Der heiße Atem der Geschichte - Tagebuch eines MfS-Auflösers 199002. März 1990"Der Schild und das Schwert der Partei"zerbröckelt von Tag zu Tagmehr. Seine Bestandteile werdenvom Volk registriert, gebündelt, eingebunkertund gesichert.05. März 1990Die Strukturen des Machtinstruments MfS dürfen nichtmehr restauriert werden können. Täglich wird Stück fürStück durch die Arbeit des Bürgerkomitees demontiert. Soschnell wie möglich soll es nur noch die notwendigen Erinnerungenan diese Parteipolizei geben. Deren große Dokumentensammlungwird durch unsere AG umgelagert. Einbrisanter Sprengstoff liegt täglich in meinen Händen. Waswird wohl aus ihm werden? Ein seltsames Sammelsuriumaus Protokollen, Quittungen, Berichten, mitunter auch Fotos,wurde hier angehäuft. Diese Informationen ergebenzusammengesetzt ein Mosaikbild, das ständig durch neueInformationen ergänzt wurde mit Hilfe von IM's, den sogenannten"Inoffiziellen Mitarbeitern". Die Akten waren ein Instrument bei der Durchsetzungder menschenverachtenden Sicherheitsdoktrin. Demokratische Entwicklungenwurden durch Anwendung der "Klassenfeindtheorie" zerschlagen. Entmündigungund Entwürdigung war das Produkt der "Arbeit" des MfS und der SED-Führung.06. März 1990Heute konnten wir die Umlagerungder Aktenjahrgänge 1952 bis 1960melden. Übereinandergelegt erreichensie eine Höhe von ca. 45 Metern.Nach Schätzungen des Staatsarchiv-Mitarbeitersbefinden sich ca.2.500 lfd. Meter Akten noch oben imArchiv. Beim Umlagern gehen wirarbeitsteilig vor - ein Teil unsererGruppe bündelt Akten, ein zweiterTeil befördert sie nach unten unddort durch die Gänge des Bunkers indie Lagerräume, ein dritter Teil unsererArbeitsgruppe stapelt diese ungeheurenPapiermengen geordnet indie Regale.© ROLAND TOTZAUER – www.rotofo.de/1990 Seite 2 von 4
Der heiße Atem der Geschichte - Tagebuch eines MfS-Auflösers 199007. März 1990Unsere Arbeit ist ins Stocken geraten. Der Fahrstuhl istdefekt. Also stapeln wir vorerst die Aktenbündel im Flurdes Archivs, in leeren Büroräumen, z.T. sogar wieder inden Hebelschubanlagen. Seit gestern bündeln zweiGruppen, denn wir haben Verstärkung erhalten - zweiFrauen vom VdgB-BV, zwei Männer vom FDGB-BV undeiner vom Kulturbund helfen mit. Belastend für uns allesind die Bedingungen: der Papierstaub und die trockene Luft in den Archivräumen.Dazu kommt die Monotonie der Arbeit: das Herausheben der Akten aus den Archivanlagen,das Schreiben von tausenden Deckblättern für die Aktenbündel, das Bindender Bündel mit Plastikschnur, das Abtragen, das Ein- und Ausladen der Rollwagen,das Befördern durch Treppenhaus und Bunkergang, das mühevolle Einsortierenentsprechend der laufenden Bündelnummer im Bunker - all das bewältigen wirTag für Tag, Woche für Woche. Ein unspektakuläres Szenarium innerhalb unsererRevolution, die noch immer die Welt in Atem hält.Die tägliche Wiederkehr unserer Arbeitsvorrichtungen gerät in diesen Tagen zurRoutine, an deren weltpolitische Bedeutung wir uns während des Zeitunglesens inden Kaffeepausen erinnern. Auch dadurch speisen wir unsere Arbeitsmoral, die imTrott der Tage schwankt.14. März 1990Das Gebäude der Bezirksverwaltung, diesesMfS selbst hat inzwischen für mich seinenMythos verloren. Täglich sehe ich ehemaligeMitarbeiter, die im Gebäude noch mit derAuflösung beschäftigt sind. Ich schaue ihnenin die Augen und erkenne ihren moralischenZustand - ein Gemisch aus Unterwürfigkeit,Trotz und Enttäuschung, aber noch immer einkleines Glimmen von Bereitschaft auf dieRückkehr zur alten Zeit. Das ist es, was meineAufmerksamkeit trotz Routine immer wiederneu belebt.ROLAND TOTZAUER21. März 1990Mitglied des Frankfurter Bürgerkomitees "Auflösung MfS"Leiter AG Akten/UnterlagenSeit Tagen tragen die Herren desehemaligen sogenannten "Anti-Terror-Kommandos" die schwerenSäcke mit den Aktenbündeln hinunterin den Bunker. Für diese kraftsportlicheLeistung gebührt ihnendurchaus Respekt. Der Fahrstuhl iststillgelegt, eine Reparatur nichtmehr möglich. Unsere AG leert nundie letzte Hebelschubanlage. BisFreitag werden wir das Archiv geräumthaben.© ROLAND TOTZAUER – www.rotofo.de/1990 Seite 3 von 4