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lesen - Vatican magazin ::: Schönheit und Drama der Weltkirche

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.Ein <strong>Drama</strong> in vier AktenDie soeben erfolgte Veröffentlichung <strong>der</strong> vollständigenErstfassung seiner Habilitationsschrift als zweiter Band <strong>der</strong>Werkausgabe von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. ist nichtnur für den kleinen Kreis <strong>der</strong> Bonaventura-Spezialisteninteressant. Persönlich war die Ablehnung <strong>der</strong> Arbeitfür Ratzinger eine schwere Prüfung, hätte sie doch dasschnelle Ende seiner akademischen Laufbahn bedeutenkönnen. Theologiegeschichtlich gesehen hat das schließlichnur teilveröffentlichte Werk allerdings eine Wirkung<strong>der</strong> Rebell,<strong>und</strong> sein Meister BonaventuraRatzinger,entfaltet, die sich bis in die Offenbarungskonstitutiondes Zweiten Vatikanums, in die Auseinan<strong>der</strong>setzung desGlaubenspräfekten mit <strong>der</strong> marxistischen Befreiungstheologie<strong>und</strong> in die Verkündigung des jetzigen Papstes hinein nachweisenlässt. Der junge Wissenschaftler Ratzinger konnte damals seineakademische Laufbahn nur dadurch retten, dass er den weitgehendunbeanstandet gebliebenen dritten Teil <strong>der</strong> Arbeit erneut einreichte.Allerdings fehlte in diesem dann schließlich angenommenenTeil die systematische Darstellung <strong>der</strong> neuen These des Verfassers,mit <strong>der</strong> ohne Zweifel <strong>der</strong> Stern des Theologen Joseph Ratzinger sofortstrahlend aufgegangen wäre. Das „<strong>Drama</strong> <strong>der</strong> Habilitation“ - so hat esRatzinger in seiner Autobiographie selbst genannt - wurde bisher viel zuisoliert betrachtet. Es handelt sich um die einmalige Wirkungsgeschichteeines bis vor kurzem nur teilweise veröffentlichten theologischen Werkes.Ungewöhnlich ist nicht die Ablehnung einer Habilitationsschrift zur Zeit <strong>der</strong>Spätblüte <strong>der</strong> alten Ordinarien(selbst)herrlichkeit, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en erstaunlicheWirksamkeit trotz aller Verhin<strong>der</strong>ungsversuche.(Foto: Slomi)10|2009


40 disputaDie Kommunion des heiligen Bonaventura. 1628. Von Franciscodem Älteren (1576-1656). Paris, Musée du Louvre.Über die unauflöslicheEinheit von Schrift,Tradition <strong>und</strong> KircheDie Habilitation von Joseph Ratzinger über den heiligen Bonaventura als Schlüsselzum Verständnis des Konzilstheologen, Kardinals <strong>und</strong> späteren Papstes10|2009


disputa 41Von Michael KargerSein Habilitationsthema erhielt Joseph Ratzinger von seinemDoktorvater, dem Münchner F<strong>und</strong>amentaltheologen GottliebSöhngen (1892-1971), gestellt: Er sollte „herausbringen, ob esin irgendeiner Form bei Bonaventura eine Entsprechung zumBegriff <strong>der</strong> Heilsgeschichte gebe <strong>und</strong> ob dieses Motiv – wennerkennbar – in Zusammenhang mit dem Gedanken <strong>der</strong> Offenbarungstehe“ („Aus meinem Leben“ = AmL, 1998). SöhngensInteresse war ein systematisches <strong>und</strong> kein historisches. Dadurchwurde <strong>der</strong> Konflikt mit dem Mittelalterforscher Schmausbereits vorprogrammiert. Hintergr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Fragestellung warfür Söhngen das von <strong>der</strong> Vätertheologie herkommende heilsgeschichtlicheDenken <strong>der</strong> Nouvelle Théologie in Frankreich:„Offenbarung erschien nun nicht mehr einfach als Mitteilungvon Wahrheiten an den Verstand, son<strong>der</strong>n als geschichtlichesHandeln Gottes, in dem sich stufenweise Wahrheit enthüllt“(AmL).Pius XII. hatte allerdings 1950 in seiner Enzyklika „Humanigeneris“ die Nouvelle Théologie verurteilt, was Söhngen mitWut <strong>und</strong> Verzweiflung aufnahm. Damit wird <strong>der</strong> zweite Vorbehaltvon Schmaus berührt: Er stand dem Heiligen Offizium nahe<strong>und</strong> wurde von Henri de Lubac SJ, dem sein Orden nach <strong>der</strong>Verurteilung von 1950 übel mitgespielt hat, in seinem Konzilstagebuchausdrücklich zu den „römischen Integristen“ gerechnet.Seit 1952 war Ratzinger Dozent am Priesterseminar in Freising.Als er 1954 seine Materialsammlung abgeschlossen hatte,wurde er zum Wintersemester 1954/55 zum außerordentlichenProfessor für Dogmatik <strong>und</strong> F<strong>und</strong>amentaltheologie