sonderthema1. EinleitungEnthält die österreichischeBundesverfassung einantinationalsozialistischesGrundprinzip?* (Teil 1)........................Schon seit dem Inkrafttreten der Stammfassung des B-VG1920 1 (und auch seit der Wiedereinführung des B-VG 1920idF der Novelle 1929 im Jahre 1945 durch dieUnabhängigkeitserklärung 2 als historisch erster Verfassung 3und den Art 1 des [1.] Verfassungs-ÜberleitungsG 1945, 4uzw spätestens seit 1. 5. 1945 5 ) enthält dieses eine Bestimmungüber die Gesamtänderung der Bundesverfassung;Art 44 Abs 2 (heute unverändert Art 44 Abs 3 6 ) B-VG ordnetan, dass „jede Gesamtänderung der Bundesverfassung ... einerAbstimmung des gesamten Bundesvolkes zu unterziehen[ist]“. 7 Dabei ist nicht näher bestimmt, wann einesolche Gesamtänderung vorliegt. Da das B-VG seit1920 auch die Abänderbarkeit von Verfassungsbestimmungendurch (einfache) Verfassungsgesetze (bis heute)vorsieht (Art 44 Abs 1; Art 44 Abs 2: Teiländerung),ist es schlüssig anzunehmen, dass eine Gesamtänderungals schwieriger zu erzeugende Verfassungsbestimmungnur dann vorliegt, wenn die Bundesverfassungin einem „schwerwiegenden Ausmaß“ verändertwird. Mit der Lit ist anzunehmen, dass damit nicht einebloß formale Erlassung einer neuen Verfassungsurkundegemeint ist, sondern ein inhaltliches Abgehen vonden wesentlichen Grundpositionen des B-VG 1920 – wie jedeVerfassung baut auch das B-VG 1920 auf bestimmten grundsätzlichenpolitischen Ideen auf –, die als Grundprinzipien bezeichnetwurden. 8 Welche Ideen dies im Einzelfall sind, istaus den Bestimmungen der Verfassung, dh etwa des B-VG1920, herauszufiltern; dh, dass nicht programmatische Festlegungen– etwa am Beginn des Verfassungstextes – ausschlaggebendsind, sondern die einzelnen Bestimmungen derVerfassung. 9 Nach dieser Betrachtungsweise sind für dasösterreichische Verfassungs<strong>recht</strong> das demokratische, das republikanische,das bundesstaatliche und das <strong>recht</strong>sstaatlicheGrundprinzip allgemein anerkannt; aber auch das liberale unddas gewaltenteilende Grundprinzip werden überwiegend alssolche betrachtet. 10Werden nun ein oder mehrere Grundprinzipien aufgegebenoder wesentlich geändert oder wird das Verhältnis zwischenden Grundprinzipien wesentlich verändert, so liegt eine Gesamtänderungder Bundesverfassung vor, die den erschwertenErzeugungsbedingungen des Art 44 Abs 2 B-VG zuunterziehen ist. 11 Auf die besondere Problematik der damitanzustellenden materiellen Betrachtungsweise, die darinliegt, dass eine exakte Angabe, ab wann eine Veränderung imZusammenhang mit 12 den Grundprinzipien so wesentlich ist,dass eine Gesamtänderung vorliegt, kaum möglich ist, weilvom B-VG dafür keine exakten Beurteilungskriterien angeordnetsind, sei hingewiesen. 13Als quasi erster „Testfall“ iZm der Gesamtänderung ist dieB-VG-Novelle 1929 14 anzusehen, die eine nicht bloß geringfügigeNovellierung der Bundesverfassung darstellte: Obwohldiese Novelle weitreichende Veränderungen, insb eineStärkung der Stellung des BPräs, 15 mit sich brachte, ging (undgeht) die hL davon aus, dass diese Änderungen offenbar nureine Nuancierung des parlamentarisch-demokratischen Systemsin die Richtung einer Präsidentschaftsrepublik darstellten,ohne dass das parlamentarisch-demokratische Systemaufgegeben bzw wesentlich verändert wurde, sodass keineGesamtänderung vorlag. 16 Hinzuweisen ist darauf, dass Merklbezüglich der RV zur B-VG-Novelle 1929 die Meinungvertrat, dass es sich dabei um eine Gesamtänderung gehandelthätte. 17 Angesichts der durchaus beträchtlichen „Abstriche“bis zur Beschlussfassung scheint die Qualifikation der hL zutreffend.Die Verfassungsgesetzgebung bezüglich der Nationalsozialistenbzw gegen den Nationalsozialismus nach 1945wird Gegenstand der weiteren Überlegungen sein. 18 Dabeimuss insb untersucht werden, ob die verfassungsgesetzlichenMaßnahmen nach 1945 bezüglich der Nationalsozialisten derartschwerwiegende Änderungen eines oder mehrerer Grundprinzipienbedeuteten, dass von einer Gesamtänderung gesprochenwerden kann (bzw die Abschaffung eines oder mehrererGrundprinzipien darstellten bzw das Verhältniszwischen den Grundprinzipien wesentlich veränderten).2. Die