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als pdf-Datei - Totzauer, Roland

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Der heiße Atem der Geschichte - Tagebuch eines MfS-Auflösers 199027. Februar 1990Die Freunde vom NEUEN FORUM haben vorige Wocheangefragt, ob ich Zeit habe, um Akten zu transportierenim ehemaligen Stasi-Objekt. Ja, ich habe diese Zeit. Inder Einrichtung, in der ich bis jetzt noch angestellt bin,gibt es nichts mehr zu tun, denn dieses Bezirkskabinettfür Kulturarbeit, ein Produkt des "demokratischen Zentralismus",wird es demnächst nicht mehr geben. Es hatseine Legitimation durch die friedliche Revolution verloren.Mein schizophrener Zustand, in den poststalinistischgeprägten Strukturen der DDR "freiwillig" <strong>als</strong> Kulturarbeitereingebunden, aber unfreiwillig den Dogmender Staatspartei ausgesetzt zu sein, schwindet dankder Veränderungen seit Herbst 1989. Der Wille, dieDeformationen mit zu beseitigen und Neues zu gestalten,gibt mir die Kraft für die Arbeit im Bürgerkomitee"Auflösung MfS".Ab morgen werde ich dort mitarbeiten.01. März 1990Gestern früh, kurz nach 8.oo Uhr,betrat ich zum ersten Mal das Gebäudeder Frankfurter Stasi-Zentrale.Nachdem ich mich in der Besucheranmeldungper Telefon mit FrauFuchs (vom NEUEN FORUM gewählt<strong>als</strong> ihre Vertreterin im Bürgerkomitee)verständigt hatte, wurde ich voneiner jungen Frau abgeholt und in dieoberste Etage des Hauses 2 geleitet.Dort, im Zimmer 615, saßen bereits mehrere Bürger, die alle mit der gleichen Absichthier erschienen waren wie ich. Von einer Frau Staatsanwältin wurden wir überdie Sicherheitsproblematik belehrt und bestätigten dies per Unterschrift. So begannmein erster Arbeitstag in der Arbeitsgruppe Akten/Unterlagen des Frankfurter Bürgerkomitees.Die Auflösung der Bezirkszentrale des ehemaligen MfS hatte vor Wochen bereitsbegonnen, wird seitdem durch die Bürgerbewegung NEUES FORUM mitbetriebenund soll Ende März 1990 abgeschlossen sein. Solange will ich dabei sein und mittun.Ich fühle Genugtuung, auf so direkte Art und Weise den Verlauf unserer friedlichenRevolution mitgestalten zu können und spüre ihn am ersten Tag fast körperlich,den heißen Atem der Geschichte.Die Aufgabe der AG Akten/Unterlagen lautet ganz prosaisch: Transport der Aktenaus dem Archiv (Haus 2) in den Bunker, zwei Etagen unterm Keller. Zur Arbeitsgruppegehören zwei Offiziere der Kriminalpolizei, zwei Offiziere der Volkspolizei,ein Mitglied der Bezirksstaatsanwaltschaft, ein Mitarbeiter des Staatsarchivs Potsdamsowie in wechselnder Anzahl Frankfurter Bürger, die sich für die Mitarbeit imBürgerkomitee "Auflösung MfS" freistellen lassen bzw. von Einrichtungen delegiertwerden für einen oder mehrere Tage.Heute vormittag nahm ich <strong>als</strong> Vertreter der SDP an der Beratung der Koordinierungsgruppe"Auflösung MfS" teil. Dieses Gremium tagt seit Januar wöchentlicheinmal und koordiniert die Arbeit der fünf Arbeitsgruppen, die am Auflösungsprozessmitwirken: AG Objekte, AG Kader, AG Sicherheitspartnerschaft, AG Akten/Unterlagenund AG Verflechtung. Am Schluss der Beratung wurde die Neubesetzungder Funktion "Leiter AG Akten/Unterlagen" diskutiert. Der bisherige Leiter(Pfarrer Gehlsen) schlug mich dafür vor. Ich nahm die Funktion an.© ROLAND TOTZAUER – www.rotofo.de/1990 Seite 1 von 4