an <strong>der</strong> Philosophisch-TheologischenHochschule Freising ernannt. Trotz<strong>der</strong> Doppelbelastung, in zwei Fächern wöchentlich fortlaufendVorlesungen auszuarbeiten <strong>und</strong> „nebenbei“ die Habilitationsschriftzu erstellen, konnte er zum Ende des Sommersemesters1955 das Manuskript abschließen <strong>und</strong> die beiden Pflichtexemplareim Herbst abgegeben.Neuscholastik „siegt“ über Bonaventura:Ablehnung <strong>und</strong> TeilveröffentlichungSöhngen nahm die Arbeit mit Begeisterung auf <strong>und</strong> beriefsich sofort in seiner Vorlesung auf die neuen Erkenntnisseseines Meisterschülers. Der Zweitgutachter Michael Schmaus(1897-1993), Dogmatikprofessor <strong>und</strong> Direktor des Grabmann-Institutes für mittelalterliche Theologie, ließ sich mit dem Gutachtenviel Zeit. Erst Ostern 1956 eröffnete er Ratzinger auf <strong>der</strong>Dogmatikertagung in Königstein „sachlich <strong>und</strong> ohne Emotion“,dass er die Habilitationsschrift „ablehne, da sie nicht den dabeigeltenden wissenschaftlichen Maßstäben genüge“ (AmL). Denvöllig vernichteten Ratzinger verwies Schmaus zudem auf einenbaldigen Fakultätsbeschluss zu seinem Fall. Für Joseph Ratzingerschien seine akademische Laufbahn bereits am Ende zusein. In Freising stand das Sommersemester 1956 vor <strong>der</strong> Tür<strong>und</strong> musste vorbereitet werden. Seine alten Eltern wohnten beiihm in seiner Professorenwohnung auf dem Domberg.Auch wenn Ratzinger das Gutachten von Schmaus nieausdrücklich erwähnt, so kann man doch drei Ablehnungsgründeaus seinen Äußerungen erschließen: Erstens Voreingenommenheit,verstärkt durch die als Anmaßung empf<strong>und</strong>enen,„überheblichen“ Urteile des Anfängers. Dies geht aus folgendenAussagen Ratzingers hervor: „...dass ich über ein mittelalterlichesThema gearbeitet hatte, ohne mich seiner Führunganzuvertrauen“, weiterhin „...dass die wesentlich von MichaelSchmaus vertretene Münchener Mediävistik fast ganz aufdem Stand <strong>der</strong> Vorkriegszeit stehen geblieben war <strong>und</strong> die großenneuen Erkenntnisse überhaupt nicht mehr wahrgenommenhatte“. „Mit einer für einen Anfänger wohl unangebrachtenSchärfe kritisierte ich die überw<strong>und</strong>enen Positionen, <strong>und</strong>das war Schmaus ganz offensichtlich zu viel.“Zweiter Gr<strong>und</strong>: „Da er nun schon einmal aufgebracht war,reizten ihn auch das unzulängliche graphische Erscheinungsbild<strong>und</strong> verschiedene Zitationsfehler, die aller Mühsal zumTrotz stehen geblieben waren.“Dritter <strong>und</strong> entscheiden<strong>der</strong> Ablehnungsgr<strong>und</strong>: „Aber auchdas Ergebnis meiner Analyse missfiel ihm. Ich hatte festgestellt,dass es bei Bonaventura (<strong>und</strong> wohl auch bei den Theologendes 13. Jahrh<strong>und</strong>erts überhaupt) keine Entsprechung zu unseremBegriff ‚Offenbarung’ gebe, mit dem wir üblicherweise dasGanze <strong>der</strong> geoffenbarten Inhalte zu bezeichnen pflegen, so dasssich sogar <strong>der</strong> Sprachgebrauch eingebürgert hat, die HeiligeSchrift einfach ‚die Offenbarung’ zu nennen.“ Somit „liegt Offenbarung<strong>der</strong> Schrift voraus <strong>und</strong> schlägt sich in ihr nie<strong>der</strong>, istaber nicht einfach mit ihr identisch. Das aber heißt dann, dassOffenbarung immer größer ist als das bloß Geschriebene. Unddas wie<strong>der</strong> bedeutet, dass es ein reines ‚Sola Scriptura’ (durchdie Schrift allein) nicht geben kann, dass zur Schrift das verstehendeSubjekt gehört, womit auch schon <strong>der</strong> wesentliche Sinnvon Überlieferung gegeben ist“ (AmL).In dieser von Ratzinger selbst zusammengefassten Habilitationstheseerkannte Schmaus „keineswegs eine getreue Wie<strong>der</strong>gabevon Bonaventuras Denken (wovon ich hingegen auchheute noch überzeugt bin), son<strong>der</strong>n einen gefährlichen Mo<strong>der</strong>nismus,<strong>der</strong> auf die Subjektivierung des Offenbarungsbegriffshinauslaufen müsse“ (AmL). Schmaus lehnte die Habilitationnicht wegen <strong>der</strong> Respektlosigkeiten des jungen Wissenschaftlerso<strong>der</strong> <strong>der</strong> formalen Mängel ab, son<strong>der</strong>n wegen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nistischen„Subjektivierung des Offenbarungsbegriffs.“Fünf Jahre nach „Humani generis“ bekämpfte Schmausden jungen, des Mo<strong>der</strong>nismus verdächtigen Theologen JosephRatzinger. Ergebnis <strong>der</strong> Fakultätssitzung war, dass die Arbeitnicht ausdrücklich abgelehnt wurde, son<strong>der</strong>n zur Verbesserungzurückgegeben wurde. Dazu erhielt Ratzinger das Exemplarvon Schmaus <strong>und</strong> stellt fest, dass <strong>der</strong> dritte Teil „gänzlich ohne10|2009


