Der groß e Umbau - Roland Berger
Der groß e Umbau - Roland Berger
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INSPIRATION: Gibt es den Genius Loci? ab Seite 12<br />
Jahrgang 2 Ausgabe 3<br />
November 2005<br />
Jahrgang 2 Ausgabe 3<br />
Oktober 2005 Das Executive-Magazin von <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> Strategy Cons<br />
<strong>Der</strong> <strong>Der</strong> <strong>groß</strong>e <strong>groß</strong>e<br />
Strukturieren Strukturieren Sie Sie<br />
um, um, bevor bevor die die<br />
Krise Krise ausbricht! ausbricht!<br />
WTO-Verteidiger<br />
Peter Sutherland<br />
1<br />
MBA-Skeptiker<br />
Henry Mintzberg<br />
Strukturieren Sie<br />
um, bevor die<br />
Krise Strukturieren ausbricht! Sie<br />
um, bevor die<br />
Krise ausbricht!<br />
2<br />
3<br />
Change-Lehrmeister<br />
Stuart C. Gilson<br />
<strong>Umbau</strong><br />
[k Dossier ab Seite 23 ]<br />
1 2 3<br />
<strong>Der</strong> <strong>groß</strong>e <strong>groß</strong> e<strong>Umbau</strong><br />
1<br />
2<br />
3<br />
WTO-Verteidiger<br />
Peter Sutherland<br />
MBA-Skeptiker<br />
Henry Mintzberg<br />
Change-Lehrmeister<br />
Stuart C. Gilson<br />
[k Dossier ab Seite 23 ]<br />
1<br />
2<br />
Das Executive-Magazin von <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> Strategy Consultants<br />
3
BÜRO SAO PAULO, ROLAND BERGER STRATEGY CONSULTANTS S/C LTDA.<br />
Av. Presidente Juscelino Kubitschek 510, 04543-906 São Paulo (Itaim Bibi), Brasilien, Telefon: +55 11 3046-7111<br />
Fax +55 11 3046-7222, E-Mail: office_sao-paulo@rolandberger.com
think: act das executive-magazin von roland berger strategy consultants jahrgang 2 november 2005 first views f<br />
Unsere Studien zeigen Erschreckendes: Zwei<br />
Drittel der Manager in kriselnden Unternehmen verdrängen<br />
alle Symptome des Niedergangs, bis es fast zu<br />
spät ist, anstatt diese Chance für eine strategische und<br />
nachhaltige Neuausrichtung zu nutzen. Dass es auch<br />
anders geht, zeigen wir Ihnen im Dossier „Restrukturierung“<br />
dieser Ausgabe. Unsere Beiträge demonstrieren,<br />
wie komplex, aber auch wie lohnend die strategische<br />
Restrukturierung ist.<br />
Unsere Restrukturierungsexperten haben für dieses<br />
Dossier gemeinsam mit der Financial Times Deutschland<br />
Erfolgsbeispiele recherchiert, Fallstudien erarbeitet<br />
und mit Praktikern, Investoren, Professoren und anderen<br />
Experten gesprochen. Diese Kooperation zwischen<br />
klassischem Journalismus und einem Unternehmensmagazin<br />
ist ein Novum.<br />
Welche Herausforderungen auch immer zu bewältigen<br />
sind, über den Erfolg entscheidet letztlich die Fähigkeit<br />
zu führen. Eine gute Schule für Charakter und Menschenführung<br />
war und ist der Sport. Wir haben deshalb<br />
Jesper Bank, Skipper der ersten deutschen America’s Cup<br />
Yacht, gebeten, uns einen Einblick in seine Führungsphilosophie<br />
zu geben. Das Ergebnis lesen Sie exklusiv in<br />
dieser Ausgabe.<br />
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen Ihr<br />
Dr. Burkhard Schwenker<br />
CEO <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> Strategy Consultants<br />
3
p inhalt<br />
4<br />
Sicherheit ist das <strong>groß</strong>e Thema dieses Jahrzehnts – und das Bedürfnis<br />
nach Sicherheit eine Chance für Unternehmen. Einblicke in einen unübersichtlichen<br />
Markt. Seite 6<br />
Old Europe kann von den EU-Beitrittsländern einiges lernen, argumentiert<br />
der polnische Wirtschaftsexperte Jacek Socha. Sein Land sieht er<br />
trotz hoher Arbeitslosigkeit auf dem richtigen Weg. Seite 8<br />
Die Gesundheitssysteme stehen vor riesigen Herausforderungen.<br />
Wie gewährleistet und finanziert man ein hohes Versorgungsniveau? Experte<br />
Thomas Aretz erläutert globale Best-Practice-Beispiele. Seite 44<br />
In Garagen oder Schuppen entstehen häufig bahnbrechende<br />
Innovationen. Warum sind wir an einigen Orten besonders kreativ? Und<br />
können wir die Inspiration durch unser Umfeld managen? Seite 12
food for thought<br />
6 Marktchancen<br />
In Zeiten globaler Bedrohungen ist<br />
Sicherheit ein gefragtes Gut. Einblicke<br />
in einen komplexen Markt.<br />
8 Best of European Business<br />
Polen greift an: „Wir sind ehrgeizig<br />
und hungrig“, sagt der Ökonom und<br />
Marktliberale Jacek Socha.<br />
12 Inspirationsmanagement<br />
Warum Sie auf der Suche nach<br />
einer guten Idee am besten in den<br />
Schuppen gehen sollten<br />
20 Messbares Glück<br />
Die Hirnforschung zeigt, was uns<br />
glücklich macht. Davon profitiert<br />
das Marketing.<br />
Dossier<br />
Restrukturierung: Warum Sie mit dem<br />
<strong>Umbau</strong> Ihrer Firma nicht zu lange warten<br />
sollten. Ab Seite 23<br />
dossier<br />
in Kooperation mit der Financial Times Deutschland<br />
24 „Wir waren zu nett zu uns“<br />
Konsequent aus der Krise – wie<br />
erfolgreiche Restrukturierer den<br />
Wandel vorleben<br />
27 Chance verpasst<br />
Neue Studie: Zwei von drei Unternehmen<br />
bauen zu spät um.<br />
30 Hart werden lernen?<br />
Was macht den Sanierer aus? Von<br />
Harvard-Professor Stuart C. Gilson.<br />
32 Reportage: VBH<br />
In letzter Sekunde –<br />
Restrukturierung beim Bau<br />
36 Hemmschuh Routinen<br />
Gewohnheit führt in den Ruin –<br />
wie man Routine durchbricht.<br />
38 Stakeholder forcieren den Wandel<br />
Investoren verlangen kontinuierliche<br />
Reformen – eine Chance für<br />
das Management.<br />
industry-report<br />
42 Stahl<br />
Eisenhart nach oben – Chinas Weg<br />
zum Stahlexporteur<br />
44 Gesundheit<br />
Die USA haben das teuerste<br />
Gesundheitssystem der Welt – aber<br />
ist es auch das beste?<br />
business-culture<br />
regulars<br />
3 First Views<br />
46 Zukunftsmärkte im Check<br />
62 Service | Impressum<br />
inhalt f<br />
48 Segelschule<br />
Topsegler fällen in Sekunden strategische<br />
Entscheidungen. Manager<br />
können viel von ihnen lernen.<br />
52 Quo vadis, MBA?<br />
<strong>Der</strong> MBA ist am Ende, sagt<br />
Managementguru Mintzberg. Sein<br />
Kollege Seán Meehan widerspricht.<br />
56 Reportage: Fokus: Hope<br />
Ein Unternehmen aus Detroit zeigt:<br />
Sozial ist, was junge Menschen<br />
wettbewerbsfähig macht.<br />
58 Ten years after<br />
Globalisierung am Ende? Nein, sagt<br />
WTO-Gründungschef Peter<br />
Sutherland. Die <strong>groß</strong>e Zeit des<br />
Freihandels kommt erst noch.<br />
5
p food for thought sicherheit<br />
6<br />
Weltmarkt für Sicherheitstechnik (Eingangskontrollen,<br />
Videoüberwachung et cetera) im Jahr 2004:<br />
100 Mrd. €<br />
Das Geschäft mit der Sicherheit<br />
Globale Risiken und Verunsicherung sind Gift für die Konjunktur. Doch das Bedürfnis nach Sicherheit<br />
schafft auch eigene Märkte. Die sind von Land zu Land unterschiedlich. So haben neun von zehn<br />
US-Einfamilienhäusern eigene Rauchmelder, in Deutschland hingegen nur neun Prozent.<br />
Nordamerika: Kriminalität ging zurück<br />
In den vergangenen Jahrzehnten ist die Kriminalität in Nordamerika deutlich zurückgegangen.<br />
Das zeigt die globale Kriminalitätsstatistik der Vereinten Nationen. In Europa<br />
hingegen war in den achtziger Jahren ein leichter Anstieg zu verzeichnen.<br />
10 000<br />
9000<br />
8000<br />
7000<br />
6000<br />
5000<br />
4000<br />
3000<br />
2000<br />
1000<br />
0<br />
Registrierte Verbrechen pro 100 000 Einwohner, Quelle: United Nations Office on Drugs and Crime<br />
Neuer Trend: physische Sicherheitskontrollen,<br />
mit IT-Services kombiniert<br />
So können etwa bei Grenzkontrollen erhobene Daten<br />
gespeichert und weltweit abgeglichen werden. Zahlen<br />
zum Weltmarkt für solche kombinierten Systeme:<br />
2005<br />
1,2<br />
Mrd. $<br />
1980<br />
Quelle: Forrester<br />
Nordamerika<br />
alle Länder der Welt<br />
1982<br />
2006<br />
2,7<br />
Mrd. $<br />
Europäische Union<br />
1984<br />
Lateinamerika und Karibik<br />
1986<br />
1988<br />
1990<br />
2007<br />
6<br />
Mrd. $<br />
1992<br />
1994<br />
1996<br />
1998<br />
2008<br />
11,3<br />
Mrd. $<br />
2000<br />
Alarmanlagen: US-Villen am besten geschützt<br />
))<br />
)))))))<br />
Quelle: Forrester<br />
Nirgendwo ist der Ausstattungsgrad von Privathaushalten mit Alarmanlagen<br />
höher als in den USA. In Deutschland ist gerade mal einer von 200 Haushalten<br />
elektronisch gesichert, in Frankreich immerhin knapp einer von 20.<br />
0,5 %<br />
Deutschland<br />
4,5 %<br />
Frankreich<br />
))))))))))))))))))<br />
))))))))))<br />
Quelle: Bundesverband der Hersteller- und Errichterfirmen von Sicherheitssystemen (BHE)<br />
ssss<br />
9%<br />
USA Großbritannien Schweden Deutschland<br />
Die größten Sicherheitsunternehmen der Welt<br />
Quelle: Unternehmensangaben, eigene Recherchen<br />
6,8 %<br />
Großbritannien<br />
Rauchmelder: Deutschland ganz hinten<br />
Quelle: BHE<br />
90 %<br />
74 % 70 %<br />
1. Securitas (Schweden) 6,4 Mrd. € Umsatz<br />
2. G4S (Großbritannien) 4,5 Mrd. €<br />
3. Brinks (USA) 3,8 Mrd. €<br />
4. Prosegur (Spanien) 1,4 Mrd. €<br />
15,5 %<br />
USA<br />
Auch in Sachen Feuerprävention sind US-Amerikaner kaufbereiter als Europäer. Neun von<br />
zehn US-Haushalten verfügen über einen eigenen Rauchmelder. Auch in Großbritannien<br />
und Schweden sind die Warnsysteme sehr gefragt.
IRLAND<br />
306 Unternehmen<br />
Land mit<br />
Anzahl der<br />
Sicherheitsunternehmen<br />
Mitarbeiter<br />
Umsatz in<br />
Mio. €<br />
DEUTSCHLAND<br />
3200 Unternehmen<br />
FRANKREICH<br />
1980 Unternehmen<br />
BELGIEN<br />
140 Unternehmen<br />
GROSSBRITANNIEN<br />
2000 Unternehmen<br />
SCHWEIZ<br />
340 Unternehmen<br />
154 Mio. € Umsatz<br />
11 000 Mitarbeiter<br />
ITALIEN<br />
1350 Unternehmen<br />
18 000 Mitarbeiter<br />
PORTUGAL<br />
81 Unternehmen<br />
26 000 Mitarbeiter<br />
580 Mio. € Umsatz<br />
125 000 Mitarbeiter<br />
410 Mio. € Umsatz<br />
10 000 Mitarbeiter<br />
FINNLAND<br />
550 Unternehmen<br />
Wach- und<br />
Sicherheitsgewerbe<br />
Jobmaschine in der Türkei und Polen<br />
In Spanien machen weniger Firmen mehr als<br />
doppelt so viel Umsatz wie in Italien; Frankreich<br />
liegt klar vor Großbritannien.<br />
570 Mio. € Umsatz<br />
171 000 Mitarbeiter<br />
510 Mio. € Umsatz<br />
6300 Mitarbeiter<br />
SPANIEN<br />
990 Unternehmen<br />
die türkei beschäftigt die meisten wachleute food for thought f<br />
121 370 Mitarbeiter<br />
25 380 Mitarbeiter<br />
1 Mrd. € Umsatz<br />
85 000<br />
Mitarbeiter<br />
POLEN<br />
3500 Unternehmen<br />
3,552<br />
Mrd. € Umsatz<br />
2<br />
Mrd. € Umsatz<br />
4<br />
Mrd. € Umsatz<br />
2,367 Mrd. € Umsatz<br />
150 000 Mitarbeiter<br />
TÜRKEI<br />
450 Unternehmen<br />
175 000 Mitarbeiter<br />
909<br />
Mio. € Umsatz<br />
110 Mio. € Umsatz<br />
302<br />
Mio. € Umsatz<br />
68 700<br />
Mitarbeiter<br />
UNGARN<br />
3514 Unternehmen<br />
Quelle: EU-Kommission 2005
p food for thought interview<br />
„Die Polen sind sehr ehrgeizig und hungrig. Unsere Produktivität wächst stetig.“<br />
Jacek Socha
europa muss zum magischen wort wettbewerb zurückfinden, fordert jacek socha food for thought f<br />
Lasst die Hedge-Fonds kommen!<br />
Wenige Menschen kennen die wirtschaftliche Lage in Osteuropa so gut wie der renommierte Ökonom<br />
Jacek Socha. Bis September war der überzeugte Marktliberale polnischer Schatzkanzler. Ein Gespräch<br />
über die Stärken des Ostens, die Ängste des Westens und Arbeitslosigkeit als Wettbewerbsvorteil.<br />
Herr Socha, im vergangenen Jahr hat Polen<br />
128 Euro Direktinvestitionen pro Kopf angezogen,<br />
Estland dagegen 550. Ist die polnische<br />
Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig?<br />
Sie sollten diese Zahl nicht überbewerten.<br />
Unser Humankapital ist <strong>groß</strong>, und wir haben<br />
mehr Universitätsabsolventen als die meisten<br />
anderen europäischen Länder. Die Polen sind<br />
ehrgeizig und hungrig. Wir wissen, dass die<br />
EU-Mitgliedschaft für uns eine <strong>groß</strong>e Chance<br />
bedeutet.<br />
Warum ziehen dann aber andere Länder<br />
mehr Kapital aus dem Ausland an, insbesondere<br />
durch Dienstleistungsunternehmen?<br />
Dies war im vergangenen Jahr der Fall. Wenn<br />
Sie das Ganze aber auf längere Sicht betrachten,<br />
sind wir deutlich näher an der Spitze.<br />
Künftig wird die Infrastruktur darüber entscheiden,<br />
welches osteuropäische Land das<br />
meiste Kapital anzieht. Ich glaube, dass wir<br />
durch unser neues Investitionsprogramm zu<br />
einem bevorzugten Investitionsziel werden.<br />
Verstehen die Menschen in Osteuropa<br />
die Idee des Wettbewerbs zwischen ihren<br />
Ländern?<br />
Wir lernen noch. Am härtesten ist es zu akzeptieren,<br />
dass man manchmal eben der Verlierer<br />
ist. Vor einigen Tagen hat MAN angekündigt,<br />
Busse in Polen zu fertigen. Toyota dagegen<br />
haben wir an die Tschechische Republik verloren,<br />
Hyundai an die Slowakei. Das ist normal.<br />
Die Frage ist nur, wie schnell die politischen<br />
Entscheidungsträger dazulernen und begreifen,<br />
was zu tun ist, um das Land attraktiver für<br />
Investoren zu machen.<br />
Polen ist nicht gerade ein Musterland. Die<br />
Arbeitslosenquote liegt weit über dem EU-<br />
Durchschnitt ...<br />
Richtig, aber eine hohe Arbeitslosenquote kann<br />
man auch als Wettbewerbsvorteil sehen: Wir<br />
haben gut ausgebildete Leute, die bereit sind,<br />
für vergleichsweise wenig Geld zu arbeiten,<br />
Zusatzausbildungen zu machen und Jobs anzunehmen,<br />
die Hochschulabsolventen in anderen<br />
Ländern vielleicht niemals akzeptieren würden.<br />
Damit allein wird sich Polen im globalen<br />
Wettbewerb aber nicht behaupten.<br />
Die Produktivität unserer Wirtschaft wächst<br />
stetig. Heutzutage gilt der polnische Klempner<br />
beispielsweise in Frankreich als Symbol für die<br />
Aggressivität unserer Wirtschaft. Was die Qualifikationen<br />
angeht, gibt es zwischen Ost- und<br />
Westeuropa immer geringere Unterschiede.<br />
Und durch die Unterstützung, die wir von der<br />
EU erhalten – in den Jahren 2007 bis 2013 insgesamt<br />
60 Milliarden Euro netto –, wird unsere<br />
Wettbewerbsfähigkeit zusätzlich steigen.<br />
<strong>Der</strong> EU macht das polnische Staatsdefizit<br />
Sorge. Eine Kürzung der Sozialausgaben<br />
aber würde zu innerer Unruhe führen.<br />
Gleichzeitig würde dies aber neue Arbeitsplätze<br />
schaffen. Wir Polen sehen die Chancen von<br />
Veränderungen. Das motiviert uns, auch notwendige<br />
Einschnitte hinzunehmen.<br />
Aber wie lange? Laut Weltbank wird es<br />
41 Jahre dauern, bis Polen in Sachen Wohlstand<br />
den EU-Durchschnitt erreicht ...<br />
Auf diese Zahlen würde ich nicht wetten, es<br />
könnte auch wesentlich schneller gehen. Was<br />
zählt, ist ohnehin das Wissen, dass wir irgendwann<br />
aufschließen.<br />
Polnische Unternehmen haben heute auch<br />
für normale Arbeiter ein Lohnmodell mit<br />
niedrigem Grundlohn und hohen Prämien.<br />
Ein Modell für den Westen?<br />
Ja. Ergebnisorientierte Löhne sind immer besser,<br />
auch für westliche Firmen. Sie machen<br />
Angestellte aktiver. Europa muss zu dem magischen<br />
Wort Wettbewerb zurückfinden.<br />
JACEK SOCHA gilt als einer der profiliertesten<br />
Marktliberalen Mitteleuropas. Er<br />
war Schatzkanzler Polens und leitete zehn<br />
Jahre lang die polnische Wertpapier- und<br />
Börsenkommission. Studiert hat der Volkswirt<br />
an der Universität Warschau und am<br />
Capital Market Institute, das der US-Wertpapier-<br />
und Börsenkommission angegliedert<br />
ist. Er ist Mitglied der polnischen Jury<br />
des <strong>Roland</strong>-<strong>Berger</strong>-Wettbewerbs „Best of<br />
European Business“. Socha ist verheiratet<br />
und hat zwei Töchter.<br />
9
p food for thought wird die größte polnische bank privatisiert?<br />
10<br />
OSTEUROPA bildet auch einen Schwerpunkt<br />
des Wettbewerbs „Best of European<br />
Business“, den <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> Strategy<br />
Consultants gemeinsam mit der Financial<br />
Times in diesem Jahr erstmals veranstaltet<br />
(siehe think: act 2/2005). Jurys in sieben<br />
Ländern suchen unter anderem nach<br />
europäischen Unternehmen, deren Engagement<br />
in den EU-Beitrittsländern und in<br />
Russland strategisch richtungweisend ist.<br />
Neben dem Investitionsvolumen und dem<br />
osteuropäischen Anteil am Gesamtumsatz<br />
spielt für die Juroren auch die Frage eine<br />
Rolle, ob das Ostengagement das Kerngeschäft<br />
im Heimatland absichern hilft. Eine<br />
Grundannahme des gesamten Wettbewerbs<br />
ist nämlich, dass die transnationale<br />
Vernetzung der europäischen Standorte<br />
die wirtschaftliche Stärke des Kontinents<br />
insgesamt erhöht.<br />
Die Wettbewerbsfähigkeit Europas steht<br />
auch im Zentrum des gesamteuropäischen<br />
Abschlussevents am 1. Dezember in Brüssel.<br />
Dort prämiert „Best of European Business“<br />
vorbildliche Unternehmen aus ganz<br />
Europa in drei Kategorien: „Best of Industry“,<br />
„Best of Corporate Governance“ sowie<br />
als Krönung „Europe’s Best Performer“.<br />
think: act widmet dem Wettbewerb „Best of<br />
European Business“ eine Sonderausgabe.<br />
Die Durchschnittslöhne sind in Polen jedoch<br />
bereits heute wesentlich höher als in Rumänien<br />
oder Bulgarien. Fürchten Sie, dass<br />
westliche Firmen künftig nicht mehr in Polen<br />
investieren, sondern sich weiter Richtung<br />
Südosten orientieren?<br />
Nein. Die rumänischen Löhne mögen vielleicht<br />
niedriger sein, aber Produktivität und Effizienz<br />
sind bei uns deutlich höher, und zudem sind<br />
Investitionen in Polen sicherer. Trotzdem werden<br />
wir eine größere und stärkere Konkurrenz<br />
bekommen. Wir müssen einfach besser sein. In<br />
meinen Augen ist es eine gute Sache, wenn<br />
eines Tages auch polnische Unternehmer beispielsweise<br />
in der Ukraine investieren. Die<br />
meisten länderübergreifenden Investitionen<br />
sind für beide Seiten von Vorteil.<br />
Selbst wenn es sich bei den Investoren um<br />
Hedge-Fonds handelt?<br />
Auf jeden Fall. Es wäre falsch, ausländisches<br />
Kapital nicht ins eigene Land zu lassen. Während<br />
der Asienkrise wollten einige Leute in<br />
Polen den Investitionsfluss beschränken. Kürzlich<br />
hat mich in Berlin eine Gruppe deutscher<br />
Banker gefragt, was ich angesichts der Aktivitäten<br />
von Hedge-Fonds zu tun gedenke.<br />
Meine Antwort: nichts. Lasst sie doch investieren,<br />
wenn sie wollen. Wenn man erst einmal<br />
anfängt, eine Barriere aufzubauen, dann folgt<br />
schnell die nächste, und bald gibt es überhaupt<br />
keine Investitionen mehr. Fonds erhöhen die<br />
Effizienz der Unternehmen und der Wirtschaft<br />
als Ganzes.<br />
Politisch eine fortschrittliche Haltung. Wie<br />
aber steht es mit Unternehmen? Können<br />
westliche Firmen von Osteuropa lernen?<br />
Es gibt keine typisch polnische Art, Geschäfte<br />
zu machen. Wir haben immer noch viel zu lernen:<br />
Wir müssen die Strukturen der Unternehmensführung<br />
verbessern und die Mobilität der<br />
Leute erhöhen. Es gelingt unseren Firmen noch<br />
nicht immer, Produkte anzubieten, die der Konsument<br />
wirklich will. Wir sind die Prüflinge –<br />
und wir müssen die Prüfung bestehen.<br />
Eine ganze Ökonomie auf der Schulbank?<br />
Nein, da würde man unseren Entwicklungsstand<br />
unterschätzen. In vielen Unternehmen<br />
haben polnische Topmanager die Posten der<br />
CEOs übernommen, die von ausländischen<br />
Investoren geschickt worden waren. Hier hat<br />
sich viel verändert. Wir passen uns schnell an.<br />
Sie sprachen eingangs im übertragenen<br />
Sinn vom Hunger der Polen. Fehlt dem<br />
Westen dieser Hunger?<br />
Zweifelsohne. Jedes Land braucht ein klares<br />
Ziel, etwas, das es anstrebt. Wir Polen werden<br />
von dem Willen getrieben, mit Westeuropa<br />
Zwischen alter Schwerindustrie<br />
und neuem Markenkult: die Danziger Werft<br />
(rechts) und die Innenstadt Warschaus<br />
gleichzuziehen. Wir wollen größere Autos<br />
besitzen, in ferne Länder reisen und Kunst<br />
kaufen. Aber wovon wird der Westen geleitet?<br />
Zumindest einigen europäischen Ländern<br />
fehlt ein klares Modell, das sie anstreben. Dies<br />
schmälert ihre Wettbewerbsfähigkeit.<br />
Klare Kritik an Old Europe. Welchem Gesellschaftsmodell<br />
folgt Osteuropa – dem westeuropäischen<br />
oder dem amerikanischen?<br />
Ganz klar dem europäischen. Diese Lebensweise<br />
passt zu uns. Die Polen wollen ein gewisses<br />
Maß an Sicherheit, daher wäre das amerikanische<br />
Modell für uns zu individualistisch.<br />
Es gibt allerdings einen Unterschied: Wir sind<br />
weniger wohlhabend. Deswegen können wir<br />
den armen Bevölkerungsteilen nicht viel Absicherung<br />
bieten. Diese wissen, dass ihr Leben in<br />
ihren eigenen Händen liegt, und das lässt sie<br />
aktiv werden. Ich persönlich fände es gut, wenn<br />
dieses hohe Maß an Aktivität so lange wie<br />
möglich beibehalten würde.<br />
In vielen westeuropäischen Ländern wird<br />
über Kapitalismus und Globalisierung<br />
diskutiert. In Polen auch?<br />
Bei uns gibt es diese Diskussion nicht. Wir erinnern<br />
uns noch gut an die sozialistische Realität.<br />
Kapitalismus wird bei uns als Motor der<br />
Veränderung gesehen – und die Polen wollen<br />
diese Veränderung immer noch. Globalisierung<br />
und Kapitalismus werden als etwas Natürliches<br />
betrachtet.<br />
Beinhaltet das auch private Aktienanlagen –<br />
die viel zitierte Aktionärskultur?<br />
Die privaten Anlagen nehmen zu. 25 Prozent<br />
aller Investitionen an der Warschauer Börse<br />
werden von Privatleuten getätigt.<br />
Wie viele Polen besitzen Aktien?<br />
Wir haben 800 000 Depots privater Anleger,<br />
aber die Zahl steigt schnell.<br />
Viel ist das nicht. Vielleicht wäre eine<br />
raschere Privatisierung öffentlicher Unter-
nehmen hilfreich. <strong>Der</strong> Privatisierungsprozess<br />
scheint sich jedoch zu verlangsamen.<br />
Es kam tatsächlich kürzlich zu einer Verlangsamung,<br />
da die Kapitalmärkte schwach waren.<br />
Seit Mitte 2004 hat sich der Privatisierungsprozess<br />
jedoch wieder beschleunigt. Nun müssen<br />
wir festlegen, welche Unternehmen in staatlicher<br />
Hand bleiben sollen.<br />
Welche denn?<br />
Ich werde keine Namen nennen. Aber Unternehmen,<br />
die für die staatliche Sicherheit wichtig<br />
sind, sollten nicht am Aktienmarkt gehandelt<br />
werden.<br />
Die staatliche Eisenbahngesellschaft?<br />
Sie kann privatisiert werden, aber das Schienennetz<br />
muss staatlich bleiben, ebenso die<br />
Stromversorgung.<br />
Wie steht es mit Polens größter Bank, der<br />
kürzlich halb privatisierten PKO BP?<br />
Das hat mein Nachfolger zu entscheiden. Ich<br />
habe die Bank jedenfalls für den Kapitalmarkt<br />
attraktiv gemacht.<br />
Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft<br />
Europas werfen. Die EU befindet sich in der<br />
Krise. Können die neuen Mitgliedstaaten ihr<br />
zu neuem Schwung verhelfen?<br />
