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SINNLICHER GENUSS

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tk-report Heiße Themen �<br />

EINE ERLEBTE HANDELS- UND FAMILIEN-GESCHICHTE<br />

Zwei Tiefkühltruhen<br />

im rechten Winkel...<br />

Der Laden der<br />

Familie Niedecken,<br />

Severinstraße 1<br />

in Köln – Anfang<br />

der 60er Jahre.<br />

Ich empfand es immer als überheblich,<br />

wenn jemand unser Geschäft<br />

als „Tante-Emma-Laden“ bezeichnete.<br />

Tante Emma war die dicke<br />

Frau aus dem Witzblatt, die mit<br />

dem Nudelholz hinter der Tür lauerte,<br />

wenn der schmächtige, betrunkene<br />

Ehemann, der Emil hieß, zu<br />

spät nach Hause kam. Mit solchen<br />

Karikaturen hatte weder meine<br />

Mutter, die für mich mindestens so<br />

schön war wie Sophia Loren, noch<br />

das Geschäft, in dem ich jede Ecke<br />

Jugend-Erinnerungen meines auf den Tag genau 20 Jahre jüngeren<br />

Vetters Wolfgang Niedecken – Künstler, Songwriter, Sänger<br />

und Gründer der Rockgruppe BAP – an seinen elterlichen Lebensmittel-Laden<br />

in Köln. Aus seiner jetzt erschienenen Autobiographie<br />

„Für ´ne Moment“. Zugleich in dankbarer Erinnerung<br />

an meinen Onkel Josef Niedecken, Tante Tinny, Vetter<br />

Heinz, meinen Vater Albert und meine Mutter Lisbeth. AV<br />

kannte, etwas zu<br />

tun. Die Erinnerung<br />

baut mir den Laden<br />

wieder auf, ein Regal<br />

nach dem anderen,<br />

die zwei im<br />

rechten Winkel zueinanderstehendenTiefkühltruhen,<br />

rückt alles<br />

wieder an den<br />

Platz, wo es war:<br />

die leuchtend rote<br />

„Berkel“-Wurstschneidemaschine,<br />

die uralte elektrische<br />

Kaffeemühle,<br />

die Milchpumpe,<br />

die „Bahlsen“-Keksdosen<br />

mit Glasdeckeln,<br />

den Ständer<br />

mit Produkten von „Knorr“, die Sauerkrautfässer<br />

aus dunkelbraunem<br />

Steingut, die Zuckersäcke, ein Blechschränkchen<br />

von „Brücken-Kaffee“<br />

und ein anderes aus Holz von „Erdal“<br />

mit Schuhcremedöschen, auf denen<br />

ein gekrönter Frosch zum Sprung bereit<br />

saß.<br />

Ein Reich, in dem meine Mutter<br />

das Regiment führte, nur selten<br />

verließ mein Vater das Büro, stand<br />

auf von seinen Abrechnungen, kam<br />

nach unten, um die Auslagen vor<br />

dem Laden zu kontrollieren, sortierte<br />

das unansehnlich gewordene<br />

Obst aus und füllte schöneres<br />

nach. Dann sprach er mit den Kunden,<br />

zu denen er freundlich war, zugänglicher<br />

oft, als wir ihn erlebten,<br />

weniger in sich gekehrt, auch weniger<br />

nörgelnd, sodass meine Mutter<br />

ihn manchmal aufforderte: „Och<br />

hühr op, Josef! Kannste nit, wemme<br />

unger uns sinn, och ens su<br />

fründlich sinn?“<br />

Aber das gelang ihm nur selten,<br />

dazu war er zu sehr gefangen in seiner<br />

Haut, geprägt von den Erschütterungen<br />

und Entbehrungen der<br />

Kriegsjahre, die ihn dem Frieden<br />

nicht recht trauen ließen. Jeden Tag<br />

konnte es wieder vorbei sein, die<br />

Angst saß in ihm fest, nicht genug<br />

„GOTT SCHÜTZ´<br />

DIESES HAUS“<br />

�<br />

„Unter dem Fenster der ersten<br />

Etage bat eine Inschrift „Gott<br />

schütz´ dieses Haus“, und direkt<br />

über dem Eingang des Ladens<br />

hielt in einer Nische der<br />

heilige Severin Wache, hielt seine<br />

Hand über das Eckhaus, das<br />

einmal der Pfarrei gehört hatte,<br />

und manchmal, wenn ich hungrig<br />

in den Laden lief, war es, als<br />

ob er sich leicht bewegte, seine<br />

steinerne Rüstung schüttelte<br />

und kurz zum Leben erwachte,<br />

ehe er wieder erstarrte…“<br />

getan zu haben, nicht gewappnet zu<br />

sein gegen Hunger und Armut, zu<br />

wenig Vorsorge getroffen zu haben<br />

für die ihm Anbefohlenen. Aus diesem<br />

Grund sparte er an Stellen, an<br />

denen sonst keiner sparte. Nachts<br />

drehte er heimlich das Ewige Licht<br />

aus, das in einer Madonnennische<br />

im Treppenhaus stand, und hoffte,<br />

dass es keiner merken würde, nicht<br />

seine Familie und erst recht nicht<br />

der, an den er unbeirrt wie ein Kind<br />

glaubte.<br />

Im Laden gab es „et Booch“, eine<br />

einfache grau eingebundene Kladde,<br />

in die Name und Betrag geschrieben<br />

wurden, wenn wieder mal<br />

bestimmte Kunden mit schuldbewussten<br />

Gesichtern nach dem Einkauf<br />

vor der Theke standen und um<br />

Stundung baten, diese eine Mal<br />

noch. Kurz vor Weihnachten war die<br />

letzte Seite gefüllt, und „et Booch“,<br />

ein Zeugnis von alltäglicher Not und<br />

von Großherzigkeit, wurde stillschweigend<br />

zu seinen Vorgängern in<br />

den Schrank gestellt. Im Januar kam<br />

„et neue Booch“ ebenso grau, aber<br />

wieder leer. Die Schulden waren wie<br />

von Geisterhand getilgt. „Die mösse<br />

jo jet esse. Die Pänz künne jo nit hungrisch<br />

enn de Schull jonn!“. Kinder<br />

aus armen Familien gab es einige in<br />

der Volksschule Zwirnerstraße. Ich<br />

bewunderte sie insgeheim für ihre<br />

Durchsetzungskraft und listige Härte.<br />

Bei ihnen zu Hause kam nicht zu<br />

jeder Mahlzeit „die gute Butter“ auf<br />

den Tisch. Sie packten in der Pause<br />

ein Brot mit Rübenkraut und Margarine<br />

aus…<br />

10 tiefkühl-report 9 / 2011

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