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Die Bedrohung durch physische Gewalt

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Kapitel 10<br />

<strong>Die</strong> <strong>Bedrohung</strong><br />

<strong>durch</strong> <strong>physische</strong> <strong>Gewalt</strong><br />

Yiannis Arzoumanides und Jeff Roberts<br />

(Übersetzt von Bernadetta Maronde)<br />

Situation 8. Eine Borderline-Patientin war seit 18 Monaten in<br />

einer bestehenden Gruppe. Sie schien unfähig zu sein, irgendeine<br />

Unterstützung der Gruppe anzunehmen und ihre Stimmung<br />

wechselte sehr schnell. In dieser Sitzung waren vier der<br />

sechs Mitglieder anwesend. <strong>Die</strong> Patientin war unfähig, ihre<br />

Gefühle in Bezug auf den Therapeuten auszudrücken. Kurz vor<br />

Ende der Gruppensitzung explodierte sie, und, eine Rasierklinge<br />

präsentierend, drohte sie: „Dich zerstückele ich“! Zwei Mitglieder<br />

flohen in Panik.<br />

Aufgaben und Probleme des Therapeuten<br />

<strong>Die</strong>s ist eine der größten Krisen für eine Gruppe. Der Therapeut<br />

muß hier schnell seine Prioritäten und seine Vorgehensweise festlegen.<br />

Er muß sich entscheiden, ob zunächst mit der Gruppe im<br />

Ganzen, mit den Mitgliedern, die den Raum verlassen haben<br />

oder mit der Borderline-Patientin gearbeitet werden soll und in<br />

welcher Art und Weise. Sollte man versuchen die Mitglieder der<br />

Gruppe daran zu hindern, den Raum zu verlassen? Sollte man<br />

der <strong>physische</strong>n <strong>Gewalt</strong> körperlich begegnen, oder sollte man versuchen,<br />

die Situation in einem verbalen Rahmen zu halten? Es<br />

mag in der Tat lächerlich wirken, <strong>durch</strong> Deutungen mit solch<br />

einer physisch bedrohlichen Situation umgehen zu wollen. „Typisch<br />

weltfremder Analytiker“ mag die Antwort des Lesers sein.<br />

<strong>Die</strong>se <strong>Bedrohung</strong> könnte Theater und weit davon entfernt sein,<br />

in die Tat umgesetzt zu werden. Der Borderline-Patient kann<br />

oftmals nicht zwischen Phantasie und Realität unterscheiden, so


132 Kapitel 10<br />

daß, wenn es dem Gruppenleiter gelingt, weiterhin davon auszugehen,<br />

daß der Patient nur Phantasien vom Zerstückeln hat, es<br />

nicht in die Tat umgesetzt werden würde. Ein übereilter Versuch<br />

die Patientin entwaffnen zu wollen, könnte die <strong>Gewalt</strong> sehr real<br />

werden lassen.<br />

Eine der Aufgaben des Therapeuten ist es, die Gruppenmitglieder<br />

davor zu beschützen, sich selbst oder andere zu verletzen.<br />

Gedanken werden dem Therapeuten möglicherweise<br />

<strong>durch</strong> den Kopf schießen. Wie verläßlich sind diese Gedanken?<br />

Unerwartete <strong>Gewalt</strong>ausbrüche führen in der Regel nicht zu<br />

kühlem, geordnetem Denken. Im ersten Augenblick der <strong>Bedrohung</strong><br />

wird der Therapeut einen Impuls zum Reagieren verspüren.<br />

Ein großer Adrenalinstoß wird bei dem Therapeuten zweifellos<br />

Bauchschmerzen, zitternde Hände, rasenden Puls und schwache<br />

Knie hervorrufen. Der Therapeut wird eine starke Neigung<br />

verspüren, zu kämpfen oder zu fliehen. Das könnte sich in dem<br />

starken Wunsch manifestieren, entweder den Fliehenden zu folgen<br />

oder die Herausforderung anzunehmen und dem Bösewicht<br />

gleichermaßen zu begegnen. Nur indem der Therapeut diesen<br />

Impulsen widersteht, kann er hoffen, wieder Zugang zu seiner<br />

therapeutischen Haltung zu finden und so zu einer reflektierteren<br />

und kreativeren Antwort zu kommen. Wird dafür im Eifer des<br />

Gefechts jedoch genügend Zeit bleiben? Wenn der Therapeut in<br />

der Vergangenheit bereits Erfahrung mit Impuls<strong>durch</strong>brüchen<br />

