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WoO 28

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Johannes BrahmsTöne, lindernder Klang. Kanon für vier Stimmen <strong>WoO</strong> <strong>28</strong>. Autograph (Erstfassung)Stefan Weymar„Kanons kann ich jetzt in allen möglichen künstlichen Formen machen [...]“, 1 schrieb JohannesBrahms nicht ohne Stolz am 3. Februar 1855 aus Düsseldorf an Clara Schumann. Zeitlebenshatte die kontrapunktische Satztechnik des Kanons für Brahms eine große Bedeutung,bevorzugt im geistlichen Vokalwerk und selbst im instrumentalen Schaffen. 2 Neben unselbständigenKanonbildungen, die jeweils in ein übergeordnetes Satzganzes integriert sind, entstandenauch eigenständige kleine Stücke als Vokalkanons, von denen heute insgesamt zwanzigvorliegen. 1891 veröffentlichte der Komponist bei Peters in Leipzig dreizehn von ihnenals sein Opus 113. Für diese Kanons, die in ihrer Entstehung zum Teil bis in die späten 1850erJahre zurückreichen, hatte Brahms eine „besondere Liebhaberei“, wie er seinem Verleger MaxAbraham mitteilt. 3 Mit ihrer Publikation wolle er das gesellig-improvisierende Kanonsingenfördern, das „vor allem auch eine gesellschaftliche Unterhaltung“ 4 sei.Im Familienarchiv Avé-Lallemant befindet sich eine autographe Reinschrift des Kanons Töne,lindernder Klang <strong>WoO</strong> <strong>28</strong> in der Erstfassung, die Brahms vermutlich Theodor Avé-Lallemantgeschenkt hat. Wohl als musikalisches Albumblatt gedacht, diente sie der gesellschaftlichenKommunikation des Komponisten, der häufig gebeten wurde, sich mit einem Notenzitat in einAlbum oder auf ein loses Blatt einzutragen. Otto Biba 5 betont jedoch, daß für Brahms dasSchreiben solcher Albumblätter nichts Beiläufiges gewesen sei, „sondern - wie jede musikalischeNiederschrift - eine Offenbarung seiner selbst, der nicht jeder würdig war, mit der es abermanche symbolhaft zu ehren galt“. Der besondere Rang des Empfängers zeigt sich darin, daßdieser eine vollständige Komposition erhielt und kein Notenzitat. 61 Clara Schumann/Johannes Brahms. Briefe aus den Jahren 1853-1896. Hrsg. von Berthold Litzmann.Bd. I, 1853-1871. Leipzig 1927. S. 73.2 Vgl. etwa die Motette op. 29/2 “Schaffe in mir, Gott, ein rein Herz“ - Im ersten Teil (Andante moderato)bilden die Außenstimmen einen Proportionskanon - oder die Variationen fis-moll für Klavier über einThema von Robert Schumann op. 9: Drei der 16 Variationen sind ganz als Kanon gearbeitet, eine weitereVariation enthält einen Spiegelkanon.3 Johannes Brahms an Max Abraham: Brief vom 2. Oktober 1891 aus Wien. In: Johannes Brahms.Briefwechsel. Bd. XIV. Hrsg. von Wilhelm Altmann. Nachdruck der Ausgabe von 1921. Tutzing 1974.Nr. 400. S. 395.4 Johannes Brahms an Max Abraham: Brief vom 4. November 1891 aus Wien. In: Ebd. Nr. 408. S.405.5 Otto Biba: Einführung zum Faksimile des Kanon-Autographs “Wann hört der Himmel auf zu strafen?“<strong>WoO</strong> 29. Wien 1995. S. 1.6 Vgl. Biba (Anm. 5) S. 2. Der Kanon ist die kleinste musikalische Form, die als in sich abgeschlosseneKomposition auf einem Albumblatt Platz finden konnte.