Das können wir ganz bestimmt. <strong>Der</strong>zeit scheinen<br />
die neuen Mitglieder im Bewusstsein der<br />
alten europäischen Staaten kaum vorzukommen.<br />
Vielleicht war das in der Vergangenheit<br />
gut so, sonst wären wir womöglich gar nicht<br />
aufgenommen worden. Die europäischen<br />
Referenden waren teilweise auch Voten gegen<br />
die Osterweiterung. Wir bringen eine neue<br />
Dynamik in die Europäische Union, das könnte<br />
einige Leute ängstigen. Das ist eine Lektion,<br />
die Europa lernen muss.<br />
Müssen nicht auch die neuen EU-Staaten<br />
noch dazulernen? Hätten sie sich in Old<br />
Europe vielleicht besser verständlich<br />
machen müssen?<br />
Wir haben es versucht. Aber manchmal ist es<br />
schwierig, sich Gehör zu verschaffen.<br />
LÄSST DIE DYNAMIK NACH?<br />
Zwar wuchsen die Volkswirtschaften Osteuropas<br />
in den letzten Jahren schneller<br />
als jene Westeuropas; zwar ist die Region<br />
für westliche Konzerne ein attraktives<br />
Investitionsziel: Toyota investiert gerade in<br />
Tschechien, MAN und Philips in Polen. Dennoch<br />
macht sich zunehmend Unsicherheit<br />
breit. Die Weltbank bemängelt das niedrige<br />
Reformtempo der neuen EU-Staaten. Auch<br />
das Wachstum hat sich verlangsamt. Das<br />
Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche<br />
beziffert den Rückgang der Wachstumsrate<br />
auf 2,5 Prozentpunkte. 3,3 Prozent<br />
betrug die Wachstumsrate zuletzt.<br />
11
Inspiration und Rückzug<br />
orte der entscheidung food for thought f<br />
Gibt es ihn wirklich, den „Genius Loci“, der uns beflügelt? Fest steht: Orte können uns inspirieren.<br />
Dafür aber braucht es die richtige Vorbereitung. Lesen Sie, wie Sie den Einfluss des Ortes für Ihre<br />
Entscheidungen nutzen – und wo Wirtschaftslenker in der Vergangenheit Eingebungen bekamen.<br />
:<br />
Als Hans Snook im April 1994 mit dem<br />
Mobilfunkanbieter Orange auf dem britischen<br />
Markt startete, galten Handys als<br />
teurer Unsinn für Technikverrückte. Wenige<br />
Monate später hatte Snook der Marke ein<br />
Gesicht gegeben – und sein Produkt begehrenswert<br />
für jedermann gemacht. Seine Botschaft:<br />
Wer sich für ein Orange-Handy entscheidet,<br />
ist optimistisch und lebensfroh. <strong>Der</strong><br />
dazu passende Werbeslogan: „The future’s<br />
bright, the future’s orange.“<br />
Das Image seiner Mobilfunkmarke hatte<br />
Snook selbst ersonnen. In der Londoner<br />
Orange-Zentrale schuf er sich die richtige<br />
Umgebung zum Denken: Regelmäßig ließ er<br />
Schreibtische und Regale von einem Feng-<br />
Shui-Experten ausrichten. Snook wusste,<br />
dass er nur im optimalen Ambiente kreativ<br />
sein würde. Das Ergebnis war für den<br />
Orange-Mutterkonzern höchst lukrativ:<br />
1999 verdiente Hutchison Whampoa mit<br />
dem Verkauf des britischen Mobilfunkunternehmens<br />
15 Milliarden Euro.<br />
Aller weltweiten Vernetzung zum Trotz:<br />
Wirtschaftliche Neuerungen sind oftmals<br />
eng mit einem konkreten Ort verbunden;<br />
geniale Ideen und bahnbrechende Innovationen<br />
entstehen nicht von allein, sondern<br />
in einer bestimmten Umgebung. Hasso<br />
Plattner, Gründer des Softwareunternehmens<br />
SAP, zieht sich mehrmals im Jahr auf<br />
eines seiner Regatta-Segelboote zurück –<br />
zum Nachdenken. Steve Jobs und Steve<br />
Wozniak haben den ersten Mac in einer<br />
Garage zusammengelötet. Die Geschichte ist<br />
voller Beispiele von Menschen, die wegweisende<br />
Entscheidungen an scheinbar absurden<br />
Orten getroffen haben – oder zumindest<br />
in einer Umgebung, die auf den ersten Blick<br />
nicht dazu angetan ist, zur Veränderung der<br />
Welt zu dienen. Schon in der Antike glaubte<br />
man, bestimmte Plätze besäßen einen<br />
„Genius Loci“, einen Geist des Ortes. Die Frage<br />
lautet aber: Wovon hängt es ab, ob ein<br />
konkreter Ort einen Entscheider beflügelt?<br />
Kann man die Eingebung managen?<br />
Man kann, sagt der Psychiater und Buchautor<br />
John Kao, der in San Francisco die „Idea-<br />
Factory“ leitet, eine Agentur für Kreativitätsworkshops.<br />
Sein Credo: Innovationen entstehen<br />
nicht allein aus einem plötzlichen Geistesblitz,<br />
sondern sind das Ergebnis einer<br />
langen Vorbereitung. Innovation kann gesteuert<br />
werden. „Um kreativ zu sein, benötigt<br />
man eine Menge Input“, sagt auch Terry<br />
Connolly, Verhaltenswissenschaftler an der<br />
Universität von Arizona in Tucson. Diesen<br />
Input holt man sich am besten von anderen.<br />
Wo sich viele Menschen unterschiedlicher<br />
Herkunft antreiben, entstehe am ehesten ein<br />
Nährboden für innovative Ideen, so Connolly.<br />
Beispiele sind das Berlin der zwanziger Jahre<br />
oder heute das Silicon Valley.<br />
DIE NÄHE ZUR NATUR, DIE AURA DES<br />
SCHUPPENS UND EIN UNGEWOHNTER<br />
KULTURELLER INPUT BEFLÜGELN<br />
Für die entscheidende Idee selbst, die den<br />
Input zu einem Ergebnis führt, benötigt<br />
man dann aber den Ortswechsel, hin zu<br />
einem „Raum, der Platz für Ideen lässt“, sagt<br />
Connolly. „Für eine sinnvolle Innovation ist<br />
eine andere Umgebung notwendig, abseits<br />
der üblichen, ausgetretenen Pfade“, ergänzt<br />
Kao. Störeinflüsse müssen jetzt vermieden,<br />
die Informationsflut heruntergefahren wer-<br />
den. Dann kann es tatsächlich geschehen,<br />
dass die örtliche Umgebung und die Eindrücke,<br />
die sie beim Einzelnen hinterlässt, den<br />
einen, grandiosen Gedanken provozieren.<br />
Grundsätzlich reagiert jeder Mensch auf ein<br />
anderes Umfeld besonders empfindlich.<br />
Dennoch lassen sich bestimmte Regelmäßigkeiten<br />
beobachten. Viele Innovatoren<br />
suchen die Nähe zur Natur, „ziehen sich auf<br />
Berggipfel zurück“, wie Connolly es ausdrückt.<br />
Ein weiterer Hort der Innovation:<br />
einfache Garagen oder Schuppen, Orte ohne<br />
Eleganz, dafür mit der Macher-Atmosphäre<br />
des Handwerks. Sie ziehen nicht nur Unternehmer<br />
an. <strong>Der</strong> Saxofonist Charlie Parker<br />
übte ein Jahr lang im Holzschuppen hinter<br />
seinem Haus – und erfand dabei den<br />
Beebop, eine neue Richtung des Jazz. Ideenforscher<br />
John Kao nennt diese Art des Rückzuges<br />
denn auch „Going to the woodshed“:<br />
Man sucht einen Ort auf, an dem die zuvor<br />
gesammelten Informationen in die hinteren<br />
Kammern des Bewusstseins zurückgedrängt<br />
werden, abrufbar, aber nicht das gesamte<br />
Denken beeinflussend. „Man braucht die<br />
Ruhe, um alles auszublenden“, so Kao.<br />
Ruhe und Nähe zur Natur sind Elemente,<br />
die das Denken schärfen. Ebenso wichtig<br />
kann aber die Konfrontation mit einer anderen<br />
Kultur sein: Neue Sinneseindrücke helfen,<br />
abseits der eigenen Muster zu denken.<br />
So begann eine der Erfolgsstorys der Neunziger<br />
mit einer Reise und einem Geruch. <strong>Der</strong><br />
US-Amerikaner Howard Schultz bereiste<br />
1983 Europa und geriet in Mailand in eine<br />
Kaffeebar. Als er die gemahlenen Bohnen<br />
roch, dachte er: So etwas brauchen die USA<br />
auch. Starbucks war geboren.<br />
13
p food for thought orte der entscheidung<br />
[Sony-Walkman]<br />
1979<br />
LAUNE DES MUSIKFANS<br />
sitzt Sony-Mitgründer Masaru Ibuka in einem<br />
Langstreckenflugzeug und vermisst Bach<br />
und Beethoven. Also verlangt er von seinen<br />
Ingenieuren ein tragbares Kassettengerät.<br />
Sie bauen, Sony lässt den „Walkman“ in Serie<br />
gehen. 335 Millionen Geräte verkauft das<br />
Unternehmen – und prägt damit das Lebensgefühl<br />
einer ganzen Dekade.<br />
Quelle: Sony Corporation<br />
Gesamtumsatz Sony<br />
8<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
80<br />
in Billionen Yen<br />
85 90 95 00 05
1938<br />
DER BEGINN DES SILICON VALLEY<br />
machen David Packard und William Hewlett<br />
ihren Elektroingenieur-Abschluss an der<br />
Universität Stanford. Sie gehen nicht wie<br />
damals üblich zu einem Konzern an die Ostküste.<br />
Stattdessen starten die beiden in<br />
dieser Garage in Palo Alto ein eigenes Unternehmen<br />
– und begründen so den Wirtschaftsmythos<br />
Silicon Valley.<br />
orte der entscheidung food for thought f<br />
[Hewlett-Packard]<br />
Die größten Unternehmen im Silicon Valley<br />
Unternehmen Umsatz<br />
in Mio. $ Wachstum in %<br />
Hewlett-Packard 81 845 10<br />
Intel 34 209 13<br />
Cisco Systems 23 579 19<br />
Sanmina-SCI 12 487 16<br />
Solectron 11 500 11<br />
Quelle: www.siliconvalley.com
p food for thought orte der entscheidung<br />
[US-Leitzinsen]<br />
2005<br />
HERR DER WÄHRUNG<br />
Quelle: Federal Reserve System<br />
badet US-Notenbankchef Alan Greenspan,<br />
wie schon seit jeher, jeden Morgen zwischen<br />
halb sechs und halb sieben eine Stunde<br />
lang. In der Badewanne trifft der Herr über<br />
die Leitzinsen wichtige Entscheidungen,<br />
weil – wie er sagt – sein Intelligenzquotient<br />
dann um 20 Prozent höher ist.<br />
US-Leitzinsen<br />
7<br />
6<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
Angaben in Prozent<br />
0<br />
1997 98 99 00 01 02 03 04 05
1974<br />
KULTUR DER ERFINDUNG<br />
ärgert sich der presbyterianische Chemieingenieur<br />
Arthur „Art“ Fry, dass ihm bei<br />
einer Probe seines Kirchenchores die<br />
Papierschnipsel, mit denen er seine Einsätze<br />
markiert, dauernd aus dem Notenheft<br />
fallen. Er ersinnt das „Post-it“. Bis<br />
heute sind die Klebezettel Sinnbild der<br />
Innovationskultur des Unternehmens 3M.<br />
orte der entscheidung food for thought f<br />
[3M Post-its]<br />
Geschäftsergebnis Umsatz/Ergebnis in Mio. $<br />
20 000<br />
15 000<br />
10 000<br />
5000<br />
0<br />
1994 95 96 97 98 99 01 02 03 04<br />
Quelle: 3M
p food for thought orte der entscheidung<br />
[McDonald’s]<br />
1954<br />
IM ZEICHEN DER „GOLDEN ARCHES“<br />
Quelle: McDonald’s Corporation<br />
übernimmt der Eismaschinenvertreter Ray<br />
Kroc das Franchising für das Restaurantkonzept<br />
der Brüder Richard und Maurice<br />
McDonald: Burger zum Schnellessen. Seine<br />
erste eigene Filiale eröffnet Kroc im kalifornischen<br />
San Bernardino – die Keimzelle<br />
eines Weltkonzerns, die goldenen Bögen<br />
schreiben Wirtschaftsgeschichte.<br />
McDonald’s-Restaurants weltweit<br />
35 000<br />
30 000<br />
25 000<br />
20 000<br />
15 000<br />
10 000<br />
5000<br />
0<br />
1950 60 70 80 90 00 10
1993<br />
EIN NEUES MARKTMODELL<br />
beißt ein Pinguin aus dem abgebildeten<br />
Gehege im Zoo von Canberra Linus Torvalds in<br />
den Finger. Mit dem Schmerz beginnt die<br />
globale Innovationsgeschichte von Linux: Drei<br />
Jahre später macht Torvalds das Tier zum<br />
Logo des heute erfolgreichsten Open-Source-<br />
Betriebssystems der Welt.<br />
Quelle:<br />
orte der entscheidung food for thought f<br />
[Open Source]<br />
Linux<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
Umsatz/Mrd. Dollar<br />
0<br />
2002 03 04 05 06 07 08 09<br />
IDC Prognose (2004)
Ökonomie des Glücks<br />
: Die Suche nach dem Glück ist nichts für<br />
Klaustrophobiker. <strong>Der</strong> Weg zum Wohlgefühl<br />
führt in eine Röhre, die kaum breiter ist<br />
der menschliche Körper. In der Enge riecht<br />
es steril, ein Brummen vibriert durch den<br />
Schädel, ein Magnetfeld, viele zehntausend<br />
mal stärker als das der Erde, baut sich auf.<br />
Markenlogos, Fotos von Sportwagen, hübsche<br />
und weniger hübsche Gesichter werden<br />
vor die Augen der Testperson projeziert.<br />
Das Hirn arbeitet und sendet Signale wie<br />
„Oh ja, gefällt mir“. <strong>Der</strong> 3-Tesla-Kernspintomograf,<br />
mit dem das Bonner Unternehmen<br />
Life & Brain in Konsumentenköpfe guckt,<br />
durchleuchtet millimetergenau Hirnareale<br />
auf der Suche nach kleinsten Glücksregungen.<br />
Sie werden farblich in 3-D dargestellt.<br />
Es entsteht die Biochemie des Glücks.<br />
Die Magnetresonanz- oder Kernspintomografie,<br />
wie sie auch heißt, ist ein Verfahren<br />
zur Durchleuchtung des menschlichen Körpers,<br />
das ohne Röntgenstrahlen auskommt.<br />
Es arbeitet mit starken Magnetfeldern, nach<br />
denen sich Wasserstoffatome in der Materie<br />
ausrichten (daher der Name Kernspin). Neuronale<br />
Aktivitäten im Gehirn lassen sich so<br />
exakt lokalisieren. Bei positiven Gefühlen<br />
reagiert die linke vordere Gehirnhälfte stärker,<br />
bei negativen die rechte. <strong>Der</strong> Unterschied<br />
in der Aktivität beider Hirnhälften<br />
wird zum Maß für das Glücksempfinden.<br />
Neuerdings elektrisiert diese Untersuchungsmethode<br />
auch die Wirtschaftswissenschaften.<br />
Interdisziplinäre Forschungsteams an<br />
den Universitäten Berkeley, Columbia, Harvard<br />
und Princeton haben als erste die<br />
neuen Chancen begriffen. „Neuro-Ökonomie“<br />
nennt sich der junge Forschungszweig,<br />
der alte Gewissheiten auf den Kopf stellen<br />
könnte. Das Ziel: Ökonomisches Handeln<br />
naturwissenschaftlich exakt zu erklären. Die<br />
Ahnung: Emotionen bestimmen unser wirtschaftliches<br />
Verhalten weitaus stärker als<br />
der Verstand. Die wichtigste Emotion: Glück.<br />
Das verlockend stringente Bild vom Homo<br />
oeconomicus, der Kaufentscheidungen nach<br />
streng rationalen Kriterien trifft, bekommt<br />
damit noch mehr Risse, als es ohnehin schon<br />
hat. Empirische Wirtschaftsforscher wie<br />
Colin Camerer vom California Institute of<br />
Technology in Pasadena monieren schon<br />
seit längerem, dass sich die traditionelle<br />
Ökonomie zu wenig um die Emotionen des<br />
Verbrauchers geschert hat.<br />
STARKE MARKEN SCHALTEN DEN<br />
VERSTAND AUS. DAS KANN DIE FORSCHUNG<br />
NUN PER HIRNSCAN BELEGEN.<br />
Die Neuro-Ökonomie widerlegt das Bild<br />
vom verstandgesteuerten Entscheider auf<br />
einer naturwissenschaftlich validen Datenbasis,<br />
was die klassische Marktforschung in<br />
dieser Konsequenz nicht leisten konnte.<br />
„Hirnscans sind objektiver als herkömmliche<br />
Befragungen von Testpersonen, weil<br />
nicht über die Absicht der Frage nachgedacht<br />
wird“, sagt Neuroökonom Christian<br />
Poppe von Life & Brain.<br />
Vor allem Marketingpraktiker horchen<br />
angesichts der neuen Mafo-Methoden auf:<br />
Denn starke Marken – so ein erstes Postulat<br />
der Neuro-Ökonomie – schalten offenbar<br />
den Verstand regelrecht aus. Tests zur Werbewirkungsforschung<br />
per Hirnscan haben<br />
ergeben, dass die für Kognition zuständigen<br />
Hirnregionen bei der Präsentation starker<br />
hirnforschung: glück ist messbar food for thought f<br />
Marktforscher schieben Verbraucher in den Kernspintomografen, um deren Gehirne zu<br />
untersuchen. <strong>Der</strong> Blick in den Kopf zeigt, was Konsumenten wirklich glücklich macht. Ein Gefühl<br />
wird vermessen – mit weit reichenden Folgen für Wirtschaft und Wissenschaft.<br />
Marken pausieren, während die emotionalen<br />
Regionen stimuliert werden. Das wohl<br />
bekannteste Beispiel ist der Pepsi-Test.<br />
Warum, fragte sich der texanische Ökonom<br />
Read Montague, schmeckt Blindtestern<br />
Pepsi besser, obwohl sie sonst auf Coke<br />
schwören? Also schob er seine Probanden in<br />
den Kernspintomografen. Bei Pepsi leuchtete<br />
das Belohnungszentrum wie erwartet<br />
stärker auf. Als der Forscher die Marke enthüllte,<br />
änderte sich blitzartig die Hirnaktivität<br />
zugunsten der Coke. Montagues Schlussfolgerung:<br />
„Offenbar werden mit dem Namen<br />
Coca-Cola positive Assoziationen und<br />
Selbstwertgefühle verbunden. Sie machen<br />
den Wert der Marke aus und nicht der<br />
Geschmack.“ Markenstärke als messbare<br />
Emotion – das hilft beim Verkauf. Operative<br />
Marketingpläne erhalten so eine ganz neue<br />
wissenschaftliche Datenbasis.<br />
DAIMLERCHRYSLER WILL DIE<br />
HIRNSCANS KÜNFTIG DIREKT IN<br />
PRODUKTDESIGNS EINFLIEßEN LASSEN.<br />
An diesem Unterbau arbeitet auch Clint Kilts.<br />
<strong>Der</strong> wissenschaftliche Direktor des Bright-<br />
House Institute for Thought Sciences in Atlanta<br />
untersucht neurowissenschaftlich die<br />
Wirkung von Produkten und Marken. Treffsicher<br />
kann er belegen, ob ein Ferrari oder<br />
Porsche stärkere Glücksgefühle durch den<br />
Körper einer Testperson fluten lässt. Kilts ist<br />
sich sicher, dass Hirnscans bald ganz selbstverständlich<br />
den Entscheidungsprozesses in<br />
Unternehmen begleiten werden.<br />
Einige <strong>groß</strong>e Konzerne wie Ford, General<br />
Motors oder der britische Lotterieanbieter<br />
Camelot setzen schon jetzt auf die Neuro- ,<br />
21
p food for thought hat der homo oeconomicus ausgedient?<br />
22<br />
JEREMY BENTHAM wurde 1784 im Londoner<br />
Stadtteil Spitalfields geboren. <strong>Der</strong> Sohn reicher Tories<br />
gründete die Philosophie des Utilitarismus. Zu Lebzeiten<br />
galt er als sozialer Reformer; im 20. Jahrhundert<br />
wurde die Ethik des studierten Juristen häufig kritisiert.<br />
Die Ökonomie des Glücks bedeutet nun auch eine<br />
Wiedergeburt des utilitaristischen Denkens.<br />
Ökonomie. Auch DaimlerChrysler ließ<br />
untersuchen, welche Regionen des männlichen<br />
Gehirns durch Fotos von rassigen<br />
Sportwagen angeregt werden und welche<br />
eher auf seriöse Viertürer reagieren.<br />
Weiteres Ergebnis der DaimlerChrysler-Forschung:<br />
<strong>Der</strong> Anblick von Autos aktiviert dieselbe<br />
Gehirngegend, die sonst auf menschliche<br />
Gesichter reagiert. Für Autobauer könnte<br />
es sich also empfehlen, ihre Frontpartien<br />
nach dem Vorbild hübscher Models zu stylen,<br />
quasi einen „Heidi-Klum-Kühler“ zu entwerfen.<br />
Anhand der Betrachtung von CAD-<br />
Entwürfen würden Regungen der linken<br />
Gehirnhälfte darüber entscheiden, ob die<br />
Dachform eher coupéähnlich geschwungen<br />
sein wird, der Scheinwerfer aggressiv geschnitten<br />
oder der Stern im Kühlgrill größer<br />
ausfallen soll. Dieses „Verfahren zur Optimierung<br />
und Erfassung von Produktattraktivität<br />
oder Produktakzeptanz“ will sich<br />
DaimlerChrysler jetzt patentieren lassen.<br />
Spätestens mit dieser Anwendung hat die<br />
Glücksforschung den Bereich des reinen<br />
Marketings hinter sich gelassen. Neben den<br />
Neuro-Signalen, die von Marken und Kühlerhauben<br />
ausgehen, widmen sich die DaimlerChrysler-Forscher<br />
auch der Hirnaktivität<br />
von Autobesitzern beim Fahren. Das Ziel<br />
dabei: sicherere Autos zu bauen. Erste Banken<br />
beschäftigen in ihren Researchabteilungen<br />
Experten, die sich mit der Neuropsychologie<br />
des Anlegerverhaltens beschäftigen.<br />
Die Neuro-Ökonomie findet nicht nur<br />
immer mehr praktische Anwendungen in<br />
der Wirtschaft, sie gibt auch den Sozialwissenschaften<br />
neue Impulse. So macht der britische<br />
Autor Richard Layard in seinem Buch<br />
„Happiness“ das Glück sogar zur zentralen<br />
Kategorie menschlichen Entscheidens und<br />
Verhaltens. <strong>Der</strong> Direktor des Center for Economic<br />
Performance an der London School of<br />
Economics fordert darin Politik und Wirtschaft<br />
auf, für eine „glückliche Gesellschaft“<br />
(so der deutsche Titel des Buches) zu sorgen.<br />
GLÜCK MUSS ZUR ZIELGRÖSSE IN<br />
POLITIK UND WIRTSCHAFT WERDEN,<br />
FORDERT DER ÖKONOM RICHARD LAYARD.<br />
Layards Forderung, den Faktor Glück zur bestimmenden<br />
Größe zu erheben, geht von<br />
einem utlitaristischen Weltbild aus, wie es<br />
von dem englischen Philosophen Jeremy<br />
Bentham (1748–1832) entwickelt wurde.<br />
Gemäß dieser reinen Nützlichkeitsphilosophie<br />
ist alles Handeln dann sinnvoll, wenn<br />
es für das größtmögliche Glück der größtmöglichen<br />
Zahl von Menschen sorgt.<br />
Genau davon aber könne in Wirtschaft und<br />
Politik heute nicht die Rede sein, meint Layard.<br />
Im Gegenteil: Zunehmend fühlten sich<br />
die Menschen in den Industriestaaten<br />
unwohl. Übersteigerter Individualismus,<br />
aggressive Konkurrenz, zweifelhafte<br />
Geschäftspraktiken und zunehmender Leis-<br />
tungsdruck führten zu einem umfassenden<br />
Vertrauens- und Zufriedenheitsverlust.<br />
Auf Unternehmensebene kritistert Layard<br />
folgerichtig Motivationsstrategien, die gezielt<br />
Rivalitäten unter Kollegen aufbauen, um die<br />
Mitarbeiter zu Höchstleistung anzustacheln.<br />
Auch die Politik ignoriere die vermeintlich<br />
weichen Faktoren wie Glück, Vertrauen und<br />
Fairness, mokiert der Brite.<br />
Seine radikale Forderung: „Wir brauchen<br />
eine Revolution in den Regierungen. Glück<br />
sollte das Hauptziel der Politik werden und<br />
der Fortschritt der nationalen Lebenszufriedenheit<br />
so genau gemessen werden wie das<br />
Wachstum des Bruttosozialprodukts.“ Zwar<br />
wenden Layards Kritiker ein, dass Entscheidungen<br />
über zentrale gesellschaftliche Fragen<br />
– wie die Stammzellenforschung oder<br />
die Sterbehilfe – wohl kaum gelöst werden<br />
können, indem ausgesuchte Testpersonen in<br />
den Kernspintomografen geschoben werden.<br />
Doch der britische Ökonom verweist<br />
durchaus auf die Hirnforschung als Hilfsmittel.<br />
„Glück“, sagt Layard, „ist eine objektive<br />
Dimension unserer Erfahrung.“
Dossier #04<br />
RESTRUKTURIERUNG<br />
ERFOLGREICHE UNTERNEHMEN ERFINDEN SICH IMMER WIEDER<br />
NEU. SIE WISSEN: RESTRUKTURIERUNG IST KEIN REPARATUR-<br />
BETRIEB, SONDERN BEGINNT VOR DER KRISE. ALLES GEHÖRT<br />
AUF DEN PRÜFSTAND – UND ALLE MÜSSEN BETEILIGT WERDEN.<br />
Für jedes komplexe Problem<br />
gibt es eine Lösung, die einfach<br />
ist, adrett - und<br />
falsch.<br />
Henry L. Mencken<br />
1<br />
2<br />
3<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
8<br />
9<br />
0
DOSSIER #04 Restrukturierung<br />
24<br />
nKARSTADTQUELLE<br />
<strong>Der</strong> Kapitalmarkt honoriert, dass sich<br />
KarstadtQuelle heute auf seine Kernaktivitäten<br />
konzentriert. Seit Mitte Mai,<br />
als die Restrukturierung voll einsetzte,<br />
ist der Aktienkurs kräftig gestiegen. Die<br />
Zahl der Mitarbeiter ist seit Beginn des<br />
<strong>Umbau</strong>s um 25 000 gesunken.<br />
309 Geschäfte<br />
hat die Karstadt-<br />
Quelle AG innerhalb<br />
weniger Wochen verkauft<br />
und damit<br />
Phase eins ihrer Restrukturierungabgeschlossen.<br />
»Wir haben es<br />
geschafft, dieses<br />
Geschäft nach Jahren<br />
wieder planbar<br />
zu machen.«<br />
THOMAS MIDDELHOFF, VORSTANDSVORSITZENDER<br />
ENTWICKLUNG DER AKTIE<br />
Schlusskurs<br />
12<br />
11<br />
10<br />
9<br />
8<br />
7<br />
6<br />
Mai Juni Juli August Sept.<br />
2005<br />
Um fast ein Drittel legte der Kurs des<br />
Unternehmens seit Mitte Mai zu.<br />
Quelle: Onvista-Website<br />
Fünfkampf im Kochtopf<br />
RESTRUKTURIERUNGEN SIND DAS MEGATHEMA IN DER GLOBALISIERTEN WIRTSCHAFT. DABEI GEHT ES UM<br />
MEHR ALS DAS SANIEREN MARODER GESCHÄFTSBEREICHE: NUR WENN UNTERNEHMEN AUF WACHSTUM<br />
GETRIMMT WERDEN, HABEN SIE ÜBERLEBENSCHANCEN.<br />
s<br />
SCHON AN NORMALEN TAGEN ist die Arbeit von<br />
Martin George nicht eben einfach. Anfang August aber<br />
hatte er den härtesten Managementjob im britischen<br />
Empire. George, erst kurz zuvor in den Vorstand der<br />
