong>in</strong>eSubstanz“ geht? Und was heißt es, dass dar<strong>in</strong> „alles, was man für wahr gehalten hat,untergegangen“ se<strong>in</strong> soll? Was me<strong>in</strong>t „Negation alles Beson<strong>der</strong>en“? Und was bedeutet„Befreiung des Geistes“ und „absolute Grundlage“? Vielleicht werde ich nicht all <strong>die</strong>seFragen beantworten, aber wir sollten und müssen noch genauer <strong>in</strong> Sp<strong>in</strong>ozas Denkene<strong>in</strong>tauchen, um se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zigartigkeit zu verstehen.Damit habe ich letzte Woche schon begonnen. Ich habe mich auf <strong>die</strong> acht Def<strong>in</strong>itionen desersten Teils mit <strong>der</strong> Überschrift De Deo <strong>der</strong> „Ethica ord<strong>in</strong>e geometrico demonstrata“bezogen und dabei schon gezeigt, <strong>in</strong>wiefern Sp<strong>in</strong>oza e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>en traditionellenGottesbegriff übernimmt, um ihn an<strong>der</strong>erseits für se<strong>in</strong>e Zeitgenossen nachgerade auferschreckenden Art und Weise zu verän<strong>der</strong>n. Dabei geht es zunächst um so sche<strong>in</strong>barharmlose Def<strong>in</strong>itionen wie <strong>die</strong> <strong>der</strong> Substanz, <strong>der</strong> Attribute und <strong>der</strong> Modi, <strong>die</strong> Attribute undModi <strong>der</strong> Substanz s<strong>in</strong>d. Dabei wird Gott <strong>in</strong> <strong>der</strong> sechsten Def<strong>in</strong>ition mit <strong>der</strong> Substanzidentifiziert. Das ist ke<strong>in</strong>e große Überraschung, hatte doch bereits Descartes Gott als <strong>die</strong>e<strong>in</strong>zige unendliche Substanz bestimmt. Was nun aber Sp<strong>in</strong>oza an<strong>der</strong>s macht alsDescartes, das ist, dass er <strong>die</strong> bei Descartes noch vorausgesetzten beiden an<strong>der</strong>enSubstanzen, <strong>die</strong> res cogitans und <strong>die</strong> res extensa, das Denken und <strong>die</strong> Ausdehnung, zuAttributen <strong>der</strong> göttlichen Substanz macht. (Es gibt unendliche Attribute, doch nur <strong>die</strong>sebeiden können wir erkennen.) Das macht Sp<strong>in</strong>oza nicht e<strong>in</strong>fach so, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>zig ausdem Grunde, dass es dem Begriff <strong>der</strong> Substanz eignet, dass es nur e<strong>in</strong>e geben kann.Diesen Beweis führt Sp<strong>in</strong>oza <strong>in</strong> den ersten Propositionen des ersten Teils <strong>der</strong> Ethik durch.Ich möchte ihn hier aussparen, weil wir noch Wichtigeres zu bedenken haben. Aber <strong>in</strong> <strong>der</strong>propositio 14 heißt es: „Außer Gott kann es we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Substanz geben, noch kann e<strong>in</strong>ebegriffen werden.“ Wir können ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Substanz als Gott denken, so wie es ke<strong>in</strong>ean<strong>der</strong>e als ihn geben kann. Daher spricht Hegel von <strong>der</strong> „e<strong>in</strong>en Substanz“. Zu ihr gehörtdas Denken und <strong>die</strong> Ausdehnung als Attribute. Denken und Ausdehnung s<strong>in</strong>d <strong>der</strong>Substanz also beigeordnet, sie kommen an ihr vor. Das bedeutet dann aber, dass zu GottDenken und Ausdehnung gehören. Denken und Ausdehnung drücken Gott aus. Denkenund vor allem Ausdehnung s<strong>in</strong>d aber das, was wir Natur nennen, wobei zu <strong>die</strong>ser Natureben Alles gehört, was es überhaupt und schlechth<strong>in</strong> gibt - alle Ereignisse, <strong>die</strong> wir uns z.B.57


als Geschichte erzählen - das gehört auch zur Natur. Daraus entspr<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>eIdentifizierung, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>e Revolution bedeutet hat: Deus sive natura - esgibt e<strong>in</strong>e Stelle im vierten Teil <strong>der</strong> Ethik, <strong>die</strong> lautet: „aeternum namque illud, & <strong>in</strong>f<strong>in</strong>itumEns, quod Deum, seu Naturam appellamus, eadem, qua existit, necessitate agit.“ „Jenesewige und endliche Seiende, das wir Gott o<strong>der</strong> Natur nennen, handelt vielmehr mit<strong>der</strong>selben Notwendigkeit, mit <strong>der</strong> es existiert.“ Gott ist als <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Substanz <strong>die</strong> Natur. Dasnennt man Pantheismus, notwendig aufgebaut auf e<strong>in</strong>em monistischen Denken.Ich werde nun noch <strong>die</strong> beiden letzten Def<strong>in</strong>itionen mit Ihnen durchsprechen, um dann zugewissen Konsequenzen <strong>die</strong>ses Denkens zu kommen, zu überraschendenKonsequenzen, <strong>die</strong> nachgerade e<strong>in</strong>en Skandal ausgelöst haben. Die siebente Def<strong>in</strong>itionlautet: „Frei heißt e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, das nur aus <strong>der</strong> Notwendigkeit se<strong>in</strong>er eigenen Natur herausexistiert und nur durch sich selbst zum Handeln bestimmt (determ<strong>in</strong>atur) wird; notwendigo<strong>der</strong> vielmehr gezwungen heißt e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, das von e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en D<strong>in</strong>g bestimmt wird, aufgewisse und bestimmte Weise zu existieren und zu wirken.“ Hobbes hatte <strong>die</strong> Freiheit als<strong>die</strong> Möglichkeit aufgefasst, sich ungeh<strong>in</strong><strong>der</strong>t bewegen zu können. Freiheit istBewegungsfreiheit. Das kl<strong>in</strong>gt etwas reduziert, hat aber doch se<strong>in</strong>e eigene Stärke. Ichkann mich bewegen, wo und wie ich will. Nehmen wir das e<strong>in</strong>mal als e<strong>in</strong> Beispiel -vielleicht unabhängig davon, dass es von Hobbes stammt. Die Sp<strong>in</strong>ozanische Def<strong>in</strong>itionenthält <strong>die</strong>sen Gedanken von Hobbes, wenn sie sagt, dass <strong>der</strong> frei ist, <strong>der</strong> „nur durch sichselbst zum Handeln bestimmt“ wird. Ich möchte mich nun <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung bewegen undkann es. Ich kann den rechten Arm heben und kann es - ich b<strong>in</strong> frei. Doch - ist unsereBewegung im Raum wirklich nur „durch sich selbst bestimmt“? Bewegen wir uns im Raum,weil wir uns bewegen wollen? O<strong>der</strong> wollen wir uns bewegen, weil wir jenes o<strong>der</strong> <strong>die</strong>ses mit<strong>die</strong>ser Bewegung erreichen wollen? Vorläufig müssen wir wohl sagen: wir bewegen unsniemals e<strong>in</strong>fach nur, weil wir uns bewegen wollen, son<strong>der</strong>n weil wir mit unserer Bewegungetwas bezwecken wollen. Es gibt e<strong>in</strong>e Ursache für <strong>die</strong> Bewegung, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Tradition seitAristoteles causa f<strong>in</strong>alis nennt. Es gibt e<strong>in</strong> Telos <strong>der</strong> Bewegung, e<strong>in</strong> Ziel o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Zweck.Die Voraussetzung e<strong>in</strong>er solchen Ursache br<strong>in</strong>gt es aber mit sich, dass <strong>der</strong> erste Teil <strong>der</strong>Def<strong>in</strong>ition dann aber bereits komplexer wird als sie vorher erschien. Wenn das frei ist, wasnur durch sich selbst zum Handeln determ<strong>in</strong>iert wird, dann wäre e<strong>in</strong> Handeln, das e<strong>in</strong>emZiel gilt, schon nicht mehr frei. Denn es hätte e<strong>in</strong>e Ursache, <strong>die</strong> nicht <strong>in</strong> sich selbst liegt.Beispiel: ich stu<strong>die</strong>re, um reich zu werden. Der versprochene Reichtum liegt mitnichten <strong>in</strong><strong>der</strong> Handlung des Stu<strong>die</strong>rens. Doch zur Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> Freiheit gehört noch <strong>die</strong> erste Hälftedes Satzes, <strong>die</strong> ich bisher nicht bedacht habe: „Frei heißt e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, das nur aus <strong>der</strong>Notwendigkeit se<strong>in</strong>er eigenen Natur heraus existiert.“ Was ist das für e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g? WelchesD<strong>in</strong>g existiert nur aus <strong>der</strong> Notwendigkeit se<strong>in</strong>er eigenen Natur? Existiere ich z.B.notwendig, weil ich <strong>der</strong> b<strong>in</strong>, <strong>der</strong> ich b<strong>in</strong>? Kann man sich ke<strong>in</strong>e Welt ohne PT vorstellen? Ist<strong>die</strong> Welt ohne PT unmöglich? Offenbar nicht. Es kann e<strong>in</strong>e Welt durchaus auch ohne mich58


geben - es wird e<strong>in</strong>e geben so, wie es e<strong>in</strong>e ohne mich gegeben hat. Nehmen wir <strong>die</strong>senTisch hier - existiert er notwendig, können wir uns <strong>die</strong> Welt nicht ohne ihn vorstellen? Icherspare uns <strong>die</strong> Antwort. Das e<strong>in</strong>zige D<strong>in</strong>g, das notwendig aus sich selbst heraus existiert,hatte Sp<strong>in</strong>oza bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Def<strong>in</strong>ition genannt: „Unter Ursache se<strong>in</strong>er selbstverstehe ich das, dessen Wesen <strong>die</strong> Existenz e<strong>in</strong>schließt, o<strong>der</strong> das, dessen Natur nur alsexistierend begriffen werden kann.“ Gott o<strong>der</strong> <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Substanz o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Natur könnennur als existierend begriffen werden, weil ihre Essenz notwendig <strong>die</strong> Existenz enthält. Dasbedeutet dann <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong> Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> Freiheit, dass nur Gott bzw. <strong>die</strong> e<strong>in</strong>eSubstanz bzw. <strong>die</strong> Natur aus sich selbst existieren und durch sich selbst determ<strong>in</strong>ierthandeln. Nur <strong>die</strong> causa sui ist frei.Die zweite Hälfte <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition me<strong>in</strong>t schließlich: „notwendig o<strong>der</strong> vielmehr gezwungenheißt e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, das von e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en D<strong>in</strong>g bestimmt wird, auf gewisse und bestimmteWeise zu existieren und zu wirken.“ Bezogen auf unser Bewegungs-Beispiel müssen wirdemnach sagen, dass <strong>die</strong> Bewegung - <strong>in</strong>sofern sie z.B. e<strong>in</strong>en Zweck verfolgt - nicht freigenannt werden kann. Denn <strong>der</strong> Zweck ist sche<strong>in</strong>bar das an<strong>der</strong>e D<strong>in</strong>g, das unsereHandlung determ<strong>in</strong>iert. Was bedeutet das aber für uns, <strong>die</strong> wir nicht - wie <strong>die</strong> causa sui -notwendig existieren? Stellen wir <strong>die</strong>se Frage für e<strong>in</strong>en Moment zurück und nehmen wirnoch <strong>die</strong> achte und letzte Def<strong>in</strong>ition zur Kenntnis.Sie lautet: „Unter Ewigkeit verstehe ich <strong>die</strong> Existenz selbst, <strong>in</strong>sofern sie aus <strong>der</strong> bloßenDef<strong>in</strong>ition des ewigen D<strong>in</strong>ges als notwendig folgend begriffen wird.“ E<strong>in</strong>e seltsameDef<strong>in</strong>ition, könnte man sagen. Doch auch dar<strong>in</strong> bef<strong>in</strong>det sich metaphysisches Dynamit. Diecausa sui enthält notwendig <strong>in</strong> ihrem Wesen <strong>die</strong> Existenz. Diese Notwendigkeit wirdbegriffen, sie ist gleichsam vernünftig. Die Existenz, <strong>die</strong> aus <strong>die</strong>ser Notwendigkeit folgt, istnun nichts an<strong>der</strong>es als <strong>die</strong> Ewigkeit. Das me<strong>in</strong>t: Gott als causa sui existiert ewig. Nun gut:e<strong>in</strong>e recht gewöhnliche Auffassung: aber: Gott ist als <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Substanz ja, wie wir hörten,nichts an<strong>der</strong>es als <strong>die</strong> Natur selbst. Das bedeutet dann aber, dass <strong>die</strong> Natur ewig existiert.Das wie<strong>der</strong>um ist jedoch ungewöhnlich, denn für e<strong>in</strong> christliches Gottesverständnis gilt,dass Gott <strong>die</strong> Natur geschaffen hat. Das Geschaffene (ens creatum) ist aber nicht ewig.E<strong>in</strong>e nicht ewige Natur ist für Sp<strong>in</strong>oza aber undenkbar. Das hat <strong>die</strong> größtenKonsequenzen.Das waren <strong>die</strong> ersten acht Def<strong>in</strong>itionen <strong>der</strong> „Ethik“. Gehen wir zurück zur Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong>Freiheit. Frei ist e<strong>in</strong>zig <strong>die</strong> göttliche Substanz, alles an<strong>der</strong>e ist notwendig und gezwungen.Damit bestreitet Sp<strong>in</strong>oza ganz offen <strong>die</strong> Freiheit des Menschen. Das zeigt auch <strong>der</strong> 48.Lehrsatz des zweiten Teils <strong>der</strong> Ethik. Er lautet: „Es gibt im Geist (<strong>in</strong> mente) ke<strong>in</strong>enabsoluten o<strong>der</strong> freien Willen; son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Geist wird <strong>die</strong>ses o<strong>der</strong> jenes zu wollen von e<strong>in</strong>erUrsache bestimmt, <strong>die</strong> auch wie<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en bestimmt worden ist, und <strong>die</strong>sewie<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en, und so fort <strong>in</strong>s Unendliche.“ Der freie Wille, sollte es e<strong>in</strong>en59


geben, müsste <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Handeln nur durch sich selbst bestimmt werden - das nennen wire<strong>in</strong>en „absoluten“ Willen, denn absolut ist das, was abgelöst von allem an<strong>der</strong>en alles <strong>in</strong>sich selbst enthält. Nur das Absolute - können wir sagen - ist frei, denn es gibt nichts mehr,von dem es abhängig se<strong>in</strong> könnte. Alles an<strong>der</strong>e ist relativ, d.h. es steht <strong>in</strong> Beziehungen mitAn<strong>der</strong>em. Absolut ist aber nach Sp<strong>in</strong>oza, wie gesagt, nur Gott/Substanz/Natur. Es gibtalso ke<strong>in</strong>en freien Willen, weil <strong>die</strong>ser von Ursachen bzw. von Ketten von Ursachenbestimmt ist, <strong>die</strong> aber nicht irgendwo enden, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong>s Unendliche gehen. Warum? Weilwir <strong>in</strong> <strong>der</strong> achten Def<strong>in</strong>ition des ersten Teils ja hörten, dass <strong>die</strong> Existenz <strong>der</strong> Substanz ewigist.Mit an<strong>der</strong>en Worten: wie ich jetzt handele, war seit Ewigkeit determ<strong>in</strong>iert, denn me<strong>in</strong>eHandlung ist Teil e<strong>in</strong>er Ursachenkette, <strong>die</strong> <strong>in</strong>s Unendliche zurück- und vorangeht. Wennalles e<strong>in</strong>e Ursache hat, alles im Verhältnis von Ursache und Wirkung steht, dann ist me<strong>in</strong>eHandlung seit Ewigkeiten determ<strong>in</strong>iert. Das sche<strong>in</strong>t nun aber doch e<strong>in</strong>e bloße Behauptungzu se<strong>in</strong>. Denn es gibt doch <strong>in</strong> unserer Praxis klare H<strong>in</strong>weise darauf, dass Sp<strong>in</strong>oza falschliegt. Diesem Sche<strong>in</strong> widmet sich Sp<strong>in</strong>oza im Anhang des ersten Teils <strong>der</strong> Ethik. Er sprichtda von praejudicia, von Vorurteilen. Die Menschen würden Vorurteile haben ihre Freiheitbetreffend. E<strong>in</strong>es <strong>die</strong>ser Vorurteile geht so vor. Es gibt doch Urteile wie gut und schlecht,Ver<strong>die</strong>nst und Sünde, Lob und Tadel, Ordnung und Verwirrung und Schönheit undHässlichkeit. Unsere Praxis richtet sich doch ganz deutlich nach <strong>die</strong>sen Urteilen. So wollenwir gelobt und nicht getadelt werden, weshalb wir gut handeln und nicht schlecht. Wiebevorzugen das Schöne vor dem Hässlichen und <strong>die</strong> Ordnung vor <strong>der</strong> Verwirrung. Dass<strong>in</strong>d doch offenbar Zwecke, <strong>die</strong> wir verfolgen und <strong>die</strong> nur deshalb s<strong>in</strong>nvoll verfolgt werdenkönnen, weil wir auch das Gegenteil verfolgen könnten. Denn ich kann nur loben, wennich auch tadeln könnte. Das setzt also e<strong>in</strong>e gewisse Entscheidungsfreiheit, e<strong>in</strong>en freienWillen, voraus.Sp<strong>in</strong>oza denkt das aber an<strong>der</strong>s. Er schreibt <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Anhang Folgendes: „Es wirdgenügen, das, was je<strong>der</strong>mann anerkennen muss (was also vernünftig ist), zur Grundlagezu nehmen: nämlich daß alle Menschen, ohne Kenntnis <strong>der</strong> Ursachen <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge, zur Weltkommen und daß alle den Trieb haben, ihren Nutzen zu suchen, und sich dessen wohlbewußt s<strong>in</strong>d (conscii). Denn daraus folgt erstens, daß <strong>die</strong> Menschen sich für frei halten, dasie sich ihres Wollens und ihres Triebes bewußt s<strong>in</strong>d, während sie nicht im Traum an <strong>die</strong>Ursachen denken, von denen sie zum Begehren und Wollen veranlaßt werden, eben weilsie <strong>die</strong>se nicht kennen.“ Es folgt noch etwas zweites, doch dazu später.Das Argument, das Sp<strong>in</strong>oza hier formuliert, ist e<strong>in</strong>es, das bis zu Kant wichtig und bleibtund von Kant auch anerkannt wird. Alle Menschen - als Gegenstände <strong>der</strong> Naturbetrachtet, und was sollten Menschen als denkend-ausgedehnte Wesen sonst se<strong>in</strong>? -kommen zur Welt, ohne dass sie <strong>die</strong> Ursachen <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge kennen. Was ist damit geme<strong>in</strong>t?60


Damit ist geme<strong>in</strong>t, dass wir uns notwendig <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unendlichen Menge von Ursachen <strong>in</strong>e<strong>in</strong>er unendlichen Ursachenkette bef<strong>in</strong>den, <strong>die</strong> wir unmöglich kennen können. Ich b<strong>in</strong> dasGlied e<strong>in</strong>er solchen unendlichen Kette von Ursachen und Wirkungen, <strong>die</strong> mir unerkennbarbleibt, weil ich nur über e<strong>in</strong>en endlichen Verstand verfüge. Dabei aber eignet mir e<strong>in</strong>gewisser conatus. In <strong>der</strong> Propositio 6 des dritten Teils <strong>der</strong> Ethik heißt es schlicht: „JedesD<strong>in</strong>g strebt, soviel an ihm liegt, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong> zu verharren.“ „<strong>in</strong> suo esse perseverareconatur“. Das heißt, dass wir Menschen, wie er im Anhang zum ersten Teil sagt, unserenNutzen suchen. Wir streben danach, <strong>in</strong> unserem Se<strong>in</strong> zu verharren, wir möchten unsselbst erhalten (was Hobbes ja so betont), und wir wissen, dass wir das tun. Wir strebenalso nicht nur nach unserem Nutzen, son<strong>der</strong>n wir s<strong>in</strong>d uns dessen bewusst.Daraus entsteht das Problem, dass wir uns über uns selbst täuschen. Denn eben weil wire<strong>in</strong> Wissen davon haben, dass wir unserem Nutzen h<strong>in</strong>terherlaufen, me<strong>in</strong>en wir, das tätenwir aus freien Stücken, das wäre e<strong>in</strong> Beweis unserer Freiheit. Dabei wissen wir bloß nichtund können es auch nicht wissen, dass jede Handlung <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Streben Teil e<strong>in</strong>erunendlichen Determ<strong>in</strong>ation ist. Wir s<strong>in</strong>d demnach ke<strong>in</strong>eswegs frei o<strong>der</strong> - so könnte mansagen - wir me<strong>in</strong>en frei zu se<strong>in</strong>, s<strong>in</strong>d es aber nicht, d.h. unsere „Freiheit“ bestünde <strong>in</strong>e<strong>in</strong>em Nichtwissen unserer Determ<strong>in</strong>ation. Sp<strong>in</strong>oza hat dafür e<strong>in</strong> schönes Beispiel. Ine<strong>in</strong>em Brief schreibt er:„E<strong>in</strong> Ste<strong>in</strong> empfängt durch e<strong>in</strong>e äußere Ursache, <strong>die</strong> ihn stößt, e<strong>in</strong> gewisses Quantum vonBewegung, durch welches er dann, auch wenn <strong>der</strong> Anstoß <strong>der</strong> äußeren Ursache aufhört,notwendig fortfährt sich zu bewegen. [...] Denken Sie nun, bitte, <strong>der</strong> Ste<strong>in</strong> denke, <strong>in</strong>dem erfortfährt, sich zu bewegen, und er wisse, daß er nach Möglichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bewegung zuverharren strebt. Dieser Ste<strong>in</strong> wird sicherlich, da er sich doch nur se<strong>in</strong>es Strebens bewußtund durchaus nicht <strong>in</strong>different ist, <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung se<strong>in</strong>, er sei vollkommen frei [vollkommenvrij] und verharre nur darum <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bewegung, weil er es so wolle. Und das ist jenemenschliche Freiheit, auf <strong>der</strong>en Besitz alle so stolz s<strong>in</strong>d und <strong>die</strong> doch nur dar<strong>in</strong> besteht,daß <strong>die</strong> Menschen sich ihres Begehrens bewußt s<strong>in</strong>d, aber <strong>die</strong> Ursachen, von denen siebestimmt werden, nicht kennen“ (Brief an Schuller).Der Ste<strong>in</strong> ist von se<strong>in</strong>em conatus (Jedes D<strong>in</strong>g strebt, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Se<strong>in</strong> zu verharren.) dazuangehalten, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Bewegung, <strong>die</strong> er von außen erhalten hat, zu verharren. Er weiß,dass er sich weiter bewegen will und er me<strong>in</strong>t, er werde sich nur darum weiter bewegen,weil er es will. Doch <strong>in</strong> Wahrheit hat er irgende<strong>in</strong>en Anstoß zu se<strong>in</strong>er Bewegung erhalten,ja er bewegt sich e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>em Abhang h<strong>in</strong>unter <strong>der</strong> Gravitation gemäß, von dem er abernichts mehr weiß. Nach Sp<strong>in</strong>oza ist <strong>der</strong> Mensch e<strong>in</strong> absolut determ<strong>in</strong>iertes Wesen. Ja wirmüssen darüber h<strong>in</strong>aus sagen: er ist e<strong>in</strong> absolut determ<strong>in</strong>iertes Wesen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er absolutdeterm<strong>in</strong>ierten Natur. Das sagt das Beispiel: <strong>der</strong> Mensch bewegt sich nicht an<strong>der</strong>s als61


alles, was sich bewegt, auch als <strong>der</strong> Ste<strong>in</strong>. Wie ich sagte: <strong>der</strong> Mensch ist Teil <strong>der</strong> Natur -und warum sollte er an<strong>der</strong>s verursacht se<strong>in</strong> als e<strong>in</strong> Fisch im Wasser.Aber - bei <strong>die</strong>sem Gedanken bleibt Sp<strong>in</strong>oza nicht stehen: noch haben wir den ganzenSkandal nicht verstanden. Wir haben jetzt verstanden: unsere sich an Zweckursachenorientierenden Urteile s<strong>in</strong>d Vorurteile. Wir kennen <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Ursachen nicht, <strong>die</strong> unshandeln lassen, <strong>in</strong>dem wir uns bewusst s<strong>in</strong>d, dass wir überhaupt etwas wollen. (DiesesEtwas macht uns Lust, sagt Sp<strong>in</strong>oza, aber wir wollen das auf sich beruhen lassen.) Wir tun<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht genau das, was alle D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur tun: wir wollen <strong>in</strong> unserem Se<strong>in</strong>verharren. Wie steht es aber um <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur? Handeln <strong>die</strong>se D<strong>in</strong>ge, weil esZwecke für sie gibt, nach denen sie streben? Wächst <strong>der</strong> Baum, weil er blühen will?Regnet es, damit <strong>die</strong> Pflanzen wachsen? Sche<strong>in</strong>t <strong>die</strong> Sonne, damit wir gute Launebekommen? Gibt es Korkeichen, damit wir den Kork für unsere We<strong>in</strong>flaschen nutzenkönnen?Ich er<strong>in</strong>nere an jene Stelle aus dem vierten Teil <strong>der</strong> Ethik, <strong>die</strong> lautet: „aeternum namqueillud, & <strong>in</strong>f<strong>in</strong>itum Ens, quod Deum, seu Naturam appellamus, eadem, qua existit,necessitate agit.“ „Jenes ewige und endliche Seiende, das wir Gott o<strong>der</strong> Natur nennen,handelt vielmehr mit <strong>der</strong>selben Notwendigkeit, mit <strong>der</strong> es existiert.“ Die Natur handelt mitNotwendigkeit, und zwar mit <strong>der</strong>selben, mit <strong>der</strong> sie existiert. (Sp<strong>in</strong>oza will nicht <strong>die</strong>Existenz <strong>der</strong> Natur als kont<strong>in</strong>gent betrachten, weil das dem Begriff <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Substanz,dem Begriffe Gottes nicht eignet - Gott kann nur notwendig (nicht zufällig) existieren - undweil eben etwas existiert als Moment <strong>der</strong> göttlichen Substanz, muss <strong>die</strong>se notwendigexistieren). Doch was me<strong>in</strong>t <strong>die</strong>se Notwendigkeit?Wie geschieht das, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur geschieht? Es geschieht nach mathematischenGesetzen. Sp<strong>in</strong>oza sagt im Anhang zum ersten Teil, dass „<strong>die</strong> Wahrheit demMenschengeschlecht <strong>in</strong> Ewigkeit verborgen geblieben wäre, wenn nicht <strong>die</strong>Mathematik“ „den Menschen e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>en Norm (Regel) <strong>der</strong> Wahrheit gezeigt hätte“. Also<strong>die</strong> Mathematik. Wie schon bei Descartes und bei Hobbes spricht Sp<strong>in</strong>oza <strong>der</strong> Mathematike<strong>in</strong>e alles überragende Rolle zu - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Text, <strong>in</strong> welchem <strong>der</strong> mos geometricus wiesonst nirgendwo zur Anwendung kommt. Nun sagt aber Sp<strong>in</strong>oza noch etwas über <strong>die</strong>Mathematik, das an <strong>die</strong>ser Stelle sehr wichtig ist: sie beschäftige sich „nicht mit Zwecken,son<strong>der</strong>n nur mit dem Wesen und den Eigenschaften <strong>der</strong> Figuren“. Das sche<strong>in</strong>t so geme<strong>in</strong>tzu se<strong>in</strong>: <strong>die</strong> W<strong>in</strong>kelsumme im Dreieck beträgt <strong>die</strong> Summe se<strong>in</strong>er Innenw<strong>in</strong>kel, d.h. <strong>die</strong>Summe zweier rechter W<strong>in</strong>kel und d.h. 180 Grad. Hat das Dreieck aber e<strong>in</strong>en Zweck?Können Sie damit e<strong>in</strong>en Nagel <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wand schlagen?Allerd<strong>in</strong>gs kommt es nicht nur darauf an, dass wir erkennen, dass <strong>die</strong> geometrischenKörper ke<strong>in</strong>en Zweck haben, son<strong>der</strong>n dass <strong>die</strong> Natur, soweit sie <strong>der</strong> mathematischen62