- 2 -Das neunzeilige Blatt im Querformat (33,8 x 26,1 cm, verso leer, kein Wasserzeichen), das imWerkverzeichnis fehlt 7 , ist mit „J. Brahms“ signiert und nicht datiert. Auf dem ersten und drittenSystem wurden mit Bleistift je sechs Takte einstimmig im Violinschlüssel notiert. Nebengenauen Angaben zu Dynamik und Artikulation enthält das Manuskript Hinweise zur Ausführung.Die eingeklammerte Fermate über dem zweiten Takt markiert den Haltepunkt des auf e’beginnenden Kanons, der aufgrund seiner Anlage als „Kreiskanon“ beliebig oft wiederholtwerden kann. Die Stimmbezeichnungen „Alt“, „Ten“ und „Bass.“ zwischen den beiden Notenzeilendeuten als Besetzung vier gemischte Stimmen an, die jeweils im Abstand eines Takteseinsetzen. Der Zusatz „Andante (per tonos a 4)“ am Anfang bezeichnet das Vortragstempo,nennt die Zahl der Stimmen und bezieht sich auf den Intervallabstand ihrer Einsätze: Dieserist so zu wählen, daß im Verlauf des Stückes alle zwölf Stufen der chromatischen Leitereinbezogen werden, die Stimmen also nacheinander „durch die Töne“ (per tonos) wandern.Von ihnen handelt auch das Distichon des Goethe-Freundes Karl Ludwig von Knebel 8 (1744-1834), das Brahms seinem Kanon zugrunde legte und unter die beiden Melodiezeilen notierte:„Töne, lindernder Klang, du kannst nicht nehmen die Schmerzen / aber die Töne vielleichtlindern die leidende Brust“.Bereits Max Kalbeck 9 weist darauf hin, „daß Geschenke von Brahms [...] immer ihre sinnigeNebenbedeutung [hatten], die dem Empfänger oft verborgen blieb“. Diese Bemerkung regt an,über den möglichen Hintersinn nachzudenken, der in unserem Blatt versteckt sein könnte.Eigentlich sollte man annehmen, daß das Manuskript in Avés Besitz gelangte, bevor 1862/63die ernste Verstimmung mit Brahms eintrat, der sich bei der Besetzung des Direktionspostensder Philharmonischen Konzerte in Hamburg übergangen fühlte. Ein Brief, den der Komponistam 18. November 1862 aus Wien an Clara Schumann schrieb 10 , dokumentiert in seltener Offenheitdie große Enttäuschung darüber, daß ihm Julius Stockhausen als Nachfolger FriedrichWilhelm Grunds vorgezogen worden war: „Wie selten findet sich für unsereinen eine bleibendeStätte, wie gerne hätte ich sie in der Vaterstadt gefunden“. Wenige Tage zuvor hatteBrahms durch einen Brief seines väterlichen Freundes und Förderers Theodor Avé-Lallemant7 Vgl. Margit L. McCorkle: Johannes Brahms. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis. München1984. Das Blatt entspricht nicht dem auf S. 547 beschriebenen Exemplar des Kanons, das sichim Besitz von Waldlieb Avé-Lallemant, Hamburg, und dann Frau Avé-Lallemant, Hamburg, befundenhat bzw. befindet.8 Der Textdichter ist nur in einem der insgesamt sechs erhaltenen Autographe des Kanons überliefert(vgl. McCorkle [Anm. 7] S. 547. Autograph d).9 Max Kalbeck: Johannes Brahms. Band II 1862-1873. Nachdruck der Ausgabe von 1921. Tutzing1976. S. 193.10 Clara Schumann/Johannes Brahms (Anm. 1) S. 413.