Verfassungs<strong>recht</strong>slage bezüglich derNationalsozialisten im Jahr 19452.1 Im Lichte des demokratischen Grundprinzips2.1.1 § 1 VerbotsG 1945§1 VerbotsG 19 ordnet (seit 1945 bis heute) an, dass „die NS-DAP, ihre Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK), ihre Gliederungenund angeschlossenen Verbände sowie alle nationalsozialistischenOrganisationen und Einrichtungen überhaupt... aufgelöst [sind]; ihre Neubildung ist verboten“. Durch dasVerbot der politischen Partei NSDAP könnte va das demokratischeGrundprinzip betroffen sein. Daher scheint es sinnvoll,sich mit dem, was das B-VG seit 1920 (und idF 1929) unterdem demokratischen Grundprinzip verstanden hat, näher,wenn auch nicht erschöpfend auseinander zu setzen.2.1.1.1 Inhalt des demokratischen Grundprinzips iSd B-VG1. Die im wesentlichen programmatische Bestimmung desArt 1 B-VG („Österreich ist eine demokratische Republik. IhrRecht geht vom Volk aus.“) erfährt ihre nähere Ausgestaltungdurch andere Bestimmungen des B-VG, va durch Art 26,Art 41 ff und Art 95 ff B-VG. 20 Art 26 legt das gleiche, unmittelbare,geheime und persönliche Wahl<strong>recht</strong> der Männerund Frauen für die Wahlen zum NR fest, weiters das Systemder Verhältniswahl und den Grundsatz des allgemeinen passivenWahl<strong>recht</strong>s. Art 41 Abs 2 stellt das Instrument des Volksbegehrensals einen Ausdruck der unmittelbaren Demokratiezur Verfügung, des weiteren Art 43 die Volksabstimmung,Art 44 Abs 2 die obligatorische Volksabstimmung für Gesamtänderungender Verfassung; Art 45 f regeln die Durch-Seite 182 <strong>juridikum</strong> 2004 / 4
undesverfassungführung der Volksabstimmung genauer. Art 95 ff legen dieeben erwähnten Bestimmungen auch für die Länderebenefest.Damit wird ein System der mittelbaren Demokratie und derparlamentarischen Demokratie eingerichtet. 21 Wie schon erwähntwurde dieses System durch die B-VG-Novelle 1929modifiziert.2. Interessant erscheint, dass das B-VG 1920 (und auchnach der Novelle 1929) die politischen Parteien nicht erwähnt,22 obwohl gerade diese an der Entstehung der1. Republik führend beteiligt waren 23 (wie auch bei der Gründungder 2. Republik 24 ). Bloß Art 35 B-VG spricht von „Parteien“.Doch handelt es sich dabei um die Parlamentspartei 25in den LT und nicht um die politische Partei schlechthin. 26Zumindest dem einfachen Gesetzgeber war die wahlwerbendePartei seit der ReichsratswahlO 1907 27 bekannt. 28 Trotzdemaber erfolgte weder im B-VG noch im sonstigen Verfassungs<strong>recht</strong>oder einfachen Gesetzes<strong>recht</strong> eine nähere, va inhaltlicheRegelung der politischen Parteien, wahlwerbendenParteien oder Parlamentsparteien.Der Gesetzgeber der Monarchie behandelte die politischenParteien als Sonderfall der Vereine. So waren politische Vereinenach dem VereinsG 1867 29 strengeren Bestimmungenunterworfen als andere Vereine. Damit war aber auch die füralle Vereine geltende Auflösungsbefugnis durch die Aufsichtsbehördeverbunden. 30 Zusätzlich sah Art 20 StGG 31 vor,dass unter bestimmten Voraussetzungen bestimmte Teile diesesStGG, ua der Art 12 über die Vereins- und Versammlungsfreiheit,suspendiert werden konnten; das in Ausführungdieses Art ergangene Gesetz 32 sah eine Auflösungsbefugnisua bei inneren Unruhen und hochverräterischen Umtrieben ingrößerem Ausmaß vor. Diese Bestimmungen wurden nicht indie Rechtsordnung der 1. Republik übergeleitet. 33 Damit warendiejenigen Teile des Vereins<strong>recht</strong>s beseitigt, die die Möglichkeitgeboten hätten, die Vereinsfreiheit sehr drastisch einzuschränken.Trotzdem aber blieben „politische Vereine“dem VereinsG und den Sonderbestimmungen desselben unterworfen;es wurde für „politische Parteien“ kein eigenerSonderstatus geschaffen. Die Sonderbestimmungen des VereinsGüber politische Vereine wurden erst mit der VereinsG-Nov 1947 34 beseitigt.3. Vom demokratietheoretischen Hintergrund 35 aus lässtsich folgendes – ohne hier eine erschöpfende Behandlungleisten zu können – festhalten: Demokratie ist der Idee nacheine Staatsform, bei der der „Gemeinschaftswille“ durch dieRechtsunterworfenen erzeugt wird; dadurch soll eine „Identitätvon Herrscher und Beherrschten“ hergestellt