Erkenntnis zugänglich ist, ke<strong>in</strong>e Zweckursachen hat. In ihr geschieht alles nachmathematischen Gesetzen notwendig. Wir bauen e<strong>in</strong>en Kran, weil wir <strong>die</strong> Hebelgesetzekennen, <strong>die</strong> mit Notwendigkeit verwirklichen, was sie verwirklichen. Wir können den Kranbzw. se<strong>in</strong>e Produktion mit Berechnung realisieren. Und weil das so ist, ist z.B. <strong>die</strong>Produktion von Kränen, mith<strong>in</strong> <strong>die</strong> Technik überhaupt, so erfolgreich. Denken Sie bloße<strong>in</strong>mal, was von uns alles berechnet wird und wie hervorragend das alles funktioniert. Dasgeht nur so, weil je<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelne Schritt von Ursache zu Wirkung den mathematischenGesetzen mit Notwendigkeit unterliegt. Das steckt doch be<strong>in</strong>ahe <strong>in</strong> jedem Seienden -denken Sie an den digitalen Computer, an das Internet - das ist alles Mathematik. DenkenSie an <strong>die</strong> Banken, an <strong>die</strong> Ökonomie, den Kapitalismus, auch das ist alles Mathematik.Und nach Sp<strong>in</strong>oza funktioniert das Alles von Ewigkeit mit Notwendigkeit, weil das zumWesen <strong>der</strong> Natur gehört.Das bedeutet: <strong>die</strong> Natur hat sich ke<strong>in</strong>en Zweck vorgesetzt. Die Zweckursachen, sagt er,s<strong>in</strong>d „nichts als menschliche E<strong>in</strong>bildungen“. Das ist <strong>die</strong> Absage an e<strong>in</strong>en Aristotelismus,<strong>der</strong> sich bis <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong> erhalten hat. Die Sonne sche<strong>in</strong>t nicht, weil wir das so schönf<strong>in</strong>den und Gott uns lieb hat. Es regnet nicht, weil <strong>die</strong> Pflanzen wachsen sollen, son<strong>der</strong>nes regnet, weil irgendwelche Wetterbewegungen zur Wolkenproduktion geführt hat, <strong>der</strong>W<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se <strong>in</strong> <strong>die</strong>se Richtung getragen und das Gewicht <strong>der</strong> Wassertropfen genau zu<strong>die</strong>sem Zeitpunkt so groß geworden ist, dass sie eben genau dann zur Erde fielen - wasnach Sp<strong>in</strong>oza bis <strong>in</strong>s Unendliche zurück verfolgt werden könnte. Diese Absage an e<strong>in</strong>enatürliche Teleologie gehört zum Charakter <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Naturwissenschaft. Es gibt <strong>in</strong><strong>der</strong> Natur ke<strong>in</strong>e Zwecke. Und wir Menschen s<strong>in</strong>d nach Sp<strong>in</strong>oza nichts an<strong>der</strong>es als Wesen<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en und göttlichen Natur, also gibt es auch für den Menschen nur e<strong>in</strong>bildungsmäßigeZwecke, so wie es e<strong>in</strong>e illusionäre Freiheit gibt.Denken wir das noch <strong>in</strong> zwei Schritten weiter. Ich werde noch zwei Propositionen aus demersten Teil <strong>der</strong> Ethik zitieren und mit ihnen durchdenken, damit wir das ganze Panorama<strong>die</strong>ser skandalösen <strong>Philosophie</strong> vor uns haben. Also: es gibt ke<strong>in</strong>en freien Willen, allesgeschieht mit mathematischer Notwendigkeit, es gibt ke<strong>in</strong>e Zweckursachen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur.Das impliziert folgenden Gedanken: „In <strong>der</strong> Natur <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge gibt es nichts Zufälliges(cont<strong>in</strong>gens), son<strong>der</strong>n alles ist aus <strong>der</strong> Notwendigkeit <strong>der</strong> göttlichen Natur bestimmt, aufgewisse Weise zu existieren und zu wirken.“ Das ist <strong>die</strong> Propositio 29. Ich br<strong>in</strong>ge <strong>die</strong>senLehrsatz hier noch, weil Ihnen vielleicht hätte e<strong>in</strong>fallen können, nach dem Zufall zu fragen.Es gibt nach Sp<strong>in</strong>oza ke<strong>in</strong>en Zufall, kann ihn nicht geben. Die Frage nach dem Zufall istnatürlich <strong>in</strong>teressant. Wir reden davon, dass etwas Zufall war o<strong>der</strong> ist. Doch wenn alleD<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> Natur verursacht s<strong>in</strong>d, wenn sie nach dem Gesetz von Ursache und Wirkunggeschehen, kann es ke<strong>in</strong>en Zufall geben. Sp<strong>in</strong>oza hat e<strong>in</strong> Beispiel, das er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em etwasan<strong>der</strong>en Kontext verwendet, aber das ist gleichgültig: jemand wird von e<strong>in</strong>er Dachpfanneerschlagen. Wir sagen, das war Zufall (Pech). Doch Sp<strong>in</strong>oza weist darauf h<strong>in</strong>, dass wir63


jeden Ursache-Wirkungs-Schritt rekonstruieren könnten. Irgendwann hat sich über jenemMeer irgende<strong>in</strong> W<strong>in</strong>d erhoben, <strong>der</strong> dann irgendwann <strong>die</strong>se locker auf dem Dach liegendeDachpfanne dazu brachte zu fallen. Dieser Mensch da war gerade unterwegs, um <strong>die</strong>so<strong>der</strong> das zu erledigen, bzw. er hatte gerade Lust <strong>die</strong>sen Fuss vor se<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en zusetzen und dann viel <strong>die</strong> Dachpfanne. Das ist <strong>in</strong>sgesamt für Sp<strong>in</strong>oza nichts an<strong>der</strong>es alse<strong>in</strong> mechanisches Gesetz <strong>in</strong> Anwendung. Dass wir das Zufall nennen, das kommt daher,dass wir uns eben Zweckursachen e<strong>in</strong>bilden und wir dar<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>en Zweck erkennenkönnen. Zufall wäre so gesehen <strong>die</strong> Unmöglichkeit, alle Kausalkettenzusammenzurechnen, <strong>die</strong> zu jenem Dachpfannenfall auf den Kopf führte. „Zufall aber wirde<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g aus ke<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Grund genannt als wegen unserer mangelhaftenErkenntnis“, sagt Sp<strong>in</strong>oza. In Wirklichkeit aber war alles genau bestimmt, genaudeterm<strong>in</strong>iert.Alles ist determ<strong>in</strong>iert, es gibt ke<strong>in</strong>en Zufall. Nun fehlt vielleicht noch <strong>der</strong> letzte radikaleSchritt, <strong>der</strong> dazu führte, dass Sp<strong>in</strong>oza von den meisten Intellektuellen se<strong>in</strong>er Zeit als e<strong>in</strong>Monster betrachtet wurde. In <strong>der</strong> Propositio 33 heißt es: „Die D<strong>in</strong>ge konnten auf ke<strong>in</strong>ean<strong>der</strong>e Weise und <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Ordnung von Gott hervorgebracht werden, als siehervorgebracht worden s<strong>in</strong>d.“ Hervorgebracht heißt hier im late<strong>in</strong>ischen: producere.Sp<strong>in</strong>oza will nicht nur darauf h<strong>in</strong>weisen, dass es ke<strong>in</strong>en Zufall gibt, son<strong>der</strong>n dass Gott, <strong>der</strong>mit <strong>der</strong> Natur identisch ist, alles mit „höchster Vollkommenheit“ (summa perfectione)produziert hat. Von Descartes hatten wir ja noch gehört, dass er sich e<strong>in</strong>en Gott vorstellenkann, <strong>der</strong> uns täuscht, <strong>der</strong> womöglich sogar <strong>die</strong> mathematischen Gesetze vortäuscht, weiler sie je<strong>der</strong>zeit neu def<strong>in</strong>ieren könnte. Das ist e<strong>in</strong>er franziskanischen Gottesvorstellunggeschuldet, <strong>die</strong> auf Duns Scotus und Wilhelm von Ockham zurückgeht. Gott ist <strong>der</strong>absolute Schöpfer, <strong>der</strong> auch <strong>die</strong> mathematischen Gesetze geschaffen hat. Weil siegeschaffen s<strong>in</strong>d, kann er sie stets und plötzlich neu schaffen, so groß ist se<strong>in</strong>e Macht. BeiDescartes geht das so weit, dass er e<strong>in</strong>e creatio cont<strong>in</strong>ua denkt, d.h. er me<strong>in</strong>t, dass je<strong>der</strong>Zeitpunkt e<strong>in</strong>en schaffenden Gott voraussetzt. Das me<strong>in</strong>t: Gott schafft jeden Augenblick<strong>die</strong> mathematischen Gesetze, wie sie s<strong>in</strong>d. Das me<strong>in</strong>t wie<strong>der</strong>um: er könnte sie auchan<strong>der</strong>s schaffen bzw. sie könnten auch ganz aufhören, wenn Gott es wollte. Das nenntman Voluntarismus.Für Sp<strong>in</strong>oza ist <strong>die</strong> Natur e<strong>in</strong>e notwendige Produktion, d.h. <strong>die</strong> geometrischen Gesetzekonnten nur so produziert werden, wie sie eben produziert wurden. Sie s<strong>in</strong>d daher auchvon höchster Vollkommenheit, es gibt an den geometrischen Gesetzen nichtsauszusetzen, es fehlt ihnen nichts. Es fehlt auch den Bäumen nichts, es fehlt auch demmenschlichen Körper nichts. Und wenn es kranke Körper gibt, dann ist das e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weisdarauf, dass <strong>die</strong> Produktion kranker Körper e<strong>in</strong>en größeren Reichtum von Körpernbedeutet - was dann wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong>e höhere Vollkommenheit <strong>der</strong> Produktion darstellt. Dasme<strong>in</strong>t: Gott konnte alles mit Notwendigkeit nur so produzieren, wie es produziert ist. Zu64


glauben, er könnte das auch noch an<strong>der</strong>s tun, ist e<strong>in</strong> Denkfehler. Es würde dem Wesen<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Substanz nicht entsprechen, wenn wir me<strong>in</strong>ten, es gäbe an<strong>der</strong>e Möglichkeiten,an<strong>der</strong>e Möglichkeiten e<strong>in</strong>er besseren Natur.Dies, dass Gott e<strong>in</strong>er eigenen Notwendigkeit unterliegt, wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Formulierung causa suimitgedacht. Auch Gott unterliegt e<strong>in</strong>er causa, allerd<strong>in</strong>gs im Unterschied zu allem an<strong>der</strong>ene<strong>in</strong>er causa, <strong>die</strong> er selbst ist. Frei se<strong>in</strong> heißt demnach, se<strong>in</strong>er eigenen, ke<strong>in</strong>er fremdenNotwendigkeit unterliegen. Genau das sagt aber <strong>die</strong> erste Hälfte <strong>der</strong> siebenten Def<strong>in</strong>itiondes ersten Teils, also <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> Freiheit: „Frei heißt e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, das nur aus <strong>der</strong>Notwendigkeit se<strong>in</strong>er eigenen Natur heraus existiert und nur durch sich selbst zumHandeln bestimmt (determ<strong>in</strong>atur) wird“. Freise<strong>in</strong> ist, se<strong>in</strong>er eigenen Notwendigkeit folgen.Das kann e<strong>in</strong>zig Gott. Er unterliegt <strong>der</strong> Kausalität notwendig, <strong>in</strong>dem er <strong>die</strong>se selbst ist.Es ist natürlich dabei vielleicht sogar überflüssig, das Produzierende Pr<strong>in</strong>zip noch Gott zunennen. Sp<strong>in</strong>oza führt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anmerkung zum Lehrsatz 29, also dem Lehrsatz, <strong>der</strong> von<strong>der</strong> Unmöglichkeit des Zufalls spricht, e<strong>in</strong>en Begriff e<strong>in</strong>, <strong>der</strong> dem Sachverhalt, dem ernachdenkt, eher entspricht. Dort unterscheidet er e<strong>in</strong>e schaffende Natur von e<strong>in</strong>ergeschaffenen Natur, e<strong>in</strong>e natura naturans von <strong>der</strong> natura naturata. Was hier <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ethikproduziert, was das Seiende produziert, ist nicht <strong>der</strong> Schöpfergott, auch wenn dasmanchmal noch so kl<strong>in</strong>gt, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> natura naturans, <strong>die</strong> produzierende Natur, <strong>die</strong>freilich als <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Substanz Gott ist.Ich habe schon mehrfach betont, dass <strong>die</strong>se <strong>Philosophie</strong> wie ke<strong>in</strong>e zweite des 17.Jahrhun<strong>der</strong>ts e<strong>in</strong>en Skandal losgetreten hat. Dieser Skandal ereignete sich allerd<strong>in</strong>gs erstim 18. Jahrhun<strong>der</strong>t, als e<strong>in</strong> gewisser deutscher Philosoph namens Friedrich He<strong>in</strong>richJacobi im Jahre 1785 e<strong>in</strong> Buch über Sp<strong>in</strong>oza veröffentlichte, <strong>in</strong> dem er me<strong>in</strong>te, dassSp<strong>in</strong>ozas Denken Pantheismus sei, <strong>die</strong>ser Pantheismus sei aber nichts an<strong>der</strong>es alskonsequentester Rationalismus und daher Atheismus. Atheismus aber - das kam e<strong>in</strong>emphilosophischen Todesurteil gleich.Der Effekt <strong>die</strong>ses Buches von Jacobi war aber an<strong>der</strong>s als er erwartete. Less<strong>in</strong>g, <strong>der</strong>bereits 1781 starb, hatte sich vor se<strong>in</strong>em Lebensende noch zum Sp<strong>in</strong>ozismus gleichsambekannt. Das war freilich e<strong>in</strong> großes Ereignis, dass sich <strong>die</strong>ser große Dichter <strong>der</strong>Aufklärung zu so e<strong>in</strong>er fragwürdigen <strong>Philosophie</strong> h<strong>in</strong>gezogen fühlte. Das wurde nun vonden Lesern des Jacobi-Buches aufmerksam zur Kenntnis genommen. Man konnte überSp<strong>in</strong>oza unterschiedlicher Me<strong>in</strong>ung se<strong>in</strong>. Während Jacobi ihn bekämpfte, begeisterten sich<strong>die</strong> nun langsam hervortretenden Philosophen des Deutschen Idealismus für ihn.Höl<strong>der</strong>l<strong>in</strong>, Hegel und Schell<strong>in</strong>g, sie alle wurden von Sp<strong>in</strong>oza angezogen, selbst wenn sieihn jeweils auf ihre Weise <strong>in</strong>terpretierten. Doch <strong>der</strong> Hegelsche Satz: „Wenn man anfängt65


zu philosophieren, so muß man zuerst Sp<strong>in</strong>ozist se<strong>in</strong>.“ kann nachgerade wörtlich auf <strong>die</strong>gerade genannten drei bezogen werden. In ihrer Jugend waren sie alle Sp<strong>in</strong>ozisten.Kommen wir abschließend noch e<strong>in</strong>mal auf Sp<strong>in</strong>oza selbst zurück. Es gibt ke<strong>in</strong>e Freiheit <strong>in</strong><strong>der</strong> göttlichen Substanz - außer eben dass <strong>die</strong>se ihrer eigenen Notwendigkeit unterliegtund <strong>in</strong>sofern als frei bezeichnet werden kann. Was kann dann aber <strong>der</strong> Mensch tun? Ist esnicht e<strong>in</strong>e schreckliche Missachtung des Menschen, ihn im Pr<strong>in</strong>zip auf <strong>die</strong> D<strong>in</strong>glichkeite<strong>in</strong>er Qualle zu reduzieren? Auch e<strong>in</strong>e Qualle bewegt sich ihrer Determ<strong>in</strong>ation gemäßgenauso wie <strong>der</strong> Mensch.Wer über <strong>die</strong>ses Problem etwas bei Sp<strong>in</strong>oza erfahren will, muss den fünften Teil über <strong>die</strong>menschliche Freiheit lesen. Nicht dass er hier etwa dann doch irgende<strong>in</strong>e bisherverschwiegene Freiheit vorstellt. Aber er nennt doch e<strong>in</strong>en Weg, den wir beschreitenkönnen, um uns von <strong>der</strong> Qualle zu unterscheiden - bzw. wir unterscheiden uns immerschon von den Quallen. Die Propositio 24 des fünften Teils lautet: „Je mehr wir <strong>die</strong>E<strong>in</strong>zeld<strong>in</strong>ge erkennen, um so mehr erkennen wir Gott.“ Wir können Gott erkennen, weil wir- an<strong>der</strong>s als <strong>die</strong> Tiere - über e<strong>in</strong>en Verstand verfügen, <strong>der</strong> es uns ermöglicht, <strong>die</strong> Welt bzw.<strong>die</strong> Natur zu erforschen. Die Qualle ist <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong> schönes Beispiel. Sie kannnämlich nicht sich selbst o<strong>der</strong> uns erkennen. Wir können aber sie (und uns) erkennen.Und <strong>in</strong> ihr zeigt sich e<strong>in</strong>e Vollkommenheit, <strong>die</strong> nur von e<strong>in</strong>em liebenden Gott stammenkann.Und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat ist das Vermögen, das uns <strong>die</strong> Natur bzw. Gott erkennen lässt, für Sp<strong>in</strong>ozanicht mehr bloß e<strong>in</strong>e technische Anwendung. Sp<strong>in</strong>oza unterscheidet im 40. Lehrsatz deszweiten Teils <strong>der</strong> Ethik (<strong>in</strong> <strong>der</strong> 2. Anmerkung), drei Gattungen <strong>der</strong> Erkenntnis. Die erstenennt Sp<strong>in</strong>oza Me<strong>in</strong>ung o<strong>der</strong> Phantasievorstellung. Die zweite besteht dar<strong>in</strong>, dass wirAllgeme<strong>in</strong>begriffe mit adäquaten Ideen von Gegenständen verb<strong>in</strong>den können. Ich habeden Allgeme<strong>in</strong>begriff Vogel, den ich mit e<strong>in</strong>er adäquaten Idee des Vogels verb<strong>in</strong>den kann.Das nennt Sp<strong>in</strong>oza ratio, Vernunfterkenntnis. Die dritte Form <strong>der</strong> Erkenntnis aber heißt<strong>in</strong>tuitio, Intuition. Ich will das nicht weiter ausführen, ich will aber nur betonen, dassSp<strong>in</strong>ozas Gottes-Erkenntnis nicht mehr im bloßen Rechnen besteht.Vielmehr spricht er von e<strong>in</strong>em spezifischen Affekt und zwar <strong>der</strong> Liebe. Es gibt e<strong>in</strong>en armorDei <strong>in</strong>tellectualis, e<strong>in</strong>e verstandesmäßige Liebe Gottes, an <strong>der</strong> wir - ihn erkennend -teilhaben können. Wir lieben, <strong>in</strong>dem wir erkennen. Das ist vielleicht ke<strong>in</strong>e Freiheit, abermöglicherweise mehr als das. Jacobi berichtet von e<strong>in</strong>em Gespräch mit Less<strong>in</strong>g, wiegesagt, <strong>die</strong>sem großen Dichter. Dar<strong>in</strong> geht es um Sp<strong>in</strong>oza und se<strong>in</strong>em Gedanken, dasswir nicht frei seien. Less<strong>in</strong>g soll da gesagt haben: „Ich merke, Sie hätten gern Ihren Willenfrei. Ich begehre ke<strong>in</strong>en freien Willen.“ Für Less<strong>in</strong>g war Sp<strong>in</strong>ozas Denken das Beste, zudem wir kommen können.66


