themaDie Verteilung der Antworten macht deutlich, dass beiVerhandlungen mit fremdsprachigen Verfahrensparteienmehrheitlich nicht die gesamte Verhandlung gedolmetschtwird: in Zivilverfahren wird in 62% und in Strafverfahrenin 38% der Verhandlungen nie die gesamte Verhandlung gedolmetscht.Über den Umfang der gebotenen Dolmetschungentscheidet das Gericht. Diese Entscheidung orientiert sichregelmäßig daran, wie viel an Information die prozessführendeRichterin oder der prozessführende Richter für ihrbzw. sein Urteil benötigt. Eine darüber hinaus gehende Dolmetschunghängt einzig und allein vom Willen des Gerichtsab; das Gericht wird eine umfassendere Dolmetschung insbesonderedann unterbinden, wenn es der Meinung ist, dieVerhandlung würde dadurch gestört oder zeitlich „unnötig“verlängert.5. Diskussion der ErgebnisseFür die fremdsprachigen Beteiligten, die auf diese Weise nureinem Teil der Verhandlung folgen können, ist so – auf derBeziehungsebene – weder die Unvoreingenommenheit nochUnparteilichkeit des Gerichtes subjektiv sichtbar und wahrnehmbar.Auch auf der Inhaltsebene kann die beschriebeneVorgangsweise nicht befürwortet werden: Die Prozesschanceneines Verfahrensbeteiligten hängen entscheidend von seinerProzessführung ab. Um am Verfahren aktiv teilnehmenzu können, muss die Partei die Möglichkeit zur Äußerung erhalten.Genau so wichtig ist aber, dass die Partei ein umfassendesVerständnis der Vorgänge vor Gericht erhält. Wer eineSituation nicht versteht, kann nicht angemessen reagieren.Aus der Tabelle, die den gewöhnlichen Umfang der Dolmetschungin einer Strafverhandlung illustriert, ergibt sich, dassin der Hauptverhandlung in der Praxis oft nur die Vernehmungdes fremdsprachigen Beschuldigten gedolmetscht wird.Zeugenaussagen werden dem Beschuldigten gar nicht, oderin einem zusammenfassenden Satz übermittelt und vorgehalten.Auf diese Weise kann der Beschuldigte weder dem Gangder Verhandlung folgen noch sein Frage<strong>recht</strong> wahrnehmen.Ein faires Verfahren im Sinne des Art. 6 EMRK würde eineumfassendere Dolmetschung erfordern; in Art. 6 Abs. 2 lit. dheißt es ja u.a.:Jeder Angeklagte hat mindestens bzw. insbesondere diefolgenden Rechte:[...] Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellenzu lassen und die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugenunter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugenzu erwirken.Der Europäische Gerichtshof für Menschen<strong>recht</strong>e hat zuArt. 5 und 6 EMRK eine reiche und dynamische Rechtssprechungentwickelt. Dabei vertritt der EGMR ein modernesVerständnis der Bestimmungen der EMRK und fasst Art. 5und 6 als umfassende Garantie eines fairen Verfahrens auf.Es mangelt also weder an gesetzlichen Vorgaben noch anRechtsprechung. Entscheidend ist im Zusammenhang mit derDolmetschung, eine höhere Sichtbarkeit der Verfahrensgarantienherzustellen und so die Kenntnis der Rechte bei allenBeteiligten im Strafverfahren zu verbessern und damit dieEinhaltung dieser Rechte zu stärken. Zu diesem Zweck undauf Grund der dargestellten Dolmetschpraxis hat die EuropäischeKommission auf dem Gebiet des Strafverfahrens Initiativenergriffen.Ein Schwerpunkt der Initiativen der Kommission ist die Erforschungder Übersetzungs- und Dolmetschpraxis vor deneuropäischen Gerichten und die Gewährleistung umfassenderund qualitativ einwandfreier Übersetzungs- und Dolmetschleistungenvor Gericht. Ziel der Initiativen auf EU-Ebeneist es nicht, neue Rechte zu begründen, sondern die bestehendenRechte zu benennen und sichtbar zu machen. Die Ergebnissesind u.a. in ein Grünbuch der Kommission und in denEntwurf für einen Rahmenbeschluss des Rates über bestimmteVerfahrens<strong>recht</strong>e in Strafverfahren innerhalb der EuropäischenUnion eingeflossen (siehe den Beitrag „AusgangspunktTampere“ in diesem Heft).Im Entwurf des Rahmenbeschlusses wird ausführlich aufdie Problematik im Zusammenhang mit der