10.07.2015 Aufrufe

Holger Heide und Rudolf Schulze, Arbeitssucht

Holger Heide und Rudolf Schulze, Arbeitssucht

Holger Heide und Rudolf Schulze, Arbeitssucht

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

3In der Literatur werden viele Ausprägungen beschrieben <strong>und</strong> auf derenGr<strong>und</strong>lage Typen gebildet, die in der Regel an den vielfältigenErscheinungsformen fest gemacht oder aber mitPersönlichkeitsstrukturen in Verbindung gebracht werden.So unterscheidet Berger auf der Gr<strong>und</strong>lage psychoanalytischerKategorien verschiedene „Arbeitsstile“, die nach seiner Auffassung„arbeitssüchtig entgleisen können“ (Berger 2000); Fassel unterscheidet(in Anlehnung an stoffliche Süchte <strong>und</strong> Esssucht): zwanghaft,anfallartig, heimlich sowie anorektisch arbeitende Arbeitssüchtige(Fassel 1990, 15 ff.). Poppelreuter bildet auf Gr<strong>und</strong>lage eigenerUntersuchungen, die ausdrücklich auf die Symptomatik abzielen,folgende Typen: entscheidungsunsichere, überfordert-unflexible,verbissene <strong>und</strong> schließlich überfordert-zwanghafte Arbeitssüchtige(Poppelreuter 2002, 45 f.). Robinson hat unter dem Aspekt „Die vielenGesichter der <strong>Arbeitssucht</strong>“ wieder andere Typen beobachtet, nämlichdie „rastlosen“, die „anfallkranken“, die „Aufmersamkeitsdefizit-„ <strong>und</strong>die „genießerischen Workaholics“, die er nach ihrer Einstellung zurArbeit in einer Vierfeldertafel einordnen kann. Er fügt dann noch einennicht in dieses Schema passenden Typ, den des „fürsorglichenWorkaholics“ hinzu, der nach seiner Aussage mit allen übrigen Typenkombiniert auftreten kann (Robinson 2000, 65 ff).Die unbefriedigenden Resultate einer an der Symptomatik orientiertenTypisierung kann nur durch eine ganzheitliche, „ultradisziplinäre“(<strong>Heide</strong> 2002a, 13 f.) Betrachtung überw<strong>und</strong>en werden, die die Engeeinzelner Disziplinen <strong>und</strong> sei es der Psychologie, überwindet <strong>und</strong>sozialwissenschaftliche <strong>und</strong> historische Aspekte <strong>und</strong> mit ihrenMethoden einbezieht.Wenn man den Begriff „anorektisch“ (Fassel 1990) nicht bloßmetaphorisch verwendet, sondern ernsthaft in die Betrachtungeinbezieht – was nach der von mir oben vorgeschlagenen vorläufigenDefinition nahe liegt – dann können die verschiedenen Beobachtungen


5Suchtmittel ein. Öfter kommt es zu einem „Kater“, begleitet vonleichten Konzentrationsstörungen <strong>und</strong> Kreislaufschwäche <strong>und</strong> hin <strong>und</strong>wieder auch schon zu der Erkenntnis, „mal was für sich tun“ zumüssen.-Im Hauptstadium stellt sich das Hochgefühl schließlich immer seltenerein, jedenfalls immer nur sehr kurz, <strong>und</strong> dahinter lauert für denBetroffenen die Erkenntnis, dass er aufhören muss, wenn er sich nichtruinieren will. Er erlebt jedoch regelmäßig, dass er nicht aufhören kann,er erlebt sich als getrieben. Die Diskrepanz zwischen dem zuerledigenden Berg an Arbeit <strong>und</strong> den immer knapper werdendenphysischen <strong>und</strong> psychischen Reserven; die Diskrepanz zwischen Willen<strong>und</strong> Handlungsfähigkeit, die Lage zu ändern, führen zu immergrößeren Anstrengungen zu verdrängen, schönzureden, zu vertuschen<strong>und</strong> zu manipulieren. Spätestens in diesem Stadium treten wegen ihrerals entlastend empf<strong>und</strong>enen Wirkung meist andere Süchte hinzu, sehroft Rauchen <strong>und</strong> Alkohol <strong>und</strong> – nicht zuletzt, weil Familie <strong>und</strong>/oderPartnerschaft nicht mehr funktionieren – Sex- <strong>und</strong> Liebessucht.Wenn dann im kritischen Stadium die ersten massiven Ausfälle durchKrankheit auftreten, ist das oft der Punkt, an dem viele Arbeitssüchtigeernsthaft einen Weg aus der Sucht suchen, sich in Therapien begebenusw. Sehr oft werden aber auch dann nur die Symptome behandelt(also Hypertonie, Magengeschwüre, Koronarerkrankungen oder auchRückenleiden usw.), zumal es wie einleitend gesagt, eine Diagnose als<strong>Arbeitssucht</strong> (anders als bei Alkoholismus) bisher nicht gibt. Allerdingstragen oft auch die Arbeitssüchtigen selbst dazu bei, indem sie – gewissermaßenin „Rückfällen“ – sich selbst <strong>und</strong> die Therapeuten immerwieder auf die Symptome festzulegen suchen (vgl. schon Mentzel 1979,125).Wenn der Arbeitssüchtige im kritischen Stadium nicht aufhören kann,entgleitet die Sucht vollends. Wachsende Rücksichtslosigkeit gegenüberAnderen wie gegen sich selbst führt oft dazu, dass die in der Regel