gemacht und diese verarbeitet hat, dann mag die Zeit ausreichen.<br />

Das erwünschte Ergebnis ist umso wahrscheinlicher, wenn<br />

der Therapeut in der Lage ist zu verdeutlichen, daß er seine eigene<br />

Wut und Angst unter Kontrolle hat und daß er wirklich<br />

einen Dialog wünscht. Der Therapeut muß versuchen, sowohl<br />

in ihm selbst als auch im Patienten eine Verzögerung zwischen<br />

dem Impuls und der darausfolgenden Aktion zu bewirken. Somit<br />

gewinnt er Zeit zum Nachdenken. Üblicherweise ist es in<br />

solchen Situationen besser, zweimal zu überlegen anstatt dem<br />

ersten, von Impulsen <strong>durch</strong>setzten Gedanken zu folgen. Sollte<br />

es sich als unmöglich erweisen, eine solche Verzögerung zu bewirken,<br />

dann ist die Schlacht verloren und der therapeutische<br />

Rahmen zerstört.<br />

Im zweiten Teil dieses Kapitels wird klar, daß einige der<br />

Therapeuten selbst ins Agieren geraten, um diesem speziel-


<strong>Die</strong> <strong>Bedrohung</strong> <strong>durch</strong> <strong>physische</strong> <strong>Gewalt</strong> 133<br />

len Ungleichgewicht der Patientin zu begegnen. Ein erster<br />

wohlüberlegter Gedanke ist: „Wie kann ich die Gruppe in Sicherheit<br />

zusammenhalten?“ Der Therapeut muß die Situation<br />

entschärfen, ohne die Gelegenheit zu verpassen diese therapeutisch<br />

zu nutzen, da das Ausagieren eine dramatische Form der<br />

Kommunikation ist und oft versteckte Themen ausdrückt, die für<br />

lange Zeit unter Kontrolle gehalten wurden.<br />

Eine Methode, das Agieren zu entschärfen, ist die, den Konflikt<br />

oder die Phantasie zuvor im richtigen Augenblick zu deuten,<br />

die am wahrscheinlichsten ausagiert wird. Das richtige Timing ist<br />

entscheidend für den Erfolg einer Intervention, die verhindert,<br />

daß destruktives Agieren stattfindet. Als Präventivmaßnahme ist<br />

es ebenso von beträchtlicher Bedeutung, daß man in engem Kontakt<br />

mit den inneren Prozessen eines Borderline-Patienten steht<br />

und daran arbeitet, eine gegenseitig vereinbarte Realität zu erhalten,<br />

um eine extreme Übertragungsverzerrung zu vermeiden.<br />

<strong>Die</strong>se Präventivmaßnahmen können innerhalb eines sorgfältig<br />

erhaltenen therapeutischen Bündnisses einen deutlichen Wandel<br />

erleichtern. Wenn das nicht möglich oder noch nicht erreicht<br />

ist, muß sich der Therapeut für den besten Weg entscheiden, mit<br />

dem Agieren umzugehen, wenn es auftritt. Der Therapeut muß<br />

sich schließlich fragen, was die Bedeutung dieses Verhaltens ist.<br />

Wie schon Freud ursprünglich feststellte, müssen die, die ihre<br />

Vergangenheit nicht erinnern und verstehen, diese blind wiederholen.<br />

Wenn Patienten agieren ist es wichtig, sich aufmerksam<br />

der Botschaft dieses Verhaltens zu widmen, so daß die Psychopathologie<br />

deutlich wird und Ansätze zum Wandel der Agierenden<br />

gefunden werden können – <strong>durch</strong> das Verstehen der Assoziationen<br />