- 3 -von der Entscheidung des Philharmonischen Komitees erfahren. „Er [der Brief] ist mir einviel traurigeres Ereignis als Du denkst und vielleicht begreiflich findest“, 11 bekennt er derFreundin und Vertrauten. Leider war es Avé in seiner Eigenschaft als Komitee-Mitglied nichtgelungen, die Mehrheit für den Komponisten einzunehmen. Auch konnte er seinen eigentlichenPlan, die Direktion der Philharmonischen Konzerte zu teilen und Brahms zunächst alsChormeister der Singakademie anzustellen, nicht durchsetzen. 12 Obwohl Brahms sich nie aktivum diese Position beworben hatte, fühlte er sich jetzt tief getroffen und machte für seinenMißerfolg Avé persönlich verantwortlich: „Nun kommt dieser feindliche Freund und stößtmich für - immer wohl, fort“. 13Wie aber, wenn sich unser Manuskript gerade mit dem soeben skizzierten Sachverhalt in Verbindungbringen ließe, der die Freundschaft der beiden Männer immerhin jahrelang empfindlichbelastet hat? Brahms konnte sich mit dem Knebelschen Epigramm, das von Schmerz undLeid spricht, durchaus identifizieren - und natürlich mit den in Rede stehenden „Tönen“, diezum täglichen Handwerkszeug eines Komponisten gehören. 14 Die These gewinnt an Prägnanzaufgrund einiger Besonderheiten, die das Blatt von den anderen, insgesamt fünf erhaltenenAutographen des Kanons Töne, lindernder Klang unterscheidet. Während diese - mit Ausnahmedes einzigen Manuskripts in Partiturform 15 - keine näheren Angaben zur Ausführungdes jeweils einstimmigen Notats enthalten 16 , zeichnet sich das Avé-Manuskript gerade durchDetails wie Besetzung, Einsatzabstand und selbst Intervallabstand der Stimmeneinsätze 17 aus.Damit gerät es in die Nähe einer Partiturniederschrift - ohne tatsächlich eine zu sein, die manaber erwarten dürfte, wäre es im Hinblick auf eine konkrete Aufführung entstanden.Daß ein solches Kanon-Blatt von Brahms in der Regel als “Rätselkanon“ 18 angelegt war, dender Empfänger zu entschlüsseln hatte, bevor er ihn im privaten Kreis erproben konnte, zeigt11 Ebd. S. 413.12 Vgl. Kurt Hofmann: Johannes Brahms und Hamburg. Reinbek 1986. S. 34 f.13 Clara Schumann/Johannes Brahms (Anm. 1) S. 413.14 Die meisten der bis um 1860 komponierten Kanons widmen sich melancholischen Themen (vgl. etwa“Wenn Kummer hätte zu töten Macht“ op. 113/12 oder “Grausam erweiset sich Amor“ <strong>WoO</strong> 24).Allein der Knebelsche Text stellt die Verbindung zur Musik, Brahms’ ureigenstem Betätigungsfeld, her.15 Im Besitz des Brahms-Instituts. Das Manuskript, dem auch die Erstfassung des Kanons zugrundeliegt, ist unsigniert und undatiert. Die Partitur (Sopran-, Alt-, Tenor- und Baßschlüssel), beginnend aufe’, sieht eine gemischte Besetzung vor (vgl. McCorkle [Anm. 7] S. 547).16 Vgl. McCorkle (Anm. 8) S. 546 f.17 Daß die Stimmen jeweils im Unterquartabstand einsetzen sollen, sich im Quintenzirkel also aufwärtsbewegen, zeigt die Plazierung der Stimmenangaben „Alt“, „Ten“, „Bass.“: Ergänzt man beim zweitenNotensystem den Baßschlüssel und die entsprechenden Vorzeichen, so ergeben sich folgende Einsatztöne:(e’) - h - fis - cis - (...).18 Als solcher erschien “Töne, lindernder Klang“ faksimiliert in Heft 3 (19. Januar) 1872 des „MusikalischenWochenblatts“. Erst über vier Jahre später wurde in Heft 29 (14. Juli) 1876 die (von FerdinandBöhme vorgenommene) Auflösung des Kanons veröffentlicht (vgl. McCorkle [Anm. 7] S. 548).