7von formal unselbstständigen Erwerbstätigen ausgeweitet werdenmuss, insbesondere auf PfarrerInnen, LehrerInnen,Krankenhauspersonal, SozialarbeiterInnen (helfende Berufe, bei denenes auch um die Bestätigung des Selbstbildes geht) <strong>und</strong> offensichtlichauch auf JournalistInnen, insbesondere solche, die heute als„Freelancer“ bezeichnet werden. Arbeit als „Droge“ hat für diegenannte Gruppe offensichtlich eine tendenziell stimulierendeWirkung.Für Menschen in abhängigen Arbeitsverhältnissen mit geringemEntscheidungsspielraum ist auch die Möglichkeit des Einsatzes ihrerErwerbsarbeit als „Droge“ begrenzt. Allerdings gehen da aktuell in denArbeitsverhältnissen für viele Menschen tiefgreifende Veränderungenvor sich. Der äußere Druck in Richtung Konkurrenz <strong>und</strong>Flexibilisierung wächst in den meisten Arbeitsverhältnissen; für immermehr Menschen verändern sich dazu die Rahmenbedingungen für dieInhalte ihrer Arbeit. Ursprünglich im Wesentlichen auf den IT-Bereichbegrenzt, wird heute in den meisten Bereichen den höheren <strong>und</strong>mittleren Angestellten Verantwortung für die inhaltliche <strong>und</strong> zeitlicheGestaltung ihrer Arbeit übertragen <strong>und</strong> Arbeitszeitregeln(„Vertrauensarbeitszeit“ u.ä.) werden bestimmend. WieUntersuchungen zeigen, arbeiten sie in der Folge auf Gr<strong>und</strong> eigenerEntscheidung nicht etwa weniger, sondern mehr <strong>und</strong> intensiver. Auchhier wird Arbeit zunehmend zum Suchtmittel. Das kann auch fürArbeitende in untergeordneten Tätigkeiten zutreffen, wenn sie dieIntensität ihrer Arbeit beeinflussen können <strong>und</strong> sie damit zu„Zugpferden“ eine Kolonne werden.Eine andere weniger beachtete Form der <strong>Arbeitssucht</strong>, die eher sedativwirkt, wird häufig bei Menschen beobachtet, die bei geringenEntscheidungsspielräumen viel <strong>und</strong> intensive abhängige Arbeit leistenmüssen. Da die Arbeitszeit vorgegeben ist, resultiert das häufig in derBereitschaft zu Überst<strong>und</strong>en, Zweitjob, „Schwarzarbeit“,Nachbarschaftshilfe usw. Außer erwerbstätig Arbeitenden können auch