Fluggesellschaft British Airways aufgestiegen, musste<br />
am Flughafen London-Heathrow vor laufenden<br />
Kameras Sätze sagen wie: „Ich habe viele herzzerreißende<br />
Geschichten gehört von Menschen, deren<br />
Reisepläne wir heute ruiniert haben.“ Weil ein Zulieferer<br />
von British Airways, der Caterer Gate Gourmet,<br />
350 Mitarbeiter entlässt, um die Firma aus einer Dauerkrise<br />
zu befreien, legen 1000 BA-Mitarbeiter ebenfalls<br />
ihre Arbeit nieder. Mehr als 500 Flüge müssen<br />
storniert werden. Die ganze Welt sieht zu, wie Europas<br />
verkehrsreichster Flughafen im Chaos versinkt. Mitten<br />
in der Ferienreisezeit.<br />
RESTRUKTURIERUNGEN KÖNNEN wehtun, sehr<br />
weh sogar, und die Schmerzen können weit strahlen.<br />
Das ist eine der Lehren aus dem Heathrow-Debakel.<br />
Vor allem aber macht der Fall Gate Gourmet deutlich:<br />
Die Zeiten, in denen Unternehmen in aller Stille umgebaut<br />
werden konnten, sind endgültig vorbei. Inzwischen<br />
können bereits vergleichsweise kleine Projekte<br />
mittlere Erdbeben auslösen. Nach mehreren Jahren<br />
Hyperwettbewerb und Globalisierung liegen bei vielen<br />
Belegschaften und ihren Gewerkschaftsvertretern<br />
die Nerven blank. Und die Medien greifen jeden Unruheherd<br />
dankbar auf.<br />
ALLER VERUNSICHERUNG zum Trotz: Restrukturierung<br />
ist das Megathema der globalisierten Wirtschaft.<br />
IBM verkauft die gesamte PC-Sparte an Lenovo.<br />
<strong>Der</strong> Kaufhausriese KarstadtQuelle trennt sich von<br />
mehr als 300 Geschäften, über einer Milliarde Euro<br />
Jahresumsatz und insgesamt 25 000 Mitarbeitern.<br />
Kodak schließt Werke in den USA und China. Siemens<br />
gibt die gesamte Handysparte nach Taiwan ab. In wel-<br />
che Branche man auch schaut: Überall werden Unternehmen<br />
umgebaut, ganz oder in Teilen verkauft,<br />
gekauft, filetiert und wieder neu zusammengesetzt.<br />
Dem Ausmaß der Restrukturierungen sind dabei keine<br />
Grenzen gesetzt. Denkverbote gibt es nicht mehr,<br />
dafür ist der Wettbewerb heute zu unerbittlich. Zu seiner<br />
Zerlegung des Chemiekonzerns Hoechst gefragt,<br />
sagte der frühere Hoechst-Vorstand und spätere ABB-<br />
Sanierer Jürgen Dormann lediglich: „Ich hätte radikaler<br />
sein müssen.“<br />
UNTERNEHMEN AUSEINANDER zu nehmen, neu<br />
zu sortieren, dabei eingefahrene Geschäftsprozesse<br />
kreativ zu zerstören und neu zu erfinden ist heute so<br />
einfach wie nie zuvor – jedenfalls im Prinzip. Viele<br />
Unternehmensteile werden als eigenständige Profit-<br />
Center geführt. Neue Informationstechnologien erlauben<br />
es, komplette Fertigungsprozesse vollkommen<br />
neu aufzuteilen. Selbst global aufgestellte Konzerne<br />
lassen sich vergleichsweise schnell und unkompliziert<br />
reorganisieren. Das eröffnet ungeahnte Spielräume<br />
für kreative Lösungen. So wäre es vor einigen<br />
Jahren noch undenkbar gewesen, dass ausgerechnet<br />
Computerveteran IBM sich vom PC-Bau verabschiedet.<br />
Den Weltrekord in Sachen Outsourcing hält<br />
momentan der Autobauer Porsche. <strong>Der</strong> nach einer<br />
existenzbedrohenden Krise heute profitabelste Autokonzern<br />
der Welt hat bei seinem Modell Cayenne<br />
einen Eigenanteil an der Fertigung von nur noch rund<br />
zehn Prozent.<br />
RESTRUKTURIERUNG IST zu einer eigenen Spezialdisziplin<br />
geworden, die erhebliches Know-how an<br />
der Schnittstelle zwischen Strategieentwicklung, operativem<br />
Geschäft und Corporate Finance erfordert.<br />
Darüber hinaus sind <strong>groß</strong>e Projekte ohne einen Kranz<br />
von Experten aus Disziplinen wie Unternehmensberatung<br />
und Strategieentwicklung, Wirtschaftsprüfung,
Steuer- und Gesellschaftsrecht sowie Finanzierung<br />
selbst von erfahrenen Vorständen kaum zu stemmen.<br />
<strong>Der</strong> Chef wird daher zum Moderator.<br />
ZUNEHMEND AN BEDEUTUNG gewinnt das Timing.<br />
Die meisten Firmen verordnen sich Restrukturierungsprogramme<br />
erst, wenn die Alarmlampen längst<br />
leuchten – und finden sich dann in einem Wettlauf<br />
gegen die Zeit wieder. Ziemlich spät begonnen hat<br />
beispielsweise der <strong>Umbau</strong> des Fotokonzerns Kodak.<br />
Inzwischen versucht das US-Unternehmen aber seit<br />
einigen Jahren, den Niedergang des klassischen<br />
Geschäfts mit Filmen und Fotopapieren durch<br />
Wachstum in der digitalen Fotografie und Bildverarbeitung<br />
zu kompensieren. Daniel A. Carp, bis Mai CEO<br />
des Fotokonzerns: „Viele meinten, wir sollten unser<br />
traditionelles Geschäft einfach so lange melken, wie<br />
es nur geht. Ein sicheres Todesurteil.“ Stimmt. Kein<br />
Investor schaut heute noch lange zu, wenn die<br />
Umsätze schrumpfen. Neue Wachstumsideen müssen<br />
her. Das erfordert den <strong>Umbau</strong> der inneren Strukturen.<br />
Damit unterscheidet sich modernes Restrukturierungsmanagement<br />
erheblich von reinem Sanierungsbusiness.<br />
IHRE SCHLEIFSPUREN hinterlässt die neue Restrukturierungsökonomie<br />
auch auf den Arbeitsmärkten.<br />
Bei fast 870 im ersten Halbjahr 2005 bekannt gewordenen<br />
europäischen Restrukturierungsvorhaben<br />
sollen rund 360 000 Jobs gestrichen werden. Nur<br />
183 000 Arbeitsplätze sollen nach Auskunft der erfassten<br />
Unternehmen neu entstehen. Personalabbau,<br />
zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle <strong>Roland</strong>-<strong>Berger</strong>-Studie,<br />
ist in 90 Prozent aller Fälle der wichtigste<br />
Baustein bei Restrukturierungsprojekten (siehe auch<br />
Seite 27). Allerdings erfasst keine Statistik, wie viele<br />
Arbeitsplätze erhalten bleiben, die sonst verschwunden<br />
wären. Denn klar ist: Eine Restrukturierung ist<br />
kein Hobby des Managements, sondern folgt den Erfordernissen<br />
des globalen Wettbewerbs.<br />
WICHTIGSTER TREIBER hinter der Optimierungswelle<br />
ist der Kapitalmarkt, in den vergangenen Jahren<br />
selbst Schauplatz spektakulärer Restrukturierungen.<br />
Geriet früher eines der <strong>groß</strong>en Unternehmen in eine<br />
Schieflage, suchte es gemeinsam mit seinen Haus-<br />
banken nach einer Lösung. Oberstes Ziel: Möglichst<br />
wenig Porzellan zerschlagen, wenig Aufhebens machen<br />
und <strong>groß</strong>e Teile der gewährten Kredite in Sicherheit<br />
bringen. Tempi passati; Banken und Versicherungen<br />
können es sich heute nicht mehr leisten, fernab<br />
vom Kerngeschäft Unternehmensbeteiligungen zu<br />
verwalten. Muss eine Bank zudem faule Unternehmenskredite<br />
durch die Bilanzen schleppen, riskiert<br />
sie neben hohem Wertberichtigungsbedarf schlechte<br />
Ratings und höhere Refinanzierungssätze. Lange hält<br />
das kein Institut durch.<br />
HEUTE MISCHEN NEUE Player den europäischen<br />
Markt für Unternehmenskäufe und -verkäufe auf.<br />
„Distressed Debt-Investoren“ kaufen Banken Not leidende<br />
Unternehmenskredite ab, um über die Sanierung,<br />
Restrukturierung und die anschließende Krediteinlösung<br />
Geld zu verdienen. Japan und Deutschland<br />
gelten unter diesen als derzeit heißeste Märkte. Private-Equity-Gesellschaften<br />
wie die britischstämmigen<br />
Montague oder Permira kaufen, ausgestattet mit<br />
Milliardenfonds, Unternehmensteile oder ganze Unternehmen.<br />
Die Restrukturierung ist auch hier Teil<br />
des Geschäftsmodells. Hedge-Fonds und klassische<br />
Investmentfonds üben zunehmend Druck auf Unternehmen<br />
aus, wenn diese keine Leistung bringen. Die<br />
Treibenden sind dabei selbst Getriebene – auch ihre<br />
Geldgeber verlangen Rendite. „Have Lunch or be<br />
Lunch“ – der markige Spruch aus dem Investmentbanking<br />
war nie zutreffender als heute.<br />
WAS ALSO TUN, wenn man selbst ein Unternehmen<br />
lenkt? Naseweis, aber wahr: Am besten gerät<br />
man gar nicht erst in eine Krise. Die Früherkennung<br />
von Risiken ist in vielen Unternehmen verbessert worden,<br />
trotzdem ist es die Ausnahme, dass schon bei<br />
den ersten Krisenzeichen ein Restrukturierungsprogramm<br />
aufgelegt wird. <strong>Der</strong> frühere Siemens-Chef<br />
Heinrich von Pierer, der den Industrieriesen in den vergangenen<br />
Jahren auf Trab gebracht hat, erzählt gern,<br />
wie ihn ein Freund einmal darauf hingewiesen habe,<br />
dass im Siemens-Geschäftsbericht 13-mal der Begriff<br />
„Preiserosion“ aufgetaucht sei. Ob das eine Entschuldigung<br />
sein solle, fragte der Freund. <strong>Der</strong> Kommentar<br />
war für ihn ein Weckruf, so von Pierer heute: „Ich wusste,<br />
dass sich unser Unternehmen ändern musste.“<br />
Oft beginnt der <strong>Umbau</strong> zu spät DOSSIER #04<br />
»Wir waren in<br />
der ersten Runde<br />
zu nett zu uns<br />
selbst.«<br />
CARL-PETER FORSTER, Chef von General<br />
Motors Europe, zum <strong>Umbau</strong> der lange schwächelnden<br />
deutschen GM-Tochter Opel. Forster<br />
war vorher Opel-Chef.<br />
»Alle mussten begreifen,<br />
wie ernst<br />
die Lage war.«<br />
JÜRGEN DORMANN, Hoechst-Restrukturierer,<br />
zum <strong>Umbau</strong> des Pharmakonzerns. Das Unternehmen<br />
ging später im deutsch-französischen Konzern<br />
Aventis auf. Dormann konnte seine Hoechst-<br />
Erfahrungen danach beim <strong>Umbau</strong> von ABB nutzen.<br />
25
DOSSIER #04 Restrukturierung<br />
26<br />
nEASTMAN KODAK<br />
<strong>Der</strong> Aufstieg der Digitalfotografie setzte<br />
Eastman Kodak hart zu. Seit einigen<br />
Jahren hat der Konzern seine <strong>Umbau</strong>bemühungen<br />
intensiviert.<br />
1,7 Mrd. Dollar<br />
kostet die Restrukturierung<br />
bis Ende<br />
2006. Künftig setzt<br />
Kodak auf die digitale<br />
Bildverarbeitung.<br />
»Alle denken, wir<br />
müssten erst die<br />
digitale Technologie<br />
verstehen. Total<br />
falsch. Wir stecken<br />
bis zum Hals in<br />
Technologie.«<br />
ANTONIO PEREZ, CEO<br />
UMSATZENTWICKLUNG<br />
14 000<br />
12 000<br />
10 000<br />
8000<br />
6000<br />
4000<br />
2000<br />
0<br />
Digitale Produkte Traditionelle Produkte<br />
9564<br />
2963<br />
9156<br />
3736<br />
8191<br />
5303<br />
2002 2003 2004<br />
<strong>Der</strong> Gesamtumsatz ist in den vergangenen<br />
Jahren um drei beziehungsweise<br />
fünf Prozent auf zuletzt 13,5 Milliarden<br />
US-Dollar gewachsen. Dies liegt vor allem<br />
an digitalen Produkten. Hier beträgt das<br />
Umsatzwachstum 42 Prozent.<br />
Quelle: Eastman Kodak, Zahlen in Mio. Dollar<br />
DOCH WIE MÜSSEN SICH Unternehmen ändern?<br />
Wer die Restrukturierung angeht, sollte die Erfolgsfaktoren<br />
beachten, über die sich die Experten trotz<br />
aller Unterschiede im Detail einig sind.<br />
ERSTENS: Restrukturierung ist eine Führungsaufgabe.<br />
Natürlich ist der CEO auf eine schlagkräftige<br />
Crew angewiesen, aber Richtung, Ausmaß und Tempo<br />
müssen vom Chef vorgegeben werden. <strong>Der</strong> Chef muss<br />
Begeisterung ausstrahlen, Perspektiven vermitteln<br />
und voll hinter den Neuerungen stehen. Es verwundert<br />
daher kaum, dass in vielen Unternehmen der<br />
erste Sanierungsschritt darin besteht, den CEO auszutauschen.<br />
ZWEITENS: Wer ein Unternehmen umkrempelt,<br />
sollte dies gründlich tun. Strategie, Finanzierung, das<br />
operative Geschäft, Kosten – alles gehört auf den<br />
Prüfstand. Für alle Bereiche muss simultan ein tragfähiges<br />
Konzept erarbeitet werden. Carl-Peter Forster,<br />
Präsident von General Motors Europe und vorher Chef<br />
der deutschen GM-Tochter Opel, gibt freimütig zu,<br />
dass man bei dem viele Jahre lang schwächelnden<br />
Autobauer Opel zunächst nicht radikal genug war. „Wir<br />
waren in der ersten Runde zu nett zu uns selbst.“<br />
DRITTENS: Tempo, bitte. Je früher eine Restrukturierung<br />
beginnt, desto besser. Und spätestens,<br />
wenn die Liquidität zur Neige geht, zählt jeder Tag.<br />
Binnen vier bis zwölf Wochen sollte Klarheit über die<br />
Ursachen der Krise herrschen, das grobe Sanierungsund<br />
Restrukturierungskonzept stehen. Damit sie mitziehen,<br />
müssen Gläubiger wie Mitarbeiter erkennen,<br />
dass die Restrukturierung Erfolg versprechend ist.<br />
VIERTENS: In die Tiefe gehen. Mitarbeiter aller<br />
Organisationseinheiten und gegebenenfalls -ebenen<br />
sollten beteiligt werden. Je nach Aufgabenstellung<br />
bietet es sich an, wichtige Personen in interdisziplinäre<br />
Projektteams einzubinden. Unerlässlich: strenges<br />
Projektmanagement und objektives Projektcontrolling.<br />
Denn in jeder Veränderungsphase gibt es<br />
widerstreitende Interessen: Nicht jedem passt Richtung<br />
und Ausmaß des Wandelprozesses.<br />
Zentraler Erfolgsfaktor in westeuropäischen<br />
Unternehmen ist darüber hinaus die enge Zu-<br />
sammenarbeit mit dem Betriebsrat. Schnell und ohne<br />
<strong>groß</strong>e Verwerfungen sind Personalmaßnahmen nur<br />
mit den Mitbestimmungsgremien möglich.<br />
FÜNFTENS SCHLIESSLICH: Sales up! Ein Unternehmen,<br />
das nur noch in der Defensive ist, wird auf<br />
lange Sicht keine Zukunft haben. Trotz tiefer Einschnitte<br />
in die Gesamtorganisation und einer Fokussierung<br />
auf Kostensenkung sollten frühzeitig Vorstellungen<br />
entwickelt werden, woher künftiges Wachstum<br />
kommt und wie sich das Potenzial bergen lässt – und<br />
zwar mit möglichst einfachen, klaren, gut kommunizierbaren<br />
Strategien. Nortel-Networks-Chef Bill Owens,<br />
ehemals ranghoher Offizier der US-Streitkräfte, bringt<br />
sein Programm für die Restrukturierung des Unternehmens<br />
auf die denkbar kürzeste Formel: „Cash,<br />
Kosten und Erträge – das sind die Prioritäten.“ Jeder<br />
der drei Faktoren sei dabei gleich wichtig bei der Runderneuerung<br />
des Unternehmens.<br />
HINTER DEM HARMLOSEN WORT Restrukturierung<br />
verbirgt sich heute ein beträchtliches Maß an Komplexität:<br />
Verhandlungen mit Banken, Lieferanten,<br />
Aktionären. Unternehmens-, Markt- und Wettbewerbsanalysen.<br />
Klären von rechtlichen, börsenrechtlichen,<br />
bilanziellen, steuerlichen und bewertungstechnischen<br />
Details. Betriebsversammlungen, Investorenkonferenzen,<br />
Pressetermine. Und das alles unter<br />
Zeitdruck und den Blicken besorgter Investoren, aufgebrachter<br />
Belegschaften und einer immer kritischeren<br />
Öffentlichkeit. In ihren heißen Phasen sind Restrukturierungsprojekte<br />
moderner Fünfkampf unter<br />
den klimatischen Bedingungen eines Dampfkochtopfs.<br />
Erstaunlich daher, dass Restrukturierungsmanagement<br />
nur an wenigen Universitäten und<br />
Business-Schools als eigenständiges Fach gelehrt<br />
wird. Ein Defizit, das nach dem Urteil vieler Praktiker<br />
schnellstens behoben werden sollte, denn für Schönwetter-Kapitäne<br />
wird es in Zukunft schwierig, sich an<br />
der Spitze von Unternehmen zu halten.<br />
Erfolgreiches Turnaround-Management hingegen<br />
ist die beste Empfehlung für die weitere Karriere.<br />
Wer einen kriselnden Geschäftsbereich auf Kurs<br />
gebracht hat und dabei selbst glaubwürdig geblieben<br />
ist, bringt sich quasi automatisch für absolute Topjobs<br />
ins Gespräch. Fragen Sie nur Dieter Zetsche.
Wer zaudert, wird bestraft<br />
Jede zweite Firma restrukturiert nach zwölf Monaten Krise DOSSIER #04<br />
EINE EUROPAWEITE STUDIE VON ROLAND BERGER STRATEGY CONSULTANTS BELEGT: WER SCHNELL AUF KRISENANZEICHEN REAGIERT,<br />
BEWÄLTIGT DIE RESTRUKTURIERUNG BESSER. BISHER ABER LASSEN SICH UNTERNEHMEN OFT NOCH ZU VIEL ZEIT.<br />
16 MONATE SIND EINE lange Zeit. So lange<br />
brauchen europäische Unternehmen im Durchschnitt,<br />
um auf eine akute Krise zu reagieren<br />
und die nötige Restrukturierung einzuleiten.<br />
52 Prozent der kriselnden Firmen in Europa<br />
schaffen es, mit der Restrukturierung nach<br />
spätestens zwölf Monaten zu beginnen; in<br />
Deutschland gelingt das sogar 64 Prozent der<br />
Unternehmen. Zu diesen Ergebnissen kommt<br />
die Studie „Restrukturierung in Europa“, die<br />
<strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> Strategy Consultants jetzt vorgelegt<br />
hat. Zwischen 2003 und 2005 hatte die<br />
Managementberatung die Chefs von 2600 Unternehmen<br />
diverser Branchen in 13 europäischen<br />
Ländern befragt. In die Auswertung einbezogen<br />
wurden nur Unternehmen, die sich in<br />
den vergangenen drei Jahren mindestens einmal<br />
restrukturiert haben.<br />
WIE WICHTIG zügiges Handeln ist, zeigt<br />
ein weiteres Ergebnis der Untersuchung: Drei<br />
Viertel der Unternehmen, die höchstens ein<br />
Jahr Reaktionszeit benötigten, waren mit der<br />
anschließenden Restrukturierung zufrieden.<br />
„Wer schnell auf eine Krise reagiert, hat oft<br />
noch genügend Zeit, um wirklich kreative<br />
Lösungen durchzusetzen“, sagt Michael Blatz,<br />
Partner bei <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> in Berlin.<br />
GENERELL REAGIEREN westeuropäische<br />
Unternehmen deutlich schneller auf Krisen als<br />
osteuropäische, <strong>groß</strong>e Unternehmen schneller<br />
als kleine. Im Branchenvergleich sind der Einzelhandel<br />
(durchschnittliche Reaktionszeit:<br />
5,3 Monate) und die Konsumgüterindustrie<br />
(6,7 Monate) Spitze, während Energie- und Ver-<br />
sorgungsunternehmen mit 15,1 Monaten das<br />
Schlusslicht bilden. Auch Pharma-, Chemieund<br />
Mineralölwirtschaft zeigen sich eher träge.<br />
Unter den Firmen mit Frühwarnsystemen reagieren<br />
diejenigen am schnellsten, die mit der<br />
Balanced Scorecard arbeiten (durchschnittliche<br />
Reaktionszeit: 11,2 Monate).<br />
AUSSCHLAGGEBEND IST, in welcher Krisenphase<br />
Unternehmen das Ruder herumreißen.<br />
29 Prozent der europäischen Unternehmen<br />
(Deutschland: 32 Prozent) reagieren bereits<br />
bei strategischen Problemen, also in einer sehr<br />
frühen Phase. 54 Prozent (Deutschland: 51<br />
Prozent) schrecken dagegen erst bei einer<br />
Ergebniskrise auf, und immerhin 17 Prozent<br />
lassen es auf eine handfeste Liquiditätskrise<br />
ankommen. In Osteuropa warten sogar 26 Prozent<br />
der Unternehmen ab, bis sie zu einem<br />
akuten Notfall werden – und verschenken so<br />
ihren Handlungsspielraum. Offenbar fehlt es<br />
hier vielfach noch an Know-how in Sachen<br />
Krisenerkennung.<br />
ALS WICHTIGSTEN FAKTOR für eine erfolgreiche<br />
Restrukturierung nennen die Unternehmen<br />
europaweit das Commitment des<br />
Managements (61 Prozent der Befragten).<br />
Allerdings ist es mit der Umsetzung nicht sehr<br />
weit her: Lediglich 38 Prozent bewerten die<br />
Realisierung dieses Punktes als „sehr erfolgreich“.<br />
Ebenfalls von hoher Bedeutung sind die<br />
schnelle Implementierung und ein ganzheitliches<br />
Konzept. Signifikante Unterschiede zwischen<br />
West- und Osteuropa zeigen sich bei den<br />
bevorzugten Restrukturierungsmaßnahmen:<br />
Während im Westen Personalabbau und Reduzierung<br />
der Personalkosten ganz oben stehen,<br />
genießt im Osten die Umsatzsteigerung höchste<br />
Priorität.<br />
DIE FRAGE, wie Personal am besten<br />
abgebaut werden kann, beantworten verschiedene<br />
Länder unterschiedlich. In den meisten<br />
europäischen Ländern sehen die Unternehmen<br />
betriebsbedingte Kündigungen als wichtigstes<br />
Instrument an. In der deutschen Konsensgesellschaft<br />
dagegen landen Aufhebungsvertrag<br />
und Fluktuation mit Abstand auf<br />
den beiden ersten Plätzen; betriebsbedingte<br />
Kündigungen folgen nach der Altersteilzeit erst<br />
auf Rang vier.<br />
BEI UNTERNEHMEN, die für ihre Restrukturierung<br />
zusätzliche Mittel benötigen, ist fast<br />
über den gesamten Kontinent hinweg die konzerninterne<br />
Finanzierung die wichtigste Quelle<br />
für frisches Geld, gefolgt von Bankkrediten.<br />
Beide Instrumente spielen wiederum für deutsche<br />
Unternehmen keine nennenswerte Rolle:<br />
Hier nennen 80 Prozent der Firmen Desinvestitionen<br />
als besten Weg, den Finanzierungsbedarf<br />
zu decken.<br />
EUROPAWEIT EINHEITLICH gehen dagegen<br />
zwei Drittel der befragten Unternehmen davon<br />
aus, dass in den nächsten zwei Jahren weitere<br />
Maßnahmen anstehen; nur neun Prozent betrachten<br />
ihren Wandel als abgeschlossen.<br />
Fazit: Restrukturierung wandelt sich mehr und<br />
mehr vom Turnaround-Management zu einer<br />
kreativen Daueraufgabe.<br />
27
DOSSIER #04 Restrukturierung<br />
28<br />
ABB: Kulturwandel<br />
VIEL HÄTTE NICHT GEFEHLT, UND DER SCHWEDISCH-SCHWEIZERISCHE KONZERN WÄRE GESCHICHTE GEWESEN, ZU GRUNDE<br />
GEGANGEN AN ZU SCHNELLER EXPANSION UND INEFFIZIENZ. DOCH DER DAMALIGE CEO VERPASSTE DEM KONZERN EINE RADIKALKUR.<br />
GEFANGEN IN DER MATRIX – so lässt sich der Zustand des Konzerns<br />
beschreiben, als Ex-Hoechst-Vorstand Jürgen Dormann, bis dahin im<br />
Aufsichtsrat, im Sommer 2002 das Ruder übernimmt. Dormanns Vorgänger<br />
Percy Barnevik und Göran Lindahl hatten den Anlagenbauund<br />
Technologiekonzern auf Expansion getrimmt – und sich dabei<br />
verhoben. <strong>Der</strong> Umsatz schrumpfte, der Schuldenberg wuchs, Rückstellungen<br />
für teure Klagen vor Gericht verhagelten das Ergebnis.<br />
2002 stand unter dem Strich ein Verlust von fast 800 Millionen Dollar.<br />
Zu allem Übel schien der Konzern bewegungsunfähig und unregierbar:<br />
Mehr als 5000 Profit-Center in 100 Ländern waren eingebunden<br />
in eine riesige Matrixorganisation – und drohten zu ersticken.<br />
DORMANN RÄUMTE RADIKAL AUF – im Vorstand, unter den Führungskräften,<br />
vor allem im operativen Geschäft. Aus sechs Geschäftsfeldern<br />
machte er zwei. Was Zukunft verspricht, wurde in den Bereichen<br />
Energietechnik und Automationstechnik gebündelt, alles andere verkauft.<br />
Ende 2002 hatte der neue ABB-Vorstand Unternehmensteile<br />
für 2,5 Milliarden Dollar veräußert und die Schulden deutlich zurückgeführt.<br />
Inzwischen, drei Jahre nach dem Turnaround in letzter Minu-<br />
te, wächst ABB wieder kräftig und weist, trotz Altlasten, für 2004<br />
einen Reingewinn von mehr als 200 Millionen Dollar aus.<br />
ENTSCHEIDEND FÜR DEN Restrukturierungserfolg, so Dormann im<br />
Rückblick, sei vor allem ein tief greifender Kulturwandel gewesen.<br />
„Alle mussten begreifen, wie ernst die Lage war, und gleichzeitig aus<br />
der Strategie, die auf die Stärken des Unternehmens setzte, neues<br />
Selbstbewusstsein und Energie gewinnen.“ Er selbst hat sich zwar<br />
Anfang 2005 aus dem operativen Geschäft wieder in den Aufsichtsrat<br />
zurückgezogen, aber neues Selbstbewusstsein und Energie sind<br />
geblieben. Nachfolger Fred Kindle peilt für die kommenden Jahre ein<br />
Umsatzplus von jeweils mehr als fünf Prozent an – und zwar ohne<br />
Zukäufe. Die Ebit-Marge soll bei zehn, die Rendite auf das eingesetzte<br />
Kapital bei 15 Prozent landen. Kurzum: <strong>Der</strong> Konzern hat von Sanierung<br />
wieder auf Wachstum umgeschaltet und sich ehrgeizige Ziele<br />
verordnet. Das aber heißt auch: Die nächste Restrukturierung könnte<br />
bevorstehen. Chef Kindle hat jüngst verkündet, aus den beiden Kerndivisionen<br />
wieder fünf Geschäftsbereiche zu machen – und damit<br />
kurzerhand eine Organisationsebene zu sparen.