Siebente Vorlesung„Verflucht sei er bei Tag, und verflucht sei er bei Nacht. Verflucht sei er, wenn er sichh<strong>in</strong>legt, und verflucht sei er, wenn er aufsteht. Der Herr möge se<strong>in</strong>en Namen unter demHimmel tilgen“, lautet Sp<strong>in</strong>ozas Verfluchung, ausgesprochen von <strong>der</strong> AmsterdamerSynagoge im Jahre 1656. Natürlich wurde <strong>die</strong>ser Fluch ohne Kenntnis <strong>der</strong> noch nichtverfassten „Ethik“ ausgesprochen. Sp<strong>in</strong>oza sche<strong>in</strong>t demnach schon früh se<strong>in</strong>enfreis<strong>in</strong>nigen Charakter angedeutet zu haben. Er war e<strong>in</strong> Unzeitgemäßer, dessen Denkendann später - vor allem im sogenannten Deutschen Idealismus - Karriere gemacht hat.Ungewöhnlich, dass er e<strong>in</strong>e Substanz dachte, dass er sie mit Gott identifizierte, dassdadurch e<strong>in</strong>e Identität von Gott und Natur entsteht, e<strong>in</strong>e <strong>Philosophie</strong> des Pan-theismus,dass er <strong>die</strong>ses Denken ganz mit <strong>der</strong> Methode des mos geometricus ausführte, dass er <strong>die</strong>Kausalität so streng dachte, dass nur noch <strong>die</strong> Substanz selbst frei war, aber nichts mehr<strong>in</strong> ihr - also dass <strong>der</strong> Mensch wie <strong>die</strong> Natur e<strong>in</strong>er totalen Determ<strong>in</strong>ation unterliegen -, dasser aber dennoch dachte, dass <strong>der</strong> Mensch se<strong>in</strong> Glück f<strong>in</strong>den konnte und zwar im amor Dei<strong>in</strong>tellectualis, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Erkenntnis <strong>der</strong> Substanz, d.h. e<strong>in</strong>er Erkenntnis Gottes, <strong>die</strong> <strong>in</strong>tuitivund nicht rational vollzogen wurde - das und noch mehr hat immer wie<strong>der</strong> späterePhilosophen angezogen (Schopenhauer - <strong>der</strong> Monismus des Willens, das hat Sch. selbstnicht so gesehen, er hat Sp<strong>in</strong>oza wegen se<strong>in</strong>er Überw<strong>in</strong>dung Descartes‘ geschätzt).Heute kommen wir zu e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Philosophen, zu Gottfried Wilhelm Leibniz, geboren1646 <strong>in</strong> Leipzig, gestorben 1716 <strong>in</strong> Hannover. Sp<strong>in</strong>oza wurde 1632 geboren, d.h. Leibnizund Sp<strong>in</strong>oza teilen <strong>die</strong>selbe Generation. Leibniz war nicht nur Philosoph, son<strong>der</strong>n, wie wirheute sagen, Universalgelehrter. Bekannt ist z.B., dass er zu den Erf<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>der</strong>Infenitesimalrechnung gehört. Was ist das? E<strong>in</strong>e mathematische Technik <strong>der</strong> Analysis(o<strong>der</strong> Nichtstandardanalysis), mit Integralen und Differentialen zu rechnen. Es geht um <strong>die</strong>mathematische Erfassung unendlich kle<strong>in</strong>er Intervalle. Wie auch immer: Leibniz stritt sich<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en letzten Lebensjahren mit ke<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>geren als Issac Newton, wer denn nun <strong>die</strong>Infenitesimalrechnung gefunden hatte. (Newton wahrsche<strong>in</strong>lich früher, aber er hatte späterdarüber veröffentlicht - welch e<strong>in</strong> dämlicher Streit). Leibniz war auch e<strong>in</strong> Erf<strong>in</strong><strong>der</strong>, er erfande<strong>in</strong>e Rechenmasch<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>en zur W<strong>in</strong>dnutzung bei <strong>der</strong> Grubenentwässerung imOberharzer Bergbau. Es gibt von ihm Pläne für e<strong>in</strong> U-Boot. Ich hatte schon daraufh<strong>in</strong>gewiesen, dass er <strong>die</strong> Mathematik bereitstellte, mit <strong>der</strong> man das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong>Lebensversicherung entwickeln konnte. Wenn wir das alles <strong>in</strong> Betracht ziehen, ist Leibnizvielleicht <strong>der</strong> Denker <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> - denn er verb<strong>in</strong>det metaphysische Absichten se<strong>in</strong>er<strong>Philosophie</strong> mit ganz handfesten technischen Anwendungen.Lassen Sie mich e<strong>in</strong> wenig dabei bleiben. Was treibt e<strong>in</strong>en Philosophen an, Pläne für e<strong>in</strong>Unterseeboot zu entwickeln? O<strong>der</strong> was treibt e<strong>in</strong>en Unterseebootentwickler dazu, zu67


philosophieren? Und Leibniz war wirklich e<strong>in</strong> wichtiger und ganz eigenständiger Philosoph- nicht wie vielleicht Leonardo da V<strong>in</strong>ci, den wir auch als e<strong>in</strong>en Universalgelehrtenbetrachten, <strong>der</strong> es aber nicht zu e<strong>in</strong>em wichtigen Denken brachte, <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs dafürnatürlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunstgeschichte e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>e Bedeutung hat. Wenn e<strong>in</strong> PhilosophPläne für e<strong>in</strong> Unterseeboot entwickelt, dann muss dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Weltverständnis liegen, daszwischen dem Denken und dem Unterseeboot, d.h. dann doch <strong>der</strong> Technik, e<strong>in</strong>eessentielle Verb<strong>in</strong>dung sieht. Ich hatte ja schon bei Descartes, Hobbes und Sp<strong>in</strong>oza aufdas <strong>in</strong>nige Verhältnis zwischen <strong>Philosophie</strong> und Mathematik h<strong>in</strong>gewiesen. Bei Leibniz ist<strong>die</strong>se Verb<strong>in</strong>dung noch greifbarer.Leibniz stattete Sp<strong>in</strong>oza im Jahre 1676 <strong>in</strong> Den Haag e<strong>in</strong>en Besuch ab. Er blieb e<strong>in</strong>igeTage. Es ist nicht bekannt, was <strong>die</strong> beiden besprachen, was Leibniz mitnahm, Sp<strong>in</strong>ozakonnte nicht mehr viel mitnehmen, denn er starb e<strong>in</strong> paar Monate später. Leibniz undSp<strong>in</strong>oza sche<strong>in</strong>en vollkommen verschiedene Charaktere gehabt zu haben. Dort <strong>der</strong>bescheidene, zurückgezogene, nachgerade arme Sp<strong>in</strong>oza, hier <strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>er großenBarock-Perücke ausgestattete Universalgelehrte, <strong>der</strong> sogar europäische Politik treibenwollte. Leibniz hatte Sp<strong>in</strong>ozas „Tractatus theologico-politicus“ gelesen und ihn e<strong>in</strong>„schreckliches Buch“ genannt. Doch irgendetwas wird Leibniz angezogen haben.Ich werde mich auf e<strong>in</strong> spätes Werk Leibniz‘ beziehen, auf <strong>die</strong> sogenannte „Monadologie“von 1714. Das Werk ist gleichsam e<strong>in</strong>e Gelegenheitsarbeit. Leibniz wollte e<strong>in</strong>emfranzösischen Bekannten, dem nicht so sehr wichtigen Philosophen Nicolas FrancoisRémond se<strong>in</strong>e Metaphysik darlegen. Leibniz gab <strong>die</strong>sem Text den Titel „Eclaircissementsur les Monades“, was sagt, dass das Werk auf Französisch verfasst wurde. Dass es sichbei <strong>die</strong>sem Text um e<strong>in</strong>e Gelegenheitsarbeit handelt, kann man vielleicht schon daranerkennen, dass es sich e<strong>in</strong>fach um 90 durchgezählte Paragraphen handelt, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>emethodische Systematik nahelegen. Dennoch wird man sagen müssen, dass <strong>die</strong>„Monadologie“, e<strong>in</strong> Titel, <strong>der</strong> 1720 anlässlich <strong>der</strong> ersten Übersetzung <strong>in</strong>s Deutscheentstand, zu den Hauptwerken <strong>der</strong> neuzeitlichen <strong>Philosophie</strong> gehört.Natürlich ist <strong>die</strong> „Monadologie“ nicht das e<strong>in</strong>zige wichtige Werk Leibnizens. Da wäre z.B.noch zu nennen <strong>die</strong> „Theodizee“ von 1710, e<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Art ganz an<strong>der</strong>es Werk, wortreich,ausführlich, e<strong>in</strong> „Sch<strong>in</strong>ken“ sozusagen. O<strong>der</strong> da s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> „Pr<strong>in</strong>cipes de la nature et de laGrace fondés en raison“, <strong>die</strong> Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Natur und <strong>der</strong> Gnade gegründet auf <strong>der</strong>Vernunft“, wie <strong>die</strong> „Monadologie“ aus dem Jahre 1714. Diese beiden Werke weisennaturgemäß e<strong>in</strong>ige Ähnlichkeiten auf. Zu Leibnizens Werk gehören auch se<strong>in</strong>eausführlichen Briefwechsel z.B. mit Burchard de Vol<strong>der</strong> vor 1709 o<strong>der</strong> mit Samuel Clarkeaus dem Jahre 1715/16 o<strong>der</strong> mit dem Jesuiten Bartolomäus des Bosses. Wer sich mitLeibniz beschäftigen will, muss auch <strong>die</strong> Briefwechsel stu<strong>die</strong>ren (Briefwechsel - wird es <strong>in</strong>Zukunft nicht mehr geben).68


Also <strong>die</strong> „Monadologie“. Da ist zunächst zu fragen: was heißt das eigentlich, Monade? Dieμονάς ist <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit, μόνος heißt alle<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>zeln. Wir können den ersten „Paragraphen“<strong>der</strong> Monadologie zur Hilfe nehmen. Der lautet: „Die Monade, von <strong>der</strong> wir hier sprechenwerden, ist nichts an<strong>der</strong>es als e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Substanz (une substance simple), <strong>die</strong> <strong>in</strong>Zusammensetzungen e<strong>in</strong>geht; e<strong>in</strong>fach heißt: ohne Teile.“ Da haben wir also wie<strong>der</strong> <strong>die</strong>sesWort, <strong>die</strong>sen Begriff: Substanz. Daran haben sich <strong>die</strong> neuzeitlichen PhilosophenDescartes, Sp<strong>in</strong>oza und Leibniz abgearbeitet. Auch John Locke (1632 (im selben Jahr wieSp<strong>in</strong>oza) -1704), auf den ich hier nicht e<strong>in</strong>gehen werde und nicht e<strong>in</strong>gegangen b<strong>in</strong>, setztsich mit <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Substanz ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, mit <strong>der</strong> Frage sozusagen: was heißtSubstanz im S<strong>in</strong>ne von: was ist <strong>die</strong> Substanz?Was für Leibniz - <strong>der</strong> den Begriff <strong>der</strong> Monade, historisch gesehen, wohl von GiordanoBruno hat, ihn aber ganz an<strong>der</strong>s verwendet - wichtig ist, ist also <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit, E<strong>in</strong>fachheit,E<strong>in</strong>sheit <strong>der</strong> Substanz, was me<strong>in</strong>t, ohne Teile zu se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e gewiss seltsame Bestimmung,<strong>die</strong> aber schon auf den metaphysischen Charakter <strong>der</strong> Monade h<strong>in</strong>weist. Was ist ohneTeile, könnte man fragen? Für Leibniz <strong>die</strong> E<strong>in</strong>fachheit als solche. Wir müssten demnachden Unterschied zwischen e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit und e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>fachheit betonen. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit(Leibniz nennt <strong>die</strong> Monade auch unité) kann sehr wohl Teile haben, e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>fachheit, wieLeibniz sie denkt, nicht. Freilich gibt es etwas, was an <strong>die</strong>se Form <strong>der</strong> E<strong>in</strong>fachheit er<strong>in</strong>nert.Gehen wir weiter zum zweiten „Paragraphen“: „Und es muss e<strong>in</strong>fache Substanzen geben,weil es Zusammensetzungen gibt; denn das Zusammengesetzte ist nichts an<strong>der</strong>es alse<strong>in</strong>e Anhäufung (un amas) o<strong>der</strong> Aggregat (aggregatum) von E<strong>in</strong>fachem.“ Aggregare heißtAnhäufen. Dar<strong>in</strong> steckt das late<strong>in</strong>ische grex, Herde. Leibniz betont also, dass es jaSeiendes gibt, das wir als Anhäufung von E<strong>in</strong>fachem betrachten. Wohlgemerkt: mankönnte jetzt sagen: aha, es gibt E<strong>in</strong>heiten/Ganzheiten, <strong>die</strong> aus Teilen bestehen, d.h. dannAnhäufungen, <strong>die</strong> aus E<strong>in</strong>fachem hervorgehen. Doch Leibniz sagt eben nicht Ganzheitenund Teile, son<strong>der</strong>n Anhäufung und E<strong>in</strong>faches. E<strong>in</strong>e Anhäufung ist ke<strong>in</strong>e Ganzheit, sowiee<strong>in</strong> E<strong>in</strong>faches ke<strong>in</strong> Teil ist. Was nicht bedeutet, dass es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Monade ke<strong>in</strong>e Vielheitgeben kann, doch dazu später.Im dritten „Paragraphen“ wird er noch deutlicher: „Nun gibt es da, wo es ke<strong>in</strong>e Teile gibt,we<strong>der</strong> Ausdehnung noch Figur, noch <strong>die</strong> Möglichkeit e<strong>in</strong>er Teilung. Und <strong>die</strong>se Monadens<strong>in</strong>d <strong>die</strong> wahren Atome <strong>der</strong> Natur o<strong>der</strong>, mit e<strong>in</strong>em Wort, <strong>die</strong> Elemente <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge.“ DieMonade hat ke<strong>in</strong>e Ausdehnung. Dennoch kann sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anhäufung existieren und <strong>die</strong>Natur bilden, d.h. das Seiende ausmachen. Wie ist so etwas möglich? Für gewöhnlichkann aus etwas, das ke<strong>in</strong>e Ausdehnung hat, auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anhäufung nichts Ausgedehnteshervorgehen. Nun sche<strong>in</strong>t es aber doch Ausdehnung zu geben? O<strong>der</strong>? Es gibt dochausgedehnte Materie - Materie ist ausgedehnt? Wie ist das mit so etwas wie dem69


Bewusstse<strong>in</strong>? Ist das Bewusstse<strong>in</strong> ausgedehnt? Ist e<strong>in</strong> Gedanke ausgedehnt? Und wasgibt es, was nicht Bewusstse<strong>in</strong> ist? Ist nicht alles Bewusstse<strong>in</strong>?Sehen wir uns weiter an, wie Leibniz <strong>die</strong> Substanz, d.h. <strong>die</strong> Monade, denkt. „Paragraph“ 4:„Es ist auch ke<strong>in</strong>e Auflösung zu befürchten, und es gibt überhaupt ke<strong>in</strong>e vorstellbare Art,durch <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Substanz auf natürliche Weise vergehen kann.“ Das re<strong>in</strong> E<strong>in</strong>fachekann sich als solches nicht verän<strong>der</strong>n, denn würde es sich verän<strong>der</strong>n, müsste es auche<strong>in</strong>e quantitative Verän<strong>der</strong>ung aufweisen, weil jede Verän<strong>der</strong>ung immer zugleich qualitativund quantitativ vor sich geht: z.B. das Altern ist e<strong>in</strong>e qualitative Verän<strong>der</strong>ung, <strong>die</strong> sich auchquantitativ nie<strong>der</strong>schlägt (z.B. weniger Haare). Vergehen gibt es also nur beimZusammengesetzten, das Zusammengesetzte kann vergehen, nicht das radikal E<strong>in</strong>fache.Dasselbe gilt für das Beg<strong>in</strong>nen. Das E<strong>in</strong>fache kann nicht auf natürliche Weise(naturellement) anfangen, heißt es im 5. „Paragraphen“. Denn sie entsteht nicht durchZusammensetzung. Demnach ist e<strong>in</strong> Beg<strong>in</strong>n immer mit Zusammensetzung verbunden,m.a.W. Entstehen und Vergehen gibt es nicht bei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Monade, son<strong>der</strong>n nur bei<strong>der</strong> Anhäufung von Monaden.Doch wir haben hier aufmerksam zu se<strong>in</strong> und zwar aufmerksam zu se<strong>in</strong> auf das Wort „aufnatürliche Weise“ (naturellement). Wir bef<strong>in</strong>den uns im Bereich <strong>der</strong> Metaphysik. WennLeibniz sagt, dass <strong>die</strong> Monade nicht natürlich entstehen kann, heißt das nicht, dass es fürsie überhaupt ke<strong>in</strong>en Anfang gibt. Das bezeugt nun Paragraph 6: „Also kann man sagen,daß <strong>die</strong> Monaden nur auf e<strong>in</strong>en Schlag beg<strong>in</strong>nen o<strong>der</strong> enden können, das heißt, siekönnen nur durch Schöpfung (par creation) beg<strong>in</strong>nen und durch Vernichtung (annihilation)enden, während das Zusammengesetzte mit Teilen beg<strong>in</strong>nt o<strong>der</strong> endet.“ An<strong>der</strong>s alsSp<strong>in</strong>oza ist Leibniz daran <strong>in</strong>teressiert, <strong>die</strong> christliche Religion <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Denkene<strong>in</strong>zubeziehen. Leibniz nennt Sp<strong>in</strong>ozas „Tractatus theologico-politicus“ e<strong>in</strong> „schrecklichesBuch“, weil Sp<strong>in</strong>oza dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong> spezifisches Bibelverständnis, e<strong>in</strong>e BestimmteAuslegungsweise <strong>der</strong> Bibel, angreift. Leibniz ist bei aller Genialität e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>bürgerlicheFigur, <strong>die</strong> auf <strong>die</strong> Gefühle <strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit und damit auf se<strong>in</strong>e Reputation Rücksichtgenommen hat. Das ist ke<strong>in</strong> philosophisches Argument. Was aber stimmt, das ist, dassLeibniz bei aller Radikalität <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Denken theologische Vorgaben anerkennt. So eben<strong>in</strong> dem Gedanken, dass zwar Monaden nicht entstehen und vergehen können, aber dochmit e<strong>in</strong>em Schlag beg<strong>in</strong>nen und vernichtet werden können, d.h. mit <strong>der</strong> Schöpfung und <strong>der</strong>Rücknahme <strong>der</strong> Schöpfung, was bei Leibniz e<strong>in</strong> nicht unwichtiger Gedanke ist. Dazuspäter.Im Paragraphen 7 heißt es nun weiter über <strong>die</strong> Substanz bzw. <strong>die</strong> Monade: „Es gibt auchke<strong>in</strong>e Möglichkeit zu erklären, wie e<strong>in</strong>e Monade durch irgende<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Geschöpfumgewandelt o<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihrem Inneren verän<strong>der</strong>t werden kann; weil man <strong>in</strong> ihr we<strong>der</strong> etwas70


umstellen noch sich e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Bewegung vorstellen kann, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ihr angeregt, gelenkt,vermehrt o<strong>der</strong> verm<strong>in</strong><strong>der</strong>t werden könnte, wie <strong>die</strong>s bei Zusammensetzungen möglich ist,bei denen es e<strong>in</strong>en Wechsel zwischen den Teilen gibt. Die Monaden haben ke<strong>in</strong>e Fenster,durch <strong>die</strong> irgend etwas e<strong>in</strong>- o<strong>der</strong> austreten könnte.“ E<strong>in</strong> seltsamer Gedanke. Warum? Weilhier nun plötzlich etwas aufkommt, was uns vorher noch nicht beschäftigt hat. Die Innen/Außen-Unterscheidung. Hat sie uns aber wirklich nicht beschäftigt? Sp<strong>in</strong>oza bezeichnet<strong>die</strong> Substanz als etwas, was <strong>in</strong> sich ist. Insofern nach Sp<strong>in</strong>oza <strong>die</strong> Substanz das Ganzedes Seienden ist, ist alles <strong>in</strong> ihr, d.h. es gibt das, was man bei Sp<strong>in</strong>oza e<strong>in</strong>e totale„Immanenz“ nennt. Es gibt nichts mehr außerhalb <strong>der</strong> Substanz - Sie sehen schon hier,<strong>in</strong>wiefern <strong>der</strong> neuzeitliche Begriff <strong>der</strong> Substanz sich sehr von dem Begriff <strong>der</strong> ousía beiAristoteles entfernt. Für Aristoteles ist <strong>die</strong> Innen/Außen-Unterscheidung <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong>Substanz ke<strong>in</strong>e Frage. Für Sp<strong>in</strong>oza und für Leibniz offenbar schon.Allerd<strong>in</strong>gs gibt es natürlich e<strong>in</strong>en Unterschied zwischen Sp<strong>in</strong>oza und Leibniz. Leibniznennt <strong>die</strong> Monade e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>fachheit. Das bedeutet aber für Leibniz ke<strong>in</strong>eswegs, dass esnur e<strong>in</strong>e Monade, e<strong>in</strong>e Substanz geben kann. Für ihn gibt es sogar unzählig vieleSubstanzen. Für Sp<strong>in</strong>oza gibt es nur e<strong>in</strong>e. Worauf Leibniz hier reagiert, das ist dasProblem, dass <strong>die</strong> Substanz nicht e<strong>in</strong>fach so gegeben se<strong>in</strong> kann. Sie muss für gewöhnlichAkzidenzen aufweisen. Dieses Problem klärt Sp<strong>in</strong>oza so, dass er <strong>der</strong> Substanz unendlicheAttribute zuspricht, von <strong>der</strong> wir nur zwei erkennen können, nämlich das Denken und <strong>die</strong>Ausdehnung. Für Leibniz gilt im Grunde auch das, was Sp<strong>in</strong>oza schon denkt: <strong>die</strong> Monadehat alle möglichen Akzidenzen immer schon <strong>in</strong> sich (Leibniz nennt das nicht Akzidenz).Das me<strong>in</strong>t, dass sie ke<strong>in</strong>e Fenster hat. Die Monade bef<strong>in</strong>det sich nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Austauschmit e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Monade. So e<strong>in</strong>e Berührung mit An<strong>der</strong>em ist nur beiZusammensetzungen denkbar, bei denen zwischen den Teilen (<strong>die</strong> wie<strong>der</strong>um ausMonaden bestehen müssen) Bewegungen möglich s<strong>in</strong>d.Das gilt es festzuhalten. Alles, was <strong>die</strong> Monade betrifft, geschieht <strong>in</strong> ihrem Inneren. Umhier noch e<strong>in</strong>mal an das Paradigma des Bewusstse<strong>in</strong>s zu er<strong>in</strong>nern: geschieht nicht auchdem Bewusstse<strong>in</strong> alles <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Inneren? Ich will nur darauf h<strong>in</strong>aus, dass Leibniz nichtbezweifelt, dass es etwas gibt wie <strong>die</strong> Natur o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Welt. Doch das gilt stets immer nur<strong>in</strong>nermonadisch, gilt für jede Innensphäre <strong>der</strong> Monade. Freilich ist das e<strong>in</strong> befremdlicherGedanke, aber nicht ganz unverstehbar.Schauen wir uns jetzt e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong>se Innensphäre etwas genauer an. Es hat bis jetzt denAnsche<strong>in</strong>, als wäre <strong>die</strong> Monade e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> e<strong>in</strong>fache Substanz, <strong>die</strong> sich zu Aggregatensammelt, aber als solche nichts an<strong>der</strong>es ist als e<strong>in</strong>fach. Es ist aber nun für Leibniz so,dass es viele Monaden gibt. Nun sagt er, dass es „<strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur niemals zwei Wesen gibt,<strong>die</strong> vollkommen gleich s<strong>in</strong>d“ (9). Gemäß dem sogenannten Pr<strong>in</strong>cipium identitatis<strong>in</strong>discernibilium können nur zwei völlig ununterscheidbare Monaden identisch se<strong>in</strong> - was71


hieße, dass es <strong>die</strong>se als zwei gar nicht gäbe, d.h. weshalb es eben ummöglich ist, dass eszwei völlig gleich Wesen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur gebe. Da es nun viele Monaden gibt, unterscheiden<strong>die</strong>se sich notwendig. Nun hat Leibniz vorher schon behauptet, dass <strong>die</strong> Monaden e<strong>in</strong>etotale Innensphäre ausbilden, d.h. das, was e<strong>in</strong>e Monade von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en unterscheidet,muss, wie es heißt (11) von e<strong>in</strong>em „<strong>in</strong>neren Pr<strong>in</strong>zip“ herrühren.Es gibt demnach vorübergehende Zustände <strong>der</strong> Monade, wie es heißt (14), <strong>die</strong> e<strong>in</strong>eVielheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen Substanz vorstellen. Hier heißt es also nundoch, dass <strong>die</strong> ganz e<strong>in</strong>fach Substanz <strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>e Vielheit vorstellen kann - allerd<strong>in</strong>gsstets <strong>in</strong> Form von vorübergehenden Zuständen. Was kann das nun se<strong>in</strong>? Leibniz nennt<strong>die</strong>se <strong>in</strong>neren und vorübergehenden Zustände, <strong>die</strong> sich als Vielheit repräsentieren,„Perzeptionen“. Was aber ist e<strong>in</strong>e Perzeption? Das Wort perceptio stammt von demVerbum percipere her: erfassen, wahrnehmen. Ich perzipiere, me<strong>in</strong>t: ich nehme wahr,stelle vor. Ist das dasselbe? Nun: für Leibniz spielt es ke<strong>in</strong>e Rolle, ob wir es Wahrnehmungo<strong>der</strong> Vorstellung nennen, weil beides immer schon im Inneren <strong>der</strong> Monade stattf<strong>in</strong>det.Natürlich nehme ich wahr - nach Leibniz -, was mich aber nicht berechtigt, zu me<strong>in</strong>en,dass das Wahrgenommene von e<strong>in</strong>em Außen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Inneres e<strong>in</strong>geht - so wäre dannwahrsche<strong>in</strong>lich <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Vorstellung doch passen<strong>der</strong>. Denn Vorstellungen, some<strong>in</strong>en wir, s<strong>in</strong>d ja immer schon <strong>in</strong>nen. Aber unter Umständen kann ich e<strong>in</strong>e Vorstellungkaum von e<strong>in</strong>er Wahrnehmung unterscheiden. Lassen wir das und sagen - <strong>die</strong> Monadehat Perzeptionen <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, dass sie irgendwelche Bewegungen <strong>in</strong> sich hat.Warum können wir das so ungenau sagen? Weil Leibniz sogleich zwischen Perzeptionund Apperzeption unterscheidet und <strong>die</strong> Cartesianer kritisiert. Wie unterscheiden sichPerzeption und Apperzeption vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>? Apperzeption kommt von adpercipere,h<strong>in</strong>zuwahrnehmen/vorstellen. Damit me<strong>in</strong>t nun Leibniz, dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Apperzeption das klareBewusstse<strong>in</strong> h<strong>in</strong>zutritt, etwas vorgestellt o<strong>der</strong> wahrgenommen zu haben, währendPerzeptionen auch durchaus unbewusst geschehen können. Die Cartesianer me<strong>in</strong>en,nach Leibniz, dass alle Perzeptionen notwendig Apperzeptionen se<strong>in</strong> müssen, dass allesPerzipierte notwendig e<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong>, cogito, voraussetzt. Das führt dann dazu, dassz.B. Tiere ke<strong>in</strong>e Perzeptionen (ke<strong>in</strong>e res cogitans - ich habe das schon angemerkt) haben,denn offenbar wissen sie ja nicht, dass sie perzipieren. Das ist für Leibniz nicht so. DieTiere haben durchaus Perzeptionen, auch wenn sie nicht apperzipieren.Das „<strong>in</strong>nere Pr<strong>in</strong>zip“, von dem vorh<strong>in</strong> <strong>die</strong> Rede war, <strong>die</strong>ses „<strong>in</strong>nere Pr<strong>in</strong>zip“, das <strong>in</strong> <strong>der</strong>Monade Verän<strong>der</strong>ung und Bewegung hervorruft, s<strong>in</strong>d aber nicht <strong>die</strong> Perzeptionen,son<strong>der</strong>n das, was uns gleichsam zu Perzeptionen br<strong>in</strong>gt, was uns antreibt, zu perzipieren.Das ist nach Leibniz <strong>der</strong> sogenannte „appetitus“ (15) Dieser appetitus ist e<strong>in</strong>e Tätigkeit(action), <strong>die</strong> den Wechsel von e<strong>in</strong>er Perzeption zur an<strong>der</strong>en antreibt.72