11Lande während der Ernte zwar bis zu sechzehn St<strong>und</strong>en betragen,allerdings selbst dann mit sehr vielen <strong>und</strong> recht ausgiebigen Pausen. Inden weniger arbeitsintensiven Teilen des Jahres wurde ohnehin rechtunregelmäßig gearbeitet. Der Zwang zur Arbeit resultierte – abgesehenvon vielen Formen der Fronarbeit, Schuldknechtschaft usw. – ausunmittelbar einsichtigen natürlichen Gegebenheiten einerseits <strong>und</strong> deneigenen Bedürfnissen andererseits.Trotz der schon seit dem 14. Jahrh<strong>und</strong>ert beginnenden Versucheverschiedener englischen Regierungen, den Arbeitstag für Lohnarbeiterdurch Vorschriften zu verlängern <strong>und</strong> zu verstetigen, erschienen inEngland selbst noch in der Zeit unmittelbar vor der industriellenRevolution, also zu Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts viele Arbeiter nur an vierTagen in der Woche überhaupt zur Arbeit. Bei aller bitterer Armut giltnoch für den Beginn der industriellen Revolution, dass die Tage »harterArbeit <strong>und</strong> schmaler Kost« unterbrochen wurden von vielen Festtagen,an denen reichlicher gegessen <strong>und</strong> getrunken wurde. Es gab einensteten Wechsel zwischen höchster Arbeitsintensität <strong>und</strong> Muße. DieseMuße ist den Menschen im weiteren Verlauf der kapitalistischenArbeitsgesellschaft systematisch ausgetrieben worden. Der Siegeszugdes industriellen Kapitalismus setzte eine den Menschen vorherunbekannte, abstrakte Disziplin voraus. Entscheidend für dasVerständnis der Wirkung auf die Menschen ist, dass es sich dabei nichtum einen bloß passiven „Anpassungsprozess“ gehandelt hat. DieGeschichte der Durchsetzung der Arbeitsgesellschaft ist eine schierunendliche Geschichte der Gewalt. Der ersten Periode des offenenTerrors, der »Blutgesetzgebung«, in der massenhaft Menschengeschlagen, ausgepeitscht, verstümmelt <strong>und</strong> auf grausamste Weiseumgebracht wurden, folgten Perioden der pädagogischen Strafen <strong>und</strong>der Arbeits- <strong>und</strong> Industrieschulen, der Zuchthäuser <strong>und</strong> nicht zuletztder Psychiatrie. Erst die Spätfolge von Jahrh<strong>und</strong>erten der Gewalt warschließlich eine insgesamt disziplinierte Gesellschaft, die sich auf Arbeitgründet.


13bildet die Trennung vom Selbst, der gesellschaftlich der Trennung (oderEntfremdung) von der eigenen Geschichte entspricht, die Gr<strong>und</strong>lageder kapitalistischen aggressiven Arbeitsgesellschaft. Hierzu gehörenu.a. die Wertorientierung, die Verfestigung des patriarchalischenKonzepts der Geschlechterrollen <strong>und</strong> das Primat der Erwerbsarbeit.Die hier beschriebene tiefe Formung einer Gesellschaft kann als Folgeeiner traumatischen Erfahrung für eine ganze Generation erklärtwerden. Aber auch, wenn wir die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeiteiner lebenslangen Auswirkung der beschriebenen Identifikationannehmen, so würde damit doch nur ein zeitlich begrenzter Effekterklärbar, der mit der ursprünglich betroffenen Generation langsamaussterben würde. Und in der Tat gehen die meisten Theorien derModerne davon aus, dass das Stadium der Frühindustrialisierung mitdem modernen Sozialstaat endgültig überw<strong>und</strong>en sei. Wenn wirallerdings die Folgen einer Identifikation mit fremdem Willen in denzunächst direkt betroffenen Generationen weiter denken, dann müssenwir die Möglichkeit einbeziehen, dass sich das über denSozialisationsprozess auch auf die nachfolgenden Generationenauswirkt. Da Sozialisation ein Prozess ist, in dem alle Einwirkungenbleibende "Eindrücke" hinterlassen - ob bewusst oder unbewusst - istdabei die frühkindliche Entwicklungsphase von zentraler Bedeutung.In der Kindheit entstandene verfestigte Angst kann zum bestimmendenMoment eines ganzen Lebens werden. Und es ist diese tief sitzendeAngst, die weitergegeben wird. Denn oft lässt die Angst der selbsttraumatisierten Erwachsenen, mit sorgsam verdrängten eigenen Gefühlenkonfrontiert zu werden, nur noch Abwehr zu. So erfährt das Kind nicht dieGeborgenheit, die es braucht, um leben zu lernen. Auf diese Weise können„die Eltern ... zum Trauma für ihre Kinder“ werden (Schmidbauer 1998,288 f). Dabei sind schwerste Traumata bei Kindern keineswegs nur alsFolge sichtbar brutaler körperlicher Gewalt vorstellbar. Tatsächlichkann ‚bloße’ Lieblosigkeit tödlich wirken (Gruen 2000, 54). Zu den ganzzentralen Ursachen gehört die Überfrachtung der Kinder mitAnforderungen. Gerade angesichts von Erniedrigung, Verstörtheit <strong>und</strong>


