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Jugend Religion Demokratie (PDF) - Robert Bosch Stiftung

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<strong>Jugend</strong><strong>Religion</strong><strong>Demokratie</strong>Politische Bildung mit <strong>Jugend</strong>lichen inder EinwanderungsgesellschaftEin Modellprojekt der Bundeszentrale fürpolitische Bildung und der <strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong>in Zusammenarbeit mit der Stadt Stuttgartund dem Bezirksamt Berlin-Neukölln


<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong>Politische Bildung mit <strong>Jugend</strong>lichen in der EinwanderungsgesellschaftEin Modellprojekt der Bundeszentrale für politische Bildung und der <strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong>ProjektleitungBundeszentrale für politische Bildung/bpbChristoph Müller-Hofstede<strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong>Melanie SchusterSachbearbeitung / Bundeszentrale für politische BildungBirgit Wolfram, Ute AlefWissenschaftliche ProjektbegleitungTatiana Lima Curvello, Verband binationaler Familien undPartnerschaften, iaf e. V., BerlinSekretariat und SachbearbeitungCarmen KleinKoordination Berlin (September 2009 – Juli 2010)Dr. Jochen Müller, ufuq.de, BerlinIn Zusammenarbeit mit:Bezirksamt Berlin-NeuköllnDr. Franziska Giffey, BezirksstadträtinAbteilung Integration der Stadt StuttgartGari Pavkovic, Integrationsbeauftragter der LandeshauptstadtStuttgartBegleitet durch:Koordination Berlin (August 2010 – Februar 2012)Savita Dhawan, Verband binationaler Familien undPartnerschaften, iaf e.V., BerlinKoordination Stuttgart (September 2009 – Oktober 2011)Barış Binici, Abteilung Integration der Stadt StuttgartKoordination Stuttgart (seit November 2011)Konstantinos Kosmidis, Abteilung Integration der Stadt StuttgartWir danken den Schulleitungen und Fachlehrern derbeteiligten SchulenBerlinOtto-Hahn-Schule (Gesamtschule)1. Gemeinschaftsschule Neukölln auf dem Campus Rütli –Heinrich-Heine-OberschuleKepler-Schule (Integrierte Sekundarschule)Albrecht-Dürer-Schule (Gymnasium)Verband binationaler Familien und Partnerschaften,iaf e. V., BerlinKontaktBundeszentrale für politische BildungChristoph Müller-HofstedeMueller-hofstede@bpb.de<strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong>Melanie SchusterMelanie.schuster@bosch-stiftung.deStuttgartRosensteinschule (Hauptschule mit Werkrealschule)Johannes-Kepler-GymnasiumRilke-RealschuleKörschtalschule (Hauptschule)Friedensschule (Hauptschule mit Werkrealschule)<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 3


InhaltImpressumHerausgeber:Bundeszentrale für politische BildungAdenauerallee 8653113 Bonn<strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> GmbHHeidehofstr. 3170184 StuttgartRedaktion:Marfa HeimbachTextbeiträge:Esra BozkurtMarfa HeimbachTatiana Lima CurvelloDr. Jochen MüllerChristoph Müller-HofstedeGari PavkovicMelanie SchusterBildnachweis:Esra Bozkurt 15, 16, 19;bpb/Foto: Nikolaus Brade 13, 21, 22,24, 27, 28-29, 31, 32, 45, 47;Florina Demaj 17;Chalid Durmosch 6, 24, 26, 35, 49;<strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> / Foto:Björn Hänssler 1, 11, 36, 39;Konstantinos Kosmidis 40;Kai Loges / Andreas Langen 44Gestaltung/Satz:KonzeptQuartier ® GmbH, FürthDruck:bresler Print & Digital, Erlangen© Bundeszentrale für politischeBildung/bpb und<strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> GmbH2. AuflageBonn, im November 2011ISBN: 978-3-8389-7051-6www.bpb.dewww.bosch-stiftung.de1. Konzeption und methodische Ansätze des Modellprojekts2. Erkenntnisse und Empfehlungen3. Praxisberichte und Interviews3.1. Was ist gut an einer <strong>Demokratie</strong>?Oder: Wie wird Bushido Bundeskanzler?3.2. Mit Drachen in die FreiheitDas Medium Film in der Arbeit mit Dialoggruppen3.3. Schüler machen SchuleWie aus einem Gespräch über das Beten in der Schule ein Projekttag wurde3.4. „Er hat nicht so richtig zugehört“Die Dialoggruppe an der Otto-Hahn-Schule trifft Thilo Sarrazin3.5. „Es ist wichtig, mit den Schülern im Dialog zu sein“Interview mit dem Oberstufenleiter Bernd Heyer3.6. „Lernt eure Potenziale kennen“Interview mit dem Schüler Cemal Aydin3.7. „Die Dialogmoderatoren haben das Selbstbewusstsein gefördert“Interview mit der Lehrerin Ulrike Klein-Debiasi3.8. „Die Schüler haben sich positiv verändert“Interview mit den Dialogmoderatoren Esra Bozkurt, Florina Demajund Konstantinos Kosmidis4. Dialog macht SchuleKommunale Erfahrungen mit dem Modellprojekt und Empfehlungen für dieKooperation mit den Schulen5. Ausblick und Perspektiven6. Dialogmoderatoren, Autoren und Interviewpartner6101414182024273236404447504 | Inhalt


Vorwort2009 haben die <strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> und die Bundeszentralefür politische Bildung das Projekt „<strong>Jugend</strong>, <strong>Religion</strong>, <strong>Demokratie</strong>.Politische Bildung mit <strong>Jugend</strong>lichen in der Einwanderungsgesellschaft“ auf den Weg gebracht. Seither bieten wir Schulen miteinem hohen Anteil an Schülern aus unterschiedlichen Kulturkreisenoder aus Zuwandererfamilien ein Format für politischeBildung. <strong>Jugend</strong>liche können damit ein Bewusstsein für <strong>Demokratie</strong>und Partizipation entwickeln und das eigene Verständnisvon Politik und gesellschaftlicher Teilhabe erweitern.Junge Menschen mit pädagogischer Erfahrung und eigener Einwanderungsgeschichteleiten dabei mehrmonatige Gesprächsrunden– entweder integriert in den Regelunterricht oder in freiwilligenArbeitsgruppen. Als Dialogmoderatoren führen sie die Schüleran politische Themen heran, ausgehend von den Interessen undLebenswirklichkeiten der <strong>Jugend</strong>lichen: „Wir haben gelernt, dassman Politik, wenn man es mit interessanten Beispielen anpackt,besser verstehen kann“, beschreibt einer der Schüler dieseErfahrung.In den Dialoggruppen gelingt es, die Sozialkompetenzen der <strong>Jugend</strong>lichenzu stärken: Denkanstöße regen zum Perspektivwechselan und zeigen, wie Eigeninitiative möglich ist. Die Schülerlernen, sich eine eigene Meinung zu bilden, diese zu vertretenund dabei andere Sichtweisen zu respektieren und Kompromisseauszuhandeln.zunächst wenig anzufangen wissen. Das kann nur über Themengeschehen, die an die Lebensrealität der <strong>Jugend</strong>lichen anknüpfen.Fragen zu Ausbildung, Identität, Ausgrenzung, Gewalt, Umweltoder Integration, aber auch zu den Umbrüchen in ihren Herkunftsländernsind für <strong>Jugend</strong>liche höchst relevant. Zugleich sind siepolitisch.In den Dialoggruppen spüren die <strong>Jugend</strong>lichen die politischenAspekte des eigenen Alltags auf und lernen, sich als handelndeBürgerinnen und Bürger zu begreifen.Die <strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> und die Bundeszentrale für politischeBildung gehen mit dem Modellprojekt einen neuen Weg für diepolitische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft.Wir werden uns dafür einsetzen, dass dieses erfolgreiche Modellprojektim wahrsten Sinne des Wortes Schule macht.Wir danken allen Projektbeteiligten, insbesondere den Dialogmoderatoren in Berlin und Stuttgart, für die gute, engagierte undkon struktive Zusammenarbeit.Eine inspirierende Lektüre wünschen<strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> hatte bereits in den 20er Jahren des vergangenenJahrhunderts notiert, es gehe bei Bildungsprozessen nicht darum,„die Menschen vollzutrichtern mit allen möglichen Dingen, diemechanisch gelernt werden, um ein Examen bestehen zu können“,sondern darum, „einen eigenen Standpunkt, eine gefestigte Anschauungüber Ereignisse aller Art [zu] bekommen.“Dr. Ingrid Hamm,Geschäftsführerin der<strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong>Thomas Krüger,Präsident der Bundeszentralefür politische BildungDie Bereitschaft zur politischen Partizipation zu fördern ist daswichtigste Ziel politischer Bildung, die sich dabei immer wieder aufneue Rahmenbedingungen und Zielgruppen einstellen muss.Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft steht heutevor einer großen Aufgabe: Neue Formate müssen entwickelt werden,um auch diejenigen <strong>Jugend</strong>lichen zu erreichen, die mit Politik<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 5


1.Konzeption und methodischeAnsätze des ModellprojektsText: Tatiana Lima Curvello, Christoph Müller-HofstedeDas Modellprojekt „<strong>Jugend</strong>, <strong>Religion</strong>, <strong>Demokratie</strong>. Politische Bildungmit <strong>Jugend</strong>lichen in der Einwanderungsgesellschaft“ wird seit demJahr 2009 von der Bundeszentrale für politische Bildung gemeinsammit der <strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> in Berlin und Stuttgart durchgeführt. 1Ziel des Projekts ist es, Schülerinnen und Schüler 2 – vor allem ausbildungsfernen Familien mit Einwanderungsbiographie – ab dersiebten Klasse dabei zu unterstützen, ein Bewusstsein für <strong>Demokratie</strong>und gesellschaftliche Partizipation zu entwickeln sowie füreinen differenzierten Umgang mit Fragen von Identität, <strong>Religion</strong> undGesellschaft zu gewinnen.Im Mittelpunkt des Projekts stehen wöchentlich stattfindende Dialoggruppenan ausgewählten Schulen. Entweder in freiwilligen Arbeitsgruppenam Nachmittag oder aber integriert in das Stundenkontingentder Wahlpflichtfächer erproben diese Dialoggruppen in Absprachemit den Schulleitungen differenzierte und bewusst niedrigschwelligeZugänge zu einer Fülle von Themen, die für die persönliche LernundLebenswelt der Schüler von Bedeutung sind. Alle Fragestellungenund Themen werden dabei so bearbeitet, dass sie den Horizont derTeilnehmer in Bezug auf Politik und gesellschaftliche Teilhabe erweiternkönnen. Soziale Kompetenzen, Dialogfähigkeit, Selbstvertrauen undSelbstwirksamkeit werden so schrittweise gefördert und eingeübt.1 In Essen hat sich die Regionale Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und <strong>Jugend</strong>lichenaus Zuwandererfamilien (RAA) als Einrichtung der Stadt Essen im Jahr 2009 an dem Projektbeteiligt. Das Format der Dialoggruppen geht zurück auf eine Idee der RAA Essen, diein einer Vorphase des Projekts im Jahre 2008 entwickelt wurde.2 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Publikation durchgehend das generischeMaskulinum verwendet. Dabei sind stets beide Geschlechter gemeint.Für die Leitung und Moderation der Gruppen werden junge Frauenund Männer ausgewählt, die vornehmlich eine akademischeAus bildung sowie pädagogische und didaktische Kompetenzenund Erfahrungen mitbringen und darüber hinaus meist selbstüber eine familiäre Einwanderungsbiographie verfügen. Die Moderatorenwer den durch eine spezielle Weiterbildung sowie regelmäßigeEvaluationssitzungen und Supervision für ihre Tätigkeit qualifiziert.Mit den Schulleitungen werden im Vorfeld die Eckpunkte derKooperation genau besprochen und vertraglich vereinbart.Zu Beginn des Projekts wurden im September 2009 in Berlin-Neukölln und in Stuttgart zunächst 14 Dialoggruppen mitca. 200 Schülern unterschiedlichen Alters eingerichtet, die vonzwölf Dia logmoderatoren betreut wurden. In der zweiten Phaseseit August 2011 sind weitere Gruppen und Dialogmoderatorenhin zugekommen. Inzwischen arbeiten in den beiden Städten20 Dialogmoderatoren mit ca. 300 Schülern. Die bisherigen Erfahrungensind sehr positiv: Die konsequent dialogische Haltungder Moderatoren, ihre <strong>Jugend</strong> und die eigene Ein wanderungsbiographieerleichtern es ihnen, eine vertrauensvolle Beziehungzu den Schülern aufzubauen.Auswertungen der Schüler-, Moderatoren- und Lehrer befragungensowie eine fortlaufende Evaluation haben gezeigt, dass dieSchüler durch das Projekt zu einem differenzierten Umgang auchmit komplexen Fragen von Identität, <strong>Religion</strong> und Gesellschaftgelangen können. Die individuelle Kompetenzerweiterung durchdas Projekt hat sich für viele Schüler auch fächerübergreifendpositiv ausgewirkt.6 | Konzeption und methodische Ansätze des Modellprojekts


In gemeinsamen Auswertungs- und Weiterbildungswochenendenwurden die Moderatoren parallel weiterqualifiziert. Sie könnenihre Kenntnisse und Erfahrungen inzwischen auch an andere Akteureund Träger in der politischen Bildung weitergeben. Darüberhinaus wirken sie als Vorbilder und Mentoren für bildungsferne<strong>Jugend</strong>liche. Die Zahl der Dialogmoderatoren soll in den nächstenJahren kontinuierlich erweitert werden.Diese Publikation stellt die wichtigsten konzeptionellen Überlegungenund methodischen Ansätze des Projekts vor und fasst die zentralenErgebnisse unserer Intervention in unterschiedlichen Schultypenin Berlin und Stuttgart zusammen. Multiplikatoren in Schulen,Schulverwaltungen und in den Trägereinrichtungen politischerBildung erhalten dadurch Hinweise zum Aufbau eigener Dialoggruppenund zu Transfermöglichkeiten. Die Bundeszentrale für politischeBildung und die <strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> haben sich zumZiel gesetzt, dieses erfolgreiche Modell der außerschulisch moderiertenDialoggruppen an möglichst vielen Schulen zu etablieren, indenen der Anteil von Kindern aus Familien mit einer Einwanderungsbiographiebesonders hoch ist. Hierzu werden die Kontakte zuSchul- und Bildungsverwaltungen in den Kommunen sowie auf Länder-und Bundesebene in den nächsten Monaten weiter ausgebaut.Herausforderungen politischer BildungDas Modellprojekt reagiert auf den inzwischen unübersehbar ge -wordenen Handlungs- und Interventionsbedarf für die politi scheBildung: Auf der einen Seite stehen die Ergebnisse der Bildungsberichterstattungauf allen Ebenen (Bildungsbericht der Bundesregierung,Berufsbildungsbericht, <strong>Stiftung</strong>en), die auf gravierendeUngleichheiten der Bildungsbeteiligung und der Bildungsergebnissezwischen Deutschen ohne Einwanderungsbiographie und<strong>Jugend</strong>lichen aus Einwandererfamilien verweisen. Der Zusammenhangzwischen Bildungsarmut, sozialer Herkunft und einer Einwanderungsbiographiewird zunehmend als ein Problem empfunden,dem sich alle Bildungsbereiche stellen müssen.Die Zahl der Kinder und <strong>Jugend</strong>lichen aus Einwandererfamilien inden Bildungsinstitutionen Deutschlands wird sich in den kommendenJahren kontinuierlich erhöhen. Dies lässt die (politische)Bildungsbeteiligung dieser Gruppe zu einer dringlichen Zukunftsaufgabewerden. 3 Auf der anderen Seite aber fehlen Institutionenund Trägern politischer Bildung derzeit noch angemesseneKonzepte und Ansätze zur Ansprache und Einbeziehung dieserZielgruppen. Dies wird auch von anerkannten Vertretern derFachwissenschaft bestätigt. 4Politische Bildung in der EinwanderungsgesellschaftDie politische Bildung hat diese Herausforderung seit geraumerZeit angenommen und sucht nach neuen Wegen und Formaten,um vor allem bildungsfernen <strong>Jugend</strong>lichen, die oft einen familiärenEinwanderungshintergrund haben, zu einem Bewusstseinihrer Potenziale und Chancen in einer demokratischen Gesellschaftzu verhelfen.Didaktiker und Experten beschäftigen sich seit einiger Zeit verstärktmit der Frage, wie bildungsferne <strong>Jugend</strong>liche für die politischeBildung gewonnen werden können. Dabei werden unterschiedlicheAnsätze verfolgt: So zählt ein Ansatz auch soziales Lernen zuden Aufgaben der politischen Bildung und konzentriert sich in derpraktischen Arbeit auf Lernvorhaben zur Konfliktbewältigungund zur Kommunikation im sozialen Alltag. Andere Ansätze legenden Schwerpunkt auf die These, dass sich politische Bildungnicht mit der subjektiven Seite des demokratischen Handelns zufriedengebenkann. Sie heben hervor, dass das Bemühen um einedemokratische „Strukturierung und Gestaltung der alltäglichenLebensräume“ 5 nicht eine politische Bildung ersetzen kann, die Politikwie auch die Vermittlung der Prinzipien des demokratischenVerfassungsstaates explizit zum Thema macht. Das Projekt bildetinsofern eine Synthese aus beiden Ansätzen, indem wir beideSchwerpunkte konstruktiv miteinander zu verbinden versuchen.Häufig werden bildungsferne <strong>Jugend</strong>liche nicht nur von ihrersozialen Umwelt, sondern auch von Institutionen und Akteuren derpolitischen Bildung als „defizitär“ wahrgenommen. 6 Dies gehteinher mit profunder Unkenntnis über die bildungs- resp. politikfernenZielgruppen. In der Diskussion wird die Frage aufgeworfen, mitwelchen Interventionen, Lernarrangements und Settings dieBetroffenen zu erreichen seien. Es wird nach mehr Forschung verlangt,um die Besonderheiten dieser Gruppe zu eruieren. In diesenKontext ist eine Studie einzuordnen, die Themenwelten undpolitische Interessen von bildungsfernen <strong>Jugend</strong>lichen untersuchthat. 7 Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass institutionalisiertebzw. parlamentarische Politik für diese <strong>Jugend</strong>lichen sehr weit weg,wie „in einem anderen Sonnensystem“ 8 liege. Politische Begriffe,Konzepte und Ideen seien ihnen fremd, so die Studie, sofern esnicht um Sachverhalte und Probleme gehe, die ihren persönlichenAlltag und ihre Lebenswelt betreffen. Die Studie hat bildungsferne<strong>Jugend</strong>liche mit und ohne Einwanderungsbiographie untersuchtund festgestellt, dass bei <strong>Jugend</strong>lichen aus Einwandererfamiliennicht nur allgemeine Fragen wie Ausbildung, Arbeitsplatzund Gewalt, sondern auch Themen wie Integration, <strong>Religion</strong>,Diskriminierung und Nahostkonflikt eine Rolle spielen.Wenn man diese <strong>Jugend</strong>lichen für Politik und politische Partizipationgewinnen möchte, muss man die schwierige psychosozialeLage ebenso wie das sehr unterschiedlich ausgeprägte „kulturelleGepäck“ berücksichtigen und beides konstruktiv in die Entwicklungvon neuen Formaten politischer Bildung einfließen lassen.3 In Frankfurt etwa liegt der Anteil der unter Dreijährigen mit familiärer Einwanderungsbiographiegegenwärtig schon bei 72 %. Vgl.: Sachverständigenrat deutscher <strong>Stiftung</strong>en für Integrationund Migration, Einwanderungsgesellschaft 2010. Jahresgutachten 2010, Kap. 7, Schuleund Bildung (download: http://www.svr-migration.de, letzter Abruf 06. 09. 2011). Vgl. auch dieeinschlägigen Zahlen und Befunde im dritten Bildungsbericht der Bundesregierung: Bildungin Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektivendes Bildungswesens im demografischen Wandel, Bielefeld 2010 (www.bildungsbericht.de,letzter Abruf 06. 09. 2011). Auf die Notwendigkeit verstärkter Interventionen der politischenBildung in diesem Feld weisen auch hin: Wolfgang Schäuble – Ursula von der Leyen, Was dieGesellschaft zusammenhält, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06. 01. 2009.4 Vgl. Thomas Krüger – Helle Becker, Weiterbildung und Politik. Jahrbuch für Erwachsenenbildung,Wiesbaden 2010, S. 640.5 Joachim Detjen, Politische Bildung für bildungsferne Milieus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte32-33, 6. August 2007, S. 3-8.6 Vgl. Benedikt Sturzenhecker, Politikferne in der Kinder- und <strong>Jugend</strong>arbeit, in: Aus Politikund Zeitgeschichte 32-33, 6. August 2007, S. 9-20.7 Vgl. „Unsichtbares“ Politikprogramm? Themenwelten und politisches Interesse von„bildungsfernen“ <strong>Jugend</strong>lichen im Alter von 14-19 Jahren. Unveröffentlichte Zusammenfassungeiner qualitativen Untersuchung von Sinus Sociovision im Rahmen des bpb Projekts„Elementarisierung politischer Bildung“, Marc Calmbach – Silke Borgstedt, Sinus Studie,Heidelberg – Berlin, Mai 2010, S. 35.8 Ebd.<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 7


Im Kontext der oben kurz skizzierten Diskussion ist dieses Projektangesiedelt. Es will Anregungen geben zu einer Weiterentwicklungder bekannten methodischen Ansätze und für neue praktischeFormate. Unsere These ist, dass politische Bildung kein absoluterund unveränderlicher Begriff ist, sondern situationsimmanentauf Veränderungen und Entwicklungen der Gesellschaft reagierenmuss. Dies bedeutet hier die Erweiterung des Selbstverständnissesder Disziplin als politische Bildung in einer Einwanderungsgesellschaft.Das Modellprojekt richtet sich an <strong>Jugend</strong>liche in der Einwanderungsgesellschaft,so wie sie in den Schulen Deutschlands anzutreffensind – unabhängig von sozialer, nationaler oder religiöserHerkunft. Es konzentriert sich auf die Entwicklung von pädagogischenSettings zur Förderung sozialer Kompetenz sowie politischerMündigkeit und <strong>Demokratie</strong>fähigkeit, die alle <strong>Jugend</strong>lichen ansprechenkönnen. Es reagiert aber auch auf die spezifischen Interessenund Themen, die sich aus dem Kontext einer Einwanderungsgesellschaftergeben, so z. B. auf das Spannungsfeld zwischen säkularenund stärker religiös geprägten Lebenswelten und <strong>Jugend</strong>kulturen.Es entwickelt einen Sinn für den pragmatischen Umgangmit der pluralistischen Vielfalt und den zahlreichen Binnendifferenzierungenauch innerhalb scheinbar homogener <strong>Jugend</strong>kulturen. DasProjekt <strong>Jugend</strong>, <strong>Religion</strong>, <strong>Demokratie</strong> vermittelt zwischen demuniversalen Anspruch einer demokratischen, modernen Gesellschaftund den besonderen Realitäten und Chancen vielfältiger Kulturenund Orientierungen in deutschen Schulen.Sechs Kernaspekte des Projekts:1. Schnittstelle zwischen schulischer und außerschulischerpolitischer BildungUm bildungsferne <strong>Jugend</strong>liche für die politische Bildung zuerreichen, wird das Format so angelegt, dass es in Kooperationmit den kommunalen Schulverwaltungen und jeweiligenSchulleitungen sowie Fachlehrern über einen längeren Zeitraumdurchgeführt werden kann. Außerschulische Dialogmoderatorenschaffen ein zusätzliches Angebot, das in den Schulalltagintegriert ist.2. Ressourcen- und Kompetenzorientierung als grundlegendeBausteineDas Projekt arbeitet ressourcen- und kompetenzorientiert. Wirunterstellen auch politik- und bildungsfernen <strong>Jugend</strong>lichendie Fähigkeit, als mündige Bürger eine aktive Rolle in der Gesell -schaft einnehmen zu können. Im Projektverlauf wird darangearbeitet, die Ressourcen der <strong>Jugend</strong>lichen zu entdecken undzu fördern sowie ihre Kompetenzen zur politischen Teilhabezu entwickeln. Aus diesem Grund arbeiten wir mit den <strong>Jugend</strong>lichensowohl auf der psychosozialen Ebene als auch an derKompetenzentwicklung.Psychosoziale Ebene:Bei den <strong>Jugend</strong>lichen werden Selbstvertrauen und Selbstwertgefühlaufgebaut, indem an Themen aus ihrer Lebensweltangeknüpft wird. Eine entsprechende Gestaltung von Lernsettingssoll dazu beitragen, dass sie ihre eigenen Ressourcenkennenlernen und ihre Selbstwirksamkeit erleben. Um das zuerreichen, sollen die moderierten Dialoggruppen in der Regelals Prozess über einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren durchgeführtwerden.Kompetenzentwicklung:Die Schüler sollen im Laufe der Arbeit drei Kompetenzbereicheder politischen Bildung entwickeln, die von der modernenPolitikdidaktik ausgearbeitet wurden: politische Urteilsfähigkeit,politische Handlungsfähigkeit und methodische Fähigkeiten.Der Prozess beginnt mit der Vermittlung von Basiskompetenzen,der Einübung dialogischer Gesprächsmethoden und mitÜbungen zum Perspektivwechsel und aktiven Zuhören, um soschrittweise die Fähigkeit zur Empathie, ein Verständnis fürandere sowie die eigene Individualität zu entwickeln. Dabei spieltgerade in jüngeren Gruppen die gemeinsame Festlegung undkonsequente Einhaltung von Gesprächsregeln eine zentrale Rolle.3. Weiterbildung und Supervision der DialogmoderatorenDen Dialogmoderatoren in den Schulen kommt eine entscheidendeRolle zu. Ihre Kreativität ist bei der Gestaltung derLernsettings in den Dialoggruppen gefragt, um Selbstvertrauenund Selbstwirksamkeitserfahrungen der Schüler ebenso zufördern wie die Entwicklung von sozialen und kognitiven Kompetenzen.Daher reflektieren die Dialogmoderatoren in Weiterbildungswochenendenund regelmäßigen Auswertungs- undEvaluationssitzungen ihre Erfahrungen, lernen vonein anderund verbessern so kontinuierlich die Qualität ihrer Arbeit.4. Lernendes ProjektDas Projekt erfordert Kreativität sowie gestalterisches und konzeptionellesDenken und Handeln. Um diesem Anspruch gerechtzu werden, versteht sich das Projekt als lernendes Projekt. Kreatives,agierendes wie auch reagierendes Arbeiten, das in regelmäßigenAuswertungssitzungen im Team geübt wird, ist jedochnur dann erfolgreich, wenn es auch die Möglichkeit beinhaltet,Fehler zu tolerieren, aus diesen Fehlern zu lernen, und wenn esdie Bereitschaft einschließt, Interventionen zu revidieren. Darausresultiert ein prozessorientierter Kreislauf: Beobachtung, Formulierungvon Hypothesen, Definition von Standpunkten, Entwicklungund Erprobung von Interventionen (Handlungsplan), Auswertung,eventuell Revision des Handlungsplans bzw. Modifikation. 95. Dialogansatz als Grundlage für die Arbeit der ModeratorenEine wichtige Grundlage für die Arbeit der Moderatoren ist derDi alogansatz nach Martin Buber und David Bohm, der durchWilliam Isaacs am Massachusetts Institute of Technology und inDeutschland durch Freeman Dhority und Martina und JohannesHartkemeyer weiterentwickelt wurde. 10 Der Ansatz gibt uns9 Wir orientieren uns dabei an dem Ansatz der Aktionsforschung, die, zurückgehend auf KurtLevin, eine bestimmte Ausrichtung sozialwissenschaftlicher Forschung bezeichnet. Siebasiert u. a. auf der Annahme, dass die Untersuchung sozialer Systeme eine spezifische,den besonderen Eigenarten dieser Systeme angemessene Vorgehensweise empfiehlt.Instrumente der auf den Forschungsgegenstand bezogenen Aktionsforschung sind einevergleichende Erforschung der Bedingungen und Wirkungen verschiedener Formen dessozialen Handelns und eine zu sozialem Handeln führende Forschung. Aktionsforschung hatdas Ziel, wissenschaftliche Grundlagen für die Veränderung sozialer Situationen zu liefern.10 „Der Dialog ist ein zentrales Thema der abendländischen Philosophie. Von Sokrates bis MartinBuber, von Gadamer bis Habermas. Der Dialog ist nicht lediglich eine Kommunikationsform,sondern er gehört zum Wesen menschlicher Identität und des gesellschaftlichen Miteinanders.Im Gespräch mit anderen kommen wir zu uns selbst, entwickeln wir unser Selbstbewusstsein,erleben wir unsere Zugehörigkeit zu einer Verständigungsgemeinschaft, erzeugenwir eine Welt, die wir mit anderen teilen, und die sich dadurch als viabel, als vernünftigerweist. Der Dialog hat somit eine persönliche, eine soziale und eine politische Dimension.“8 | Konzeption und methodische Ansätze des Modellprojekts