Das Seltsame ist e<strong>in</strong> wenig, dass Leibniz <strong>die</strong>sen appetitus im weiteren Verlauf <strong>der</strong>Monadologie nicht mehr nennt, wobei aber klar ist, dass er überaus wichtig ist für <strong>die</strong>ganze Konzeption <strong>der</strong> Substanz bzw. Monade. Wie wichtig er ist, zeigt <strong>der</strong> ersteParagraph e<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Schrift, nämlich <strong>der</strong> schon erwähnten Pr<strong>in</strong>cipes de la nature etde la Grace, fondés en raison. Dort heißt es im ersten Satz: „Die Substanz ist e<strong>in</strong>Seiendes, das <strong>der</strong> Handlung (action) fähig ist.“ E<strong>in</strong> seltsamer Beg<strong>in</strong>n, könnte man sagen.Aber doch <strong>in</strong>teressant und wichtig. Dass etwas <strong>in</strong> <strong>der</strong> Monade geschieht, ist für Leibnizke<strong>in</strong>e Nebensache, son<strong>der</strong>n es gehört zu den Hauptmerkmalen <strong>der</strong> Substanz. Daher ist<strong>der</strong> appetitus sehr wichtig.Über ihn ist nun noch gesagt, dass er immer erstrebt, e<strong>in</strong>e volle Perzeption zu erlangen,dass das aber nicht immer gel<strong>in</strong>gt. Worauf es ankommt, das ist aber, zu sehen, dass <strong>die</strong>Perzeptionenbewegung durch ihn ermöglicht wird. Appetitus - das ließe sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>eran<strong>der</strong>en Sprache als Wille bezeichnen. Aber wir s<strong>in</strong>d hier bei Leibniz und halten uns anse<strong>in</strong>e Term<strong>in</strong>ologie.Im Weiteren wendet er sich nun den Perzeptionen zu. Gehen wir dem weiter nach - wirwerden ohneh<strong>in</strong> auch <strong>die</strong> nächste Stunde noch mit Leibniz verbr<strong>in</strong>gen, um an ihrem Endeunsere Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit ihm zu beschließen. In <strong>der</strong> Sitzung vor Weihnachtenwerden wir uns dann mit La Mettrie beschäftigen, was, wie ich f<strong>in</strong>de, ganz gut passt. Alsonoch e<strong>in</strong>mal zu den Perzeptionen.Leibniz me<strong>in</strong>t 16, dass wir an uns selbst e<strong>in</strong>e Vielheit <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Substanz erfahren,wenn wir feststellen, daß <strong>der</strong> ger<strong>in</strong>gste Gedanke, dessen wir uns bewusst s<strong>in</strong>d (den wirapperzipieren), e<strong>in</strong>e Mannigfaltigkeit des Inhalts e<strong>in</strong>schließt. An <strong>die</strong>ser Stelle erkennt mannun auch, dass es nicht unerlaubt war, wie ich vorh<strong>in</strong> tat, <strong>die</strong> Monade mit demBewusstse<strong>in</strong> zu vergleichen. In <strong>der</strong> Tat haben Philosophen wie Edmund Husserl das sehrviel später getan. Die Monadologie wurde dann im Grunde als e<strong>in</strong>e Theorie desBewusstse<strong>in</strong>s verstanden, was sie auf e<strong>in</strong>e gewisse Weise ist. Doch Leibniz selbst hat das<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Form nicht so gesehen. Für ihn war es se<strong>in</strong>e Metaphysik. Freilich heißt dasetwas, wenn e<strong>in</strong>e Metaphysik zu e<strong>in</strong>er Bewusstse<strong>in</strong>stheorie wird. Doch - er spricht, wie wirgesehen haben, ja auch von den Tieren und er hat, implizit, schon von Gott gesprochen.Davon gleich mehr.In Paragraph 17 knüpft Leibniz an e<strong>in</strong>en Gedanken Descartes‘ an, mit dem er implizitMaterialisten wie vielleicht Pierre Gassendi (1592-1655) angreifen will. Hier erklärt er, dass<strong>die</strong> Perzeptionen durch mechanische Gründe, d.h. durch Figuren und Bewegungen,unerklärbar s<strong>in</strong>d. Um das zu bestätigen, bezieht er sich auf e<strong>in</strong> Beispiel. Er stellt sich dabeie<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e vor, <strong>der</strong>en Struktur es erlaubte, zu denken, zu fühlen und Perzeptionen zuhaben. Dann stellt er sich weiter vor, <strong>die</strong>se Masch<strong>in</strong>e sei nun so groß wie e<strong>in</strong>e Mühle, so73


das man sich dar<strong>in</strong> bewegen könnte. Was man dar<strong>in</strong> fände und sehe, wären nur Teile, <strong>die</strong>sich gegenseitig stoßen, aber niemals etwas wie e<strong>in</strong>e Perzeption. Daher müsse man also<strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen ausdehnungslosen Substanz suchen und nicht im Zusammengesetzten.Es gibt überhaupt Perzeptionen nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Substanz.Das ist <strong>in</strong> gewisser H<strong>in</strong>sicht auch heute noch e<strong>in</strong> Argument gegen <strong>die</strong> Biologen o<strong>der</strong>Naturalisten, <strong>die</strong> das Bewusstse<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>en empirischen Gegenstand betrachten wollen,als e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g, mit an<strong>der</strong>en Worten. Denn wenn das Bewusstse<strong>in</strong> e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g ist, wie soll manüber e<strong>in</strong> solches D<strong>in</strong>g sprechen, wenn wir von unserem Bewusstse<strong>in</strong> niemals sagenkönnen, es sei e<strong>in</strong> D<strong>in</strong>g. Wir können das nicht sagen, weil uns eben das Bewusstse<strong>in</strong>niemals als D<strong>in</strong>g begegnet. Klar: wir können irgendwie sagen, dass Drogen unserBewusstse<strong>in</strong> bee<strong>in</strong>flussen, das zeigt gewiss, dass da irgende<strong>in</strong> Seiendes vorliegen muss.Sonst wäre es nicht möglich, dass Depressive plötzlich irgendwie lachen können (lachensie?). Und dennoch: würde man uns das Bewusstse<strong>in</strong> z.B. <strong>in</strong> Form von Atombewegungenvorführen, würden wir immer sagen: das kann das Bewusstse<strong>in</strong> nicht se<strong>in</strong>, denn ich kannvon e<strong>in</strong>er Atombewegung nicht auf Gedanken o<strong>der</strong> Gefühle kommen. Man sagt dann: <strong>die</strong>first-person-experience ist für <strong>die</strong> Bewusstse<strong>in</strong>stheorie unverzichtbar. Leibniz hat das aufse<strong>in</strong>e Art schon gewusst. Für ihn hat das Mühlen-Beispiel <strong>die</strong> Folge, dass dasBewusstse<strong>in</strong> bzw. <strong>die</strong> Monade immateriell ist (wie hätte er auf das Drogenbeispielreagiert?).Die Kritik an den Cartesianern, <strong>die</strong> nur <strong>die</strong> Apperzeption kennen und nicht <strong>die</strong> Perzeption,wird ausgebaut. Die Frage ist, ob Leibniz, an<strong>der</strong>s als Descartes, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, denTieren o<strong>der</strong> sogar den Pflanzen, e<strong>in</strong>e Seele zuzusprechen (das tut Aristoteles), weil jaTiere und Pflanzen sehr wohl Monaden s<strong>in</strong>d - <strong>die</strong> Natur wird schließlich nach Leibnizmonadisch organisiert. Ist also <strong>die</strong> Seele e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Substanz im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Monade?Ne<strong>in</strong>. Dennoch sche<strong>in</strong>t aber Leibniz den Tieren e<strong>in</strong>e Seele zuzusprechen (Leibniz alsAristoteliker). So räumt er e<strong>in</strong>, dass wir (20) an uns selbst „e<strong>in</strong>en Zustand erfahren, <strong>in</strong> demwir uns an nichts er<strong>in</strong>nern und überhaupt ke<strong>in</strong>e unterscheidbaren Perzeptionen haben, sowenn wir <strong>in</strong> Ohnmacht fallen o<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>em traumlosen Schlaf übermannt werden. Dann,so Leibniz, unterscheidet sich <strong>die</strong> Seele nicht merklich von e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen Monade. Dochdann geht aber <strong>die</strong> Seele darüber h<strong>in</strong>aus und entwickelt e<strong>in</strong> Gedächtnis. Die Seele mussdemnach doch noch etwas mehr se<strong>in</strong> als nur e<strong>in</strong> Haben von Perzeptionen.Die Kritik an den Cartesianern ist <strong>die</strong>, dass sie den Tieren ke<strong>in</strong>e Seele zugesprochenhaben, <strong>in</strong>dem sie den Tieren jede Art von Perzeption und damit <strong>die</strong> res cogitans (unddamit <strong>die</strong> Seele) absprachen. Für Leibniz haben <strong>die</strong> Tiere Perzeptionen und sogar e<strong>in</strong>e Artvon Gedächtnis. Obwohl ich hier nicht das ganze Thema auf <strong>die</strong> Tiere beziehen will, weil<strong>die</strong>se mich nicht beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>teressieren, möchte ich noch daran er<strong>in</strong>nern, dass imParagraphen 26 Leibniz ganz offenbar dem Hund e<strong>in</strong>e Seele zuschreibt. Der Paragraph74


eg<strong>in</strong>nt: „Das Gedächtnis liefert den Seelen e<strong>in</strong>e Art Verknüpfung, welche <strong>die</strong> Vernunftnachahmt, <strong>die</strong> davon aber unterscheiden werden muss.“ (<strong>die</strong> Verknüpfung ahmt <strong>die</strong>Vernunft nach, nicht an<strong>der</strong>sherum). Das Gedächtnis ist also ansche<strong>in</strong>end nicht immer dasklare Bewusstse<strong>in</strong> von etwas. Es gibt e<strong>in</strong> Gedächtnis, das vielleicht etwas enthält, wassich nicht e<strong>in</strong>fach so aufrufen lässt. So ist für Leibniz auch folgendes e<strong>in</strong> Gedächtnis.Würde man e<strong>in</strong>en Hund e<strong>in</strong> paarmal mit e<strong>in</strong>em bestimmten Stock schlagen, so würde<strong>die</strong>ser gewiss vor dem Stock fliehen, wenn er ihn nur sieht (das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Dressur). Dasme<strong>in</strong>t also, dass <strong>der</strong> Hund e<strong>in</strong> Gedächtnis des Stocks hat, wobei man gewiss nicht sagenkann, er hat e<strong>in</strong> klares Bewusstse<strong>in</strong> davon, vor allem weil er sich wohl auch nicht ohneden Stock selbst an den Stock er<strong>in</strong>nern könnte. Aber egal: <strong>der</strong> Hund muss etwas <strong>in</strong> se<strong>in</strong>erSeele zurückbehalten haben, denn sonst könnte er auf <strong>die</strong>se Weise nicht auf den Stockreagieren. Im Übrigen gibt es solche Trigger auch bei Menschen - irgende<strong>in</strong>e Sache löste<strong>in</strong>e psychische Reaktion aus, wobei wir meistens gar nicht wissen, was das gewesen ist.Das sagt auch Leibniz (28): „Die Menschen handeln wie <strong>die</strong> Tiere, <strong>in</strong>sofern <strong>die</strong>Verknüpfungen ihrer Perzeptionen sich nur gemäß dem Pr<strong>in</strong>zip des Gedächtnissesgestalten; ähnlich den empirischen Ärzten, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Praxis ohne Theorie haben;und bei drei Vierteln unserer Handlungen s<strong>in</strong>d wir selbst nur Empiriker. Erwartet man zumBeispiel, daß morgen wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Tag se<strong>in</strong> wird, weil es bisher immer so war, handelt manals Empiriker. Alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> Astronom urteilt darüber vernunftgemäß.“ E<strong>in</strong>e seltsame Stelle.Insofern wir empirisch handeln, bewegen wir uns auf <strong>der</strong> Ebene des Tieres. Das Pr<strong>in</strong>zipsche<strong>in</strong>t <strong>die</strong> Gewöhnung an das Sich Wie<strong>der</strong>holende, <strong>die</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung, zuse<strong>in</strong>. So wie <strong>der</strong> Hund sich daran gewöhnt, bei Ansicht des Stocks zu gehorchen, sogewöhnen wir uns an <strong>die</strong> Me<strong>in</strong>ung, dass morgen auch wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Tag se<strong>in</strong> muss, weil dasbisher immer so gewesen ist. Dass das notwendig so se<strong>in</strong> müsse, könne nur <strong>der</strong> Astronomwissen. Ich frage nun nicht, ob <strong>der</strong> Hund wirklich jemals davon ausgehen könnte, dassmorgen noch e<strong>in</strong> Tag ist. Will sagen: <strong>die</strong>se Me<strong>in</strong>ung setzt doch immerh<strong>in</strong> voraus, dass wire<strong>in</strong>e Erfahrung verallgeme<strong>in</strong>ern können (zu Unrecht, me<strong>in</strong>t Leibniz). Der Hund kann daswahrsche<strong>in</strong>lich nicht.Ich halte fest, dass sich Leibniz <strong>in</strong> ungefähr den ersten dreißig Sätzen <strong>der</strong> Paragraphenmit dem Charakter <strong>der</strong> Monade beschäftigt <strong>in</strong>sofern, dass er e<strong>in</strong>e strukturelleBestandsaufnahme auf den Menschen und das Tier überträgt, wobei uns jetzt schon klarist, dass <strong>die</strong> Monadologie etwas mit e<strong>in</strong>er Theorie des Bewusstse<strong>in</strong>s zu tun hat <strong>in</strong>sofern,als es um <strong>die</strong> Frage nach den Perzeptionen, <strong>der</strong> Apperzeption, dem appetitus und <strong>der</strong>Seele geht. Nun, mit dem Satz 29, kommt im Rahmen <strong>der</strong> Metaphysik des Leibniz nunnotwendig e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Frage <strong>in</strong>s Spiel. Der Paragraph lautet: „Indessen unterscheidet uns<strong>die</strong> Erkenntnis <strong>der</strong> notwendigen und ewigen Wahrheiten von den e<strong>in</strong>fachen Tieren undbefähigt uns zu Vernunft und Wissenschaften, <strong>in</strong>dem sie uns zur Erkenntnis unserer selbstund Gottes erhebt. Dies nennen wir vernünftige Seele o<strong>der</strong> Geist (esprit).“ Dieser75


Paragraph bestätigt, dass wir Leibniz e<strong>in</strong>e neuzeitlichen Aristoteliker nennen können,wenn er hier von <strong>der</strong> Ame raisonable ou Esprit spricht. Auch Aristoteles spricht <strong>die</strong>vernünftige Seele bzw. den nous nur dem Menschen bzw. dem Göttlichen zu. Was unsvon den Tieren unterscheidet, ist also nicht e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong> Seele schlechth<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong>vernünftige Seele. Mit ihr können wir <strong>die</strong> notwendigen und ewigen Wahrheiten erkennen.Damit erhält <strong>die</strong> Monadologie e<strong>in</strong>e etwas an<strong>der</strong>e Wendung. Jetzt geht Leibniz auf <strong>die</strong>traditionelleren metaphysischen Fragen e<strong>in</strong>. Auf dem Fundament <strong>der</strong> erläuterten Monadegeht es jetzt um den Menschen (bzw. se<strong>in</strong>e Seele) und Gott (wir er<strong>in</strong>nern uns an den Titel<strong>der</strong> Meditationen). So heißt es jetzt <strong>in</strong> Paragraph 30: „Durch <strong>die</strong> Erkenntnis <strong>der</strong>notwendigen Wahrheiten und durch ihre Abstraktionen s<strong>in</strong>d wir auch zu den reflexivenAkten erhoben, <strong>die</strong> uns e<strong>in</strong> Ich denken und Betrachtungen darüber anstellen lassen, dass<strong>die</strong>s und jenes <strong>in</strong> uns ist: und so denken wir, wenn wir an uns denken, an das Se<strong>in</strong>, an <strong>die</strong>Substanz, an E<strong>in</strong>faches und Zusammengesetztes, an das Immaterielle und selbst an Gott,<strong>in</strong>dem wir begreifen, das, was <strong>in</strong> uns begrenzt ist, <strong>in</strong> ihm ohne Grenze ist. Und <strong>die</strong>sereflexiven Akte liefern <strong>die</strong> Hauptgegenstände unserer Vernunftschlüsse.“ Das könnte soetwas se<strong>in</strong>, wie e<strong>in</strong>e Kritik an Descartes. Inwiefern? Wenn Leibniz sagen will, dass wir, ume<strong>in</strong> Ich zu haben, um „reflexive Akte“ zu haben, Betrachtungen anstellen müssen überdas, was <strong>in</strong> uns ist, dann sche<strong>in</strong>t ja gerade Descartes‘ Zweifelgang dah<strong>in</strong> gelangen zuwollen, dass wir von dem absehen müssen, um e<strong>in</strong>fach auf den Akt des Denkens bzw. desZweifelns selbst zu kommen.Brauchen wir zu e<strong>in</strong>em reflexiven Akt wirklich <strong>die</strong> ewigen und notwendigen Wahrheiten?Im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> ersten Meditation brauchen wir sie nur, um sie zu verne<strong>in</strong>en und <strong>in</strong> <strong>die</strong>sermethodischen Verne<strong>in</strong>ung den Vorgang <strong>der</strong> Verne<strong>in</strong>ung selbst als reflexiven Akt zuverstehen. Doch gewiss zeigt auch Descartes, dass wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Meditation nichtstehen bleiben können und dass <strong>die</strong> metaphysische Überlegung erst danach beg<strong>in</strong>nt. In<strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne hat Leibniz Recht, dass e<strong>in</strong>e Metaphysik des Selbst auf <strong>die</strong> ewigen undnotwendigen Wahrheiten und auch auf <strong>die</strong> Gottesfrage e<strong>in</strong>gehen muss. Denn nur damitkann e<strong>in</strong> reflexiver Akt auch als e<strong>in</strong> wirklicher Akt aufgefasst werden. Wenn er <strong>in</strong>Paragraph 29 von <strong>der</strong> Selbsterkenntnis spricht, dann gehört natürlich zu ihr viel mehr alsnur das Descarte‘sche cogito me cogitare. Freilich kann Selbsterkenntnis auch nie ohne<strong>die</strong>ses cogito me cogitare stattf<strong>in</strong>den, was jedoch zugegebenermaßen e<strong>in</strong>e Banalität ist.Im Weiteren wird sich Leibniz mit eben <strong>die</strong>sen Fragen nach den ewigen und notwendigenWahrheiten und nach Gott beschäftigen. Die Leibniz‘sche Metaphysik wird uns danndeutlicher werden. Doch dem liegt überall Leibnizens Verständnis <strong>der</strong> „Monade“ zuGrunde. Das wird uns noch klarer werden, wenn Leibniz im Satz 47 Gott selbst als „l‘Unitéprimitive, ou la Substance Simple orig<strong>in</strong>aire“ bezeichnet, d.h. als e<strong>in</strong>e ursprünglicheE<strong>in</strong>heit bzw. als e<strong>in</strong>fache Ursubstanz. Denn es gibt e<strong>in</strong>e göttliche Super-Monade, <strong>die</strong> doch76


offenbar auch ke<strong>in</strong> Fenster haben kann, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich also dann doch Alles alsMonadengeme<strong>in</strong>schaft bef<strong>in</strong>den muss. Und wir das sehen, müssen wir noch e<strong>in</strong>malfragen: wie steht es eigentlich um das Verhältnis zwischen Leibniz und Sp<strong>in</strong>oza? Enthält<strong>der</strong> monadische Substanzbegriff bei Leibniz etwas an<strong>der</strong>es als <strong>der</strong> monistischeSubstanzbegriff bei Sp<strong>in</strong>oza?77


Achte VorlesungHeidegger sagt e<strong>in</strong>mal über Leibniz, dass se<strong>in</strong>e <strong>Philosophie</strong> <strong>die</strong> „neuzeitliche Denkweise“enthält, „<strong>in</strong> <strong>der</strong> wir uns tagtäglich aufhalten“. Das ist e<strong>in</strong>e große Auszeichnung, auch wennwir bisher noch nicht verstehen, was er damit me<strong>in</strong>en könnte. Am Ende <strong>die</strong>ser Sitzungaber wird es so se<strong>in</strong>, me<strong>in</strong>e ich jedenfalls.Wir haben es mit <strong>der</strong> „Monade“ zu tun. Alles besteht aus Monaden, das Ganze Seiendebesteht aus Monadenanhäufungen. Sie selbst s<strong>in</strong>d ausdehnungslos (er sagt, sie seien wie„Atome“ - Atome können nicht immateriell se<strong>in</strong> - allerd<strong>in</strong>gs müssen sie Ausdehnung haben- jedenfalls muss ich mich korrigieren, dass ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Stunde darüber nachdachte,<strong>in</strong>wiefern <strong>die</strong> Monaden immateriell s<strong>in</strong>d - sie s<strong>in</strong>d es nicht - es gibt e<strong>in</strong>e próte hyle - <strong>in</strong>welcher sich <strong>die</strong> Monade wie e<strong>in</strong> mathematischer Punkt bef<strong>in</strong>det - doch das lassen wir hiere<strong>in</strong>mal, weil es zu spezifisch wird), aber wenn sie sich aggregieren, anhäufen, entsteht <strong>die</strong>Welt. D.h. natürlich wie<strong>der</strong>um nicht, dass es nichts Immaterielles gibt. Das sagt Leibniz,wie wir sehen, ausdrücklich.Die Monade hat ke<strong>in</strong> Fenster, sie bildet e<strong>in</strong>e absolute Immanenz, nichts kommt <strong>in</strong> sieh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> o<strong>der</strong> aus ihr heraus. Was <strong>in</strong> ihr vorgeht, lässt sich nur als Vielheit deuten. DieMonade hat Perzeptionen und Apperzeption. Diese Perzeptionen werden motiviert vone<strong>in</strong>em „<strong>in</strong>neren Pr<strong>in</strong>zip“, von dem appetitus. Leibnizens Frage ist es nun, <strong>in</strong>wieweit manz.B. bei Tieren von Perzeptionen und Apperzeptionen sprechen kann. Inwieweit kann mansagen, dass Alles Perzeptionen hat, wenn doch Alles aus Monaden besteht.Leibniz ist sich <strong>die</strong>ser ungewöhnlichen Konzeption bewusst, vor allem <strong>in</strong> dem Streit mitPositionen, <strong>die</strong> an Descartes er<strong>in</strong>nern. Die Kritik an den Cartesianern, <strong>die</strong> nur <strong>die</strong>Apperzeption kennen und nicht <strong>die</strong> Perzeption, wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Frage nach dem Verhältnis vonPerzeption und Apperzeption ausgebaut. Die Frage ist, ob Leibniz, an<strong>der</strong>s als Descartes,<strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist, den Tieren o<strong>der</strong> sogar den Pflanzen, e<strong>in</strong>e Seele zuzusprechen (das tutAristoteles), weil ja Tiere und Pflanzen sehr wohl Monaden s<strong>in</strong>d - eben weil <strong>die</strong> Naturschließlich nach Leibniz monadisch organisiert wird. Ist also <strong>die</strong> Seele e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>facheSubstanz im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> Monade? Ne<strong>in</strong>. Dennoch sche<strong>in</strong>t aber Leibniz den Tieren e<strong>in</strong>eSeele zuzusprechen (Leibniz als Aristoteliker). So räumt er e<strong>in</strong>, dass wir (20) an uns selbst„e<strong>in</strong>en Zustand erfahren, <strong>in</strong> dem wir uns an nichts er<strong>in</strong>nern und überhaupt ke<strong>in</strong>eunterscheidbaren Perzeptionen haben, so wenn wir <strong>in</strong> Ohnmacht fallen o<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>emtraumlosen Schlaf übermannt werden. Dann, so Leibniz, unterscheidet sich <strong>die</strong> Seele nichtmerklich von e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen Monade. Doch dann geht aber <strong>die</strong> Seele darüber h<strong>in</strong>aus undentwickelt e<strong>in</strong> Gedächtnis. Die Seele muss demnach doch noch etwas mehr se<strong>in</strong> als nure<strong>in</strong> Haben von Perzeptionen. Das me<strong>in</strong>t aber nicht, dass <strong>die</strong> Tiere ke<strong>in</strong>e Seele hätten,denn sie haben eben Gedächtnis.78