General Electric: Kraftprotz<br />
GE GEHT ES GUT. DENNOCH HAT CEO IMMELT DEM KON-<br />
ZERN EINE NEUE, SCHLANKERE STRUKTUR VERORDNET.<br />
RESTRUKTURIERT WIRD in der Krise – und die Erde ist eine<br />
Scheibe. General Electric war schon immer gut dafür, hergebrachte<br />
Lehren auf den Kopf zu stellen. Während in der Theorie<br />
alle vor Mischkonzernen warnten, hatte Managementlegende<br />
Jack Welch in der Praxis unbeirrbar weitergebaut am <strong>groß</strong>en<br />
GE-Universum – und mit Rekordergebnissen alle Kritiker Lügen<br />
gestraft. Ähnlich unkonventionell geht jetzt sein Nachfolger<br />
Jeffrey R. Immelt vor. Obwohl der Konzern gerade seinen Umsatz<br />
um 20 Prozent steigern konnte (2. Quartal 2005) und von<br />
Krise keine Rede sein kann, baut Immelt um. Vormals elf Geschäftsfelder<br />
werden zu sechs zusammengefasst. Gleichzeitig<br />
setzt GE verstärkt auf das Thema Umwelttechnologie. Ob Brennstoffzellen,<br />
Solarenergie oder Hybrid-Lokomotiven – Immelt will<br />
in erster Linie eins: Geld verdienen. Sein Kommentar: „Man<br />
macht doch nicht irgendetwas, weil man nachts im Bett eine<br />
Vision hatte und eine innere Stimme sagt: ‚Werde grün.‘“<br />
GE verändert sich – trotz guter Zahlen DOSSIER #04<br />
Biotest: Pharmaphönix<br />
VOM KRISENHERD ZUM INNOVATOR: BIOTEST STEHT<br />
FÜR RESTRUKTURIERUNG AUF DIE OFFENSIVE ART.<br />
PHÖNIX LIESS SICH 500 Jahre Zeit bis zu seiner Wiedergeburt<br />
aus der Asche. Verglichen damit war das Frankfurter Pharmaund<br />
Diagnostikunternehmen Biotest ein Phönix mit Schallgeschwindigkeit:<br />
2001 solide Dividende, 2002 plötzliche Krise,<br />
2003 Restrukturierung, 2004 Turnaround. Biotest hatte sich<br />
strategisch verzettelt, verlor Marktanteile, schrieb tiefrot. Doch<br />
dem neuen Vorstandschef Gregor Schulz gelingt das Doppelpassspiel<br />
aus tiefem Einschnitt und Wachstumsstrategie.<br />
Kosten runter, aber Forschungsausgaben rauf. Personalabbau,<br />
aber Verstärkung von Marketing und Arzneizulassung. Verkauf<br />
der defizitären Tochter Diaclone, aber erst nach Herauslösung<br />
der aussichtsreichsten Forschungsprojekte. Die drei Antikörper<br />
gegen Rheuma oder Knochenmarkkrebs haben Blockbuster-Potenzial<br />
und machen den einst biederen Mittelständler<br />
zum Biotherapeutics-Wert mit Kursfantasie.<br />
29
DOSSIER #04 Restrukturierung<br />
Teamgeist statt Kettensäge<br />
KANN MAN RESTRUKTURIERUNG LERNEN? NUR BEDINGT, SAGT HARVARD-PROFESSOR STUART C. GILSON. TECHNIKEN KÖNNE MAN<br />
LERNEN – ABER NICHT, WIE MAN AUF GLÄUBIGERVERSAMMLUNGEN MIT VERÄRGERTEN BANKEN UMGEHT. GEFRAGT SIND CHARAKTERLICHE<br />
QUALITÄTEN: TEAMGEIST UND DIE FÄHIGKEIT, ANDERE MITZUREISSEN.<br />
THINK: ACT Professor Gilson, das öffentliche Bild<br />
erfolgreicher Sanierer sieht ungefähr so aus: Sie<br />
sind herrschsüchtig, skrupellos bis menschenverachtend<br />
und tragen Spitznamen wie „Kettensäge“.<br />
Muss man ein Monster sein, um Unternehmen<br />
aus der Krise zu führen?<br />
STUART C. GILSON Oh, es ist sicherlich hilfreich.<br />
Nein, im Ernst, Sie spielen auf Personen an wie<br />
Albert „die Kettensäge“ Dunlap oder vielleicht<br />
Kajo Neukirchen, dem ja auch der Ruf vorauseilt,<br />
recht direkt zu sein. Wenn man genau hinsieht,<br />
30<br />
wird man meistens feststellen, dass die Wirklichkeit<br />
differenzierter ist als das kolportierte Bild.<br />
Nehmen Sie Herrn Dunlap: Auf der einen Seite hat<br />
er natürlich viele Leute entlassen, sonst wären<br />
die Unternehmen wohl meist nicht zu retten<br />
gewesen. Auf der anderen Seite hat er bereits vor<br />
vielen Jahren etwas getan, was heute als<br />
mustergültig gilt, damals aber ungewöhnlich<br />
war: Er ist ein Risiko eingegangen und hat sich an<br />
den Unternehmen, die er aus der Krise führen<br />
sollte, beteiligt.<br />
Trotzdem: Gibt es typische Charaktermerkmale,<br />
die erfolgreiche Sanierer auszeichnen?<br />
Von Charaktermerkmalen würde ich nicht sprechen.<br />
Dafür findet man zu unterschiedliche Typen.<br />
Aber ich bilde mir ein, inzwischen einschätzen zu<br />
können, was man braucht, um ein guter Sanierer<br />
und Restrukturierer zu sein.<br />
Nämlich?<br />
Allgemein ausgedrückt: Nötig ist ein sehr breites<br />
Spektrum von Fähigkeiten und Erfahrungen in
verschiedenen Disziplinen. Er oder sie muss eine<br />
sehr starke Zielorientierung mitbringen, ein Team<br />
begeistern und andere von seinen Plänen und<br />
Maßnahmen überzeugen können. Er muss sein<br />
Restrukturierungsprogramm verkaufen können,<br />
nach innen wie nach außen.<br />
Welche ökonomischen Fähigkeiten sind nötig?<br />
Restrukturierungen sind in den vergangenen<br />
Jahren noch viel komplexer geworden als früher<br />
schon, weil der Wettbewerb härter geworden ist.<br />
Nehmen Sie nur die juristischen Themen. Gerade<br />
Produkthaftungsfragen sind in den USA unglaublich<br />
eskaliert. Aber wenn Sie ein Unternehmen<br />
sanieren, müssen Sie innerhalb einer kurzen<br />
Zeitspanne sehr viele solcher komplexen,<br />
dabei korrelierenden Themen bearbeiten: Unternehmensbewertung,<br />
Finanzierung, das operative<br />
Geschäft und die strategische Ausrichtung.<br />
Solche Szenarien fordern eine gehörige Portion<br />
Umsicht und Erfahrung.<br />
Keine Universität macht aus einem guten Studenten<br />
einen exzellenten Restrukturierer?<br />
Genau. Wir bringen unseren Studenten Techniken<br />
bei und geben ihnen Werkzeuge an die Hand. Sie<br />
lernen, wie man ein Unternehmen bewertet,<br />
Risiken einschätzt, Cashflows prognostiziert,<br />
Steuerthemen bearbeitet, Strategien entwickelt<br />
und hinterfragt. Darüber hinaus sehen wir unsere<br />
Aufgabe darin, unsere Studenten umfassend auf<br />
ihre Rolle als Führungskraft und Manager vorzubereiten.<br />
Aber natürlich kann ich hier im Seminar<br />
einem Studenten nicht beibringen, wie er in Gläubigerversammlungen<br />
mit nervösen und verärgerten<br />
Bankern umgeht. Oder wie man mit<br />
Arbeitnehmervertretern über Lohnkürzungen<br />
verhandelt. Oder wie es sich anfühlt, wenn man<br />
1000 Leute auf die Straße setzen muss. Dass<br />
muss man einfach selbst erlebt haben.<br />
Da wird ihm im Ernstfall wenig Begeisterung entgegenschlagen.<br />
Was genau verstehen Sie also<br />
unter „begeistern“ und „verkaufen“?<br />
Gerade weil man nicht davon ausgehen kann, mit<br />
meistens ja schmerzhaften Einschnitten <strong>groß</strong>en<br />
Jubel auszulösen, ist es wichtig, sein Programm<br />
gut zu vermarkten. Vereinfacht gesagt, hat jedes<br />
Restrukturierungsprojekt drei Ebenen. Erstens<br />
geht es um die Diagnose. Man muss das Problem<br />
identifizieren und die richtige Therapie wählen.<br />
Zweitens muss die Therapie umgesetzt werden –<br />
schnell und konsequent. Drittens, und das ist in<br />
den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden,<br />
gehört das richtige Marketing dazu. Was<br />
nützt der schönste Sanierungsplan, wenn die<br />
Investoren nicht mitziehen? Wie will man ein<br />
Unternehmen zurück auf die Erfolgsspur bringen,<br />
wenn man nicht einmal die wichtigsten Manager<br />
überzeugen kann?<br />
<strong>Der</strong> Sanierer als Showmaster?<br />
Warum nicht? Es spricht nichts dagegen, gute<br />
Turnaround-Strategien auch so überzeugend zu<br />
präsentieren, dass einem das Publikum folgt. Die<br />
Show sollte nur nicht unseriös sein. Auch der professionelle<br />
Umgang mit Medien ist heute viel<br />
wichtiger als früher. Also gehört auch das auf den<br />
Ausbildungsplan.<br />
Sie beobachten Restrukturierungen seit langem.<br />
Wo passieren die häufigsten Fehler?<br />
Wenn ich mir gescheiterte Projekte ansehe,<br />
komme ich oft zu dem Ergebnis, dass schon die<br />
Diagnose falsch war. Etliche Manager dringen<br />
gar nicht erst bis zum echten Kern des Problems<br />
vor, oder sie trauen sich einfach nicht, auch fundamentale<br />
Dinge in Frage zu stellen. Aber genau<br />
auf diesen Mut kommt es letztlich an.<br />
Um es an einem, übrigens realen, Fall zu verdeutlichen,<br />
den ich meinen Studenten immer vorlege:<br />
Es gab einmal ein Unternehmen, das einerseits<br />
als Krankenversicherung agierte und andererseits<br />
Krankenhäuser betrieb. Klingt erst mal<br />
plausibel. Als es in die Krise geriet, wunderten<br />
sich viele. Wenn ich meine Studenten frage, was<br />
das Problem sein könnte und wie sie vorgehen<br />
würden, bekomme ich in zehn von zwölf Fällen<br />
absolut ausgefeilte Lösungen – die alle am Kern<br />
vorbeigehen. Kaum jemand erkennt, dass die<br />
beiden Geschäftsfelder absolut nicht in einem<br />
Unternehmen gebündelt sein sollten, weil natür-<br />
Auch fundamentale Dinge in Frage stellen! DOSSIER #04<br />
lich andere Krankenkassen ihre Patienten nicht<br />
in ein Krankenhaus schicken, das der Konkurrenz<br />
hilft.<br />
Sollte „Restrukturierung“ Pflichtfach an Business-Schools<br />
werden?<br />
Das Thema ist extrem relevant, insofern spricht<br />
einiges dafür. Ich garantiere meinen Studenten,<br />
dass sie innerhalb von fünf Jahren nach ihrem<br />
Studium direkt mit Restrukturierung zu tun<br />
haben werden, die meisten sogar früher.<br />
STUART C. GILSON, Jahrgang 1958, ist<br />
seit 1991 Professor an der Harvard Business<br />
School. <strong>Der</strong> Experte für Unternehmensbewertung,<br />
Corporate Finance und Restrukturierung<br />
ist vor allem durch sein Buch<br />
„Creating Value through Corporate Restructuring“<br />
bekannt geworden. Gilson hat als<br />
Berater für eine Reihe von Unternehmen<br />
gearbeitet, ist in Gläubigerausschüssen<br />
aufgetreten und regelmäßig als Gutachter<br />
bei Insolvenzen und Unternehmensrestrukturierungen<br />
tätig. Er gehört dem Beratergremium<br />
der angesehenen „Turnaround<br />
Management Association“ an.<br />
An einigen Business-Schools ist „Corporate<br />
Restructuring“ inzwischen im Curriculum.<br />
Hier eine Auswahl:<br />
• Harvard Business School (Prof. Stuart C.<br />
Gilson), www.hbs.edu/<br />
• New York University, Stern School of Business<br />
(Prof. Edward Altman),<br />
www.stern.nyu.edu<br />
• University of Pittsburgh, Katz Graduate<br />
School of Business (Prof. Kenneth M.<br />
Lehn), www.katz.pitt.edu<br />
• London Business School, Finance Faculty<br />
(Prof. Julian Franks), www.london.edu<br />
• ESCP-EAP, European School of Management<br />
(Prof. Patrick Besson), www.escp.fr<br />
31
Prozessoptimierung ist nur ein Teil einer erfolgreichen Restrukturierung. Ebenso wichtig ist die Einbindung aller Mitarbeiter – und die Vorbildfunktion<br />
des Managements. Die VBH-Chefs Rainer Hribar und Jürgen Kassel (von links) fuhren in der harten Zeit mit der S-Bahn zu Außenterminen.
DIE INSOLVENZ war nur noch ein paar Stunden<br />
entfernt an jenem Morgen vor vier Jahren.<br />
Jürgen Kassel schüttelt sich, wenn er heute daran<br />
denkt. Es hätte auch schief gehen können. Aber<br />
Kassel ist immer noch einer der beiden Geschäftsführer<br />
von VBH. Doch die Firma, deren<br />
Geschäfte er führt, hat sich komplett gewandelt.<br />
Das Unternehmen wurde zerlegt und neu zusammengesetzt.<br />
Unrentable Aktivitäten wurden<br />
eingestellt. Jene Bereiche hingegen, die am Markt<br />
wettbewerbsfähig sind, bekamen entsprechend<br />
mehr Gewicht.<br />
VBH IST EIN GROSSHANDELSUNTERNEHMEN<br />
für Baubeschläge, agiert als Mittler zwischen Baubeschlaglieferanten<br />
und Abnehmern, welche<br />
Diese Reportage hat die Financial Times<br />
Deutschland für think: act verfasst. <strong>Der</strong> Text ist Teil<br />
einer umfassenden Kooperation beider Medien.<br />
Reportage DOSSIER #04<br />
Von Messers Schneide gesprungen<br />
DER BAUZULIEFERER VBH WAR SO GUT WIE PLEITE; DIE BANKEN WOLLTEN AUSSTEIGEN. IN LETZTER SEKUNDE BRACHTE EIN KONSEQUENTER UMBAU<br />
DIE RETTUNG. LEBENSWICHTIG DABEI: DIE KONZENTRATION AUF LUKRATIVE KUNDEN UND EIN MANAGEMENT, DAS SPARSAMKEIT VORLEBT. EIN EIN-<br />
BLICK IN DAS INNENLEBEN EINER RESTRUKTURIERUNG.<br />
s MORGENS UM FÜNF ist Schichtwechsel bei diese Produkte industriell und handwerklich ver-<br />
Firmenrettern. Männer in Jackett und mit Kraarbeiten. Vor allem vertreibt das Handelshaus Türwatte<br />
treten aus dem Morgengrauen in die griffe und Schließsysteme für Fenster. Doch die<br />
Zentrale des schwäbischen Bauzulieferers VBH. waren zuletzt nicht mehr so gefragt. 1998 wur-<br />
Drinnen sitzen Manager, Finanzexperten und den in Deutschland 26 Millionen Fenster verkauft,<br />
Unternehmensberater. Sie haben die ganze Nacht in diesem Jahr vielleicht noch elf Millionen. Das<br />
hindurch über Akten, Bilanzen und Geschäftsbe- nach der Maueröffnung im Inland aufgeblähte<br />
richten gebrütet. Sie kämpfen gegen die Uhr, für Unternehmen hatte die Warnsignale zu spät<br />
das Überleben von VBH. Die Banken wollen den erkannt. „VBH war plötzlich viel zu <strong>groß</strong> für den<br />
Geldhahn zudrehen. Nur ein überzeugendes Sa- Markt“, sagt Kassel. „Ab dem zweiten Quartal<br />
nierungskonzept könnte sie noch hinhalten, ein 2001 war zu erkennen, dass dies zu Problemen<br />
paar Tage oder Wochen, vielleicht ein paar Monate. führen kann.“ Eine Fusion mit dem Rivalen Geniatech<br />
sollte helfen. Die Banken fuhren im letzten<br />
ES WAR EIN SPIEL AUF ZEIT in diesem Spät- Moment dazwischen. Zu Recht, sagt <strong>Roland</strong>-Bersommer<br />
des Jahres 2001. Die damalige Skepsis ger-Berater Sascha Haghani. „Es bringt nichts,<br />
der Banken ist verständlich, stand es bei VBH wenn sich zwei kranke Firmen zusammen ins<br />
doch wirklich nicht zum Besten. Außen pfui, innen Bett legen.“ Haghani war ursprünglich in die VBHpfui.<br />
Die Baubranche trudelte in die Rezession, Zentrale nach Korntal-Münchingen bei Stuttgart<br />
und die VBH wurde einfach mitgerissen.<br />
gekommen, um den Sinn der Fusion zu prüfen.<br />
Aber schon bald musste er nach Wegen suchen,<br />
die Insolvenz zu verhindern.<br />
BEI DER BUCHPRÜFUNG IM VORFELD der<br />
gescheiterten Fusion offenbarte sich den Beratern<br />
eine dramatische Lage. VBH hatte auf dem Heimatmarkt<br />
viel zu hohe Kosten. Das Geschäft mit<br />
unzähligen Kleinstkunden und Lieferanten kostete<br />
mehr, als es einbrachte. Rechnungen wurden<br />
nur zögerlich eingefordert, so dass ein Drittel der<br />
Außenstände, immerhin 24,3 Millionen Euro, seit<br />
über 150 Tagen fällig waren. In den Boomjahren<br />
zugekaufte Kleinunternehmen hatten an ihrem<br />
jeweiligen Standort ein Eigenleben mit überflüssigen<br />
Warenbeständen, eigener Logistik und Disposition<br />
entwickelt. In den 32 VBH-Lagern stapelten<br />
sich selten verkaufte „Langsamdreher“. Die Bera-<br />
ter fanden sogar „Nulldreher“ – Fensterbeschläge<br />
oder Türgriffe, für die sich seit Jahren niemand<br />
mehr interessiert hatte.<br />
DOCH ERST ALS VBH in eine Liquiditätskrise<br />
schlitterte und die Kreditgeber nervös wurden,<br />
packte man die Restrukturierung an – ohne dass<br />
sich alle bewusst waren, worauf sie sich einließen.<br />
„Quick and dirty“ hätte es vor allem am Anfang<br />
gehen müssen, sagt VBH-Vorstand Rainer Hribar.<br />
„Wir kämpften ums Überleben. Da können Sie nicht<br />
lange rumdiskutieren“, ergänzt sein Kollege Kassel.<br />
Ob eine Entscheidung richtig oder falsch ausfiel,<br />
war weniger wichtig. Hauptsache, es wurde<br />
überhaupt entschieden. „Schnell musste es gehen.<br />
Das war wichtig“, sagt Hribar heute. Er macht dabei<br />
nicht den Eindruck, als ob er stolz auf die knochenharte<br />
Tour von damals ist. Es war halt so.<br />
WENN DER 48-JÄHRIGE Hribar und sein<br />
51-jähriger Kollege Kassel versuchen, das Erfolgsgeheimnis<br />
der Sanierung zu erklären, dann ist viel<br />
von Einschnitten und Zentralisierung die Rede,<br />
von Forderungsmanagement, Geschäftsmodellen,<br />
Beratern und den Mitarbeitern. Ihr eigener Anteil<br />
scheint da eher unbedeutend. Das aber sieht man<br />
bei <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> ganz anders. Die Beratung war<br />
mit bis zu sieben Mann im Einsatz. Die wissen,<br />
wie man das Problem technisch angeht – und<br />
dass dieses Wissen nicht ausreicht: „Die Vorstände<br />
sind entscheidend. Sie müssen schnell sein<br />
und haben Vorbildfunktion und Signalwirkung“,<br />
sagt Karl Kraus, Partner bei <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong>.<br />
KRAUS ERKLÄRT die Signalwirkung der Topmanager<br />
auf Belegschaft, Banken und Kunden am<br />
33
DOSSIER #04 Restrukturierung<br />
Beispiel Dienstwagen: „Autos haben Symbolwirkung.<br />
Daran sieht jeder Mitarbeiter, ob Manager die<br />
Sache ernst meinen oder nicht. Das ist der psychologische<br />
Knackpunkt bei jedem Sanierungsfall.“<br />
Hribar und Kassel wechselten nicht nur vom<br />
Luxusauto zur gehobenen Mittelklasse, sondern<br />
fuhren bei Geschäftsreisen mit der S-Bahn. Das<br />
sprach sich rum. So entstand jenes Kostenbewusstsein<br />
in der Belegschaft, das über Erfolg oder<br />
Misserfolg einer Restrukturierung mitentscheidet.<br />
ALS ERSTES SPARPAKET mit „Quick Wins“<br />
wurden Reisekosten, Zeitungsabonnements und<br />
Büroartikel beschnitten. <strong>Der</strong> Vertrieb bediente nur<br />
noch profitable Kunden. Unbrauchbare Lagerbestände<br />
wurden zurückgegeben oder billig abverkauft.<br />
<strong>Der</strong> Lagerbestand im Wert von 70 Millionen<br />
Nicht zuletzt eine effizientere Lagerhaltung führte VBH zu neuem Erfolg<br />
Euro ist bis heute auf 35 Millionen Euro abgeschmolzen<br />
worden. „Das bringt uns jedes Jahr 35<br />
Millionen Euro mehr Liquidität“, freut sich Kassel.<br />
Statt 27 verschiedener Lieferanten für Türstopper<br />
gebe es jetzt eben nur noch eine Hand voll. Vor vier<br />
Jahren arbeitete VBH mit mehr als 1700 Lieferanten<br />
zusammen. „Heute machen wir 99 Prozent<br />
unseres Umsatzes mit 260 Lieferanten“, sagt Kassel.<br />
Ausstehende Rechnungen werden jetzt deutlich<br />
schneller eingetrieben und riskante Lieferungen<br />
an Pleitekandidaten komplett vermieden.<br />
Kassel: „Früher sind 4,5 Prozent unseres Umsatzes<br />
ausgefallen, weil Rechnungen nicht bezahlt<br />
wurden. Heute liegen wir noch bei 0,6 Prozent.“<br />
34<br />
DER BÜROKRATISCHE WASSERKOPF mit<br />
sechs Vorständen und sieben Geschäftsführern<br />
wurde trockengelegt. Einzig Auslandschef Hribar<br />
und der erst kurz zuvor zu VBH gewechselte Kassel<br />
blieben als Vorstände übrig. Dass beide keine<br />
Rücksicht auf Seilschaften nehmen mussten, war<br />
laut Hribar „vor allem in der Phase der harten Einschnitte<br />
ein Riesenvorteil für uns“. 400 Stellen<br />
fielen weg. Aus 32 eigenständigen Einzellagern<br />
wurden acht, Firmenbereiche wie Logistik und<br />
Disposition hat das Management zentralisiert.<br />
„Wir haben klipp und klar gesagt: Entweder die<br />
Sanierung klappt, oder wir sind am Ende“, sagt<br />
Hribar. Das half, zumindest ein wenig. „Es gibt<br />
immer Leute, die erklären, warum etwas nicht<br />
geht. Von solchen Kollegen haben wir uns dann<br />
schnell getrennt.“<br />
TROTZ DES RASANTEN TEMPOS ging es den<br />
Kreditgebern nicht rasch genug. Einige der acht<br />
Gläubigerbanken wollten sich von VBH trennen.<br />
Schon zuvor hatten sie Kassel „freundlich, aber<br />
bestimmt klar gemacht“, dass sie kein frisches<br />
Geld in das Unternehmen stecken würden.<br />
Vergeblich war der neue Chef in den ersten<br />
Wochen in der Stuttgarter Innenstadt unterwegs,<br />
um Kapital aufzutreiben. Sein größter Erfolg<br />
bestand darin, dass die Banken versprachen,<br />
zumindest die Kreditlinien nicht zu kündigen.<br />
WENIG SPÄTER jedoch wurde die Geldnot so<br />
drückend, dass die Banken sich zu einem Pool<br />
zusammenschlossen, um zu verhindern, dass ein<br />
Institut ausscherte und mit einer gekündigten<br />
Kreditlinie das Kartenhaus VBH zum Einsturz<br />
brachte. Dann hätten alle Banken ihr Geld verloren.<br />
Drei Jahre hielt das Bündnis. 2004 schleppte<br />
VBH zwar noch immer eine hochverzinste Schuldenlast<br />
von 200 Millionen Euro mit sich herum,<br />
aber das operative Geschäft lief. Doch die Allianz<br />
der Banken bröckelte jetzt. Drei Institute wollten<br />
aussteigen. Sie hatten ihre Darlehen abgeschrieben,<br />
sahen Geld von VBH als unerwarteten Bonus.<br />
Unter den Gläubigern kam es zu Reibereien. „Das<br />
war eine sehr gefährliche Situation. VBH war es<br />
unmöglich, die Schulden zu bedienen, und andere<br />
Geldgeber gab es nicht“, sagt Kraus.<br />
FÜR DIE RETTUNG sorgten die Nachkommen<br />
der VBH-Gründer, die ehemaligen Vorstände Günter<br />
Ade und Andreas Schill. Sie brachten mit<br />
Freunden und VBH-Managern innerhalb weniger<br />
Wochen 20 Millionen Euro ein. In einem komplizierten<br />
Umschuldungsprozess wurden die ausstiegswilligen<br />
Banken ausbezahlt. Die übrigen<br />
Institute erhielten Anteile an VBH. Am Ende der<br />
Transaktion stand VBH nicht nur operativ, sondern<br />
auch finanziell auf sicherem Grund. Die hochverzinsten<br />
Darlehen konnten gegen Kreditlinien mit<br />
günstigeren Konditionen abgelöst werden. „Damit<br />
war VBH auf eine völlig neue Basis gestellt“, sagt<br />
Kraus. Er war sich mit dem Zwei-Mann-Vorstand<br />
einig, dass der Schlüssel für eine erfolgreiche<br />
Zukunft im Ausland liegt. Man beschloss, am Auslandsgeschäft<br />
festzuhalten und die Expansion so<br />
konsequent wie möglich voranzutreiben.<br />
EINIGE WETTBEWERBER gingen den anderen<br />
Weg und verkauften ihre Auslandstöchter, um das<br />
Stammgeschäft zu stabilisieren. Die meisten von<br />
ihnen sind heute vom Markt verschwunden. VBH<br />
kann sich dagegen auf seine mittlerweile 28 Ländergesellschaften<br />
von Polen über Dubai bis nach<br />
Australien oder Argentinien verlassen.<br />
IM VERGANGENEN JAHR MACHTE das Unternehmen<br />
mit mittlerweile wieder knapp über 2000<br />
Mitarbeitern erstmals seit fünf Jahren Gewinn.
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DOSSIER #04 Restrukturierung<br />
Die Routinefalle<br />
ERST EINGESPIELTE ABLÄUFE MACHEN EIN UNTERNEHMEN EFFIZIENT. DOCH GENAU DIESE ROUTINEN BEGÜNSTIGEN OFT SCHIEFLAGEN<br />
UND ERSCHWEREN RESTRUKTURIERUNGEN. ENTSCHEIDER, DIE EINE ORGANISATION VERÄNDERN WOLLEN, MÜSSEN SICH MIT DEREN STANDARD-<br />
ABLÄUFEN BEFASSEN. DENN NUR WER DIE INTERNEN ROUTINEN WIRKLICH VERSTEHT, KANN SIE SCHLIESSLICH ÜBERWINDEN.<br />
s<br />
ENDE APRIL 1992 ging eine traurige Gestalt<br />
vom Platz. Beim Tennisturnier in Monaco verlor<br />
der 35-jährige Björn Borg sein Erstrundenmatch<br />
gegen den gerade 20-jährigen Südafrikaner<br />
Wayne Ferreira in zwei Sätzen. Doch es war nicht<br />
der Altersunterschied, der den Comebackversuch<br />
der schwedischen Legende scheitern ließ.<br />
Es war das neue Powertennis. Die hoch belastbaren<br />
Karbonschläger hatten das Spiel für Borg<br />
zu schnell gemacht. 1976 hatte er zum ersten<br />
Mal Wimbledon gewonnen, mit Frotteestirnband<br />
und Holzschläger. Für das Turnier in Monaco<br />
hatte er sich schweren Herzens von seinem<br />
Holz-Rack getrennt. Doch Borg konnte sich mit<br />
den neuen Schlägern nie wirklich anfreunden. Er<br />
hatte den Wandel verpasst.<br />
36<br />
AM BJÖRN-BORG-SYNDROM kranken zurzeit<br />
viele Unternehmen, etwa im deutschen Textileinzelhandel.<br />
Während sich trotz sinkenden Marktvolumens<br />
Neulinge wie Mango oder Zara am<br />
Markt etablieren, gelingen den Altstars nur<br />
schwache Returns. Größen wie KarstadtQuelle<br />
und SinnLeffers müssen restrukturiert werden,<br />
ein Traditionshaus wie Mey & Edlich rutscht<br />
sogar in die Insolvenz. Dabei beherrschten die<br />
<strong>groß</strong>en Player doch ihr Spiel, dabei hatten sie<br />
doch eigentlich alles so gemacht wie immer.<br />
Stirnband und Holzschläger. Business as usual.<br />
Genau hier lauert die Gefahr. Nicht selten geraten<br />
etablierte Unternehmen auch deshalb in<br />
Schieflage, weil sie so routiniert sind. Oder besser:<br />
weil sie es nicht schaffen, die unbedingt not-<br />
wendige Routine zum richtigen Zeitpunkt zu<br />
durchbrechen, quer zu denken, andere Handlungsmuster<br />
zu erkennen und zur neuen Routine<br />
zu erheben. Warum aber ist das so – und vor<br />
allem: Muss das so sein? Hier setzt die junge<br />
Disziplin der Routineforschung an. Um es deutlich<br />
zu sagen: Routine ist unerlässlich für den<br />
Erfolg. Erst Routine macht ein Unternehmen effizient,<br />
erst Routine ermöglicht viele komplexe<br />
Prozesse. Für Richard Nelson und Sydney Winter,<br />
die wohl bedeutendsten Pioniere der Routineforschung,<br />
ist ein Unternehmen – auf die Spitze<br />
getrieben – nichts anderes als eine Ansammlung<br />
von Routinen. Selbst hoch innovative Unternehmen<br />
müssen Routinen entwickeln, um kreativ<br />
zu sein und Ideen effizient umzusetzen.
