Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Literarischer Sommer mit prominenten Gästen<br />
Käfige des Lebens und Reisen ans Ende der Welt<br />
Foto: Anita Affentranger<br />
Auf fünf Erdteilen war Roger Willemsen unterwegs, erkundete<br />
Vulkanlandschaft in Sibirien und Gefängnisleben in Chile, war<br />
an Bord eines russischen Eisbrechers oder Schiffsinsasse auf<br />
dem Pazifik. Reiseerfahrungen jenseits des Massentourismus brachte<br />
er von den fernen Welten mit nach Hause; beseelte, schockierende<br />
und anrührende Erlebnisse. Es waren unpopuläre, einsame Orte, die er<br />
besuchte und kuriose Menschen, denen er begegnete. Es waren seine<br />
ganz eigenen Enden der Welt, geografisch wie subjektiv. Enden der<br />
Illusion, der Ordnung und der Verständigung, auch der Liebe. Und mit<br />
diesen Reisen an die Grenzen des Seins findet er sich wieder unter den<br />
Mitbestreitern des Festivals. Denn es sind die Randzonen der Existenz,<br />
die auf dem Festival einen großen Raum einnehmen. In Nicol Ljubis<br />
Roman „Meeresstille“ ist es eine Liebe in Deutschland, die von politischen<br />
Geistern belagert wird. Robert liebt Ana und Ana liebt ihn. Sie<br />
sind in Berlin und der Jugoslawien-Krieg ist lange vorbei. Doch Ana ist<br />
Serbin, Robert Kroate, und auch wenn Robert sich noch nie wirklich<br />
mit seiner Herkunft beschäftigt hat, so spürt er die Last serbischer<br />
Kriegsverbrechen bis in seine Welt.<br />
Auch Guy Helminger begibt sich auf die Spuren des Lebens fernab<br />
der Heimat. Gleich zwei Zeitebenen und zwei Erzählstränge bindet<br />
er in seinem Buch „Neubrasilien“ zu einem. Hier die Bauerntochter<br />
Josette, die sich 1828 auf den Weg von Luxemburg nach Brasilien begibt.<br />
Daneben Tiha mit ihrer Familie, die kurz vor der Wende zum<br />
21. Jahrhundert aus dem kriegszerstörten Montenegro nach Luxemburg<br />
zieht. 170 Jahre liegen zwischen ihnen, aber die Suche nach Gemeinschaft<br />
und einem besseren Leben vereint sie; genauso wie die<br />
Geschichte einer tiefen Sehnsucht nach heiler Welt.<br />
„Mein Abschied vom Himmel“ heißt es bei Hamed Abdel-Samad,<br />
wenn er von einem Muslim berichtet, der in seiner Kindheit sexuell<br />
missbraucht wird und sich als Erwachsener auf eine Reise durch<br />
Ägypten, Japan und Deutschland begibt, um Antworten auf die quälenden<br />
Fragen seiner Vergangenheit zu finden. In seinem Buch begegnet<br />
er Marxisten, Fundamentalisten, Buddhisten und Psychologen,<br />
die ihm Orientierung geben sollen. Er hält Orient und Okzident<br />
gleichermaßen den Spiegel vor, berichtet am Beispiel seines eigenen<br />
Lebens von Spannungen und Konflikten, wie sie in jeder Kultur bei<br />
näherer Betrachtung zum Vorschein kommen.<br />
20 Autoren sind auf dem Festival zu Gast. Oliver Uschmann erzählt<br />
von Sven, der am Ziel angekommen ist: ganz unten. Diane Broeckhoven<br />
schreibt über den 36-jährigen Sylvain, der mit <strong>Juli</strong>enne und<br />
Gaby lebt; seiner Mutter und seiner Schildkröte. Und Ralf Husmanns<br />
<strong>Der</strong> <strong>Neusser</strong> 07.<strong>2011</strong><br />
<strong>Neusser</strong> Kultur<br />
Ist es der Nordpol, der eine Grenze fürs menschliche Dasein setzt?<br />
Oder ist es das Bordell in Bombay, in dem sich eine von Aids gezeichnete<br />
Frau zum Kauf anbietet? „Die Enden der Welt“ nennt<br />
Roger Willemsen solche Orte, die er bereiste, um die Limits des<br />
Lebens zu erkunden. Mit der Lesung aus seinem ganz besonderen<br />
Reiseführer eröffnet er am Montag, den 11.7. den Literarischen<br />
Sommer <strong>2011</strong>. Zehn Städte beteiligen sich am deutsch-niederländischen<br />
Literaturfestival, das zum 12. Mal, diesjährig unter der Leitung<br />
der <strong>Neusser</strong> Stadtbibliothek, stattfindet. Ein anspruchsvolles<br />
und spannendes Programm mit 26 Veranstaltungen, gestaltet von<br />
räumlichen und literarischen „Grenzgängern“, wie dem Preisträger<br />
der Leipziger Buchmesse Clemens J. Setz. Marion Stuckstätte<br />
Roman „Vorsicht vor Leuten“ erzählt von Lorenz, dem Sachbearbeiter,<br />
der sich vom Leben nicht alles gefallen lässt. Seine Frau hat ihn<br />
verlassen, drum erntet sie Drohgedichte. Seine Kollegen mögen ihn<br />
nicht, daher tut er alles, dass es so bleibt.<br />
Wie skurril mögen Menschen sein, wie verzweifelt manch Lebensweg,<br />
das zeichnen die Beiträge in verschiedensten Facetten. Mal sind es die<br />
Kriege, die sie dahin bringen, die territorialen und die menschlichen.<br />
Häufig sind sie es auch selbst. Und schnell findet sich der Einzelne im<br />
Extremstadium wieder; gelähmt, verlassen und im Alltag versteckt.<br />
Unter dieser Prämisse darf ein Buch auf dem Festival nicht fehlen und<br />
glücklicherweise kommt der Autor auch nach Neuss: Clemens J. Setz.<br />
18 Geschichten in einem Band mit leicht verstaubtem Titel „Die Liebe<br />
zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ bringt er mit. Das mag sich seltsam<br />
anhören und entspricht nicht ganz dem, was der Buchmarkt sonst<br />
derzeit zu betiteln hat. Es ist nicht frisch, im Sinne von leicht, nicht<br />
jung, im Sinne von frech. Doch der Name, der dahinter steht, mischt<br />
das Literaturgeschäft mit kühner, ungesüßter Eigenart gerade kräftig<br />
auf. Ob FAZ, ob Die Zeit, sie alle haben den jungen österreichischen<br />
Autor längst für sich entdeckt, seine außergewöhnliche Gabe, Welt in<br />
düster beklemmende, poetisch fesselnde Bildgewalt zu sperren. Ein<br />
Hauch von Beckett<br />
schwebt durch seine<br />
Seiten. Auf der<br />
Leipziger Buchmesse<br />
wurde er<br />
in diesem Jahr für<br />
sein Können ausgezeichnet.<br />
Am 12.<br />
August ist Clemens<br />
J. Setz im Rahmen<br />
des Literarischen<br />
Sommers <strong>2011</strong> zu<br />
Gast in der <strong>Neusser</strong><br />
Stadtbibliothek.<br />
(Nähere Infos zum<br />
Programm, den<br />
Veranstaltungsstätten<br />
und den<br />
Preisen unter<br />
www.literarischersommer.eu<br />
)<br />
23