- 4 -das Beispiel einer wohl um 1865 entstandenen Handschrift. Das Blatt, welches neben Töne,lindernder Klang noch drei weitere Kanons des Komponisten enthält, 19 verschleiert die Artund Weise ihrer Ausführung bewußt, nur die Stimmenzahl ist angegeben. Und doch sind dieKanons zum praktischen Musizieren gedacht, wie die Zuschrift an die Karlsruher BlumenmalerinAlwine Schroedter (1820-1892) auf der Blattrückseite zeigt: „Es [Umstehendes] soll u.kann im Uebrigen von 4 oder mehr Frauenstimen mit Schwärmerei u. Verliebtheit gesungenwerden.“ 20Immer vorausgesetzt, daß Avé tatsächlich der Empfänger unseres Kanons war, wird ihn dieWidersprüchlichkeit des Manuskripts irritiert haben, die eine doppelte Lesart nahelegt: Vordergründigdurfte er sich als der Beschenkte geehrt fühlen, gleichzeitig aber konnte er dasBlatt in seinen Einzelheiten als versteckte Mißachtung auffassen. 21 Ein Rätselkanon, dessenAuflösung bereits en detail mitgeteilt war, muß Avé als versierten Musiker zumindest verunsicherthaben. Vielleicht zweifelte er sogar daran, daß Brahms ihm die korrekte Auflösungüberhaupt zutraute. Folgen wir dieser Interpretation, erscheint es nicht abwegig, daß der vonAvé schwer enttäuschte Brahms, der gerne in Hamburg eine Stellung gefunden hätte, das anspielungsreicheBlatt gewissermaßen als „Abschiedsgeschenk“ übergab, kurz bevor er im August1863 der Hansestadt endgültig den Rücken kehrte, um in Wien die Leitung der Singakademiezu übernehmen.Die über den möglichen biografischen Kontext vorgeschlagene Datierung des Manuskriptsführt nun zu der Frage, wann der Kanon Töne, lindernder Klang überhaupt entstanden sei.Fest steht jedenfalls, daß er nicht im Hinblick auf unser Blatt komponiert wurde, weil um19 “Göttlicher Morpheus“ (Goethe), „Leise Töne der Brust“ (Rückert) und „Ich weiß nicht, was im Haindie Taube girret“ (Rückert), später veröffentlicht als op. 113/1, 113/10 und 113/11. Das Blatt, das sichheute im Stadtarchiv Karlsruhe befindet, überliefert als einziges Autograph den Textdichter (“Knebel“)von <strong>WoO</strong> <strong>28</strong> (vgl. McCorkle [Anm. 7] S. 454, Autograph b und S. 547, Autograph d).20 Johannes Brahms in Baden-Baden und Karlsruhe. Eine Ausstellung der Badischen LandesbibliothekKarlsruhe und der Brahmsgesellschaft Baden-Baden e. V. Ausstellungskatalog hrsg. von der BadischenLandesbibliothek Karlsruhe [...]. Karlsruhe 1983. S. 157. Brahms war im Hause des MalerehepaarsSchroedter ein gern gesehener Gast. Als Alwine ihm einmal eines von ihren dekorativen Blätternmit Blumenmotiven schenkte, erhielt sie von Brahms im Gegenzug jenes Notenblatt (vgl. ebd. S. 38ff.).21 Daher konnte Brahms seinem Namenszug auch nicht, wie er das in zwei anderen Fällen tat, “Zufreundl. Gedenken“ bzw. “Zu freundl. Erinnern“ voranstellen (vgl. die Autographen c und e unseres Kanonsbei McCorkle [Anm. 7] S. 547). Zur unterstellten Mißachtung fügt sich die „ungenaue“ Schreibweiseinnerhalb der ersten beiden Takte: Das Vorzeichen der zweiten Note läßt sich eher als Auflösungszeichendenn als Kreuz interpretieren, während die erste Note von T. 2 leicht als c’’ (statt h’)mißverstanden wird. Wenn Avé das Blatt in diesem Sinne gelesen hat, funktioniert der ganze Kanonnicht: Spätestens beim Einsatz des Alt erklänge eine schrille Dissonanz. Gleichzeitig widerspricht derAnnahme eines lediglich flüchtigen Notierens die Deutlichkeit, mit der in T. 5 das gis’ (Notenkopf undVorzeichen) durch eine Korrektur fixiert wurde. Zufall oder Absicht? Als bemerkenswert erscheint indiesem Kontext auch der gleichsam trotzig wirkende Namenszug, der fast die Hälfte der Blattbreiteeinnimmt.