Verfahren an die Hand, mit denen die mentalen Modelle erkennbarwerden, die unsere individuellen Wahrnehmungen und Gefühlein der sprachlichen Interaktion mit anderen strukturieren. Durch dasVerfahren lernen die Moderatoren, sich von diesen Modellen nichtüberwältigen zu lassen. Sie lernen, die Meinungen und Sichtweisenanderer wie auch die eigenen zu achten und nicht vorschnell zubewerten.Das dialogische Arbeiten ist verbunden mit einem Prozess derSelbstreflexion. Die dadurch entstehende Haltung schafftRaum für Kreativität im Team und in der Arbeit mit den <strong>Jugend</strong>lichen.Der Austausch der unterschiedlichen Erfahrungen, diedie Moderatoren während der Arbeit mit den <strong>Jugend</strong>lichen machen,ermöglicht im Team die Herausbildung von Lernstrategien,mit denen die <strong>Jugend</strong>lichen an die politische Bildung herangeführtwerden können. Auch wird der Blick für die Individualität der<strong>Jugend</strong>lichen geschärft, für ihre Potenziale und für eine geeigneteLernumgebung. Nicht zuletzt ermöglicht diese Haltung Toleranzgegenüber Unzulänglichkeiten und Fehlern, sowohl den eigenenals auch fremden. Das ist die notwendige Grundhaltung füreine Arbeit, die sich dem kontinuierlichen Lernen verpflichtet fühlt.Allerdings müssen die besonderen Bedingungen für dialogischeAnsätze in der Arbeit mit <strong>Jugend</strong>lichen und SchülernVgl. Horst Siebert, Neue Gesprächskultur durch den Dialog, www.dialogprojekt.de/projektprojekt_dialog.php#anker64(letzter Abruf 07.09.2011).beachtet werden: Es bedarf weiterer methodischer Kompetenzender Moderatoren zur Leitung und Steuerung von Gruppenprozessen;darüber hinaus müssen sie lernen, aus vorgefundenenGruppenstrukturen heraus Lernsituationen bzw. Settings zuschaffen, die es den Schülern ermöglichen, ihre Kompetenzen zuentwickeln und ihre Selbstwirksamkeit zu erfahren.6. Einwanderungsbiographie der ModeratorenDie überwiegende Mehrzahl der Moderatoren im Projekt hatselbst eine familiäre Einwanderungsbiographie. Es erleichtertelementare Prozesse der Vertrauensbildung, wenn dieseauf einer Metaebene angesiedelten Gemeinsamkeiten zwischenden Moderatoren und den <strong>Jugend</strong>lichen gegeben sind.Moderatoren mit Einwanderungsbiographie können fernereine wichtige Rolle als Vorbilder für Schüler in schwierigenpsychosozialen Lagen spielen, da auch die Moderatoren selbstoft nicht immer unkomplizierte Lebensgeschichten durchlaufenhaben. Nicht zuletzt engagieren sich viele Moderatorenauch deshalb in dem Projekt, weil sie die selbst erfahrenenProzesse der Persönlichkeitsentwicklung konstruktiv anJüngere weitergeben möchten. Eine Herausforderung bestehtdarin, dass die Moderatoren die schwierige Grenze zwischenNähe und Distanz in der Arbeit mit „ihren“ <strong>Jugend</strong>lichenerst finden müssen. Daher wird in der Weiterbildung und inden regelmäßigen Supervisionssitzungen darauf geachtet, dassdie Moderatoren eine reflektierte Distanz zu ihrer Aufgabewahren.Projektstruktur (2009 – 2012)Projektleitung/SteuerungsgruppeRückkoppelungLehrkräfte & Schulen,lokale Verankerungin der StadtKoordination BerlinWiss. BegleitungKoordination StuttgartRückkoppelungLehrkräfte & Schulen,lokale Verankerungin der StadtSchule 1DialoggruppenSchule 2DialoggruppenSchule 3DialoggruppenSchule 4DialoggruppenSchule 5DialoggruppenSchule 6DialoggruppenRegionaleAuswertung TeamBerlinÜberregionaleAusbildungs- &AuswertungsseminareRegionaleAuswertung TeamStuttgartFortbildung, AuswertungProjektentwicklung<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 9


2.Erkenntnisse undEmpfehlungenText: Tatiana Lima Curvello, Christoph Müller-HofstedeNach zwei Projektjahren lassen sich erste Erkenntnisse formulieren.Sie sind als mögliche Bausteine zu betrachten, aus denen neueFormate politischer Bildung in einer Einwanderungsgesellschaftentstehen können. Dabei sind wir uns bewusst, wie differenziert undfragmentiert die soziale Wirklichkeit ist, in der sich politische Bildnerund ihre jeweiligen Zielgruppen bewegen. Gerade deshalb sindwir überzeugt, dass der praxisorientierte und dialogische Ansatzdes Modellprojekts fruchtbar ist. Er hat über zwei Jahre hinweg kontinuierlicheGespräche und gemeinsame Aktionen mit ca. 200Schülern in Berlin-Neukölln und Stuttgart sowie den jeweiligen Moderatoren,beteiligten Lehrern und den Schulleitun gen ermöglicht.Auffallendes Kennzeichen der Arbeit in den beiden Städten istdie Bandbreite und Vielfalt der Perspektiven, Wahrnehmungen undInteressen, aber auch der Möglichkeiten, die der offene Ansatzdes Projekts bietet. Besonders deutlich ist der enorme GesprächsundKommunikationsbedarf gerade an multikulturellen Schulenhervorgetreten – in Berlin-Neukölln ebenso wie in Stuttgart. DerUmgang mit schwierigen und neuen Themen, mit sozialen Problemen,mit den komplexen Biographien und frühkindlichen Vorerfahrungensowie Deutungsmustern bei allen Beteiligten spiegelt nureinige der Herausforderungen im schulischen Alltag einer Einwanderungsgesellschaft.Andere sprechen von einer „Unentwirrbarkeitvon schulischer Kommunikation, kulturellen Mentalitätenund religiösen Prägungen“ 1 , die multi kulturelle und multireligiöseSchulen kennzeichnen.Die Idee, mit einem Format an der Schnittstelle zwischenschulischer und außerschulischer Bildung, eben den Dialoggruppen,politische Lernprozesse anzustoßen, hat sich angesichtsdieser Herausforderungen bewährt.Heimat, Identität, <strong>Religion</strong>: der Umgang mit sensiblenThemenIn den Dialoggruppen wurde häufig die Erfahrung gemacht, dassfür die Schüler insbesondere Themen, die mit ihrer eigenen Einwanderungsbiographieoder der ihrer Eltern zusammenhängen,einen hohen Stellenwert besitzen. Ein wiederholt von vielen <strong>Jugend</strong>lichenin beiden Städten geäußertes Motiv ist die vage Phantasie,einmal in das Herkunftsland der Eltern bzw. Großeltern „zurückzukehren“.Dieses Phänomen war besonders an der Hauptschule in Stuttgartund in den Berliner Schulen in der Mittelstufe zu beobachten.Auch Fernsehnachrichten und Unterhaltungssendungen (Soaps)werden in den Familien noch oft über die Satellitenpro gramme desjeweiligen Herkunftslandes konsumiert. Eine Blitzumfragein einer Dialoggruppe in Stuttgart ergab, dass praktisch alle Schüler1 Rolf Schieder, Jeder Schüler ist ein <strong>Religion</strong>sschüler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom15. 08. 2010; oder: http://www.faz.net/artikel/C30703/jeder-schueler-ist-ein-religionsschueler-30304889.html (letzter Abruf 06.09.2011).hauptsächlich die Nachrichtensendungen des Herkunftslandesihrer Familien sahen.Dies hat nicht nur Auswirkungen darauf, wie die <strong>Jugend</strong>lichen ihrereale Lebenswelt wahrnehmen, sondern auch auf die Art undWeise, wie sie beispielsweise am politischen Diskurs in Deutschlandteilnehmen. Der Nahostkonflikt und seine Geschichteoder Kriege im Nahen und Mittleren Osten werden eher aus derBetroffenenperspektive wahrgenommen, wohingegen das besondereVerhältnis Deutschlands zu Israel von den <strong>Jugend</strong>lichenin Ermangelung einer familienbiographischen Betroffenheiteher randständig wirkt; hier werden emotional besetzte Spannungsfelderund Widersprüche zum gängigen politisch-medialenDiskurs sichtbar, die immer wieder vor allem in den Dialoggruppenin Berlin-Neukölln zur Sprache kamen.Junge Frauen und Mädchen sind offenbar mit besonderen häuslichenBelastungen konfrontiert, die mit familiären, traditionellenund meist konservativen Wertvorstellungen in Verbindung stehen:Von Mädchen wird noch häufig Unterstützung im Haushalt unddie Betreuung jüngerer Geschwister erwartet, während männlicheGeschwister hiervon „freigestellt“ sind. Auch von überzogenenEr wartungen einzelner Familien gegenüber den Kindern ist die Rede:Schülern, die selbst erfolgreich in der Schule sind, wird anscheinendhäufig die Verantwortung dafür übertragen, dass diejüngeren Geschwister ebenfalls gute Noten nach Hause bringen.Weitere sensible Themenfelder betreffen eine differenzierte Herangehensweisean Fragestellungen wie Sexualität vor der Ehe, aberauch durch die Familien vermittelte oder arrangierte Eheschließungen.Hier werden oft unbefangen traditionelle, in den Familienerlernte oder beobachtete Wertvorstellungen geäußert, die diametralim Gegensatz zu den klassisch-liberalen Weltbildern etwader sogenannten 68er Generation unter den Pädagogen stehen.Gerade hier besteht die Gefahr einer konfrontativen Auseinandersetzung,die im schulischen Kontext wenig zielführend, sogareher entfremdend zwischen Lehrkräften und Schülern wirken kann.Aus möglichen Kontroversen in diesen sensiblen Themenbereichensollte jedoch kein falscher Schluss gezogen werden. Auchdiese <strong>Jugend</strong>lichen haben den Wunsch und das Potenzial, sichin einer modernen Gesellschaft zu behaupten.Von besonderem Interesse sind vor allem in den Neuköllner SchulenFragen, die die <strong>Religion</strong>, insbesondere den Islam, betreffen. <strong>Religion</strong>resp. der Islam wird als sinnstiftende Identitätsressource betrachtet,die angesichts wahrgenommener Diskriminierungen und islamkritischerBerichterstattung in den klassischen Medien offenbar Rückhaltverleiht. Nicht selten wird der Islam von den Betroffenen relativrigide ausgelegt. Es kann sogar zu Mobbing oder einem Wettbewerbin der Ausdeutung und Einhaltung religiöser Regeln kommen.10 | Erkenntnisse und Empfehlungen


Dadurch wird nicht nur viel Energie der <strong>Jugend</strong>lichen gebunden,auch Konflikte mit der Schule und den Lehrern sind häufigvorprogrammiert. Für die Lehrer wird es zunehmend schwieriger,zu differenzieren. Der Bericht über den Projekttag an der Otto-Hahn-Schule in Berlin (vgl. S. 20) und das Gespräch mit dem OberstufenleiterBernd Heyer (vgl. S. 27) zeigen exemplarisch, wiesich Kommunikation und Gesprächskultur an einer Schule durchdie Aktionen einer Dialoggruppe positiv verändern können.Gleichzeitig wird deutlich, wie hoch der Bedarf an alternativen Zugängenund an Anregungen zum Umgang mit dem Thema<strong>Religion</strong> im schulischen Alltag einer Einwanderungsgesellschaft ist.Grundsätzlich zeigt sich, dass es besonderer Zugänge undFormate bedarf, um diese emotional besetzten und im schulischenRegelbe trieb eher vernachlässigten Themen aufzugreifen, diein den letzten Jahren gleichzeitig auch zu wichtigen Themen politischerBildung in der Einwanderungsgesellschaft gewordensind. Das offene und pragmatische Format der Dialoggruppe ermöglichtes, die Lern- und Gesprächssituationen so zu gestalten,dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit kontroversenPositionen statt finden kann, dass sich die Deutungsmusterder Schüler erweitern und ihre Argumentationsstrukturen differenzierterwerden. Voraussetzung hierfür ist eine klare Orientierung amPrinzip des Dialogs, die idealerweise eine von gegenseitigemRespekt geprägte Gesprächsatmosphäre schafft. Erst auf dieserBasis kann der Dialogmoderator emotionale Brücken schlagen,die politische Lernprozesse in Bewegung setzen, den Horizont erweiternund Reflexion ermöglichen.Dialog: Haltung und Methode in der politischen BildungUm die erwähnten „Brücken“ bauen zu können, benötigen dieModeratoren ein Grundverständnis von politischer Bildungals dialogischem und interaktivem Prozess, wie er in modernenTheorieansätzen politischer Bildung gefordert wird:„Politische Bildung kristallisiert sich in einer kommunikativen Praxisoffener und demokratischer Verständigung, in der Verhandlungder politischen Konzepte und Deutungsmuster von Schülerinnenund Schülern durch ‚Interaktion’, ‚Begegnung’, ‚Dialog’. Nichtdie Vermittlung von Stoff oder Normen soll im Zentrum politischerBildung stehen, sondern die Bedürfnisse und Erfahrungen, die individuellenKonzepte und Deutungsmuster, die subjektiven Lernthemenund Lernauffassungen, die die Schüler in ihrer Auseinandersetzungmit den Themen politischer Bildung selbst hervorbringen.“ 2Um diesen zweifelsohne hohen Anforderungen gerecht zuwerden, ist eine Weiterbildung aller Dialogmoderatoren notwendig.Sie müssen lernen, dialogisch mit ihren Gefühlen, Wertungenund Vorannahmen umzugehen, die das eigene Denken und Handelnsowie den Umgang mit anderen Menschen prägen.Dialogische Haltungen fördern Respekt gegenüber der Meinungdes Anderen, Vorsicht gegenüber Bewertungen, aktives Zuhörenund ein Gespür für die Mitteilungen des Gegenübers unddie eigenen Äußerungen. 3Diese allgemeinen dialogischen Fähigkeiten und Prinzipien müssendann in der Interaktion mit den Schülern so angewendet werden,dass sie auch für politische Lernprozesse fruchtbar werden.2 Autorengruppe Fachdidaktik, Konzepte der Politischen Bildung – Eine Streitschrift, bpb2011, S. 168.3 Vgl. ausführlich hierzu: Martina und Johannes Hartkemeyer – L. Freeman Dhority,Miteinander denken. Das Geheimnis des Dialogs, Stuttgart 1998.<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 11


Wichtige Kernkompetenzen des Dialogs können, so die Erfahrungim Projekt, auch mit jungen Menschen eingeübt werden. Dabeiist es besonders wichtig, an das subjektive Vorwissen der Schüleranzuknüpfen, um ihre Perspektive auf Identität, Individuen undGesellschaft zu erweitern. Dialogische Kompetenz seitens der Dialogmoderatorenverlangt auch, dass der Moderator ein Gespürdafür entwickelt, ob er tatsächlich bei den Schülern eine Suchbewegunginitiiert oder ob er dabei ist, sie mit seinen eigenenVorstellungen zu beeinflussen. Die kompetente Begleitung einersolchen Suchbewegung impliziert auch, dass sich der Prozessnicht auf ein diskursives Setting im Sinne eines ausschließlich verbalenAustauschs von Argumenten beschränken darf.Gelegenheit zur Selbstwirksamkeit schaffen: Aktivierungder SchülerUnsere Erfahrungen zeigen, dass politische Bildung mit <strong>Jugend</strong>lichenbesonders dann wirksam werden kann, wenn sie sichmit politischem Handeln verbindet 4 – wenn auch zunächst auf einfacherunmittelbarer Ebene. Durch ein gemeinsames Projektbeispielsweise, das von den Schülern mit geplant und umgesetztwird, lässt sich ein enormer Zuwachs an Motivation und Kompetenzenherstellen. Das kann auf einer spielerisch-kreativen Ebene4 Vgl. den Beitrag von Benedikt Sturzenhecker, op. cit.beginnen, etwa indem in der siebten Klasse an der HauptschuleDrachen gebaut werden (vgl. den Bericht, S. 18), bis hin zueiner hochpolitischen Maßnahme wie der Einladung und Debattemit Thilo Sarrazin (vgl. S. 24) oder der Vorbereitung und Durchführungeines Projekttags mit über 150 Teilnehmern in Berlin(vgl. den Bericht, S. 20 und die Interviews, S. 27 und S. 32).Prozessorientierung ermöglicht kreative AnnäherungenDie Arbeit in den Dialoggruppen fällt nicht immer unter das klassischeVerständnis von politischer Bildung. In den Dialoggruppengeht es grundsätzlich darum, den Schülern Möglich keiten zueröffnen, ihre subjektiven Perspektiven auf die Gesell schaftund die eigene Identität zu erweitern und die potenzielle Rolle alsmündige, mitgestaltende Bürger auf ganz individuelle Weiseanzunehmen und auszuloten. Der von uns gesetzte Rahmen(langfristig arbeitende, prozessorientierte, wöchentlich moderierteGruppen) erlaubt große Freiheiten für Umwege, Annäherungenund Experimente, je nach den Möglichkeiten, individuellen Fähigkeitenund der Persönlichkeit der Moderatoren und ihrer Gruppen.Der Erfahrungsbericht aus einer siebten Hauptschulklasse inStuttgart, die sich über mehrere Wochen mit dem Thema <strong>Demokratie</strong>beschäftigt hat, zeigt, wie prozessorientiertes Arbeitenunter thematischer Berücksichtigung des Bildungsplans umgesetztwerden kann (vgl. den Bericht, S. 14).Praktische Hinweise für den Aufbau und dieArbeit mit Dialoggruppen an Schulen1. Sorgfältige und frühzeitige Absprachen mit der Schulleitungund den beteiligten FachlehrernDie Möglichkeiten, Dialoggruppen in den Schulalltag zu integrieren,müssen genau und frühzeitig abgesprochen werden. Inder Regel empfiehlt sich eine Kontaktaufnahme mit den beteiligtenSchulen mindestens sechs Monate vor einer zum Schuljahresbeginngeplanten Aufnahme der Arbeit. Dabei geht es umdie Abstimmung der Ziele und Interessen, die mit dem Projektverfolgt werden, die Auswahl der Klassenstufen in Absprache mitder Schulleitung sowie Arbeitsformen und Dauer des Projekts.Diese Besprechungen sollten mit der Schulleitung und den für diejeweiligen Stufen zuständigen Fachlehrern geführt werden.Es empfiehlt sich, das Projekt zu Beginn der Arbeit, meistam Beginn eines Schuljahrs, auch dem gesamten Kollegiumvorzustellen.Nach Aufnahme der Arbeit ist ein regelmäßiger Austauschprozesszwischen den Dialogmoderatoren und den beteiligtenFachlehrern wichtig; in der Regel sollte einmal im Monat einkur zes Gespräch vereinbart werden, um den Arbeitsprozess zubesprechen.2. Langfristigkeit der ArbeitDie bisherigen Erfahrungen des Projekts zeigen, dass die –verglichen mit anderen Interventionsprojekten und Angeboten derpolitischen Bildung – relative Langfristigkeit des Projekts (zweibis drei Jahre) ein entscheidender Faktor für die Akzeptanz undNachhaltigkeit des Projekts an den Schulen ist. Der Aufbau vonVertrauensverhältnissen mit den Schülern, die dialogorientierte Erarbeitungvon Themen, die Berücksichtigung und Be gleitungder Entwicklungsprozesse setzen eine gewisse Dauer und Kontinuitätder Arbeit in der Dialoggruppe voraus. Nach den bisherigenErfahrungen gehen wir davon aus, dass in den gymnasialen Oberstufenetwa zwei Jahre angemessen sind, in der Hauptschuleoder Realschule bzw. Sekundarstufe I bis zu drei Jahre. Dies sindangemessene Zeiträume, in denen sich nachhaltige politischeBildungsprozesse mit Schülern aufbauen lassen.3. Welche Klassenstufen eignen sich für das Projekt?Im Verlauf der ersten Projektphase haben sich zwei Optionen alsförderlich für die Arbeit erwiesen:An der Rosensteinschule (Grund- und Hauptschule) in Stuttgartzeigen die bisherigen Erfahrungen, dass die Arbeit mit Schülernin Hauptschulen oder vergleichbaren Schulformen in der siebtenKlassenstufe beginnen sollte (vgl. die Interviews, S. 36 undS. 40). So bietet sich die Chance, in einer relativ frühen Phaseder persönlichen Entwicklung der Schüler ein langfristiges undstabiles Verhältnis aufzubauen. Dialoggruppen, die in derneunten Klassenstufe (Mittelstufe/Realschule) begonnen haben,standen vor dem Problem, dass die Prüfungsphase und derbevorstehende Schulabschluss den Aufbau eines nachhaltigenProzesses immer wieder beeinträchtigt haben.An der Otto-Hahn-Schule (Gesamtschule) in Berlin-Neuköllnwurden sehr gute Erfahrungen auch mit einer kontinuierlich über18 Monate hinweg arbeitenden freiwilligen Oberstufen-AGgemacht, die eigene Projekte entwickelte und damit im Schulalltagintervenierte (vgl. die Berichte, S. 20 und S. 24).12 | Erkenntnisse und Empfehlungen


Rahmenbedingungen Politische Bildung mitSchülern in Stuttgart und Berlin. Unterschiede undGemeinsamkeiten.Die Auswahl der Standorte Berlin und Stuttgart erfolgte aufgrundbestehender Kontakte und Projekterfahrungen insbesonderemit dem Integrationsbeauftragten Arnold Mengelkochin Berlin-Neukölln und dem Leiter der Abteilung Integration derStadt Stuttgart, Gari Pavkovic. Die unterschiedlichen sozioökonomischenund integrationspolitischen Rahmenbedingungenin Berlin-Neukölln und Stuttgart machten darüber hinauseinen Vergleich und eine Zusammenarbeit reizvoll: Das nördlicheBerlin-Neukölln zeichnet sich durch einen hohen Anteil vonTransferempfängern staatli cher Sozialleistungen aus; türkischresp. arabisch geprägte Einwanderermilieus und eine Vielzahlvon Moscheevereinen, mus limischen Vereinen und Initiativenprägen diesen Teil des Bezirks ebenso wie große Anstrengungender Bezirksverwaltung und einer Fülle von zivilgesellschaftlichenInitiativen, durch verschiedene Maßnahmen die Problemedes flächengroßen Stadtteils konstruktiv zu lösen. Stuttgartnutzt seine günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungenseit Jahren auch für eine offensive Integrationspolitik. Die Verantwortlichengehen hier von der These aus, dass die Vielzahl derin der Stadt lebenden Menschen mit Migrations hintergrund einewertvolle Ressource im internationalen Standortwettbewerbdarstellt.Die Ausgangssituation der beiden Standorte spiegelt sichin unterschiedlich zusammengesetzten Klassen der am Projektbeteiligten Schulen wider: Die Schüler in Berlin-Neukölln sindüberwiegend türkisch-arabischer Herkunft. Entsprechend größererscheint auch die Bedeutung des Themas <strong>Religion</strong> (im BesonderenIslam) als offenbar identitätsstiftende Ressource. Dieberuflichen Perspektiven vieler Schüler auf Haupt- oder Realschulniveausind in Berlin schlechter als in Stuttgart. Die Schüler anden Stuttgarter Haupt- und Realschulen, die an dem Projekt teilnehmen,spiegeln hingegen die große Herkunftsvielfalt der inStuttgart lebenden Familien mit Einwanderungsbiographie: Siekommen unter anderem aus Italien, Portugal, Spanien, derTürkei, Russland, Griechenland und Afghanistan. Entsprechendgrößer ist die Heterogenität der Klassen und Gruppen auchan den Hauptschulen Stuttgarts. Das Thema <strong>Religion</strong> spielt beispielsweisein dieser Zusammensetzung nach Auskunft derModeratoren nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Interview, S. 40).Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten festhalten:Die lebensweltlichen und schulischen Kontakte der Schüler mitDeutschen ohne Einwanderungsbiographie beschränkensich in beiden Städten in der Regel auf die Lehrer an ihren Schulen,die zum überwiegenden Teil selbst keine Ein wan de rungsbiogra phie haben. Mediale Einflüsse (Satellitensender, Internet)aus den jeweiligen Heimatländern spielen in der Wahrnehmungund mentalen Verarbeitung von Politik eine nicht zu unterschätzendeRolle. Entsprechend sind auch Themen wieHeimat, Identität und partiell <strong>Religion</strong> für die Schüler in beidenStädten von zentraler Bedeutung und müssen in der Arbeitmit den <strong>Jugend</strong>lichen in anderer Weise sensibel berücksichtigtwerden, als etwa bei Gleichaltrigen ohne familiäre Einwanderungsgeschichte.<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 13