zur Vergangenheit, die sich zusammen mit dem impulsiven<br />

Agieren entfalten. Freilich muß man sich im Klaren über<br />

die Ziele und die Reife des Patienten sein und das was aufgedeckt<br />

wurde, akzeptieren und nutzen. Es wurde diskutiert, daß<br />

Agieren ein irrationales Verhalten ist, welches oft destruktiv ist<br />

und, wenn nicht analysiert, verstanden und verarbeitet bevor und<br />

nachdem es aufgetreten ist, einen sehr kleinen therapeutischen<br />

Effekt hat. Der Therapeut aus der o. g. Situation muß den verborgenen<br />

geistigen Kontext ergründen, der die Patientin schließlich<br />

motivierte, eine Rasierklinge zu präsentieren und mit <strong>Gewalt</strong><br />

zu drohen. Ebenso wichtig ist das Verständnis der symbolischen


134 Kapitel 10<br />

Elemente des Agierens. Das wesentliche Ziel ist es, der Patientin<br />

zu helfen, sich darüber klar zu werden, was sie tut, warum sie es<br />

tut und wie sie sich davon befreien kann, es abermals zu tun.<br />

Ein Therapeut muß im Denken der Patienten die Vor- und<br />

Nachteile des Agierens ergründen und herausfinden, wie es therapeutisch<br />

genutzt bzw. sein Auftreten minimiert werden kann.<br />

Indem der Therapeut dies beachtet, wird er darauf vorbereitet<br />

sein, mit dem Agieren umzugehen, sobald es auftritt, besonders,<br />

wenn es in dieser extremen Form auftritt.<br />

Es ist bekannt, daß das Agieren außerhalb und innerhalb<br />

der Gruppe stattfinden kann. Einige Therapeuten betrachten<br />

das Agieren als destruktiv und irrational, andere hingegen argumentieren,<br />

daß es der Gruppe und dem Therapeuten wichtige<br />

Einblicke bietet (Agazarian u. Peters 1981, S. 202) und daß es<br />

therapeutisch verwendet werden kann. Das Agieren außerhalb<br />

der Gruppe kann Widerstand sein – ein Ersatz für das Erinnern,<br />

das Bewältigen des Problems innerhalb der Gruppe.<br />

Im Rasierklingen-Fall könnte es sogar als Fortschritt gewertet<br />

werden, daß die Patientin fähig war, ihrem Ärger in dieser<br />

Weise eher innerhalb der Gruppe Ausdruck zu verleihen als<br />

außerhalb, wo niemand der verzerrten Wahrnehmung der Patientin<br />

hätte begegnen können. Außerdem hätte ein Agieren in der<br />

Öffentlichkeit dazu führen können, daß die Patientin sich selbst<br />

oder jemand anderen verletzt und somit unter polizeiliche Kontrolle<br />

geraten und Gegenstand gesetzlicher Sanktionen geworden<br />

wäre. Im allgemeinen mögen Therapeuten kein destruktives<br />

Verhalten, aber wenn es vorkommt, sollten sie in jedem Fall versuchen,<br />

die Kontrolle über den Zwischenfall zu behalten, nicht<br />

zu bestrafen und jeden denkbaren therapeutischen Versuch zu<br />

unternehmen, bevor Verbote zur Anwendung kommen. Nichtsdestotrotz<br />

ist es besser, Gefühle rechtzeitig und verbal zu äußern<br />

als <strong>durch</strong> späteres Agieren auszudrücken. Wir sollten nicht vergessen,<br />

daß es manchmal abhängig von der Genese des Patienten<br />

ein zugrunde liegendes Bedürfnis gibt, kontrolliert zu werden,<br />

aus dem Bewußtsein heraus, daß diese Kontrolle innerlich nicht<br />

zur Verfügung steht. Ein solcher Patient fühlt sich üblicherweise<br />

erleichtert, wenn für externe Kontrolle gesorgt ist. <strong>Die</strong>se Form<br />

der Kontrolle vermittelt die Botschaft, daß sich jemand kümmert<br />

und daß er oder sie in einer sicheren Umgebung ist.