- 5 -1860 bereits die Erstfassung in einer g-moll-Version für Frauenstimmen existierte: Sie erscheintin den Stimmheften des Hamburger Frauenchors, den Brahms in den Sommermonatender Jahre 1859-61 leitete. Margit M. McCorkle 22 geht davon aus, daß der Kanon eigens fürden Chor geschrieben worden sei, und nimmt als Datierung daher „Ende der 50er/Anfang der60er Jahre, Hamburg“ an. Sie übersieht aber, daß die Erstfassung zu dieser Zeit auch in einere-moll-Version für gemischte Stimmen vorlag 23 - eine Besetzung, die sie generell erst mit der1872 veröffentlichten Zweitfassung in Verbindung bringt: „Für die Veröffentlichung im ‚MusikalischenWochenblatt’ hat Brahms das Stück für vier gemischte Stimmen umgeschriebenund dabei außer einigen Änderungen in der Melodieführung des Kopfmotivs vor allem denSchluß umgestaltet.“ 24 Ferner berücksichtigt McCorkle nicht, daß drei (mit unserem Blattvier!) der überlieferten Autographe der Erstfassung, die mit Ausnahme von Autograph c 25 undatiertsind, den Kanon in e-moll notieren und somit, allein aus Ambitus-Gründen, eine gemischteBesetzung fordern. Diese Beobachtungen relativieren die Datierung im Kontext desHamburger Frauenchors und legen die Möglichkeit nahe, daß der Kanon - jedenfalls in derVersion für gemischte Stimmen - durchaus früher entstanden sein könnte.Kurt Hofmann setzt das Partiturautograph des Brahms-Instituts (e-moll, SATB), das er als„vollständige erste Niederschrift für vier Stimmen“ 26 begreift, sogar schon für April/Mai 1853an. Er begründet seine Datierung damit, daß das (beschnittene) Manuskript ursprünglich mitden „[Ungarischen] Skizzen“ 27 (Anh. III Nr. 19), die während Brahms’ Konzertreise mit demGeiger Eduard Reményi entstanden seien, ein Blatt gebildet habe. Keinesfalls sicher ist jedoch,daß die betreffenden Skizzen tatsächlich aus dieser frühen Zeit stammen. Vielleichtwurden sie erst später im Hinblick auf die Ungarischen Tänze angefertigt, deren Hefte I und IIfür Klavier zu vier Händen 1869 bei N. Simrock in Berlin herauskamen. Selbst wenn die Datierungder Skizzen richtig wäre, kann Brahms den Kanon trotzdem zu einem anderen Zeitpunktauf die freien Systeme des Blattes notiert haben.22 Vgl. (Anm. 7). S. 546.23 Das Manuskript (Autograph c) ist mit Ort und Datum versehen: „H[am]b[ur]g: Mai 61.“ Daß es sichhierbei um die Erstfassung in der Version für gemischte Stimmen handelt und nicht, wie McCorklemeint (vgl. [Anm. 7.] S. 547) , um jene in der g-moll-Version für Frauenstimmen, zeigt die Fermate ü-ber dem 2. Takt des auf e’ beginnenden Notats (vgl. unser Blatt!). Wäre dieses „für Alt II gedacht“ (mitEinsatz auf e’), wie McCorkle vermutet (ebd. S 547), müßte die Fermate über dem vorletzten Takt desKanons stehen.24 McCorkle (Anm. 7) S. 548.25 Vgl. ebd. S. 547.26 Kurt Hofmann: Marginalien zum Wirken des jungen Johannes Brahms. In: Österreichische Musikzeitschrift38 (1983) 4-5. S. 244, Anm. 11; vgl. auch ebd. S. 238.27 Vgl. McCorkle (Anm. 7). S. 681.