42 disputaDie Madonna erscheint dem heiligen Bonaventura.Nach 1596. Aus <strong>der</strong> Kirche San Bonaventura in Venedig.10|2009


disputa 43Beanstandung geblieben war“ (AmL). Dies w<strong>und</strong>erte den Verfasser:„Dabei wäre gerade auch hier durchaus Sprengstoff enthaltengewesen“ (AmL). Damit meint Ratzinger die eigentlicheThese, die auch diesen Teil bestimmt: „Bonaventura benenntnirgendwo, soviel ich sehen kann, die Schrift selbst als ‚Offenbarung’“.Nach Bonaventura sei Offenbarung „gleichbedeutendmit <strong>der</strong> geistlichen Erfassung <strong>der</strong> Schrift.“ Warum die Schriftnicht Offenbarung genannt wird, schreibt <strong>der</strong> Habilitand: „Dasversteht sich vom Offenbarungsvorgang her von selbst, in demsich nämlich ‚Offenbarung’ gerade als Erfassen geistigen Sinnesdarstellt.“ Im dritten Teil steht sogar eine Entkräftung des Einwandes,dass dieses Offenbarungsverständnis einem „subjektivistischenAktualismus“ Vorschub leiste, <strong>der</strong> an die Stelle <strong>der</strong>objektiven Offenbarungswahrheiten trete. Das GegenargumentRatzingers besteht darin, „dass das die Schrift je erst zur ‚Offenbarung’erhebende Verständnis sich nicht als Sache des Einzellesersauffassen lässt, son<strong>der</strong>n sich allein im lebendigen Schriftverständnis<strong>der</strong> Kirche zuträgt. Die Objektivität des Glaubensanspruchsist damit zweifellos sichergestellt.“Inhalt des dritten Teils sind vor allem die geschichtstheologischenKonsequenzen, die Bonaventura aus seinem Offenbarungsverständnisableitet. Ratzinger war <strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> nachweisenkonnte, dass sich Bonaventura mit den Thesen des Joachimvon Fiore (gest.1202) auseinan<strong>der</strong>gesetzt hat. Dieser süditalienischeAbt hatte aus <strong>der</strong> Heiligen Schrift drei heilsgeschichtlicheEpochen abgeleitet: Auf das Reich des Vaters (Altes Testament)sei das Reich des Sohnes (Geschichte <strong>der</strong> Kirche) gefolgt,das noch im dreizehnten Jahrh<strong>und</strong>ert vom Reich des HeiligenGeistes abgelöst werde. Sehr bald verstanden sich nicht wenigeFranziskaner als Avantgarde des Heiligen Geistes zur Überwindung<strong>der</strong> Institution Kirche im neuen Reich <strong>der</strong> Freiheit <strong>und</strong><strong>der</strong> Liebe im Namen des heiligen Franziskus. Als Ordensobererhatte Bonaventura die Aufgabe, die Lehre Joachims richtigzu stellen <strong>und</strong> eine Spaltung des Ordens zu verhin<strong>der</strong>n. Unterdem Titel „Die Geschichtstheologie des Heiligen Bonaventura“reichte Ratzinger diesen Teil nun nochmals im Oktober 1956ein: „Da bei <strong>der</strong> herben Kritik an meiner Arbeit dieser Teil ohneBeanstandung geblieben war, konnte man ihn wohl nicht nachträglichals wissenschaftlich unannehmbar erklären“ (AmL).Am 11. Februar 1957 wurde ihm die Annahme mitgeteilt.Bereits am 21. Februar sollte die öffentliche Habilitationsvorlesungstattfinden. Ihr Thema, das Ratzinger in seiner Autobiographienicht mitteilt, war die Erörterung <strong>der</strong> Frage, ob die Ekklesiologiein die F<strong>und</strong>amentaltheologie o<strong>der</strong> in die Dogmatikgehöre. Ein Augenzeuge, Alfred Läpple, „Mentor“ <strong>und</strong> lebenslangerFre<strong>und</strong> Ratzingers berichtet, dass Professor Schmaus sichnach <strong>der</strong> Vorlesung erhob <strong>und</strong> sagte: „’Die Sache, mit ihrer subjektivistischenArt die Offenbarung zu deuten, ist nicht richtigkatholisch.’ Ratzinger wollte beginnen zu erwi<strong>der</strong>n. Dochda hat sich Söhngen eingeschaltet. Ein heftiger Streit entbranntezwischen den beiden Professoren. Ratzinger blieb nur an <strong>der</strong>Seite stehen“(Peter Pfister, Hg.: Joseph Ratzinger <strong>und</strong> das ErzbistumMünchen <strong>und</strong> Freising. Regensburg 2006, S.123). Esschloss sich die Sitzung des Prüfungsausschusses an <strong>und</strong> danachwurde Ratzinger formlos auf dem Gang seine Habilitationmitgeteilt. So ging <strong>der</strong> „Alptraum“ <strong>der</strong> Habilitation zu Ende,<strong>der</strong> fast die gesamte Zeit <strong>der</strong> Freisinger Dozententätigkeit von1953 bis Anfang 1957 überschattete.Ein Jahr später erfolgte Ratzingers Ernennung zum ordentlichenProfessor für F<strong>und</strong>amentaltheologie <strong>und</strong> Dogmatikin Freising, allerdings „nicht ohne vorangegangenes Störfeuervon interessierter Seite“ (AmL), womit auch wie<strong>der</strong> aufSchmaus angespielt sein könnte. Alfred Läpple berichtet, dassRatzinger im Sommer 1958 zu Kardinal Wendel einbestelltwurde, <strong>der</strong> ihm im Beisein von Professor Schmaus seine Ernennungzum Professor an <strong>der</strong> Pädagogischen Hochschule inMünchen-Pasing mitteilte. Da zog Ratzinger zur Verblüffung<strong>der</strong> beiden Herren seine Berufung auf den Lehrstuhl für F<strong>und</strong>amentaltheologiean <strong>der</strong> Universität Bonn aus <strong>der</strong> Tasche.„Es war für mich sozusagen das Traumziel, dorthin zu gehen“(AmL).Mit Bonaventura gegen die Neuscholastik:Die OffenbarungskonstitutionAls Ratzinger zum Sommersemester 1959 seine BonnerLehrtätigkeit aufnahm, hatte Papst Johannes XXIII. keine dreiMonate vorher ein Konzil angekündigt. Vom Kölner KardinalFrings, Mitglied <strong>der</strong> Zentralen Vorbereitungskommission desKonzils, ins Vertrauen gezogen konnte Ratzinger in alle Textentwürfefür das Konzil Einblick nehmen. Ratzinger wurde somit<strong>der</strong> theologische Berater eines <strong>der</strong> einflussreichsten Kardinäledes Konzils. Wie groß das Vertrauen von Kardinal Fringsin Ratzinger war, zeigt die Einladung an alle deutschsprachigenBischöfe am 10. November 1962, dem Vorabend <strong>der</strong> Konzilseröffnung,zu einem Referat von Professor Ratzinger zumkurialen Textentwurf „Über die Quellen <strong>der</strong> Offenbarung.“ Eswar äußerst mutig von Frings, dass er ohne zu wissen, welchenSpielraum die „Konzilsregie“ für die Väter überhaupt vorgesehenhatte, seinem Chefberater dieses Forum für einen totalenVerriss des Offenbarungsschemas bereitete. Damit beginnt <strong>der</strong>zweite Akt des <strong>Drama</strong>s <strong>der</strong> Habilitation.Seit dem Dogma von 1950 war das Thema Glaubenswahrheit<strong>und</strong> Schriftbeweis unbewältigt. Das Traditionsargumentkonnte nicht standhalten, wenn es keine historischen Beweisefür eine bis auf die Zeit <strong>der</strong> Apostel zurückreichende mündlicheÜberlieferung außerhalb <strong>der</strong> Schrift gibt. Drohte das Endevon Lehramt <strong>und</strong> Tradition? Die zentrale Frage <strong>der</strong> Habilitation:„Wie sich Geschichte <strong>und</strong> Geist im Gefüge des Glaubenszueinan<strong>der</strong> verhalten“ (AmL), musste darum auch die zentra-10|2009


44 disputaDer heilige Bonaventura als Kind vor dem heiligenFranziskus. 1628. Von Francisco dem Älteren. Paris,Musée du Louvre.10|2009


disputa 45le Frage einer konziliaren Klärung des Offenbarungsverständnissessein.Zahlreiche Konzilsväter ließen sich von <strong>der</strong> These des TübingerDogmatikers Geiselmann blenden: Die Glaubensüberlieferungsei sowohl in <strong>der</strong> Schrift wie in <strong>der</strong> Tradition vollständigenthalten. Schlagwortartig sprach man damals von <strong>der</strong>„materialen Vollständigkeit“ <strong>der</strong> Heiligen Schrift <strong>und</strong> folgertedaraus, dass die Kirche nichts lehren könne, was nicht in<strong>der</strong> Schrift sicher bezeugt ist, womit man weithin die gängigenLehrmeinungen <strong>der</strong> Exegeten meinte. Viele Bischöfe ließen sichdamals von dieser scheinbar bibelfromm klingenden These beeindrucken<strong>und</strong> übersahen völlig, dass sie damit die Glaubenstraditionabgeschafft <strong>und</strong> das Lehramt durch Professorenhypothesenersetzt <strong>und</strong> Luthers Sola Scriptura in verschärfter Formeingeführt hätten.In seinem Vortrag am 10. Oktober 1962 im Kolleg SantaMaria dell’Anima vor den deutschsprachigen Bischöfen erläuterte<strong>der</strong> 35-jährige Bonner Ordinarius Joseph Ratzinger seinan Bonaventura gewonnenes Offenbarungsverständnis: „Offenbarung,das heißt das Zugehen Gottes auf den Menschen,ist immer größer als das, was in Menschenworte gefasst werdenkann, größer auch als die Worte <strong>der</strong> Schrift.“ Quellen <strong>der</strong> Offenbarungsind nicht, wie <strong>der</strong> Entwurf sagt, Schrift <strong>und</strong> Überlieferung,„son<strong>der</strong>n die Offenbarung Gottes ist die eine Quellevon Schrift <strong>und</strong> Überlieferung.