Die Kritik an den Cartesianern ist <strong>die</strong>, dass sie den Tieren ke<strong>in</strong>e Seele zugesprochenhaben, <strong>in</strong>dem sie ihnen jede Art von Perzeption und damit <strong>die</strong> res cogitans (und damit <strong>die</strong>Seele) absprachen. Für Leibniz haben <strong>die</strong> Tiere Perzeptionen und sogar e<strong>in</strong>e Art vonGedächtnis. Obwohl ich hier nicht das ganze Thema auf <strong>die</strong> Tiere beziehen will, weil <strong>die</strong>semich nicht beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>teressieren, möchte ich noch daran er<strong>in</strong>nern, dass im Paragraphen26 Leibniz ganz offenbar dem Hund e<strong>in</strong>e Seele zuschreibt. Der Paragraph beg<strong>in</strong>nt: „DasGedächtnis liefert den Seelen e<strong>in</strong>e Art Verknüpfung, welche <strong>die</strong> Vernunft nachahmt, <strong>die</strong>davon aber unterscheiden werden muss.“ (<strong>die</strong> Verknüpfung ahmt <strong>die</strong> Vernunft nach, nichtan<strong>der</strong>sherum). Das Gedächtnis ist also ansche<strong>in</strong>end nicht immer das klare Bewusstse<strong>in</strong>von etwas. Es gibt e<strong>in</strong> Gedächtnis, das vielleicht etwas enthält, was sich nicht e<strong>in</strong>fach soaufrufen lässt. So ist für Leibniz auch folgendes e<strong>in</strong> Gedächtnis. Würde man e<strong>in</strong>en Hunde<strong>in</strong> paarmal mit e<strong>in</strong>em bestimmten Stock schlagen, so würde <strong>die</strong>ser gewiss vor dem Stockfliehen, wenn er ihn nur sieht (das Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Dressur). Das me<strong>in</strong>t also, dass <strong>der</strong> Hund e<strong>in</strong>Gedächtnis des Stocks hat, wobei man gewiss nicht sagen kann, er hat e<strong>in</strong> klaresBewusstse<strong>in</strong> davon, vor allem weil er sich wohl auch nicht ohne den Stock selbst an denStock er<strong>in</strong>nern könnte. Aber egal: <strong>der</strong> Hund muss etwas <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Seele zurückbehaltenhaben, denn sonst könnte er auf <strong>die</strong>se Weise nicht auf den Stock reagieren. Im Übrigengibt es solche Trigger auch bei Menschen - irgende<strong>in</strong>e Sache löst e<strong>in</strong>e psychischeReaktion aus, wobei wir meistens gar nicht wissen, was das gewesen ist.Das sagt auch Leibniz (28): „Die Menschen handeln wie <strong>die</strong> Tiere, <strong>in</strong>sofern <strong>die</strong>Verknüpfungen ihrer Perzeptionen sich nur gemäß dem Pr<strong>in</strong>zip des Gedächtnissesgestalten; ähnlich den empirischen Ärzten, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache Praxis ohne Theorie haben;und bei drei Vierteln unserer Handlungen s<strong>in</strong>d wir selbst nur Empiriker. Erwartet man zumBeispiel, daß morgen wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Tag se<strong>in</strong> wird, weil es bisher immer so war, handelt manals Empiriker. Alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> Astronom urteilt darüber vernunftgemäß.“ E<strong>in</strong>e seltsame Stelle.Insofern wir empirisch handeln, bewegen wir uns auf <strong>der</strong> Ebene des Tieres. Das Pr<strong>in</strong>zipsche<strong>in</strong>t <strong>die</strong> Gewöhnung an das Sich Wie<strong>der</strong>holende, <strong>die</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung, zuse<strong>in</strong>. So wie <strong>der</strong> Hund sich daran gewöhnt, bei Ansicht des Stocks zu gehorchen, sogewöhnen wir uns an <strong>die</strong> Me<strong>in</strong>ung, dass morgen auch wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Tag se<strong>in</strong> muss, weil dasbisher immer so gewesen ist. Dass das notwendig so se<strong>in</strong> müsse, könne nur <strong>der</strong> Astronomwissen. Ich frage nun nicht, ob <strong>der</strong> Hund wirklich jemals davon ausgehen könnte, dassmorgen noch e<strong>in</strong> Tag ist. Will sagen: <strong>die</strong>se Me<strong>in</strong>ung setzt doch immerh<strong>in</strong> voraus, dass wire<strong>in</strong>e Erfahrung verallgeme<strong>in</strong>ern können (zu Unrecht, me<strong>in</strong>t Leibniz). Der Hund kann daswahrsche<strong>in</strong>lich nicht.Ich halte fest, dass sich Leibniz <strong>in</strong> ungefähr den ersten dreißig Sätzen <strong>der</strong> Paragraphenmit dem Charakter <strong>der</strong> Monade beschäftigt <strong>in</strong>sofern, dass er e<strong>in</strong>e strukturelleBestandsaufnahme auf den Menschen und das Tier überträgt, wobei uns jetzt schon klar79


ist, dass <strong>die</strong> Monadologie etwas mit e<strong>in</strong>er Theorie des Bewusstse<strong>in</strong>s zu tun hat <strong>in</strong>sofern,als es um <strong>die</strong> Frage nach den Perzeptionen, <strong>der</strong> Apperzeption, dem appetitus und <strong>der</strong>Seele geht. Nun, mit dem Satz 29, kommt im Rahmen <strong>der</strong> Metaphysik des Leibniz nunnotwendig e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Frage <strong>in</strong>s Spiel. Der Paragraph lautet: „Indessen unterscheidet uns<strong>die</strong> Erkenntnis <strong>der</strong> notwendigen und ewigen Wahrheiten von den e<strong>in</strong>fachen Tieren undbefähigt uns zu Vernunft und Wissenschaften, <strong>in</strong>dem sie uns zur Erkenntnis unserer selbstund Gottes erhebt. Dies nennen wir vernünftige Seele o<strong>der</strong> Geist (esprit).“ DieserParagraph bestätigt, dass wir Leibniz e<strong>in</strong>e neuzeitlichen Aristoteliker nennen können,wenn er hier von <strong>der</strong> Ame raisonable ou Esprit spricht. Auch Aristoteles spricht <strong>die</strong>vernünftige Seele bzw. den nous nur dem Menschen bzw. dem Göttlichen zu. Was unsvon den Tieren unterscheidet, ist also nicht e<strong>in</strong>fach <strong>die</strong> Seele schlechth<strong>in</strong>, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong>vernünftige Seele. Mit ihr können wir <strong>die</strong> notwendigen und ewigen Wahrheiten erkennen.Damit erhält <strong>die</strong> Monadologie e<strong>in</strong>e etwas an<strong>der</strong>e Wendung. Jetzt geht Leibniz auf <strong>die</strong>traditionelleren metaphysischen Fragen e<strong>in</strong>. Auf dem Fundament <strong>der</strong> erläuterten Monadegeht es jetzt um den Menschen (bzw. se<strong>in</strong>e Seele) und Gott (wir er<strong>in</strong>nern uns an den Titel<strong>der</strong> Meditationen). So heißt es jetzt <strong>in</strong> Paragraph 30: „Durch <strong>die</strong> Erkenntnis <strong>der</strong>notwendigen Wahrheiten und durch ihre Abstraktionen s<strong>in</strong>d wir auch zu den reflexivenAkten erhoben, <strong>die</strong> uns e<strong>in</strong> Ich denken und Betrachtungen darüber anstellen lassen, dass<strong>die</strong>s und jenes <strong>in</strong> uns ist: und so denken wir, wenn wir an uns denken, an das Se<strong>in</strong>, an <strong>die</strong>Substanz, an E<strong>in</strong>faches und Zusammengesetztes, an das Immaterielle und selbst an Gott,<strong>in</strong>dem wir begreifen, das, was <strong>in</strong> uns begrenzt ist, <strong>in</strong> ihm ohne Grenze ist. Und <strong>die</strong>sereflexiven Akte liefern <strong>die</strong> Hauptgegenstände unserer Vernunftschlüsse.“ Das könnte soetwas se<strong>in</strong>, wie e<strong>in</strong>e Kritik an Descartes. Inwiefern? Wenn Leibniz sagen will, dass wir, ume<strong>in</strong> Ich zu haben, um „reflexive Akte“ zu haben, Betrachtungen anstellen müssen überdas, was <strong>in</strong> uns ist, dann sche<strong>in</strong>t ja gerade Descartes‘ Zweifelgang dah<strong>in</strong> gelangen zuwollen, dass wir von dem absehen müssen, um e<strong>in</strong>fach auf den Akt des Denkens bzw. desZweifelns selbst zu kommen.Brauchen wir zu e<strong>in</strong>em reflexiven Akt wirklich <strong>die</strong> ewigen und notwendigen Wahrheiten?Im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> ersten Meditation brauchen wir sie nur, um sie zu verne<strong>in</strong>en und <strong>in</strong> <strong>die</strong>sermethodischen Verne<strong>in</strong>ung den Vorgang <strong>der</strong> Verne<strong>in</strong>ung selbst als reflexiven Akt zuverstehen. Doch gewiss zeigt auch Descartes, dass wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Meditation nichtstehen bleiben können und dass <strong>die</strong> metaphysische Überlegung erst danach beg<strong>in</strong>nt. In<strong>die</strong>sem S<strong>in</strong>ne hat Leibniz Recht, dass e<strong>in</strong>e Metaphysik des Selbst auf <strong>die</strong> ewigen undnotwendigen Wahrheiten und auch auf <strong>die</strong> Gottesfrage e<strong>in</strong>gehen muss. Denn nur damitkann e<strong>in</strong> reflexiver Akt auch als e<strong>in</strong> wirklicher Akt aufgefasst werden. Wenn er <strong>in</strong>Paragraph 29 von <strong>der</strong> Selbsterkenntnis spricht, dann gehört natürlich zu ihr viel mehr alsnur das Descarte‘sche cogito me cogitare. Freilich kann Selbsterkenntnis auch nie ohne<strong>die</strong>ses cogito me cogitare stattf<strong>in</strong>den, was jedoch zugegebenermaßen e<strong>in</strong>e Banalität ist.80


Die Differenz zum Tier ist also nicht <strong>die</strong> Seele, son<strong>der</strong>n <strong>die</strong> vernünftige Seele bzw. <strong>der</strong>Seelenteil, <strong>der</strong> <strong>die</strong> Vernunft ist. Die Vernunft nun muss sich organisieren. Wie tut sie das?Sie stützt sich, sagt Leibniz, auf zwei großen Pr<strong>in</strong>zipien (grands pr<strong>in</strong>cipes). Das erstesolche große Pr<strong>in</strong>zip ist <strong>der</strong> Satz vom Wi<strong>der</strong>spruch, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>erseits den Wi<strong>der</strong>spruchausschließt, an<strong>der</strong>erseits sagt, dass das wahr ist, was zum Falschen im Wi<strong>der</strong>spruchsteht. Der Satz: <strong>die</strong> Maus ist e<strong>in</strong>e Katze ist falsch, weil er e<strong>in</strong>en Wi<strong>der</strong>spruch enthält. DieMaus ist grau, das kann man <strong>in</strong> negative Urteile überführen: <strong>die</strong> Maus ist nicht rot. DieserSatz ist wahr, weil er dem Falschen, <strong>die</strong> Maus ist rot, wi<strong>der</strong>spricht.Das zweite große Pr<strong>in</strong>zip ist nun <strong>der</strong> Satz vom zureichenden Grunde, kraft dessen, wie esim Satz 32 heißt, „wir erwägen, daß ke<strong>in</strong>e Tatsache als wahr o<strong>der</strong> existierend gelten kannund ke<strong>in</strong>e Aussage als richtig, ohne daß es e<strong>in</strong>en zureichenden Grund dafür gibt, daß esso und nicht an<strong>der</strong>s ist, obwohl uns <strong>die</strong>se Gründe meistens nicht bekannt se<strong>in</strong> mögen“.Was me<strong>in</strong>t das? Was ist e<strong>in</strong> zureichen<strong>der</strong> Grund? Das ist gar nicht so e<strong>in</strong>fach zu sagen.Wenn es regnet, so wissen wir heute, dass nicht <strong>die</strong> Götter es regnen lassen (was ja auche<strong>in</strong> Grund se<strong>in</strong> kann), son<strong>der</strong>n dass es hier um e<strong>in</strong> physikalisches Phänomen geht, mitdem wir erklären können, dass es <strong>die</strong>se und jene Ursachen gibt für den Regen. Das giltnun für - sagen wir - Alles <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt.Nun muss aber noch besser verstanden werden, was zureichend heißt. Natürlich gibt esz.B. für me<strong>in</strong> Leben e<strong>in</strong>en notwendigen Grund - sagen wir, dass ich e<strong>in</strong>en Körper habe,<strong>der</strong> noch von e<strong>in</strong>em Herzschlag bewegt wird. Doch das ist nicht <strong>der</strong> zureichende Grund,<strong>der</strong> erklären kann, warum genau ich lebe (vorausgesetzt, das ist überhaupt möglich, wasaber Leibniz behauptet - ohne dass es notwendig faktisch se<strong>in</strong> muss, denn er sagt ja,dass wir <strong>die</strong> Gründe meistens nicht kennen). Solch e<strong>in</strong> zureichen<strong>der</strong> Grund könnte schonse<strong>in</strong>, dass man sagt, dass es da e<strong>in</strong> Mann und e<strong>in</strong>e Frau gab, <strong>die</strong> mich gezeugt haben(das kann man jetzt unendlich verfe<strong>in</strong>ern).Bei <strong>die</strong>sem Beispiel b<strong>in</strong> ich allerd<strong>in</strong>gs nun schon etwas vorgeprescht. Das zeigt <strong>der</strong>nächste Satz 33: „Es gibt auch zwei Arten von Wahrheiten, <strong>die</strong> des Vernunftgebrauchs und<strong>die</strong> <strong>der</strong> Tatsachen. Die Wahrheiten des Vernunftgebrauchs s<strong>in</strong>d notwendig und ihrGegenteil unmöglich.“ Das kann man auf den Satz des Wi<strong>der</strong>spruchs o<strong>der</strong> deszureichenden Grundes selbst beziehen. Was <strong>die</strong>se beiden großen Pr<strong>in</strong>zipien sagen, istnotwendig war. Dasselbe könnte man von Gottes Existenz sagen. Dass es Gott gibt, istnotwendig war, weil sich das Gegenteil nicht denken lässt. Denn nach Leibniz ist Gott dasens necessarium - erster und letzter Grund von Allem. Er muss existieren, weil sonst nochnicht e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> ewigen Wahrheiten existieren könnten, abgesehen von <strong>der</strong> Welt und d.h.den Monaden selbst. Dass <strong>der</strong> Satz für <strong>die</strong>se notwendigen Vernunftwahrheiten gilt, ist klar.81


Doch Leibniz geht noch weiter. Satz 36 heißt es: „Der zureichende Grund aber muß sichauch <strong>in</strong> den kont<strong>in</strong>genten und Tatsachenwahrheiten f<strong>in</strong>den, d.h. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge <strong>der</strong> imUniversum <strong>der</strong> Geschöpfe ausgebreiteten D<strong>in</strong>ge, wo <strong>die</strong> Rückführung auf beson<strong>der</strong>eGründe wegen <strong>der</strong> unermeßlichen Vielfalt <strong>der</strong> Naturd<strong>in</strong>ge und <strong>der</strong> Teilung <strong>der</strong> Körper <strong>in</strong>sUnendliche auf e<strong>in</strong>e endlose Vere<strong>in</strong>zelung h<strong>in</strong>auslaufen könnte. Es gibt ja e<strong>in</strong>eUnendlichkeit vergangener und gegenwärtiger Figuren und Bewegungen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong>Wirkursache me<strong>in</strong>er gegenwärtigen Schrift mit e<strong>in</strong>gehen, und es gibt e<strong>in</strong>e Unendlichkeitkle<strong>in</strong>er sowohl gegenwärtiger als auch vergangener Neigungen und Anlagen me<strong>in</strong>erSeele, <strong>die</strong> an <strong>der</strong> F<strong>in</strong>alursache Anteil haben.“ Das betrifft nun das Beispiel, das ich vorh<strong>in</strong>verwendete. Wir alle s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e notwendigen Vernunftwahrheiten, son<strong>der</strong>n kont<strong>in</strong>genteTatsachen. Es könnte auch se<strong>in</strong>, dass hier e<strong>in</strong> ganz an<strong>der</strong>er stünde o<strong>der</strong> überhaupt ke<strong>in</strong>er- genauso bei Ihnen. Wir s<strong>in</strong>d kont<strong>in</strong>gente Tatsachen, umso mehr alle D<strong>in</strong>ge, <strong>die</strong> unsumgeben.Nun sagt Leibniz, dass <strong>der</strong> Satz vom zureichenden Grund auch für <strong>die</strong>se kont<strong>in</strong>gentenTatsachen gilt. D.h. dass es für alles, was geschieht, e<strong>in</strong>en zureichenden Grund gibt.Leibniz nennt selbst e<strong>in</strong> Beispiel und zwar se<strong>in</strong> Werk, <strong>die</strong> Monadologie. Es gebe e<strong>in</strong>eUnendlichkeit vorangegangener Figuren und Bewegungen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wirkursache desWerkes e<strong>in</strong>gegangen s<strong>in</strong>d. Solche Figuren und Bewegungen könnten alles se<strong>in</strong>, sagenwir, e<strong>in</strong>e Mahlzeit, <strong>die</strong> Leibniz vor drei Jahren e<strong>in</strong>genommen hat, denn <strong>die</strong>se gehört zu denBewegungen, <strong>die</strong> zur Monadologie führten. Doch es gibt nicht nur <strong>die</strong>se zurückliegendenUrsachen, son<strong>der</strong>n es gibt e<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>alursache, an welcher e<strong>in</strong>e Unendlichkeit kle<strong>in</strong>ersowohl gegenwärtiger als auch vergangener Neigungen und Anlagen me<strong>in</strong>er Seele Anteilhaben. Also es gibt auch e<strong>in</strong>e Ursache, auf <strong>die</strong> alles h<strong>in</strong>ausläuft und <strong>die</strong> als solche schon<strong>in</strong> das, was geschieht und ergo auch geschah, e<strong>in</strong>greift. Ich sagte schon, dass Leibniznicht nur an <strong>die</strong> Schöpfung <strong>der</strong> Monaden denkt, son<strong>der</strong>n auch an ihre Vernichtung, d.h.mit an<strong>der</strong>en Worten, an das Ende <strong>der</strong> Welt. Auch <strong>die</strong>se F<strong>in</strong>alursache verursacht.Nun nennt Leibniz überraschen<strong>der</strong> Weise <strong>die</strong>se Tatsachenwahrheiten nachwievor„kont<strong>in</strong>gent“, d.h. zufällig. Wo ist aber noch <strong>der</strong> Zufall, wenn alles dem Satz deszureichenden Grunde unterliegt? Wir haben das schon bei Sp<strong>in</strong>oza kennengelernt, <strong>die</strong>sesProblem. Alles ist <strong>in</strong> (bei Sp<strong>in</strong>oza) von Ewigkeit bestimmten Kausalketten e<strong>in</strong>gefügt. DieKonsequenz ist das Ende <strong>der</strong> Kont<strong>in</strong>genz, und d.h. für Sp<strong>in</strong>oza auch das Ende des freienWillens. Freilich - das Ganze wirft e<strong>in</strong> spezifisches Licht auf das Phänomen des Zufalls -für Sp<strong>in</strong>oza lässt sich <strong>der</strong> nur dadurch erklären, dass wir zu allermeist eben nicht wissen,wie <strong>die</strong> Kausalketten verlaufen. So etwas Ähnliches sagt auch Leibniz. „Meistens“ s<strong>in</strong>d uns<strong>die</strong> Gründe nicht bekannt. So können wir eben me<strong>in</strong>en, es sei e<strong>in</strong> Zufall, dass ich existiere,<strong>in</strong> Wirklichkeit müsste sich das irgendwie erklären lassen (durch e<strong>in</strong>en Supercomputer).Doch an<strong>der</strong>s als Sp<strong>in</strong>oza will Leibniz nicht zur Sp<strong>in</strong>ozanischen Konsequenz kommen, erwill weiterh<strong>in</strong> an Kont<strong>in</strong>genz und Freiheit festhalten. Das versucht er mith<strong>in</strong> durch <strong>die</strong>82


Mathematik, was wenig überzeugt (<strong>die</strong> Freiheit mathematisch beweisen? Gödel?). Ichkann darauf jetzt aber nicht e<strong>in</strong>gehen, son<strong>der</strong>n muss noch zu an<strong>der</strong>en Gedanken <strong>der</strong>Monadologie weitergehen.Konzentrieren wir uns noch e<strong>in</strong> wenig weiter auf <strong>die</strong>ses eigentümliche Verhältnis vonVernunft und Tatsachen <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong> Monaden. Die Vernunft ist e<strong>in</strong>e Auszeichnung <strong>der</strong>Seele, durch sie unterscheidet sich <strong>die</strong> menschliche Seele von <strong>der</strong> tierischen, was aberjetzt nicht so wichtig ist. Ich will auf etwas an<strong>der</strong>es h<strong>in</strong>aus. Das Denken <strong>der</strong> Seele und <strong>der</strong>Verlauf <strong>der</strong> Tatsachen unterliegen demselben Pr<strong>in</strong>zip, s<strong>in</strong>d sie aber dadurch das Selbe.S<strong>in</strong>d Seele und Körper gleich? Wie verhält sich <strong>die</strong> Seele zur Körperwelt, wie verhält siesich zu ihrem eigenen (dem) Körper? Dieses Problem hatten wir schon <strong>in</strong> Bezug aufDescartes angesprochen, auch e<strong>in</strong> wenig bei Sp<strong>in</strong>oza. Die Seele ist bei Descartes rescogitans, e<strong>in</strong>e Substanz, <strong>die</strong> <strong>der</strong> res extensa gegenübersteht, im Menschen kommen sieirgendwie zusammen. Der Mensch denkt und hat e<strong>in</strong>en Körper. Wie geht das? Wiekönnen zwei Substanzen zusammenkommen? Bei Sp<strong>in</strong>oza, wie hatten das gesehen, s<strong>in</strong>dDenken und Ausdehnung Attribute <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Substanz. Das macht das Ganze nichte<strong>in</strong>facher. Dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Substanz e<strong>in</strong> Denken und e<strong>in</strong>e Ausdehnung ist, ist gut gesagt, aberwie ist es zu verstehen? Dieses Problem sieht auch Leibniz.Wir haben nun schon den Unterschied zwischen <strong>der</strong> Wirkursache und <strong>der</strong> F<strong>in</strong>alursachekennengelernt. Die Wirkursache, also <strong>die</strong> Kausalität im groben S<strong>in</strong>ne, gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong>Körperwelt. Leibniz will <strong>die</strong> Wirkursache nicht auf <strong>die</strong> Seele beziehen, obwohl ja auch sievom appetitus motivierte Perzeptionen hat. Die Seelen s<strong>in</strong>d deshalb nicht frei vom Satzvom Grund, ich hatte das ja schon gesagt. Vielmehr gelten für <strong>die</strong> Seele <strong>die</strong>F<strong>in</strong>alursachen. Die Seele will etwas und sucht sich für ihre Ziele Mittel. Damit ist freilichnoch nicht das Verhältnis von Körperwelt und Seelenwelt geklärt.Im Satz 78 heißt es daher: „Diese Pr<strong>in</strong>zipien haben es mir erlaubt, auf natürliche Weise<strong>die</strong> Vere<strong>in</strong>igung o<strong>der</strong> besser <strong>die</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung von Seele und organischem Körper zuerklären. Die Seele folgt ihren eigenen Gesetzen und <strong>der</strong> Körper den se<strong>in</strong>en und siestimmen übere<strong>in</strong> kraft <strong>der</strong> prästabilierten Harmonie (harmonie preétabli) zwischen allenSubstanzen, da sie alle Vorstellungen (representations) e<strong>in</strong>es und desselben Universumss<strong>in</strong>d.“ Da haben wir also <strong>die</strong>se stets falsch als „prästabilisierte Harmonie“ dargestellteewige Harmonie von Körper und Seelenwelt, <strong>der</strong>en Konsequenzen wir erst e<strong>in</strong>malverstehen müssen. Denn <strong>die</strong>se s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat gewaltig.Die Seele folgt ihren Gesetzen, <strong>die</strong> Körper den ihrigen, wobei <strong>die</strong>ses Folgen nicht dazuführt, dass hier e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruch entsteht. Es gibt e<strong>in</strong>e Parallelität o<strong>der</strong> eben e<strong>in</strong>eHarmonie, <strong>die</strong> dazu führt, dass alles <strong>in</strong>e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> spielt und passt. Nun heißt es aber nochweiter, das sei so, weil alles Vorstellungen e<strong>in</strong>es und desselben Universums s<strong>in</strong>d. Die83