DIE HÖCHSTE VOLLENDUNG der Routine hört<br />
auf den einschlägigen Namen „Best Practice“<br />
und ist nichts weniger als ein umfassend eingespielter,<br />
automatisierter und damit weit gehend<br />
feststehender Ablauf. Es gibt viele Good und Best<br />
Practices. <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong> Strategy Consultants<br />
hat kürzlich die Funktionen im Overhead von<br />
Großkonzernen aus Bau-, Immobilien- und Energiewirtschaft<br />
analysiert. Das Ergebnis: 90 bis<br />
95 Prozent der Tätigkeiten sind wiederkehrend.<br />
Auch in kreativen Abteilungen wie Presse- oder<br />
Öffentlichkeitsarbeit ist der Anteil an Routinearbeiten<br />
sehr hoch (70 Prozent und mehr). Die<br />
Vermutung liegt nahe, dass dies auch auf Managemententscheidungen<br />
zutrifft; hier ist die<br />
Routineforschung empirisch fundierte Antworten<br />
noch schuldig.<br />
NEU IST DIE Erkenntnis, dass Routine zu<br />
einer selbstgestellten Falle werden kann – und<br />
zwar immer dann, wenn sich die Umwelt eines<br />
Unternehmens wandelt. Das ist heute Normalität<br />
und geschieht in immer kürzeren Zyklen. So<br />
kommt es, dass auch bisher erfolgreiche Routinen<br />
– entstanden in einem bestimmten Umfeld<br />
und genau für dieses passend – plötzlich<br />
schlechte Ergebnisse liefern. Das betroffene<br />
Unternehmen muss sein Repertoire an Routinen<br />
auffrischen. Auch hier liefert der Textileinzelhandel<br />
gutes Anschauungsmaterial: Gestern noch<br />
schwappte bauchfrei die Jugendwelle durch die<br />
Konfektionen, heute umgarnt die Branche kaufkräftige<br />
ältere Menschen. Da entsteht mit einem<br />
Schlag eine riesige Sortimentslücke. Wer sie am<br />
schnellsten schließt, gewinnt. Wer hinterherhinkt,<br />
hat ein doppeltes Routineproblem: Er versäumt<br />
es, eingespielte Abläufe zu durchbrechen,<br />
um mit den Windhunden mitzuhalten. Dann<br />
gerät er in Probleme und ist spätestens jetzt<br />
gezwungen, Routinen über Bord zu werfen. Denn<br />
Restrukturierung heißt, Routinen zu verändern.<br />
WARUM ABER TUN sich die Verantwortlichen<br />
so schwer damit, ihr Handeln zu verändern?<br />
Zwei Hypothesen erklären, warum sich Routinen<br />
wie zäher Klebstoff über ein Unternehmen legen:<br />
Routinen sind nötig, können aber die Veränderung behindern DOSSIER #04<br />
1. Es ist schwierig zu erkennen, wann<br />
genau eine eingespielte Routine zu hinterfragen<br />
ist. Das Fatale an Routinen ist: Sie entfalten ihre<br />
Wirkung erst dadurch, dass sie das Management<br />
vom Planungsaufwand befreien. Diese Entlastung<br />
wird durch fehlende Reflexion erkauft; Routineforscher<br />
sprechen von einer Bewusstseinssenkung.<br />
So werden Anzeichen für Probleme<br />
schlicht übersehen – oder bewusst ignoriert.<br />
Denn viele im Unternehmen scheuen die Änderung<br />
von Routinen, weil sie um die Schwierigkeiten<br />
wissen, die damit verbunden sind.<br />
2. Es fällt schwer, einmal eingespielte<br />
Routinen aufzugeben. Aus der etablierten Routine<br />
auszubrechen bedeutet, den bisher effizienten<br />
und weit gehend risikolosen Ablauf zu stören.<br />
Plötzlich muss eine neue Vision her und eine<br />
Strategie, die festlegt, wodurch die alten Routinen<br />
ersetzt werden sollen. Keine triviale Aufgabe:<br />
In welche Richtung hätten sich denn Rover,<br />
Swiss Air oder auch KarstadtQuelle bewegen sollen,<br />
um eine Krise zu verhindern?<br />
Hinzu kommt: Ein erfolgreicher Ausbruch<br />
aus der Routine erfordert viel Zeit und Engagement.<br />
Auch regt sich gegen Änderungen immer<br />
Kritik: Neue Abläufe entwerten altes Wissen und<br />
schaffen Verlierer. Häufig sind die ersten Resultate<br />
nach der Flucht aus der alten Routine unbefriedigend,<br />
weil die Vorteile einer etablierten<br />
Routine fehlen. Kritiker sehen sich bestätigt.<br />
Schließlich fallen viele Menschen unbewusst in<br />
alte Automatismen zurück. So verkehrt sich die<br />
eigentliche Stärke von Routinen zunächst ins<br />
Gegenteil, sobald man neue Wege beschreitet.<br />
Wer etwas verändern will, muss deshalb verstehen,<br />
warum andere diese Veränderung ablehnen.<br />
Sprich: Wer ein tieferes Verständnis für Routinen<br />
entwickelt, wird leichter restrukturieren –<br />
oder gar nicht in eine Situation geraten, die eine<br />
Restrukturierung erfordert. Dafür gilt es, ein<br />
Bewusstsein auf allen Ebenen zu wecken –<br />
selbst im Management. Auch Manager müssen<br />
in Routinen denken. Aber gerade sie sollten darüber<br />
hinaus genügend Kapazitäten freihalten,<br />
um aus den bestehenden Routinen auszubrechen<br />
und ständig nach neuen Optionen zu<br />
suchen. Entstehen dadurch Ineffizienzen und<br />
Risiken, sollten diese erkannt und bewusst in<br />
Kauf genommen werden. Entscheidend ist die<br />
Balance zwischen Veränderung und Verharrung.<br />
So sollte das Unternehmen Mitarbeiter nicht<br />
dafür bestrafen, dass sie Veränderungen anstoßen,<br />
sondern bestenfalls sogar belohnen – auch,<br />
wenn diese damit scheitern. Gleichzeitig darf das<br />
Management die Bodenhaftung nicht verlieren<br />
und muss Initiativen für Neues sorgfältig prüfen.<br />
Um zu erkennen, wann der Ausbruch aus<br />
der Routine opportun ist, sind spezifisch zugeschnittene<br />
Frühwarnsysteme in Controlling oder<br />
interner Revision nötig. Auch die Unternehmenskultur<br />
bedarf einer Auffrischung: Stetes Hinterfragen,<br />
das Erlernen von neuen und das Entlernen<br />
von alten Routinen verdienen es, ständig<br />
gefördert zu werden. Mitarbeiterbeteiligung inklusive.<br />
Wenn die Frühwarnung dann funktioniert<br />
und das Unternehmen rechtzeitig neue<br />
Markttrends erkennt, ist es Zeit für eine Tasse<br />
Kaffee. Denn der Umgang mit Routinen erfordert<br />
vor allem eines: Augenmaß. Nicht jedes Softwareupdate<br />
macht ein Unternehmen effizienter. Und<br />
nicht jeder Technologiesprung ist so <strong>groß</strong> wie der<br />
vom Holz- zum Karbonschläger.<br />
RICHARD FEDEROWSKI<br />
ist Senior Consultant im Geschäftsbereich<br />
Restrukturierung<br />
und Corporate Finance bei<br />
<strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong>. Zuvor studierte er<br />
Betriebswirtschaftslehre an der<br />
Handelshochschule Leipzig.<br />
PETER KESTING promovierte<br />
an der Universität Hamburg in<br />
BWL und habilitierte sich an der<br />
Handelshochschule Leipzig, an<br />
der er lehrt. Schwerpunkte sind<br />
Schumpeters Innovationstheorie<br />
und die Routineforschung.<br />
37
DOSSIER #04 Restrukturierung<br />
Mit dem Geld reden<br />
RESTRUKTURIERUNGEN WERDEN ZUNEHMEND VOM KAPITALMARKT GETRIEBEN. DAS BEDEUTET FÜR SPITZENMANAGER EINEN HÖHEREN ERFOLGS-<br />
DRUCK, FÜR DIE UNTERNEHMEN AUF UMBAUKURS ABER AUCH GROSSE CHANCEN. IHNEN ERÖFFNEN SICH SO NEUE SPIELRÄUME IN DER FINANZIE-<br />
RUNG – VORAUSGESETZT, SIE INTENSIVIEREN DEN DIALOG MIT ALTEN UND NEUEN AKTEUREN AM KAPITAL- UND KREDITMARKT.<br />
s<br />
EIGENTLICH KÖNNTE Richard D. Parsons<br />
zufrieden sein. Seit er 2002 auf den Chefsessel<br />
bei Time Warner rückte, hat er die Schuldenlast<br />
des angeschlagenen Medienkonzerns um 13<br />
Milliarden US-Dollar reduziert. Er verkaufte die<br />
Musiksparte. Er räumte im Management auf. Er<br />
präsentierte 2004 einen Rekordgewinn. Er sorgte<br />
dafür, dass Time Warner seinen Aktionären<br />
wieder Dividende zahlt. Nur zwei Dinge hat Parsons<br />
nicht geschafft: den dümpelnden Kurs der<br />
Time-Warner-Aktie zu beflügeln. Und die Aktionä-<br />
re davon zu überzeugen, dass dies mit Hilfe seines<br />
langfristig angelegten Restrukturierungskurses<br />
gelingen werde.<br />
DESHALB SITZT IHM nun Carl Icahn im Nacken,<br />
ein blitzgescheiter Investor, den die US-<br />
Presse gerne als „Unternehmensräuber“ bezeichnet.<br />
<strong>Der</strong> 69-jährige Hedge-Fonds-Manager,<br />
dessen Vermögen Forbes auf 7,6 Milliarden Dollar<br />
taxiert, ist durch Investments in verschiedene<br />
Großkonzerne bekannt geworden, etwa U. S. Steel,<br />
Texaco, Nabisco und Pan Am. Zusammen mit Verbündeten<br />
hat Icahn für zunächst 2,2 Milliarden<br />
US-Dollar Time-Warner-Aktien gekauft. Das entspricht<br />
einem Anteil von gerade mal 2,6 Prozent.<br />
Und doch verlangt der Icahn-Club der Minderheitsaktionäre,<br />
der Konzern solle seine begehrte<br />
Kabelsparte abstoßen und aus dem Erlös für<br />
20 Milliarden US-Dollar eigene Aktien zurückkaufen.<br />
Das Drohpotenzial: Icahn & Co. könnten<br />
ihre Anteile erhöhen. Oder weitere unzufriedene<br />
Aktionäre um sich scharen. Oder beides.
ANDERS ALS IN Kontinentaleuropa, wo<br />
unzufriedene Investoren ihre Aktien bisher lieber<br />
verkaufen, ist die Einflussnahme von Aktionären<br />
auf das Management im angelsächsischen<br />
Raum längst Alltag. Vor allem in den USA hat sich<br />
seit den 70er-Jahren eine regelrechte Shareholder-Value-<br />
und Corporate-Governance-Industrie<br />
entwickelt. Ihr Geschäftsfeld: Sie setzt Unternehmen<br />
mit schwacher Börsen-Performance und<br />
umstrittener Ausrichtung, mithin also Fälle mindestens<br />
für eine strategische Restrukturierung,<br />
massiv unter Druck. Soeben musste Michael Eisner<br />
seinen Stuhl bei Walt Disney genau deshalb<br />
räumen; der Pensionsfonds CalPers hatte fast<br />
die Hälfte der Aktionäre auf Kurs gegen Eisner<br />
gebracht.<br />
DAS MAG NICHT nett wirken. Doch Jammern<br />
hilft nicht. Entscheidend: Unternehmen in der<br />
Restrukturierung müssen ihre Geldgeber verstehen<br />
und mit ihnen reden – nur dann können sie<br />
die Vorteile, die ihnen neue Akteure am Kapitalund<br />
Kreditmarkt bieten, wirklich nutzen. Für<br />
Stephan Howaldt, Leiter des europäischen Focus<br />
Funds der renommierten Hermes Pensions<br />
Management in London, folgt daraus: „Unternehmen<br />
können die Interessen der Investoren nicht<br />
ignorieren und müssen sie viel stärker in ihrer<br />
Strategie berücksichtigen.“ Wichtig sei auch, die<br />
Manager etwa von Hedge-Fonds ohne Vorurteile<br />
und als rationale Investoren zu betrachten.<br />
WER DEN DIALOG nicht hinbekommt, dem<br />
wird es kaum gelingen, die langfristigen Unternehmensziele<br />
mit den kurzfristigen Interessen<br />
der Investoren abzugleichen – nicht nur unter<br />
den erschwerten Bedingungen einer Restrukturierung.<br />
Werner Seifert, bis vor kurzem Vorstandschef<br />
der Deutschen Börse, hat genau das<br />
den Job gekostet. Weitsichtig wollte er die London<br />
Stock Exchange übernehmen, und im zweiten<br />
Anlauf schienen die Londoner sogar kooperationsbereit.<br />
Doch Seifert hatte die Aktionäre<br />
nicht nach ihrer Meinung gefragt. Und die wollten<br />
nun mal, angetrieben vom britischen Hedge-<br />
Fonds TCI, die Kriegskasse lieber selbst verfrüh-<br />
Banken kaufen Not leidende Kredite auf DOSSIER #04<br />
Höchster Nutzen<br />
statt geringstes Risiko<br />
DER HANDEL MIT NOT LEIDENDEN FORDERUNGEN WIRD FÜR BANKEN ZUM GESCHÄFTS-<br />
FELD, SO EINE AKTUELLE STUDIE. DAS VERÄNDERT DIE RESTRUKTURIERUNGSLANDSCHAFT.<br />
UNTERNEHMEN, deren Not leidende<br />
Schulden auf dem so genannten Distressed-<br />
Debt-Markt gehandelt werden, drohen ungemütlichere<br />
Zeiten: Beim Handel mit Anleihen,<br />
Krediten oder Darlehen treten Banken zunehmend<br />
als Käufer auf. Bereits ein Drittel will<br />
damit auch direkt am Distressed-Debt-<br />
Geschäft verdienen, wie die aktuelle <strong>Roland</strong>-<br />
<strong>Berger</strong>-Untersuchung „Distressed Debt in<br />
Deutschland aus Sicht der Banken“ zeigt. Das<br />
Engagement der Banken erhöht den Erfolgsdruck<br />
auf die Unternehmen.<br />
BISLANG PROFITIEREN Banken vor allem<br />
indirekt vom aufblühenden Distressed-Debt-<br />
Markt: Sie trennen sich von problematischen<br />
Krediten und betreiben damit Schadensbegrenzung.<br />
Intern vermeiden sie weitere Wertberichtigungen,<br />
die umfassend sanierten<br />
Unternehmen behalten sie als Kunden. Dafür<br />
nehmen die Geldhäuser beträchtliche<br />
Abschläge in Kauf.<br />
MIT DER PUREN Risikominimierung dürfte<br />
es allerdings bald vorbei sein. Denn der<br />
Distressed-Debt-Markt wird für Kreditaufkäufer<br />
immer attraktiver – auch für Geschäftsbanken.<br />
Unternehmens- und Hypothekenkredite<br />
von je über 100 Milliarden Euro sind im<br />
Umlauf, das jährliche Transaktionsvolumen<br />
dürfte sich bei 15 bis 20 Milliarden Euro einpendeln.<br />
Warum sollten die Banken dieses<br />
Geschäft den Spezialisten überlassen? „<strong>Der</strong><br />
Markt für Distressed Capital wird sich als stabile<br />
Säule der Unternehmensfinanzierung etablieren<br />
und das Restrukturierungsgeschäft<br />
langfristig massiv verändern“, prognostiziert<br />
Nils von Kuhlwein, Partner bei <strong>Roland</strong> <strong>Berger</strong><br />
in Düsseldorf. Die Autoren der Studie rechnen<br />
damit, dass sich die Geschäftsbanken bei<br />
Restrukturierungen dem Verhalten reiner<br />
Distressed-Debt-Investoren annähern: von<br />
der Schadensbegrenzung hin zum optimalen<br />
Nutzen, von der nachhaltigen Gesundung der<br />
Unternehmen zur eigenen Cash-Maximierung.<br />
DAMIT EINHER GEHT eine stärkere Konvergenz<br />
der Marktplayer. Von Kuhlwein ist<br />
überzeugt: „Man wird in wenigen Jahren nicht<br />
mehr zwischen Distressed-Debt-Investor und<br />
Geschäftsbank unterscheiden.“ Zugleich wird<br />
es weniger Einzeldeals, dafür mehr Branchengesamtlösungen<br />
geben. Die Idee: Ein Investor<br />
kauft Kredite verschiedener Player einer Branche<br />
– und entwickelt dann eine Lösung, von<br />
der alle Unternehmen profitieren. Das nutzt<br />
auch ihm selbst: Je mehr komplementäre<br />
Investments sich bündeln lassen, umso höher<br />
sind die Renditechancen durch Platzierung<br />
am Kapitalmarkt.<br />
FÜR DEN Restrukturierungsprozess<br />
bedeutet das: Schlimmstenfalls kämpfen viele<br />
Finanziers um die aus ihrer Sicht beste<br />
Lösung. Schadensbegrenzung wäre dann nur<br />
eine Option, bei einigen Investoren dürfte die<br />
kurzfristige Cash-Maximierung im Vordergrund<br />
stehen. Folglich droht die Zerschlagung<br />
des Unternehmens. Besser für das Unternehmen<br />
wäre es, wenn sich wenige Geldgeber mit<br />
gleicher Interessenlage zusammentun. Hier<br />
gilt: Das Glück lässt sich zwingen, wenn das<br />
Unternehmen frühzeitig den verlässlichsten<br />
Partner anspricht und auf Kooperation setzt.<br />
AUS UNTERNEHMENSSICHT besteht Grund<br />
zu Optimismus. Die Banken haben unter den<br />
möglichen Exit-Szenarien eine klare Präferenz:<br />
Während 59 Prozent einen Weiterverkauf<br />
der Forderung für sehr geeignet halten,<br />
bevorzugen 77 Prozent die Restrukturierung<br />
und spätere Rückzahlung des Kredits.<br />
39
DOSSIER #04 Stakeholder<br />
stücken. Im Mai 2005 warf Seifert das Handtuch<br />
und kam damit der drohenden Entmachtung<br />
durch die Hauptversammlung zuvor.<br />
DOCH NICHT NUR BEI DEN Aktionären, also<br />
dem Eigenkapital, sondern auch in der Fremdfinanzierung<br />
haben sich die Spielregeln grundlegend<br />
geändert. Unternehmen auf Sanierungskurs<br />
stehen daher vor neuartigen Szenarien,<br />
haben es mit anderen Interessenlagen zu tun –<br />
und teilweise mit komplett neuen Playern: Seit<br />
Kredite handelbar sind, beschäftigen sich<br />
Hedge-Fonds nämlich ebenso mit dem Ankauf<br />
von Krediten wie Investment- und Geschäfts-<br />
40<br />
CARL ICAHN hat am Kapitalmarkt<br />
Milliarden verdient. Jetzt hat<br />
er in den Medienkonzern Time Warner<br />
investiert. Ein harter Brocken<br />
für das Management: Icahn fordert,<br />
das Unternehmen solle seine Kabelsparte<br />
abstoßen. Sein Drohpotenzial:<br />
Andernfalls werde er seine Anteile<br />
erhöhen.<br />
banken, Mezzanine-Geber oder Distressed-Debt-<br />
Spezialisten.<br />
ZUSAMMEN VERLEIHEN SIE DEM Kreditmarkt<br />
eine bislang beispiellose Dynamik: 2004 wechselten<br />
allein in Europa Konsortialkredite im Wert<br />
von geschätzten 42 Milliarden Euro den Besitzer.<br />
Die Selbstverständlichkeit, mit der einige Banken<br />
nach der Refinanzierung von KarstadtQuelle<br />
ihre Titel weiterreichten, wäre vor Jahren fast<br />
undenkbar gewesen. Und einige Aufkäufer von<br />
Krediten werden durch die kalte Küche zu Eignern,<br />
indem sie Forderungen per Debt to Equity<br />
Swap in Anteile umwandeln. Goldman Sachs hat<br />
das jüngst beim Folienhersteller Treofan praktiziert,<br />
die Deutsche Bank beim Filmproduzenten<br />
Senator Entertainment.<br />
AUCH SONST IST DER Kreditmarkt für Investoren<br />
wie Hedge-Fonds attraktiv. James Sprayregen,<br />
Partner bei der auf Restrukturierung spezialisierten<br />
Anwaltskanzlei Kirkland & Ellis LLP in<br />
Chicago: „Hedge-Fonds tun, was andere nicht<br />
tun wollen: Sie sind bereit, mehr Risiko für eine<br />
höhere Rendite einzugehen.“ Dabei sind sie<br />
gegenüber Hausbanken im Vorteil: Während<br />
diese unsichere Darlehen nach aufwendigen<br />
Prüfungsverfahren gemäß Basel II mit hohen<br />
Sicherheiten hinterlegen müssen, kennen<br />
Hedge-Fonds diese Einschränkungen nicht –<br />
derselbe Kredit ist für sie daher billiger.<br />
UNTERNEHMEN IN DER Restrukturierung<br />
eröffnen sich dadurch ganz neue Spielräume in<br />
der Fremdfinanzierung. Denn sie treffen auf<br />
wesentlich flexiblere und schnellere Partner als<br />
ihre Hausbank. Gerd Bieding, Geschäftsführer<br />
der Corporate-Finance-Beratung Close Brothers:<br />
„Wenn es darauf ankommt, erhalten wir für<br />
unsere Mandanten in Stundenfrist verbindliche<br />
Finanzierungszusagen.“ Klingt luxuriös, doch<br />
die neue Vielfalt bringt für Kreditnehmer auch<br />
Nachteile: Sie wissen nicht immer, wer den Kredit<br />
finanziert; Forderungsverkäufe sind schwer<br />
nachvollziehbar. Schon heute erwerben schwarze<br />
Schafe unter den Hedge-Fonds Kredite nur,<br />
um sich ihre Sperrminorität bei einer Restrukturierung<br />
abkaufen zu lassen. „Watch your creditors!“,<br />
raten deshalb Finanzierungsexperten.<br />
DOCH DERARTIGE NEGATIVEN Auswüchse<br />
sind bislang die Ausnahme. „Watch your creditors“<br />
ist deshalb auch nur die halbe Lehre. Entscheidender<br />
ist der Zusatz „and talk to them“. Die<br />
meisten Hedge-Fonds suchen von sich aus den<br />
Kontakt zum Unternehmen, das sie mitfinanzieren,<br />
beobachtet Robert Weidinger, Corporate-<br />
Finance-Berater für Mittelständler. „Aber manche<br />
Manager haben Berührungsängste und konzentrieren<br />
sich ganz auf den Kontakt zur Hausbank,<br />
die den ursprünglichen Kredit gegeben<br />
hat.“ Anderen Geldgebern gegenüber herrscht<br />
das <strong>groß</strong>e Schweigen. Ein fataler Fehler, gerade<br />
wenn die so genannten Distressed Debts ins<br />
Spiel kommen. „In oder vor Krisensituationen<br />
muss das Unternehmen seine Restrukturierung<br />
gerade den Gläubigern nachvollziehbar machen“,<br />
betont Joachim Koolmann, der bei der Deutschen<br />
Bank das Distressed-Debt-Geschäft für<br />
Deutschland leitet. Bei der Beteiligungsgesellschaft<br />
Augusta, einem der verglühten Stars des<br />
Neuen Marktes, hat sein Haus zusammen mit<br />
anderen Investoren Kredite gepoolt und eine<br />
grundlegende Restrukturierung umgesetzt.
Die typische Eskalation einer unternehmerischen<br />
Schieflage beginnt mit der strategischen<br />
Krise: Die Wettbewerbsposition verschlechtert<br />
sich, ohne dass gleich das Ergebnis einbricht.<br />
Weil kein akuter Handlungsdruck besteht, wird<br />
die Krise oft verdrängt. Daher ist das Abdriften<br />
in die Ergebniskrise oft nur eine Frage der Zeit:<br />
Das Unternehmen verfehlt Rentabilitätsziele,<br />
am Ende steht ein negatives Ergebnis. Die<br />
Stakeholder verlieren das Vertrauen in Unternehmen<br />
und Management. Spätestens jetzt<br />
besteht Restrukturierungsbedarf. Dabei kommt<br />
es darauf an, systematisch vorzugehen. <strong>Roland</strong><br />
<strong>Berger</strong> Strategy Consultants hat dafür das<br />
Restrukturierungsdreieck entwickelt:<br />
1 STRATEGISCHE RESTRUKTURIERUNG<br />
Ziel des strategischen Konzepts ist die exakte<br />
Positionierung des Unternehmens im Wettbewerb.<br />
Dabei stehen auf dem Prüfstand: das<br />
Businessmodell an sich, die strategische Ausrichtung<br />
(Kostenführerschaft vs. Diversifikation),<br />
Produkte und Märkte sowie die Ressourcen.<br />
Gemäß der Maxime „structure follows<br />
3<br />
Finanzielle<br />
Restrukturierung<br />
1<br />
Strategische<br />
Restrukturierung<br />
1 + 2 + 3 =<br />
4<br />
integrierte<br />
Businessplanung<br />
<strong>Der</strong> Weg zum Turnaround<br />
strategy“ müssen danach die Strukturen<br />
(Funktionen, Organisation, Wertschöpfungstiefe)<br />
auf die Zielvorgaben ausgerichtet werden.<br />
Schließlich folgt die Prozessoptimierung.<br />
2 OPERATIVE RESTRUKTURIERUNG<br />
Bei der operativen Restrukturierung genügt es<br />
nicht, die Kosten für Material, Personal und<br />
betrieblichen Aufwand zu senken. Erfolg hat,<br />
wer parallel einen kurzfristig steigenden<br />
Umsatz anstrebt („sales up!“). Diese ergebniswirksamen<br />
Maßnahmen können die Überschuldung<br />
abwenden.<br />
3 FINANZIELLE RESTRUKTURIERUNG<br />
Am Anfang steht, wie bei den anderen Elementen<br />
im Dreieck, die Bestandsaufnahme: Liegt<br />
eine Überschuldung vor, ist ein Insolvenzantrag<br />
nötig, wie hoch ist das Eigenkapital?<br />
Erstes Kernziel ist es nun häufig, die drohende<br />
Illiquidität zu vermeiden. Dazu ist der Bestand<br />
an liquiden Mitteln zu verbessern, müssen<br />
Forderungen abgebaut und Zahlungsziele optimiert<br />
werden. Je nach Lage sind auch die In-<br />
Restrukturierung als ganzheitlicher Prozess DOSSIER #04<br />
2<br />
Operative<br />
Restrukturierung<br />
IM AKUTEN KRISENFALL ZÄHLEN SCHNELLIGKEIT, ÜBERSICHT UND DIE ERKENNTNIS, DASS DIE REINE KOSTENSENKUNG NICHT ZUM ZIEL<br />
FÜHRT. AUCH WENN ES BRENNT, MÜSSEN UNTERNEHMEN JEDOCH SYSTEMATISCH VORGEHEN, ANSTATT IN PLANLOSEN AKTIVISMUS ZU<br />
VERFALLEN. GANZHEITLICHE RESTRUKTURIERUNG KULMINIERT DAHER IN EINER INTEGRIERTEN BUSINESSPLANUNG.<br />
vestitionen zu reduzieren. Um die Bilanzstruktur<br />
zu bereinigen, sind Stundungen, Umschuldungen<br />
oder ein Forderungsverzicht denkbar.<br />
Parallel greifen im Idealfall liquiditätswirksame<br />
Maßnahmen: Das Eigenkapital wird erhöht.<br />
Bankkredite, Gesellschafterdarlehen oder die<br />
Finanzierung etwa am Distressed-Debt-Markt<br />
verbessern die Fremdkapitalzufuhr. Auch Desinvestments<br />
sind nicht ausgeschlossen.<br />
4 INTEGRIERTE BUSINESSPLANUNG<br />
Alle drei Ebenen laufen in einer integrierten Businessplanung<br />
zusammen. Dazu gehört, eine klare<br />
Planungssystematik festzulegen (Zeitraum, Planungseinheiten,<br />
Konsolidierung, Rechnungslegung)<br />
und Prioritäten zu setzen. Unerlässlich ist<br />
eine detaillierte Planung für GuV, Bilanz, Liquidität<br />
und Cashflow; alle Kennzahlen müssen auf<br />
dem Tisch liegen. Auf diese Planung ist ein Controllingsystem<br />
aufzusetzen, das striktes Maßnahmenmanagement<br />
sowie laufendes Monitoring<br />
und Reporting umfasst. Über alldem steht die<br />
offene Kommunikation mit allen Beteiligten nach<br />
der Devise „Motivation statt Frustration“.<br />
41
p industry-report china betreibt stahlharte wirtschaftspolitik<br />
Mit stählernem Willen<br />
China wächst und baut. Zentraler Rohstofflieferant ist die Stahlbranche. Jetzt übernimmt die<br />
Regierung die Kontrolle über die zersplitterte Industrie. Das Ziel: einheimische Stahlkonzerne,<br />
die im Konzert der ganz Großen mitspielen.<br />
:<br />
Ein neuer Riese betritt die Bühne. Mitte<br />
August verkündeten die chinesischen<br />
Stahlfirmen Anshan Iron and Steel Group<br />
und Benxi Steel ihre Fusion. <strong>Der</strong> neue Koloss,<br />
die Anben Iron and Steel Group, vereint<br />
den zweit- und den zwölftgrößten nationalen<br />
Hersteller. Mit einer Produktionsmenge<br />
von 20 Millionen Tonnen bildet Anben<br />
einen Gegenpart zum bisher unangefochtenen<br />
Marktführer Baosteel. <strong>Der</strong> neue Zweikampf<br />
– auch das Rennen zweier ehrgeiziger<br />
Industriemanager: Liu Jie, der neue Vorsitzende<br />
von Anben, konkurriert künftig auf<br />
Augenhöhe mit der mächtigsten Frau in Chinas<br />
Industrie, Baosteel-Chefin Xie Qihua.<br />
Die Fusion könnte der Auftakt einer breiten<br />
Konsolidierungswelle gewesen sein. Die<br />
XIE QIHUA ist die Stahlbaronin<br />
Chinas. Ihr Unternehmen<br />
Baosteel produziert<br />
21 Millionen Tonnen Stahl pro<br />
Jahr, Tendenz steigend. Im<br />
Forbes-Ranking der mächtigsten<br />
Frauen der Welt belegte<br />
die 62-Jährige Rang 14.<br />
Regierung fordert und fördert weitere<br />
Zusammenschlüsse. Das ehrgeizige Ziel:<br />
China will bis 2010 drei Stahlunternehmen<br />
in den globalen Top Ten etabliert haben.<br />
Das Drängen auf Größe ist nicht zuletzt aus<br />
Profitabilitätsgründen sinnvoll, erklärt Frank<br />
Giarratani, Direktor des Center for Industry<br />
Studies an der Universität Pittsburgh: „Überkapazitäten<br />
sind das Haupthindernis auf<br />
dem Weg zu mehr Profitabilität.“ Größeren<br />
Firmen winken Rationalisierungserfolge.<br />
Außerdem „können sie flexibler auf Nachfrageschwankungen<br />
reagieren“.<br />
Das gilt nicht nur für Anben. Experten erwarten<br />
daher weitere Zusammenschlüsse.<br />
Die neuen, konsolidierten Stahlriesen dürften<br />
dabei effizienter sein als die bisherige<br />
Vielzahl kleiner Anbieter. China könnte damit<br />
einer Vision näher kommen, die schon<br />
vor einem Jahr erstmals die Branche elektrisierte:<br />
einer Dominanz auf den globalen<br />
Stahlmärkten. Als Chinas Stahlausfuhren im<br />
Dezember 2004 erstmals die Importe übertrafen,<br />
sahen Beobachter bereits einen<br />
neuen Exportweltmeister entstehen. Die<br />
Kapazitäten schienen unbegrenzt, vorangetrieben<br />
von mehr als 800 Herstellern. Weil<br />
die inländischen Stahlpreise niedriger<br />
waren als im Ausland, stiegen die Exporte<br />
innerhalb eines Jahres um mehr als 300 Prozent.<br />
Doch auch die Rohstoffpreise im<br />
Inland verdoppelten sich fast; der chinesische<br />
Verbraucher konnte sich langlebige<br />
Güter kaum noch leisten.<br />
Daher gibt der Staat nun vorerst die Losung<br />
aus: Das Inland kommt zuerst. Die Nachfrage<br />
dort ist riesig. Ein Wirtschaftswachstum<br />
von über neun Prozent hat Appetit auf Bau-,<br />
Produktions- und Infrastrukturprojekte geweckt.<br />
Die meisten brauchen Stahl. 320 Millionen<br />
Tonnen Flachstahl verbaut China pro<br />
Jahr – mehr als jedes andere Land. Und die<br />
Nachfrage dürfte weiter steigen. Das Brüsseler<br />
International Iron and Steel Institute<br />
(IISI) schätzt, Chinas Hunger auf Walzstahl<br />
werde bis Ende dieses Jahrzehnts auf 360<br />
bis 400 Millionen Tonnen steigen.<br />
Als Land ist China schon seit 1996 größter<br />
Stahlproduzent. Damals erreichte die Gesamtproduktion<br />
zum ersten Mal 100 Millionen<br />
Tonnen. Die Branche im Land veränderte<br />
sich, aus <strong>groß</strong>en Staatswerken wurden<br />
kleine Einheiten. Fast 900 Hersteller produzieren<br />
heute Stahl. Allerdings ist deren Effizienz<br />
gering und die Umweltbelastung hoch.