“ Sollten durch das KonzilSchrift <strong>und</strong> Überlieferung als die beiden Quellen <strong>der</strong> Offenbarungfestgeschrieben werden, so bestehe die Gefahr, dass Schrift<strong>und</strong> Offenbarung gleichgesetzt werden: „Man braucht ja nur zubehaupten, dass die Überlieferung keine zusätzlichen Inhaltezur Schrift hinzubringe, dann ist die Schrift die ganze Offenbarung.“Demgegenüber sei aber festzuhalten, dass die Offenbarung„immer ein Mehr... gegenüber ihrer fixierten Bezeugungin <strong>der</strong> Schrift“ darstellt.Ratzinger bezog sich ausdrücklich auf das Dogma von1950 <strong>und</strong> dessen Begründungsproblem: Da keine Bezeugung<strong>der</strong> Lehre von <strong>der</strong> leiblichen Aufnahme Marien in den Himmelvor dem fünften Jahrh<strong>und</strong>ert nachgewiesen werden kann, wiekann man sie dann eine apostolische Überlieferung nennen?Wenn Tradition die außerbiblische mündliche o<strong>der</strong> schriftlicheWeitergabe von Sätzen bedeutet, dann ist dieses Dogmaeben nicht aus <strong>der</strong> Tradition zu begründen. Hier nun setzt<strong>der</strong> theologische Ertrag <strong>der</strong> Habilitation an: Nach <strong>der</strong> Definition<strong>der</strong> Väter von Bonaventura ist Tradition „Scriptura in Ecclesia.“In <strong>der</strong> Auslegung Ratzingers: „Schrift lebt in <strong>der</strong> lebendigenAneignung durch die geisterfüllte Kirche <strong>und</strong> nur so istsie sie selbst. Darum stehen Schrift, Tradition <strong>und</strong> Lehramt <strong>der</strong>Kirche nicht isoliert nebeneinan<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n man muss sie als„den einen lebendigen Organismus des Wortes Gottes betrachten,...das von Christus her in <strong>der</strong> Kirche lebt.“Selbstbewusst auf seiner Habilitationsthese bestehend for<strong>der</strong>teRatzinger die Väter auf, diesen Entwurf zurückzuweisen,da man schließlich „nicht im Namen <strong>der</strong> Tradition den größtenTeil <strong>der</strong> Tradition als falsch verdammen“ könne. Zumindestsollten die Väter eine einseitige Festlegung durch das Konzilverhin<strong>der</strong>n: „...anzustreben ist, dass weiterhin Offenheit bleibe,wie bisher, <strong>und</strong> dass das Konzil deutlich an <strong>der</strong> Offenheit fürden Weg eines Thomas <strong>und</strong> Bonaventura festhält.“Wohl auf eine Anregung von Kardinal Döpfner hin wurdeRatzinger mit Karl Rahner zur Ausarbeitung eines alternativenEntwurfs zusammengespannt. Das Ergebnis war eine ernüchterndeEinsicht bei Ratzinger: „Bei <strong>der</strong> gemeinsamen Arbeitwurde mir klar, dass Rahner <strong>und</strong> ich ... theologisch auf zwei verschiedenenPlaneten lebten“ (AmL). Etwas resignativ heißt esrückblickend in den Erinnerungen: „In <strong>der</strong> allgemeinen Stimmungvon 1962, die sich <strong>der</strong> Thesen Geiselmanns... bemächtigthatte, war es mir unmöglich, diese meine aus den Quellen gewonneneSicht deutlich zu machen, mit <strong>der</strong> ich im übrigen jaschon 1956 nicht verstanden worden war“ (AmL).Aus den nachzu<strong>lesen</strong>den Wortmeldungen von KardinalFrings <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Vätern auf <strong>der</strong> Vollversammlung lässt sich<strong>der</strong> Einfluss Ratzingers allerdings klar erkennen. Damit ging das<strong>Drama</strong> <strong>der</strong> Habilitation in <strong>der</strong> Entstehungsgeschichte <strong>der</strong> DogmatischenKonstitution „Dei Verbum“ weiter. Von JohannesXXIII. wurde <strong>der</strong> Entwurf schließlich zurückgezogen <strong>und</strong> einerneuen, gemischten Kommission aus Theologischer Kommission<strong>und</strong> dem Sekretariat für die Einheit <strong>der</strong> Christen zur Neubearbeitungübertragen. Als offizieller Konzilstheologe (Peritus)war Ratzinger am gesamten Entstehungsprozess von „Dei Verbum“in <strong>der</strong> Kommission beteiligt. Auch <strong>der</strong> alte Wi<strong>der</strong>sacherSchmaus war auf dem Konzil, zog sich aber, wie Hans Küng inseiner Autobiographie überliefert, recht bald schmollend zurück:„Der Münchner ‚Dogmatikerpapst’ Michael Schmaus hattesich schon frühzeitig verabschiedet, weil seine neuscholastischeTheologie offensichtlich nicht gefragt ist; hier hätten nurdie ‚Teenager-Theologen’ etwas zu sagen: damit meinte er Ratzinger<strong>und</strong> mich.