- 6 -Eine dritte Möglichkeit soll im folgenden erörtert werden. Sie bringt die Entstehung von Töne,lindernder Klang mit den Kontrapunktstudien in Verbindung, die die Freunde Brahms und JosephJoachim zur gegenseitigen Kontrolle austauschten - von Februar bis Juli 1856 regelmäßig- und in ihrem Briefwechsel diskutierten. <strong>28</strong> Am 24. April 1856 schickt Joachim einenzweistimmigen „Zirkel-Kanon“ mit der Bitte um Begutachtung an Brahms. 29 Er ist als Canonper tonos angelegt, der nach jedem Durchlauf, in großen Sekunden ansteigend, von einemneuen Ton aus beginnen soll. Brahms kritisiert in seinem Antwortbrief vom 27. April, daß eineentsprechende Modulation am Ende fehle und die neue Tonart zu abrupt eintrete: „Wie der‚Kreiskanon’, der im letzten Brief stand, zu seinem Namen kommt, sehe ich nicht ein. Er gehtvernünftig in A dur zu Ende und kann dann natürlich auch in F dur [richtig: H-dur] gespieltwerden. Nur der Schlußsatz erlaubt den Eintritt [in die neue Tonart], das ist zu wenig. Ich habedasselbe Thema Dir wieder hingeschrieben als Kreiskanon; ich finde so ist es erst einer,nicht wahr?“ 30 Brahms arbeitet die ersten vier Takte um und schreibt eine neue Melodie, dievon A-dur über E-dur, der Tonart des zweiten Stimmeneinsatzes, nach H-dur moduliert, sodaß nach fünfmaliger Wiederholung des Kanons der gesamte Quintenzirkel durchschrittenist. 31Gleichzeitig schickt er, offenbar angeregt von Joachims Beispiel und dem damit verbundenenkompositorischen Problem, einen eigenen Kreiskanon mit, auf den die Freunde mehrfach zurückkommen:„Über den vierstimmigen Kreiskanon möchte ich Dich insbesondere um DeineMeinung fragen. Langsam und gefühlvoll will ich’s gespielt.“ 32 Vor allem die im Briefwechselenthaltenen Äußerungen zum Charakter des Stückes legen nahe, dieses mit <strong>WoO</strong> <strong>28</strong> zu i-dentifizieren. 33 Am 4. Mai 1856 bedankt sich Joachim „für die Lektion über den Zirkel-<strong>28</strong> Die hohen Erwartungen, die Robert Schumann 1853 in seinem berühmten Brahms-Artikel „NeueBahnen“ zum Ausdruck brachte, setzten den jungen Komponisten unter Druck und veranlassten ihn,seine handwerklichen Fähigkeiten zu überprüfen und vermeintliche Schwächen abzubauen. Vor allemMitte der 50er Jahre widmete er sich dem Studium älterer Kompositionsformen (Satzpaar Präludiumund Fuge, Tanzsatztypen des frühen 18. Jahrhunderts, kontrapunktische Messe, Kanon), um das Repertoiremusikalischer Mittel für seine kompositorische Praxis zu erweitern.29 Vgl. Joseph Joachim an Johannes Brahms: Brief vom 24. April 1856 aus Hannover. In: JohannesBrahms. Briefwechsel. Bd. V. Hrsg. von Andreas Moser. Nachdruck der Ausgabe von 1905. Tutzing1974. Nr. 98. S. 132 f.30 Johannes Brahms an Joseph Joachim: Brief vom 27. April 1856 aus Düsseldorf. In: Ebd. Nr. 100, S.136 f.31 Die Brahmssche Korrektur hat sich im Joachim-Nachlaß der Staats- und Universitätsbibliothek Carlvon Ossietzky, Hamburg, erhalten (Signatur: 1974.6).32 Brahms (Anm. 30) S. 137.33 Vielleicht hat Brahms den Text gar nicht mitgeteilt, da es im Kontext der Notenkorrespondenz mitJoachim in erster Linie um die Darstellung und Lösung satztechnischer Probleme ging. Die Vier- bzw.Vielstimmigkeit deutet aber auf einen Vokalkanon, da es sich bei den Kanonübungen im Rahmen derKontrapunktstudien (vor allem bei Joachim) in der Regel nur um zweistimmige Exempel handelt. Ausnahmenbilden daher folgende kanonische Vokalsätze, die Brahms in einem Brief vom 24. März 1856


- 7 -Kanon“ und führt zu Brahms’ Beitrag aus: „[...] der Deinige ist ganz prächtig, er klingt gefühlvollund hat etwas ganz Originelles in melodischer Führung während die Harmonie reichund weich zugleich ist im Ganzen.“ 34 Wenn die Zuordnung unseres Kanons tatsächlich richtigist, so wäre er aus einem Wettbewerbsgedanken heraus entstanden: Brahms erteilt Joachim einemustergültige Lektion in Sachen Zirkelkanon! Töne, lindernder Klang stellt allein aufgrundder Vierstimmigkeit höhere kompositorische Ansprüche und ist deutlich komplexer gearbeitetals das zweistimmige, konstruiert wirkende Exempel Joachims: Alle Tonarten des Quintenzirkelswerden in einem Durchlauf berührt - gut möglich, dass diese Eigenschaft den Freundveranlasste, das „Originelle in melodischer Führung“ zu rühmen.Schon Friedrich Wilhelm Marpurg beschreibt im zweiten Band seiner Abhandlung von derFuge (1754), die Brahms und Joachim begleitend zu den Kontrapunktübungen studierten, 35jene „besondere Art eines [vierstimmigen] Zirkelcanons durch die Töne“ 36 als außergewöhnlichund grenzt sie gegen eine andere, schlichtere ab, die erst nach mehrmaliger Wiederholungder Melodie den Zirkel vervollständigt: „Der Zirkel besteht nicht, wie in den vorigen Exempeln,aus kurzen Sätzen, sondern aus einer langen nach der Ordnung der steigenden Quinten[bei unserem Kanon: fallende Quarten] die Töne durchlauffenden Melodie. Von dieser Art besinneich mich nicht, ein Muster jemahls gesehen zu haben.“ 37 So verwundert es nicht, dassBrahms gerade Marpurgs seltenes (nach Johann Philipp Kirnberger zitiertes) Beipiel 38 für seinenKanon als direktes Vorbild heranzog: Anfangston, Einsatzabstand der Stimmen, Längeund Dreiteilung der (jeweils durch Pausen unterbrochenen) Melodie entsprechen sich. Gleichzeitiggab er dem schematischen Charakter seiner Vorlage eine individuelle Prägung: Er wandeltesie dem Knebelschen Text entsprechend ab und betonte dessen (antithetische) Zweiteilung.39kurz erwähnt: das vierstimmige Benedictus <strong>WoO</strong> 18 sowie ein fünfstimmiger Augmentationskanon, der1860 in die Motette „Schaffe in mir, Gott, ein rein Herz“ op. 29/2 einging (vgl. Anm. 2 dieser Arbeit undDavid Brodbeck: The Brahms-Joachim counterpoint exchange; or, Robert, Clara and „the best harmonybetween Jos. and Joh.