3.Praxisberichte undInterviews3.1.Was ist gut an einer <strong>Demokratie</strong>?Oder: Wie wirdBushido Bundeskanzler?An der Rosensteinschule (Hauptschule) in Stuttgart arbeitenseit September 2009 drei Dialoggruppen, dieab der siebten Klassenstufe in den Regelunterricht desFachs Welt-Zeit-Gesellschaft (WZG) eingegliedert sind.Die Kinder und <strong>Jugend</strong>lichen arbeiten wöchentlich eineDoppelstunde mit ihren Dialogmoderatoren an Themen derpolitischen Bildung, die sie dort mit ihren eigenen Erfahrungenund Interessen verknüpfen. Ab Beginn der achtenKlasse im September 2010 wurden in Absprache mit derSchule auch für diese Alterstufe vorgesehene Themen desBildungsplans behandelt. Im Unterricht konnten die Themendann von den <strong>Jugend</strong>lichen in kleineren Referaten, durchdie Anfertigung von Wandzeitungen oder Plakaten oder dieModeration einer Gruppenarbeit dargestellt werden (vgl.Interview, S. 36).Wie gelingt es, das komplexe Thema <strong>Demokratie</strong> mit den<strong>Jugend</strong>lichen so zu behandeln, dass einerseits die Anforderungen des Bildungsplans erfüllt, andererseits aber dennochdialogische Lernsituationen geschaffen und ermöglichtwerden, in die sich die <strong>Jugend</strong>lichen aktiv einbringenkönnen? Ein Erfahrungsbericht:Text: Esra Bozkurt, Florina DemajAls Dialogmoderatorin habe ich mich für das abgebildete Plakat 1entschieden, da es kreativ und ansprechend für Kinder und <strong>Jugend</strong>lichegestaltet ist, die über visuelle Medien leichter einen Zugangauch zu komplexen Themen finden. Als ich von einem der Schülerin einem anderen Zusammenhang zufällig das Wort „Bushido“aufschnappte, griff ich es spontan auf und formulierte die Frage aufdem Plakat so um, dass sie für die Schüler interessanter erschien.An der Tafel stand nun: „Wie wird Bushido Bundeskanzler?“Gemeinsam bearbeiteten wir die sieben auf dem Plakat beschriebenenSchritte. Zunächst sollten die Schüler die Begriffe undihre Definitionen auf dem Plakat vorlesen und sie anschließend miteigenen Worten wiedergeben. Es fiel jedoch fast allen schwer,mit eigenen Worten zu beschreiben, was zum Beispiel eine Fraktionist. Vereinzelt hatten die Schüler zwar Begriffe wie Abgeordnete,Parlament oder Sitze schon einmal gehört, sie konnten diese aberin keinen Kontext einordnen. Mir wurde daher klar, dass selbstdie gut gemachten Materialien und das anschauliche Plakat nochein mal so weit heruntergebrochen werden mussten, bis sie andie Lebenswelten und Erfahrungen der Schüler anknüpfen konnten.Dies versuchte ich in den folgenden Sitzungen umzusetzen.1 Das Plakat „Wie werde ich Bundeskanzler/in?“ veranschaulicht in sieben Schritten den Wegzu diesem Amt. Gedacht ist es für Kinder ab etwa zehn Jahren, vor allem zur Verwendungin der Schule. Auf der Rückseite des Plakats werden alle wichtigen Instanzen auf demWeg dorthin erklärt: Wahlsystem, Bundestag, Parteien, Abgeordnete, Fraktionen, Bundespräsidentund Bundeskanzler. Weitere Informationen zum Thema, vgl. Gerd Schneider –Christiane Toyka-Seid, Das junge Politik-Lexikon, Bonn 2010 und die Website:http://www.hanisauland.de/lexikon/bundeskanzlerin_werden.html (letzter Abruf 06.09.2011).14 | Praxisberichte und Interviews


Respekt und <strong>Demokratie</strong>Zu Beginn der nächsten Sitzung bemerkte ich allerdings, dass einevorausgegangene Prügelei oder Handgreiflichkeit auf dem Schulhofdie Schüler offensichtlich so stark beschäftigte, dass es mir sinnvollerschien, aus dieser aktuellen Situation heraus einen Anknüpfungspunktzu unserem Thema zu suchen. Eine erste Rundebeschäftigte sich daher zunächst mit dem Thema Respekt,da die Prügelei auf dem Schulhof offenbar etwas mit einer „Respektschelle“zu tun hatte, wie die Schüler es nannten. Auf meineFrage erklärten sie, eine „Respektschelle“ sei eine Ohrfeige, dieman austeilen dürfe, wenn man beleidigt wurde oder sich beleidigtfühlt. Eine erste Abstimmung in der Gruppe ergab, dass eineMehrheit diese Form der gewalttätigen Reaktion auf Beleidigungen,Lästereien oder Unrecht für gerechtfertigt hielt. In einer weiterenÜbung vertieften wir das Thema Respekt. Jeder Schüler sollte aufeinem Blatt zwei Fragen beantworten: Was ist respektlos? Und:Was kann man dagegen tun?Aus den Antworten wurde deutlich, dass viele Schüler die Anwendungvon Gewalt als bewährtes und gerechtfertigtes Mittel zurLösung von Konflikten ansehen, und dass dies offensichtlich Teilihrer Alltagserfahrungen ist.In den nachfolgenden Sitzungen griffen wir das Thema Gewalt wiederholtauf, um zu zeigen, dass gegenseitiger Respekt im alltäglichenMiteinander beginnt und eine elementare Grundlage demokratischerLebensform bildet. Es erschien mir wichtig, die alltäglichenGewalterfahrungen der <strong>Jugend</strong>lichen, auch untereinander, mit derAufgabe politischer Bildung und <strong>Demokratie</strong>erziehung zu verbinden.Das InselspielEin weiterer Schritt der Annäherung an das Thema <strong>Demokratie</strong> bestanddarin, den Schülern die Bedeutung von Regeln für dasmenschliche Zusammenleben nahezubringen. Dazu verwendeteich das sogenannte Inselspiel 2 : Bei diesem Spiel sollen sichdie Schüler in die Situation von Schiffbrüchigen versetzen, die aufeiner Insel stranden und nun gemeinsam Regeln aufstellen, umihr Überleben in der Wildnis zu organisieren.Die Schüler werden zunächst in zwei Gruppen aufgeteilt und erhalteneinige Fragen als Anregung, um daraus gemeinsam Regelnfür ihr Zusammenleben zu entwerfen. Im Anschluss an diese Übungsollen die Schüler ihre Gruppenergebnisse der jeweils anderenGruppe vorstellen. Das sind erste Schritte, spielerisch eine Methodenkompetenzzu entwickeln, die die <strong>Jugend</strong>lichen später auchim Fachunterricht für die Vorstellung der Themen, die in der Dialoggruppeerarbeitet wurden, benötigen.Die Übung kam sehr gut an. Die Schüler steigerten sich in dieAufgabe hinein und waren sehr konzentriert. Zeitweise wurde es2 Das Inselspiel wurde dem Lehrbuch für das Fach Welt-Zeit-Gesellschaft entnommen undvon dem Dialogmoderator Konstantinos Kosmidis für die Anforderungen in der Dialoggruppemodifiziert.<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 15


ichtig laut im Raum, weil jeder etwas sagen wollte. Trotz teilweisehitziger Diskussionen konnten sie sich allerdings am Ende immerauf die Antworten einigen. Diese Übung ist auf jeden Fall weiter ausbaufähig.Da wir aber an den Zeitrahmen einer Doppelstundegebunden waren, blieb uns zu wenig Zeit, um alle eingangs gestelltenFragen zu diskutieren.Interessant war, dass eine bis dahin eher unmotivierte Schülerin dieLeitung und Verantwortung für ihre Gruppe sogar freiwillig übernahm.Offensichtlich ist die Übung gut geeignet, um spielerisch undpartizipativ die Themen Zusammenleben und Staatsformenin elementaren Zusammenhängen aufzubereiten. Darüber hinauswerden gleichzeitig Kompetenzen für die Präsentation und Darstellungvon Sachverhalten eingeübt.„In unserer Schule gibt es keine <strong>Demokratie</strong>“In einer weiteren Sitzung stellte ich die Frage: „Was ist gut an einer<strong>Demokratie</strong> in Deutschland?“ Die Schüler benannten AusbildungsundBerufschancen und meinten, wer sich bemühte, hätte inDeutschland gute Chancen. Allgemeine Äußerungen gab es nicht,stattdessen bezogen sich alle Antworten auf die eingangs gestellteFrage unmittelbar auf ihre eigene Lebens- und Erfahrungswelt.Allerdings herrschte in der Gruppe eine allgemeine Unzufriedenheit imHinblick auf die Regeln in der Schule. Einige Schüler meinten, dieSchule praktiziere keine demokratischen, sondern eher diktatorischeVerhältnisse. Die Argumentation der Schüler während der Dialogrundezeigte im Prinzip, dass die Schüler die Grundregeln einer demokratischenGesellschaft in den vorherigen Stunden verstanden hattenund diese nun auf die Schule zu übertragen versuchten. Ihrer Ansichtnach hätten sie dort kein Mitbestimmungsrecht, was sie zu demSchluss führte: „In Deutschland ist doch nicht alles demokratisch.“Den Wunsch der Schüler, darüber zu sprechen, griff ich in Formeines Rollenspiels auf. Ich selbst übernahm die Rolle der Rektorin,der die Schüler nun ihre Kritik an den Regeln der Schule vortragensollten. Während ich in der Rolle der Rektorin antwortete, vereinbarteich mit den Schülern, für die vorgetragene Kritik auch Begründungenzu liefern. Sie sollten also einerseits üben, ihreAnliegen zu formulieren, darüber hinaus zu argumentieren und zubegründen.Nachdem die Schüler ihre Wünsche und Kritik geäußert hatten,forderte ich sie auf, die genannten Punkte nun auch der echtenRektorin vorzutragen. Die Reaktion der Schüler auf diesenVorschlag war allerdings negativ. Einerseits fürchteten sie, ihreAnliegen nicht gut genug begründen zu können, andererseitszeigten sie sich plötzlich verunsichert, weil ihnen einige Regelndann doch sinnvoll erschienen. Im Verlauf des Rollenspielshatten sie beispielsweise verstanden, dass Fächer wie Mathematikund Deutsch für ihre spätere Berufslaufbahn wichtig sind, unddass auch die Lehrer nicht willkürlich agieren, sondern ihrerseitsan die Vorgaben des jeweiligen Bildungsplans gebunden sind.Alle Jungen der Gruppe äußerten Unmut über die ihnen strengerscheinende Kleiderordnung in der Schule. Sie verstanden nicht,warum sie zum Beispiel dort keine Jogginghose tragen dürfen.Auch dieses Thema griffen wir über ein Rollenspiel auf und arbeitetenheraus, dass die Schule den Auftrag hat, ihnen Wissen zuvermitteln und sie auf ihr Berufsleben vorzubereiten. Jetzt sei dieSchule ihr „Beruf“, und in der Regel gehe niemand mit Jogginghosenzur Arbeit. Ebenso stieß die wichtige Schulregel der Pünktlichkeitzunächst auf Kritik. Die Schüler kamen letzten Endesaber von alleine zu der Erkenntnis, dass kein Unterricht möglichist, wenn jeder nach Belieben kommen und gehen darf.Über die Methodik des Rollenspiels gelang es, den Schülern denUnterschied zwischen der Organisation einer Schule und der einesStaates als <strong>Demokratie</strong> zu vermitteln. Den Schülern wurde indieser Stunde aber auch erklärt, dass sie dennoch auf verschiedene16 | Praxisberichte und Interviews


und Aussagen vor, die die Schüler dann der passenden Regierungsformzuordnen sollten. Interessant war zu beobachten, dassdie moderierenden Schülerinnen sehr streng waren. Sie drohtensogar mit Strafen, als einmal Unruhe aufkam.Fotoshooting und ZeitungAls Abschluss des Themas <strong>Demokratie</strong> erstellten die Schüler eineCollage und eine Zeitung, die sie später auch bei der Präsentationdes Themas im Fachunterricht einsetzten. Zunächst gingen wirgemeinsam auf den Schulhof und veranstalteten ein Fotoshootingzum Thema <strong>Demokratie</strong>. Die Schüler waren dabei ausgesprocheneinfallsreich. Unter anderem formten sie mit Körperskulpturendie einzelnen Buchstaben des Wortes <strong>Demokratie</strong> und anschließendfotografierten sie die Performance (vgl. Abb., S. 15).Für eine weitere Abschlussarbeit teilte ich die Schüler in zweiGruppen auf. Die eine Gruppe sollte Fotos ausschneiden und damitein Plakat gestalten, die andere Gruppe erhielt die Aufgabe,eine Zeitung zu erstellen. Darin sollten sie auch die verschiedenenAspekte zusammenfassen, die sie über mehrere Wochen zumThema <strong>Demokratie</strong> bearbeitet hatten. Das erwies sich als gute Methode,um zu ermitteln, wie viel die Schüler zum Thema verstandenhatten und wie sie es zuordnen konnten.Art und Weise in der Schule mitbestimmen können. Wir sprachenüber die Funktion von Klassen- und Schulsprecherwahlen sowiedie Zuständigkeiten der Schülermitverwaltung (SMV), Anliegen derSchüler an die Lehrerschaft weiterzugeben. Auch die Positiondes Vertrauenslehrers wurde erläutert, der im Fall von Problemeneine Anlaufstelle für Schüler darstellt.Schüler lehren SchülerUm den Schülern das eher abstrakte Thema Staatsformen näherzubringen,motivierte ich sie, selbst aktiv zu werden und dieModeration und Leitung einer Sitzung zu übernehmen. Zwei Schülerinnenwurden mit Handouts ausgerüstet und konnten sichvorab mit mir besprechen. Als Moderatorinnen wurden Schülerinnenausgewählt, die in der Regel sehr dominant auftraten und imUnterricht störten. Nun sollten sie die Leitung und Verantwortungübernehmen und sie bewältigten diese Aufgabe nicht nur mitInteresse und Engagement, sondern konnten auch gut vor derKlasse bestehen.Vor der Tafel wurde ein Halbkreis gebildet. Eine Schülerin standvorne an der Tafel und stellte die erste Frage an die Gruppe:„Was ist <strong>Demokratie</strong>?“ Antwort: „Ja, so wie in Deutschland, wenndie Bürger selber entscheiden, wer über sie bestimmt.“ So arbeitetensich die Schüler langsam an die Thematik heran. Von einerweiteren Schülerin, die sich freiwillig melden sollte, wurde danndie Aufgabe übernommen, eine Tabelle mit den Überschriften <strong>Demokratie</strong>,Monarchie und Diktatur zu zeichnen und die assoziativenStichworte der übrigen Schüler zu den drei Staatsformen an dieTafel zu schreiben.Die Herangehensweise empfand die Gruppe als spannend. Sieblieben ruhig, hörten zu, waren konzentriert. Die didaktischeVorgehensweise wurde von den Schülerinnen, die die Rolle derModeratorinnen eingenommen hatten, selbständig entwickelt:Entweder stellten sie Fragen an die Runde oder sie lasen BegriffeFazitZusammenfassend lässt sich sagen, dass ich mit den Schülernüber mehrere Wochen hinweg unterschiedliche Dimensionendes Themas <strong>Demokratie</strong> besprechen konnte: gegenseitigen Respektals praktische Dimension demokratischer Lebensform,Gewaltfreiheit, den Unterschied zwischen der demokratischenVerfasstheit einer Gesellschaft und dem Auftrag und derStruktur einer Institution wie der Schule, die Bedeutung von Regelnfür das Zusammenleben, unterschiedliche Staatsformenund die besondere Verfasstheit demokratischer Gesellschaften.Die Arbeitssituation der Dialoggruppe erlaubte es mir, Lernsettingszu schaffen, die an die individuelle Besonderheit der Gruppeangepasst waren, und darüber hinaus immer verschiedene Methodenund Medien zu erproben. Wichtig war für unsere Gruppeauch, dass wir die Inhalte der einzelnen Stunden zwar in enger Abstimmungmit der Fachlehrerin planten (vgl. Interview, S. 36),aber weiterhin Freiheiten bei der methodischen Umsetzung hatten.Als wir zum Beispiel bemerkten, wie intensiv der Valentinstagund die ihn begleitende Werbung die <strong>Jugend</strong>lichen beschäftigten,war es uns im Rahmen dieser Freiheit einer außerschulischenMaßnahme möglich, zwischendurch spontan eine Sitzung ausschließlichdem Thema Liebe zu widmen, um dann wieder zum Thema<strong>Demokratie</strong> zurückzukehren.Mein Ziel war es, für das eher abstrakte Thema <strong>Demokratie</strong> in derachten Klasse an der Hauptschule Lernsituationen zu schaf fen,die einerseits die Aufmerksamkeit und Konzentration der Schülerförderten, anderseits sie auch aktiv mit einbezogen, damit sieihre Fähigkeiten entdecken, erproben und erweitern konnten. Diesespezifischen Settings sollten gleichzeitig die Voraussetzungenschaffen, den Schülern auch grundlegende Kenntnisse über dasWesen einer <strong>Demokratie</strong> zu vermitteln.<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 17


3.2.Mit Drachen in die FreiheitDas Medium Film in der Arbeit mit DialoggruppenText: Marfa Heimbach„Wir machen uns keine Vorstellung davon, was <strong>Jugend</strong>liche heuteso alles über Internet oder Youtube anschauen. Die Gewalt,die Brutalität ...“, meint Esra Bozkurt, seit 2009 Dialogmoderatorinan der Rosensteinschule in Stuttgart. „Wir müssen der Realitätins Auge sehen“, stellt auch Ulrike Klein-Debiasi fest, Lehrerin ander Rosensteinschule (Hauptschule), „ich bin überzeugt, dassdie meisten Viertklässler heute schon Filme mit den brutalsten Szenensehen.“ Der Medienkonsum vieler <strong>Jugend</strong>licher ist eineGrauzone, die sich der pädagogischen Kontrolle durch Schulenoder Lehrer und meist auch der Eltern weitgehend entzieht.Andererseits ist der qualitativ gut gemachte Spielfilm als Genre seitlangem im Einsatz der schulischen oder politischen Bildung anerkannt,sofern mit seiner Vorführung konkrete didaktische Kon zepteverfolgt werden und er altersgerecht und der Situation angemessenzur Vorführung ausgewählt wird.Filme erzählen Geschichten, sprechen Phantasie und Emotionenan, rühren an das Unterbewusste und setzen dadurch Energienfrei, die <strong>Jugend</strong>liche anschaulicher und nachhaltiger beschäftigenkönnen als gedruckte Lehrsätze oder Schaubilder. So eignensich ausgewählte Filme zum Einsatz auch in den Dialoggruppen,um bestimmte Themen über die Geschichten eines Films aufzuarbeiten oder die <strong>Jugend</strong>lichen da zu berühren, wo sie in ihrerEntwick lung oder durch ihre biographische Vorgeschichte stehen.„Themen, die durch Filme aufgegriffen werden können“, meintKonstantinos Kosmidis, Dialogmoderator in Stuttgart, „wären beispielsweise:Rassismus, Vorurteile, Leben in sozialen Brennpunkten,Mut zur Veränderung, persönliche Geschichten, Erfolg,aber auch politische Themen wie Menschenrechte, <strong>Demokratie</strong>,politische Persönlichkeiten, besondere geschichtliche Ereignisse.“Ergänzen lassen sich Themen wie Drogenkonsum, Rollenbilder,Heimat/Fremde, Familie, Freundschaft, Liebe, Folgen von Gewalt.Der Film „Drachenläufer“ als Beispiel in Stuttgart„Einige Schüler kamen ganz beeindruckt zu mir und meinten: FrauKlein, wir haben den Film ‚Drachenläufer‘ gesehen!“ Ulrike Klein-Debiasi erinnert sich an den Stolz, der die zwölf- bis 14-jährigenSchüler ihrer Klasse erfüllte, nachdem sie über mehrere Wochenhinweg mit ihrer Dialogmoderatorin Esra Bozkurt in Etappen denFilm „Drachenläufer“ angeschaut hatten. Ulrike Klein-Debiasihatte parallel mit ihrer Klasse eine Serie von Buchvorstellungen veranstaltet:„Gleich zu Beginn des Schuljahrs sollte sich jederSchüler und jede Schülerin ein Buch aussuchen, dieses lesen unddann präsentieren.“ Darunter befand sich ebenfalls der Roman„Drachenläufer“ 1 , den eine der afghanischstämmigen Schülerinnenauswählte, las und anschließend vorstellte.1 Khaled Hosseini, Drachenläufer, Berlin 2003.Esra Bozkurt wählte den Film mit Bedacht, nachdem sie einigeMonate die Struktur und Gruppendynamik ihrer Dialoggruppebeobachtet hatte: „In ihrem Alltag leben die <strong>Jugend</strong>lichen in einemSpannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne und stehenvor der Aufgabe, die Migrations- und Fluchterfahrungen ihrerFamilie so in ihre Identität zu integrieren, dass sie in die Zukunftgerichtet ist. Dieser Druck ist umso ausgeprägter, je strikter inden Familien nach traditionellen oder religiösen Werten und Gebotengelebt wird. In der Gruppe waren drei der Schüler sehrstark von einer solchen tradierten Lebenswelt geprägt und zusätzlichdurch Flucht- und Kriegserfahrungen belastet. Alledrei waren im frühen Kindesalter als Flüchtlinge aus Afghanistannach Deutschland gekommen, zwei Mädchen und ein Junge.“Hinzu kam ein Junge, dessen Familie aus Pakistan stammte, undder sich nur schwer in die Klasse und die Dialoggruppe einordnenkonnte. In einer Sitzung haben die Schüler davon erzählt,woher ihre Familien stammen. Es wurde über die Herkunftsländerdiskutiert und die drei afghanischen Kinder erzählten, dassin ihrem Geburtsland Krieg herrsche. Das weckte die Neugierder anderen und führte zu der Frage: „Warum herrscht denn beieuch Krieg? Was ist denn da los?“Das gemeinsame GruppenerlebnisUm die Fragen der Gruppe und die spezifischen, diffusen, schwergreifbaren Vorprägungen und Vorbelastungen der Schüler aufzunehmen,entschied sich Esra Bozkurt, mit allen zusammen denFilm „Drachenläufer“ anzuschauen. „Ich fand das sehr gut“, kommentiertUlrike Klein-Debiasi im Nachhinein. „Da entsteht etwas, wassie alle gemeinsam erlebt haben. Selbst der schwierige Jungeaus Pakistan war beeindruckt und meinte, das wäre ‚toll gewesen,ein toller Film‘.“ Das gemeinsame Erlebnis hat ihn in eine positiveGruppendynamik einbinden können. Nachhaltiger hat das gemeinsameErlebnis auf die übrigen Schüler gewirkt, auf ihr sozialesEinfühlungsvermögen in das Schicksal anderer und vor allemauf die drei afghanischen Kinder, deren Selbstbewusstsein undauch schulische Leistung, vor allem im Deutschunterricht, merklichbesser wurden. Denn das Gemeinschaftserlebnis in der Gruppebesteht nicht in einer Form der Beschäftigungstherapie, so wie mansich eventuell zuhause ein Video nach dem anderen „reinzieht“,sondern in einer dosierten, begleiteten, altersgerechten und handlungsorientiertenHerangehensweise. „Unterbrechungen einesFilms, Besprechungen oder gar gemeinsame Aktionen im Anschluss,das kennen die <strong>Jugend</strong>lichen zuhause nicht“, stellt UlrikeKlein-Debiasi fest.Gruppenspezifische Auswahl des Films „Drachenläufer“„In dieser Gruppe lag eine bestimmte Betroffenheit vor“, analysiertKonstantinos Kosmidis. „Dadurch hatten diese <strong>Jugend</strong>licheneinen inneren Bezug zum Thema des Films, eine innere Verbindung,bei der man sie über den Film abholen kann.“ Diese innere Ver-18 | Praxisberichte und Interviews


indung stellte in diesem spezifischen Fall eine emotionale Brückein die Realität ihres Lebensraums in Stuttgart her.Im Mittelpunkt des Films steht die Geschichte einer Freundschaftzwischen zwei Jungen, die im Kabul der 1970er Jahre aufwachsenund deren Schicksale durch die sowjetische Invasion in Afghanistanund die Zeit der Taliban-Herrschaft geprägt werden. Esra Bozkurt:„Der Film erzählt die Geschichte einer Familie aus Afghanistan.All gemeine menschliche Themen wie Familie, Freundschaft, Verrat,Ehre, Liebe, Schuld und Sühne werden vor dem Hintergrundeiner traditionellen Gesellschaft geschildert und erhalten durchKrieg und Flucht eine besondere Dimension. Alle Schüler inder Gruppe schauten den Film sehr interessiert und voller Aufmerksamkeitan. Im Gegensatz zu ihrem sonstigen Verhalten fielenwährend der Vorführung kaum flapsige Kommentare, nicht einmalvon den Schülern, die sonst häufig störten. Sie waren von demFilm sichtlich ergriffen und am Ende sehr ruhig. Dass diese Ruheungewöhnlich war, fiel sogar den Schülern selbst auf.“Offene Dächer, ein Drache und ein Granatapfelbaum„Hinterher haben wir die Schüler zunächst einmal zeichnen lassen“,berichtet Florina Demaj, die als Protokollführerin die Dialoggruppebegleitet hat. „Einfach das, was bei ihnen einen starken Eindruckhinterlassen hat. Und es war so, dass hauptsächlich drei Motivegezeichnet wurden: zum einen die beiden Jungen, als Symbol fürdie Freundschaft, zum anderen diese offenen Dächer, woraussie dann die Drachen haben steigen lassen, also das Symbol desDrachens, der Hoffnung, der Freiheit. Und als drittes Motiv habensie einen Baum gezeichnet, diesen Granatapfelbaum, wiederumals Symbol der Freundschaft, in den diese Jungen im Film ihreNamen eingeritzt haben.“„Solche Drachen habe ich als Kind auch gebaut“Das Motiv der fliegenden Drachen im Film hat bei dem Jungen ausPakistan offenbar unmittelbar positiv besetzte, aber verschüttete,ferne Kindheitserinnerungen wach gerufen. „Solche Drachen habeich als Kind auch gebaut“, soll er, wie Esra Bozkurt berichtet, spontanausgerufen haben. Das brachte die Dialogmoderatorinnenauf die Idee, mit allen <strong>Jugend</strong>lichen zusammen Drachen zu bauen.Da keiner in der Gruppe wusste, die Moderatorinnen eingeschlossen,wie man nun eigentlich Drachen baut, luden sie einen technischversierten Bekannten ein, besorgten mit den Schülern allenotwendigen Materialien und dann, Schritt für Schritt, ging eslos. Hier war Konzentration gefragt, Geduld, gestalterische Phantasie,aber auch feinmotorische Geschicklichkeit. Die Schülerhatten sichtlich Spaß am Basteln und doch auch ganz unvorhersehbareSchwierigkeiten. „Die Aktion hatte einen unerwarteten Nebeneffekt“,erinnert sich Esra Bozkurt. „Wir stellten fest, dass dieSchüler enorme Schwierigkeiten hatten, selbst einfach und klarformulierte Bauanleitungen für eine nicht sehr komplexe Handlungzu verstehen.“ Mehr noch, auch feinmotorisch waren die Zwölfbis14-Jährigen oft erst nach mehrfacher Hilfestellung in der Lage,bestimmte Handgriffe nachzumachen. „Es war nötig, auf jedenSchüler einzeln einzugehen. Aber an Interesse hat es nie gemangelt.“Nach zwei Wochen konzentrierter Arbeit ließen die Schüler dieDrachen voller Freude in den blauen Himmel von Stuttgart steigen.Der Film „Drachenläufer“ ist nur exemplarisch vorgestellt. Nicht fürjede Gruppe ist der Film geeignet. Jeder Dialogmoderator wirdim Einzelfall jeweils spezifisch abwägen müssen, welcher Film fürwelche Gruppe oder welches Thema zum Einsatz gebracht wird.Das Medium Film eignet sich dazu, Problemstellungen durch dieSprache der Bilder eine besondere Lebendigkeit zu verleihenund Anschaulichkeit zu erzeugen. Den Moderatoren bietet das Mediumdie Gelegenheit, den individuellen Reaktionen der Schülerin der Nachbereitung Raum zu geben, ihre Wahrnehmungen zu begleitenund kreativ daran weiterzuarbeiten.Filmpädagogisches, themenorientiertes Begleitmaterial zu ausgewähltennationalen und internationalen Kinofilmen:http://www.bpb.de/publikationen/SNA3WX,0,0,Filmhefte.htmlhttp://www.bpb.de/filmbildungwww.kinofenster.de<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 19