“Erst einen Monat vor Konzilsende am 11. November wurdedie Offenbarungskonstitution in <strong>der</strong> Schlussabstimmung mitgroßer Mehrheit angenommen. In seinen Erinnerungen nenntRatzinger die Offenbarungskonstitution einen <strong>der</strong> „herausragendenTexte des Konzils, <strong>der</strong> freilich noch nicht wirklich rezipiertist“. Erstmals wurde <strong>der</strong> Entwicklungsbegriff in ein Lehrdokumentaufgenommen: „Diese apostolische Überlieferungkennt in <strong>der</strong> Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einenFortschritt“(Dei Verbum II,8). Womit <strong>der</strong> bereits von KardinalNewman gewiesene Weg zur Überwindung <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nismuskrisebeschritten war. Schrift <strong>und</strong> Tradition wurden nichtals die beiden Quellen <strong>der</strong> Offenbarung festgeschrieben, son<strong>der</strong>nwurden als „dem selben göttlichen Quell entspringend“(II,9) bezeichnet. Es leuchtet sogar einmal das dynamische Offenbarungsverständnisauf: „Es zeigt sich also, dass die HeiligeÜberlieferung, die Heilige Schrift <strong>und</strong> das Lehramt <strong>der</strong> Kirche ...10|2009


46 disputaDie Aufbahrung des Leichnams des heiligenBonaventura. Um 1629. Von Francisco de Zurbarán(1598-1664). Paris, Musée du Louvre.Fotos: dpa10|2009


disputa 47so miteinan<strong>der</strong> verknüpft <strong>und</strong> einan<strong>der</strong> zugesellt sind, dass keinesohne die an<strong>der</strong>en besteht <strong>und</strong> dass alle zusammen ... durchdas Tun des Heiligen Geistes wirksam dem Heil <strong>der</strong> Seelen dienen“(II,10). Damit öffnet sich <strong>der</strong> Vorhang für den dritten Aktdes <strong>Drama</strong>s <strong>der</strong> Habilitation: Die nachkonziliare Wirkungsgeschichtedes Konzils.Mit Bonaventura gegen die reformistische<strong>und</strong> traditionalistische KonzilsrezeptionDie popularisierte These Geiselmanns von <strong>der</strong> „materialenVollständigkeit <strong>der</strong> Schrift“ hatte sich verselbständigt. Inihr sieht Ratzinger eine Ursache für den nachkonziliaren Traditionsbruch<strong>und</strong> den Glaubensverfall: „Das <strong>Drama</strong> <strong>der</strong> nachkonziliarenEpoche ist weitgehend von diesem Schlagwort <strong>und</strong>seinen logischen Konsequenzen bestimmt worden“ (AmL).Hauptprotagonist des Gegenkonzils war Hans Küng, <strong>der</strong> imzweiten Band seiner nach <strong>der</strong> Wahl Joseph Ratzingers zumPapst erschienenen Autobiographie (2007) erstaunlicherweisemit Schmaus in <strong>der</strong> Kritik übereinstimmt: „Die von Schmausin Ratzingers Habilitationsschrift... diagnostizierte gefährlicheSubjektivierung des Offenbarungsbegriffs ist (<strong>und</strong> bleibtbis heute) das Fragwürdigste an Ratzingers Offenbarungsauffassung.“In einer langen Anmerkung gibt Küng auch dazu eineBegründung: „Wenn die Offenbarung von Joseph Ratzingerals ‚immer größer als das bloß Geschriebene’ angesehen wird<strong>und</strong> sich ihre Wahrheit ‚stufenweise enthüllt’, dann können allemöglichen bisher verborgenen (apokryphen) gnostischen Offenbarungengef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> erf<strong>und</strong>en werden. So wird <strong>der</strong> Primat<strong>der</strong> kanonisierten Heiligen Schrift praktisch aufgegeben<strong>und</strong> die Tradition über die Schrift gestellt. Ja, man gibt <strong>der</strong> ‚verstehendenKirche’ (praktisch römischen Amtsstellen) die Möglichkeit<strong>und</strong> Macht, mit Berufung auf den Heiligen Geist, allemöglichen neuen Offenbarungen zu ‚entwickeln’ o<strong>der</strong> zu ‚sanktionieren’,auch wenn sie viele Jahrh<strong>und</strong>erte lang in <strong>der</strong> Kirchevöllig unbekannt waren: So Mariens unbefleckte Empfängnis(1854) o<strong>der</strong> ihre Aufnahme in den Himmel (1950).