LIU JIE ist der Angreifer.<br />
Als Chef des neuen<br />
Stahlriesen Anben schließt<br />
er zu Baosteel auf. Angeblich<br />
will er sogar die acht<br />
größten Stahlproduzenten<br />
in Chinas Nordosten mergen.<br />
Den globalen Wettbewerbern<br />
dürften solche<br />
Pläne Respekt einflößen.<br />
Außerdem fiel der Stahlpreis auf Grund globaler<br />
Überkapazitäten in den vergangenen<br />
Monaten. Nicht zuletzt daher setzt die Regierung<br />
nun auf Zentralisierung. Und auf<br />
die Kraft einer zielgerichteten Währungspolitik.<br />
Den explodierenden Preisen für Eisenerz<br />
und Stahlfertigprodukte begegnete Peking<br />
mit einer zweiprozentigen Aufwertung.<br />
Im Inneren unterstützt die Regierung die<br />
Konsolidierung mit Staatsgeldern. Die oft<br />
veralteten Produktionsanlagen werden ersetzt,<br />
was auch hilft, die katastrophalen<br />
Umweltschäden einzudämmen. Außerdem<br />
arbeiten die Wirtschaftspolitiker mit Macht<br />
daran, die Produktion in den Küstenregionen<br />
des Nordostens zu konzentrieren.<br />
Aus offiziellen Statements zum jüngsten<br />
Zusammenschluss unter Chinas Stahlproduzenten<br />
spricht Selbstbewusstsein und der<br />
Hintergedanke, die eigenen Firmen für den<br />
Weltmarkt fit zu machen. „Die Fusion wird<br />
ihre Wettbewerbsfähigkeit und ihre Position<br />
auf dem internationalen Markt erheblich<br />
verbessern“, sagt Zhang Guobao, stellvertretender<br />
Minister in der National Development<br />
and Reform Commission (NDRC). Einen<br />
„besseren internationalen Stand“ verspricht<br />
sich auch Leo Bingsheng, stellvertretender<br />
Vorsitzender des chinesischen Eisen- und<br />
Stahlverbandes (CISA).<br />
Verlierer der neuen Stahlpolitik Pekings<br />
sind internationale Unternehmen mit<br />
Investmentblick nach China. Nur noch die<br />
ganz Großen dürfen – nach der neuen Richtlinie<br />
müssen Investoren mindestens zehn<br />
Millionen Tonnen pro Jahr produzieren.<br />
Erlaubt sind offiziell nur noch Minderheitsbeteiligungen.<br />
„Uns fehlt es weder an Marktpotenzial<br />
noch an Kapital oder Fachleuten“,<br />
sagt Liu Tienan, Direktor der Industrieabteilung<br />
der NDRC. „Wir sollten ausländische<br />
Investitionen also nicht blindlings aufsaugen.“<br />
Die weltgrößten Stahlfirmen rütteln<br />
aber weiter an den Toren chinesischer<br />
Unternehmen. Die indische Mittal Steel<br />
erhielt vor kurzem die Genehmigung, einen<br />
Anteil von 36,67 Prozent an der Hunan Valin<br />
Iron & Steel Group zu erwerben – kaum<br />
weniger als ursprünglich gewünscht.<br />
Gespräche mit der südchinesischen Kunming<br />
Steel laufen. Die globale Nummer<br />
zwei, Arcelor, verhandelt über den Kauf<br />
eines Anteils an der Laiwu Iron & Steel Co.<br />
Am liebsten hätte Arcelor-Chef Guy Dollé<br />
die Mehrheit. Eine Einigung erwartet er bis<br />
Jahresende. „Trotz der neuen Politik, Ausländern<br />
nur Minderheitsbeteiligungen<br />
zuzugestehen, denken wir, dass die Regierung<br />
im Fall von Arcelor eine Ausnahme<br />
machen könnte.“ Seine Hoffnung könnte<br />
„Die Fusionswelle verschafft<br />
Chinas Stahlbranche einen besseren<br />
internationalen Stand.“<br />
Leo Bingsheng, chinesischer Stahlverband<br />
begründet sein. Denn China will an das führende<br />
technologische Wissen heran, das der<br />
luxemburgische Stahlriese auf den Verhandlungstisch<br />
gelegt hat.<br />
Ein Spaziergang wird der Gang nach China<br />
für die westlichen Stahlkolosse aber nicht.<br />
Manager wie Xie Qihua sehen in ausländischen<br />
Investitionen primär eine Stärkung<br />
ihrer Unternehmen selbst. „Wir sind darauf<br />
vorbereitet“, sagt sie. Und von dem gerade<br />
„Wir sollten ausländische Investitionen<br />
nicht blindlings aufsaugen.“<br />
Liu Tienan, National Development and Reform<br />
Commission<br />
aufgestiegenen Liu Jie munkelt man, er<br />
habe den Plan, alle acht <strong>groß</strong>en Stahlwerke<br />
in Nordostchina zu vereinen.<br />
Gerade diese regionale Ballung könnte auch<br />
den Weg chinesischer Firmen auf die Weltmärkte<br />
beschleunigen. Denn ein solcher<br />
Cluster stärkt die nationale Branche – auch<br />
jenseits der höheren inneren Effizienz der<br />
Unternehmen. Frank Giarratani: „<strong>Der</strong> größte<br />
Vorteil liegt in der Nähe zu den Ausrüstungszulieferern.“<br />
Die Stahlproduzenten<br />
kommen so schneller und unkomplizierter<br />
an Ersatzteile und Maschinen. Dies gilt<br />
umso eher, je wettbewerbsfähiger die Zulieferindustrie<br />
wird. Giarratani sieht für sie das<br />
Potenzial, „zu einem eigenen exportorientierten<br />
Wirtschaftszweig anzuwachsen“.<br />
Noch ist die Entstehung eines Stahl-Clusters<br />
im Nordosten Zukunftsmusik. Klar ist<br />
jedoch: Wenn Liu Jie die Vision eines vereinten<br />
Großkonzerns hat, wird er alles<br />
daran setzen, sie auch umzusetzen. <strong>Der</strong><br />
stahlharte Wille jedenfalls ist da.<br />
43
pindustry-report healthcare<br />
44<br />
Von Singapur lernen<br />
Die Zukunft der Gesundheitsversorgung beschäftigt Politiker und Healthcare-Experten weltweit.<br />
Gefragt sind innovative Ansätze und Modelle mit Vorbildfunktion, wie der US-Experte<br />
Professor Thomas Aretz von Harvard Medical International im Gespräch mit think:act erläutert.<br />
THINK: ACT Professor Aretz, wenn man die<br />
Gesundheitssysteme weltweit vergleicht:<br />
Welches schneidet in puncto Qualität und<br />
Effizienz am besten ab?<br />
THOMAS ARETZ Die meisten Gesundheitssysteme<br />
bestehen aus einem Public-Private-Mix, einer<br />
Mischung aus „öffentlich“ und „privat“, „obligatorisch“<br />
und „freiwillig“. In den europäischen<br />
Staaten dominiert das Sozialversicherungsmodell,<br />
bei dem die Gesundheitsleistungen weit<br />
gehend durch einkommensabhängige Pflichtbeiträge<br />
von Arbeitnehmern und/oder Arbeitgebern<br />
finanziert werden. In den USA dagegen<br />
basiert das Healthcare-System in erster Linie<br />
auf Freiwilligkeit. Asien wiederum hat eine<br />
<strong>groß</strong>e Bandbreite von Modellen, die sich zum<br />
Teil sehr stark unterscheiden. Will man die<br />
Qualität der verschiedenen Healthcare-Systeme<br />
bewerten, muss man die unterschiedlichen<br />
Ebenen der Gesundheitsversorgung auseinander<br />
halten. Da gibt es die Qualität der öffentlichen<br />
Gesundheitsvorsorge, bei der das europäische<br />
und einige asiatische Systeme den<br />
USA überlegen sind. Wenn es jedoch um die<br />
individuelle Behandlung im Krankheitsfall<br />
geht, entscheidet die Qualität der einzelnen<br />
HARVARD MEDICAL International ist<br />
ein Ableger der Harvard Medical School mit<br />
Sitz in Boston, Massachusetts. Die 1994<br />
gegründete Organisation betreibt Ausbildungs-,<br />
Beratungs- und Forschungsprogramme<br />
in mehr als 30 Ländern. Zu den<br />
weltweiten Partnern im Healthcare-Bereich<br />
gehört auch die LMU Munich Medical International<br />
GmbH, eine Tochter der Ludwig-<br />
Maximilians-Universität München (LMU).<br />
Institutionen und Klinikbetreiber. Zieht<br />
man die Überlebensraten nach einer gestellten<br />
Diagnose heran, so dürfte hier das US-System<br />
überlegen sein. Außerdem muss man<br />
sehen, dass die Wirtschaftlichkeit oder Effektivität<br />
der Gesundheitssysteme sehr stark<br />
von den jeweiligen Erwartungen der Verbraucher<br />
abhängt. Blickt man allein auf<br />
die Ausgaben pro Kopf, zieht man leicht falsche<br />
Schlüsse.<br />
Es stimmt also nicht: Je höher die Ausgaben,<br />
desto gesünder die Bevölkerung?<br />
Man muss wissen, dass Gesundheitssysteme<br />
nur mit einem Anteil von zehn bis 15 Prozent<br />
zur Gesundheit einer Bevölkerung beitragen.<br />
Die wirtschaftliche Situation, das Niveau der<br />
Ausbildung, genetische Faktoren und die<br />
Umwelt sind oft viel wichtiger. Viele Studien<br />
haben gezeigt, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse<br />
und das Ausbildungsniveau schon<br />
für sich genommen Überleben und Gesundheit<br />
stark beeinflussen.<br />
Obwohl das amerikanische System die<br />
stärksten marktwirtschaftlichen Elemente<br />
hat, ist es keineswegs preiswerter: Bei den<br />
Gesundheitsausgaben liegen die USA eindeutig<br />
vorn.<br />
Das stimmt. <strong>Der</strong> letzten OECD-Statistik<br />
zufolge wurden in den USA im Jahr 2002 rund<br />
5300 US-Dollar pro Kopf für die Gesundheit<br />
aufgewendet, das sind fast 140 Prozent mehr<br />
als der OECD-Durchschnitt. Die Gesundheitsausgaben<br />
machen heute über 14 Prozent des<br />
amerikanischen Bruttoinlandsprodukts aus. In<br />
der Rangliste folgen die Schweiz und Deutschland<br />
mit jeweils rund elf Prozent. Nicht nur sie,<br />
sondern fast alle Industriestaaten stehen heute<br />
unter einem enormen Kostendruck. Das Problem:<br />
In den meisten Ländern steigen die Ausgaben<br />
für die Gesundheitsversorgung schneller<br />
als die Wirtschaftsleistung.<br />
Was sind die wichtigsten Gründe für die<br />
Kostenexplosion?<br />
Hauptverantwortlich ist der rasche Fortschritt<br />
der Medizin und der medizinischen Technik,<br />
verbunden mit stark gestiegenen Erwartungen<br />
der Öffentlichkeit an das Gesundheitssystem.<br />
Die Verbraucher stellen höhere Ansprüche an<br />
die Qualität der Versorgung und die medizinischen<br />
Standards. So gibt es seit einigen Jahren<br />
einen deutlichen Schub zur breiteren Verfügbarkeit<br />
aufwendiger diagnostischer Technologien<br />
wie der Computertomografie. Weitere<br />
Faktoren sind die immer älter werdende Bevölkerung<br />
und die wachsende Zahl chronisch<br />
Kranker. Alles das erhöht den Druck auf die<br />
Gesundheitsversorger. Angesichts solcher<br />
Herausforderungen und Probleme sind innovative<br />
Ansätze gefragter denn je.<br />
Welches Land könnte eine Vorbildfunktion<br />
haben?<br />
Eines der besten Systeme hat sicher Singapur.<br />
Auf der Suche nach dem optimalen Gesundheitssystem<br />
hat man dort zunächst alle bestehenden<br />
Modelle analysiert. Herausgekommen<br />
ist etwas ganz Neues: ein medizinisches Sparkonto<br />
für jeden Bürger. Dieses System, das derzeit<br />
auch in den USA und anderen Ländern<br />
ausprobiert wird, bietet den <strong>groß</strong>en Vorteil,<br />
dass es sehr transparent und für jeden leicht<br />
verständlich ist. Es beruht darauf, dass die<br />
Bürger sechs bis acht Prozent ihres Einkom-
mens auf ein Individualkonto des so genannten<br />
„Medi-Save“-Programms einzahlen. Von diesem<br />
Konto aus werden die anfallenden Arzt- und<br />
Krankenhauskosten beglichen. Darüber hinaus<br />
besteht die Möglichkeit, dieses Konto zu vererben<br />
und ab einer bestimmten Summe und<br />
einem gewissen Alter auch Auszahlungen zu<br />
tätigen, was nachweislich einen starken Anreiz<br />
zum verantwortlichen Umgang mit der Ressource<br />
Gesundheit darstellt. Bei Chronikern<br />
und Langzeitkranken sorgt der Staat für die<br />
Mindestdeckung des Gesundheitskontos.<br />
Gibt es ähnlich innovative Modelle auch<br />
in Europa?<br />
Sehr interessant ist das Reformmodell der<br />
Schweiz. Es wurde bereits in den neunziger<br />
Jahren entwickelt. In der Schweiz stehen heute<br />
mehr als 100 private, unabhängige Versicherungsunternehmen<br />
in regulierter Konkurrenz.<br />
Die Bürger haben freie Auswahl. Ein Solidarsystem<br />
sorgt dafür, dass es für alle Schweizer<br />
eine geregelte Basisversorgung gibt. Wer darüber<br />
hinaus Leistungen in Anspruch nehmen<br />
will, kann sich zusätzlich versichern. <strong>Der</strong> Staat<br />
beaufsichtigt nur noch, ob die Wettbewerber<br />
auf dem Gesundheitsmarkt die Qualität erbringen,<br />
um die gewünschten und notwendigen<br />
Leistungen auch zu erreichen.<br />
Am US-Modell wird kritisiert, es sei nicht<br />
besonders effizient und benachteilige die<br />
ärmeren Schichten ...<br />
Die USA besitzen mit Medicare das größte<br />
öffentliche Gesundheitssystem in der entwickelten<br />
Welt; es ist öffentlich, aber die Leistungen<br />
erfolgen privat, da es in den Staaten nur sehr<br />
wenige öffentliche Krankenhäuser gibt. Ent-<br />
vieles läuft falsch, in anderen bereichen ist das us-system unübertroffen industry-report f<br />
scheidend ist, dass sich das amerikanische System<br />
aus vielen, sehr unterschiedlichen Modellen<br />
zusammensetzt. Das macht die Sache so<br />
interessant für Studien. Neben den öffentlichen<br />
Systemen wie Medicare und Medicaid<br />
gibt es eine Vielzahl privater Versicherungen,<br />
außerdem <strong>groß</strong>e Gesundheitsorganisationen<br />
wie Kaiser Permanente oder Harvard Pilgrim<br />
Health mit mehreren Millionen Mitgliedern.<br />
Einige dieser Systeme funktionieren sehr gut.<br />
Natürlich ist nicht zu übersehen, dass es eine<br />
<strong>groß</strong>e Diskrepanz zwischen der Gesundheits-<br />
„In vielerlei Hinsicht kann man aus dem amerikanischen Healthcare-System<br />
gute und schlechte Lehren ziehen, man darf es nur<br />
nicht als ein in sich kohärentes System verstehen.“<br />
versorgung für Arme und Reiche, für Gebildete<br />
und Ungebildete gibt. In vielerlei Hinsicht<br />
kann man daher aus dem amerikanischen<br />
Healthcare-System gute und schlechte Lehren<br />
ziehen, man darf es nur nicht als ein in sich<br />
kohärentes System verstehen.<br />
Ist das amerikanische Modell effizienter als<br />
manches europäische System?<br />
Interessant ist hier eine Studie, die den National<br />
Health Service in Großbritannien mit dem kalifornischen<br />
„Kaiser Permanente“ verglichen hat.<br />
Heraus kam, dass die Gesundheitskosten pro<br />
Kopf und Jahr bei beiden Systemen in etwa dieselben<br />
waren, wobei die kalifornischen Patienten<br />
wesentlich kürzer im Krankenhaus blieben<br />
und schneller wieder ihre Arbeit aufnehmen<br />
konnten. Dies ist ein Beispiel für ein sehr gut<br />
funktionierendes System in den USA. Niemand<br />
würde verlangen, das amerikanische Modell in<br />
anderen Ländern einzuführen, aber einzelne<br />
Teile funktionieren sehr gut. Andere dagegen<br />
nicht. Es ist wie mit dem amerikanischen Bildungswesen:<br />
Vieles ist zwar falsch, aber gleichzeitig<br />
ist es in manchen Aspekten unübertroffen.<br />
H. THOMAS ARETZ, MD, ist Vice President<br />
for Education bei Harvard Medical International<br />
(HMI) und Associate Professor of Pathology an der<br />
Harvard Medical School. <strong>Der</strong> 58-jährige Mediziner<br />
verantwortet die internationalen Weiterbildungsprogramme<br />
von HMI und leitet zahlreiche Projekte<br />
vor allem in Asien und dem Mittleren Osten. Als<br />
Mitbegründer von drei Medizintechnikfirmen in<br />
den USA ist Aretz auch unternehmerisch aktiv.<br />
45
p industry-report trends und branchen<br />
46<br />
Zukunftsmärkte im Check<br />
Die Chemieindustrie setzt auf Biotechnologie, Brennstoffzellen versprechen mobiles Telefonieren<br />
ohne Ende, Spione haben bald schlechte Karten, und Drucker produzieren künftig reale Produkte.<br />
WEISSE BIOTECHNOLOGIE<br />
Erdöl ist ein wichtiger Rohstoff für die chemische<br />
Industrie. Da dessen Preise aber steigen, sind Alternativen<br />
gefragt. Größter Hoffnungsträger: die Biotechnologie. In den<br />
USA etwa will die chemische Industrie bis 2030 ein Viertel<br />
der organischen Grundstoffe aus nachwachsenden Rohstoffen<br />
erzeugen.<br />
Um Lösungsmittel, Lacke, Kleber und Kunststoffe erdölfrei<br />
herzustellen, muss die Industrie neue Prozesse entwickeln.<br />
Wichtig dabei: Enzyme, die mit Pilzen, Hefen oder<br />
Bakterien erzeugt werden. Schon heute machen die Bio-<br />
katalysatoren etwa Waschmittel leistungsfähiger. <strong>Der</strong> industrielle<br />
Einsatz von Enzymen firmiert daher auch unter<br />
„Weißer Biotechnologie“.<br />
Von deren Erfolg sind Experten überzeugt. So glaubt<br />
Steen Riisgaard, Vorsitzender des EuropaBio’s Industrial<br />
Biotechnology Council, die Weiße Biotechnologie werde für<br />
die Chemieindustrie zu einem wichtigen Rohstofflieferanten<br />
werden. Insgesamt, so schätzen Experten, dürften mit biotechnologisch<br />
erzeugten industriellen Produkten bis 2010<br />
jährlich 310 Milliarden Dollar Umsatz erzielt werden.<br />
umsätze der weltweiten chemieindustrie und anteil biotechnologischer verfahren (in mrd. euro)<br />
Segment Umsatz 2004 1) Umsatz 2015 1)<br />
Chemieprod. Biotechnolog. Anteil (%) Chemieprod. Biotechnolog. Anteil (%)<br />
insgesamt Verfahren insgesamt Verfahren<br />
Feinchemie 55 11 20 100 50 50<br />
Polymere 275 4 2 400 40 10<br />
Spezialitätenchemie 440 10 2 630 95 15<br />
Basischemie/Zwischenprod. 550 15 3 800 120 15<br />
Gesamt 1320 40 3 1930 2) 305 15<br />
QUANTENKRYPTOGRAFIE<br />
Die Quantenkryptografie verspricht eine absolut sichere<br />
Datenübertragung. Anders als klassische Verschlüsselungsverfahren<br />
beruht sie auf der Quantenphysik: Zur Vereinbarung<br />
eines Datenschlüssels dienen Lichtteilchen, so genannte<br />
Photonen. <strong>Der</strong> Sender versetzt mehrere Photonen<br />
nach dem Zufallsprinzip in die Zustände „0“ oder „1“ und<br />
schickt sie zum Empfänger, der den Zustand der Photonen<br />
misst. Anschließend vergleichen beide ihre Bitfolgen.<br />
Hacker oder Spione müssen zwangsläufig scheitern: Durch<br />
den Versuch des Abhören wird gemäß den Gesetzen der<br />
Quantenphysik die quantenmechanische Kopplung der Photonen<br />
zerstört. Erste Firmen vertreiben bereits kommerzielle<br />
Systeme auf dieser Basis. Die Grenze solcher glasfaserbasierten<br />
Konzepte liegt derzeit bei 150 Kilometern. Ein glo-<br />
1) Welt-Chemieumsatz<br />
ohne Pharmaumsatz,<br />
aber inklusive<br />
Vorprodukte, die bei<br />
Chemieunternehmen<br />
hergestellt werden<br />
2) Hochrechnung bei<br />
einem durchschnittlichen<br />
Wachstum von<br />
3,5 % p.a.<br />
Quelle: Festel Capital,<br />
April 2005<br />
bales System ist daher auf drahtlose Übertragung angewiesen.<br />
Die Forscher Christian Kurtsiefer und Harald Weinfurter<br />
tauschten schon 2002 einen Schlüssel per Satellit über<br />
23 Kilometer zwischen zwei Alpengipfeln aus. <strong>Der</strong>zeit leiden<br />
Satellitensysteme aber noch unter hohen Fehlerraten.<br />
Verschlüsselungsforschung in den Alpen: Mit dieser<br />
Versuchsanordnung erzielten Wissenschaftler einen<br />
Durchbruch in der Quantenkryptografie.<br />
ALICE<br />
Zugspitze (2950 m)<br />
BOB<br />
Westliche Karwendelspitze<br />
(2244 m)
3-D-DRUCK<br />
Ein per 3-D-Druck hergestellter<br />
Musterbau<br />
Drucken im 3-D-Format: Eine neue Technologie erlaubt es, in<br />
kurzer Zeit reale dreidimensionale Objekte zu erstellen („fabbing“,<br />
als Kurzform von „fabricating“). Die entsprechenden Drucker werden<br />
immer kostengünstiger und dürften bald das normale Büro<br />
erreichen. Die Technologie könnte die Welt des Designs und des<br />
Modellbaus revolutionieren: Designer und Architekten können in<br />
sehr kurzer Zeit eigene Modelle bauen („rapid prototyping“). Noch<br />
besser: Künftig werden nicht mehr nur Modelle gedruckt werden<br />
können, sondern sogar reale Produkte.<br />
Das Verfahren des dreidimensionalen Druckens ist einfach:<br />
Eine Walze rollt eine Schicht Pulver zehntelmillimeterdick über<br />
den Maschinentisch aus. Dann beginnt der Tintenstrahlkopf seine<br />
Fahrt, um flüssigen Binder zielgenau auf die angestaubte Oberfläche<br />
zu tropfen. Wo der Binder landet, verklebt er die mehlige<br />
Masse und zeichnet so eine gehärtete, zweidimensionale Kontur.<br />
Danach senkt sich der Maschinentisch um exakt eine Schichtdicke –<br />
der Vorgang beginnt von vorn. Schicht für Schicht gewinnt die<br />
Kontur an Höhe. Mit jedem Umlauf verfolgt der Druckkopf eine<br />
leicht abweichende Bahn, um die Schichten zu einem dreidimensionalen<br />
Gebilde zu stapeln. Löcher oder Hohlräume bleiben dort,<br />
wo er keinen Binder verteilt. Das dort unverklebte Pulver wird<br />
später mit Pressluft weggeblasen. Übrig bleibt das fertige Modell.<br />
<strong>Der</strong> Markt für 3-D-Drucker nimmt bereits langsam Fahrt auf.<br />
„Im Jahr 2004 wurden schätzungsweise 1970 3-D-Printer weltweit<br />
verkauft“, sagt Branchenexperte Terry Wohlers. „Die Umsätze<br />
verdoppelten sich jährlich, ebenso wie die Stückzahlen.“ Verändern<br />
dürfte die Technologie aber nicht nur den Druckermarkt,<br />
sondern die Welt der Produktion insgesamt. Die Einspareffekte<br />
der Technologie sind <strong>groß</strong>: Motorola etwa konnte die Entwicklungszeit<br />
für sein Modell V70 um ein Drittel reduzieren. Und die<br />
Möglichkeiten der Herstellung realer Produkte sind bisher noch<br />
gar nicht voll absehbar. Quelle: WinterGreen Research<br />
trends und branchen industry-report f<br />
MIKRO- BRENNSTOFFZELLEN<br />
Notebooks, PDAs und Mobiltelefone bieten<br />
immer komplexere Funktionalitäten. Größere<br />
Displays und „always on“-Mobilfunkstandards<br />
wie UMTS werden zur Norm. Damit sinkt<br />
trotz zunehmender Energieeffizienz die Nutzungsdauer.<br />
Mikro-Brennstoffzellen können<br />
diese verlängern.<br />
Das Prinzip: Zwei Elektroden werden durch<br />
eine Membran getrennt. Am Minuspol wird<br />
Methanol in freie Wasserstoffionen und<br />
Elektronen gespalten. Die Ionen wandern durch<br />
die Membran zum Pluspol, die Elektronen nehmen<br />
den Weg über eine externe Leitung. Hier<br />
fließt Strom. Ist das Methanol verbraucht, kann<br />
der Tank ausgewechselt werden.<br />
Erste Prototypen können ein Notebook zehn<br />
Stunden lang mit Energie versorgen – sechs<br />
Stunden länger als handelsübliche Akkus.<br />
Künftige Produkte liefern genug Energie für<br />
mehrere Tage Nutzung und viele Wochen<br />
Standby-Betrieb. In rund zwei Jahren sollen die<br />
ersten Zellen marktfähig sein. Vor allem japanische<br />
Unternehmen wie Toshiba arbeiten mit<br />
Hochdruck an der Markteinführung.<br />
der weltmarkt für mikro-brennstoffzellen<br />
Zellen<br />
(in 1.000)<br />
Preis pro<br />
Stück (in $)<br />
Weltmarkt<br />
(in Mrd. $)<br />
Wachstum<br />
(in %)<br />
2005 2006 2007 2008 2009<br />
1 32 1003 22 432 71453<br />
400 250 74,8 22,4 17,9<br />
0,4 8,0 75,0 501,4 1276,0<br />
n.a. 2566,7 837,5 568,5 154,5<br />
47
zu schnelle personalwechsel schaden der stabilität – in unternehmen und auf yachten business-culture f<br />
: Segeln und Management pflegen eine<br />
enge Beziehung. Viele Unternehmer<br />
segeln selbst; der globale Segelsport ist ein<br />
handfestes Geschäft. Die wichtigste Verbindung<br />
jedoch: Das Führen und Lenken eines<br />
Bootes ist eine komplexe Managementaufgabe.<br />
Entscheider in Unternehmen können<br />
von erfolgreichen Skippern einiges lernen.<br />
LEADERSHIP MACHT DEN UNTERSCHIED.<br />
JEDES TEAM FUNKTIONIERT NUR MIT EINEM<br />
KAPITÄN, DER DIE FÄDEN IN DER HAND HÄLT.<br />
Die Erfolgsfaktoren des Mikrokosmos Boot:<br />
Führung, Strategie und die Arbeit im Team.<br />
Die zwölf Mannschaften beim bekanntesten<br />
Segelturnier der Welt, dem America’s Cup,<br />
starten unter nahezu identischen Voraussetzungen.<br />
Erfolg haben da nur Teams,<br />
deren Kapitäne alle Fäden fest in der Hand<br />
halten und so einen reibungslosen Ablauf<br />
garantieren.<br />
Die Kapitäne treffen auf See permanent Entscheidungen,<br />
die sich sofort und direkt auf<br />
den Kurs des Bootes und den Abstand zu<br />
den Wettbewerbern auswirken – eine<br />
besondere Verantwortung. Einer der weltweit<br />
renommiertesten Skipper ist Jesper<br />
Bank, Steuermann des United Internet Team<br />
„Wer sein Ziel ständig ändert, kann nicht mehr richtig führen.“<br />
Jesper Bank<br />
Gut ist, wenn der Skipper schweigt<br />
Das Umfeld ist rau, die Konkurrenz hart, Entscheidungen müssen binnen Sekunden fallen. Das<br />
kennen Sie. Die Rede ist hier jedoch nicht vom Management, sondern vom Segeln. Erfolgssegler<br />
wie Jesper Bank haben mit erfolgreichen Managern einiges gemein. Ein Lehrstück auf hoher See.<br />
Germany (UITG). Bank führt das jüngste<br />
Team im America’s Cup. Im Juli fuhr die<br />
Crew ihre erste Qualifikationsregatta. Komplett<br />
fertig gestellt ist das Boot erst im April<br />
2006. Die UITG-Crew ist eine Mischung<br />
erfahrener Segelprofis und Newcomer aus<br />
sechs Nationen. Banks Job: aus der heterogenen<br />
Crew schnell eine Einheit formen,<br />
die 2007 beim nächsten America’s Cup möglichst<br />
weit nach vorn segelt.<br />
Dafür braucht Bank ein hoch motiviertes<br />
Team. Wichtig sind dafür nicht zuletzt<br />
„klare Ziele“. Ohne Ziele schaffen es auch<br />
Weltklassesegler nicht, sich komplett auf die<br />
Aufgabe zu konzentrieren und die letzten<br />
Leistungsreserven abzurufen. Bank setzt<br />
diese Ziele. In <strong>groß</strong>en Unternehmen vermisst<br />
der Skipper ähnlich klare Vorgaben<br />
gelegentlich. Ein von der Geschäftsführung<br />
angestrebter Bilanzgewinn beispielsweise<br />