3.3.Schüler machenSchuleWie aus einem Gespräch über das Beten in der Schuleein Projekttag wurdeAls freiwillige AG für Schülerinnen und Schüler der Oberstufe,die sich mit Themen wie <strong>Religion</strong>, Zugehörigkeit,Heimat und Integration beschäftigen wollen, war die Dialoggruppean der Otto-Hahn-Schule (Gesamtschule)im Berliner Bezirk Neukölln im September 2009 im Rahmendes Modellprojekts der Bundeszentrale für politischeBildung und der <strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> angeboten worden.In den folgenden beinahe zwei Jahren trafen sich zwölfSchülerinnen und Schüler mit arabischem und türkischemFamilienhintergrund jeden Mittwochnachmittag mit denbeiden Moderatoren Jochen Müller und Chalid Durmoschin einem Aufenthaltsraum der Schule. Dabei wurde überMultiperspektivität nicht nur geredet: Im Rahmen einesdurch die Gruppe organisierten Projekttags an der Schulesowie einer von den Schülern selbst initiierten Diskussionsrundemit Thilo Sarrazin wurde die Dialogidee auchpraktisch umgesetzt, was sich als nicht immer ganzeinfach herausstellte.Text: Jochen Müller„Wir kennen unsere Schüler viel zu wenig“, hatte Gabriele Holz,Leiterin der Otto-Hahn-Schule, in einem Gespräch zur Vorbereitungder Dialoggruppen an ihrer Schule einmal gesagt. Andere Lehrerbestätigten diesen Befund, der auch damit zu tun haben dürfte,dass über 90 Prozent der Otto-Hahn-Schüler eine Einwanderungsbiographiehaben. Viele von ihnen sind muslimisch sozialisiert.Auf der anderen Seite, dem Lehrerkollegium, ist von etwa hundertLehrern kaum einer nicht deutscher Herkunft.Dies könnte ein Grund dafür sein, dass man bei ihnen auf Bilder vonMigranten und Muslimen trifft, wie sie auch in den öffentlichenDiskursen verbreitet sind. So nehmen es jedenfalls die Schüler wahr:Oft hieß es in Gesprächen der Dialoggruppe, dass die Lehrer die<strong>Jugend</strong>lichen „nicht richtig verstehen“ würden. Deutlich wurde aberauch, dass die Schüler sich ihrerseits nur selten Gedanken überdie Fragen und die Konflikte machen, mit denen sich ihre Lehrer tagtäglichauseinandersetzen müssen. Vielmehr prägen Klischeesauch hier das Bild – und manchmal führt das zu Überempfindlichkeitenund Missverständnissen: „Die können keine Muslime leiden“, heißtes dann schnell einmal, wenn sich jemand ungerecht behandelt fühlt.Das zeigte sich auch bei einem Gespräch in der Dialoggruppe, indem es um das Gebet in der Schule ging. Anlass war die Entscheidungeines Gerichts, die es Berliner Schulen ermöglicht, dasöffentliche Beten in der Schule zu verbieten. Die meist religiösenSchüler der Gruppe zeigten sich zunächst empört: „Wo bleibt dennda die <strong>Religion</strong>sfreiheit?“ fragten sie und vermuteten: „Die Leutehaben Angst vor dem Islam.“Nachdem die Moderatoren die Perspektive des Gerichts dargelegtund aus der Begründung des Urteils referiert hatten, dass Re -ligionsfreiheit auch den Schutz nichtreligiöser Schüler beinhalte, diewomöglich von anderen unter Druck gesetzt werden könnten,räumten die <strong>Jugend</strong>lichen ein, dass so etwas durchaus vorkäme.„Ein bisschen Mobbing“ gebe es schon, meinte einer. Dannkämen Fragen wie: „Komm doch mit beten …“ oder: „Warum fastestdu nicht? Du bist doch Muslim. Schämst du dich nicht?“Manche war fen anderen gar vor, „schlechte Muslime“ zu sein.Dieses Verhalten und das ihm zugrunde liegende <strong>Religion</strong>sverständniseinzelner Schüler vor allem in der Mittelstufe kritisieren undbeklagen die Teilnehmer der Dialoggruppe. An ihrer Ablehnungdes Gerichtsurteils halten sie aber fest. Ihm lägen Vorurteile undÄngste vor dem Islam zugrunde, die auch viele Lehrer teilen würden.Deren Haltung, so sehen es die Schüler, reiche von Un kenntnisüber Desinteresse bis hin zu offener Ablehnung. Einige würden ihnensogar Vorhaltungen machen: „Wie könnt ihr an Gott glauben?Wie könnt ihr denken, dass es Paradies und Hölle gibt?“ Als „Menschenohne <strong>Religion</strong>“ bezeichnet eine Schülerin die Lehrer,„die sehen sich selbst als Atheisten.“Gerne, das wird im Gespräch sehr deutlich, würden die Schüler anbeidem etwas ändern – also am Islamverständnis einiger ihrerMitschüler auf der einen und an den Vorstellungen von Lehrern über<strong>Religion</strong>, Kultur und Herkunft der <strong>Jugend</strong>lichen auf der anderenSeite. Denn, dass fehlende Kenntnisse, gegenseitiges Unverständnisund die mangelnde Kommunikation zwischen Lehrern undSchülern eine Ursache von Problemen an der Schule darstellen,ist allen klar.Hier hakten die Dialogmoderatoren nach: „Was kann man machen“,fragten sie, „um das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülernzu verbessern?“ Sie lösten damit eine lebhafte Diskussion aus, ginges doch nun um die Frage, wie die Schüler selbst bestehendeProbleme in ihrem direkten Umfeld angehen und Veränderungenherbeiführen könnten. An deren Ende stand eine Idee: Wiewäre es, wenn wir einen Projekttag organisieren, bei dem Lehrerund Schüler sich Zeit nehmen, um miteinander ins Gesprächzu kommen – zum Beispiel über Kultur und <strong>Religion</strong>?„Es ist ganz schön schwer, mit uns klar zu kommen“Mit dieser Idee wandten sich die Schüler an die Schulleitung. Als dortgrünes Licht für das Experiment gegeben wurde, begannen intensiveVorbereitungen, in die teilweise auch Schüler eingebunden waren,die nicht an der Dialoggruppe teilnahmen: Unter dem Titel „Schülermachen Schule“ wurde ein Flyer gestaltet, mit dem bei Lehrernund Schülern für den gemeinsamen Projekttag geworben wurde.Sawsan Chebli, die persönliche Referentin des Berliner Innen-Programm des Projekttags an derOtto-Hahn-Schule, 27. 01. 201108:00 – 08:30 Begrüßung und Einleitung und Filmvorführung08:30 – 09:30 Impulsreferate, Diskussion09:30 – 09:45 Gruppeneinteilung20 | Praxisberichte und Interviews


senators Ehrhart Körting, kam eigens, um den Projekttag zu eröffnen;mit Christian Plähn, einem jungen Filmemacher, wurde ein kleinerFilm über die Dialoggruppe gedreht und in Zusammenarbeit mit derSchulleitung ein „multikulturelles“ Catering organisiert. Das gemeinsameOrganisieren und Planen wurde schon vor dem Projekttag zueiner wichtigen Lernerfahrung, in der die Gruppe neue Kompetenzenentdeckte und einübte. Vor allem aber ging es darum, Fragestellungenfür Arbeitsgruppen zu formulieren, in denen Lehrerund Schüler während des Projekttags einander zuhören und miteinanderins Gespräch kommen sollten. Zunächst wurden dazudie Fragen und Anliegen von Schülern gesammelt. Das reichte vonKritik an Intransparenz bei der Notenvergabe bis zu Klagen überDiskriminierungen durch Lehrer. Dann wechselten die Schüler diePerspektive, versetzten sich in die Rolle der Lehrer und erkannten,dass es für diese „ganz schön schwer sein kann“, mit ihrenSchülern klar zu kommen. Dazu wurden auch Lehrer in dieDialoggruppe eingeladen, die erklärten, warum ihnen das Klassenzimmermitunter wie ein „Kriegsschauplatz“ erscheine oder wiefrustrierend es für sie sei, wenn sie das Gefühl haben, die Schülernicht erreichen zu können. Die Arbeitsgruppen des Projekttagssollten daher genau diese Themen ansprechen – Konflikte und Kommunikation:Mut zur Streitkultur ; Kultur und <strong>Religion</strong>: Fremdheitund Begegnung ; Notenvergabe: Transparenz und Kommunikation –so lauteten die Themen einzelner Arbeitsgruppen, die von denSchülern vorbereitet und später moderiert wurden.An dem Projekttag Ende Januar 2011 nahmen dann über 150Lehrer und Schüler teil. Zwei der Schüler aus der Dialoggruppeführten als Moderatoren das Plenum durch den Projekttag. AlleBeteiligten sahen das Experiment hinterher als geglückt an. Zwarkonnte der Austausch von Positionen und Perspektiven in denArbeitsgruppen nicht gleich zu Lösungen der angesprochenen Fragen,Probleme und Konflikte führen. Aber ein erster Schritt wargetan: Lehrer und Schüler waren erstmalig in einen Dialog getreten,der (beinahe) auf gleicher Augenhöhe stattfand. So wurdenauch sensible und konfliktgeladene Themen wie das Kopftuch ineiner sehr konstruktiven Atmosphäre diskutiert. Hier berichtetenLehrerinnen, dass sich ihre Generation ja sehr für Frauenrechteeingesetzt hätte und sie deshalb kaum Toleranz für einen Lebensentwurfvon Frauen aufbringen könnten, den sie als Unterdrückungwahrnehmen. Einige Schülerinnen betonten hingegen, dasssie sich frei für das Kopftuch entschieden hätten und es für sieAusdruck ihres Selbstverständnisses als religiöse Musliminnen sei.Der Projekttag hat allen Beteiligten Anstöße gegeben, sich zuzuhörenund besser kennenzulernen. Und die Schüler erkannten, dassihr Engagement in der Schule nicht nur respektiert wurde, son dernauch zu konkreten Ergebnissen führen kann. Möglicherweise, sodie Hoffnung der Schulleitung, gehen von dieser Initiative neue Impulsefür die schulische Kommunikation und insbesondere fürden Umgang mit religiösen Prägungen und gegenseitigen Bildernaus, die den Alltag in „multikulturellen“ Schulen oft belasten. Begrüßtwurde daher von allen Beteiligten die im Zuge des Projekttagsent standene Idee, eine kontinuierlich zusammenkommende Gruppeaus Lehrern und Schülern zu bilden. Und noch ein deutliches Signalkam von der Schulleitung: die Anregung, den nächsten Projekttagin der Otto-Hahn-Schule doch wieder zusammen mit der Dialoggruppezu gestalten. (Vgl. auch die Interviews, S. 27 und S. 32.)09:45 – 11:45 Arbeitsgruppen / Gruppenarbeit I11:45 – 12:30 Pause mit Imbiss12:30 – 13:30 Arbeitsgruppen / Gruppenarbeit II13:30 – 14:00 Zusammenfassung und Abschluss<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 21


Schüler machen Schule Gemeinsam gestaltenSchüler und Lehrer ihren SchulalltagLiebe Lehrerinnen und Lehrer der Otto-Hahn-Schule,haben auch Sie manchmal das Gefühl, dass die Schüler Ihnennicht den nötigen Respekt entgegenbringen? Dass Sie es mitunterkaum schaffen, sich Gehör zu verschaffen? Dass der Stressmit einigen „Problemschülern“ die ganze Klasse beeinträchtigt?Vor allem in der Mittelstufe gehören solche und andere Problemezum Alltag an unserer Schule und sie sorgen nicht selten fürschlechte Stimmung. Wir haben sogar den Eindruck, dass mancheLehrer angesichts dieser Situation schon irgendwie aufgegebenund aufgehört haben, sich für ihre Schüler zu interessieren.Da kann es dann auch schon mal zu allgemeinen Verurteilungenvon Schülern kommen, wenn sich einzelne „da neben“ benehmen.Und das macht die Stimmung auch nicht gerade besser …Können wir vielleicht gemeinsam versuchen, diese Situation zuverändern? Wie kann es z.B. gelingen, auch den „schwierigen“Schülern zu vermitteln, dass es ja um sie selbst und ihrePerspektiven für die Zukunft geht?Wir sind Schülerinnen und Schüler einer Oberstufen-AG, dieseit September 2009 an unserer Schule stattfindet und vonder Bundeszentrale für politische Bildung und der <strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong><strong>Stiftung</strong> gefördert wird. Im kleinen Kreis haben wir uns dort mitunterschiedlichen politischen und persönlichen Fragen beschäftigt,die uns alle interessieren – unter anderem auch mit dem Verhältnisvon Lehrern und Schülern an unserer Schule.Daraus entstand die Idee eines gemeinsamen Studientags: Hiersollen Lehrer und die Schüler der Oberstufe miteinander ins Gesprächkommen, unterschiedliche Perspektiven austauschen undVorschläge entwickeln, wie ein besseres Zusammenleben und-arbeiten in der Schule gestaltet werden könnte.Sehr gerne würden wir mit Ihrer Unterstützung einen solchen Studientagorganisieren. Unter anderem würden wir dazu kompetenteReferenten einladen. Vor allem aber sollte der Tag dazu dienen,gemeinsam über mögliche Lösungen und erste Schritte auf demWeg dahin nachzudenken.Vielleicht können wir mit diesem Studientag ja ein Signal setzenund dazu beitragen, dass wir alle zufriedener mit unserer Schulesind und mehr Spaß am Unterricht haben.Mit herzlichen und erwartungsvollen GrüßenIhre Dialoggruppe der Otto-Hahn-Schule (Oktober 2010)22 | Praxisberichte und Interviews


Arbeitsgruppen für den Projekttag an derOtto-Hahn-Schule, 27.1.2011AG 2Welche Regeln sollen anunserer Schule gelten?AG 1Notenvergabe – Transparenzund KommunikationAG 7Konflikte und Kommunikation –Mut zur StreitkulturZentrales Thema des Projekttagsan der OHOVerbesserung der Beziehung zwischenLehrern und SchülernAG 3Kultur und <strong>Religion</strong>Fremdheit und BegegnungAG 4Konflikte und Kommunikation –Mut zur StreitkulturAG 5Wie wünschen wir uns dieBeziehung zur Mittelstufe?AG 6Verbesserte Arbeitsbedingungenfür Schüler und LehrerLeitfragen der Dialoggruppe für die ArbeitsgruppenAG 1: Notenvergabe – Transparenz und Kommunikation1. Für die Lehrer: Kommt es häufiger vor, dass Schüler sich vonmir ungerecht benotet fühlen? Gibt es Unterschiede in deneinzelnen Fächern?1. Für die Schüler: Kommt es häufiger vor, dass ich mich ungerechtbenotet fühle? Gibt es Unterschiede in den einzelnenFächern?2. Für die Lehrer: Wie geht es mir, wenn sich Schüler ungerechtbenotet fühlen?2. Für die Schüler: Wie geht es mir, wenn ich mich ungerechtbenotet fühle?3. Für die Lehrer: Woran orientiere ich mich bei der Notenvergabe,was sind die wichtigsten Kriterien?3. Für die Schüler: Wie beurteile ich meine Leistung? Was sinddie wichtigsten Kriterien?AG 2: Welche Regeln sollen an unserer Schule gelten?1. Welche Regeln müssen Lehrer an einer Schule einhalten, damitein guter Unterricht durchgeführt werden kann? Welche Regelnmüssen Schüler an einer Schule einhalten, damit ein guterUnterricht durchgeführt werden kann?2. Welche Regeln werden hier an der OHO von Lehrern nichteingehalten? Welche Regeln werden hier an der OHO vonSchülern nicht eingehalten?AG 3: Kultur und <strong>Religion</strong> – Fremdheit und Begegnung1. Für die Lehrer: Welche Situationen treten an der OHO zwischenLehrern und den Schülern wiederholt auf, in denen SieFremdheit aufgrund von <strong>Religion</strong> und Kultur erleben? WählenSie eine sehr typische Situation aus.1. Für die Schüler: Welche Situationen treten an der OHO zwischenSchülern und Lehrern wiederholt auf, in denen ihrFremdheit aufgrund von <strong>Religion</strong> und Kultur erlebt? Wählt einesehr typische Situation aus.2. Für Lehrer und Schüler: Stellt diese Situation in einer Szene alsRollenspiel dar. Die Szene soll ruhig sehr übertrieben dargestelltwerden. Gebt der Szene einen Titel.AG 4: Konflikte und Kommunikation – Mut zur Streitkultur1. Für die Lehrer: Welche Konfliktsituationen treten an der OHOzwischen Lehrern und Schülern wiederholt auf? Wählen Sie einesehr typische Situation aus.1. Für die Schüler: Welche Konfliktsituationen treten an der OHOzwischen Schülern und Lehrern wiederholt auf? Wählt eine sehrtypische Situation aus.2. Für Lehrer und Schüler: Stellt diese Situation in einer Szene alsRollenspiel dar. Die Szene soll ruhig sehr übertrieben dargestelltwerden. Gebt der Szene einen Titel.AG 5: Wie wünschen wir uns die Beziehung zur Mittelstufe?(Die AG hat mit den gleichen Leitfragen wie AG 4 gearbeitet.)AG 6: Verbesserte Arbeitsbedingungen für Schüler undLehrer1. Wie ist die Atmosphäre an der Schule? Räumliche Faktoren undandere Rahmenbedingungen, z.B. Freistunden und fehlenderAufenthaltsraum, Lehrerzimmer, die auf die Atmosphäre in derSchule Einfluss nehmen.2. Welche Räume sind schön, welche Räume könnten verbessertwerden, gibt es Räume, die fehlen?AG 7: Konflikte und Kommunikation – Mut zur Streitkultur(Die AG hat mit den gleichen Leitfragen wie AG 4 gearbeitet.)<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 23


3.4.„Er hat nicht sorichtig zugehört“Die Dialoggruppe an der Otto-Hahn-Schule trifftThilo SarrazinText: Jochen Müller„Schauen Sie mich an! Sehe ich etwa aus, als wäre ich unterdrückt?!“fragt die 18-jährige Schülerin Thilo Sarrazin selbstbewusst. Sieträgt ein Kopftuch und gerade hatte ihr der Politiker und Autor von‚Deutschland schafft sich ab’ erklärt, dass eine muslimische Fraumit Kopftuch niemals integriert sein könne, denn, so Sarrazin: „SolangeSie ein Kopftuch tragen, werden Sie niemals das Gefühlhaben, in Deutschland integriert zu sein.“ Auch die anderen Schülerinnenund Schüler, die im Stuhlkreis um Thilo Sarrazin sitzen,reagieren ungehalten – aber sie bemühen sich sichtlich um einenrespektvollen Dialog und darum, ihre Emotionen in Argumenteumzusetzen oder mit Ironie und Humor zu reagieren. So erzählt einSchüler von seiner Familie, die aus Gaza nach Deutschland gekommenist: „Heute ist mein Vater Arzt, wir haben zwei deutscheAutos, einen deutschen Kühlschrank.“ „Dann haben Sie dochkein Integrationsproblem“, erklärt Sarrazin daraufhin. „Ja, abermeine Mutter trägt Kopftuch.“ Lautes Gelächter in der Runde.Schließlich hatten sich die Schülerinnen und Schüler intensiv aufdieses Gespräch vorbereitet. Bereits lange vor dem Erscheinendes umstrittenen Werks von Thilo Sarrazin im August 2010 hattesich die Dialoggruppe mit Fragen der Integration und im Zugedessen auch mit den Thesen des ehemaligen Finanzsenators vonBerlin auseinandergesetzt. Auf einem dieser Treffen entstanddie spontane und zunächst wohl von den <strong>Jugend</strong>lichen nicht ganzernst gemeinte Idee, den prominenten Politiker doch einfach indie Gruppe einzuladen, um nicht nur über ihn, sondern gleich mitihm zu diskutieren. Die Moderatoren der Gruppe griffen dieseIdee auf und ermutigten die <strong>Jugend</strong>lichen. Gemeinsam wurde ein24 | Praxisberichte und Interviews


Einladungsschreiben verfasst (vgl. S. 26) – und zur Überraschungder Schüler sagte Thilo Sarrazin zu.Die <strong>Jugend</strong>lichen fühlten sich ernst genommen und anerkannt.Das mag dazu beigetragen haben, dass niemand das Treffeninfrage stellte, als später Sarrazins Buch herauskam und die öffentlichenDebatten scharf und teilweise sehr emotional geführtwurden. Vielmehr spornten diese Debatten die <strong>Jugend</strong>lichen nochmehr an, mit dem Autor über ihre Ansichten, Gefühle und ihreAlltagserfahrungen als junge Deutsche migrantischer Herkunft insGespräch zu kommen, oder besser: mit ihm in einen Dialog zutreten. Denn dazu gehörte ja, auch ganz andere Meinungen geltenzu lassen, genau zuzuhören und zu versuchen, Dinge aus derPerspektive des „Anderen“ wahrzunehmen. Dies einzuüben undzu praktizieren stand schließlich im Mittelpunkt der wöchentlichenTreffen der Gruppe.Die Moderatoren der Gruppe unterstützten diesen Impuls, was inden darauffolgenden Wochen zu einer engagierten und multiperspektivischenBeschäftigung mit Fragen zur Integration undüber Islam und Muslime in Deutschland führte. Die Gesprächewaren immer dann besonders intensiv, wenn die Gruppe begann,gemeinsam nachzudenken und dabei die Lebenswirklichkeitenund Alltagserfahrungen der <strong>Jugend</strong>lichen ins Spiel kamen – etwaals es um Kriminalität in ihrem Stadtteil ging, um das Für undWider von Sozialleistungen, um bestens integrierte Frauen undMädchen mit Kopftuch, um die Einwanderungsgeschichteihrer Eltern. Auch die Reaktionen von „Deutschen“ kamen zur Sprache,wenn diese die <strong>Jugend</strong>lichen in der U-Bahn das Buch vonThilo Sarrazin lesen sahen.Eine große Rolle spielte auch die <strong>Religion</strong>. Die Schüler warfenSarrazin vor, ein falsches Bild vom Islam und von Muslimenzu haben. Dieses zurechtzurücken, war eines ihrer wichtigstenAnliegen. An ihrem eigenen persönlichen Beispiel wollten siedemonstrieren, dass Migranten arabischer und türkischer Herkunftnicht – das hatte sie besonders empört – vor allem „ObstundGemüsehändler“ seien, die immer mehr „Kopftuchmädchen“hervorbrächten, wie Sarrazin unter anderem formuliert hatte.Vielmehr wollten sie als junge Erwachsene (muslimischen Glaubens)gesehen werden, die vor dem Abitur stehen, studierenund Karriere machen wollen. Schließlich seien sie es, so die Schüler,die demnächst die Rente von Herrn Sarrazin verdienenmüssten.er mit uns geredet hat, fand ich ziemlich herabsetzend“, meinteeine der <strong>Jugend</strong>lichen hinterher. „Er hat nicht so richtig zugehört,was wir ihm zu sagen hatten.“ Tatsächlich hatte Sarrazin sichvon den Bemühungen der Schüler, ihm andere Einblicke in dasLeben von Migranten und Muslimen in Deutschland nahezubringen,weitge hend unberührt gezeigt, was die inzwischen dialogerfahrenenjun gen Leute sehr genau registriert haben. Zwar gestander ihnen zu, dass sie selbst wohl Ausnahmen darstellten under „individuelle Menschen mit ihren unterschiedlichen Temperamenten“kennengelernt habe, an seinen allgemeinen Feststellungenin seinem Buch ändere dies jedoch nichts. Vorurteile hätten ja aucheinen „wahren Kern“, so Sarrazin. „Was sollen wir denn nochmachen, um integriert zu sein?“, fassten daher einige Schüler ihreEmpfindungen nach dem Gespräch zusammen.Auf der anderen Seite waren die Schülerinnen und Schüler dennochstolz auf ihre Leistung: Sie hatten aus der Dialoggruppeheraus die Initiative ergriffen, und ein bekannter Politiker war gekommen,um mit ihnen zu sprechen. Und wie auch ihre Lehrerfeststellten, lernten viele im Verlauf der Vorbereitungen, Argumenteklarer und strukturierter vorzutragen. Überdies haben die <strong>Jugend</strong>lichenindividuell und als Gruppe Selbstwirksamkeit, Aufmerksamkeitund Anerkennung in ihrem Lebensumfeld erfahren. Siehaben gelernt, einander zuzuhören, gemeinsam nachzudenken,andere Perspektiven einzunehmen, und dass ein Dialog aufgegenseitigem Respekt beruht – selbst wenn es ihnen manchmalschwergefallen ist, diesen Respekt zu wahren. So war es auchein Ausdruck ihrer demokratischen Kompetenz, dass sie Thilo Sarrazin– trotz der scharfen Debatte – zum Abschluss einen Blumenstraußüberreichten und das Gespräch mit ihm bei einer TasseTee und selbstgemachtem Couscous fortsetzten.Die Vorbereitungen auf die Begegnung führten für die Teilnehmerder Dialoggruppe dann nicht nur zu einer intensiven Beschäftigungmit Sachfragen – an zwei Samstagen traf man sich zusätzlich inkleinen Workshops zur Vorbereitung des Gesprächs. Auch in derSchule blieb das bevorstehende Ereignis nicht unbemerkt: Schülerund Lehrer sprachen die Dialoggruppenteilnehmer auf das Treffenmit dem berühmt gewordenen Autor an. Die <strong>Jugend</strong>lichen genossendiese Aufmerksamkeit und waren stolz auf ihre Initiative.Inhaltlich rief das mehr als zweistündige Treffen mit Thilo Sarrazinim Dezember 2010 gemischte Reaktionen hervor. 1 „Die Art, wie1 Vgl. den Bericht über das Treffen und Interviews mit Schülern: http://www.bpb.de/themen/WPRJGA,1,0,Thilo_Sarrazin_im_Dialog.html (letzter Abruf 06.09.2011).<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 25