E<strong>in</strong>heit, <strong>die</strong> alles übere<strong>in</strong>stimmen lässt, ist das Universum. Doch weshalb hat <strong>die</strong>sesUniversum Vorstellungen?Im Satz 47 heißt es: „Somit ist Gott alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> ursprüngliche E<strong>in</strong>heit o<strong>der</strong> <strong>die</strong> e<strong>in</strong>facheUrsubstanz, <strong>der</strong>en Erzeugungen <strong>die</strong> geschaffenen o<strong>der</strong> abgeleiteten Monaden s<strong>in</strong>d; undsie entstehen gleichsam durch kont<strong>in</strong>uierliches Aufleuchten <strong>der</strong> Gottheit von Augenblick zuAugenblick, begrenzt durch <strong>die</strong> Aufnahmefähigkeit des Geschöpfes, zu dessen Wesen esgehört, beschränkt zu se<strong>in</strong>.“ Das ist auch <strong>der</strong> Gott, den Leibniz denkt, e<strong>in</strong> „Gott <strong>der</strong>Philosophen“, wie man sagt, d.h. ke<strong>in</strong> Gott, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>em direkt <strong>in</strong> <strong>der</strong> persönlichsten und<strong>in</strong>timsten Erfahrung begegnet. Gott ist, ja man kann es nicht an<strong>der</strong>s sagen, <strong>die</strong> Urmonade,<strong>die</strong> Supermonade, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich alle an<strong>der</strong>en Monaden bef<strong>in</strong>den. Damit aber ist Gott alsUrmonade nichts an<strong>der</strong>es als das Universum selbst, <strong>in</strong> dem sich alles gemäß <strong>der</strong> von Gottetablierten Harmonie e<strong>in</strong>richtet. Damit ist schon gesagt, wer <strong>der</strong> Etablierer <strong>der</strong> Harmoniepreétabli ist. Das Universum hat Vorstellungen, Repräsentationen, weil Gott <strong>die</strong>se hat.Nun spricht aber Leibniz auch am Beg<strong>in</strong>n von Satz 78 von „zwei Pr<strong>in</strong>zipien“. Von denen istnoch nicht gesprochen worden. Dies zwei Pr<strong>in</strong>zipien s<strong>in</strong>d nun sehr <strong>in</strong>teressant. Sie habenetwas mit den theologischen Unterströmung zu tun, von <strong>der</strong> Leibnizens Denken dochm<strong>in</strong>destens mitbestimmt ist. Im Satz 79 hören wir: „Die Seelen s<strong>in</strong>d tätig, gemäß denGesetzen <strong>der</strong> F<strong>in</strong>alursachen durch Appetit, Zwecke und Mittel. Die Körper s<strong>in</strong>d tätiggemäß den Gesetzen <strong>der</strong> Wirkursachen o<strong>der</strong> Bewegungen.“ Das haben wir schon gehört.Diese Differenzierung von Wirkursachen und F<strong>in</strong>alursachen sche<strong>in</strong>t den Unterschiedzwischen den Vernunftwahrheiten und den Tatsachenwahrheiten zu wie<strong>der</strong>holen. Wirhörten, dass das große Pr<strong>in</strong>zip des Satzes vom zureichenden Grunde beide Wahrheitenbegründet. Nun aber geht es im Satz 79 weiter: „Und <strong>die</strong> beiden Reiche, das <strong>der</strong>Wirkursachen und das <strong>der</strong> F<strong>in</strong>alursachen, bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> Harmonie mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.“ Dieprästabilierte Harmonie im Universum führt dazu, dass es zunächst zwei „Reiche“ (deuxregnes) gibt, <strong>die</strong> selber sich <strong>in</strong> Harmonie mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> bef<strong>in</strong>den.Diese Redeweise mehr o<strong>der</strong> weniger am Ende <strong>der</strong> Monadologie könnte e<strong>in</strong> wenigbefremden, da ihr Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>e doch mehr o<strong>der</strong> weniger neutrale Theorie <strong>der</strong> Substanz (ichkommen gleich noch darauf zurück) darstellt. Jetzt am Ende spricht Leibniz plötzlich von„Reichen“. Doch ich hatte schon darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass bereits <strong>in</strong> Satz 6 <strong>die</strong>sestheologische Programm im Bezug auf <strong>die</strong> Schöpfung und Vernichtung <strong>der</strong> Monadenausgesprochen wird. Nun freilich wird das Ganze gesteigert und ganz offenbar.Die Monaden bilden auf <strong>der</strong> Grundlage <strong>der</strong> prästabilierten Harmonie e<strong>in</strong>enZusammenhang, <strong>der</strong> durch nichts erschüttert werden kann (das ist natürlich auch wichtigfür das Programm <strong>der</strong> Theodizee, <strong>die</strong> ja fragt, wie sich das Leid <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt mit <strong>der</strong>„Tatsache“ verb<strong>in</strong>den kann, dass Gott <strong>die</strong>se Welt geschaffen hat und regiert - wie ist das84


Böse möglich, wenn doch Gott notwendig gut ist). Diesen Zusammenhang zwischen denMonaden fasst Leibniz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bild, das zum ersten Mal <strong>in</strong> Satz 56 auftaucht. Dort sprichter davon, dass jede Monade „e<strong>in</strong> immerwähren<strong>der</strong> lebendiger Spiel des Universums ist“.Das me<strong>in</strong>t, dass <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Monade das ganz Universum angelegt ist, dass <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Monadesozusagen <strong>der</strong> Kontakt zum Universum da ist. Diese Vertiefung <strong>der</strong> prästabiliertenHarmonie - also: es gibt nicht nur e<strong>in</strong>e vore<strong>in</strong>gerichtete Harmonie zwischen den F<strong>in</strong>al- undWirkursachen - son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> den Monaden spiegelt sich all das wi<strong>der</strong> - führt dann zu e<strong>in</strong>ereigenartigen „Geme<strong>in</strong>schaft“. Im Satz 84 heißt es: „Das befähigt <strong>die</strong> Geister (Esprits), e<strong>in</strong>eArt Geme<strong>in</strong>schaft mit Gott e<strong>in</strong>zugehen (das Universum spiegelt sich <strong>in</strong> den Monaden, <strong>die</strong>ohneh<strong>in</strong> nichts an<strong>der</strong>es s<strong>in</strong>d als Vorstellungen Gottes), dessen Verhältnis zu ihnen nichtnur das e<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong><strong>der</strong>s zu se<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e ist (wie es für Gott <strong>in</strong> Bezug auf <strong>die</strong> an<strong>der</strong>enGeschöpfe gilt), son<strong>der</strong>n auch das e<strong>in</strong>es Fürsten (pr<strong>in</strong>ce) zu se<strong>in</strong>en Untertanen (sujets)und sogar das e<strong>in</strong>es Vaters zu se<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n.“ Gott ist <strong>der</strong> Fürst und <strong>der</strong> Vater, nicht nur<strong>der</strong> Schöpfer. Er regiert das Reich <strong>der</strong> Wirkungen und das <strong>der</strong> Zwecke. Diese beidenReiche werden im Satz 87 als <strong>die</strong> beiden natürlichen Reiche bezeichnet, <strong>die</strong> eben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ervollkommenen Harmonie sich bef<strong>in</strong>den. Da ließe sich fragen, warum denn das Reich <strong>der</strong>Zwecke e<strong>in</strong> natürliches Reich ist? Was hat das Reich <strong>der</strong> Zwecke mit <strong>der</strong> Natur zu tun?Nun - man müsste eigentlich sagen, dass sich <strong>die</strong>se Zwecke ja eigentlich nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong>Natur zeigen, bzw. dass sie <strong>in</strong> Wahrheit nicht dar<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d. Das hatte ja Sp<strong>in</strong>oza ausführlichgezeigt. In <strong>der</strong> Natur lassen sich ke<strong>in</strong>e Zwecke aufzeigen. Die Natur ist wie sie ist. Nundenkt Leibniz hier aber wie<strong>der</strong> theologisch. Demnach ist <strong>die</strong> Natur e<strong>in</strong> Geschöpf Gottes,das auf e<strong>in</strong>e riesige F<strong>in</strong>alursache, nämlich auf <strong>die</strong> Apokalypse zugeht. Wer nun <strong>die</strong> Naturals Schöpfung versteht, <strong>der</strong> muss natürlich davon ausgehen, dass es hier Zwecke unde<strong>in</strong>en Zweck gibt. Das ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat Leibnizens Ansicht.Nun aber - wie gesagt - sagt Leibniz, dass es nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur göttliche Zwecke undWirkursachen gibt, son<strong>der</strong>n es gebe noch e<strong>in</strong>e „an<strong>der</strong>e Harmonie“. Diese bestehe„zwischen dem physikalischen Reich <strong>der</strong> Natur und dem moralischen Reich <strong>der</strong> Gnade,d.h. zwischen Gott als dem Architekten <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>e des Universums und Gott als demMonarchen des göttlichen Staates <strong>der</strong> Geister“. Das ist e<strong>in</strong> Anzeichen des theologischenProgramms, das sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Monadologie entfaltet und das erst ganz am Ende <strong>die</strong>sesTextes immer klarer wird. Im Satz 90, dem letzten Satz des Ganzen, heißt es von <strong>der</strong>„Ordnung des Universums“, „dass sie alle Wünsche <strong>der</strong> Weisesten übersteigt und dass esunmöglich ist, sie besser zu machen, als sie ist, nicht nur h<strong>in</strong>sichtlich des Ganzen imallgeme<strong>in</strong>en, son<strong>der</strong>n auch für uns selbst im beson<strong>der</strong>en, wenn wir nur, wie es se<strong>in</strong> muß,dem Urheber von allem nicht nur als Architekt und als Wirkursache unseres Se<strong>in</strong>sverbunden s<strong>in</strong>d, son<strong>der</strong>n auch unserem Herrn und als F<strong>in</strong>alursache, <strong>der</strong> das ganz Zielunseres Willens ausmachen muß und alle<strong>in</strong> unser Glück bewirken kann“. Das ist <strong>der</strong>Schlusspunkt e<strong>in</strong>es metaphysischen Projekts, das eben auch als theologisches85


verstanden werden muss. Leibniz ist an <strong>die</strong>ser Stelle nicht nicht nur e<strong>in</strong> ZeitgenosseSp<strong>in</strong>ozas, son<strong>der</strong>n auch e<strong>in</strong>e Wie<strong>der</strong>aufnahme des Heiligen August<strong>in</strong>s.Die beiden Pr<strong>in</strong>zipien, von denen <strong>der</strong> Satz 78 spricht, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Wirkursacheund <strong>der</strong> F<strong>in</strong>alursache nicht nur im S<strong>in</strong>ne des Reiches <strong>der</strong> Natur, son<strong>der</strong>n auch desReiches <strong>der</strong> Gnade. Zuletzt gibt es demnach e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitliches Ziel des Ganzen, das <strong>in</strong> Gottselbst liegt, denn er ist <strong>die</strong> E<strong>in</strong>heit des Reiches <strong>der</strong> Gnade und des Reiches <strong>der</strong> Natur. Erist <strong>die</strong> Grundlage des Glücks <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt, <strong>die</strong> nach Leibniz <strong>die</strong> beste ist, weil Gott unterden möglichen Welten nicht an<strong>der</strong>s wählen kann als eben <strong>die</strong> beste. E<strong>in</strong>e seltsames Endee<strong>in</strong>er Abhandlung, <strong>die</strong> mit Überlegungen zur Monade angefangen hat.Heidegger hat behauptet, dass unser „tagtägliches“ Leben mit <strong>die</strong>sem neuzeitlichenDenken zusammenhängt, dass es darauf basiert. Was kann damit geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong>? Nun -nicht kann damit geme<strong>in</strong>t se<strong>in</strong>, was Leibniz <strong>in</strong> den letzten Sätzen <strong>der</strong> Monadologie sagt.Diese Sätze s<strong>in</strong>d von e<strong>in</strong>em christlichen Denken geprägt, das wir so gewiss nicht <strong>in</strong>unserem Alltag leben. Was er damit me<strong>in</strong>t, das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Bemerkungen zu denVernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten, zum Satz vom zureichenden Grund, nachwelchem wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat täglich damit umzugehen haben, dass alles e<strong>in</strong>en Grund, e<strong>in</strong>eUrsache hat und dass wir <strong>die</strong>sen Grund und <strong>die</strong>se Ursache auch anzugeben haben - jaund dass wir auch schlechth<strong>in</strong> me<strong>in</strong>en, alles habe wirklich e<strong>in</strong>en Grund. Selbst <strong>die</strong> Liebe,was wir womöglich noch als das Grundloseste und Abgründigste halten würden, wird<strong>in</strong>zwischen begründet o<strong>der</strong> kann als begründbar betrachtet werden. Wer sich <strong>in</strong> wenverliebt, das wird mittlerweile für begründbar gehalten. Denken Sie nur an e<strong>in</strong>e Soziologie<strong>der</strong> Liebe, wonach es wenig wahrsche<strong>in</strong>lich ist, dass sich Beyonce <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Bettler verliebto<strong>der</strong> e<strong>in</strong> junger Mann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e alte Frau. Indem wir so denken, liefern wir selbst e<strong>in</strong>ensolchen Bereich unseres Lebens dem Satz vom Grund aus. Dass etwas e<strong>in</strong>fach ist, weiles ist, das ist e<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>facher Gedanke.Schauen wir hier noch e<strong>in</strong>mal zurück auf den Beg<strong>in</strong>n des neuzeitlichen Denkens zurück.Wir haben jetzt mit Descartes, Hobbes, Sp<strong>in</strong>oza und Leibniz <strong>die</strong>sen Beg<strong>in</strong>n vor unserenAugen. Dabei wird bei näherem H<strong>in</strong>sehen klar, dass Descartes, Sp<strong>in</strong>oza und Leibniz e<strong>in</strong><strong>in</strong>nigeres Verhältnis zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> haben als Hobbes, <strong>der</strong> irgendwie etwas schräg <strong>in</strong> <strong>die</strong>serReihe steht. In <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht haben <strong>die</strong> Namen Descartes, Sp<strong>in</strong>oza und Leibniz auche<strong>in</strong>en Diskussionszusammenhang gebildet o<strong>der</strong> bilden ihn, mit dem wir überhaupt denBeg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> erfassen wollen. Es hat sich e<strong>in</strong>e Tradition <strong>der</strong> Deutung herausgestellt,wonach <strong>die</strong>se drei <strong>die</strong> Vorraussetzungen bilden e<strong>in</strong>es Denkens, das <strong>in</strong> <strong>der</strong><strong>Philosophie</strong>geschichte e<strong>in</strong>en gewissen Vorrang behauptet hat. Woran ließe sich <strong>die</strong>sespezifische Deutungstradition erkennen? Was könnte man als <strong>die</strong> zentrale Frage amphilosophischen Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> bezeichnen?86


Hegel schreibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Vorrede zur Phänomenologie des Geistes von 1807: „Es kömmtnach me<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>sicht, welche sich durch <strong>die</strong> Darstellung des Systems selbst rechtfertigenmuß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, son<strong>der</strong>n ebensosehr als Subjektaufzufassen und auszudrücken.“ Es geht um <strong>die</strong> Identität von Substanz und Subjekt. DieSubstanz ist das Subjekt, das Subjekt <strong>die</strong> Substanz. Bei Descartes ist <strong>die</strong> res cogitans dasSubjekt, das Subjekt <strong>die</strong> res cogitans. Bei Sp<strong>in</strong>oza ist <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Substanz das e<strong>in</strong>zig freieSubjekt, wobei <strong>die</strong>se Aussage mit Vorsicht zu genießen ist, weil man auch sagen könnte,dass es bei Sp<strong>in</strong>oza nur e<strong>in</strong>e Substanz gibt und das Subjekt <strong>in</strong> ihr verschw<strong>in</strong>det. BeiLeibniz ist <strong>die</strong> Monade <strong>die</strong> Substanz, das Subjekt wird aber monadisch gedacht, <strong>in</strong>sofernist <strong>die</strong> Substanz das Subjekt. Das ist noch nicht <strong>der</strong> Hegelsche Standpunkt, weil all <strong>die</strong>sedrei Philosophen nicht erkennen, was Hegel erkennt. Er, <strong>der</strong> Spätere, kann sehen, was <strong>die</strong>früheren gemacht haben, ohne dass sie es wussten. Hegel wird <strong>die</strong> Identität von Substanzund Subjekt im Geist dialektisch entfalten, d.h. er wird zeigen, <strong>in</strong>wiefern das Verhältnis vonSubstanz und Subjekt e<strong>in</strong> lebendiges ist.Hobbes steht, so sagte ich bereits, eigentümlich schräg <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Reihe, auch wenn eran<strong>der</strong>e D<strong>in</strong>ge mit den an<strong>der</strong>en dreien teilt, z.B. <strong>die</strong> Mathematik als <strong>die</strong> Meistermethode.Damit steht Hobbes jedoch für e<strong>in</strong>e ganze Gruppe von Denkern, <strong>die</strong>, würde man sie hierbetrachten, wohl e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Geschichte <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> ergeben würden. Philosophen, <strong>die</strong>sich z.B. wie Gassendi als Atomist und Materialist verstanden haben. Auch <strong>die</strong>seGeschichte wäre erzählbar, aber sie ist eben nicht so vorherrschend wie <strong>die</strong>se, <strong>die</strong> vonDescartes ausgehend <strong>die</strong> <strong>Neuzeit</strong> als e<strong>in</strong>e Entdeckung <strong>der</strong> Identität von Subjekt undSubstanz versteht.In <strong>der</strong> nächsten Woche werden wir uns dann mit e<strong>in</strong>em Philosophen beschäftigen, <strong>der</strong> <strong>in</strong><strong>der</strong> Tat <strong>die</strong>se Tradition zerbrechen will, <strong>der</strong> sich bewusst zu den erhabenen Geistern<strong>die</strong>ser Reihe von Philosophen nicht zählen lassen will. Es handelt sich um den Arzt JulienOffray de La Mettrie, <strong>der</strong> im Jahre 1748 e<strong>in</strong> Buch mit dem provokanten Titel „L‘hommemach<strong>in</strong>e“ veröffentlicht.87


9. VorlesungIch hatte ganz zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Vorlesung schon zu zeigen versucht, <strong>in</strong>wiefern <strong>der</strong> epochaleÜbergang vom Mittelalter mit e<strong>in</strong>er Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Welt zusammenhängt. Der christlicheGlaube, <strong>die</strong> Autorität des Mittelalters, gerät mehr und mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Krise mit demAufkommen neuer naturwissenschaftlicher Methoden aufgrund von technischenErf<strong>in</strong>dungen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e dem Mittelalter unbekannte Forschungshaltung ermöglichen. DieNatur ist jetzt nicht mehr e<strong>in</strong>fach ens creatum, e<strong>in</strong> Geschöpf Gottes, son<strong>der</strong>n schlechth<strong>in</strong>e<strong>in</strong> Bereich, <strong>in</strong> dem <strong>die</strong> Materie sich <strong>in</strong> vielerlei Formen präsentiert.Descartes me<strong>in</strong>te zwar, dass <strong>die</strong> Natur von e<strong>in</strong>er göttlichen creatio cont<strong>in</strong>ua im Se<strong>in</strong>gehalten wurde. Das war aber auch alles, was <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>sicht über <strong>die</strong> theologischeDimension <strong>der</strong> Natur zu sagen war. Die Mathematik und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>die</strong> Mechanik boten<strong>die</strong> Möglichkeit, sich <strong>der</strong> Natur zu bemächtigen. Der Mensch war „maitre et possesseur dela nature“, e<strong>in</strong> Gedanke, <strong>der</strong> freilich auf gewisse Weise durchaus mit e<strong>in</strong>er christlichenHaltung übere<strong>in</strong>stimmen kann.In <strong>der</strong> Mechanik bewegen sich <strong>die</strong> Körper alle nach den gleichen Gesetzen, überhauptwird <strong>die</strong> Struktur <strong>der</strong> Körper vere<strong>in</strong>heitlicht: <strong>der</strong> Körper, <strong>in</strong>sofern er sich bewegt, ist e<strong>in</strong>eMasch<strong>in</strong>e. „Ja, ebenso wie e<strong>in</strong>e aus Rä<strong>der</strong>n und Gewichten zusammengesetzte Uhr nichtweniger genau alle Naturgesetze beobachtete, wenn sie schlecht angefertigt ist und <strong>die</strong>Stunden nicht richtig anzeigt, als wenn sie <strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sicht dem Wunsch ihresKonstrukteurs genügt, so steht es auch mit dem menschlichen Körper, wenn ich ihn alse<strong>in</strong>e Art von Masch<strong>in</strong>e betrachte, <strong>die</strong> aus Knochen, Nerven, Muskeln, A<strong>der</strong>n, Blut undHaut so e<strong>in</strong>gerichtet und zusammengesetzt ist.“, Meditatio VI) Die Bildung und Übernahmedes Begriffs <strong>in</strong> <strong>die</strong> Naturerklärung, mith<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Anwendung auf den menschlichen undtierischen Körper ist <strong>in</strong>teressant. Denn es ist deutlich, dass <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>evorher auf mechanische Apparaturen angewendet wurde, so z.B. auf <strong>die</strong> Taschenuhr, <strong>die</strong>erst 1510 <strong>in</strong> Nürnberg erfunden worden ist. Wenn also Descartes und nicht nur er immerwie<strong>der</strong> auf das Rä<strong>der</strong>werk <strong>der</strong> Uhr zu sprechen kommen, wenn sie <strong>die</strong> natürliche Weltbeschreiben (im Großen und Kle<strong>in</strong>en), dann hat das se<strong>in</strong>en Grund <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong>Technik.Bleiben wir noch e<strong>in</strong> wenig bei Descartes, mit dem wir ja im Wesentlichen unsere<strong>E<strong>in</strong>führung</strong> begonnen haben.In den „Meditationes de prima philosophia“, <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweitenMeditation, kommt Descartes auf <strong>die</strong> Frage zu sprechen, wer denn „ich“ sei. Dabei gehtihm zunächst auf, dass „ich e<strong>in</strong> Gesicht, Hände, Arme, und <strong>die</strong>se ganze Masch<strong>in</strong>e vonGlie<strong>der</strong>n habe, <strong>die</strong> man auch an e<strong>in</strong>er Leiche wahrnimmt und <strong>die</strong> ich als Körper (corpus)bezeichnete“. Auffällig an <strong>die</strong>ser Beschreibung ist, dass <strong>der</strong> Körper mit e<strong>in</strong>er Leicheverglichen wird. Es sche<strong>in</strong>t für Descartes zwischen e<strong>in</strong>em lebenden und e<strong>in</strong>em toten88


Körper ke<strong>in</strong>en Unterschied zu geben. Das führt uns zunächst auf <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong>Bewegung (denn dar<strong>in</strong> unterscheidet sich leben<strong>der</strong> Körper und Leiche). Für Descartesentspr<strong>in</strong>gt Bewegung immer e<strong>in</strong>em Anstoß von Köper zu Körper, <strong>der</strong> sich dannweiterbewegt, bis er an e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Körper, <strong>die</strong>sem Bewegung mitteilend, zur Ruhekommt. Allerd<strong>in</strong>gs kennt natürlich Descartes auch den Unterschied zwischen Körpern, <strong>die</strong>sich selbst bewegen und solchen, <strong>die</strong> das nicht vermögen (z.B. Leichen). DieSelbstbewegung aber gehört freilich nicht zur res extensa. So heißt es: „Denn ich nahman, daß <strong>die</strong> Fähigkeit, sich selbst zu bewegen, ebenso wie <strong>die</strong> zu empf<strong>in</strong>den o<strong>der</strong> zudenken ke<strong>in</strong>eswegs zur Natur des Körpers gehöre, vielmehr wun<strong>der</strong>te ich mich eherdarüber, daß sich solche Fähigkeiten <strong>in</strong> manchen Körpern vorf<strong>in</strong>den.“ Das Problem, vordem Descartes stand und vor dem gleichsam <strong>die</strong> ganze <strong>Philosophie</strong> nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong><strong>Neuzeit</strong>, son<strong>der</strong>n seit <strong>der</strong> Antike stand, war es, zu erklären, wie sich e<strong>in</strong> Seiendes, dassich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e übers<strong>in</strong>nliche und e<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>nliche Hälfte spaltet (polemisch gesagt), zu e<strong>in</strong>emGanzen zusammenfügt. Wie hängen Seele und Körper zusammen?Das ist ke<strong>in</strong> nebensächliches Problem, son<strong>der</strong>n es führt direkt <strong>in</strong> das Zentrum e<strong>in</strong>esDenkens, das sich als Metaphysik versteht, das also gleichsam immer schon davonausgeht, dass es e<strong>in</strong>en übers<strong>in</strong>nlichen Bereich des Denkens, des Geistes, <strong>der</strong> Idee, wieauch immer, gibt, und e<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>nlichen Bereich <strong>der</strong> Natur, <strong>der</strong> Materie, <strong>der</strong> Körper etc. Daswar seit Platon e<strong>in</strong>e selbstverständliche Voraussetzung <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> - selbst wennschon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Antike Positionen zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> mehr o<strong>der</strong> weniger <strong>die</strong>se Spaltungbezweifeln (Demokrit und Epikur - Atomismus). Und auch noch heute geht <strong>die</strong> Diskussiondarüber, wie wir uns zu <strong>die</strong>ser Auffassung <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> als Metaphysik verhalten.Freilich stehen wir nicht mehr <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong>, freilich haben wir <strong>die</strong> Sicherheit e<strong>in</strong>esDescartes o<strong>der</strong> Leibniz verloren, doch <strong>der</strong> Verlust <strong>die</strong>ser Sicherheit - <strong>der</strong> beg<strong>in</strong>nt bereits imGefolge <strong>die</strong>ser beiden Philosophen.Wir stehen vor dem Problem, wie zwei Substanzen, <strong>die</strong> sich ausschließen (Substanzenschließen sich als Substanzen aus), e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit bilden können. Wie können wir <strong>die</strong>senproblematischen Dualismus überw<strong>in</strong>den? E<strong>in</strong> Philosoph reagiert beson<strong>der</strong>s radikal auf ihn.Es handelt sich um Julien Offray de la Mettrie, <strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er 1747 anonym erschienenSchrift „L‘homme mach<strong>in</strong>e“ e<strong>in</strong> Angebot macht, wie das cartesianische Problem desmetaphysischen Dualismus zu überw<strong>in</strong>den sei.E<strong>in</strong>iges zur Biographie <strong>die</strong>ses m.E. sehr <strong>in</strong>teressanten Mannes. Er wurde 1709 geboren <strong>in</strong>St. Malo, stu<strong>die</strong>rte Mediz<strong>in</strong> und wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong> wichtiger Mediz<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er Zeit.Allerd<strong>in</strong>gs legte er sich mit <strong>der</strong> Kirche an, als er 1745 <strong>die</strong> „Histoire naturelle de l‘âme“publizierte. Die Schrift wurde als ketzerisch gebrandmarkt. Ketzerisch betrachtet wurdeauch se<strong>in</strong> Traktat „La volupté“ und dann, vor allem, 1748, se<strong>in</strong> „Discours sur le bonheur“,<strong>in</strong> dem er e<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong> Unnatürlichkeit von Scham und Schuld entwickelte. Zu <strong>die</strong>sem89