<strong>Die</strong> <strong>Bedrohung</strong> <strong>durch</strong> <strong>physische</strong> <strong>Gewalt</strong> 135<br />

Es ist ebenso essentiell die Reaktion der anderen Gruppenmitglieder<br />

in Betracht zu ziehen und zu hören, was sie über diesen<br />

Vorfall zu sagen haben. Auf lange Sicht hängt das Schicksal der<br />

agierenden Patienten in der Gruppe sehr stark von der Gruppenreaktion<br />

in Bezug auf sie ab sowie von der Art, wie dieser<br />

Vorfall untersucht und verstanden wird. Überdies hinaus mag<br />

die Gruppe eine stark negative oder positive Beteiligung gehabt<br />

haben, so daß die Patientin nicht nur ihren eigenen Ärger, sondern<br />

auch den Gruppenärger ausgedrückt hat.<br />

Ein letzter Punkt zu dieser Situation, der von Bedeutung sein<br />

könnte, ist der, daß es den Autoren so erscheint, daß es üblicher<br />

ist Rasierklingen zur Selbstverletzung zu benutzen, was selten<br />

zum Tod oder zu ernsthaften Verletzungen führt. Der Akt des<br />

Schneidens vermindert Spannungen und verursacht dem Patienten<br />

eine sichtbare äußere Wunde, die anderen ruhig gezeigt<br />

werden kann, eindringlich mit der zugrunde liegenden Botschaft<br />

„Schaut, wozu ihr mich gebracht habt“. In diesem Fall ist die Wut<br />

externalisiert, als ein Anzeichen für eine Art von Fortschritt. In<br />

ihrer Wut bedroht die Patientin den Körper ihres Therapeuten<br />

und sprengt die Gruppe, indem zwei Mitglieder in die Flucht<br />

geschlagen werden.<br />

Ausgewählte Interventionen<br />

Bei dieser Herausforderung unterscheiden sich die erfahrenen<br />

Therapeuten in bemerkenswerter Weise in ihrem Vorgehen. <strong>Die</strong><br />

grundsätzlichen Interventionen lassen sich folgendermaßen unterteilen:<br />

–Körperliche Beherrschung.<br />

– Eine verbale Antwort, die den Patienten instruiert, die Rasierklinge<br />

wegzulegen.<br />

– Eine verbale Antwort, die dahin zielt, die Motivation, die dem<br />

Agieren zugrunde liegt, zu deuten.<br />

– Eine verbale Antwort, die mit Grenzverletzungen umgeht.<br />

– Ein Versuch, diejenigen, die geflohen sind zurückzuholen.<br />

Das sind die Hauptanliegen fast aller Therapeuten. <strong>Die</strong> Unterschiede<br />