Nichteinhaltungder vorgeschriebenen Mindeststandards in gedolmetschtenVerhandlungen eingegangen. So wird im Punkt „Das Rechtauf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers und Übersetzers“unter anderem ausgeführt, dass sich die Mitgliedstaatendieser Pflicht zwar theoretisch bewusst sind, sie in derPraxis aber unzureichend erfüllen. Insbesondere wird dabeiauf die Forderung des Artikel 6 Abs. 2 lit. e EMRK auf„unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers“ eingegangenund die dabei verbreitete Vorgangsweise der Gerichtekritisiert:... Dolmetscher [scheinen] manchmal eher für den Richterund/oder Staatsanwalt als den Angeklagten beigezogenworden zu sein. In einigen Fällen wurden dieAusführungen des Richters und Staatsanwalts nicht für dieAngeklagten gedolmetscht, und die Rolle desDolmetschers beschränkte sich darauf, die direkten Fragendes Richters an den Angeklagten und seine Antworten fürden Richter zu dolmetschen, statt sicherzustellen, dass derAngeklagte das Verfahren versteht. (KOM(2004)328endg.:10f)Seite 198 <strong>juridikum</strong> 2004 / 4
justiz und randgruppenWie die oben dargestellte Umfrage zeigt, entspricht dieseBeschreibung durchaus der österreichischen Situation.Gründe für diese Praxis könnten viele genannt werden. Hiersollen zunächst drei wichtige Faktoren herausgenommenwerden: Ein Grund ist sicherlich die Zahl gedolmetschterVerhandlungen, die auf Grund verschiedener Faktoren steigtund eine für das Gericht lästige Verlängerung derVerhandlung mit sich bringt. Ein weiterer Grund für verkürzteDolmetschungen ist aber auch eine falsch verstandene„Loyalität“ der Dolmetscherinnen gegenüber den Gerichten.Durch die Auftragsvergabe sowie Honorarabwicklung überdas Gericht bilden Dolmetscherinnen und Dolmetscher nichtselten mental Allianzen mit dem Gericht. So machen sie auchnicht auf Möglichkeiten aufmerksam, umfassend zudolmetschen, ohne dass die Verhandlung verlängert wird.Dies ist nicht weiter verwunderlich; die oben zitierte Studiehat auch ergeben, dass Richterinnen und Richter alsAuftraggeber (was einen nicht unwichtigen Faktor darstellt!)in der Dolmetscherin ihr „Hilfsorgan“ sehen und nicht seltenerwarten, dass sich in der Erbringung der Dolmetschleistungdie Zielsetzung der Dolmetscherin mit ihrer eigenenZielsetzung deckt. Ein weiterer nicht zu unterschätzenderFaktor ist die Tatsache, dass im Zusammenhang mit dersteigenden Zahl gedolmetschter Verhandlungen immer häufigerunqualifizierte Dolmetscherinnen und Dolmetscher eingesetztwerden. Diese „Dolmetscher“ wissen in der Regelnicht, was ihre Aufgaben sind, sie sind vielmehr auf dieAnleitungen der Richterin oder des Richters angewiesen.6. Möglichkeiten für eine umfassendeDolmetschung...........................................6) Die Sitzposition der Dolmetscherin kann jaauch wechseln. So ist ein Platz neben der Richterinoder dem Richter während der Vernehmung derfremdsprachigen Person durchaus zweckmäßig, fürden Rest der Verhandlung sollte die Dolmetscherinjedoch in unmittelbarer Nähe der fremdsprachigenPerson Platz nehmen.7) In einem am 28. November 2004 vom OberlandesgerichtLinz veranstalteten Seminar „InterkulturelleKommunikation bei Gericht“ für Richteramtsanwärterwurde in einer nachgestellten Gerichtsverhandlungdie Möglichkeit der umfassendenDolmetschung erprobt. Eine Türkisch-Dolmetscherinund ein türkischsprachiger „Beschuldigter“ stelltensich zur Verfügung. Die Dolmetschung in dersimulierten Verhandlung wurde so gestaltet, dassdie Dolmetscherin die gesamte Zeit neben dem Beschuldigtenpositioniert war (zuerst im Zeugenstand,anschließend auf der Parteienbank). Die Verhandlungwurde vollständig gedolmetscht und zwarso, dass die Vernehmung des Beschuldigten für dasGericht bzw. alle Anwesenden laut und alle anderenWie lässt sich die bestehende Situation verbessern? EineMöglichkeit und Notwendigkeit ist, dass prozessleitendeRichterinnen und Richter dafür