Der heiße Atem der Geschichte - Tagebuch eines MfS-Auflösers 199002. März 1990"Der Schild und das Schwert der Partei"zerbröckelt von Tag zu Tagmehr. Seine Bestandteile werdenvom Volk registriert, gebündelt, eingebunkertund gesichert.05. März 1990Die Strukturen des Machtinstruments MfS dürfen nichtmehr restauriert werden können. Täglich wird Stück fürStück durch die Arbeit des Bürgerkomitees demontiert. Soschnell wie möglich soll es nur noch die notwendigen Erinnerungenan diese Parteipolizei geben. Deren große Dokumentensammlungwird durch unsere AG umgelagert. Einbrisanter Sprengstoff liegt täglich in meinen Händen. Waswird wohl aus ihm werden? Ein seltsames Sammelsuriumaus Protokollen, Quittungen, Berichten, mitunter auch Fotos,wurde hier angehäuft. Diese Informationen ergebenzusammengesetzt ein Mosaikbild, das ständig durch neueInformationen ergänzt wurde mit Hilfe von IM's, den sogenannten"Inoffiziellen Mitarbeitern". Die Akten waren ein Instrument bei der Durchsetzungder menschenverachtenden Sicherheitsdoktrin. Demokratische Entwicklungenwurden durch Anwendung der "Klassenfeindtheorie" zerschlagen. Entmündigungund Entwürdigung war das Produkt der "Arbeit" des MfS und der SED-Führung.06. März 1990Heute konnten wir die Umlagerungder Aktenjahrgänge 1952 bis 1960melden. Übereinandergelegt erreichensie eine Höhe von ca. 45 Metern.Nach Schätzungen des Staatsarchiv-Mitarbeitersbefinden sich ca.2.500 lfd. Meter Akten noch oben imArchiv. Beim Umlagern gehen wirarbeitsteilig vor - ein Teil unsererGruppe bündelt Akten, ein zweiterTeil befördert sie nach unten unddort durch die Gänge des Bunkers indie Lagerräume, ein dritter Teil unsererArbeitsgruppe stapelt diese ungeheurenPapiermengen geordnet indie Regale.© ROLAND TOTZAUER – www.rotofo.de/1990 Seite 2 von 4


Der heiße Atem der Geschichte - Tagebuch eines MfS-Auflösers 199007. März 1990Unsere Arbeit ist ins Stocken geraten. Der Fahrstuhl istdefekt. Also stapeln wir vorerst die Aktenbündel im Flurdes Archivs, in leeren Büroräumen, z.T. sogar wieder inden Hebelschubanlagen. Seit gestern bündeln zweiGruppen, denn wir haben Verstärkung erhalten - zweiFrauen vom VdgB-BV, zwei Männer vom FDGB-BV undeiner vom Kulturbund helfen mit. Belastend für uns allesind die Bedingungen: der Papierstaub und die trockene Luft in den Archivräumen.Dazu kommt die Monotonie der Arbeit: das Herausheben der Akten aus den Archivanlagen,das Schreiben von tausenden Deckblättern für die Aktenbündel, das Bindender Bündel mit Plastikschnur, das Abtragen, das Ein- und Ausladen der Rollwagen,das Befördern durch Treppenhaus und Bunkergang, das mühevolle Einsortierenentsprechend der laufenden Bündelnummer im Bunker - all das bewältigen wirTag für Tag, Woche für Woche. Ein unspektakuläres Szenarium innerhalb unsererRevolution, die noch immer die Welt in Atem hält.Die tägliche Wiederkehr unserer Arbeitsvorrichtungen gerät in diesen Tagen zurRoutine, an deren weltpolitische Bedeutung wir uns während des Zeitunglesens inden Kaffeepausen erinnern. Auch dadurch speisen wir unsere Arbeitsmoral, die imTrott der Tage schwankt.14. März 1990Das Gebäude der Bezirksverwaltung, diesesMfS selbst hat inzwischen für mich seinenMythos verloren. Täglich sehe ich ehemaligeMitarbeiter, die im Gebäude noch mit derAuflösung beschäftigt sind. Ich schaue ihnenin die Augen und erkenne ihren moralischenZustand - ein Gemisch aus Unterwürfigkeit,Trotz und Enttäuschung, aber noch immer einkleines Glimmen von Bereitschaft auf dieRückkehr zur alten Zeit. Das ist es, was meineAufmerksamkeit trotz Routine immer wiederneu belebt.ROLAND TOTZAUER21. März 1990Mitglied des Frankfurter Bürgerkomitees "Auflösung MfS"Leiter AG Akten/UnterlagenSeit Tagen tragen die Herren desehemaligen sogenannten "Anti-Terror-Kommandos" die schwerenSäcke mit den Aktenbündeln hinunterin den Bunker. Für diese kraftsportlicheLeistung gebührt ihnendurchaus Respekt. Der Fahrstuhl iststillgelegt, eine Reparatur nichtmehr möglich. Unsere AG leert nundie letzte Hebelschubanlage. BisFreitag werden wir das Archiv geräumthaben.© ROLAND TOTZAUER – www.rotofo.de/1990 Seite 3 von 4