18Diese neue Arbeitswirklichkeit ist Ausdruck einer zweifach bestimmtenSituation : Zum Einen findet das Personalmanagement, unterstütztdurch angesichts der verschärften Herausforderungen derGlobalisierung eine gegenüber der fordistischen Ära veränderteArbeitskraft vor, so dass neue Managementstrategien überhaupt greifenkönnen, zum Anderen sind die Menschen, die diese „neueArbeitskraft“ bilden, mit einer neuen Managementstrategiekonfrontiert, durch die sie ihre Arbeit gleichzeitig „positiv“ alsHerausforderung <strong>und</strong> als „High“ <strong>und</strong> negativ als „Arbeiten ohneEnde“, als Angst besetzt <strong>und</strong> als Stress erleben. Sowohl von denBetroffenen selbst, als auch von arbeitssoziologischen <strong>und</strong>gewerkschaftlichen Kommentatoren wird diese Situation als„Ambivalenz“ beschrieben (IGMetall 2000). Gerade der Aspekt derFreiwilligkeit, des eigenen Mittuns, liefert den „Kick“, der den Blickverstellt auf die Realität, der den Kontakt zu dem wirklichenpsychischen <strong>und</strong> körperlichen (Ges<strong>und</strong>heits-) Zustand verhindert, sodass die Menschen selbst über ihre Grenzen gehen <strong>und</strong> sich ruinieren.Damit sind die Lohnabhängigen der Maßlosigkeit jetzt an ihremArbeitsplatz im Verhältnis zur fordistischen Ära weitgehendungeschützt ausgeliefert <strong>und</strong> liefern sich ihm aus. Auf Gr<strong>und</strong> deraktuellen Dynamik nimmt die Verbreitung von <strong>Arbeitssucht</strong> unterdiesen neuen „unselbstständig Selbstständigen“ stark zu.Solange diese „Ambivalenz“ nicht als zweifach bestimmt begriffenwird, solange die durch die Wirklichkeit nahe gelegte Anerkennung derfortschreitenden Suchtprädisposition der arbeitenden Menschen immerwieder mit dem einseitigen Hinweis auf die neuenManagementstrategien abgewehrt wird, sind wirkliche Fortschritte beider Entwicklung von Strategien der Ges<strong>und</strong>ung nicht zu erwarten.In dem unteren Segment der gesellschaftlichen Arbeitskraft läuft diePräkarisierung auf eher herkömmliche Weise ab. Auch hier verbreitetsich die existenzielle Angst. Da die Grenzen der Gestaltung der eigenenArbeit für dieses Segment jedoch kaum ausgeweitet werden, ist hier für


22Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieses entscheidenden Ansatzes der Selbsthilfe <strong>und</strong>über ihn hinaus weisend, kann ein Überdenken der Bedingungen, unterdenen gearbeitet wird, <strong>und</strong> der Möglichkeiten einer beratendenUnterstützung der Betroffenen wichtig sein. Aus der Sicht derUnternehmensleitung werden Maßnahmen sicher wesentlich unterdem Kostengesichtspunkt abgewogen werden <strong>und</strong> sich damit bestenFalls auf die Vermeidung von Folgekosten nicht erkannter <strong>Arbeitssucht</strong>erstrecken. Dies muss jedoch selbstverständlich nicht für denBetriebsrat/Personalrat gelten. Eine Sensibilisierung derArbeitnehmervertretungen für diese weit über den herkömmlichenBegriff von „Ges<strong>und</strong>heit am Arbeitsplatz“ hinausgehende Dimension,die durchaus bestehende Berührungsängste wachruft, wäre dafür einewichtige Voraussetzung. Auf einer neu zu definierenden Basis könntendie Arbeitnehmervertretungen dann zielgerichteter Sucht förderndeArbeitsverhältnisse zumindest eindämmen.Zumindest für diese Fälle wäre eine Sensibilisierung desbetriebsärztlichen Dienstes <strong>und</strong> der Suchtbeauftragten für die tiefereProblematik der <strong>Arbeitssucht</strong> notwendig. Bisher scheint – sofernüberhaupt auf so etwas wie <strong>Arbeitssucht</strong> Bezug genommen wird –angesichts der vielfältigen statistisch erfassten „Ursachen“ fürFehlzeiten wenig Bereitschaft für eine Auseinandersetzung mit<strong>Arbeitssucht</strong> vorhanden zu sein. Was als „Ursachen“ erscheint (wie z.B.Rückenleiden), könnten jedoch in vielen Fällen Folgen auch vonsüchtigem Arbeiten sein, so dass ein Umdenken geboten erscheint.Zur Unterstützung könnte eine Ausweitung etwa schon bestehenderBetriebsvereinbarungen (oder im öffentlichen Dienst:Dienstvereinbarungen) von Alkoholismus auf nichtstoffliche Süchte,insbesondere auf <strong>Arbeitssucht</strong> sinnvoll sein. Das ist offensichtlich anmehrere Voraussetzungen geknüpft: Voraussetzung ist zunächsteinmal, dass der Betriebsrat/Personalrat sich dieses Anliegen zu eigenmacht. Allerdings nützt es nichts, das Wort „<strong>Arbeitssucht</strong>“ in eine

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!