sorgen, dass in der Verhandlungalles gedolmetscht wird. Hier stellt sich sofort eine fürdie Gerichte entscheidende Frage: kann diese umfassendeDolmetschung ohne wesentliche Verlängerung der Verhandlungenerreicht werden? In diesem Zusammenhang ist insbesondereauf die Möglichkeit des Flüsterdolmetschens zu verweisen,von der viel zu wenig Gebrauch gemacht wird. Flüsterdolmetschenist eine Form des Simultandolmetschens undkommt zum Einsatz, wenn keine Dolmetschanlagen zur Verfügungstehen. Beim Flüsterdolmetschen nimmt die Dolmetscherinneben der fremdsprachigen Person Platz und dolmetschtihr gleichsam simultan die gesamte Verhandlung –und zwar so leise, dass die Verhandlung dadurch nicht gestörtwird. Dadurch entsteht auch kein Zeitverlust, der von denRichtern zumeist als Argument gegen umfassende Dolmetschungenverwendet wird. Flüsterdolmetschen bei Gerichtgehört in Europa zum Standard und könnte in Österreichdurch eine bloße Änderung der Sitzposition der Dolmetscherinumgesetzt werden. An Stelle des tradierten Platzes nebender Richterin oder dem Richter wäre eine Sitzposition derDolmetscherin neben der fremdsprachigen Person zweckmäßig(was im übrigen im Ausland eine Selbstverständlichkeitist). 6 Eine Änderung der Sitzposition würde sohin einerseitsder fremdsprachigen Person eine umfassende Dolmetschungund damit ein umfassendes Verständnis vom Ablauf der Verhandlunggewährleisten; aus kommunikationspsychologischerPerspektive wäre die neue Sitzposition für die fremdsprachigePerson ein Signal sichtbarer Ge<strong>recht</strong>igkeit. Zum anderenhätte das Gericht den Vorteil, dass durch dievollständige Dolmetschung mögliche Verfahrensfehler ausgeschlossenwerden. Allen späteren Einwendungen, der Angeklagtehabe auf Grund der nur zusammenfassenden Dolmetschungsein Frage<strong>recht</strong> nicht wahrnehmen können, er habeim Ergebnis kein faires Verfahren erhalten, ist so vonvornherein der Boden entzogen. 7Wie bereits ausgeführt, unterscheiden sich die Verhaltensmusterder Kommunikationspartner, der Behördenvertretereinerseits und der vor Gericht erscheinenden Bürgerandererseits, diametral voneinander. Dieser Unterschiedist durch das Institutionswissen und die Herrschaftsrolleeinerseits und das Unwissen und die Ohnmacht der Laienandererseits begründet. In einer solchen Konstellationerfolgt die Arbeit der Dolmetscherin: die Dolmetscherinsorgt für Verständigung, ist aber ihrerseits auf dasVerständnis ihrer Kunden angewiesen. Die Erwartungen derAuftraggeber, die Erwartungen der fremdsprachigen Prozessbeteiligtenund die Bestimmungen der EMRK und derProzessordnungen geben der Dolmetscherin einen Handlungsrahmenvor; wie dieser Rahmen und die darin enthaltenenStrategien mit Inhalten gefüllt werden, kann dieDolmetscherin zwar selbst definieren, die Ausführung hängtaber nicht allein von ihr ab, sie ist vielmehr auf dieUnterstützung des Gerichtes angewiesen. Natürlich ist auchdie Kommunikation zwischen der Dolmetscherin und demGericht vom Verhältnis der Über- und Unterordnung gekennzeichnet.8 Grundsätzlich wäre es einfach, mittelsDolmetschung das Verständigungsinteresse beider Seiten zubefriedigen. Zur Erinnerung: Im Zentrum der aktuellen Dometschpraxisstehen aus der Sicht der fremdsprachigenPerson folgende Erwartungen:• umfassendes Verständnis des Verfahrensgangs• Verschaffung von Gehör, Möglichkeit zur Vermittlungdes “guten Eindrucks”Teile der Verhandlung für den Beschuldigten imFlüsterton gedolmetscht wurden. Dadurch entstandkeine unnötige Verlängerung der Verhandlung,gleichzeitig wurden die Beschuldigten<strong>recht</strong>e abervoll gewahrt. Die geübte Vorgangsweise stieß aufungeteilte Zustimmung der Seminarteilnehmer.8) Auch vorsichtige Aufklärungen der Richterinnenund Richter über umfassende Dolmetschungführen häufig dazu, dass die „lästige“ Dolmetscherinvom Gericht einfach nicht mehr bestellt wird.<strong>juridikum</strong> 2004 / 4 Seite 199