habe für die Arbeit des Mitarbeiters keine<br />
direkte Relevanz. Jedoch müssen Ziele konkret<br />
und für jeden verständlich sein, um zu<br />
Höchstleistungen anzustacheln.<br />
Außerdem, so Bank, funktionieren sie nur<br />
dann als Motivator, wenn sie nicht permanent<br />
geändert werden. „An einem Ziel muss<br />
man so lange festhalten, wie es überhaupt<br />
geht.“ Wenn sich die Voraussetzungen geändert<br />
haben, könne man bis zu einem gewissen<br />
Grad reagieren, sollte aber trotzdem das<br />
Ziel beibehalten. „Wer sein Ziel ständig<br />
ändert, kann nicht mehr richtig führen.<br />
Wenn sich externe oder interne Parameter<br />
anders darstellen, dann geht es darum, die<br />
neuen Voraussetzungen zu kommunizieren,<br />
aber auch klar zu sagen, dass sich die Ziele<br />
nicht geändert haben.“<br />
Die Bedeutung von Kontinuität rührt nicht<br />
zuletzt daher, dass erfolgreiche Crews von<br />
langfristigen Universalwerten geleitet werden.<br />
Die wichtigsten Werte für Bank: Loyalität<br />
und Vertrauen. Ein Skipper muss darauf<br />
bauen können, dass jeder im Team den anderen<br />
absolut vertraut und loyal ist – und aktiv<br />
darauf hinarbeiten. Dabei reiche es nicht, die<br />
Werte „einfach auf eine Tafel zu schreiben“.<br />
Sie müssen tief in jedem Einzelnen verankert<br />
werden. Das dauert. Ein einmal aufgebautes,<br />
von allen geteiltes Wertesystem aber stellt<br />
einen echten Wettbewerbsvorteil dar.<br />
Ein weiterer zentraler Faktor ist die Stabilität<br />
im Team. Bank hält nichts von schnellen<br />
Personalentscheidungen. „Wenn einer<br />
seine Leistung momentan nicht bringt, sollte<br />
man sehr genau abwägen, ob man ihn<br />
49
p business-culture in segelteams muss jeder multitaskingfähig sein<br />
50<br />
auswechselt oder ihm hilft, auf das geforderte<br />
Niveau zu kommen oder sich besser<br />
zu integrieren.“ Im Unternehmen würden<br />
Mitarbeiter, die ihre Leistung nicht bringen<br />
oder nicht ins Team passen, oft zu schnell<br />
hinausgeworfen. „Dadurch verliert man das<br />
Vertrauen im Team und zerstört das notwendige<br />
Zugehörigkeitsgefühl.“<br />
Stabilität erfordert auch eine reibungslose<br />
Arbeitsteilung. Doch trotz Spezialisierung<br />
müssen die Crewmitglieder auch Eigenschaften<br />
mitbringen, die sie unabhängig von<br />
ihrer Profession einsetzen können. Natürlich<br />
muss jeder an Bord ein herausragender<br />
Segler sein. Zusätzlich aber müssen Experten<br />
wie Hydrauliktechniker oder Designer<br />
auch an Land handwerkliche Tätigkeiten<br />
leisten. „Bei uns hat man immer zwei Jobs.“<br />
VERBALER AUSTAUSCH FINDET FAST AUS-<br />
SCHLIESSLICH AN LAND STATT. AN BORD<br />
HERRSCHT, WENN ALLES GUT GEHT, SCHWEIGEN.<br />
Sehr spezifisch gestaltet sich im Segeln die<br />
Kommunikation. Verbaler Austausch findet<br />
fast ausschließlich an Land oder auf den<br />
Trainingsfahrten statt. Dort spielen Taktik<br />
und Strategie eine <strong>groß</strong>e Rolle, werden Prozesse<br />
durchgesprochen und eingeübt. Vor<br />
allem das Trimmen, also die permanente<br />
Justierung der Segelstellung, ist ein ständiger<br />
Lernprozess, der durch Briefings und<br />
Rebriefings optimiert werden muss. In so<br />
genannten „Kommunikationsloops“ tauschen<br />
sich die an bestimmten Handlungen<br />
beteiligten Mitglieder der Crew unter Beteiligung<br />
von Steuermann oder Taktiker aus.<br />
Bei der Regatta selbst benötigt die Mannschaft<br />
für geplante Abläufe dann nicht viel<br />
Verständigung. Kommuniziert wird meist<br />
nur zwischen Taktikern und Strategen, zentralen<br />
Leuten im Cockpit und auf dem Vordeck.<br />
Ansonsten herrscht Schweigen – zu-<br />
TEAM MIT FESTEN ROLLEN<br />
AN BORD EINER YACHT hat jeder klare<br />
Verantwortungen. Hier einige Akteure und<br />
ihre Aufgaben.<br />
DER VORDECKMANN, auch Schiffsaffe<br />
genannt, kümmert sich um das Setzen und<br />
Bergen der Segel und hilft am Mast aus.<br />
DER SEGELPACKER verbringt die meiste<br />
Zeit unter Deck, packt Segelsäcke und<br />
bereitet die Segel auf ihren Einsatz vor.<br />
DER MASTMANN setzt den Baum des Spinnakers<br />
(Vorsegel) und unterstützt beim<br />
Segelwechsel den Pitman sowie das Grinder-Team<br />
beim Wenden und Halsen.<br />
DER PITMAN reißt die Segeltaue (Fallen)<br />
und koordiniert die Kommunikation auf<br />
dem Vorschiff beim Segelwechsel.<br />
DIE GRINDER sind die kräftigsten Männer<br />
an Bord. Durch kräftiges Kurbeln setzen<br />
oder trimmen sie die Segel.<br />
DIE TRIMMER sind dafür verantwortlich,<br />
die Segel in die optimale Stellung zum Wind<br />
zu bringen und ihnen das bestmögliche<br />
Profil zu verleihen, um eine maximale<br />
Geschwindigkeit zu gewährleisten.<br />
DER TAKTIKER empfiehlt Kursänderungen<br />
und beobachtet zusammen mit dem<br />
STRATEGEN das gegnerische Boot.<br />
DER NAVIGATOR bestimmt die genaue<br />
Position des Bootes auf dem Kurs und im<br />
Verhältnis zum Gegner.<br />
DER RUNNER stellt die hinteren Stahlseile<br />
(Backstage) ein und stimmt sich mit<br />
Steuermann und Trimmern ab, um den<br />
Mast so zu trimmen, dass dieser die richtige<br />
Krümmung erhält und die Segel das<br />
gewünschte Profil bekommen. Ein Fehler<br />
kann den Mast kosten.<br />
mal gegnerische Boote jeden Austausch an<br />
Bord mithören.<br />
Auch den Skipper hört man im Idealfall<br />
kaum. Bank: „Wenn der Skipper schweigt, ist<br />
alles unter Kontrolle.“ Ist eine Regatta aber<br />
sehr eng, steht ein Manöver an oder muss<br />
ein Fehler korrigiert werden, übernimmt er<br />
die ganze Führung und gibt dann auch<br />
schon mal schnelle und präzise Anweisungen.<br />
Die Autorität des Skippers untergräbt<br />
seine oft zurückgenommene Haltung nicht.<br />
Nur der Mann am Steuer weiß in jeder<br />
Situation, wie sich das Boot tatsächlich bewegt.<br />
Nur er hat daher das Sagen. Zwar beschreibt<br />
Ernesto Bertarelli, Teamchef der in<br />
diesem Jahr siegreichen Schweizer Yacht<br />
Alinghi, sein Team als „Familie“. Für Bank ist<br />
das jedoch kein Widerspruch zum Skipper<br />
als Autorität: Auch in einer Familie wisse man,<br />
„wer letztendlich die Entscheidungen trifft“.<br />
Genau das sei der <strong>groß</strong>e Vorteil der Alinghi<br />
gewesen: „Jeder wusste, dass am Ende Skipper<br />
Russel Coutts die Entscheidung traf.“<br />
Doch wo entschieden wird, machen Menschen<br />
Fehler. <strong>Der</strong> Skipper des UITG hat dazu<br />
seine eigene Philosophie: „Ich fühle mich als<br />
Sparringspartner in einem konstruktiven Prozess.<br />
Wenn man auf diesem sehr hohen<br />
Niveau segelt, sind Fehler notwendig, sonst<br />
verbessert man sich nicht.“<br />
Was nicht heißt, dass keinesfalls ein Teammitglied<br />
ausgewechselt werden muss. Erst kürzlich<br />
wurde der Taktiker der Oracle, John<br />
Kostecki, entlassen. „Wichtig ist in einem solchen<br />
Fall, dass jeder versteht, wie es ab sofort<br />
weiterlaufen soll. Nach einer solchen Entscheidung<br />
muss sofort für Transparenz<br />
gesorgt werden, um das Vertrauen der Mannschaft<br />
nicht zu verlieren.“<br />
Kosteckis Entlassung war das Resultat einer<br />
seglerischen Schlappe. Larry Elison, CEO des<br />
Softwarehauses Oracle und Teamchef von<br />
BMW Oracle, hatte 2003 die Besten der Besten<br />
versammelt – und wurde nur Zweiter. Für<br />
Bank ein Beleg dafür, dass die seglerischen<br />
Fähigkeiten der Crewmitglieder nicht allein<br />
den Ausschlag geben: „Es ist wichtiger, dass<br />
wir das Team stabilisieren, als dass wir<br />
17 Weltklassesegler an 17 Positionen haben.“<br />
Die Stabilität im Team ist vor allem auch<br />
daher entscheidend, da sich der America’s Cup<br />
über mehrere Wochen hinzieht. Erfolgreiche<br />
Leader wissen, wie sie im Team Spannung und<br />
gute Stimmung aufrechterhalten. Eine zentrale<br />
Rolle spielt dabei die Öffentlichkeit: „Man<br />
sollte wissen, wie man mit der Öffentlichkeit,<br />
der Presse und Sponsoren kommuniziert.“ Nur<br />
wer sich nach außen geschlossen präsentiert,<br />
hält innen Ordnung und Dynamik hoch. Auch<br />
das gilt für Skipper wie für Vorstände.
DT_2_20_05_110_Wachstum_02.qxd 05.10.2005 15:31 Uhr Page 1<br />
Mehr Informationen unter www.springeronline.com<br />
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p business-culture mba<br />
52<br />
Ist der<br />
MBA ein<br />
Auslaufmodell?<br />
Alle kennen ihn, viele<br />
Manager haben ihn: den<br />
Master of Business Administration<br />
(MBA). Jetzt<br />
aber spricht sich mit<br />
Henry Mintzberg erstmals<br />
ein bekannter Managementdenker<br />
gegen den<br />
MBA aus. Lesen Sie Mintzbergs<br />
Kritikpunkte – und<br />
was Seán Meehan, Leiter<br />
eines der erfolgreichsten<br />
MBA-Programme, ihm<br />
erwidert.<br />
�<br />
Herkömmliche MBA-Programme, die<br />
als Ausbildungsgänge für angehende<br />
Manager konzipiert sind, richten sich an die<br />
falschen Leute und verwenden die falschen<br />
Methoden, mit schädlichen Folgen. <strong>Der</strong><br />
Versuch, jemandem die Kunst des Managements<br />
beizubringen, der noch nie eine Führungsposition<br />
innehatte, ist vergleichbar<br />
damit, jemanden in Psychologie zu unterrichten,<br />
der noch nie einen anderen Menschen<br />
getroffen hat. Unternehmen sind<br />
komplizierte Gebilde. Sie zu lenken ist ein<br />
schwieriges Unterfangen, das mit vielen<br />
Grautönen durchsetzt ist und auf einer Menge<br />
versteckter Einsichten beruht, die sich<br />
nur aus dem Kontext erschließen. Wer Menschen,<br />
die selbst nie geführt haben, Manage-<br />
� Hört auf den Markt! Auf der ganzen<br />
Welt fallen die Bewerberzahlen für Studienplätze<br />
in MBA-Programmen, und zwar<br />
bereits seit drei oder vier Jahren. Dies könnte,<br />
zusammen mit der vehementen Kritik<br />
von Henry Mintzberg, zu einer Vertrauenskrise<br />
in dem bereits unsicheren Markt führen.<br />
Aber ist die Lage so schlimm, wie sie auf<br />
den ersten Blick aussieht?<br />
Den altehrwürdigen Abschluss des „Master<br />
of Business Administration“, den nach wie<br />
vor Hunderttausende hoch begabter Kandidaten<br />
Jahr für Jahr anstreben, gibt es seit Anfang<br />
des 20. Jahrhunderts. Er hat auch früher<br />
heftige Angriffe überstanden und wird<br />
sie auch jetzt überstehen. Vehemente Zweifel<br />
an Wert und Anwendbarkeit von MBA-<br />
Programmen sind nichts Neues. Schon 1959<br />
erschienen erste MBA-kritische Artikel.<br />
ment beibringen möchte, verschwendet<br />
nicht nur seine Zeit, sondern würdigt die<br />
Kunst des Managements herab.<br />
Die festgelegten Aufgaben in einem Unternehmen<br />
können zumeist Spezialisten übertragen<br />
werden; die Manager müssen sich<br />
nicht unmittelbar mit ihnen befassen. Ihnen<br />
bleibt es weit gehend überlassen, sich mit<br />
dem Unübersichtlichen zu beschäftigen –<br />
mit heiklen Problemen und komplizierten<br />
Zusammenhängen. Das ist der Grund dafür,<br />
dass die Managementpraxis so oft mit<br />
Etiketten wie Erfahrung, Intuition, Urteilsfähigkeit<br />
und Weisheit in Verbindung<br />
gebracht wird. Eine erfolgreiche Managerin<br />
beschrieb mir ihren Mann, einen MBA-Absolventen,<br />
mit den Worten: „Er beherrscht<br />
ANSATZ WIRKLICH FALSCH?<br />
Die kritischen Stimmen von heute implizieren<br />
zwei Dinge: a) Die gesamte MBA-Ausbildung<br />
und insofern auch die vorherrschende<br />
Gestaltung des Studiengangs beruhe auf einem<br />
falschen Ansatz. b) Die Lage sei deshalb<br />
so beklagenswert, weil die Professoren<br />
– wie sollte es auch anders sein – sich auf<br />
das konzentrierten, was am stärksten belohnt<br />
werde: nämlich die wissenschaftliche<br />
Erforschung von Themen, die zu theoretisch<br />
und von der wirtschaftlichen Praxis zu weit<br />
entfernt sind, um für die Studierenden von<br />
Nutzen zu sein. Am angeblich so schlecht<br />
funktionierenden Modell werde sich auch<br />
nichts ändern, weil die Lehrkräfte an den<br />
Business-Schools keinen Grund hätten, auf<br />
die veränderte Marktsituation zu reagieren.<br />
Zugegeben: Faktisch ist der MBA heute
die Techniken, glaubt, alles besser zu wissen.<br />
Dennoch ist er frustriert, denn er versteht<br />
die Vielschichtigkeiten und widerstreitenden<br />
Interessen nicht. Er meint, die richtigen<br />
Antworten zu kennen, ist aber unzufrieden,<br />
weil ihm dieses Wissen nichts nützt.“ Er hat<br />
auf der Business-School eben kein Management<br />
gelernt.<br />
WIR ANALYSIEREN UNS ZU TODE<br />
<strong>Der</strong> alte Witz, wonach MBA die Abkürzung<br />
für „Management by Analysis“ sei, ist in<br />
Wirklichkeit gar keiner. Dem New Oxford<br />
Dictionary of English zufolge ist Analyse<br />
„der Vorgang des Zerlegens einer Sache in<br />
ihre Bestandteile“. MBA-Programme beschäftigen<br />
sich mit dem Zerlegen von Ideen<br />
nicht perfekt. Aber er ist auch bei weitem<br />
nicht so problembelastet, wie Mintzberg<br />
behauptet. Und der vermeintlich akute<br />
Mangel an Reaktionsfähigkeit ist längst<br />
nicht so allgemein verbreitet, wie man gelegentlich<br />
liest.<br />
JA!<br />
ANALYSE IST WICHTIG!<br />
Mintzberg treibt die Sorge um, dass die falschen<br />
Leute falsch ausgebildet werden<br />
könnten – mit entsprechend negativen Folgen.<br />
Mit den falschen Leuten meint er Studierende<br />
ohne jede Praxiserfahrung. An der<br />
IMD bevorzugen wir zwar erfahrene MBA-<br />
Kandidaten, doch halten wir die alternativen<br />
Entscheidungen anderer Universitäten<br />
nicht für weniger sinnvoll. Einige der größten<br />
und bekanntesten MBA-Studiengänge<br />
der Welt fahren sehr gut damit, den Schwer-<br />
HENRY MINTZBERG ist Cleghorn Professor<br />
of Management Studies an der McGill<br />
University in Montreal, Kanada. Er wurde von<br />
der Academy of Management im Jahr 2000<br />
zum „Distinguished Scholar“ ernannt und<br />
1995 mit dem George R. Terry Award für das<br />
beste Buch des Jahres ausgezeichnet<br />
(„The Rise and Fall of Strategic Planning“).<br />
SEÁN MEEHAN ist Martin Hilti Professor<br />
of Marketing and Change Management an<br />
der Managementschmiede IMD in Lausanne.<br />
Er leitet das MBA-Programm der IMD, das<br />
von internationalen Personalagenturen im<br />
Wall Street Journal weltweit an Nummer eins<br />
gesetzt wurde.<br />
mba business-culture f<br />
�<br />
in Einzelteile, also mit dem Lösen dieser<br />
Teile von einer Gesamtheit. Die Betriebswirtschaftslehre<br />
wird dadurch zu einer Ansammlung<br />
von Funktionsbereichen,<br />
Strategie zu einem Bündel von Strategiegattungen;<br />
selbst Menschen verwandeln sich in<br />
Analysegegenstände. <strong>Der</strong> Kern des Managements<br />
liegt aber in der Synthese. Manager<br />
müssen innerhalb ihres eigenen Kontexts<br />
Dinge zusammenfügen und daraus schlüssig<br />
Visionen, in sich geschlossene Unternehmen<br />
und integrierte Systeme entwickeln. Darin<br />
liegt die Schwierigkeit, aber auch die Faszination<br />
des Managements. Natürlich müssen<br />
Manager auf Analyse zurückgreifen, doch sie<br />
benötigen diese als Rohstoff, um auf dieser<br />
Grundlage zu einer Synthese zu gelangen –<br />
�<br />
punkt auf analytische Kenntnisse zu legen.<br />
Sie haben die Finanz- und Beratungsbranchen<br />
mit jungen, hoch qualifizierten,<br />
äußerst produktiven Absolventen<br />
versorgt. Aus denen wurden dann<br />
hervorragende Manager und<br />
Führungskräfte von Unternehmen,<br />
die nicht nur in ihrer<br />
jeweiligen Sparte, sondern<br />
für Wirtschaft und Gesellschaft<br />
als Ganzes eine wichtige<br />
Rolle spielen; manche<br />
über den Einstieg als Berater und<br />
Finanzdienstleister, die meisten jedoch<br />
in der Industrie.<br />
Wirklich erfolgreiche MBA-Programme haben<br />
alle eines gemeinsam: Sie kennen ihre<br />
Kunden gut und bieten ihnen einen realen<br />
Mehrwert. Es geht überhaupt nicht darum,<br />
NEIN!<br />
53
p business-culture henry mintzberg meint, mbas überschätzten die analyse<br />
54<br />
� hier liegt der wirklich schwierige<br />
Teil ihrer Aufgabe. Wer Analyse<br />
ohne Synthese lehrt, reduziert Management<br />
auf ein fleischloses Gerippe, so, als würde<br />
man den menschlichen Körper als Ansammlung<br />
von Knochen betrachten: ohne<br />
Sehnen und Muskeln, Fleisch und Blut,<br />
Seele und Geist.<br />
Die Frage bleibt offen, wo die Synthese herkommen<br />
sollte. Die übliche herablassende<br />
Antwort lautet: von den Studenten. Die würden<br />
alles schon zusammenfügen. Man kann<br />
das als IKEA-Modell der betriebswirtschaftlichen<br />
Ausbildung betrachten: Die Universität<br />
liefert die Bausteine im handlichen Format,<br />
und die Studenten übernehmen die<br />
Montage. Leider vergessen die Schulen, die<br />
�<br />
die wirtschaftswissenschaftliche<br />
Ausbildung oder die Managemententwicklung<br />
im Unternehmen einer bestimmten<br />
Elite vorzubehalten, sei jene nun jung<br />
oder alt, auf dem Arbeitsmarkt erfahren<br />
oder nicht. Aber: Die Ausbilder müssen ihr<br />
MBA-Programm konsequent am Bedarf der<br />
Zielstudenten orientieren. Meine Meinung<br />
zu Mintzbergs These von den „falschen Methoden“<br />
ist: Warum muss man so dogmatisch<br />
sein? Man sollte das einhalten, was man versprochen<br />
hat. So stützt sich die Value-Proposition<br />
des IMD, „Leadership-Development“,<br />
auf eingehende Marktforschung und klare<br />
Bedarfsanalyse unserer Partnerunternehmen.<br />
Wir liefern unseren Studenten eine Erfahrung,<br />
nicht nur analytisches Wissen oder<br />
Aktenordner voller Faustregeln, Checklisten<br />
oder einfacher Patentlösungen.<br />
Montageanleitung mitzuliefern. Schlimmer<br />
noch: Die Bausteine passen überhaupt nicht<br />
zusammen. Sie mögen hübsch aussehen,<br />
doch sie lassen jegliche Ordnung vermissen.<br />
Und die Studenten wissen nicht, was sie<br />
überhaupt bauen sollen, denn das hängt von<br />
der jeweiligen Situation ab, und Situationen<br />
gibt es im Hörsaal nicht – und wenn, dann<br />
mehrere täglich in Fallstudien. Wirkliches<br />
Management gleicht eher einem Lego-Spiel –<br />
es gibt unzählige Möglichkeiten, die Bausteine<br />
zusammenzufügen, und für die wirklich<br />
interessanten Bauten benötigt man Zeit.<br />
AUSGEWOGEN AUSBILDEN!<br />
Um beurteilen zu können, welchem Managementstil<br />
die Absolventen von MBA-Pro-<br />
Welche Erfahrung man mit dem MBA-Studium<br />
macht, hängt auch nicht nur von den<br />
Lehrmethoden ab. Genauso entscheidend ist<br />
die Zusammensetzung des Jahrgangs. Diese<br />
ist wichtig, weil die Teilnehmer in Seminargesprächen<br />
und Teamprojekten genauso<br />
viel voneinander lernen sollen wie von den<br />
Lehrkräften. Unsere Aufgabe ist es, aus<br />
90 jungen Führungskräften die bestmögliche<br />
Gruppe zu bilden. Unsere momentanen<br />
Studenten stammen aus 36 Ländern, können<br />
jeweils auf sieben Jahre internationale Praxiserfahrung<br />
zurückblicken und sind vor<br />
allem vom Hunger getrieben, wirklich etwas<br />
zu bewegen. Nebenbei entwickeln sie ein<br />
starkes Netzwerk an Verbindungen zu Menschen,<br />
die sie eine ganze Karriere lang um<br />
Rat fragen können. Deswegen würde ich<br />
jedem MBA-Studenten raten, sein Studium<br />
„MBA-Programme<br />
beschäftigen sich mit<br />
dem Zerlegen der<br />
Probleme in Einzelteile.<br />
<strong>Der</strong> Kern des<br />
Managements liegt<br />
aber in der Synthese.“<br />
Henry Mintzberg<br />
„Erfolgreiche MBA-<br />
Programme haben<br />
eines gemeinsam: Sie<br />
kennen ihre Kunden<br />
und stellen ihnen<br />
einen realen Mehrwert<br />
zur Verfügung.“<br />
Seán Meehan
grammen zuneigen, ist es hilfreich, Managementpraxis<br />
als Verbindung aus Kunst,<br />
Handwerk und Wissenschaft zu betrachten.<br />
Meine These lautet, dass erfolgreiches Management<br />
eine ausgewogene Kombination<br />
aller drei Dimensionen erfordert, die MBA-<br />
Ausbildung sich jedoch nur auf eine Dimension<br />
konzentriert und dadurch die Managementpraxis<br />
verzerrt. Kunst fördert die<br />
Kreativität, woraus Einsichten und Visionen<br />
entstehen. Wissenschaft wirkt durch ihre<br />
systematischen Analysen und Bewertungen<br />
ordnend. Handwerk wiederum schafft<br />
Verbindungen, die sich auf konkrete Erfahrungen<br />
gründen.<br />
Die drei Dimensionen müssen nicht in<br />
einem vollständigen Gleichgewicht zuein-<br />
rund um die eigenen Ziele zu konzipieren.<br />
Möglicherweise ist die von mir bereits angesprochene<br />
Marktforschung der Schlüssel zu<br />
allem. Die mangelnde Fähigkeit, auf veränderte<br />
Nachfragebedingungen einzugehen,<br />
ist wirklich ein Problem. Doch das müsste<br />
nicht so sein. An dieser Stelle möchte ich<br />
nun doch einmal dogmatisch werden: Man<br />
muss seine Märkte kennen! Erhebungen im<br />
MBA-Programm der IMD kommen zu einem<br />
eindeutigen Ergebnis: Unsere Partnerunternehmen<br />
wünschen sich Absolventen, die<br />
es bereits als Führungskräfte zu etwas gebracht<br />
haben und über ein hohes Potenzial<br />
verfügen. In der Praxis bekommen wir zu<br />
hören: „Verwalter haben wir genug! Was wir<br />
brauchen, ist eine Verjüngung durch talentierte,<br />
viel versprechende Führungskräfte,<br />
und wir wollen nicht, dass sie zwei Jahre in<br />
seán meehan glaubt, ein mba müsse keine zwei jahre dauern business-culture f<br />
ander stehen, sollten sich aber gegenseitig<br />
unterstützen. Entsprechend negativ zu<br />
sehen sind Managementstile, die an den<br />
Polen dieses gedanklichen Dreiecks angesiedelt<br />
sind: narzisstisch am Kunstpol, weitschweifig<br />
am Handwerkspol, buchhalterisch<br />
am Wissenschaftspol.<br />
In diesem Sinn ist die MBA-Ausbildung<br />
unausgewogen. Sie hat nichts Handwerkliches<br />
an sich und wertet sogar Erfahrungen<br />
zu Gunsten der Analyse ab. Die Studenten<br />
selbst verfügen zumeist nur über geringe<br />
Erfahrungen, und im anderen Fall können<br />
sie diese angesichts eines mangelnden Praxisbezugs<br />
im Hörsaal nicht einsetzen.<br />
Die MBA-Ausbildung hat aber auch im künstlerischen<br />
Bereich wenig zu bieten. Sie ver-<br />
der Uni festhängen.“ Eine wichtige Folgerung<br />
aus der Marktforschung ist daher: Arbeitgeber<br />
glauben nicht, dass ein typischer<br />
MBA zwei Jahre dauern muss. Wir sollten<br />
auf diese Art Marktsignale hören. Es ist tatsächlich<br />
wahr, dass der MBA in der Krise<br />
steckt. Er benötigt einen stärker marktorientierten<br />
Ansatz. Business-Schools müssen ein<br />
paar grundlegende Lektionen aus der Wirtschaft<br />
auf sich selbst anwenden: Strategie ist<br />
eine Entscheidung; die richtige Art der Differenzierung<br />
zahlt sich aus; die Rendite<br />
muss im Auge behalten werden. Und, am<br />
wichtigsten: hört auf den Markt! Marktorientierung<br />
wird schließlich in jedem<br />
MBA-Programm gelehrt. Es wird Zeit,<br />
dass Business-Schools die Medizin,<br />
die sie verschreiben, auch<br />
selbst schlucken.<br />
NEIN!<br />
JA!<br />
leugnet die Kunst<br />
zwar nicht – viele<br />
Fallstudien verklären<br />
visionäre Führung<br />
sogar. Doch sie kann recht<br />
wenig mit ihr anfangen. Einsichten,<br />
Visionen und auch Kreativität entspringen<br />
dem konkreten Handeln, nicht der<br />
passiven Bewunderung. Kunst und Handwerk<br />
gründen weit gehend im Stillschweigenden,<br />
während sich MBA-Seminare auf<br />
das Explizite konzentrieren, das als Analyse<br />
und Technik sowie als formale Theorie<br />
daherkommt.<br />
Mintzbergs ausführliche Argumentation ist nachzulesen<br />
in seinem aktuellen Buch „Manager statt<br />
MBAs“, Campus Verlag, 2005.<br />
Sieht aber die Lage nun wirklich so schlimm<br />
aus, wie es die Kassandras uns glauben<br />
machen wollen? Hierzu ein klares Nein.<br />
Zukünftigen Bewerbern sei gesagt: Die Lage<br />
des MBA ist zwar nicht rosig, aber auch<br />
längst nicht so schlecht, wie sie scheint.<br />
NICHT JEDER MBA TAUGT FÜR JEDEN STUDENTEN<br />
Ein MBA bedeutet eine enorme Investition<br />
an Zeit und Geld. Nicht alle Angebote sind<br />
für jeden gleich Gewinn bringend. Jeder<br />
potenzielle Student sollte sich gut überlegen,<br />
was er wirklich mit dem MBA erreichen<br />
möchte. Und er sollte dann aus den<br />
zahllosen Alternativen diejenigen auswählen,<br />
mit denen er seine ganz persönlichen<br />
Ziele am ehesten verwirklichen kann.<br />
So verstanden, hat der MBA durchaus<br />
eine Zukunft.<br />
55
p business-culture früher suppenküche, heute ein 72-millionen-etat<br />
Talentpool im Ghetto<br />
Detroit, einst boomende Autometropole, gehört heute zu den ärmsten Städten der USA. Die Non-<br />
Profit-Organisation „Focus: Hope“ durchbricht den Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Diskriminierung<br />
und Drogen – durch ein marktwirtschaftliches Konzept mit Best-Practice-Charakter.<br />
: Die Hoffnung liegt im Ghetto. Mitten in<br />