Auszug aus dem Einladungsschreiben der Dialoggruppean Thilo Sarrazin im Juni 2010Sehr geehrter Herr Sarrazin,wir sind eine Gruppe von Oberstufenschülern der Otto-Hahn-Schule in Berlin-Neukölln und haben uns in einer freiwilligenArbeitsgruppe – wir nennen sie „Dialoggruppe“ – ausführlich mitIhrem Interview in der Zeitschrift Lettre International befasst. (…)Das Interview hat uns sehr berührt. In unseren Diskussionen habenwir festgestellt, dass Sie in vielerlei Hinsicht richtige undinteressante Punkte angesprochen haben, die wir teilweise auseigener Erfahrung bestätigen können – z.B. über die Geschichteder Stadt Berlin, Probleme im Bildungssystem, aber auch mitTeilen der migrantischen Bevölkerung. Auf der anderen Seitesind viele Ihrer Aussagen für uns nicht zutreffend, und über manchePassagen haben wir uns geärgert. (…) Besonders irritierthaben uns folgende Aussagen:Wir verstehen nicht, warum Sie sagen, dass „die Türken“ dieAbsicht haben sollten, Deutschland zu erobern; und warumsie – jetzt und in Zukunft – keine produktive Funktion in Deutschlandhaben sollten. Wir haben das Gefühl, dass Sie „uns“(Menschen türkischer und arabischer Herkunft) die Integrationsfähigkeitabsprechen. Für einige von uns war es auch verletzend,dass Sie von „Kopftuchmädchen“ sprechen – dabeisind bei uns an der Schule und auch in unserer Arbeitsgruppeviele Mädchen und junge Frauen, die ein Kopftuch tragen,Abitur machen und demnächst studieren werden.Sehr gerne möchten wir Sie zu einem Gespräch zu uns in die Otto-Hahn-Schule einladen, um mit Ihnen über diese und andereThemen zu sprechen, (…) und würden uns sehr freuen, wennSie die Zeit für einen Besuch an unserer Schule finden.Mit vielen Grüßen, die Dialoggruppe der Otto-Hahn-Schule inBerlin-Neukölln26 | Praxisberichte und Interviews


3.5.„Es ist wichtig, mitden Schülernim Dialog zu sein“Im Rahmen des Projekts „<strong>Jugend</strong>, <strong>Religion</strong>, <strong>Demokratie</strong>“ nahmen im Jahr2009 zwei Dialoggruppen an der Otto-Hahn-Schule in Berlin-Neukölln (Schultyp:Gesamtschule) für jeweils zwei Schuljahre ihre Arbeit auf. Die Lehrer derSchule waren zwar selbst nicht Teilnehmer der Dialoggruppen, konnten aberderen Auswirkungen auf den schulischen Alltag miterleben. Bernd Heyer,Oberstufenleiter an der Otto-Hahn-Schule, über seine Beobachtungen nachAbschluss der Pilotphase.ist die offizielle Formulierung, liegt inder Mittelstufe bei etwa 80 Prozent, in derOberstufe ist der Anteil noch größer, daliegt er bei etwa 80 bis 90 Prozent. Es gabmal eine Ausführungsbestimmung desSenats, die besagte, dass in einer Schulenicht mehr als 25 Prozent Schüler mitMigrationshintergrund sein sollten. Konsequentwäre es dann, wenn man mitBussen die Zehlendorfer hier nach Neuköllnbringt und umgekehrt. Aber das trautsich natürlich niemand. Insofern ist das Papier,auf dem das stand, nichts wert.Interview: Marfa HeimbachWas hat die Otto-Hahn-Schule bewogen,sich auf dieses außerschulischeProjekt einzulassen?Der Vorschlag wurde von außen an uns herangetragen.Ich finde es schön, dasseine Schule, die doch recht viele Problemehat, aufgesucht und gefragt wird, ob manInteresse hat, sich an einem solchen Projektzu beteiligen.Wie sieht denn die Situation an IhrerSchule aus?Wir gehören in Nord-Neukölln zu denSchulen, die es nicht so einfach mit derSchülerschaft haben. Wir haben vorallem mit Migrationsproblemen unter denSchülerinnen und Schülern zu tun. DerAnteil von Schülern nicht deutscher Herkunft,„nicht deutscher Herkunftssprache“, dasSie sprachen eingangs von einerMenge Probleme. Was sind das fürProbleme?Das erste und größte Problem ist dasSprachproblem. Es ist vor allem auch deshalbein Problem, weil man es den Schülernzunächst gar nicht anmerkt. Die Alltagssprache,die Umgangssprache, die ist ja vorhanden.Da können sich die Schüler relativeloquent mit einem unterhalten, so hatman als Lehrer zunächst nicht das Gefühl,dass da ein Problem vorliegt. Das tauchterst auf, wenn Eltern dazukommen und die<strong>Jugend</strong>lichen bei der Übersetzung helfenmüssen; es taucht vor allem im Bereich<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 27


der Fachsprache auf, und ganz gravierendschlägt es sich in den schriftlichenKlausuren nieder. Wenn ein Lehrerneu an unsere Schule kommt, in denOberstufenunterricht, dort die erste Klausurabsolviert hat und sich die Ergebnisseanschaut, dann bekommt er oft einenkleinen Kulturschock.Heißt das, der Lehrer hat aus seinerPerspektive eine Erwartungshaltung,von der er zunächst gar nicht realisiert,dass sie aus der Perspektive derSchülerbiographie nicht erfüllt werdenkann?So ist es. Genau. Es gibt inzwischenFortbildungs-Kurse, DAZ, Deutsch alsZweitsprache, denn das ist noch wasanderes als Deutsch als Fremdsprache.Aber im Grunde genommen, obwohlwir ja seit Jahrzehnten Einwanderungslandsind, sind wir diesbezüglich ganzweit zurück. Das macht sich vor allen Dingenin den Naturwissenschaften bemerkbar.Schlechte Ergebnisse in Mathematikhaben oft damit zu tun, dass dieSchüler sprachlich vielen Fragestellungennicht folgen können, Textaufgaben nichtverstehen usw. Und dieses Problem bestehtnicht nur in der Mittelstufe, sondernauch in der Oberstufe.Man braucht also neue Wege derVermittlung über die traditionellenLehrmethoden hinaus?Man muss dazusagen: Die Schüler, diejetzt bei uns in der Oberstufe sind, die könnennatürlich denken. Das merkt mansofort, wenn man beispielsweise die sprachlichenKlippen umschifft oder mal nachfragt:„Verstehst du denn das Wort?“ Dannkommt als Antwort: „Nein, eigentlich nichtrichtig.“ Aber insgesamt merkt man, dass siedurchaus das intellektuelle Vermögen haben,Sachverhalte zu erschließen und auchzu Lösungen zu kommen.Wie könnte die Schule konstruktiv mitder Diskrepanz zwischen sprachlichemDefizit und intellektueller Fähigkeitumgehen?Es ist für diese Schüler ein ganzes Stückschwerer. Beim jetzigen Abitur hattenwir einen Schnitt von 2,8, das liegt schonein bisschen unter dem Berliner Schnitt.Aber man muss auch in Rechnung stellen,dass die Schüler wirklich große Schwierigkeitenhaben, bestimmte Textvorgaben imZentralabitur zu verstehen. Denn in der Ausarbeitungskommissionsitzt nicht unbedingtjemand, der gewissermaßen „Deutschals Zweitsprache“ im Blick hat. WelcheWörter könnten schwierig sein? Wo mussich Hilfestellungen geben, wo vielleichtein Wort noch mal erläutern. Das merkt manja auch in seinen eigenen Klausuren,wenn man Wörter ergänzt oder eine Übersetzungvon Fachsprache oder Fremdwörterngibt, dass die Schüler trotzdem oftnicht in der Lage sind, den Inhalt zu verstehen,kontextuell zu verorten. Wenn siedann in der Klausur sitzen und praktischerstmal nur eine Viertel- oder eine halbe Stundelang im Wörterbuch nachschauen!Viele Wörter sind da auch gar nicht drin. Alsoda würde ich mir auch von der offiziellenSeite ein bisschen mehr Aufmerksamkeitwünschen, beispielsweise dass manbeim Zentralabitur in der Formulierung derFragen oder Aufbereitung der Textedoch auch diese Schüler berücksichtigt.Das Sprachproblem ist also einelementares Problem für die Vermittlungvon Unterrichtsinhalten, dassowohl auf Lehrer- als auch auf SchülerseiteStress auslöst. Gibt es Ihrer28 | Praxisberichte und Interviews


Einschätzung nach noch weitereProbleme?Als Oberbegriffe möchte ich vor allem zweiDinge nennen: einerseits das „kulturelleGepäck“, also tradierte Regeln und Rollenbilder, aber auch auf das elterlicheHerkunftsland bezogene politische Konflikte,die die <strong>Jugend</strong>lichen von zuhausemitbringen, und zweitens den sozialen Bereich.Das hängt zwar ein wenig zu sammen,aber in der öffentlichen Diskussionist es oft so, und das macht dann auchhäufig die Schärfe darin aus, dass die Bereichevertauscht oder in einen Topfgeworfen werden. Ich glaube, man mussdas trennen.Was verstehen Sie in diesem Kontextunter sozialen Problemen?Viele unserer Schüler müssen staatlicheHilfe finanzieller Art in Anspruch nehmen.Das merkt man bei Klassenfahrten,aber auch bei der Buchausgabe. Esgibt hier eine Sonderregelung, dass dieKosten übernommen werden, also dasind sie dann auch nicht mehr benachteiligt.Aber trotzdem bringen sie natürlich vonzuhause diese Schwierigkeiten mit. Einigeder Schüler müssen jobben, das heißt,ein Teil ihrer Kraft ist dadurch gebunden,dass sie für ihren eigenen Bedarf oderauch für den ihrer Familie zuarbeiten müssen,zuhause Hilfestellungen gebensollen oder auch Geschwister versorgen.Ferner spielt das „Recht der Straße“als Mischung aus sozialem und kulturellemGepäck eine große Rolle.Was verstehen Sie denn hier unterdem „Recht der Straße“?Sowohl bei unseren Oberstufenschülern,noch viel stärker aber in der Mittelstufe,beobachten wir, dass bestimmte kulturelleVereinbarungen und Regeln im Umgang,die wir hier in der Schule aufrechterhaltenund auch voraussetzen, dass die Schülerinnenund Schüler diese gar nicht kennen.Hier liegt die Betonung allerdingsmehr auf Schüler. Manche Konfliktsituationmündet in Handgreiflichkeiten.Oder unsere Kolleginnen merken das, weilhier ein gewisser Machismo herrscht.Besonders in Konfliktsituationen werdenmanche Schüler gegenüber Kolleginnenverbal sehr ausfällig oder ignorierenihre Autorität, indem sie einfach so tun,als sei die Kollegin Luft. Das trifft allerdingsnicht unbedingt auch im Unterricht zu.„Dieser Dialog ist vonder Schülerschaftorganisiert worden. Siehaben den Projekttagso organisiert, dass einwechselseitiger Dialogmöglich wurde.“<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 29


„Insgesamt ließ sich der Eindruckgewinnen, dass die Schüler sich mitihrer Dialoggruppe identifiziert haben,dass die Gruppe identitätsstiftendgewirkt hat und die Kommunikationuntereinander gut lief.“Da, glaube ich, wird die fachliche Kompetenzder Kolleginnen doch akzeptiert.Heißt das, der Konflikt beruht unter anderemauf einem Kommunikationsproblem?Die Lehrerin steht wahrscheinlichperplex und hilflos da und weißnicht, wie sie reagieren soll?Ja. Die ist oft völlig verzweifelt. Und dasjeweilige Ereignis hat ja ein Nachspiel,das dann bei mir im Büro endet, weil wirdas natürlich nicht tolerieren können.Es kommt dann zu einem Gespräch. Allerdingserscheint es mir manchmal,dass auch nur die Hälfte von dem ankommt,was wir da im Grunde genommenan Einsichtsfähigkeit voraussetzen.Wie wirkt sich das auf das Verhältniszwischen Lehrkörper und Schülerschaftaus?Das Frustrationspotenzial auf Seiten derLehrer ist oft sehr hoch – aber auchauf Seiten der Schüler. In meiner Positionkenne ich sowohl die Sorgen und Nöteder Kollegen, höre aber auch die Klagender Schüler über Fehlverhalten, manchmalangebliches Fehlverhalten, aber auchdurchaus berechtigte Klagen.Hat die Dialoggruppe diese Kluftzwischen Lehrern und Schülern aufgegriffen?Ja. Sie haben mit der Methodik desRol lentauschs gearbeitet. Sie haben sichin die Lehrer hineinversetzt und dashatte auch wirklich den Vorteil, dass esnicht konfrontativ ablief, nicht in einem„wir und ihr“ mündete, in dem die gegenseitigenVorwürfe ungefiltert rausgelassenwerden, sondern es war ein Spiel überden Rollentausch und die Selbsterfahrung.Daraus resultierte eine sehr konstruktiveArbeitsatmosphäre.Der Dialog sollte also nicht nur unterden Schülern, sondern auch zwischenSchüler- und Lehrerschaft neu belebt,neu aufgestellt werden?Richtig. Genau diesen Weg hat die Dialoggruppean unserer Schule auf eigeneInitiative mit dem Projekttag beschritten.(Vgl. den Bericht, S. 20.)War eine Veränderung in Bezug aufdas soziale Verhalten gegenüberLehrern und auch unter den Schülernals Resultat der Arbeit in der Dialoggruppespürbar?Ja, da muss etwas stattgefunden haben.Denn dieser Dialog ist von Seiten der Schülerschaftinitiiert worden. Sie haben dasThema aufgegriffen und gewissermaßen ineine organisatorische Form ge gossen,die einen wechselseitigen Dialog möglichgemacht hat. Die Schüler haben denProjekttag mit Hilfe der Dialogmode ratorensehr gut strukturiert. Es gab ein Sonderplenumund verschiedene Arbeits gruppen.Bei einigen wurde bewusst auf eine paritätischeLehrer-Schüler-Zahl geachtet. AndereGruppen bestanden nur aus Schülernoder nur aus Lehrern. Aber vor allemgab es erstmals diesen Dialog.Wie hat das Kollegium darauf reagiert?Im Vorfeld gab es schon ein paar Bedenkenaus dem Kollegium. Nicht pauschal,aber einige empfanden es wohl alsbefremdliche Idee, andere waren eherüberrascht. Vom Ergebnis her aber war derProjekttag dann ein durchschlagenderErfolg. Beide Seiten haben davon wirklichprofitiert. Es gab allerdings auch Irritationen:In meiner Arbeitsgruppe hat sich eineKollegin kritisch darüber geäußert, dassauch zwei Moderatorinnen mit Kopftuch inder Schule auftauchten. Gewissermaßenvon außen. Das hat doch Widerspruchhervorgerufen, weil die Vorbildfunktionangezweifelt wurde. Das war nicht einfachund wurde dann noch mal separat thematisiert,nicht nur in der Nachbesprechungund der Auswertung in der Dialoggruppe,sondern auch in der Gesamtkonferenz.Als Schule ist es ja unsere Aufgabe, diedemokratisch-freiheitlichen Ansprücheder Gesellschaft zu wahren. Aber man mussderartige Irritationen sicher auch auf dasrichtige Maß bringen. Es kommt nicht sodarauf an, was die Leute auf dem Kopfhaben, sondern was sie im Kopf haben.Ich denke, dass es ganz wichtig war,mit den Schülerinnen und Schülern im Dialogzu sein.Wie beurteilen Sie das Resultat desProjekttags?Es ist den Schülern gelungen zu zeigen –eine Arbeitsgruppe hieß ja auch „radikalerRespekt“ – dass man Respekt voreinanderhat, dass man auch respektvoll miteinanderumgehen soll und muss. VonSeiten der Schüler genauso wie von Seitender Kollegen. Das ist an diesem Tag ganzdeutlich geworden, und das ist eigentlich dasherausragende Ergebnis. Daran müssteman nun weiter arbeiten, das Ergebnis irgendwiesichern. Eine Herausforderungbleibt die Frage: Wie kann ich das auch ineine ganz andere Schulkultur überführen?Der Projekttag ist unmittelbar ausder Arbeit der Dialoggruppe hervorgegangen,genauso wie die Initiative,Thilo Sarrazin zu einem Gespräch mitden Schülern einzuladen (vgl. denBericht, S. 24). An der zwei Jahre bestehendenDialoggruppe haben Sieselbst als Lehrer nicht teilgenommen,weil die Schüler dort mit den Dialogmoderatorenunter sich in Kontakttreten sollten. Konnten Sie dennochAuswirkungen auf den schulischenAlltag feststellen?Von außen habe ich das natürlich betrachtenkönnen. Und es gab in regelmäßigenAbständen Gespräche mit Jochen Müllerund mit den Dialogmoderatoren. Wasich ganz spontan mitbekommen habe, istdie Entwicklung einer Schülerin und einesSchülers, die ich selber in meiner Deutschgruppehatte. Der Schüler hat sich wirklichganz rasant nach oben entwickelt, vorallem, was die Unterrichtsleistung anbelangt.Das war deutlich zu merken. Die Dialoggruppehat sich mit diesem Buch vonThilo Sarrazin beschäftigt, sie haben es gemeinsamgelesen, und ich hatte wirklichdas Gefühl, dass dieser eine Schüler zumindestwahnsinnig davon profitiert hat, weiler sich mit diesen Texten auseinandergesetzt30 | Praxisberichte und Interviews


und versucht hat, die Gedankengänge nachzuvollziehen,selber eigene Vorstellungenzu entwickeln und einzubringen. Der hat sichbei mir wirklich sehr gut entwickelt, sodasser auch im Anschluss eine gute Notemitnehmen konnte.Bei der Schülerin aus meiner Deutschgruppelag der Fall anders. Sie kam vomGymnasium und ihre schulische Leistunghatte einen relativ hohen Level. Bei ihrmachte es sich aber deutlich bemerkbar,dass die Teilnahme an der Dialoggruppesich sehr positiv auf ihr Selbstbewusstseinausgewirkt hat.Insgesamt ließ sich der Eindruck gewinnen,dass sich die Schüler mit ihrer Dialoggruppeidentifiziert haben, dass die Gruppeidentitätsstiftend gewirkt hat unddie Kommunikation untereinander gut lief.Zu Beginn war in der Dialoggruppeauch die <strong>Religion</strong> ein zentrales Themaunter den Schülern. Wie geht dieSchule mit der thematisierten und durchKopftücher optisch sichtbaren Religiositätum?Ja, ein Fokus lag auf der religiösen Identitätund auf Schwierigkeiten, wie ichdas verstanden habe, auch mit den Eltern.Das war ein weiterer Schwerpunkt. Ichglaube, man muss das ernst nehmen,was die <strong>Jugend</strong>lichen da so mitbringen,auch an Religiosität. Denn diese Religiositätist in sich oft widersprüchlich undhinterfragbar. Wenn ich in der siebtenKlasse frage: „Was ist für euch wichtig?“Dann wird oft geantwortet: „Meine <strong>Religion</strong>.“Fragt man dann aber genauer nach,so merkt man, das ist gar nicht so konkret,und es geht dahinter tatsächlich umetwas ganz anderes. Lehrer und Schülerleben oft in Parallelwelten. Der Umgangmit komplexen Schülerbiographienund deren häuslichen Belastungen geht imFachunterricht oft unter, auch wenndie Klassenlehrer das durchaus wissen.Für unsere Schüler ist es zentral wichtig,andere Perspektiven zu bekommen, überhaupterstmal Perspektiven zu entwickelnund den Horizont zu erweitern. Dassdiese Community, ich nenn’ es mal so,sich auch mit ihren positiven Beispielen inder Schule präsentiert und den Schülerndamit Mut macht, dass sie Sachen erlernenund erreichen können. Einesolche Rolle erfüllen natürlich auch dieDialogmoderatoren des Projekts oderVorbilder aus anderen Berufszweigen wiezum Beispiel Mely Kiyak, eine erfolgreicheKolumnistin der Berliner Zeitungmit Migrationshintergrund, die wirselbst mal in der Schule zu Gast hatten.Konnten die Perspektiven der Schülererweitert werden?In der Dialoggruppe ist da ein Prozessvor sich gegangen. Am Anfang hatte ichdas Gefühl, dass die Gruppe eher diesereligiös-thematische Orientierung hatte.Aber durch die Auseinandersetzung mitThilo Sarrazin haben sich die themati schenPerspektiven dann doch sehr verlagert,und das kam von innen, aus der Gruppeselbst heraus.Fühlen sich die <strong>Jugend</strong>lichen oft nichtwertgeschätzt?Ja, das Gefühl bringen die Schüler mit. Daswar wohl auch eines der Hauptmotive fürdiesen Projekttag. Weil sie das Gefühl haben,sie werden doch so ein bisschenvon oben herab behandelt. Dass von au ßenversucht wird, Probleme der Schule aufzugreifen,dass ein Dialog geführt wird – dasist in den letzten Jahren eigentlich viel zusehr vernachlässigt worden.Befürworten Sie eine Fortsetzung desProjekts mit Dialoggruppen?Ja, unbedingt. Je früher man anfängt, umsobesser. Aber man sollte es auchnicht unterschätzen. Diese Siebtklässlersind noch ein wilder Haufen. Das wirdsicher eine neue Herausforderung für dieDialogmoderatoren.<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 31