“Küng fehlt jedes Verständnis für die unauflösliche Einheitvon Schrift, Tradition <strong>und</strong> Kirche, wie sie Ratzingers dynamischesOffenbarungsverständnis zeigt. Neuscholastisches Sicherheitsdenken,das die Führung <strong>der</strong> Kirche durch den GeistGottes durch Festhalten an den eigenen Sicherheiten ersetzthat, stärkt unfreiwillig auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite die rein subjektivistischeJesusdeutung eines Hans Küng. Während die progressiveKonzilsdeutung keinerlei Einschränkungen <strong>der</strong> Theologiedurch das kirchliche Lehramt erlaubt, verwahren sich dieTraditionalisten gegen jede lehramtliche Entwicklung über dieVorkonzilszeit hinaus. Gerade die zum Wesen <strong>der</strong> Kirche gehörige„beständige Identität in <strong>der</strong> Dynamik <strong>der</strong> Entwicklung“(Joseph Ratzinger: Gottes Projekt. Regensburg 2009) hat auchdie Traditionalistenbewegung nicht verstanden.In einer Vorlesungsreihe 1985 erklärte Ratzinger den Zusammenhangvon Entwicklung <strong>und</strong> Identität: „Wer sich nur amWortlaut <strong>der</strong> Schrift orientiert... o<strong>der</strong> den Radius etwas weiterzieht <strong>und</strong> sich nur an den Normen <strong>der</strong> Väterkirche festklammernwill, verbannt ja Christus ins Gestern. Die Folge ist dannentwe<strong>der</strong> ein romantischer Archaismus, ein ganz steriler Glaube,<strong>der</strong> dem Heute nichts zu sagen hat, o<strong>der</strong> aber eine Eigenmächtigkeit,die 2000 Jahre Geschichte überspringt <strong>und</strong> sie inden Mülleimer des Missverstandenen wirft... Was in diesem Fallherauskommt, kann nur ein Kunstprodukt unseres eigenen Machenssein, dem keine Beständigkeit innewohnt. Die wirklicheIdentität mit dem Ursprung ist nur da, wo zugleich die lebendigeKontinuität ist, die ihn entfaltet <strong>und</strong> im fortgehenden Entfaltenbewahrt“ („Gottes Projekt“).Von <strong>der</strong> Habilitation führt <strong>der</strong> Weg über „Dei Verbum“bis zu den Bemühungen von Benedikt XVI. um die Integration<strong>der</strong> Traditionalisten. Als Präfekt <strong>der</strong> Kongregation für die Glaubenslehrefiel Kardinal Ratzinger die Aufgabe zu, sich mit <strong>der</strong>Befeiungstheologie auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Hier beginnt nun <strong>der</strong>nächste Akt des <strong>Drama</strong>s.Mit Bonaventura gegen diemarxistische BefreiungstheologieIm Interview-Buch „Salz <strong>der</strong> Erde“ (1996) wurde von Ratzingerselbst <strong>der</strong> Zusammenhang zwischen den Antworten Bonaventurasauf die Drei-Reiche-Theorie des Joachim von Fiore<strong>und</strong> <strong>der</strong> Befreiungstheologie hergestellt. „Das historische Offenbarungswortist endgültig, aber es ist unerschöpflich <strong>und</strong>gibt immer neue Tiefen frei. Insofern spricht <strong>der</strong> Heilige Geistals Interpret Christi mit seinem Wort zu je<strong>der</strong> Zeit <strong>und</strong> sagt ihr,dass dieses Wort immerfort Neues zu sagen hat. Der HeiligeGeist wird nicht, wie bei Joachim von Fiore, in eine zukünftigePeriode extrapoliert, son<strong>der</strong>n immerfort ist Geist-Zeitalter. DasChristus-Zeitalter ist das Zeitalter des Heiligen Geistes.“Zur Frage des Verhältnisses von Eschatologie <strong>und</strong> Utopiestellt er klar: „Es fällt den Menschen schwer, nur auf das Jenseitso<strong>der</strong> nur auf eine neue Welt nach dem Untergang <strong>der</strong> gegenwärtigenzu hoffen. Er möchte eine Verheißung in <strong>der</strong>Geschichte. Joachim, <strong>der</strong> eine solche Verheißung konkret formulierthat, hat damit die Weichen für Hegel gestellt, wie Paterde Lubac gezeigt hat, wobei Hegel wie<strong>der</strong>um das Denkschemafür Marx bereitgestellt hat. Bonaventura hat sich gegen dieUtopie gewandt, die den Menschen betrügt. Er hat auch einemschwärmerischen, geistlich-anarchischen Konzept <strong>der</strong> franziskanischenBewegung gegenüber ein nüchternes <strong>und</strong> realistischesdurchgesetzt, was ihm viele übelgenommen haben <strong>und</strong>10|2009


48 disputanoch übel nehmen.“ Bonaventura wi<strong>der</strong>setzt sich <strong>der</strong> innerweltlichenErlösungslehre des Joachim von Fiore, die unter radikalenFranziskanern begeisterte Aufnahme fand. Man kann sogarsagen, dass die Aufgabe, die damals Bonaventura als dem Generalministerdes Franziskanerordens angesichts <strong>der</strong> Krise durchdie Spiritualen zufiel, vergleichbar ist <strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung fürdie Gesamtkirche, vor die sich Kardinal Ratzinger durch die Befreiungstheologiegestellt sah. Dies bestätigt Ratzinger selbst imVorwort zur Neuausgabe <strong>der</strong> Habilitationsschrift (ital. 1991, dt.1992): „Die Frage, ob man als Christ an eine Art von innerweltlicherVollendung denken könne, also so etwas wie eine christlicheUtopie, eine Synthese von Utopie <strong>und</strong> Eschatologie möglichsei, kann man vielleicht geradezu als den theologischen Kern<strong>der</strong> Debatte um die Befreiungstheologie bezeichnen.