“ In: Brahms studies. Vol. 1. Ed. by David Brodbeck. Lincoln [u. a.] 1994. S.35).34 Joseph Joachim an Johannes Brahms: Brief vom 4. Mai aus Hannover. In: Brahms (Anm. 30) Nr.102, S. 140.35 Vgl. z. B. Johannes Brahms an Joseph Joachim: Brief vom 26. Februar 1856 aus Düsseldorf. In:Brahms (Anm. 30) Nr. 90. S. 124: „Soll ich Dir den Marpurg schicken? Ich besitze ihn.“36 Vgl. Friedrich Wilhelm Marpurg: Abhandlung von der Fuge. Nach den Grundsätzen und Exempelnder besten deutschen und ausländischen Meister entworfen. Zweyter Theil. Nachdruck der Ausgabevon 1754. Hildesheim [u. a.] 1970. S. 61.37 Marpurg (Anm. 36) S. 61.38 Vgl. ebd. Tab. XXXIII. Fig. 1.39 Während der Kanon bei Marpurg regelmäßig in 3 mal 4 Takte gegliedert ist, mit denen jeweils 4Stimmeneinsätze korrespondieren, wählt Brahms eine Strukturierung der Melodie mit folgender Textverteilung:„Töne, lindernder Klang, du kannst nicht nehmen die Schmerzen“: 5 Takte, volltaktige


- 8 -Neben Joseph Joachim wußten noch andere Brahms-Freunde die Kunstfertigkeit des KanonsTöne, lindernder Klang zu schätzen: Max Kalbeck, Hermann Levi und Julius Stockhausenfertigten Abschriften an 40 , Clara Schumann versuchte sich noch 1881 an der Auflösung seinesRätsels 41 und Gustav Jenner erwähnte ihn lobend in Kalbecks Brahms-Biografie: „Ein schönesBeispiel, ohne Gegenbewegung, in dem vier Stimmen, Sopran, Alt, Tenor und Baß, dieselbeMelodie mit genauen Intervallen von verschiedenen Tönen aus nachahmen, hat Brahmsuns hinterlassen in dem Kanon: „Töne, liebender [sic!] Klang“, mit besonders seiner Rückkehr.“42 Und nicht zuletzt Johannes Brahms selbst, der an zum Druck bestimmte Werkehöchste Ansprüche stellte, wird ihn für wertvoll erachtet haben, als er 1872 die von Jennergelobte Zweitfassung für gemischte Stimmen als Faksimile in Ernst Wilhelm Fritzschs MusikalischemWochenblatt veröffentlichen ließ. 43Phrase; „aber die Töne vielleicht“: 3 Takte, auftaktige Phrase; „lindern die leidende Brust“: 3 Takte,auftaktige Phrase; 1 Pausentakt. Auch der chromatische Schritt (ais’-a’) in T. 3, der die ihn umrahmendenTöne zu einer chromatisch absteigenden, lamentoartigen Linie verbindet und im Zusammenklangder Stimmen als große bzw. kleine Terz fungiert, scheint einem Beispiel Marpurgs entlehnt zusein (vgl. [Anm. 36] Tab XXXII. Fig. I. T. 3 und 4), das ebenfalls den durch ihn bedingten, charakteristischenWechsel von gleichnamigem Dur und Moll aufweist.40 Vgl. McCorkle (Anm. 7) S. 546. 548. 7<strong>28</strong>.41 Vgl. Manuskripte, Briefe, Dokumente von Scarlatti bis Strawinsky. Katalog der Musik-SammlungLouis Koch. Beschrieben und erläutert von Georg Kinsky. Stuttgart 1953. S. 291. Anm. 3.42 Kalbeck (Anm. 9) S. <strong>28</strong>2.43 Vgl. Anm. 18 dieser Arbeit. Die Erstfassung, in der Besetzung für Frauenstimmen, wurde zuerst1938 von Henry S. Drinker mit hinzugefügter Klavierbegleitung (zusammen mit dem Kanon „Grausamerweiset sich Amor“ <strong>WoO</strong> 24) in der University of Pennsylvania Choral Series (Nr. 25) veröffentlicht.

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