3.6.„Lernt eure Potenzialekennen“Cemal Aydin (20) ist gebürtiger Berliner, seine Eltern stammen aus der Türkei.Zwei Schuljahre lang war er Mitglied der Politik AG, die im Rahmen desProjekts „<strong>Jugend</strong>, <strong>Religion</strong>, <strong>Demokratie</strong>“ für die Oberstufe an der Otto-Hahn-Schule eingerichtet worden war. Im Sommer 2011 bestand er sein Abitur.Die Dialoggruppe hat ihn entscheidend geprägt.Interview: Marfa HeimbachWas hat Sie an der Teilnahme an derDialoggruppe gereizt?Eines Tages, es war im politikwissenschaftlichenUnterricht in der zwölften Klasse,kamen zwei Dialogmoderatoren zu uns.Sie haben das Projekt vorgestellt undes Politik AG genannt. Und da ich durchausInteresse an Politik hatte, habe ich mirgesagt: „Ja, okay, eine Politik AG, warumnicht?“Die AG war ein freiwilliges Angebotfür die gesamte Oberstufe. Wer kamdenn in diese Gruppe?Soweit ich mich erinnere, waren wir anfangszehn oder elf Teilnehmer, einebunte Truppe. Zunächst mussten wir unsnatürlich erst einmal untereinander kennenlernen.Denn es kamen einige aus derelften und auch aus der 13. Klasse. Dazuwir aus der zwölften Klasse. Zwischenden Jahrgängen hat man sich vorher auchnicht so intensiv gekannt, eigentlichgar nicht. Wir waren also eine ziemlich gemischteTruppe und haben uns dannsozusagen im Laufe der Jahre aufeinandereingeschworen.Wie seid ihr anfangs in der Dialoggruppe,der Politik AG, vorgegangen?Ganz am Anfang haben wir uns zunächsteinmal gegenseitig vorgestellt. Danach habenwir uns die Frage gestellt: „Was wollenwir denn eigentlich zusammen machen?“Wir haben uns dann einen Themenkatalogüberlegt, geplant. Wir Schüler haben dieThemen festgelegt, auf die wir Lust hatten,und haben dann später darüber diskutiert.Welche Themen habt ihr ausgewählt?Wir haben über aktuelle Geschehnissein der Politik, im Sport gesprochen, auchüber <strong>Religion</strong>, über private Sachen, undwir haben über ganz allgemeine Themendiskutiert.Und wie oft habt ihr euch getroffen?Einmal in der Woche. Für 90 Minuten.Manch mal sogar auch darüber hinaus. Eshat uns einfach viel Spaß gemacht. DieZeit ging immer wahnsinnig schnell vorüber.Was war denn in der Dialoggruppeanders als im normalen Unterricht?Das Formale sozusagen, das war ganzanders. Der Lehrer stand gewissermaßenin der Hierarchie nicht ganz oben undwir ganz unten, sondern wir waren auf Au-32 | Praxisberichte und Interviews


genhöhe mit den Dialogmoderatoren. Allesaßen in einer Runde, die Dialogmoderatorenmitten unter uns, ganz normal, alshätten wir uns schon jahrelang gekannt,wie Freunde eben. Das Besondere für unsSchüler war, dass wir nicht darüber nachdachten:„Was passiert, wenn ich jetztmeine Meinung sage, sie dem Lehrer nichtgefällt und ich daraufhin eine schlechteNote bekomme?“ Diese Angst war zum Beispielüberhaupt nicht da. Auch nicht derGedanke, vielleicht könnte es ja falsch sein,was ich sage oder sagen will, und auchdafür könnte ich eine schlechte Note bekommen.Oder eventuell einen schlechtenEindruck beim Lehrer hinterlassen. Wirhaben einfach fröhlich und unbeschwert unsereMeinung ausgetauscht. Natürlichgab es da auch Streitigkeiten.Worüber habt ihr denn gestritten?Zum Beispiel in der Sarrazin-Debatte. Wirhaben sein Buch gelesen und seineInterviews, und daraufhin gab es natürlichsofort aus der Gruppe Entrüstung: „Derist ein Rassist! Ich will mich mit ihm nichttreffen! Was soll ich mit dem, der maguns doch so oder so nicht!“ Da herrschteam Anfang viel Frustration. Ich war, ehrlichgesagt, auch am Anfang sehr schockiertund dachte: „Warum redet er so? Erbraucht sich doch nur mal unsere Schuleanzusehen! Wir sind doch Abiturientenund beweisen sozusagen das Gegenteil vondem, was er behauptet.“ So dachte ich.Aber nachdem wir uns dann näher mit denThesen von Herrn Sarrazin beschäftigthatten, haben wir gemerkt: „Nein, aufregenbrauchen wir uns nicht. Wir machen soweiter wie bisher und beweisen ihm einfachdas Gegenteil.“ Und als wir uns dannspäter mit ihm getroffen haben, habenwir zunächst einmal unsere Seite vorgestellt,und er dann seine Seite: Er hat unsalso seine Zahlen wieder runtergerattert.Ihr habt euch mit Thilo Sarrazingetroffen. Worüber habt ihr mit ihmdiskutiert?In seinem Buch gibt es Stellen, da wirdzum Beispiel gesagt: „Weil wir einenbestimmten ethnischen Hintergrund haben,zum Beispiel einen türkischenoder arabischen, wären wir nicht in derLage oder nicht fähig, ganz normal inDeutschland zu leben.“ Diese Aussage istnatürlich kompletter Unsinn. Wir machengerade Abitur. Auch ich habe gerade meinAbitur gemacht. Ich bin deutscher Staatsbürger.Ich bin nirgendwohin migriert. Ichwar immer in Berlin. Für „Migrationshintergrund“brauchen wir eigentlich eineneue Begrifflichkeit. Ich kann seine Haltungnicht verstehen. Okay, er ist Volkswirtschaftlerund hat nur mit Zahlen zu tunund nicht mit Menschen. Man kann ihmwohl nichts Neues mehr beibringen.(Vgl. den Bericht, S. 24.)Ihr habt euch nach dem Gespräch alsonicht besser verstanden gefühlt?Danach gab es noch ein Essen, das wir selbervorbereitet hatten, arabische und türkischeKüche, und da haben wir uns nochweiter ausgetauscht. Ich denke schon,dass er eine Seite von Berlin-Neukölln kennengelernthat, die er so nicht kannte. Ichweiß natürlich nicht, ob er daraufhin seineMeinung komplett ändern wird oder will, dasliegt natürlich bei ihm. Wir haben ihm einfachdie Realität gezeigt, wie Neukölln auchsein kann, wie Neukölln auch sein möchte,denn wir sind die <strong>Jugend</strong>. Wir sehen dieSchüler von der ersten bis zur siebten, vonder siebten bis zur zehnten Klasse. Wirahnen, was sie eigentlich erstreben, wasfür ein Potenzial sie tatsächlich haben.Und wenn wir unser Abitur machen, möchtenwir auch akzeptiert werden, so bunt,wie wir sind. Solche Menschen, die HerrSarrazin offenbar kennengelernt hat, diegibt es allerdings auch. Es ist natürlich nichtalles Friede, Freude, Eierkuchen.Das trifft doch sicherlich auch aufeure Schule zu. Was habt ihr denn fürProbleme und wobei kann vielleichteine Dialoggruppe wie eure helfen, umzum Beispiel die Kommunikation oderdie Beziehungen zu verbessern?Ich habe herausgefunden, dass der Dialogzwischen Menschen einfach elementarist. Das ist einfach alles! Man sieht es auchzwischen den Schülern und den Lehrern.Wenn sie sich unterhalten, wenn sie wirklichDialog führen, wenn der eine klar unddeutlich spricht und der andere auch wirklichzuhört, und wenn es keine Vorurteile gibt,dann finden wir auch Lösungen. Es ist leiderso, dass die Lehrer auch sehr viel Stresshaben, denn wir Schüler sind natürlich auchnicht immer einfach zu steuern. Aber esmuss mehr Offenheit geben, sowohl bei denLehrern als auch bei den Schülern. Manmuss mehr aufeinander zugehen. Irgendwiemüssen die Bilder, die in den Medien überden Hintergrund der Schüler oder auchderen soziale und häusliche Probleme gesehenund gehört werden, einfach ersteinmal abgeschaltet werden. Erst einmalsollte man den Schülern und Schülerinnenselbst zuhören. Wir reden sehr viel übereinander,aber nie miteinander.Wo verstehen die Lehrer euch Schülernicht oder sehen euch falsch?Wir hatten ja einen Projekttag an der Schule(vgl. den Bericht, S. 20), den wir mit derDialoggruppe vorbereitet haben: „Schülermachen Schule“. Ein Projekttag für dieSchüler und für die Lehrer. Auf dem Projekttagwar zum Beispiel die <strong>Religion</strong> einsehr großes Thema. Wir sind eine Schule,die sehr viele Schüler mit islamischemGlauben hat, und da gab es natürlich Gesprächsbedarf.Zum Glück haben dieLehrer auch wirklich ganz offen nachgefragt:„Ich habe dies und das über deine <strong>Religion</strong>gehört, stimmt das?“ Wir haben ganzoffen diskutiert. Die Lehrer haben uns Fragengestellt und wir haben sie beantwortet.Welche Fragen haben die Lehrergestellt?Zum Beispiel haben die Lehrer nach demFasten gefragt. In der Mittelstufe, in dersiebten Klasse, gibt es ja Schüler, die sindgerade mal zwölf oder 13 Jahre alt, unddie fasten. Im Sommer ist es sehr schwer,in so jungen Jahren zu fasten. Nichts zuessen, nichts zu trinken und das bis achtoder neun Uhr abends. Dann gab es imSportunterricht zum Beispiel einige Fälle,dass Schüler umgekippt sind. Und deswegenhaben die Lehrer zum Beispiel gefragt:„Wie ist es denn in eurer <strong>Religion</strong>? Mussman fasten? Gibt es einen Zwang dazu?“Und, gibt es den Zwang zu fasten?Natürlich nicht. Wenn man als Schülerzwölf oder 13 Jahre alt ist, und wenn mankörperlich in der Lage ist zu fasten, dann<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 33


„Wir sind eine Schule, die sehr viele Schüler mitislamischem Glauben hat, und da gab es natürlichGesprächsbedarf.“soll man es machen. Wenn das nichtder Fall ist, dann soll man natürlich essen.Es gibt dort keinen Zwang. Da haben dieLehrer dann gesagt: „Ach so, okay, na dann!“Wie sollen Lehrer sich verhalten, wenngerade junge Schüler es selbst nochgar nicht richtig einschätzen können,wozu sie körperlich in der Lage sindund wozu nicht? Oder wenn die Schülerdem Lehrer nicht glauben, dass esdiesen Zwang nicht gibt?Das haben uns die Lehrer auch gefragt:„Was ist, wenn die Schüler doch fastenmöchten?“ Darauf haben wir gesagt: „SuchenSie das Gespräch mit den Eltern.“Die Eltern sind in der Regel dafür, dass dieKinder in der Schule lernen. Wenn manaber nichts isst oder trinkt, dann ist die Konzentrationsfähigkeitnatürlich auch sehrniedrig. Also, in dieser Frage sind eher dieEltern die Ansprechpartner.<strong>Religion</strong> war offenbar ein zentralesThema in eurer Dialoggruppe. Warumhattet ihr das Bedürfnis, so viel über<strong>Religion</strong> zu diskutieren?Das kam von uns, weil wir als Schüler untereinanderauch über dieses Thema gesprochenhaben, auch vorher schon. In derGruppe haben wir gemerkt, dass wir nichtalle der gleichen islamischen Strömung angehörenund dass wir auch unter Muslimenviele Vorurteile gegenüber jeweils anderenislamischen Richtungen hegen. Wirhaben uns dann gegenseitig Fragen gestellt,denn es gibt da viel Gesprächsbedarf.Waren denn alle Mitglieder eurerGruppe Muslime?Nein, nicht alle waren Muslime. Und wennwir über den Islam gesprochen haben,gab es auch welche, die hatten daran garkein Interesse. Aber sie haben sich quasider Gruppe gefügt, weil wir natürlich im Gegenzugauch über deren Themen gesprochenhaben.Welche Themen außer <strong>Religion</strong> habtihr diskutiert?Ich war immer derjenige, der gesagt hat,wir müssen über Politik sprechen. Überaktuelle Sachen, wie zum Beispiel dasSarrazin-Thema. Es gab aber auch das ThemaWirtschaft: Wie funktioniert Wirtschafthier in Deutschland, wie können wir teilhaben,was läuft schief? Oder das ThemaEuropa: Fühlen wir uns als Europäer, alsDeutsche oder als Muslime? Natürlich warauch Sport ein Thema. Da kam es auchzu Streitigkeiten, zum Beispiel vor demSpiel „Deutschland gegen die Türkei“. Werhält zu wem? Die arabischen Schüler, diezu der deutschen Nationalmannschaft gehaltenhaben, haben gesagt: „Da spieltauch Mesut Özil! Ihr müsst auch zu denenhalten.“ Daraufhin waren wir alle plötzlichfür die deutsche Nationalmannschaft. Ichwar eigentlich zunächst für die türkische,dann aber war ich auch für die deutsche,ich konnte mich nicht entscheiden.Habt ihr auch über Jungen-Mädchen-Themen gesprochen?Ja. Jungen haben die besseren Noten alsMädchen zum Beispiel. Und dann habenwir am Ende unsere Zeugnisse verglichen.Und was kam dabei heraus?Entweder will ich mich nicht zurückerinnern,weil die Mädchen besser waren,oder ich kann mich tatsächlich nicht mehrerinnern. (lacht)Das klingt, als hättet ihr in der Dialoggruppeauch sehr viel Spaß gehabt?Ja, auch mit den Dialogmoderatoren. Erstenshat es uns Spaß gemacht, sich regelmäßiguntereinander zu treffen. Und zweitens,miteinander zu diskutieren. Es wareben anders. Man war in der Schule, aberdann doch wieder nicht in der Schule.Wir haben über schulische Themen gesprochen,spürten aber, meine Meinung zählthier. In der Schule zählt sie zwar auch, aberda zählt sozusagen die richtige Meinung.Im richtigen Moment.Und das war in der Gruppe anders?Hier war das Gefühl stärker, ich bin willkommen,egal welche Meinung ich habe.Egal wie ich mich ausdrücke, auch wenn esnicht hundertprozentig perfekt ist. MeinHintergrund spielt keine Rolle. Meine <strong>Religion</strong>spielt hier auch keine Rolle. Wir habenzwar über <strong>Religion</strong> gesprochen, über andereStrömungen im Islam und auch überandere <strong>Religion</strong>en, aber das war nichtdas Primäre. Bei uns stand sozusagen dasMenschliche im Vordergrund. Und das hatuns natürlich am meisten Spaß gemacht.Was haben Ihnen persönlich die zweiJahre mit der Dialoggruppe gebracht?Es macht mir Spaß, über Themen zu reden,die mich interessieren. So habe ich eszumindest den anderen Schülern gesagt,die manchmal irritiert gefragt haben:„Mensch, verbringst du schon wieder deineZeit in der Schule?“Bei mir persönlich gab es einen sehr, sehrgroßen Fortschritt. Mein Lehrer, HerrHeyer, hat das gesehen und zu mir gesagt:„Im Laufe der Jahre habe ich gemerkt,dass du dich im Schriftlichen deutlich verbesserthast. Und ich denke, dass esmit der Dialoggruppe zusammenhängt. Duhast gelernt zu differenzieren, zu analysieren,zu strukturieren.“ Und ich hatte selberauch das Gefühl. In der Dialoggruppehabe ich auch das Interesse an Menschenentwickelt, weil ich in den zwei Jahrengemerkt habe, wie ich mich selbst, und wiesich auch die anderen Teilnehmer derDialoggruppe entwickelt haben. Und darausentstand für mich auch das Interessean Psychologie. Warum verhalten sichMenschen so oder so? Also, Menschen zuanalysieren, ihren Werdegang, und wieman mit Problemen umgehen kann, dasinteressiert mich.Was würden Sie heute jüngerenSchülern Ihrer Schule mit auf den Weggeben?Ich möchte den jüngeren Schülern sagen,dass sie ihre Potenziale kennenlernen undausschöpfen sollen. Als ich 13 Jahre alt war,hat mich Schule überhaupt nicht interessiert.Ich ging nur hin, um Freunde zu treffen.Heute denke ich, man muss viel mehr Wertauf die Schule legen, mit Mitschülern undLehrern ein gutes Verhältnis haben, dannkann man eine wunderbare Schulzeit erlebenund ein Ziel für die Zukunft entdecken.34 | Praxisberichte und Interviews


Er wäre früher nie auf die Idee gekommen,aber Cemal Aydin möchteinzwischen sehr gerne Psychologie studieren.Durch die Dialoggruppe hörteer auch zum ersten Mal von der Existenzder Deutschen Islamkonferenz. „Dasist irgendwie an uns vorbeigegangen.“ Erbewarb sich spontan für die „JungeIslamkonferenz“ und wurde angenommen.Außerdem wird er selbst abHerbst 2011 als Dialogmoderator anseine alte Schule zurückkehren.<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 35


3.7.„Die Dialogmoderatoren habendas Selbstbewusstsein gefördert“An der Rosensteinschule in Stuttgart (Schultyp: Grund- und Hauptschule) wurden 2009 dreiDialoggruppen für die siebte Klasse mit jeweils zwölf Schülerinnen und Schülern eingerichtet.Anders als an der Otto-Hahn-Schule in Berlin waren die Dialoggruppen hier mit zweiWochenstunden in den Regelunterricht des Fächerverbunds „Welt-Zeit-Gesellschaft“ eingebunden.Ulrike Klein-Debiasi, Lehrerin an der Rosensteinschule, über ihre Erfahrungenmit dem Dialogprojekt kurz vor Abschluss des Schuljahrs im Sommer 2011.Interview: Marfa HeimbachEine außerschulische Maßnahme, eingebundenin den Regelunterricht,ist ja eher ungewöhnlich. Wie kam esdazu und was hielten Sie von einemDialogprojekt zur politischen Bildung?Das Projekt wurde uns zunächst hier inder Schule vorgestellt. Es erschien mir alspositiver Ansatz, gerade im Hinblick aufdie Frage: „Was soll aus unseren Schülerinnenund Schülern später werden?Wie kann man ihr Interesse an Politik, anGemeinschaftskunde fördern?“ Denndieses Interesse ist bei unseren Schülernnur sehr gering ausgeprägt. Vielleicht,so dachte ich, lässt sich auf anderer Ebeneetwas erreichen.So richtig konnte ich mir am Anfangallerdings nichts unter dem Projekt vorstellen.Ich wusste nur: Es kommt einDialogmoderator und jemand, der protokolliert,und die beiden haben einenMigrationshintergrund. Das waren dieInformationen.Als Schule haben Sie bezüglich derzukünftigen Moderatoren bestimmteErwartungen formuliert.Welche waren das?Als ich damals von dem Projekt hörte,ging es noch um die Einstellung der Moderatoren.Wir haben dann von der schulischenSeite aus gebeten, dass unter denweiblichen Moderatorinnen, wenn möglich,keine Moderatorinnen mit Kopftuchsein sollten. Einfach deshalb, weil wirviele Mädchen in unseren Klassen haben,36 | Praxisberichte und Interviews


die Kopftuch tragen und weil wir das nichtverstärken wollen. Die Moderatorinnensind ja auch immer ein Vorbild. Und daswäre uns von Seiten der Schule alsWiderspruch erschienen. Wir wollen, dassdie Mädchen an unserer Schule beginnen,selbstbewusst und unabhängig ihreEntscheidungen zu treffen.Sehen Sie denn die Mädchen wenigerselbstbewusst in dem Alter?Ja. Deshalb war es uns als Schule im Zusammenhangmit dem Projekt wichtig, dassdie Moderatorinnen Frauen sind, dieselbst an ihrem eigenen Fortkommen interessiertsind, der Fortbildung und der Entwicklungeigener Interessen, in gesellschaftlicher,aber auch in beruflicher Hinsicht.Als Vorbilder zeigen sie durch ihre Persönlichkeit,dass zum Beispiel die Heiratnicht das allein seligmachende Lebenszielfür ein Mädchen ist. Als Moderatorinnenkönnen sie den Prozess der eigenen Meinungsbildungfördern, ebenso ein Selbstbewusstseinin dem Sinn: Ich habeeine Meinung, ich kann sie ausdrücken, undmein Lebensentwurf muss nicht unbedingtnur die Heirat sein.Sie wünschen sich also für dieSchülerinnen eine Erweiterung ihrerLebensperspektiven?Ja. Unser Wunsch wurde dann auchrespektiert. Wir haben eine Dialoggruppeals reine Mädchengruppe eingerichtet,die beiden anderen Gruppen sind gemischt.Wie alt waren die Schüler zu Beginndes Projekts?Die Dialoggruppen haben im Jahr 2009 mitder Klasse sieben begonnen. Die jüngstenwaren damals zwölf, der älteste 14 Jahrealt. Noch innerhalb dieses Schuljahrs wurdendie ersten Schüler der Stufe auchschon 15 Jahre alt. Während die einen alsoschon in der Pubertät sind, spielen anderepraktisch noch mit Puppen. Insgesamthaben wir ziemlich viele „überalterte“ Schüler,wie wir es nennen. Sie haben einfachlänger gebraucht, um die schulische Laufbahnzu absolvieren. Oder sie sind erstspät nach Deutschland eingereist, habenzunächst noch Sprachschulen besuchenmüssen und konnten erst danach in eineRegelklasse eingeschult werden.Wie würden Sie die Probleme an ihrerSchule charakterisieren?Ich würde sie auf jeden Fall in Problemevon Jungen und Mädchen unterteilen.Für die Mädchen spielt ganz sicher dieLage unserer Schule eine Rolle: Wirsind gewissermaßen eine Enklave innerhalbvon Stuttgart, eingerahmt von denSchienen der Bahn und einer großenAusfallstraße. Und dazwischen das alteEisenbahner-Viertel. Das ist der Lebensraumunserer Schüler. Dadurch kenntjeder jeden. Wenn aber die Familien so engzusammenleben, so bedeutet das, dassauch die soziale Kontrollfunktion sehr hochist. Bei den Mädchen vor allem, beiden Jungen weniger. Ich denke, der Kontrollfaktorist für die Mädchen hier stärkerals in anderen Schullagen.Wie wirkt sich das aus?Die Mädchen haben wenig Freiheit. Siemüssen nachmittags zu Hause bleiben.Wenn ich zum Beispiel manche dertürkischen Familien besuche, wird mir klargesagt: „Nein, unsere Tochter darf mittagsnicht raus. Wann kommt sie heim?Wann ist der Unterricht aus?“Die Mädchen sind immer glücklich, wenndie Mittagsschule mal ausfällt, weil siedadurch zwei Stunden Freiraum gewinnen,um in die Stadt zu gehen. Aber innerhalbdes Nordbahnhofsviertels werden siesehr stark kontrolliert. Zumindest habe ichdiesen Eindruck gewonnen.Sie unterscheiden sehr deutlichzwischen Problemen der Mädchenund der Jungen. Sehen Sie einenbesonderen Förderungsbedarf für dieMädchen?Ganz aktuell: Wir machen diese Woche Bewerbertrainingund hatten heute dasThema „telefonieren“: Anfrage um einenPraktikums- oder einen Ausbildungsplatz.Zum Schluss haben wir noch ein Spielgespielt, Jeopardy 1 , das eine Sozialarbeiteringeleitet hat. Es fiel auf, wie dominantbesonders drei Jungen in der Gruppeagierten, während die Mädchen so gut wiegar nichts sagten. Darauf meinte einermeiner Schüler zu ihnen: „Ihr solltet euchauch mal einbringen, ihr sagt ja gar nichts!“Es war ihm aber nicht bewusst, dassdas gar nicht möglich war. Denn diese dreiJungen waren so dominant, dass die1 Jeopardy ist ein Spiel, das auf einer Form des Quiz beruht.Vorgegeben sind Antworten aus verschiedenen Themen-Kategorien. Aufgabe der Teilnehmer ist es, die passendenFragen schneller als die Mitspieler zu formulieren.„Uns als Schule war eswichtig, dass die ModeratorinnenFrauen sind,die selbst an ihremeigenen Fortkommeninteressiert sind, ingesellschaftlicher, aberauch in beruflicherHinsicht.“<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 37


„Bushido soll Bundeskanzler werden, dasist eine tolle Idee, ein super Einstieg.“Mädchen sich nicht trauten zu reden. DieDominanz der Jungen, das ist wirklichein Problem. Obwohl sie nur fünf sind inmeiner Klasse, gegenüber acht Mädchen,ist diese Dominanz doch enorm.Hat sich denn zum Beispiel an derSchüchternheit der Mädchen in denletzten beiden Jahren, in denen die<strong>Jugend</strong>lichen auch an den Dialoggruppenzur politischen Bildung teilnehmen,etwas spürbar verändert?Ja, durchaus. Ich habe ein Mädchen ausAfghanistan in der Klasse, die in dersiebten Klasse sehr ruhig und schweigsamwar. Inzwischen kann sie aber imKlassenverbund ihre Meinung kundgebenund auch zu ihrer Meinung stehen. Siediskutiert sehr ruhig, das gilt auch für dieanderen, aber bei ihr fällt es besondersauf, wie standfest sie geworden ist, wieklar in ihrer Aussage. Dazu haben auch dieDialogmoderatoren sehr viel beigetragen.Sie führen diese Entwicklung alsoauch auf die Arbeit in der Dialoggruppezurück?Ja. Natürlich diskutieren wir auch im Unterrichtund fördern die Diskussion. Aberdas undisziplinierte Hineinrufen ist nochein großes Thema. Sich melden undwarten, bis man an der Reihe ist – das fälltvielen noch schwer.Ganz konkret: Ließ sich im Verlauf derzwei Jahre eine Zunahme der Konzentrationim Unterricht bemerken?Oder auch mehr Interesse an denThemen? Oder eventuell eine größereOffenheit im Umgang miteinander?Das Letztere auf jeden Fall. Die Klasse istdurch die Dialoggruppe noch einmal zusammengewachsen.Insgesamt war einpositiver Einfluss zu spüren. Wobei einigeStörfälle nicht ausblieben, beziehungsweiseauch Ausschlüsse aus der Schule notwendigwurden. Vor allem in meiner Klassewaren das innerhalb dieser letzten zweiJahre doch drei Schüler, die gehen mussten.Das ist natürlich traurig zu realisieren,dass man einen <strong>Jugend</strong>lichen nichtauffangen kann. Nun sind die Gruppenan Ihrer Schule in den Regelunterrichteingebunden. Wie funktioniert das?Wir haben unsere Bildungsstandards undVorgaben. Das ist eigentlich immer dergrößte Diskussionspunkt, wenn wir unsmit den Dialogmoderatoren austauschen.Dann wird es spannend. Aber dieModeratoren lernen, und wir lernen auch.Natürlich steht die schulische Seite aufdem Standpunkt: Das sind zwei Stundendes regulären WZG-Unterrichts 2 , der inden Klassen sieben bis neun jeweils vierWochenstunden umfasst. Nun gebenwir die Hälfte unseres Stundenplans proWoche ab, mit dem Anspruch, dassder Gemeinschaftskunde-Unterricht in irgendeinerWeise von der Dialoggruppeaufgefangen wird. Anfänglich herrschte unsererseitsgroße Skepsis. Aber wennman es näher betrachtet, sind im UnterrichtsplanThemen relevant, die zurpolitischen Bildung gehören. Ganz aktuellzum Beispiel in diesem Jahr: Landtagswahlin Baden-Württemberg, Stuttgart 21oder <strong>Demokratie</strong>. Diese Themen könnensehr gut in den Dialoggruppen zurpolitischen Bildung bearbeitet und vertieftwerden.Nun beruht das Konzept der Dialoggruppeim Unterschied zum normalenschulischen Unterricht ja geradeauf der freieren Gestaltung desAblaufs. Wie nahmen die Dialogmoderatorendie Herausforderung an?Für die Moderatoren bedeutete daszunächst eine Umstellung. Zu Beginn dersiebten Klasse war es ihr Ziel, die Schülerda „abzuholen“, wo sie gerade stehen.Die Schüler sollten die Themen selbstbestimmen. Für den Anfang der Gruppenarbeitist das in Ordnung. Doch ab derachten Klasse war die Zielsetzung eineandere: Nun gab es Themenvorgaben unddaraus folgte ein Spagat zwischen freierThemenwahl und gezielter Anregung fürneue Themen.2 WZG = Welt-Zeit-Gesellschaft, ein Fächerverbund inBaden-Württemberg, der die Fächer Geschichte, Gemeinschaftskunde,Erdkunde/Geographie zusammenfasst.Durch die Einbindung in den Regelunterrichtwaren die Gruppen nicht frei inder Themenwahl, sondern mussten imRahmen des Bildungsplans vorgegebenenUnterrichtsstoff bearbeiten. Wiehaben Sie sich als Klassenlehrerin mitden Dialogmoderatoren abgestimmt?Zu Beginn des Schuljahrs gab ich den Moderatoreneine Liste der gesellschaftspolitischenThemen zur Auswahl, die imGemeinschaftskunde-Unterricht bearbeitetwerden müssen. Themen für diesesSchuljahr waren beispielsweise: <strong>Jugend</strong>schutzgesetz,Strafmündigkeit, Wahlenund <strong>Demokratie</strong>, Bund und Länder, politischeParteien, Kinderarbeit, Armut undMitbestimmung in der Schule. Da bei unsdrei verschiedene Moderatoren in dreiGruppen tätig waren, haben wir sie gebeten,uns im Vorfeld mitzuteilen, wer vonihnen welche Themen bearbeiten wird, damitwir uns in den Klassen darauf einstellenkonnten.Welche Themen waren das?Sie haben für ihre Gruppen unterschiedlicheThemen aus der Liste ausgewählt,wahrscheinlich je nach persönlichen Stärken.Der eine Moderator tendierte mehrzu <strong>Demokratie</strong>, Parteienbildung, Politik,Bund und Länder. Eine Moderatorin hingegenlegte den Schwerpunkt eher auf<strong>Jugend</strong>schutz, Strafmündigkeit, Kinderarbeit,aber auch Wahlen und <strong>Demokratie</strong>.Aber nicht jeder hat mit seiner Gruppe alleThemen bearbeitet.Ist das denn notwendig?In gewisser Hinsicht schon, denn wir standennun vor einem Problem: Die eineGruppe weiß dann zum Beispiel am Endedes Schuljahrs nichts über Bund und Länder,die andere hingegen nichts über <strong>Jugend</strong>schutz.Beides sind aber Themen, diezum Basiswissen gehören, über die jederunserer Schüler nach Klasse acht etwasgelernt haben muss, es auch wiedergebenbeziehungsweise anwenden können sollte.Wie haben Sie das Problem gelöst?Im nächsten Schritt haben wir unsdarüber verständigt, dass die Moderato-38 | Praxisberichte und Interviews