einem Problemviertel Detroits sitzt eine<br />
Non-Profit-Organisation, die mit den gängigen<br />
Vorurteilen gegenüber Sozialprojekten<br />
wenig zu tun hat. Statt Betroffenheitsrhetorik<br />
herrscht hier Aufbruchstimmung, statt<br />
Schicksale zu verwalten bilden die Initiatoren<br />
junge Menschen in Zukunftsberufen aus<br />
und stellen nebenbei Hightechprodukte<br />
her. <strong>Der</strong> Name des Projektes ist, in all seiner<br />
Emotionalität, Programm: „Focus: Hope“.<br />
Hoffnung hat die frühere Industriemetropole<br />
Detroit bitter nötig. Die Stadt stagniert,<br />
über 20 Prozent Arbeitslosigkeit und eine<br />
kriselnde Automobilindustrie strangulieren<br />
die urbane Erneuerung. Eine desolate Situation<br />
– seit Jahrzehnten. Gegen diese Misere<br />
wollte die Detroiterin Eleanor Josaitis etwas<br />
tun. So gründete die heute 72-Jährige vor<br />
über 30 Jahren Focus: Hope. Die Hoffnung<br />
begann mit einer Suppenküche, doch das<br />
Projekt wuchs schnell. Heute beinhaltet<br />
Focus: Hope ein Ausbildungszentrum für<br />
Maschinenbauer, das von pensionierten<br />
Fachleuten aus der Automobilindustrie<br />
geleitet wird. Die Organisation fungiert als<br />
Kaderschmiede für eine neue Generation<br />
praxisorientierter Informatiker. Diese erhalten<br />
sogar einen Uniabschluss. Und der Erfolg<br />
spricht sich herum. Die Bildergalerie<br />
im Hauptgebäude zeigt Gründerin Josaitis<br />
Arm in Arm mit Microsoft-Chef Bill Gates,<br />
UN-Generalsekretär Kofi Annan und Ex-<br />
Präsident Bill Clinton.<br />
Die Gründung von Focus: Hope ist auch eine<br />
Reaktion auf die Umwälzungen der Globalisierung,<br />
die Detroit konsequenter erfuhr als<br />
andere US-Städte. Bis in die sechziger Jahre<br />
herrschte dank Ford, GM und Co. fast Vollbeschäftigung,<br />
„Motown“ war Boomtown. Es<br />
folgte die Verlagerung von Arbeitsplätzen<br />
und damit die Krise. Irgendwann explodierte<br />
der soziale Sprengstoff, so Tim Duperron<br />
von Focus: Hope. Im Sommer 1968 setzten<br />
schwarze Jugendliche ganze Straßenzüge
in Brand. „Nach den Ausschreitungen ging<br />
Eleanor durch das Viertel und sagte: ‚Wir<br />
müssen etwas tun.‘“ Gemeinsam mit einem<br />
inzwischen verstorbenen Pater gründete die<br />
Mutter von fünf Kindern die gemeinnützige<br />
Organisation. Diese beschäftigt heute über<br />
500 fest angestellte Mitarbeiter. Die 72 Millionen<br />
Dollar Jahresetat kommen zum größeren<br />
Teil als Zuwendung von den Detroiter<br />
Automobilunternehmen. Ein Stück Corporate<br />
Social Responsibility, aber auch eine<br />
Investition – schließlich bedienen sich die<br />
Global Player gern in dem Talentpool.<br />
Mittlerweile erwirtschaftet Focus: Hope darüber<br />
hinaus beträchtliche Einnahmen –<br />
durch die Auftragsfertigung von Produkten<br />
wie Bremsen oder Wasserpumpen, aber<br />
auch durch kleinere Forschungsprojekte.<br />
Unternehmen wie General Motors und Cincinnati<br />
Machines gehören zu den Kunden.<br />
Rund 30 Millionen Dollar Umsatz generierte<br />
der kommerzielle Zweig im vergangenen<br />
Geschäftsjahr. Und die Umsätze dürften<br />
weiter steigen: 2004 meldeten die Detroiter<br />
ein Patent für die Herstellung effizienterer<br />
Motorenkolben an. Tim Duperron: „In<br />
bestimmten technologischen Nischen sind<br />
wir inzwischen führend.“<br />
Wenn an den Werkbänken gefräst und gestanzt<br />
wird, rückt der soziale Nutzen in den<br />
Hintergrund. Es geht eher darum, ob die<br />
neu entwickelten Zylinderköpfe tatsächlich<br />
mehr Leistung aus den stählernen Kolben<br />
pressen. „Effizienz“ und „Kostendruck“<br />
gehören zum Stammvokabular – ebenso wie<br />
„Disziplin“. In den Centers of Opportunity,<br />
den Ausbildungszentren, herrscht straffe<br />
Ordnung, Rapper-Look und -Habitus sind<br />
„Wir haben eine dem sozialen Gedanken<br />
verpflichtete Institution aufgebaut, die funktioniert.<br />
Was will man mehr?“<br />
Eleanor Josaitis<br />
unerwünscht. Thomas Murphy, ein ehemaliger<br />
Army-Offizier, bringt den angehenden<br />
Maschinenbauern, Schlossern und Informatikern<br />
nicht nur Grundlagen der Mathematik<br />
bei, sondern auch, mit durchgedrücktem<br />
Kreuz zu gehen. „Wer bei uns einen Ausbildungsplatz<br />
will, muss auf dem Level eines<br />
Neuntklässlers stehen. Alles andere erledigen<br />
wir nachher mit Disziplin und Überzeugungskraft.“<br />
Notorische Zuspätkommer fliegen<br />
aus dem Programm.<br />
Harte Grundsätze, die deutlich machen: Bei<br />
Focus: Hope geht es anders zu als bei herkömmlichen<br />
Sozialprojekten. Zwei Kulturen<br />
treffen aufeinander, unternehmerisches<br />
Denken kollidiert mit den Normen des Non-<br />
Profit-Bereichs. Dies zusammenzuführen<br />
sei eine Frage intelligenter Organisation, so<br />
<strong>Roland</strong>-<strong>Berger</strong>-Berater Mahesch Luhani, der<br />
Focus: Hope auf Goodwill-Basis berät. Man<br />
brauche eine Arbeitsaufteilung, durch die<br />
erfahrene Mitarbeiter und Auszubildende<br />
eng zusammenarbeiten. „So erreichen wir<br />
eine hohe Wettbewerbsfähigkeit und verwirklichen<br />
zugleich die Ausbildungsziele.“<br />
Zusätzlich zur Arbeit in der Werkshalle<br />
steht Theorie auf dem Lehrplan – unterrichtet<br />
von Professoren der örtlichen Universitäten.<br />
„Ich kenne kein anderes Projekt, das<br />
vor allem afroamerikanischen Jugendlichen<br />
den Aufstieg in die Mittelklasse so ermöglicht<br />
wie dieses“, sagt Jack Litzenberg von<br />
der Charles Stewart Mott Foundation, die<br />
Focus: Hope seit fünf Jahren finanziell<br />
unterstützt und berät. Über 3000 Maschinenschlosser<br />
haben das zehn Monate dauernde<br />
Programm bislang absolviert, staatlich<br />
anerkannte Abschlüsse inklusive. Wer<br />
gut ist, kann anschließend ein zwei- oder<br />
vierjähriges Studium in Manufacturing-<br />
Engineering aufnehmen.<br />
Seit einiger Zeit zählt sogar das Pentagon zu<br />
den Kunden. Das Verteidigungsministerium<br />
bestellte ein mobiles Reparatursystem für<br />
Militärfahrzeuge und Waffen. Eine bemerkenswerte<br />
Wandlung: Früher war die Organisation<br />
Teil der Bürgerrechtsbewegung, heute<br />
beliefert man die US-Streitkräfte.<br />
Momentan arbeitet Focus: Hope daran, die<br />
eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern<br />
und das Marktprofil zu schärfen. Für eine<br />
marktorientierte Produktpalette dürfte nicht<br />
zuletzt der prominent besetzte Verwaltungsrat<br />
sorgen. Dem gehören ein Präsident von<br />
Ford, eine Direktorin von DaimlerChrysler<br />
und ein Global Vice President von General<br />
Motors an. Schon heute sind die Hightechprodukte<br />
immer häufiger wettbewerbsfähig –<br />
auf einem der am härtesten umkämpften<br />
Zuliefermärkte der Welt. So zeigt sich Eleanor<br />
Josaitis zufrieden. „Wir haben eine dem sozialen<br />
Gedanken verpflichtete Institution aufgebaut,<br />
die funktioniert. Was will man mehr?“<br />
FOCUS: HOPE wurde 1968 von Eleanor<br />
Josaitis und Pater William Cunningham in<br />
Detroit gegründet. Die gemeinnützige<br />
Organisation, die 2004 über einen operativen<br />
Etat von 72,9 Millionen Dollar verfügte,<br />
hat sich der Ausbildung und beruflichen<br />
Eingliederung von Jugendlichen aus sozialen<br />
Randgruppen verschrieben. Ihr kommerzieller<br />
Zweig konzentriert sich auf Hightechprodukte<br />
für die Automobilbranche.<br />
57
p business-culture ten homa years bahrami after<br />
58<br />
Gegen das Faustrecht<br />
Seit der Gründung vor zehn Jahren ist die Welthandelsorganisation (WTO) ein Motor der Globalisierung.<br />
Ihr erster Direktor war der Ire Peter Sutherland. Im Interview zieht er ein Resümee des vergangenen<br />
Jahrzehnts. Er ist sicher: Die Welt braucht die WTO – und Globalisierung ist gut für alle.<br />
THINK: ACT Herr Sutherland, zehn Jahre<br />
WTO – haben Sie gefeiert?<br />
PETER SUTHERLAND Selbstverständlich. Seit<br />
ihrer Gründung konnte die WTO viele Erfolge<br />
verbuchen. Nach Errichtung von IWF und<br />
Weltbank hat keine Einrichtung den Multilateralismus<br />
so vorangetrieben. <strong>Der</strong> Welt steht<br />
erstmals ein wirksames System zur Beilegung<br />
internationaler Handelsstreitigkeiten zur<br />
Verfügung. Mittlerweile ist die WTO einer<br />
der Grundpfeiler der Globalisierung.<br />
Beobachter sehen die WTO in der Krise.<br />
Auch die Europäische Union hat seit dem<br />
ersten Tag ihres Bestehens mit solchen Behauptungen<br />
zu kämpfen. Glauben Sie mir, die<br />
WTO liegt keinesfalls in den letzten Zügen.<br />
Die Verhandlung über globale Handelsreformen,<br />
die Doha-Runde, droht zu scheitern.<br />
Die Doha-Runde darf nicht mit der WTO als<br />
solcher verwechselt werden. Allerdings bin ich<br />
davon überzeugt, dass ein Scheitern der Doha-<br />
Verhandlungen erhebliche Auswirkungen<br />
auf die WTO hätte. Aber: Auch die Uruguay-<br />
Runde schien jahrelang kurz vor dem Aus zu<br />
stehen und hat letztlich doch zu einem positiven<br />
Ergebnis gefunden. Vor wichtigen Terminen<br />
wie der Ministerkonferenz im Dezember in<br />
Hongkong verstärkt sich der Druck deutlich.<br />
Was muss geschehen, damit die Ministerkonferenz<br />
doch noch Erfolg hat?<br />
Am wichtigsten ist die Agrarpolitik. Die EU hat<br />
grundsätzlich zugegeben, dass ihre Subventionen<br />
für landwirtschaftliche Exporte ein Ende<br />
haben müssen. Aber auch andere Länder wie<br />
die USA müssen ihre Subventionen verringern.<br />
Trägt eine eigene Agrarproduktion nicht zur<br />
nationalen Identität eines Landes bei? Das<br />
würde die Bedeutung der reinen Freihandelslehre<br />
relativieren.<br />
Darin steckt durchaus ein Körnchen Wahrheit.<br />
Die WTO will auch nicht sofort einen weltweit<br />
komplett freien Handel verwirklichen, arbeitet<br />
aber natürlich darauf hin. Ich bin mir bewusst,<br />
dass die gemeinsame Agrarpolitik der EU nicht<br />
vollständig gestoppt werden kann, aber sie entwickelt<br />
sich immerhin in diese Richtung, nicht<br />
zuletzt wegen der begrenzten Haushalte der<br />
Mitgliedstaaten. Wer jedoch ernsthaft der<br />
Meinung ist, dass in absehbarer Zeit weltweit<br />
Agrarmärkte entstehen, die sich selbst unabhängig<br />
organisieren können, sollte aus seinen<br />
rosaroten Träumen aufwachen.<br />
Würden Sie sagen, dass die Vision eines<br />
weltweiten freien Handels dieser Tage in<br />
die Defensive geraten ist?<br />
Ja, derzeit ist der Protektionismus auf dem<br />
Vormarsch. Eine Reihe Handelsgesetze in den<br />
USA nähren diese Befürchtung. In Westeuropa<br />
und Amerika löst die voranschreitende Globalisierung<br />
Ängste aus.<br />
Viele Menschen stehen insbesondere den stärker<br />
werdenden Wettbewerbern China und<br />
Indien kritisch gegenüber. Diese Ängste sind<br />
ein fruchtbarer Nährboden für Protektionismus.<br />
Sie können der Vision eines freien Handels<br />
gefährlicher werden als alle Globalisierungsgegner<br />
zusammen. Soweit ich das beobachtet<br />
habe, konnten die Argumente der Globalisierungsgegner<br />
von den Befürwortern entkräftet<br />
werden. Inzwischen sind sogar viele ehemalige<br />
Gegner überzeugt, dass die WTO ein Segen für<br />
die Schwachen in unserer Welt ist.<br />
Attac als Verteidiger der WTO?<br />
Eigentlich ist das ganz logisch: Inzwischen<br />
sehen viele NGOs ein, dass es den armen Ländern<br />
ohne die WTO noch wesentlich schlechter<br />
ginge. Immerhin haben wir ein System, das<br />
mit Hilfe eindeutiger Regeln funktioniert. Die<br />
Alternative wäre eine Welt, in der jeder gegen<br />
jeden kämpft. Wenn ein solches Faustrecht<br />
Wirklichkeit würde, könnten die Starken die<br />
Schwachen weit stärker unter Druck setzen.<br />
Auch die WTO selbst wirkt oft schwach.<br />
Wenn sich Boeing und Airbus verklagen,<br />
scheint sie in den Händen der politischen<br />
Giganten EU und USA zu sein.<br />
Ich bin überzeugt, dass die WTO in der Lage<br />
sein wird, unabhängig und objektiv über die<br />
Ansprüche von Boeing und Airbus zu entscheiden<br />
– sofern diese ihre Streitigkeiten nicht<br />
allein beilegen können.<br />
PETER SUTHERLAND war als<br />
Gründungsdirektor der WTO maßgeblich an<br />
der weltpolitischen Etablierung der Organisation<br />
beteiligt. Heute ist der Ire Chairman<br />
von BP und Goldman Sachs. Vor Gründung<br />
der WTO hatte er das Amt des Generaldirektors<br />
von GATT inne. Als solcher trug er entscheidend<br />
zum Abschluss der GATT-Verhandlungen<br />
in Uruguay bei. Vorher war er<br />
Vorsitzender der Allied Irish Banks.<br />
Von 1969 bis 1971 studierte Sutherland<br />
am Gonzaga College, am University College<br />
Dublin und der Honorable Society of the<br />
King’s Inns und war im Anschluss als Juradozent<br />
am University College Dublin tätig.
peter sutherland sieht den protekti0nismus auf ten dem years vormarsch after business-culture f
p business-culture ten years after<br />
Trotzdem kämpfen EU und USA um nationale<br />
Champions. Dies widerspricht dem<br />
freien Wettbewerb.<br />
Es ist auf jeden Fall kontraproduktiv für die<br />
Vision des freien Handels, wenn jedes Land um<br />
jeden Preis auf nationale Champions setzt.<br />
Selbstverständlich spielt auf nationaler Ebene<br />
auch der Nationalismus eine entscheidende<br />
Rolle. Wenn man unnachgiebig an seinen landeseigenen<br />
Unternehmen festhält, führt das<br />
unweigerlich dazu, dass kostbare Ressourcen<br />
vergeudet werden. Bis Ende der achtziger Jahre<br />
hatten viele Dienstleister in den meisten europäischen<br />
Ländern Monopolstellungen. Die<br />
Regierungen setzten sich vehement gegen die<br />
von Brüssel vorangetriebene Liberalisierung<br />
ein. Die nationalen Fluglinien sollten die Aushängeschilder<br />
der jeweiligen Staaten sein, da<br />
störte es die Staaten nicht, dass die Kunden den<br />
Preis dafür zu zahlen hatten. Aber letztendlich<br />
hat der gesunde Menschenverstand gesiegt.<br />
Protektionismus gleich Nationalismus, und<br />
Globalisierungsgegner sind Nationalisten?<br />
Das ist zumindest der Effekt, den sie mit ihrer<br />
Haltung des Öfteren erzielen. Einige NGOs<br />
glauben offenbar immer noch an ein Maß an<br />
Protektionismus, das den Interessen der Menschen<br />
in den Entwicklungsländern entgegen-<br />
„Es ist kontraproduktiv für die Vision des freien Handels, wenn jedes Land<br />
um jeden Preis auf nationale Champions setzt.“<br />
Peter Sutherland<br />
steht. Die Menschheit hat Fortschritt immer<br />
durch Leistungsfähigkeit und Innovation<br />
erzielt. Dies wird durch einen gesunden Wettbewerb<br />
gefördert. Aus diesem Grund ist Protektionismus<br />
der falsche Weg.<br />
Sie sitzen im Aufsichtsrat globaler Unternehmen.<br />
Viele Firmen scheinen auf Wettbewerb<br />
gut verzichten zu können …<br />
Absolut nicht, die meisten Unternehmen stehen<br />
dem Wettbewerb positiv gegenüber. Normalerweise<br />
messen Unternehmen sich gern mit ihren<br />
Konkurrenten und halten es für wichtig, ihren<br />
Marktwert zu testen. Aber: Einige wollen ihre<br />
Schäfchen mit Beschränkungen und Protektionismus<br />
ins Trockene bringen.<br />
Sie sind Chairman von BP. Finden Sie es<br />
nicht seltsam, dass die nationalen Benzinpreise<br />
kaum voneinander abweichen?<br />
Im Allgemeinen ist der Wettbewerb in unserer<br />
Branche sehr stark. Wenn Sie andeuten möchten,<br />
dass die Preise durch Absprachen zwischen<br />
den Ölfirmen festgelegt werden, dann muss ich<br />
Ihnen vehement widersprechen. Die meisten<br />
Gewinne erzielt unsere Branche nicht auf<br />
nachgelagerten Märkten, sondern mit dem vorgeschalteten<br />
Sektor, also der Erforschung von<br />
Quellen und der Produktion. Außerdem tragen<br />
die <strong>groß</strong>en Ölfirmen nur einen geringen Anteil<br />
zur weltweiten Ölproduktion bei. <strong>Der</strong> Großteil<br />
liegt bei den staatlichen Unternehmen in den<br />
Öl fördernden Ländern.<br />
Kritiker des freien Handels argumentieren,<br />
dieser verstärke die Armut vieler Länder.<br />
Alles Unsinn?<br />
Es gibt ausreichend Nachweise dafür, dass<br />
genau das Gegenteil der Fall ist. <strong>Der</strong> Anteil der<br />
Entwicklungsländer am weltweiten Export im<br />
letzten Jahr ist von 25 auf 34 Prozent gestiegen.<br />
Auch den Industrieländern hat der freie Handel<br />
keinesfalls geschadet.<br />
Im Großen und Ganzen können alle Beteiligten<br />
hierdurch nur gewinnen. Lediglich für einige<br />
nationale Branchen hat sich der freie Handel<br />
kurzfristig negativ ausgewirkt, weil diese an<br />
anderen Standorten bessere Bedingungen vorgefunden<br />
hätten.<br />
Peter Sutherland verteidigt Freihandel und<br />
Globalisierung. Seine Heimat Irland sieht er<br />
als bestes Beispiel dafür, wie Länder durch<br />
eine konsequente Liberalisierung schnell<br />
Wohlstandsgewinne erzielen können.
In der Argentinien-Krise hat die Globalisierung<br />
zu wenig Positivem geführt. Wurden<br />
die Märkte zu schnell geöffnet?<br />
Nein, die Probleme Argentiniens lagen primär<br />
im Inneren. Das dortige Steuersystem funktionierte<br />
nicht reibungslos, die Wirtschaft wurde<br />
nicht wirkungsvoll geregelt.<br />
Ich komme aus Irland. Dieses ehemals arme<br />
Land hat es geschafft, im Bezug auf den Anteil<br />
unseres Bruttoinlandsprodukts, der mit externem<br />
Handel erzielt wurde, an die Spitze zu<br />
kommen. Das haben wir der Tatsache zu verdanken,<br />
dass wir die Grenzen geöffnet und uns<br />
am Handel beteiligt haben.<br />
Und erheblichen EU-Subventionen …<br />
Nein, diese hatten keine nennenswerten Auswirkungen,<br />
auch wenn sie natürlich hilfreich<br />
waren. Irland hat niemals auch nur annähernd<br />
so viel von direkten Unterstützungsmaßnahmen<br />
profitiert wie von dem Handel auf<br />
Grund seiner EU-Mitgliedschaft. Langfristig<br />
wird Irland ein Nettozahler in der EU, und das<br />
ist auch in Ordnung so.<br />
Was sagen Sie zu dem Vorwurf, die WTO sei<br />
nicht demokratisch aufgebaut?<br />
Das ist Unsinn. Die wichtigste Aufgabe der<br />
WTO ist es, Staaten beim Abschluss gemeinsamer<br />
Vereinbarungen zu unterstützen. Primär<br />
die Mitgliedstaaten also müssen für ausreichend<br />
Transparenz sorgen. Aber auch die WTO<br />
selbst kann ihre Transparenz noch verbessern.<br />
Schlichtungsgespräche könnten, abgesehen<br />
von genau festgelegten Ausnahmefällen, grundsätzlich<br />
öffentlich abgehalten werden.<br />
Was ist mit dem „Green Room“, in dem die<br />
USA und die EU sich absprechen, bevor sie<br />
in Großverhandlungen eintreten? Nicht<br />
gerade ein Musterbeispiel an Transparenz …<br />
Unter Umständen ist es ja auch sinnvoll, sich<br />
zunächst in kleineren Gruppen abzusprechen<br />
und bestimmte Dinge vorab zu klären,<br />
da die WTO heute insgesamt immerhin aus<br />
150 Mitgliedern besteht. Soweit ich weiß, sind<br />
bei diesen Konferenzen im Green Room üblicherweise<br />
auch Entwicklungsländer wie Brasilien<br />
oder Indien vertreten. Man kann wirklich<br />
nicht sagen, dass die WTO eine elitäre Veranstaltung<br />
wäre.<br />
<strong>Der</strong>zeit geht der Trend insgesamt hin zu<br />
bilateralen Handelsabkommen.<br />
Das stimmt und ist äußerst bedenklich. Nur<br />
mit neun von 149 Ländern hat etwa die EU<br />
keine besonderen Absprachen getroffen. Das<br />
ist für das gesamte multinationale System und<br />
insbesondere für die Entwicklungsländer<br />
äußerst problematisch.<br />
Weshalb?<br />
Sonderabsprachen zwingen die Entwicklungsländer<br />
(vor allem ehemalige Kolonien) häufig<br />
dazu, ihre wirtschaftlichen Systeme in eine<br />
Richtung zu lenken, die für sie langfristig nicht<br />
vorteilhaft ist. Außerdem kann dies dazu führen,<br />
dass diese Länder sich gegen eine weitere<br />
Liberalisierung sträuben, um ihre jeweiligen<br />
Besonderheiten zu schützen.<br />
Dagegen scheint die WTO machtlos.<br />
Eigentlich hatten wir uns mit unseren Mitgliedern<br />
darauf geeinigt, dass bilaterale und regionale<br />
Vereinbarungen der WTO vorher vorgelegt<br />
werden müssen. Diese Vorschrift wird<br />
jedoch üblicherweise missachtet. Solange die<br />
Mitgliedstaaten sich nicht konsequent an die<br />
LIEBLINGSBUHMANN WTO: Die World<br />
Trade Organization (WTO) steht seit ihrer Gründung<br />
1995 in der Kritik von Globalisierungsgegnern.<br />
Hauptaufgabe der Organisation mit Sitz in<br />
Genf ist es, den weltweiten Handel zu regeln. <strong>Der</strong><br />
Kern dieses Handelssystems besteht aus multilateralen<br />
Vereinbarungen. Wenn die Staaten zu<br />
keiner Einigung kommen, tritt die WTO als Schlichter<br />
auf. Die Doha-Verhandlungen haben zum Ziel,<br />
globale Handelshindernisse zu beseitigen. Von<br />
ihnen wird auch erwartet, den Welthandel zu Gunsten<br />
der Entwicklungsländer fairer zu gestalten.<br />
Vorschrift halten, kann die WTO wirklich<br />
nicht viel unternehmen.<br />
Im September hat der Franzose Pascal Lamy<br />
den WTO-Vorsitz übernommen. Lamy war<br />
vorher EU-Kommissar – das wird die Glaubwürdigkeit<br />
der WTO kaum steigern.<br />
Ich beurteile Menschen nicht nach ihrer Herkunft.<br />
Ich kenne Pascal Lamy sehr gut, und ich<br />
bin überzeugt, dass er ein hervorragender und<br />
unabhängiger Generaldirektor sein wird.<br />
Welche Fähigkeiten braucht der perfekte<br />
WTO-Chef?<br />
Zwischenmenschliches Gespür, Verhandlungsgeschick<br />
und persönliches Ansehen –<br />
ohne Letzteres wird er nur schwerlich mit den<br />
politischen Entscheidungsträgern in Kontakt<br />
treten können.<br />
Werden die WTO und die Idee des Freihandels<br />
aus der Defensive herausfinden?<br />
Man muss immer optimistisch bleiben. Ein<br />
Philosoph hat einmal gesagt: „Wenn man Prophet<br />
sein will, muss man vor allem Pessimist<br />
sein.“ Das stimmt meiner Meinung nach nicht.<br />
Ich bin im Gegenteil fest davon überzeugt, dass<br />
die Globalisierung für alle Beteiligten Vorteile<br />
bringen wird, auch wenn es auf dem Weg dorthin<br />
natürlich noch einige Hindernisse zu überwinden<br />
gilt.<br />
Wie den Terrorismus …<br />
In den meisten Fällen entsteht Terrorismus in<br />
Ländern, die sich nicht ernsthaft an Globalisierung<br />
oder freiem Handel beteiligen. Früher<br />
hatte Ägypten das gleiche Bruttoinlandsprodukt<br />
pro Kopf wie Korea. Inzwischen ist das<br />
BIP Koreas siebenmal so hoch.<br />
61
p service impressum<br />
62<br />
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„Zum Wachstum führen“<br />
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Kantner, Silvana Mayrthaler, Cornelia Sauer<br />
BILDREDAKTION<br />
Beate Blank (Ltg.), Silvia Erhard, Mitra Nadjafi<br />
BILDNACHWEISE<br />
Titelbilder: Linda Brownlee, Owen Egan, HBS;<br />
S. 2 Jun Takagi; S. 3 Hans-Bernhard Huber/<br />
laif; S. 4–5 Sylvia Neuner, HMS, Robert Laska/<br />
Forum, Courtesy Hewlett-Packard Development<br />
Company, L.P.; S. 6–7 Sebastian Ibler,<br />
Sylvia Neuner; S. 8 Arnulf Hettrich/FNOXX,<br />
Detlef Westerkamp/Ostkreuz; S. 9 Robert<br />
Laska/Forum; S. 11 Arnulf Hettrich/FNOXX,<br />
Detlef Westerkamp/Ostkreuz; S. 12 Patrick<br />
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S. 15 Courtesy Hewlett-Packard Development<br />
Company, L.P.; S. 16 Brand X Pictures; S. 17<br />
Henning Maier-Jantzen; S. 18 Robert Landau/<br />
Corbis; S. 19 Courtesy of Australian Capital<br />
Tourism; S. 20 Alex Majoli/Magnum Photos/<br />
Focus; S. 22 Bettmann/Corbis; S. 24 Karstadt-<br />
Quelle AG; S. 25 Gaby Gerster/laif, Michael<br />
Dannenmann; S. 26 picture-alliance/dpa;<br />
HENRY MINTZBERG:<br />
„Manager statt MBAs“<br />
STUDIE:<br />
„Service-Offshoring im<br />
Trend“<br />
<strong>Der</strong> think: act-Autor Constantinos Markides, Professor an der London Business School, wurde jetzt für den renommierten „Business Book of<br />
the Year“-Preis von Financial Times und Goldman Sachs nominiert. Titel des geehrten Buches, das Managementdenker Markides zusammen<br />
mit Paul A. Geroski verfasst hat: „Fast Second. How Smart Companies Bypass Radical Innovation to Enter and Dominate New Markets“.<br />
<strong>Der</strong> Gewinner wird Ende November gekürt.<br />
S. 28 ABB; S. 29 Biotest, General Electric;<br />
S. 30 HBS; S. 32–34 Joachim E. Röttgers/Graffiti;<br />
S. 36 Max von Eicken; S. 38 Sylvia Neuner;<br />
S. 40 Sylvia Neuner, James Leynse/Corbis;<br />
S. 42 Li Jiangsong/Imagine-china, Fritz Hoffmann/documentChina;<br />
S. 43 Fritz Hoffmann/<br />
documentChina; S. 45 HMS; S. 46 Antony<br />
Edwards/Getty Images, LMU München/<br />
Department für Physik; S. 47 Z Corporation;<br />
S. 49 Owen Egan, IMD; S. 52–54 PR; S. 56–57<br />
Bill Jackson; S. 59–60 Linda Brownlee; S. 61<br />
picture-alliance/dpa; S. 63 Claus Lehmann<br />
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84048 Mainburg<br />
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