- 2 -Das neunzeilige Blatt im Querformat (33,8 x 26,1 cm, verso leer, kein Wasserzeichen), das imWerkverzeichnis fehlt 7 , ist mit „J. Brahms“ signiert und nicht datiert. Auf dem ersten und drittenSystem wurden mit Bleistift je sechs Takte einstimmig im Violinschlüssel notiert. Nebengenauen Angaben zu Dynamik und Artikulation enthält das Manuskript Hinweise zur Ausführung.Die eingeklammerte Fermate über dem zweiten Takt markiert den Haltepunkt des auf e’beginnenden Kanons, der aufgrund seiner Anlage als „Kreiskanon“ beliebig oft wiederholtwerden kann. Die Stimmbezeichnungen „Alt“, „Ten“ und „Bass.“ zwischen den beiden Notenzeilendeuten als Besetzung vier gemischte Stimmen an, die jeweils im Abstand eines Takteseinsetzen. Der Zusatz „Andante (per tonos a 4)“ am Anfang bezeichnet das Vortragstempo,nennt die Zahl der Stimmen und bezieht sich auf den Intervallabstand ihrer Einsätze: Dieserist so zu wählen, daß im Verlauf des Stückes alle zwölf Stufen der chromatischen Leitereinbezogen werden, die Stimmen also nacheinander „durch die Töne“ (per tonos) wandern.Von ihnen handelt auch das Distichon des Goethe-Freundes Karl Ludwig von Knebel 8 (1744-1834), das Brahms seinem Kanon zugrunde legte und unter die beiden Melodiezeilen notierte:„Töne, lindernder Klang, du kannst nicht nehmen die Schmerzen / aber die Töne vielleichtlindern die leidende Brust“.Bereits Max Kalbeck 9 weist darauf hin, „daß Geschenke von Brahms [...] immer ihre sinnigeNebenbedeutung [hatten], die dem Empfänger oft verborgen blieb“. Diese Bemerkung regt an,über den möglichen Hintersinn nachzudenken, der in unserem Blatt versteckt sein könnte.Eigentlich sollte man annehmen, daß das Manuskript in Avés Besitz gelangte, bevor 1862/63die ernste Verstimmung mit Brahms eintrat, der sich bei der Besetzung des Direktionspostensder Philharmonischen Konzerte in Hamburg übergangen fühlte. Ein Brief, den der Komponistam 18. November 1862 aus Wien an Clara Schumann schrieb 10 , dokumentiert in seltener Offenheitdie große Enttäuschung darüber, daß ihm Julius Stockhausen als Nachfolger FriedrichWilhelm Grunds vorgezogen worden war: „Wie selten findet sich für unsereinen eine bleibendeStätte, wie gerne hätte ich sie in der Vaterstadt gefunden“. Wenige Tage zuvor hatteBrahms durch einen Brief seines väterlichen Freundes und Förderers Theodor Avé-Lallemant7 Vgl. Margit L. McCorkle: Johannes Brahms. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis. München1984. Das Blatt entspricht nicht dem auf S. 547 beschriebenen Exemplar des Kanons, das sichim Besitz von Waldlieb Avé-Lallemant, Hamburg, und dann Frau Avé-Lallemant, Hamburg, befundenhat bzw. befindet.8 Der Textdichter ist nur in einem der insgesamt sechs erhaltenen Autographe des Kanons überliefert(vgl. McCorkle [Anm. 7] S. 547. Autograph d).9 Max Kalbeck: Johannes Brahms. Band II 1862-1873. Nachdruck der Ausgabe von 1921. Tutzing1976. S. 193.10 Clara Schumann/Johannes Brahms (Anm. 1) S. 413.