Zeitpunkt befand er sich bereits im Exil bei Friedrich II. bzw. dem Großen. Selbst <strong>die</strong>semaufgeklärten Herrscher war <strong>die</strong>se letzte Schrift zu kritisch. Er konfiszierte <strong>die</strong> Bücher un<strong>der</strong>klärte La Mettrie für unzurechnungsfähig. 1751 dann, am Hofe Friedrichs, starb LaMettrie, wie man sagt, an zuviel Trüffelpastete (nicht „Leberpastete“), was im gebildeten(aufgeklärten) Europa mit Hohn und Spott zur Kenntnis genommen wurde. Doch es istnatürlich nicht klar, ob es wirklich <strong>die</strong> Trüffelpastete war, bzw. ob es das Zuviel war. Beie<strong>in</strong>em solchen Tod s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Verdächtigungen, es handele sich um e<strong>in</strong>en Giftmord, nur e<strong>in</strong>eselbstverständliche Folge.„L‘homme mach<strong>in</strong>e“ - <strong>der</strong> Titel des Hauptwerks von La Mettrie verweist also - wie wirgesehen haben - auf Descartes. Und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat geht La Mettrie von <strong>die</strong>sem Philosophenaus, arbeitet sich an ihm ab, wenn auch bestimmte Probleme Descartes‘ nicht mehr se<strong>in</strong>es<strong>in</strong>d. „E<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>igung zwischen dem kartesischen und dem englischen Materialismusf<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> den Schriften Lamettries. Er benutzt <strong>die</strong> Physik des Descartes bis <strong>in</strong>sE<strong>in</strong>zelne. Se<strong>in</strong> ,l‘homme mach<strong>in</strong>e‘ ist e<strong>in</strong>e Ausführung nach dem Muster <strong>der</strong> Tier-Masch<strong>in</strong>edes Descartes.“, sagt auch e<strong>in</strong> gewisser Karl Marx. Über Descartes schreibt La Mettrieselbst am Schluss des Buches: „Ich glaube, Descartes wäre e<strong>in</strong> <strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sichtachtungswürdiger Mann, wenn er - geboren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahrhun<strong>der</strong>t, das er nicht hätteaufklären müssen - den Wert von Erfahrung und Beobachtung erkannt hätte, sowie <strong>die</strong>Gefahr, sich von ihnen zu entfernen. Aber es ist nicht mehr als gerecht, wenn ich hier<strong>die</strong>sem großen Mann e<strong>in</strong>e aufrichtige Genugtuung zuteil werden lasse gegenüber alljenen kle<strong>in</strong>en Philosophen, Witzbolden und schlechten Epigonen von Locke, <strong>die</strong>, stattDescartes unverschämt <strong>in</strong>s Gesicht zu lachen, besser daran täten e<strong>in</strong>zusehen, daß ohneihn das Feld <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> ebenso brachläge wie das <strong>der</strong> Wissenschaft ohneNewton.“ (123) Das ist e<strong>in</strong>e schöne Liebeserklärung. Doch La Mettrie me<strong>in</strong>t offenbar, dassDescartes bei <strong>der</strong> Differenzierung <strong>der</strong> res extensa von <strong>der</strong> res cogitans e<strong>in</strong>en „Kunstgriff,e<strong>in</strong>e stilistische List, um <strong>die</strong> Theologen e<strong>in</strong> Gift schlucken zu lassen, das unter e<strong>in</strong>erdunklen Analogie verborgen ist, <strong>die</strong> jedem auffällt und nur sie nicht sehen“, angewendethätte. Danach wäre dann allerd<strong>in</strong>gs das ganze Fundament <strong>der</strong> Cartesischen <strong>Philosophie</strong>e<strong>in</strong> Täuschungsmanöver. Obwohl es solche Manöver damals <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> gab, dennman hatte ja noch Galilei <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung, sche<strong>in</strong>t mir das doch etwas zu weit zu gehen.Kommen wir zunächst auf <strong>die</strong> Methode des Arztes zurück. Er sagte ja schon, dassDescartes „den Wert von Erfahrung und Beobachtung“ nicht gekannt habe - e<strong>in</strong> sehrwichtiger Gedanke, wie wir bald sehen werden. In <strong>der</strong> Tat heißt es <strong>in</strong> „L‘homme mach<strong>in</strong>e“:„Nur <strong>die</strong> Erfahrung und <strong>die</strong> Beobachtung dürfen uns also hier leiten. Sie f<strong>in</strong>den sichzahllos <strong>in</strong> den Annalen <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>er, <strong>die</strong> Philosophen gewesen s<strong>in</strong>d, und nicht bei denPhilosophen, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>e Mediz<strong>in</strong>er gewesen s<strong>in</strong>d.“ (27) Das ist e<strong>in</strong>e wichtige Vorklärung.Der Arzt La Mettrie argumentiert als Arzt, <strong>der</strong> sich ausschließlich empirisch se<strong>in</strong>em90


Gegenstand nähern will. Das ist freilich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Methode als <strong>die</strong> Descartes‘ undSp<strong>in</strong>ozas, d.h. als <strong>der</strong> mos geometricus.Die wichtige Def<strong>in</strong>ition am Anfang des Werks lautet: „Der Mensch ist e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e,<strong>der</strong>artig zusammengesetzt, daß es unmöglich ist, sich anfangs von ihr e<strong>in</strong>e klareVorstellung zu machen und folglich sie genau zu bestimmen.“ Später dann: „Dermenschliche Körper ist e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e, <strong>die</strong> selbst ihre Triebfe<strong>der</strong>n aufzieht.“ (35) Dasme<strong>in</strong>t, dass eben nur e<strong>in</strong>e längere Erforschung <strong>die</strong>se Masch<strong>in</strong>e erkunden kann.Bestimmungen jeglicher Art, <strong>die</strong> a priori gemacht werden, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>ser Masch<strong>in</strong>e nichtangemessen.In <strong>der</strong> Vorbemerkung zur Schrift hatte La Mettrie schon Folgendes angekündigt: „DieSachkundigen werden mit Leichtigkeit erkennen, daß immer nur dann Schwierigkeitenauftauchen, wenn man <strong>die</strong> Vere<strong>in</strong>igung <strong>der</strong> Seele mit dem Körper erklären will.“ (5) Das istunmittelbar e<strong>in</strong>e Bezugnahme auf Descartes, mittelbar e<strong>in</strong> Blick auf <strong>die</strong> ganze Geschichte<strong>der</strong> Metaphysik. Wenn La Mettrie den F<strong>in</strong>ger <strong>in</strong> <strong>die</strong> Wunde des Leib-Seele-Dualismussteckt, dann heißt das an <strong>die</strong>ser Stelle <strong>der</strong> Überlegung ke<strong>in</strong>eswegs, dass er ihn e<strong>in</strong>fachgrob zerstört. Vielmehr verweist er auf Phänomene wie: „Bei Krankheiten verf<strong>in</strong>stert sich<strong>die</strong> Seele bald und gibt ke<strong>in</strong> Lebenszeichen von sich; bald könnte man sagen, sie seidoppelt, so sehr reißt <strong>die</strong> Erregung sie fort; bald verliert sich <strong>die</strong> Dummheit: und <strong>die</strong>Genesung macht aus e<strong>in</strong>em Tölpel e<strong>in</strong>en Mann von Geist. Bald wird <strong>der</strong> größte Geistschwachs<strong>in</strong>nig und erkennt sich nicht mehr. Vorbei mit all <strong>die</strong>sen schönen Kenntnissen,<strong>die</strong> unter so hohen Kosten und mit so viel Mühe erworben worden s<strong>in</strong>d!“ (29) Vielleichtkann man nicht so denken, dass wir ke<strong>in</strong>en Platon hätten, wenn dem 7jährigen Junge <strong>in</strong>Athen e<strong>in</strong> Ziegelste<strong>in</strong> auf den Kopf gefallen wäre. Was aber klar ist, das ist <strong>die</strong>Abhängigkeit <strong>der</strong> Seele von <strong>der</strong> Verfassung des Körpers. La Mettrie nennt auch das„Opium“ (33), das offenbar durch den Körper <strong>die</strong> Verfassung <strong>der</strong> Seele bee<strong>in</strong>flusst. LaMettrie macht das sehr ausführlich und vielleicht zu ausführlich. E<strong>in</strong>e Stelle wie: „Zuwelchen Ausschweifungen kann uns <strong>der</strong> grausame Hunger treiben! Ke<strong>in</strong>e Achtung mehrvor den E<strong>in</strong>geweiden <strong>der</strong>er, denen man se<strong>in</strong> Leben verdankt o<strong>der</strong> denen man es gegebenhat; man zerreißt sie gierig, man bereitet sich darauf abscheuliche Festmahle; und <strong>in</strong> <strong>der</strong>Raserei, von <strong>der</strong> man h<strong>in</strong>gerissen wird, ist <strong>der</strong> Schwächere immer <strong>die</strong> Beute desStärkeren.“ (37) ist wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>der</strong> Situation geschuldet.Er er<strong>in</strong>nert an historische Fälledes Kannibalismus, um Wirkungsweisen des Körpers zu beschreiben.Es ist also nicht so, dass La Mettrie sogleich das K<strong>in</strong>d mit dem Bade ausschüttet. Aber<strong>in</strong>dem er immer mehr Beispiele br<strong>in</strong>gt, von denen aus es klar wird, dass <strong>die</strong> Seele nichtsan<strong>der</strong>es se<strong>in</strong> könne als e<strong>in</strong>e Wirkung e<strong>in</strong>er bestimmten Region des Körpers, heißt es: „Daaber alle Fähigkeiten <strong>der</strong> Seele so sehr von dem eigentümlichen Bau des Gehirns und desganzen Körpers abhängen, daß sie offensichtlich nur <strong>die</strong>ser organische Bau selbst s<strong>in</strong>d,91


so haben wir es mit e<strong>in</strong>er gut ,erleuchteten‘ Masch<strong>in</strong>e zu tun!“ (95) O<strong>der</strong> noch deutlicher:„Die Seele ist also nur e<strong>in</strong> leerer Begriff, von dem man ke<strong>in</strong>erlei Vorstellung hat und dene<strong>in</strong> kluger Kopf nur gebrauchen darf, um den Teil zu bezeichnen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> uns denkt.“ (97)D.h. <strong>die</strong> Seele ist im Grunde das Gehirn. Das macht den Aufschrei <strong>der</strong> Zeitgenossenverständlich. Heute belegt es <strong>die</strong> nüchterne Mo<strong>der</strong>nität von La Mettrie.Denn für <strong>die</strong>ses Herausstellen des Gehirns sprechen eben nach La Mettrie vieleBeobachtungen <strong>der</strong> „vergleichenden Anatomie“, wie er sagt, wobei natürlich klar ist, dass<strong>die</strong> Erforschung des Gehirnes zu La Mettries Zeit noch nicht e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>schuhensteckte. Das aber gibt er selbst an: <strong>die</strong> „Natur des Gehirns sei uns unbekannt“ (61), d.h.dass <strong>die</strong> „vergleichende Anatomie“ noch nicht fortgeschritten war. La Mettrie kanneigentlich nur drei Beobachtungen nennen, aus denen man Schlüsse ziehen kann: „1. Jewil<strong>der</strong> <strong>die</strong> Tiere s<strong>in</strong>d, desto weniger Gehirn haben sie. 2. Dieses <strong>in</strong>nere Organ sche<strong>in</strong>t sichgewissermaßen im Verhältnis zu ihrer Gelehrigkeit zu vergrößern. 3. Es besteht hier e<strong>in</strong>ee<strong>in</strong>zigartige - von <strong>der</strong> Natur für ewig auferlegte - Bed<strong>in</strong>gung, <strong>die</strong> dar<strong>in</strong> besteht, daß ja mehrman an Geist gew<strong>in</strong>nt, man desto mehr an Inst<strong>in</strong>kt verliert.“ (45)In <strong>die</strong>sen Beobachtungen stecken Folgerungen, <strong>die</strong> wie<strong>der</strong>um zur Zeit von La Mettrie mitEmpörung haben aufgenommen werden müssen. Wo <strong>der</strong> Arzt <strong>die</strong> Gehirne von Menschenund Tieren vergleicht, muss er darauf stoßen, dass <strong>die</strong> Gehirne <strong>der</strong> Primaten denen desMenschen am Meisten ähneln. Das sieht La Mettrie natürlich und ist auch sofort bereit,den Menschenaffen gleichsam e<strong>in</strong>en humanen Status e<strong>in</strong>zuräumen. So wie manTaubgeborenen <strong>die</strong> Sprache beibr<strong>in</strong>gen könne, so müsse das auch bei Primaten möglichse<strong>in</strong> (49). Er drückt sich sogar vorsichtiger aus: „<strong>die</strong>se absolute Unmöglichkeit würde michüberraschen aufgrund <strong>der</strong> großen Analogie zwischen dem Affen und dem Menschen“. Daswie<strong>der</strong>um berührt das Verhältnis von Mensch und Tier im Allgeme<strong>in</strong>en. La Mettrie istdavon überzeugt, dass <strong>der</strong> „Übergang von den Tieren zum Menschen ke<strong>in</strong>gewaltsamer“ (53) war. Jedenfalls s<strong>in</strong>d Menschen und Tiere nach ihm „aus demselbenStoff gebildet“ (79). Kündigt sich hier Darw<strong>in</strong> an? Solche Überlegungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Grenzenzwischen dem Tier und dem Menschen flüssig machten, musste zur damaligen Zeit nichtnur den Klerus brüskieren.Mit <strong>der</strong> <strong>Neuzeit</strong> kommt eben aufgrund jenes theoretisch strittigen starken cartesianischenDualismus <strong>die</strong> Frage auf, ob nicht das Denken - wie alles an<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur - e<strong>in</strong>materielles Geschehen ist? Tiere denken irgendwie offenbar auch (nicht nach Descartes,aber nach Leibniz - auch wenn sie ke<strong>in</strong>e Vernunft haben!). Woher kommt <strong>die</strong>seseigentümliche Phänomen? La Mettrie hat e<strong>in</strong>e Antwort: „Durch <strong>die</strong>se Reihe vonBeobachtungen und Wahrheiten gel<strong>in</strong>gt es, mit <strong>der</strong> Materie <strong>die</strong> bewun<strong>der</strong>nswerteEigenschaft des Denkens zu verknüpfen, ohne daß man ihre Verb<strong>in</strong>dungen sehen könnte,denn <strong>der</strong> Träger <strong>die</strong>ser Eigenschaft ist uns se<strong>in</strong>em Wesen nach unbekannt.“ (135) Es gibt92


demnach <strong>in</strong> <strong>der</strong> Materie das Denken, ohne allerd<strong>in</strong>gs dass La Mettrie schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lagewäre, zu sagen, wie das möglich se<strong>in</strong> könnte. Was er allerd<strong>in</strong>gs bei <strong>der</strong> Beantwortung <strong>der</strong>Frage, wie das Denken genau aus <strong>der</strong> Materie stammen könnte, entschieden ausschließt,das ist <strong>die</strong> Hilfe e<strong>in</strong>er übers<strong>in</strong>nlichen Instanz.Der Geisteshaltung La Mettries gemäß hat er ebensowenig im S<strong>in</strong>n, sich anirgendwelchen Spekulationen über das Immaterielle wie auch über <strong>die</strong> Materie selbst zubeteiligen, obwohl er sich selbst als „Materialisten“ (137) kennzeichnet. „Im übrigen“, sagter, sei es „für unsere Ruhe gleichgültig, ob <strong>die</strong> Materie ewig o<strong>der</strong> ob sie geschaffenworden“ sei, „ob es e<strong>in</strong>en Gott gibt o<strong>der</strong> ke<strong>in</strong>en gibt“. Und er fügt h<strong>in</strong>zu: „WelcheVerrücktheit, sich damit abzuquälen, was man unmöglich erkennen kann und was unsnicht glücklicher machen würde, würden wir es bewerkstelligen.“ (87) Damit kommt etwas<strong>in</strong>s Spiel, das nun <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> immer mehr auszeichnen wird. Der Status <strong>der</strong>Metaphysik selbst gerät <strong>in</strong> den Blick. Soll und kann <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> überhaupt Metaphysikse<strong>in</strong>, wenn sie notwendig mit unbeantwortbaren Fragen zusammenhängt? Wir werden dasgleich noch bei David Hume sehen.Der mo<strong>der</strong>ne Materialismus fragt nicht mehr nach e<strong>in</strong>er Materia prima, er fragt auch nichtmehr nach dem Unterschied zwischen materia und forma, er glaubt auch erst Recht nichtmehr an Formen, <strong>die</strong> unabhängig von <strong>der</strong> Materie bestehen. Alles ist Materie <strong>in</strong> demS<strong>in</strong>ne, dass alles Natur ist o<strong>der</strong> besser, dass <strong>die</strong> Natur e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit bildet, <strong>in</strong> <strong>der</strong> es ke<strong>in</strong>enRaum für das Übernatürliche gibt.Der Angriff auf das metaphysische Fragen als solches macht aus La Mettrie ke<strong>in</strong>eswegse<strong>in</strong>en Unmenschen, <strong>der</strong> womöglich <strong>die</strong> re<strong>in</strong>e Wollust zum Pr<strong>in</strong>zip des Lebens erklärenwürde. Das ist e<strong>in</strong> typisches Zerrbild des Anti-Metaphysikers bis heute. An e<strong>in</strong>er Stelleheißt es: „Da schließlich <strong>der</strong> Materialist (also er selbst) - was immer ihm se<strong>in</strong>e eigeneEitelkeit e<strong>in</strong>flüstert - überzeugt ist, daß er nur e<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Tier ist, wird erse<strong>in</strong>esgleichen bestimmt nicht schlecht behandeln; denn über <strong>die</strong> Natur <strong>die</strong>serHandlungen ist er zu gut unterrichtet und, dem Naturgesetz folgend, das allen Lebewesengegeben ist, will er - kurz gesagt - ke<strong>in</strong>em das antun, was er nicht will, daß man es ihmantut.“ (137) Das ist <strong>die</strong> regula aurea, <strong>die</strong> goldene Regel, <strong>die</strong> es <strong>in</strong> be<strong>in</strong>ahe allen Kulturengibt. Sie ist <strong>der</strong> Grund je<strong>der</strong> Ethik. Kant hat sie natürlich enorm übertroffen mit se<strong>in</strong>emKategorischen Imperativ.Die Stimmung <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong> La Mettries ist jedenfalls heiter, ich würde sagen,epikuräisch heiter. Diesbezüglich kann man mit <strong>die</strong>sem Zitat enden: „Ne<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Materie hatnur <strong>in</strong> den geme<strong>in</strong>en Augen jener etwas Verächtliches, <strong>die</strong> sie <strong>in</strong> ihren glänzendstenWerken verkennen; und <strong>die</strong> Natur ist ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>e beschränkte Werkmeister<strong>in</strong>. Siebr<strong>in</strong>gt Millionen von Menschen mit mehr Leichtigkeit und Freude hervor, als es e<strong>in</strong>em93


Uhrmacher Mühe kostet, <strong>die</strong> komplizierteste Uhr zu machen. Ihr Vermögen kommtgleichermaßen sowohl bei <strong>der</strong> Erzeugung des niedrigsten Insekts als auch bei <strong>der</strong> desansehnlichsten Menschen an den Tag; das Tierreich kostet sie nicht mehr Mühe als dasPflanzenreich, das größte Genie nicht mehr als e<strong>in</strong>e Getreide-Ähre.“ (133) Noch e<strong>in</strong>malbestätigt La Mettrie den mechanischen Charakter <strong>der</strong> Natur. Allerd<strong>in</strong>gs ist es vielleichtwahr, auf <strong>die</strong> ungeheuerliche Mannigfaltigkeit <strong>der</strong> Formen h<strong>in</strong>zuweisen, welche <strong>die</strong> Naturhervorzubr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage ist. Und dass <strong>die</strong> Natur wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat ke<strong>in</strong>enUnterschied macht zwischen e<strong>in</strong>em wun<strong>der</strong>lichen bunten Käfer und e<strong>in</strong>em Genie.An e<strong>in</strong>er Stelle spricht La Mettrie von den „Médéc<strong>in</strong>s éclairés“ (122), von den aufgeklärtenÄrzten also. Und so würde ich abschließend behaupten, dass La Mettrie e<strong>in</strong> Aufklärer ist,dass es ihm wirklich darum g<strong>in</strong>g, mündig selbst zu denken und sich nicht von denautoritativen Ideen <strong>der</strong> Metaphysiker und vor allem <strong>der</strong> Kirche bevormunden zu lassen.Vielleicht hat er es sich da o<strong>der</strong> dort etwas leicht gemacht. Sich so wesentlich auf dasGehirn zu berufen, aber ständig zu betonen, man weiß noch nichts darüber, ist zwaraufrichtig, aber nicht ganz unproblematisch. Zwar wird das Gehirn dadurch nicht gleichzum Gott <strong>der</strong> Metaphysiker, aber es kommt ihm nahe. Immerh<strong>in</strong> können wir sagen, dass,wissenschaftshistorisch gesehen, La Mettrie ansche<strong>in</strong>end <strong>in</strong>s Schwarze getroffen hat.La Mettrie ist e<strong>in</strong> Früh-Aufklärer. Doch zur Aufklärung gehört eben auch e<strong>in</strong> kritischesBewusstse<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> kritisches Bewusstse<strong>in</strong> vor allem auch gegen <strong>die</strong> Überlieferung <strong>der</strong>Tradition. Diese Tradition ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mitte des 18. Jahrhun<strong>der</strong>ts das Denken <strong>der</strong>Metaphysik. Sie gerät also immer mehr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Blick, <strong>der</strong> sich mit den alten Lösungeno<strong>der</strong> Nichtlösungen <strong>der</strong> Probleme nicht mehr zufriedenstellt. Das lässt sich auch an e<strong>in</strong>emBuch zeigen, das nur e<strong>in</strong> Jahr später als <strong>der</strong> „L‘homme mach<strong>in</strong>e“ erschienen ist. Eshandelt sich um David Humes „An enquiry concern<strong>in</strong>g human un<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g“, das 1748veröffentlicht wurde. La Mettrie und Hume - sie können m.E. durchaus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>enhistorischen Zusammenhang gebracht werden.David Hume wurde 1711 <strong>in</strong> Ed<strong>in</strong>burgh geboren und starb genau da 1776. Er ist e<strong>in</strong>Zeitgenosse Rousseaus, <strong>der</strong> 1712 geboren wurde und 1778 starb. Mit Rousseau gab esauch e<strong>in</strong>e biographisch Berührung, <strong>die</strong> uns aber hier nicht <strong>in</strong>teressieren soll. Über HumesLeben braucht nicht viel gesagt zu werden. Ihm blieb e<strong>in</strong>e Universitätskarriere verwehrt,selbst wenn er - vor allem im Alter - e<strong>in</strong> immer e<strong>in</strong>flussreicherer Philosoph war. Nicht nur<strong>die</strong> „Untersuchung über den menschlichen Verstand“ ist wichtig, son<strong>der</strong>n auch „An enquiryconcern<strong>in</strong>g the pr<strong>in</strong>ciples of morals“ von 1751 und <strong>die</strong> posthum erschienenen „Dialoguesconcern<strong>in</strong>g natural religion“.Es ist bekannt, auf wen nun Hume vor allem e<strong>in</strong>en großen E<strong>in</strong>fluss ausübte: „Ich gestehefrei: <strong>die</strong> Er<strong>in</strong>nerung David Humes war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst94