Sie meinen, die Moderatoren benötigenein gewisses Rüstzeug, um innerhalbdes Regelunterrichts einerseits das dialogischeKonzept zu wahren und dennochgleichzeitig einen vom Bildungsplanvorgegebenen Grundkanon anWissen vermitteln zu können?Ja, genau. Das ist von schulischer Seite derSpagat: Wir Lehrer können es ja nichtmehr leisten, weil die zwei Schulstunden abgegebenwerden. Zwei Stunden pro Wocheist viel. Da wird Wissen vermittelt oder inirgendeiner Weise erarbeitet: aus Büchern,am Computer oder durch Recherche imInternet. Das ist Wissen, das in letzter Konsequenzjedem Einzelnen zugute kommt.Die Frage ist also: Was brauche ich als Moderatoran Rüstzeug, an Materialien, umhier das Thema <strong>Demokratie</strong> oder „Bushidosoll Bundeskanzler werden“ erfolgreichmit den Schülern umzusetzen?ren sich zunächst untereinander auf dreiwichtige Themen einigen sollten, diein allen drei Gruppen gleichermaßen bearbeitetwerden. Es hat einige Zeit gedauert,bis sie sich geeinigt hatten, denndie Moderatoren waren ihrerseits ja starkan dem dialogischen Ansatz mit freierThemenwahl orientiert, der sich mehr nachder Lebenswelt der Schüler richtet.Aber schließlich haben sie sich geeinigtund in diesem Zusammenhang wurdeauch das Thema <strong>Demokratie</strong> über einenlängeren Zeitraum hinweg behandelt.Das war sehr spannend. (Vgl. den Bericht,S. 14.)Inwiefern spannend?Für die Bearbeitung dieser Themenkommt es zunächst einfach mal daraufan, ein gewisses Basiswissen zu vermitteln.Denn daran mangelt es unserenSchülern. Auch die Dialogmoderatorenhaben ein so geringes Vorwissenwohl zunächst nicht erwartet.Insofern war der Prozess der Entstehungspannend, denn aus dem Thema <strong>Demokratie</strong>ist fast eine richtige kleine Unterrichtsreihegeworden, deren Grundschemain Zukunft vielleicht auch in unserenUnterricht integriert werdenkann, oder in den anderer Schulen, dennunsere jetzigen Dialogmoderatorenwerden ihre Erfahrungen ja weitergeben.Auch zukünftige Moderatoren brauchensolche Module, ein Basiswissen undeine Fachkompetenz, so wie wir dasja auch aus unserem Lehramtsstudiumkennen.Wie ist die Reihe zum Thema <strong>Demokratie</strong>entstanden?Man kann ja nicht erwarten, dass ein Dialogmoderatorunvorbereitet gleich präsenthat, um was es bei dem jeweiligen Themageht: Was ist <strong>Demokratie</strong> noch mal ganzgenau? Wie kann ich es vermitteln, wo undwie finde ich Materialien, die für die Zielgruppegeeignet und verständlich sind? Diedrei Moderatoren sind sehr unterschiedlichan das Thema herangegangen. BarışBinici und Konstantinos Kosmidis habenzu Beginn mehr auf das kognitive Wissengesetzt, während Esra Bozkurt eherspontan, emotional agiert hat: „Bushidosoll Bundeskanzler werden“. Sie hatden Faden bei den Schülern auf der Ebeneeines ihnen vertrauten Rapstars aufgenommen.Das ist eine tolle Idee, einsuper Einstieg. Und jederzeit abwandelbar,wenn in zwei Jahren jemand anderesdie Hitliste anführt. Ein Aktualitätsbezug istwirklich sehr wichtig.Sie erwähnten, dass nicht alle Themenin allen Dialoggruppen bearbeitet werden.Der Bildungsplan sieht aber einenbestimmten Grundkanon vor. Wiegehen Sie an der Schule damit um?Das ist wirklich ein Problem. Obendrein sinddie drei Dialoggruppen ja auf verschiedeneKlassen aufgeteilt. So haben wir uns inzwischenüberlegt, dass die Schüler für diejeweils andere Klasse kleine Präsentationenvorbereiten sollen über das, was siein ihrer Gruppe gelernt haben. Darübererreichen wir gleichzeitig, dass auch die Themen,die in der einen Dialoggruppe nichterarbeitet wurden, von der anderen Dialoggruppedann vorgestellt werden. Sohaben wir es jetzt zum Beispiel mit demThema <strong>Jugend</strong>schutz gemacht.Mein Ziel ist es, dieses System der gegenseitigenPräsentationen weiter auszubauen.Eventuell auch dadurch, dass wir auch nochandere Klassen mit einbeziehen.Inzwischen hat sich also eine engeZusammenarbeit zwischen Lehrkörperund Dialogmoderatoren entwickelt?Wir arbeiten inzwischen eng mit den Dialogmoderatorenzusammen. Wir sehenProbleme, wir greifen sie auf und wir versuchen,sie zu lösen. Am Anfang habenwir uns ganz einfach zu wenig zusammengesetzt.Das Resultat waren dann einpaar Kommunikationsschwierigkeiten. Aberwir haben jetzt verabredet, dass einerder Moderatoren und ich uns in Zukunftetwa zweimal monatlich treffen. DieserModerator ist dann seinerseits der Multiplikatorfür die anderen Dialogmoderatoren,ich bin die Multiplikatorin für die Kolleginnenund die Schulleitung.Wie haben eigentlich die Eltern derSchüler auf die Dialoggruppe politischeBildung reagiert?Gar nicht. Ich bin ja froh, dass meine Elternabenderelativ gut besucht sind. Aberleider ist es so, dass sich unsere Elternoft nicht wirklich trauen, nachzufragen. DieDialoggruppe findet innerhalb der Schulestatt, und damit ist es Schule. So sehen dieEltern das wohl.<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 39


3.8.„Die Schüler haben sichpositiv verändert“Von 2009 bis 2011 haben insgesamt zwölf Dialogmoderatoren an Schulen inBerlin-Neukölln und Stuttgart gearbeitet. Seit Sommer 2011 sind 14 Moderatorenneu hinzugekommen. Drei Stuttgarter Dialogmoderatoren, Esra Bozkurt(35, <strong>Jugend</strong>- und Heimerzieherin, arbeitet im <strong>Jugend</strong>haus), Florina Demaj(25, Wirtschaftsjuristin) und Konstantinos Kosmidis (27, Masterstudium Interkulturalitätund Integration) über ihre Erfahrungen in den Dialoggruppen.Interview: Marfa Heimbach40 | Praxisberichte und Interviews


Was hat Sie bewogen, sich in diesemProjekt als Dialogmoderatoren zubewerben?Esra: Schon die Ausschreibung hat michangesprochen: <strong>Demokratie</strong>, <strong>Religion</strong>,Arbeit mit <strong>Jugend</strong>lichen in der Einwanderungsgesellschaft.Das betrifft mich. Esist eine Herzenssache zu versuchen, den<strong>Jugend</strong>lichen eine Hilfestellung zu gebenund als Vorbild zu wirken.Konstantinos: Ich habe zuvor ein Praktikumüber sechs Monate bei der Integrationsabteilungin Stuttgart gemacht,und da hatten wir ein Projekt, in demSchüler ein Planspiel über Kommunalpolitikmachen mussten. Damals habe ichzum ersten Mal gemerkt, dass ich einensehr guten Draht zu den <strong>Jugend</strong>lichenhabe und ihnen sehr gerne Politik nahebringe.Als ich dann von dem Projektgehört habe, habe ich mir gedacht: Dasist genau das, was ich gerne weiterhinmachen würde. Ich habe Förderunterrichtmit Hauptschülern in Klasse neun gemacht,gerade zu solchen Themen, dieneben dem Unterricht gesellschaftlichrelevant waren. Ich habe auch immer wiedergerne mit ihnen diskutiert.Florina: Auch für mich war es eine Herzenssache.Es wurde ja damit geworben,dass die <strong>Jugend</strong>lichen in dem Projektdie Möglichkeit haben, das zu sagen, wassie interessiert und was sie beschäftigt.Ich finde es spannend, was die <strong>Jugend</strong>lichenheute bewegt. Und ob es einenUnterschied gibt zu dem, was mich damalsbeschäftigt hat, als ich nachDeutschland kam.Gibt es denn bestimmte Themen,die die Schüler in den Dialoggruppenbesonders beschäftigt haben?Konstantinos: Das Thema Heimat spielteine sehr wichtige Rolle. Es ist einepermanente Auseinandersetzung, die die<strong>Jugend</strong>lichen mit diesem Thema führen.Als <strong>Jugend</strong>licher ist man ständig auf derSuche nach dem eigenen Selbst, demeigenen Ich, und die Herkunft ist ein wichtigesMerkmal. Ich habe zum Beispielsehr ausführlich mit den <strong>Jugend</strong>lichen inder Hauptschule in der siebten Klassedarüber gesprochen. Es ist sinnvoll, diesesThema immer wieder in Abständenaufzugreifen, weil sich das Verhältnis zurHerkunft auch immer ein wenig imFluss befindet. Zum Beispiel werden einigeSchüler jetzt in den Sommerferien wiederin die sogenannte Heimat fahren – manchenennen es Heimat, manche allerdingsauch nicht. Dann kommen wieder neueEindrücke, teilweise wird die Zerrissenheitaufgefrischt. Manche schwelgen dannerneut in Erinnerungen, wie toll der Urlaubwar oder wie toll zum Beispiel die Türkeiist. Andere wiederum grenzen sich anschließendstärker von ihrer Herkunft ab.Dieses Thema taucht immer wieder inden unterschiedlichen Lebensphasen der<strong>Jugend</strong>lichen auf, es begleitet sie mindestensein halbes Leben.Esra: Die Schüler haben ein sehr starkesBedürfnis, darüber zu reden. Nicht zuletztsicher auch, weil die Gruppe ihneneinen Raum bietet, in dem sie aucheinmal offen sagen können: „Heimat istfür uns nicht Deutschland“, ohne dasssie deswegen bewertet werden. Es stehtIhnen frei, auch dieses Gefühl zu äußern.Für die Schüler waren Sie zunächsteinmal Fremde, die plötzlich in derSchule mit einer Sonderveranstaltungauftauchten. Wie schnell konntenSie ein Vertrauensverhältnis zu denSchülern aufbauen?Esra: Wir haben uns bemüht, authentischzu sein. Wir haben von Anfang an signalisiert:Wir möchten mit euch reden, wirmöchten auch von euch viel mitnehmen.Nun haben Sie, Esra, eine Gruppein der siebten Klasse der Hauptschulegeleitet, wohingegen Sie, Florina,eine neunte Klasse an der Realschulehatten. Konnten Sie einen Unterschiedim Vertrauensaufbau zwischender siebten und neunten Klassefeststellen?Florina: Mir ist aufgefallen, dass die Schülerin der siebten Klasse viel offener sind.Es ist einfacher für sie, ihre Meinung zu sagen.In der Realschule, in der neuntenKlasse, ist das schwieriger, weil die Realschülerin der neunten Klasse schonganz genau wissen, welche Meinung ankommtund akzeptiert ist. Und sie wissenganz genau, welche Meinungen sienicht unbedingt öffentlich äußern undbesser für sich behalten sollten. Das könnensie dann schon sehr genau abschätzen.Von daher hat der Vertrauensbildungsprozessan der Realschule etwas länger gedauert.Nach zwei bis vier Monaten konnteich über heikle Themen diskutieren.Esra: Der größte Unterschied zwischender siebten und der neunten Klassebesteht aus meiner Sicht im Verhalten. Inder siebten Klasse sind sie kindlicher,es braucht oft eine Weile, bis sie im Kreismiteinander reden, sich gegenseitigzuhören, die anderen ausreden lassen undeinfache Gesprächsregeln befolgen. Das istein Lernprozess für die ganze Gruppe.An der Hauptschule war die Dialoggruppeeingebettet in den Regelunterricht.Daher mussten Sie auchvorgegebene Themen des Bildungsplansbearbeiten. Wie ist es Ihnengelungen, vom offenen Gespräch undselbst gewählten Themen zu einemgesetzten Thema überzuleiten?Esra: Das war manchmal schon ein Spagat.Für mich als Moderatorin war das nichtso einfach, denn es ist eine ganz andere Artvon Arbeit. Es schien zunächst auch garnicht zu unserem Dialogkonzept zu passen,so wie wir das gelernt hatten. Ein gesetztesThema dialogisch frei zu gestalten, dahatte ich am Anfang schon Schwierigkeiten.Können Sie die Schwierigkeiten eventuellam Themenbeispiel <strong>Demokratie</strong>erläutern?Esra: Das Thema <strong>Demokratie</strong> mussten wirbearbeiten, weil es zum Bildungsplan inder achten Klasse gehört. Das Thema istallerdings recht trocken für <strong>Jugend</strong>liche.Wir mussten mit sehr viel Informationsmaterialarbeiten und da haben sich dieSchüler erst mal beschwert. Es war deutlich,dass ich sie auf der abstraktenEbene nicht abholen konnte. Dann fielplötzlich von einem der Schüler dasStichwort Bushido. Das war es: Bushidosoll Bundeskanzler werden! Jetzt wardas Interesse geweckt, aber ich musstemich weiter anstrengen, das Themainteressant zu gestalten und andererseitsdas Setting als Dialoggruppe beizubehalten.(Vgl. den Bericht, S. 14.) Da unszwei Schulstunden zur Verfügung standen,begannen wir jede Doppelstunde erst malmit einer „Wie geht’s mir-Runde“. Undwenn in dieser Runde ein Thema hochkam,das die Schüler sehr beschäftigte, dann habenwir unter Umständen auch mit diesemweitergemacht, statt mit <strong>Demokratie</strong>.Konstantinos: Es ist meiner Meinung nachsehr wichtig, dass man an die Lebensweltder Schüler anknüpft. Gelingt das nicht,dann ist das Interesse entsprechend gering.<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 41


Die Frage der Schülermotivationmüssen sich auch Lehrer täglichstellen. Oder sehen Sie da einenUnterschied?Florina: Ich denke, dass man dennoch etwasverändern könnte. Vielleicht in derArt, wie man ein Thema angeht. Vielleichtein Beispiel, damit es etwas plastischerwird: Ich selbst habe an der Realschuledas Thema Deutschland als Einwanderungslandbeziehungsweise Auswanderungslandnicht mit einer Aufzählungder Fakten begonnen, denn dann wärensie mir alle eingeschlafen. Ich habe siebeispielsweise erst erzählen lassen: Wannsind eure Familien hierhergekommen?Und warum sind sie gekommen? Wir habendie Daten auf einem Zeitstrahl fest-gehalten und dann nach und nach die geschichtlichenDinge ergänzt. Da warensie voller Aufmerksamkeit dabei. Je abstrakteralles vermittelt wird, umsoschneller schalten sie ab.Welche Themen wurden denn seitensder Schüler in die Diskussionen eingebracht?Konstantinos: Bei uns wurde das ThemaDrogen immer wieder aufgegriffen. Dasist ein Thema, das bei den Gymnasiastenimmer wieder aufkam. In Form von Alkoholoder in Form von leichten Drogen, wieCannabis. Einige der Schüler sind in ihrerFreizeit einfach oft damit in Kontakt. Zudieser Zeit wurde von der Landesregierungin Baden-Württemberg außerdem einAlkoholverbot für Geschäfte ab 22.00 Uhrerlassen. Man konnte dann nur nochAlkohol in Bars erwerben. Es war alsodamals ein hochaktuelles Thema.Florina: Mobbing war ein ganz großesThema, Diebstahl ebenso, Konfliktemit den Lehrern. Wir waren die Ansprechpartner,wenn die Schüler Konflikte hattenmit den Lehrern.Esra: Ebenso bei Konflikten in denFamilien. Dann gab es auch zum Teil dieNotwendigkeit von Einzelgesprächen.Das haben wir angeboten, wenn wir merkten,dass es der eine oder andereSchüler gewünscht hat, und das habendie Schüler auch wahrgenommen.Aussagen von Schülern der achten Klasse an derRosensteinschule in Stuttgart über das ProjektZum Abschluss der zweijährigen Arbeit der Dialoggruppen inder siebten und achten Klasse führte die KlassenlehrerinUlrike Klein-Debiasi eine Umfrage unter ihren Schülern zu dreiAspekten durch:1. Veränderungen der Sichtweise in mir selber2. Positives – Negatives3. Was ich schon immer mal sagen wollte …Eldina: Am Anfang habe ich mich nicht gemeldet. Doch durchden Sitzkreis wurde es entspannter. Am Anfang haben vieleKinder dem Moderator nicht zugehört und reingeredet. Doch dannkamen spannende Themen und alle haben begonnen, gut mitzumachenund sich zu melden.Carlota: Die politische Bildung, als ich in die Gruppe gekommenbin, war ich ein bisschen skeptisch. Warum soll ich dort hinein?Ich kann doch reden und antworten. Aber das war etwas anderes!Man lernt richtig zu reden, zu seiner Meinung zu stehen undsie auch zu begründen.Stefanie: Seitdem wir die Gruppe haben, lerne ich mehrSachen zum Beispiel über Drogen oder zu diskutieren. Positivist, dass ich viele neue Sachen lerne, und falls wir Hilfe brauchen,zum Beispiel in Präsentationen, geben die Moderatorenuns viele Informationen.Ömer: Ich kann jetzt leichter über meine Probleme reden.Positiv fand ich die interessanten Themen und die Atmosphäre.Negativ fand ich, dass wir öfter zu laut waren.Selin: Ich rede mehr als früher, weil wir in der politischen Bildungzuerst immer die „Wie geht es mir-Runde“ machen.Da dürfen wir dann immer erzählen, wie es uns geht. Es hat mirgut gefallen, dass wir manche Themen selbst aussuchenkonnten und dass wir auch über unsere Probleme geredet haben.Vera: Bei mir hat sich zum Beispiel verändert, dass ich festgestellthabe: Unterricht kann auch Spaß machen. Es hat mirsehr gefallen und Spaß gemacht, aber das Negative war, dasses manchmal langweilig war und zu laut.Maria: Ich bin respektvoller geworden und nehme viele Sachenernster in verschiedenen Situationen.Danijel: Ich habe mehr über die Politik und andere Dinge erfahrenund habe noch darüber hinaus gelernt, mich in manchenSachen zu beherrschen. Ich fand das Projekt sehr gut und binüberrascht, dass man mit Spaß Dinge lernen kann. Ich fände estoll, wenn wir das Projekt nächstes Jahr auch haben würden.David: Als ich in die Gruppe kam, war ich eher einer von denRuhigeren. Aber nach diesen zwei Jahren wurde ich offener,denn in der Gruppe habe ich vieles gelernt und es macht mirSpaß. Ich finde es gut, dass es diese Gruppen gibt, eskönnte ruhig noch länger gehen.Melina: Ich fand es gut, dass man im Gegensatz zum Unterrichtviel diskutieren und seine eigene Meinung vertreten konnte.Die Themen gefielen mir auch sehr gut.Ziflije: Ich kann jetzt besser mitreden, denn ich habegelernt, dass ich keine Angst mehr zu haben brauche, auchwenn ich etwas Falsches sage. Und ich habe etwas mehrSelbstvertrauen.Tim: In mir selbst hat sich eigentlich nichts verändert, außerdass ich mich mehr für Politik interessiere. Aber ich fanddas Projekt toll und es soll noch lange weitergehen.42 | Praxisberichte und Interviews


„Ich denke, dass man dennoch etwas verändernkönnte. Vielleicht in der Art, wie manein Thema angeht.“Was ist mit dem Thema <strong>Religion</strong>? In denparallelen Berliner Gruppen hatte dieseine zentrale Bedeutung. Wie wichtigwar das in euren Gruppen?Konstantinos: Bei uns war das nicht sostark vertreten, wie es in Berlin der Fallwar. Bei den türkischen <strong>Jugend</strong>lichen oderbei den <strong>Jugend</strong>lichen aus dem NahenOsten ist <strong>Religion</strong> zwar präsent und es gibteine positive Identifikation damit, aberes war für unsere Gruppen kein bestimmendesMerkmal.Florina: Manchmal kommt es indirekt zurSprache. Zum Beispiel als es um dasThema Berufswahl ging. Da wurde geäußert:„Aber mit einem Kopftuch kriegeich sowieso keinen Job.“ Oder: „Mit einemKopftuch darf ich doch sowieso nichtÄrztin oder Lehrerin werden.“ Das Mädchen,das dies anführte, trug ein Kopftuch.Es war also ihre persönliche Betroffenheit.Was war schwierig an Ihrer Arbeit?Konstantinos: Schwierig fand ich, vorallem an der Hauptschule, wenn es Streitereiengab. Man ist nur eineinhalb Stundenpro Woche da, bekommt aber nicht mit, wasdie restliche Woche über passiert ist. Danngerät man manchmal plötzlich mitten in irgendwelcheKonflikte hinein und muss dannschnell reagieren, weil die <strong>Jugend</strong>lichendas von einem erwarten. Da ist es manchmalschwer, ad hoc einen gerechten Mittelwegzu finden, richtig zu reagieren undgleichzeitig zu überblicken, um was es eigentlichgeht.Florina: Wenn Schüler zu mir mit wirklichschwerwiegenden Problemen kamen.Zum Beispiel ging es bei einer Schülerin umdie Aufenthaltsgenehmigung und es standim Raum, dass sie eventuell wieder zurückmuss in ihr Herkunftsland. Als Moderatorhat man eigentlich gar nicht dasWerkzeug, mit solchen Problemen umzugehenund muss sie deswegen an anderekompetente Beratungsstellen verweisen.Wie hält man den feinen Grad zwischenNähe und Distanz?Florina: Ich habe gemerkt, dass man imLaufe der Zeit eine sehr intensive Beziehungzu den Schülern aufbaut. Ich habe mirvorgenommen, in den nächsten Jahreneine klare Grenze zu setzen. Man kann alsDialogmoderatorin nicht gleichzeitig Schulpsychologinsein. Man kann nicht alleErwartungen erfüllen.Und wie würden Sie die Erfolge derDialoggruppen beschreiben?Konstantinos: Die Schüler lernen, bestimmteDinge erst mal auszudiskutieren.Sie sehen, dass das auch funktioniertund dass es nicht nötig ist, gleich die Gemüterhochkochen zu lassen, wie esvielen sehr oft auf dem Schulhof passiert.In der Dialoggruppe haben sie diesenRaum, und den nutzen sie auch.Florina: Entwickelt haben sich die Schülerauf jeden Fall. Sowohl die siebte als auchdie neunte Klasse. Man kann das natürlichnicht alleine auf unsere Arbeit zurückfüh-ren. Aber man sieht eine Veränderung, wiedie Schüler untereinander und miteinanderumgehen. Irgendwann wussten sie einfach,dass wir es nicht mögen, wenn siesich gegenseitig in der Gruppe zoffen, wennsie streiten, wenn sie respektlos zueinandersind. Die Kraftausdrücke sind seltener geworden,vor allem an der Hauptschule, weilsie genau wussten, dass wir auf bestimmteWorte ganz empfindlich reagieren.Esra: Wir haben auch durchaus strengdurchgegriffen, sind also nicht einfach nurlieb und nett gewesen. Wenn sie zu lautwaren, haben wir auch nicht mehr geredet,sondern manchmal gewartet, bis sie selbervon sich aus für Ruhe sorgten. Es war fürsie sehr wichtig zu lernen, dass man ruhigist, wenn die anderen reden, und das habensie inzwischen schon drauf.Florina: Ich habe übrigens Mails bekommenvon einigen Schülern, die jetztihren Abschluss gemacht haben: „Oh, dieAG-Zeit fehlt uns!“<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 43


4.Dialog machtSchuleKommunale Erfahrungen mit dem Modellprojekt undEmpfehlungen für die Kooperation mit SchulenText: Gari PavkovicAuch in Stuttgart wollten wir vor allem <strong>Jugend</strong>liche mit einer Einwanderungsbiographie– unabhängig von ethnischen oder religiösen„Identitäten“ – ansprechen und dabei neue Möglichkeitenerproben, um auch sogenannte bildungs- und /oder politikferneZielgruppen für die politische Bildung zu gewinnen.nur in Berlin-Neukölln, sondern auch in Stuttgart in Zusammenarbeitmit dem Stab des Integrationsbeauftragten durchzuführen.Das Projekt in Stuttgart wurde von einem türkischstämmigen Mitarbeiterder Integrationsabteilung betreut, der zugleich Dialoggruppenin Stuttgart moderierte.Auswahl der beteiligten SchulenProjekte an Schulen bedeuten immer einen Mehraufwand fürdas Lehrerkollegium, daher muss auch der Mehrwert des Projektserkennbar sein – für die Schülerinnen und Schüler und idealerweiseauch für die Schulgemeinschaft als Ganzes. Externe Partnersollen nicht nur als Anbieter von zusätzlichen Maßnahmenfungieren, um mögliche Defizite der Schüler zu kompensieren. IhrAngebot muss zum Profil der Schule passen und die Kooperationsoll dazu dienen, innovative Impulse zu setzen und neue Lernarrangementsan der Schule zu ermöglichen, die über die Projektlaufzeithinaus das Schulklima positiv gestalten.Die Stuttgarter Abteilung Integration kann eine langjährige und erfolgreicheZusammenarbeit mit Migrantenorganisationen, <strong>Jugend</strong>hilfeträgernund Schulen vorweisen. Sie hat mehrere Projekte mitLernbegleitern bzw. mit Mentoren an Hauptschulen initiiert, ebensoPlanspiele zur politischen Bildung und Programme zu interkulturellerSchulentwicklung. Der Integrationsbeauftragte ist selbstmit dem dialogischen Ansatz vertraut. 1Wir haben daher die Idee der Bundeszentrale für politischeBildung und der <strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> begrüßt, das Projekt nicht1 Vgl. ausführliche Informationen unter: http://www.stuttgart.de/integration(letzter Abruf 06.09.2011).Wir haben daher in unseren Gesprächen mit den Schulen betont,dass es nicht einfach um Projekte an Schulen, sondern umSchulentwicklung als Gemeinschaftsaufgabe durch Projekte mitLehrkräften, Eltern und Schülern im Rahmen einer lokalen Bildungspartnerschaftgeht.Aufgrund positiver Vorerfahrungen in der Projektzusammenarbeitzwischen der Integrationsabteilung und Stuttgarter Schulen war eseinfach, engagierte Schulen für dieses Projekt zu gewinnen.Drei Schritte zur Vorbereitung1. In einem ersten Schritt wurde das Staatliche Schulamt Stuttgart angefragt,mehrere Schulen für die Zusammenarbeit vorzuschlagen.44 | Dialog macht Schule