werden,wodurch die „Herrschaft des Volkes über das Volk“ verwirklichtwerden soll. Dies entspricht dem Gedanken, dass dasVolk souverän ist, dass die oberste Gewalt vom Volk ausgeht.36 In einer mittelbaren Demokratie schiebt sich zwischendas Volk und die Rechtserzeugung ein – vom Volk bestimmtes– Zwischenorgan, das Parlament. Nach der ursprünglichenliberal-repräsentativen Idee sollten völlig(sowohl voneinander als auch von ihrem Wahlkreis) unabhängigeAbgeordnete die Willensbildung vornehmen. Dochtreten seit dem Ende des 19. Jhdts mit der sukzessiven Ausdehnungdes Kreises der Wahlbe<strong>recht</strong>igten die politischenParteien zwischen das Volk und das Parlament – sozusagenals Mittler des Volkswillens –, was zur Ausprägung der Demokratieals parteienstaatliche Demokratie führt. 37 Kelsenbetrachtet die politischen Parteien als bedeutendstes Elementder Demokratie. 38Die Konzeption des B-VG ist eine liberal-repräsentativeDemokratie, obwohl die politischen Parteien, die maßgeblichan der Gründung der 1. Republik und der Entstehung des B-VG beteiligt waren, schon vorhanden waren, also tatsächlicheine parteienstaatliche Demokratie gegeben war. Diese Diskrepanzist verblüffend. Kelsen soll hiezu 1967 die Meinungvertreten haben, dass das B-VG die politischen Parteien stillschweigendvorausgesetzt habe. 39 Merkl hingegen geht davonaus, dass „mit der Einführung des Verhältniswahl<strong>recht</strong>s dieAnerkennung der politischen Parteien untrennbar verbundensei“. 40Im Ergebnis lässt sich wohl festhalten, dass die politischenParteien, obwohl im B-VG unerwähnt, doch eine wesentlicheAufgabe in der Demokratie nach dem Demokratieverständnisdes B-VG hatten (und bis heute haben). 41Dies entspricht auch einem Gedankengut, das auf möglichsteFreiheit bei der Teilnahme am politischen Prozess gerichtetist. Kelsen stellt die Freiheit des einzelnen als einHauptziel der Demokratie dar, nämlich der Demokratie alspolitische Freiheit. 42 Auch Merkl bezeichnet die Demokratieals „Idee der politischen Freiheit für die Masse“. 43 Dies führtzu einer engen Verknüpfung zwischen demokratischen undliberalen Elementen, wodurch allein der moderne Rechtsstaatverwirklicht werden kann. 44 Die Demokratie soll nur denRahmen abgeben (formale Demokratie 45 ), in dem sich allepolitischen Meinungen frei entfalten können. 46 Gerade um allepolitischen Kräfte auch am parlamentarischen Prozess teilhabenzu lassen, wird das Verhältniswahl<strong>recht</strong> als das gegenüberdem Mehrheitswahl<strong>recht</strong> vorzuziehende System dargestellt.47 Kelsen schreibt 1932: Die Demokratie „ist diejenigeStaatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt.Bleibt sie sich selbst treu, muß sie auch eine auf Vernichtungder Demokratie gerichtete Bewegung dulden, muß sie ihr wiejeder anderen politischen Überzeugung die gleiche Entwicklungsmöglichkeitgewähren.“ 48 Auch Radbruch hat die Toleranzder Demokratie sehr hoch bewertet und sehr absolut genommen:Jede politische Richtung wird geduldet, mag sie diesesPrinzip auch selber ablehnen, weil „die Demokratie dieStaatsform ist, die keiner Machtverschiebung Widerstand entgegensetzt,wenn sie vom Willen der Volksmehrheit getragenist“. 494. Der Gedanke der Freiheit spielt also im Demokratieverständniseine wesentliche Rolle, aber – „psychologisch“ betrachtet– wohl auch in den Ansichten der politischen Parteienbzw der führenden Mitglieder der politischen Parteien: Unterdem monarchischen System waren sie öfters an die Beschränkungen,die ihnen dieses System auferlegte, gestoßen; 50 mühsammussten sie sich Stück um Stück weiteren Freiraum erkämpfen.Nach dem Zusammenbruch der Monarchie stießendie politischen Parteien schnell in das entstandene Machtvakuumvor und unterließen es – um ihre nunmehr (fast) unbeschränkteFreiheit nicht begrenzen zu müssen – in ihrer Rolleals Gesetzgeber (dh als Parlament) die politischen Parteien(dh sich selber) gesetzlichen Bestimmungen zu unterwerfen.So gab es – abgesehen von den vereins<strong>recht</strong>lichenBestimmungen 51 – keine Möglichkeit, sei es auf verfassungsgesetzlichersei es auf einfachgesetzlicher Ebene, politische<strong>juridikum</strong> 2004 / 4 Seite 183