“Was Ratzinger über Bonaventura sagt, trifft genau auchseine standhafte Haltung gegenüber <strong>der</strong> neomarxistischen Richtung<strong>der</strong> Befreiungstheolgie, für die er beson<strong>der</strong>s im deutschenSprachraum – dem Ausgangspunkt des marxistisch inspiriertenPrimats <strong>der</strong> Praxis – überwiegend Ablehnung erfuhr: „Erwar freilich unerbittlich in <strong>der</strong> Ablehnung von Bestrebungen,die Christus <strong>und</strong> Geist, die christologisch-sakramental geordneteKirche <strong>und</strong> die pneumatologisch-prophetische Kirche <strong>der</strong> Armenzu teilen versuchten <strong>und</strong> dabei in Anspruch nahmen, Utopiedurch ihre Lebensform selbst vergegenwärtigen zu können.“Dies ist das <strong>Drama</strong> einer weitgehend unveröffentlichtenHabilitationsschrift <strong>und</strong> ihrer Wirkungsgeschichte in <strong>der</strong> zweitenHälfte des zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts. Nach <strong>der</strong> versuchtenUnterdrückung durch Schmaus folgte die Wirkung <strong>der</strong> TheseRatzingers auf das Konzil: Ablehnung des Entwurfs einer Offenbarungskonstitutionmit den Argumenten Ratzingers <strong>und</strong> <strong>der</strong>enEinwirken auf „Dei Verbum.“ In <strong>der</strong> nachkonzilaren Krise mussRatzinger erleben, dass es <strong>der</strong> progressistischen Min<strong>der</strong>heit gelungenwar, die Rezeption des Konzils in ihrem Sinne zu verfälschen,<strong>und</strong> dass mit <strong>der</strong> unrechtmäßigen Weihe von Bischöfendie Traditionalisten sich als Gegenkirche etablierten. Durch denWi<strong>der</strong>stand <strong>der</strong> Integristen kam ein Kompromisstext heraus,dem man eine noch größere Entschiedenheit im Sinne Ratzingersgewünscht hätte. Mit seinen Klarstellungen wäre man möglicherweisenicht so schnell in die Defensive geraten.Mit <strong>der</strong> „Geschichtstheologie des heiligen Bonaventura“sah <strong>der</strong> Kurienkardinal Ratzinger schließlich in <strong>der</strong> Befreiungstheologiedas Missverständnis wie<strong>der</strong> aufleben, dass durch politischesHandeln eine innerweltliche Vollendung herbeigeführtwerden könne. Wie Bonaventura tritt er in seiner Zeit gegen einchiliastisches Erlösungsverständnis auf, hinter dem <strong>der</strong> Marxismussteht, <strong>der</strong> bereits als falscher Messianismus <strong>und</strong> Weg inden mör<strong>der</strong>ischen Totalitarismus überführt war <strong>und</strong> im Übrigenkurz vor dem Zusammenbruch stand. Nach 54 Jahren wurdejetzt die Habilitationsschrift des Papstes als zweiter Band <strong>der</strong>Werkausgabe erstmals vollständig veröffentlicht. Bücher habenihre Schicksale, auch unveröffentlichte.Vorsicht Dávila!Um irgendwen in Empörung zu versetzen, genügtes heutzutage, ihm vorzuschlagen, er solleauf etwas verzichten.Die Geschichte zeigt, dass die Glückstreffer desMenschen zufällig sind <strong>und</strong> seine Fehlgriffemethodisch.Nur einige wenige werden am Ende nicht amHalfter in den Stall geführt.Die Freiheit ist das Metall, aus dem die Fußeisengeschmiedet sind.Der Pöbel behandelt den berühmten Schriftstellermit einer sinnreichen Diskretion: Er feiertseinen Namen <strong>und</strong> ignoriert seine Bücher.Wir sollten nicht auf den hören, <strong>der</strong> kein grobesPilgergewand trägt.Kein Kunstwerk kann uns Tore zu einer Überweltöffnen.Doch <strong>der</strong> Unterschied zwischen einem misslungenen<strong>und</strong> einem gelungenen Werk ist ein Spaltüberweltlichen Lichts.Die <strong>Schönheit</strong> ist <strong>Schönheit</strong> eines irdischenDings. Doch dass es die <strong>Schönheit</strong> gibt, ist keineirdische Angelegenheit.Solange man ihn nicht ernst nimmt, kann, werdie Wahrheit sagt, eine Weile in einer Demokratieleben.Danach: <strong>der</strong> Schierlingsbecher.Während er zu brüllen glaubt, iaht <strong>der</strong> jungeMensch.Die Wasser des Abendlands sind faulig, dochdie Quelle ist rein.Aphorismen aus den Werken des kolumbianischenPhilosophen Nicolás Gómez DávilaAus: Das Leben ist die Guillotine <strong>der</strong> Wahrheiten, EichbornVerlag, Frankfurt am Main 200610|2009

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