In der ersten Projektphase sollten je zwei Dialoggruppen an je einerHauptschule, einer Realschule und einem Gymnasium starten. Gesuchtwurden Schulen mit einem überdurchschnittlichen Migrantenanteilin jeder Schulart und mit Bereitschaft der Lehrkräfte, sichauf ein neues Format der politischen Bildung einzulassen.2. In einem zweiten Schritt wurden Gespräche mit den Schulleitungenund teilweise mit den Lehrkräften der betreffenden Klassenstufengeführt, um gegenseitige Erwartungen zu klären unddie Vereinbarungen für den Projektstart zu treffen.Es wurde vereinbart, das Projekt in der Hauptschule im Rahmendes Gemeinschaftskundeunterrichts in der Klasse sieben zubeginnen (in Baden-Württemberg als Fächerverbund Welt-Zeit-Gesellschaft, WZG genannt). Die Dialogarbeit wurde hier in zweider vier WZG-Unterrichtsstunden pro Woche durchgeführt.Da die beiden Klassen der Stufe sieben insgesamt 36 Schülerinnenund Schüler umfassten, wurden aus ihnen drei Dialoggruppengebildet, um eine ideale Gruppengröße von zwölf Schülernpro Dialoggruppe zu erzielen.In der Realschule und im Gymnasium wurden die Dialoggruppenals freiwillige Arbeitsgemeinschaft mit Pflichtteilnahme nachAnmeldung für Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe neunangeboten.3. In einem dritten Schritt wurden die Schüler selbst von deninzwischen ausgewählten Dialogmoderatoren vor Projektbeginnüber das Vorhaben informiert. Die ursprünglich geplante Anzahlvon sechs Dialoggruppen wurde nach der sehr positivenResonanz der Schülerschaft auf acht erhöht.36 Hauptschüler, 35 Realschüler und 22 Gymnasialschülernahmen im Schuljahr 2009/2010 an den Dialoggruppenteil. Somit konnte das Projekt in Stuttgart im September 2009mit insgesamt 93 Schülern starten.Integration der Dialoggruppen in den SchulalltagDie Integration der Dialogarbeit mit Hauptschülern in den Unterrichterfolgte im Konsens aller Projektbeteiligten. Hauptschüler derKlassenstufe sieben unterscheiden sich hinsichtlich persönlicherReife und Lernniveau stark von Realschülern und Gymnasiastender Klassenstufe neun. Daher stellen Siebtklässler an Hauptschulenauch höhere Anforderungen an die Dialogmoderatoren.Grundsätzlich könnten Dialoggruppen mit Hauptschülern auch alsfreiwillige Arbeitsgemeinschaften im Rahmen der Ganztagsbetreuungangeboten werden. Es empfiehlt sich allerdings, alle Hauptschülerin die politische Bildungsarbeit verlässlich einzubeziehen,und dies geht nur im Rahmen des Unterrichts. Dabei ist zu beachten,dass die durch die Dialogarbeit erworbenen Kompetenzenin irgendeiner Form von den Klassenlehrkräften zeugnisrelevant geprüftwerden müssen.Daher wurde in der zweiten Projektphase ab Februar 2011 vereinbart,dass bestimmte Themen der politischen Bildung, die derLehrplan vorgibt, auch in den Dialoggruppen zu behandeln sind.(Vgl. den Bericht, S. 14 und das Interview, S. 36.)Dies erfordert eine genauere Abstimmung zwischen den Klassenlehrernund den Dialogmoderatoren, ebenso eine klare Verständigungmit den Schülern. Sie können bestimmte Themen in dieDialoggruppen selbst einbringen, andere sind von den Dialogmoderatorenin Abstimmung mit der Lehrkraft vorgegeben. Zu<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 45


den vorgegebenen Themen müssen die Schüler Hausarbeitenund /oder Präsentationen erstellen, die vom Fachlehrer benotetwerden.Entsprechend dem Ansatz, politische Bildung mit der Dialogmethodevor allem bildungsfernen Schülergruppen zu ermöglichen,sollten bei der Ausweitung des Projekts auf andere StandorteSekundarschulen (Haupt- und Realschulen, Mittel- bzw. Gemeinschaftsschulen)vorgezogen werden und Gymnasien nur imAusnahmefall zum Zug kommen. Dennoch: Die Erfahrungen ausStuttgart zeigen, dass die Dialogmethode auch Gymnasiastensehr gut anspricht.Bei Schulen mit Abgang nach der zehnten Klasse empfiehlt essich – je nach Dauer der Projektförderung – mit dem Projektin Klasse sieben zu beginnen (bei dreijähriger Förderung) oderin Klasse acht (bei zweijähriger Förderung). Im letzten Schuljahrstehen die Abschlussprüfungen im Vordergrund.Im Sinne der Nachhaltigkeit empfiehlt es sich, auch Fortbildungenfür Lehrkräfte nach der Dialogmethode anzubieten. Die von derBundeszentrale für politische Bildung ausgebildeten jungen Dialogmoderatorenmit Einwanderungsbiographie sollen ein Expertenpoolwerden, der zusammen mit anderen Trainern im Rahmen vonLehrerfortbildungen eingesetzt werden könnte.Die Auswahl der DialogmoderatorenEine Ausschreibung und „Stellenbeschreibung“ wurde in Stuttgartan verschiedene Migrantenorganisationen und Netzwerke inStuttgart und Umgebung weitergeleitet. Interessierte bewarbensich schriftlich bei der Integrationsabteilung. Gesucht wurdenjunge Frauen und Männer mit Einwanderungsbiographie, die inder Lage und bereit waren, ihren Einsatz als Dialogmoderatorenregelmäßig, d.h. wöchentlich über etwa zwei Schuljahre, sicherzustellen(in Hauptschulen auch vormittags).Die Teilnahme an einer gemeinsamen begleitenden Fortbildung mitden Berliner Dialogmoderatoren und an Auswertungsworkshopswar verpflichtend.Aus dem Bewerberpool wurden schließlich fünf Dialogmoderatorinnenund -moderatoren mit ganz unterschiedlichen Profilenund Kompetenzen ausgewählt. In Stuttgart wurde dabei auf einegute Mischung von Frauen und Männern und der verschiedenenHerkunftsgruppen geachtet: Personen mit Erfahrungen in derpolitischen Bildungsarbeit, <strong>Jugend</strong>arbeit oder Lernbegleitung vonSchülern wurden bei vergleichbarer persönlicher Eignung bevorzugt.Im Sinne der Nachhaltigkeit wurden auch Lehramtsstudierendeund Mitarbeiter der offenen <strong>Jugend</strong>arbeit besondersberücksichtigt, da diese die erworbenen Kenntnisse mit der Dialogmethodeauch in ihren künftigen Berufsfeldern einsetzen können.Zum Bewerberpool gehörten auch praktizierende Muslime ausislamischen Gemeinden. In Stuttgart wurde vorab kommuniziert,dass Kopftuchträgerinnen im Falle einer Auswahl an staatlichenSchulen nicht im Unterricht tätig sein dürfen, da in Baden-Württemberg– mit Ausnahme des islamischen <strong>Religion</strong>sunterrichts –das Kopftuchverbot gilt. Im Dialogmoderatorenteam ist ein Mannaktives Mitglied einer islamischen Gemeinde.Im Falle einer Ausweitung des Projekts auf weitere Standorte empfiehltes sich, die fachliche Begleitung und Koordination vor Ortsicherzustellen. Das ist die zentrale Schnittstelle zwischen dem notwendigenWissenstransfer, den Standards des Dialogprojekts,wie wir es entwickelt haben, und dem lokalen Transfer. Notwendigist ein Koordinator, der sowohl fachlich als auch organisatorischdie Fähigkeiten besitzt, ein Team vor Ort mit Trägern und kommunalenVerwaltungen plus Schulen aufzubauen und zu begleiten.Hierzu bedarf es allerdings einer zusätzlichen Finanzierungsmöglichkeit.Transfer und weitere Koordination des ProjektsFür die weitere Projektphase ab dem Schuljahr 2011/2012 wurdenbei der Gewinnung neuer Dialogmoderatoren auch einzelne Personenohne Migrationshintergrund – aber mit persönlichen Kompetenzenund Erfahrungen in der <strong>Jugend</strong>arbeit – ausgewählt.Im Sinne der interkulturellen Teamarbeit ist dies ein folgerichtigerSchritt. Das neue, gemischte Team in Stuttgart setzt sich abSeptember 2011 aus zehn Dialogmoderatoren zusammen. Fünferfahrene Moderatoren der ersten Generation werden mit denfünf neuen aus der zweiten Generation des Projekts zusammenarbeitenund ihre Erfahrungen weitergeben. Idealerweise wirdsich dieser Prozess in den nächsten Jahren mit weiteren „Moderatorengenerationen“fortsetzen lassen.In einem Projekt wie diesem hängt viel davon ab, dass personelleRessourcen bereitstehen, um diesen Prozess zu koordinieren unddie Qualität der Arbeit zu kontrollieren und zu sichern.Mögliche Kooperationspartner in der ZukunftAls Kooperationspartner der Bundeszentrale für politische Bildung,der <strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> und anderer Träger politischer Bildungin den Städten kommen u. a. in Frage:– Kommunale Integrationsbeauftragte– Interkulturelle Büros (wie z.B. RAA)– <strong>Jugend</strong>migrationsdienste oder Träger der Mobilen und derOffenen <strong>Jugend</strong>arbeit (letztere sind vielenorts auch Träger derSchulsozialarbeit)Mögliche Kooperationspartner sollten mit den beruflichen Kontextenund Arbeitsmethoden der <strong>Jugend</strong>hilfe und der politischenBildung vertraut sein und Vorerfahrungen in der Zusammenarbeitmit Schulen haben.Die genannten Stellen verfügen in der Regel über interkulturelleKompetenzen und haben auch zunehmend Mitarbeiterinnenund Mitarbeiter mit eigener Migrationserfahrung (Vorbildfunktionfür die Adressaten des Projekts). Dies ist auch von Vorteil beider Auswahl geeigneter Dialogmoderatoren.Grundsätzlich kommen auch Migrantenorganisationen als Projektkoordinatorenvor Ort in Frage, wenn diese sich professionelleStandards der sozialen Arbeit und der politischen Bildungangeeignet haben. Dies bedeutet vor allem die Beachtung derPrinzipien des „Beutelsbacher Konsenses“ 2 , die sich sowohl in derschulischen als auch außerschulischen Bildung bewährt haben.2 Vgl. ausführlich dazu: http://www.lpb-bw.de/beutelsbacher-konsens.html(letzter Abruf 06.09.2011).46 | Dialog macht Schule


5.Ausblick und PerspektivenDas langfristige Ziel der Bundeszentrale für politische Bildung und der<strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong> ist es, Dialoggruppen als neues Angebot politischerBildung an möglichst vielen Schulen zu verankern. Daran wollen wir inden nächsten Jahren kontinuierlich arbeiten. Stuttgart und Berlin-Neuköllnhaben den Anfang gemacht, weitere Standorte sollen folgen.Text: Christoph Müller-Hofstede, Melanie SchusterDie in dieser Broschüre vorgestellten Gespräche mit Fachlehrern,mit Schülern und Moderatoren sowie die Ergebnisse unsererbegleitenden wissenschaftlichen Evaluation zeigen, dass es gelungenist, ein neues Format politischer Bildung zu entwickeln.Langfristig bietet es insbesondere sogenannten multikulturellenSchulen gute Möglichkeiten, ihren besonderen Herausforderungenzu begegnen und neue Chancen wahrzunehmen. In dennächsten Jahren wollen wir ein bundesweites Netzwerk aufbauen,in dem sich Politiker, Wissenschaftler, Träger politischerBildung und weitere Unterstützer gemeinsam dafür einsetzen,dass sich Dialoggruppen an möglichst vielen Schulen etablieren.Dafür sprechen unter anderem drei gewichtige Argumente:1. Dialoggruppen erreichen ihre ZielgruppeDialoggruppen schaffen geschützte Räume, in denen vertrauensvolleGespräche über alltägliche Lebenssituationen derTeilnehmer geführt werden können. Die Dialoggruppen gehenvon den Alltagserfahrungen, Bedürfnissen und Kompetenzender Schüler aus und arrangieren angepasste Lernsettings derpolitischen Bildung. Die dialogische Gesprächsmethodeermöglicht es, auch spezifische Themen einer Einwanderungsgesellschaftwie Identität, <strong>Religion</strong>, Konflikte in den Herkunftsländernoder bestehende Muster in der Eigen- undFremdwahrnehmung konstruktiv zu bearbeiten.2. Qualifizierte Dialogmoderatoren garantieren die Qualitätder ArbeitDie Dialogmoderatoren müssen sich einem mehrstufigen Bewerbungsverfahrenunterziehen: Bewerben können sich jungeFrauen und Männer mit eigener Einwanderungsbiographie,entweder vor dem Ende ihrer akademischen Ausbildung oderim Übergang vom Studium zum Beruf. Auch junge Akademikerohne Einwanderungsbiographie können sich bewerben,sofern sie Kenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit kulturellerVielfalt vorweisen können. Die Bewerber sollen bereitspädagogische Vorkenntnisse und Kompetenzen für die Gruppenarbeitmit Schülern im interkulturellen Kontext mitbringen.<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 47


Durch intensive Fortbildung und regelmäßige Auswertungsworkshopswerden die Dialogmoderatoren weiter qualifiziert. Ihrjugendliches Alter und ihre eigene Einwanderungsbiographie machensie zu „peer educators“, die als Vorbilder für bildungsferne<strong>Jugend</strong>liche wirken und ihnen Wertschätzung und Anerkennungvermitteln können.3. Dialoggruppen unterstützen den Fachunterricht und dieschulische KommunikationDialoggruppen lassen sich in Absprache mit den Schulleitungenin den Regelunterricht, z.B. der siebten Klassen, integrierenund können unter bestimmten Voraussetzungen auch den Bildungsplanin ihrer Arbeit berücksichtigen. Sie lassen sich ebensoals freiwilliges Angebot in den Mittel- und Oberstufen einrichten.In den Dialoggruppen werden langfristig (in der Regel überzwei Jahre) mit den Schülern politische Bildungsprozesse gemeinsamgestaltet. Die Schüler erlangen schrittweise Kompetenzenin Bezug auf politische Urteils- und Handlungsfähigkeit underweitern ihre methodischen Fähigkeiten. Die Dialoggruppenkönnen insbesondere in multikulturellen Schulen langfristig zurVerbesserung der Kommunikation zwischen Schülern undLehrern und damit zu einer positiven Schulentwicklung beitragen.Im Dreiklang dieser Erfahrungen liegen die Ausstrahlungskraft undZukunftsfähigkeit des neuen Formats. Es greift zentrale Diskurseund Herausforderungen der Bildungspolitik und der politischenBildung in der Einwanderungsgesellschaft auf. Dazu gehört dievielfach beschworene und teilweise auch umgesetzte Modernisierungs-und Qualitätsoffensive im Bildungssystem in den letztenJahren, die nicht zuletzt durch den Pisa-Schock ausgelöstwurde. Wenn möglichst allen Schülern bestimmte Kompetenzenvermittelt werden sollen, müssen sich Schulen stärker als bisherauf ihre veränderte – kulturell vielfältigere – Schülerschaft einstellenund dazu auch den nötigen Freiraum erhalten. Im Unterrichtsollte nicht das Leitbild der Homogenität vorherrschen. Entsprechendder gesellschaftlichen Realität müssen auch die individuellenVoraussetzungen der Schüler mit berücksichtigt werden. 1Hier fügt sich das flexible Instrument der Dialoggruppe gut ein.Das außerschulische Format begegnet aber auch den Hinweisenauf mögliche krisenhafte Entwicklungen der Bildungsbeteiligungaufgrund der absehbaren demografischen und soziostrukturellenVeränderungen der Schülerschaft in Deutschland in den nächsten20 Jahren. 2 Schon jetzt verlässt ein Fünftel eines Jahrgangs dieSchulen ohne ausreichende Qualifikation für eine berufliche Ausbildung.3 Viele der Betroffenen stammen aus Familien mit Einwanderungsbiographien.Das niedrigschwellige Format der Dialoggruppen bietet dieser sogenanntenPisa-Risikogruppe einen Zugang zu politischen Bildungsangeboten,der nicht nur Erfahrungen von Selbstwirksamkeitund Wertschätzung in ihrer Bildungsbiographie ermöglicht, sondernauch wichtige Kompetenzen für den Einstieg ins Berufslebenvermittelt. Über den beschriebenen positiven Bildungseffekt aufdie Schüler hinaus erzielt das Format der Dialoggruppen Erfolgeauf zwei weiteren Ebenen: Das große Potenzial des gut ausgebildetenakademischen Nachwuchses aus Einwandererfamilien inDeutschland wird mobilisiert, sich an den Schulen für eine Vielzahlweniger erfolgreicher <strong>Jugend</strong>licher zu engagieren. Die Arbeit inden Dialoggruppen erlaubt den Moderatoren neue Einblicke undErfahrungen im Umgang mit Interkulturalität und heterogenenGruppen. Die Schulen hingegen erhalten die Gelegenheit, innovativeZugänge zu einer ihnen häufig entfremdeten Schülerschaft sowiederen spezifischen Subkulturen und internen „Codes“ zu findenund darüber die schulische Kommunikation zu verbessern.Voraussetzungen, Strukturen und Vorschläge zur weiterenVerbreitung des Formats DialoggruppeDer Aufbau von Dialoggruppen erfordert Kenntnisse und Kompetenzen,die in den letzten Jahren im Projekt erarbeitet wurden. Diesebeziehen sich in erster Linie auf zwei Kernbereiche:1. Akquisition und Auswahl von geeigneten Dialogmoderatoren sowiederen Aus- und Weiterbildung (unter anderem: Dialogmethode,Grundprinzipien und Ansätze politischer Bildung, Problemeund Themen einer Einwanderungsgesellschaft, Gesprächsführungund Leitung von Gruppen).2. Koordination der unterschiedlichen Dialoggruppen und Kenntnisseüber den Aufbau von Kooperationen mit Schulen: Voraussetzungenund Bedingungen einer erfolgreichen Kooperation,insbesondere auch im Kontext einer Einbettung des Formats inden Regelunterricht mit außerschulischen Moderatoren.1 Vgl. Wolfgang Sander, Neue Problemfelder und Themenbereiche politischer Bildung?Wie kann politische Bildung auf neue gesellschaftliche Gruppen und Herausforderungenreagieren? Vortrag auf der Konferenz: Politische Bildung in Deutschland und Korea imVergleich, Korea Center for Civic Education und Bundeszentrale für politische Bildung,Seoul 2009 (unveröffentl. Manuskript).2 Vgl. Interview mit Jürgen Baumert, in: Die Zeit vom 20.04.2011, http://www.zeit.de/2011/17/C-Interview-Baumert (letzter Abruf 06.09.2011).3 Vgl. ebd.Dialoggruppen in Berlin-Neukölln und StuttgartStuttgart – bis August 2011– Johannes-Kepler-Gymnasium,zwei Dialoggruppen, ab Klasse neun– Rilke-Realschule,drei Dialoggruppen, ab Klasse neun– Rosensteinschule (Grund- und Hauptschule),drei Dialoggruppen, ab Klasse siebenStuttgart – aktuelle Gruppen– Körschtalschule (Hauptschule),zwei Dialoggruppen, ab Klasse sieben– Friedensschule (Hauptschule mit Werkrealschule),drei Dialoggruppen, ab Klasse sieben– Rilke-Realschule,drei Dialoggruppen, ab Klasse neun– Rosensteinschule (Grund- und Hauptschule),drei Dialoggruppen, ab Klasse sieben48 | Ausblick und Perspektiven


Die Weitergabe von Erkenntnissen sowie die Qualifikation weitererTräger und sogenannter „Stakeholder“ für dieses Format mussalso im Mittelpunkt einer Strategie stehen, die auf den Aufbau vonDialoggruppen an weiteren Schulen abzielt.Erste Erkenntnisse hierzu sind in der vorliegenden Publikation beschrieben.Zukünftig sollen weitere Arbeitsmaterialien und Moduleso aufbereitet werden, dass sie im Rahmen von Aus- und Fortbildungsangebotenvon Trägern der politischen Bildung genutztwerden können.Für die Zukunft ist darüber hinaus an den Einbau von ausgewähltenModulen in die Ausbildung von Lehramtsstudenten oderauch in die Fortbildungsangebote für Lehrer gedacht. Ein erstesBlockseminar startet im Herbst 2011 mit Prof. Dr. Anja Besandam Lehrstuhl für Didaktik in der politischen Bildung an der TechnischenUniversität Dresden.Eine Website zum Thema „Politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft“ist in Vorbereitung und wird zukünftig gemeinsammit der Online Redaktion der Bundeszentrale für politischeBildung regelmäßig Themendossiers und Werkstattberichte ausder Arbeit der Dialoggruppen veröffentlichen sowie eine Plattformfür die fachliche Debatte und den Ideenaustausch anbieten.freien Trägern und Schulen, insbesondere Ganztagsschulen, ermöglichen.Das Netzwerk der von der Bundeszentrale für politischeBildung anerkannten und geförderten Träger der politischen Bildungwird in den Aufbau dieser Strukturen ebenso mit einbezogenwie die Landeszentralen für politische Bildung. Entscheidendwird es darauf ankommen, dass eine lokale Koordination mit angemessenenMitteln und Kompetenzen ausgestattet wird, um dieQualität des Angebots zu sichern.Nicht zuletzt werden wir an der Vernetzung mit einer Vielzahl vonProgrammen und Initiativen arbeiten, die konzeptionell auf BundesundLänderebene die Angebotsentwicklung für außerschulischeFormate an den Ganztagsschulen steuern.Es ist unser Anliegen, den erfolgreichen Ansatz der Dialoggruppen-Arbeit in der politischen Bildung ausgehend von den Erfahrungswertenin Stuttgart und Berlin-Neukölln in weiteren Städten,zunächst in Baden-Württemberg und im Großraum Berlin, zuimplementieren. Hierfür braucht es – wie so oft – eine Einbettungin Regelstrukturen. Wir sind zuversichtlich, mit dem Projekt imkommenden Jahr einen sichtbaren Beitrag zur Weiterentwicklungder politischen Bildung in der Einwanderungsgesellschaft zuleisten und laden weitere Akteure aus Land und Kommune ein, gemeinsammit uns an diesem Ziel zu arbeiten.Schrittweise sollen im Laufe der nächsten anderthalb Jahre dezentraleStrukturen aufgebaut werden, die eine Kooperation zwischenBerlin-Neukölln – bis August 2011– 1. Gemeinschaftsschule Neukölln auf dem CampusRütli – Heinrich-Heine-Oberschule,zwei Dialoggruppen, ab Klasse neun– Otto-Hahn-Schule (Gesamtschule),drei Dialoggruppen, ab Klassen neun und elfBerlin-Neukölln – aktuelle Gruppen– Albrecht-Dürer-Gymnasium,vier Dialoggruppen, ab Klasse acht– Kepler-Schule (Integrierte Sekundarschule),vier Dialoggruppen, ab Klasse sieben– Otto-Hahn-Schule (Gesamtschule),drei Dialoggruppen, zwei ab Klasse sieben,eine ab Klasse elf<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 49


6.Wir danken denDialogmoderatoren.Dialogmoderatoren in Berlin-Neuköllnund StuttgartNeue Dialogmoderatoren abSommer 2011Barış BiniciChalid DurmoschSiamak AhmadiMergime MahmutajEsra BozkurtAhmad KamalSchady Ali-AbbassiKatharina MüllerDemet CeranKonstantinos KosmidisCemal AydinAnna ReszlerEnder CetinJochen MüllerArtan BerishaMihriban ŞahinPinar CetinAndy Abbas SchulzSerkan GülfiratDimitrios TziatziasFlorina DemajNikoletta SchulzMinh Tam LuongTorsten VolkerHassan AsfourChadi Bahouth50 | Dialogmoderatoren, Autoren und Interviewpartner


Autoren undInterviewpartnerCemal AydinAbiturientBernd HeyerOberstufenleiter,Otto-Hahn-SchuleDr. Jochen MüllerKoordination Berlin(September 2009 –Juli 2010)Esra Bozkurt<strong>Jugend</strong>- undHeimerzieherinUlrike Klein-DebiasiLehrerin, RosensteinschuleChristoph Müller-HofstedeBundeszentrale für politischeBildung/bpb, ProjektleitungFlorina DemajWirtschaftsjuristinKonstantinos KosmidisMasterstudium Interkulturalitätund IntegrationGari PavkovicLeiter der AbteilungIntegration derStadt StuttgartMarfa HeimbachIslamwissenschaftlerinund JournalistinTatiana Lima CurvelloVerband binationaler Familienund Partnerschaften, iaf e. V.,Berlin, WissenschaftlicheProjektbegleitungMelanie Schuster<strong>Robert</strong> <strong>Bosch</strong> <strong>Stiftung</strong>Projektleitung<strong>Jugend</strong> <strong>Religion</strong> <strong>Demokratie</strong> | 51


Diese Publikation stellt die konzeptionellen Überlegungen und methodischenAnsätze des Projekts vor und fasst die zentralenErgebnisse zusammen. Schulen mit einem hohen Anteil an Schülernaus unterschiedlichen Kulturkreisen oder aus Zuwandererfamilienbietet das Projekt ein neues Format für politische Bildung. <strong>Jugend</strong>lichekönnen damit ein Bewusstsein für <strong>Demokratie</strong> und Partizipationentwickeln und das eigene Verständnis von Politik undgesellschaftlicher Teilhabe erweitern.Multiplikatoren in Schulen, Schulverwaltungen und in den Trägereinrichtungenpolitischer Bildung erhalten Hinweise zum Aufbaueigener Dialoggruppen und zu Transfermöglichkeiten.

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