- 3 -von der Entscheidung des Philharmonischen Komitees erfahren. „Er [der Brief] ist mir einviel traurigeres Ereignis als Du denkst und vielleicht begreiflich findest“, 11 bekennt er derFreundin und Vertrauten. Leider war es Avé in seiner Eigenschaft als Komitee-Mitglied nichtgelungen, die Mehrheit für den Komponisten einzunehmen. Auch konnte er seinen eigentlichenPlan, die Direktion der Philharmonischen Konzerte zu teilen und Brahms zunächst alsChormeister der Singakademie anzustellen, nicht durchsetzen. 12 Obwohl Brahms sich nie aktivum diese Position beworben hatte, fühlte er sich jetzt tief getroffen und machte für seinenMißerfolg Avé persönlich verantwortlich: „Nun kommt dieser feindliche Freund und stößtmich für - immer wohl, fort“. 13Wie aber, wenn sich unser Manuskript gerade mit dem soeben skizzierten Sachverhalt in Verbindungbringen ließe, der die Freundschaft der beiden Männer immerhin jahrelang empfindlichbelastet hat? Brahms konnte sich mit dem Knebelschen Epigramm, das von Schmerz undLeid spricht, durchaus identifizieren - und natürlich mit den in Rede stehenden „Tönen“, diezum täglichen Handwerkszeug eines Komponisten gehören. 14 Die These gewinnt an Prägnanzaufgrund einiger Besonderheiten, die das Blatt von den anderen, insgesamt fünf erhaltenenAutographen des Kanons Töne, lindernder Klang unterscheidet. Während diese - mit Ausnahmedes einzigen Manuskripts in Partiturform 15 - keine näheren Angaben zur Ausführungdes jeweils einstimmigen Notats enthalten 16 , zeichnet sich das Avé-Manuskript gerade durchDetails wie Besetzung, Einsatzabstand und selbst Intervallabstand der Stimmeneinsätze 17 aus.Damit gerät es in die Nähe einer Partiturniederschrift - ohne tatsächlich eine zu sein, die manaber erwarten dürfte, wäre es im Hinblick auf eine konkrete Aufführung entstanden.Daß ein solches Kanon-Blatt von Brahms in der Regel als “Rätselkanon“ 18 angelegt war, dender Empfänger zu entschlüsseln hatte, bevor er ihn im privaten Kreis erproben konnte, zeigt11 Ebd. S. 413.12 Vgl. Kurt Hofmann: Johannes Brahms und Hamburg. Reinbek 1986. S. 34 f.13 Clara Schumann/Johannes Brahms (Anm. 1) S. 413.14 Die meisten der bis um 1860 komponierten Kanons widmen sich melancholischen Themen (vgl. etwa“Wenn Kummer hätte zu töten Macht“ op. 113/12 oder “Grausam erweiset sich Amor“ <strong>WoO</strong> 24).Allein der Knebelsche Text stellt die Verbindung zur Musik, Brahms’ ureigenstem Betätigungsfeld, her.15 Im Besitz des Brahms-Instituts. Das Manuskript, dem auch die Erstfassung des Kanons zugrundeliegt, ist unsigniert und undatiert. Die Partitur (Sopran-, Alt-, Tenor- und Baßschlüssel), beginnend aufe’, sieht eine gemischte Besetzung vor (vgl. McCorkle [Anm. 7] S. 547).16 Vgl. McCorkle (Anm. 8) S. 546 f.17 Daß die Stimmen jeweils im Unterquartabstand einsetzen sollen, sich im Quintenzirkel also aufwärtsbewegen, zeigt die Plazierung der Stimmenangaben „Alt“, „Ten“, „Bass.“: Ergänzt man beim zweitenNotensystem den Baßschlüssel und die entsprechenden Vorzeichen, so ergeben sich folgende Einsatztöne:(e’) - h - fis - cis - (...).18 Als solcher erschien “Töne, lindernder Klang“ faksimiliert in Heft 3 (19. Januar) 1872 des „MusikalischenWochenblatts“. Erst über vier Jahre später wurde in Heft 29 (14. Juli) 1876 die (von FerdinandBöhme vorgenommene) Auflösung des Kanons veröffentlicht (vgl. McCorkle [Anm. 7] S. 548).