liegen in der Abfolge der Antworten. Einige ziehen es<br />

vor, erst verbal zu antworten und dann, wenn notwendig physisch


136 Kapitel 10<br />

zu reagieren. Andere möchten verhindern, daß die Gruppenmitglieder<br />

den Raum verlassen und sich danach mit dem agierenden<br />

Patienten beschäftigen. Wieder andere kümmern sich erst<br />

um den Patienten und dann um die Gruppe. Im folgendem Abschnitt<br />

werden die Interventionen in Bezug auf die erste Antwort<br />

des Therapeuten überprüft.<br />

Körperliche Beherrschung<br />

Einige Therapeuten zeigten in ihren Interventionen die Erwartung<br />

oder tatsächlich die Überzeugung, daß die Drohung ausgeführt<br />

werden könnte. Sie machten sich darüber Sorgen, wie<br />

sie den Patienten, wenn nötig, körperlich beherrschen könnten.<br />

Dazu gibt es verschiedene Überlegungen.<br />

F „Wenn sie auf mich zukommt, werde ich sie körperlich<br />

abwehren müssen, und hoffe, daß ich gleichzeitig mit ihr<br />

reden kann.“ (1)<br />

M „Wenn sie aufspringt und mich angreift, werde ich soviel<br />

<strong>Gewalt</strong> wie nötig anwenden, um sie zu entwaffnen.“ (2)<br />

M „Wenn sie aufsteht, sage ich, ,SETZEN SIE SICH‘. Wenn<br />

sie angreift, werde ich meine Füße gebrauchen, um sie<br />

wegzustoßen.“ (3)<br />

M „Wenn sie angreift, verpasse ich ihr einen rechten Haken.“<br />

(4)<br />

M „Schnell einschätzen, ob sie körperlich zu beherrschen ist<br />

oder die anderen Mitglieder um Hilfe bitten oder ggf. fliehen“.<br />

(5)<br />

M „Ich würde sie mit Namen ansprechen und ruhig sagen,<br />

ich glaube, daß andere Gruppenmitglieder auch wütend<br />

auf mich sind. Wenn sie tätig werden würde, würde ich<br />

sie überwältigen und entwaffnen und um die Mithilfe der<br />

übrigen Gruppe bitten. Dann würde ich sie warnen, daß<br />

jeglicher zukünftiger <strong>Gewalt</strong>akt bedeute, daß sie sofort<br />

aus der Gruppe ausgeschlossen wird.“ (6)<br />

Notiz Der Borderline-Patient spricht oft die unbewußten Gefühle<br />

der Gruppe an. Tatsächliche <strong>Gewalt</strong> ist nicht zu tolerieren.<br />

Mit der Drohung kann gearbeitet werden.


<strong>Die</strong> <strong>Bedrohung</strong> <strong>durch</strong> <strong>physische</strong> <strong>Gewalt</strong> 137<br />

F „(Sendet den anderen Gruppenmitgliedern viele nonverbale<br />

Signale) ... ich bitte den Patienten sehr ruhig, mit<br />

uns darüber zu reden, was los ist. Ich versuche die wirklichen<br />

defensiven Möglichkeiten herauszufinden – Stuhl<br />

oder Kissen in Reichweite?“ (7)<br />

Notiz <strong>Die</strong> Schlüsselfrage ist, ob damit umgegangen werden<br />

kann, oder ob es sich um einen kompletten psychotischen<br />

Zusammenbruch handelt. Wenn ja, ist die körperliche Beherrschung<br />

für jedermanns Sicherheit erforderlich.<br />

Eine verbale Antwort, die den Patienten instruiert,<br />

die Rasierklinge wegzulegen<br />

M „Ich sage laut: Bitte stecken Sie das weg, ich möchte das<br />

nicht hier haben. (An die Borderline-Patientin gerichtet.)<br />

Also, worum geht es?“ (8)<br />

M „Stecken Sie die Klinge weg.“ (9)<br />

F „Bitte geben Sie mir die Rasierklinge.“ (10)<br />

M „Sie sollten wirklich die Klinge wegstecken und versuchen,<br />

an ihre Gefühle heranzukommen.“ (11)<br />

F „Ihre Wut scheint unerträglich zu sein. Sie müssen das<br />

Gefühl haben, daß die Gruppe und ich Ihnen nicht geholfen<br />

haben.“ Ich würde dann, abhängig von den Umständen,<br />

möglicherweise vorschlagen, die Rasierklinge<br />

auf den Boden fallen zu lassen oder sie mir zu geben oder<br />

sie wegzupacken. Dann würde ich fragen, ob sie mich ganz<br />

für sich haben will? Und später: „Haben Sie das Gefühl,<br />

daß ich so nutzlos für Sie bin, daß es Ihnen nichts bringen<br />

würde, wenn Sie mich ganz für sich hätten?“ (12)<br />

Notiz Man muß wirklich an den vorangegangen Stunden beteiligt<br />

gewesen sein, um eine exakte Antwort geben zu<br />

können. Erforderlich ist eine treffende empathische Aussage,<br />

die beinhalten sollte, was man von den Gefühlen des<br />

Patienten weiß. Man könnte zum Beispiel andeuten, daß<br />

es unerträglich schmerzlich für die Patientin sei, sich entwickelnde<br />

Nähe zu spüren. – Es bedrohe und ängstige sie<br />

sowohl in Bezug auf den Gruppenleiter, als auch <strong>durch</strong><br />

die Gruppe.