Der heiße Atem der Geschichte - Tagebuch eines MfS-Auflösers 1990Anmerkung 1:Meine Tagebuch-Aufzeichnungen veröffentlichte ich im Sommer 1990 in der Nummer1 der Zeitschrift "Spiritus - Das unabhängige Kulturmagazin der Oderregion".Die Idee für diese Zeitschrift habe ich im Dezember 1989 entwickelt. Die Zeitschrifterschien dann ab 1990 erstm<strong>als</strong> und nur für eine relativ kurze Zeit in einer Editionam Haus der Künste in Frankfurt (Oder).Anmerkung 2:Alle Protokolle aus der Zeit der Stasi-Auflösung habe ich im März 2006 an den Leiterder BStU-Außenstelle Frankfurt (Oder) übergeben. Bei der Auflösung fand ichdam<strong>als</strong> im Frankfurter Stasigebäude verschiedene Stasi-Orden, die ich ebenfalls andie Frankfurter BStU-Außenstelle weitergereicht habe.Anmerkung 3:Am 05. Dezember 2009 fand in Potsdam eine Veranstaltung anlässlich des 20. Jahrestagesder Besetzung der Stasi-Zentralen in der Gedenkstätte Lindenstr. 54/55statt. Im Jahr 2010 wurden die Beiträge der geladenen Zeitzeugen und die Recherchebeiträgein einer 74-Seiten-Broschüre veröffentlicht unter dem Titel "Die Herausbildungvon Bürgerkomitees im Land Brandenburg und ihre Bedeutung für dieEntstehung demokratischer Strukturen". Auf den Seiten 10 bis 17 wird über dieBesetzung der MfS-Bezirksdienststelle in Frankfurt (Oder) berichtet. Die Broschüresteht am Ende der Internetseite www.rotofo.de/1990 zum Downloaden bereit.Abkürzungen:MfS = Ministerium für Staatssicherheit in der DDRBStU = Bundesbeauftragte für die Stasi-UnterlagenStasi = Populäre Abkürzung für: "Ministerium für Staatssicherheit"DDR = Deutsche Demokratische RepublikStaatspartei = SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands)SDP = Sozialdemokratische Partei in der DDR (07.10.1989-30.09.1990)VdgB-BV = Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe - BezirksvorstandFDGB-BV = Freier Deutscher Gewerkschaftsbund - BezirksvorstandWeiterführende Internetadressen: www.bstu.bund.de www.bundesstiftung-aufarbeitung.de www.mauerfotos-aus-ostberlin.de www.stasiopfer.de www.stasiopfer.com www.runde-ecke-leipzig.de www.ddr-suche.de/pages/Stasi de.wikipedia.org/wiki/STASI www.stasimuseum.de www.stiftung-hsh.de www.chronik-der-mauer.de www.chronik-der-wende.de www.jugendopposition.de www.moak.de/forum/board.php www.orte-der-repression.de www.uokg.de(PDF-Version vom 14. Mai 2014)© ROLAND TOTZAUER – www.rotofo.de/1990 Seite 4 von 4

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