den dogmatischen Schlummer unterbrach und me<strong>in</strong>en Untersuchungen im Felde <strong>der</strong>spekulativen <strong>Philosophie</strong> e<strong>in</strong>e ganz an<strong>der</strong>e Richtung gab.“, schreibt ke<strong>in</strong> Ger<strong>in</strong>gerer alsImmanuel Kant <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorrede zu den „Prolegomena“ (1783). Der „dogmatischeSchlummer“, das ist <strong>der</strong> leichte Schlaf, <strong>in</strong> dem sich Kant vor <strong>der</strong> „Kritik <strong>der</strong> re<strong>in</strong>en Vernunft“befand, <strong>in</strong> dem er alles Lehrhafte, was <strong>die</strong> Tradition <strong>der</strong> Metaphysik so mit sich führte,unbefragt - unkritisch - anerkannte. Hume war es, <strong>der</strong> das än<strong>der</strong>te. Freilich hätte erÄhnliches auch über La Mettrie gesagt haben können; ähnliches, nicht dasselbe, weil <strong>in</strong><strong>der</strong> Tat Hume hier breiter aufgestellt ist - wie wir sagen - als La Mettrie.Ich beziehe mich - wie gesagt - e<strong>in</strong>zig und alle<strong>in</strong> auf <strong>die</strong> „Untersuchung über denmenschlichen Verstand“. Was vorher schon häufiger betont wurde, dass <strong>die</strong> Metaphysikselbst <strong>in</strong> den kritischen Blick <strong>der</strong> Philosophen kommt, bestätigt sich nun bei Hume wörtlich.Im ersten Abschnitt se<strong>in</strong>er Untersuchung beschäftigt er sich mit dem „verschiedenen Arten<strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>“. Dabei betont er <strong>die</strong> Notwendigkeit e<strong>in</strong>er „genauen und richtigenVernunfttätigkeit“. Sie alle<strong>in</strong> ist imstande, „jene unzugängliche <strong>Philosophie</strong> und dasmetaphysische Kau<strong>der</strong>welsch zu zerstören, welches, vermischt mit demVolksaberglauben, <strong>die</strong>selbe für sorglose Denker gewissermaßen undurchdr<strong>in</strong>glich machtund ihr das Ansehen von Wissenschaft und Weisheit verleiht“. An<strong>der</strong>s gesagt: „Hier<strong>in</strong> liegtallerd<strong>in</strong>gs <strong>der</strong> gerechteste und e<strong>in</strong>leuchtendste Vorwurf gegen e<strong>in</strong>en beträchtlichen Teil<strong>der</strong> Metaphysik: daß sie nicht eigentlich e<strong>in</strong>e Wissenschaft ist, son<strong>der</strong>n entwe<strong>der</strong> dasErgebnis fruchtloser Anstrengungen <strong>der</strong> menschlichen Eitelkeit, welche <strong>in</strong> Gegenständee<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen möchte, <strong>die</strong> dem Verstand durchaus unzugänglich s<strong>in</strong>d, ob <strong>der</strong> aber das listigeWerk des Volksaberglaubens, welcher auf offenem Plan sich nicht verteidigen kann undh<strong>in</strong>ter <strong>die</strong>sem Gestrüpp Schutz und Deckung für se<strong>in</strong>e Schwäche sucht.“ (Stil!) Icher<strong>in</strong>nern an La Mettrie, <strong>der</strong> schreibt: „Welche Verrücktheit, sich damit abzuquälen, wasman unmöglich erkennen kann und was uns nicht glücklicher machen würde, würden wires bewerkstelligen.“ (87) Das ist auch Humes Schritt gegen <strong>die</strong> Metaphysik. Sie operiertmit D<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> dem Verstand notwendig dunkel bleiben. Ihr muss daher <strong>der</strong> Rang e<strong>in</strong>erechten „Wissenschaft“ abgesprochen werden. Nicht an<strong>der</strong>s als später Kant for<strong>der</strong>t Hume,dass sich <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> <strong>die</strong> Strenge e<strong>in</strong>er mathematischen Wissenschaft zum Vorbildnehmen solle. Er er<strong>in</strong>nert an Newton.Descartes, Hobbes, Sp<strong>in</strong>oza und auch Leibniz haben <strong>die</strong> Mathematik stets als <strong>die</strong>Meistermethode des Denkens betrachtet. Daher stammt dann auch <strong>die</strong> steile Bedeutungdes mos geometricus beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> „Ethik“ des Sp<strong>in</strong>oza. Auch Hume und später Kanthaben <strong>die</strong> Vorbildfunktion <strong>der</strong> Mathematik betont. Das Vorbild <strong>der</strong> Mathematik alsstrengste Form des Denkens gilt für alle neuzeitlichen Philosophen - sagen wir bis zumDeutschen Idealismus (Hegel kritisiert <strong>die</strong> Mathematik). Die Mathematik kann es demnachnicht se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Hume von den vorher genannten neuzeitlichen Philosophen unterscheidet.Die Mathematik ist als solche ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong> Regulativ <strong>der</strong> Metaphysik. Das bezeugt ja95


schon <strong>die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Mathematik bei Platon. D.h. also: <strong>die</strong> Korrektur <strong>der</strong> Metaphysikmuss von etwas ausgehen, das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mathematik als solcher ke<strong>in</strong>eswegs angelegt ist.Der Text, mit dem wir uns gerade beschäftigen, hat den Titel: „Untersuchung über denmenschlichen Verstand“. Die „geistigen Tätigkeiten“, schreibt Hume, haben „dasMerkwürdige an sich, daß sie, obgleich am <strong>in</strong>nerlichsten uns gegenwärtig, doch <strong>in</strong> Dunkelgehüllt sche<strong>in</strong>en, sobald sie Gegenstand <strong>der</strong> Überlegung werden“. Die Untersuchung iste<strong>in</strong>e solche <strong>die</strong>ser „geistigen Tätigkeiten“. Was untersucht wird, ist, wie Erkenntniszustande kommt, daher sagt man auch, Humes enquiry sei „Erkenntnistheorie“. M.E. istdas nur bed<strong>in</strong>gt richtig. Es geht bei Hume um mehr als nur um „Erkenntnistheorie“, auchwenn <strong>die</strong> Frage, was Erkenntnis sei, wie sie geschieht und möglich ist, e<strong>in</strong>e sehr wichtigeist.Beg<strong>in</strong>nen wir unser Nachdenken mit e<strong>in</strong>er Differenzierung. In dem Kapitel, das Hume„Über den Ursprung <strong>der</strong> Vorstellungen (ideas)“ nennt, heißt, dass man alle „perceptions ofthe m<strong>in</strong>d“ (wir kennen den Begriff <strong>der</strong> Perzeptionen von Leibniz) <strong>in</strong> zwei Klassen o<strong>der</strong>Arten unterscheiden kann. Das Kriterium <strong>die</strong>ser Unterscheidung ist <strong>der</strong> verschiedene Gradihrer Stärke und Lebhaftigkeit. Die erste Klasse kann man „Thoughts and Ideas“ nennen,Gedanken und Vorstellungen. Für <strong>die</strong> zweite Klasse, sagt Hume, fehle bisher e<strong>in</strong>passen<strong>der</strong> Begriff. (Man könnte über <strong>die</strong>sen Vorgang, dass e<strong>in</strong> Philosoph e<strong>in</strong>en neuenBegriff prägt, nachdenken. Ist das vorher - sagen wir im Mittelalter - schon e<strong>in</strong>malgeschehen? Gewiss - Duns Scotus z.B. ist nachgerade e<strong>in</strong>e Begriffsmasch<strong>in</strong>e - aber hatteer davon e<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong>?) Er entscheide sich für den Term<strong>in</strong>us „impressions“. Was s<strong>in</strong>d„Impression“ im Unterschied zu „Thoughts and Ideas“? Er sagt: „alle unsere lebhafterenAuffassungen (more lively perceptions), wenn wir hören, sehen, tasten, lieben, hassen,wünschen o<strong>der</strong> wollen“. Gedanken und Vorstellungen s<strong>in</strong>d weniger lebhafte Perzeptionen.Sie werden uns bewusst, wenn wir uns auf <strong>die</strong> „sensation and movements“, übers.:Wahrnehmungen und Regungen, beziehen.Schon hier wird klar, dass <strong>die</strong> impressions als „sensations and movements“ 1. denThoughts and Ideas irgendwie vorausgehen; 2. dass sie weniger bewusst s<strong>in</strong>d alsThoughts and Ideas. Das sagt Hume etwas später <strong>in</strong> „philosophischer Sprache“,wie ersagt: „all our ideas or more feeble perceptions are copies of our impressions or more livelyones“, all unsere Vorstellungen o<strong>der</strong> schwächeren Auffassungen s<strong>in</strong>d Abbil<strong>der</strong> unsererE<strong>in</strong>drücke o<strong>der</strong> lebhafteren Auffassungen. Dafür gibt Hume zwei Beweise an. 1. mankönne bei e<strong>in</strong>er Zerglie<strong>der</strong>ung von Gedanken und Vorstellungen immer zeigen, dass ganzam Grund e<strong>in</strong>fache Vorstellungen s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>em früheren Empf<strong>in</strong>den o<strong>der</strong> Gefühl bzw.früheren impressions nachgebildet s<strong>in</strong>d. Nehmen wir Gott: e<strong>in</strong> weiser und gerechter Mann(Vater) <strong>in</strong>s Grenzenlose übertrieben; 2. Wenn jemand unfähig ist, impressions zu haben(taub, bl<strong>in</strong>d etc.), kann er auch ke<strong>in</strong>e Vorstellung <strong>die</strong>ser impression entsprechend96


entwickeln. E<strong>in</strong> Bl<strong>in</strong><strong>der</strong> kann sich ke<strong>in</strong>en Begriff von Farben machen, sagt Hume. Letztlichverweist er noch auf e<strong>in</strong>e Ausnahme, aber was wir wissen müssen ist <strong>die</strong>s, dass e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>Hauptgedanken von Hume <strong>der</strong> ist, dass das Denken <strong>in</strong> impressions anfängt, dass alsoalles Denken se<strong>in</strong>e Herkunft <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen sensations and movements hat. Diese Art desDenkens, <strong>die</strong> wir bei Hobbes schon ansprachen, nennt man „Sensualismus“. Die Fragen,<strong>die</strong> wir hier stellen können, lassen wir uns bis zum Schluss übrig. Gehen wir hier erste<strong>in</strong>mal weiter.Wofür sich Hume im Weiteren <strong>in</strong>teressiert, das ist <strong>die</strong> Frage, e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressante Frage:woher stammen philosophische Ausdrücke - <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e s<strong>in</strong>nlose? Die Antwort ist: daskönne man herausf<strong>in</strong>den, wenn man herausf<strong>in</strong>det, von welchem E<strong>in</strong>druck <strong>die</strong> angeblichephilosophische Vorstellung stamme. Solche philosophische Ausdrücke nimmt Hume dannauch sogleich <strong>in</strong> den Blick, wenn er sich fragt, wie sich Vorstellungen im Allgeme<strong>in</strong>enverknüpfen. Er macht auf drei aufmerksam (drei, das ist <strong>die</strong> komplette Anzahl für Hume):Resemblance, Contiguity <strong>in</strong> time and space, and Cause and Effect; Ähnlichkeit, Berührung<strong>in</strong> Zeit und Raum sowie Ursache und Wirkung. Auch dafür hat Hume schnell erklärende(beweisende?) Beispiele parat: das Gemälde führt unsere Gedanken auf das Urbild; e<strong>in</strong>Zimmer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gebäude kann nicht gedacht werden ohne anstoßende an<strong>der</strong>e Zimmer;e<strong>in</strong> Wunde <strong>in</strong>diziert Schmerz.Das Kapitel ist recht <strong>in</strong>teressant, weil Hume nun den Zusammenhang <strong>der</strong> Vorstellungen imGroßen an <strong>der</strong> Literatur, an <strong>der</strong> Erzählung erläutert. Hier können wir sehen, wie großunsere Mühe ist, kle<strong>in</strong>gliedrige Ketten von Ähnlichkeiten, Berührungen und Ursachen undWirkungen aufzuzeigen, „denn alle<strong>in</strong> <strong>die</strong>s Wissen befähigt uns, über <strong>die</strong> Ereignisse Gewaltzuhaben und <strong>die</strong> Zukunft zu beherrschen“, schreibt Hume - was ich e<strong>in</strong>mal auf sichberuhen lasse. Im Groben lässt sich sagen, dass wir hier dasselbe Interesse f<strong>in</strong>den, waswir schon bei Sp<strong>in</strong>oza und Leibniz fanden, nämlich <strong>die</strong> Möglichkeit aufzuzeigen, dassalles, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur geschieht, durch solche Verknüpfungsfiguren, wie Hume sie nennt,<strong>in</strong> geregelten Abläufen vor sich geht. Allerd<strong>in</strong>gs - darauf muss nun aufmerksam gemachtwerden. Hume spricht von Verknüpfungen, <strong>die</strong> wir im Verstehen machen, <strong>die</strong> also nichte<strong>in</strong>fach schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Natur vorliegen.Das führt uns zum vierten Abschnitt, <strong>in</strong> dem Hume nun skeptische Zweifel <strong>in</strong> betreff eben<strong>die</strong>ser Verstandestätigkeiten präsentiert. Dieser Abschnitt beg<strong>in</strong>nt mit <strong>der</strong> wichtigenUnterscheidung, dass sich alle Gegenstände <strong>der</strong> menschlichen Vernunft <strong>in</strong> zwei Artenzerlegen lassen: 1. Relations of Ideas; 2. Matters of Fact. Beziehungen von Vorstellungenund Tatsachen. Zur ersten Art zählt Hume „<strong>die</strong> Wissenschaften <strong>der</strong> Geometrie, Algebraund Arithmetik“. Ihnen gesteht er zu, dass sie im re<strong>in</strong>en Denken erzeugt werden. DieseVorstellungen s<strong>in</strong>d demnach „a priori“ gegeben. (Sie können demnach eigentlich nicht von„impressions“ stammen, denke ich. Das ist e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Fragen, <strong>die</strong> sich bei Humes97


<strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>die</strong>ses Begriffs stellt. Kann <strong>die</strong> Vorstellung e<strong>in</strong>es Dreiecks auf impressionsheruntergebrochen werden? - nach <strong>der</strong> Def<strong>in</strong>ition von impression: hören, sehen, tasten,lieben, hassen, wünschen o<strong>der</strong> wollen - nicht.) Was von <strong>der</strong> ersten Klasse des zuDenkenden gesagt wird, kann von <strong>der</strong> zweiten nicht gesagt werden. Wenn <strong>die</strong> erste Artcerta<strong>in</strong>ty und evidence ermöglicht, so ist das bei Tatsachen nicht <strong>der</strong> Fall. Wenn <strong>die</strong> erstenWahrheiten notwendig wi<strong>der</strong>spruchsfrei s<strong>in</strong>d, gilt für <strong>die</strong> Tatsachen, dass e<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>spruchimmer möglich bleibt. Zwar g<strong>in</strong>g bisher stets <strong>die</strong> Sonne auf, das berechtigt aber nicht,davon auszugehen, sie werde es auch morgen tun. Dabei führt aber <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch nichtdazu, dass <strong>die</strong> Tatsachen dadurch falsch würden. Die Tatsachen können sich - über <strong>die</strong>Zeit verbreitet - wi<strong>der</strong>sprechen, ohne falsch zu se<strong>in</strong>. Morgen könnte möglicherweise <strong>die</strong>Welt untergehen. Das kl<strong>in</strong>gt so, als würde hier überhaupt nichts erkannt werden könne,was aber natürlich nicht se<strong>in</strong> kann, weshalb Hume fragt, wie nun Erkenntnis <strong>in</strong> Bezug aufTatsachen möglich ist.Dabei geht er davon aus, dass alle Denkakte, <strong>die</strong> Tatsachen betreffen, auf <strong>die</strong> Beziehungvon Ursache und Wirkung zurückgehen. (Nur <strong>die</strong> Tatsachen?) Hume denkt weniger an <strong>die</strong>re<strong>in</strong>e Beobachtung von Naturprozessen als an den ganz allgeme<strong>in</strong>en Umgang mit Fakten.Sagt man uns, dass <strong>der</strong> o<strong>der</strong> <strong>der</strong> gerade <strong>in</strong> da o<strong>der</strong> dort ist, dann würden wirselbstverständlich auf <strong>der</strong> Ebene von Ursache und Wirkung rekonstruieren, wie es dazugekommen ist. Würden wir auf e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>samen Insel e<strong>in</strong>e Uhr f<strong>in</strong>den, würden wirbestimmte Schlüsse treffen. Wir kennen <strong>die</strong>se allgeme<strong>in</strong>e Bedeutung von Ursache undWirkung bereits.Hume betont nun zunächst, dass <strong>die</strong> Erkenntnis auf <strong>der</strong> Ebene von Ursache und Wirkung„<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Falle durch Denkakte a priori gewonnen wird, son<strong>der</strong>n dass sie ganz und garaus <strong>der</strong> Erfahrung“ stammt. Das kl<strong>in</strong>gt tautologisch: Tatsachen s<strong>in</strong>d immerErfahrungstatsachen, ist es aber nicht, wenn wir z.B. an Wun<strong>der</strong> denken - Wun<strong>der</strong> werdenja behauptet, Tatsachen zu se<strong>in</strong>, selbst bzw. gerade wenn <strong>die</strong> Naturgesetze brechen -Hume setzt sich mit dem Problem ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Lösung, <strong>die</strong> uns hier nicht<strong>in</strong>teressieren muss. Die Abhängigkeit von Erfahrung und Ursache und Wirkung zeigt sichwie<strong>der</strong>um anhand e<strong>in</strong>es Beispiels (Beweis?). Geben wir e<strong>in</strong>em Mann e<strong>in</strong> vollkommenfremdes D<strong>in</strong>g, so könnte er es bei sorgfältigster Prüfung nicht <strong>in</strong> das Verhältnis vonUrsache und Wirkung überführen. Adam hätte bei <strong>der</strong> Flüssigkeit und Durchsichtigkeit desWassers nicht darauf kommen können, dass er <strong>in</strong> ihm ertr<strong>in</strong>ken (ersticken) könnte. Dasbesagt nicht nur, dass <strong>die</strong> Ursachen und Wirkungen von D<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Erfahrungenfestgestellt werden müssen (Hume sagt das ausdrücklich), son<strong>der</strong>n dass überhaupt <strong>die</strong>Verknüpfung Ursache-Wirkung selber aus <strong>der</strong> Erfahrung stammen muss. Kant wird daraufaufmerksam machen, dass <strong>die</strong> erste Überlegung von Hume unproblematisch, <strong>die</strong> zweiteaber sehr problematisch ist.98


Für Hume steht aber zunächst etwas an<strong>der</strong>es auf dem Spiel. Hume macht deutlich, dass<strong>die</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erfahrung und <strong>der</strong> Tatsache vorausgesetzte Beziehung von Ursache undWirkung fragwürdig ist“ : „Der Geist kann unmöglich je <strong>die</strong> Wirkung <strong>in</strong> <strong>der</strong> angenommenenUrsache f<strong>in</strong>den, selbst bei <strong>der</strong> genauesten Untersuchung und Prüfung. Denn <strong>die</strong> Wirkungist von <strong>der</strong> Ursache ganz und gar verschieden und kann folglich niemals <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser entdecktwerden.“ „Jede Wirkung ist e<strong>in</strong> von ihrer Ursache verschiedenes Ereignis.“ Was will Humedamit sagen? Wir unterscheiden Ursache und Wirkung, haben hier das e<strong>in</strong>e, da dasan<strong>der</strong>e, aber wir haben niemals <strong>die</strong> „geheime Kraft“, wie Hume häufig sagt, <strong>die</strong> denÜbergang von <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en zur an<strong>der</strong>en stiftet. D.h. wir haben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erfahrung stets immerdas e<strong>in</strong>e o<strong>der</strong> das an<strong>der</strong>e, aber niemals beides zugleich <strong>in</strong> Bezug auf das, was <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong><strong>die</strong> an<strong>der</strong>e überträgt.À propos „Erfahrung“, experience. Schon La Mettrie wendet sich an Descartes mit denWorten: „Ich glaube, Descartes wäre e<strong>in</strong> <strong>in</strong> je<strong>der</strong> H<strong>in</strong>sicht achtungswürdiger Mann, wenner - geboren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahrhun<strong>der</strong>t, das er nicht hätte aufklären müssen - den Wert vonErfahrung und Beobachtung erkannt hätte, sowie <strong>die</strong> Gefahr, sich von ihnen zu entfernen.“Freilich entwickelt La Mettrie nicht wie Hume e<strong>in</strong>e Theorie <strong>der</strong> Erfahrung, doch er wendetden Gedanken im kritischen S<strong>in</strong>ne bereits an. Alle Tatsachen können nach Hume nur <strong>in</strong><strong>der</strong> Erfahrung erkannt werden. Erfahrung tritt als Erkenntnispr<strong>in</strong>zip hervor - und zwar alse<strong>in</strong> sehr beson<strong>der</strong>es - wie weiter zu zeigen se<strong>in</strong> wird (beson<strong>der</strong>s bei Kant). Das heißtnicht, dass z.B. das Mittelalter nicht <strong>die</strong> Erfahrungserkenntnis gekannt hätte. DieGottesbeweise des Thomas (Fünf Wege) wollen z.B. bewusst von <strong>der</strong> Erfahrungausgehen. Doch mit Hume und mit dem Erfolg <strong>der</strong> Naturwissenschaften erhält <strong>die</strong>Erfahrungserkenntnis natürlich e<strong>in</strong>e erhebliche Bedeutungssteigerung. So sprechen wirbei Hume und seit Hume vom „Empirismus“.Der skeptische Zweifel trifft <strong>die</strong> Verknüpfungsform Ursache/Wirkung, weil <strong>die</strong> Mitte <strong>die</strong>serVerknüpfung, <strong>die</strong> Verknüpfung selbst, nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erfahrung aufgezeigt werden kann: „VonUrsachen, welche gleichartig ersche<strong>in</strong>en, erwarten wir gleichartige Wirkungen. Dies ist <strong>die</strong>Summe all unserer Erfahrungsschlüsse.“ Genau aber das zweifelt <strong>der</strong> sich bewusst zurSkepsis bekennende Hume nun an. Wir s<strong>in</strong>d im Grunde nicht zu <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong>Regelmäßigkeit berechtigt, <strong>die</strong> wir dem Ursache/Wirkungs-Verhältnis zuschreiben. Magirgendetwas millionenmal so geschehen se<strong>in</strong>, es mag an<strong>der</strong>s geschehen können. DieErfahrung liefert uns nichts, wenn es um <strong>die</strong> Verknüpfung selbst von Ursache und Wirkunggeht.Was aber heißt das nun für <strong>die</strong> Erfahrung selbst und <strong>die</strong> Erkenntnis? Wäre damit nichtkonsequenterweise jede Erfahrungserkenntnis ausgehebelt? Ne<strong>in</strong>. Für Hume treten an<strong>die</strong>ser Stelle Gewohnheit und Übung auf (the pr<strong>in</strong>ciple of custom and habit). Gewohnheitsei <strong>die</strong> große Führer<strong>in</strong> des Lebens, sie lässt Erfahrung für uns nützlich ersche<strong>in</strong>en, <strong>in</strong>dem99


wir nach Gewohnheit auch <strong>die</strong> Zukunft berechnen können. Ohne <strong>die</strong> Gewohnheit müsstenwir überall im Ungewissen bleiben. Der Glaube an Tatsachen, <strong>die</strong> immer auf e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>itialeErfahrung zurückgehen müssen, wird uns von <strong>der</strong> Gewohnheit gewährt. Das gilt nicht nurfür das gewöhnliche Leben, für das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat <strong>die</strong> Gewohnheit im Umgang mit Ursache-Wirkungs-Verhältnissen e<strong>in</strong>e große Rolle spielt (<strong>die</strong> Ehe ist kaputt: Ursache:Geldprobleme, Alters(Treue)probleme, Zahnpasteprobleme - für gewöhnlich). Son<strong>der</strong>n fürHume gilt das eben auch für <strong>die</strong> Wissenschaft <strong>in</strong>sofern, als <strong>die</strong>se sich auf Tatsachenbezieht.Es ist, wenn ich zum Schluss komme, nicht ganz e<strong>in</strong>fach zu entscheiden, welche RolleHume für <strong>die</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Metaphysik, für <strong>die</strong> Kritik an ihr spielt. Hume ist e<strong>in</strong> vomSensualismus ausgehen<strong>der</strong> Empirist, <strong>der</strong> aber ke<strong>in</strong>eswegs bezweifelt, dass es e<strong>in</strong>enBereich apriorischer Erkenntnis gibt. Gewiss spielt <strong>die</strong> noch für Leibniz wichtige Theologiez.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Untersuchung über den menschlichen Verstand kaum e<strong>in</strong>e Rolle, was demnachfür den Rationalismus noch entscheidend war, <strong>die</strong> metaphysisch-ontologische RolleGottes, das kommt bei Hume <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Weise nicht mehr <strong>in</strong> Frage. Dennoch - so ließe sichsagen - sche<strong>in</strong>t mir <strong>der</strong> radikal-materialistische Ansatz von La Mettrie e<strong>in</strong>e größeresProblempotential für <strong>die</strong> <strong>Philosophie</strong> zu bieten als Humes Skepsis. Was <strong>der</strong> <strong>Philosophie</strong>aber mehr Probleme liefert, ist immer das Philosophischere. Klar ist aber auch, dassHumes Rezeptionsgeschichte - nicht nur Kant betreffend - wesentlich größer undbedeuten<strong>der</strong> ist als <strong>die</strong> La Mettries.Ich wünsche Ihnen, dass Sie über Weihnachten von dem Übermaß von Trüffelpasteteverschont bleiben, das dem heiteren La Mettrie das Leben kostete.100

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