138 Kapitel 10<br />

M „Ihre Worte genügen, um mich Ihren Zorn spüren zu lassen.<br />

Sie können die Klinge weglegen.“ (13)<br />

Nur sehr wenige Therapeuten unterlassen den Versuch, die Patientin<br />

dahin zu bringen, ihre Gefühle wahrzunehmen und sie<br />

verbal auszudrücken. Es gibt viele Variationen in der Art mit<br />

der <strong>Bedrohung</strong> umzugehen. In der oberen Sequenz haben sich<br />

einige Therapeuten eine nicht aggressive und nicht autoritäre<br />

Art zu eigen gemacht und scheinen eine „unterwürfige“ nicht bedrohliche<br />

Haltung einzunehmen, um die Konfrontation in dieser<br />

Situation zu vermindern. Andere scheinen eher zu hoffen, daß<br />

die Patientin automatisch auf einen Befehl reagiert. Aber man<br />

muß befehlen, damit das passiert. Wiederum andere scheinen der<br />

Aggression mit Aggression zu begegnen, dahin zielend, den Patienten<br />

zu ängstigen und damit zu unterwerfen. <strong>Die</strong> feinsinnigsten<br />

Therapeuten schließlich haben die Erwartung, daß die Klinge bei<br />

einer mehr oder weniger deutenden Bemerkung wie im letzten<br />

Beispiel oben nicht benutzt wird. <strong>Die</strong> Wahl des Interventionsstils<br />

ist sowohl eine Funktion aus Stil und Charakter des Therapeuten,<br />

als auch unvermeidlich determiniert <strong>durch</strong> den gründlichen<br />

Versuch einer Beurteilung des Patienten und seiner Fähigkeit,<br />

die Kontrolle zurück zu bekommen.<br />

Eine verbale Antwort, die dahin zielt, die Motivation,<br />

die dem Agieren zugrunde liegt, zu deuten<br />

F „Ich sehe, daß Sie das Gefühl haben, daß niemand Sie versteht,<br />

oder Ihren Zorn ernst nimmt und daß Sie denken,<br />

es sei der einzige Weg, das zu zeigen. Bitte versuchen Sie<br />

sich hinzusetzen und zu erklären, was Sie fühlen. Setzen<br />

Sie sich zu mir, und erzählen Sie uns.“ (14)<br />

M „Zwei Mitglieder haben ihre Angst ausgedrückt, in dem<br />

sie gegangen sind. Sie greifen lieber an, was man Ihnen<br />

gibt, anstatt es zu nehmen. Sie haben Angst vor dem, was<br />

Sie gerade jetzt so sehr brauchen.“ (15)<br />

M „Ich merke, Ihre Gefühle in Bezug auf mich müssen sehr<br />

scharf sein, sehr heftig. Es ist gut, das offen herauszubringen.<br />

Nicht jeder kann Gefühle in Bezug auf mich oder<br />

die Gruppe ertragen, die so zerreißend sind wie Ihre.<br />

Möglicherweise sind die beiden deshalb gegangen. Aber


<strong>Die</strong> <strong>Bedrohung</strong> <strong>durch</strong> <strong>physische</strong> <strong>Gewalt</strong> 139<br />

sie sollten wirklich die Rasierklinge weglegen und versuchen<br />

an Ihre Gefühle heranzukommen.“ (16)<br />

F „Ihr Zorn scheint fast unerträglich zu sein. Sie müssen das<br />

Gefühl haben, daß die Gruppe und ich Ihnen letztendlich<br />

nicht geholfen haben.“ (17)<br />

M „Sie müssen mich dafür hassen, daß ich Ihnen keine Unterstützung<br />

angeboten habe und mich für die anderen<br />

interessiert und auf die anderen achtgegeben habe. Sie<br />

möchten mich aus der Gruppe herausschneiden, um mich<br />

für sich zu haben und mich aus Ihnen herausschneiden,<br />

damit Sie frei sein können.“ (18)<br />

F „Ihr Akt der Feindschaft mir gegenüber ist vielleicht ein<br />

Versuch aus Ihrer Isolation auszubrechen und uns Ihre<br />

Frustration und Wut mitzuteilen. – Kein Zweifel, daß die<br />

anderen in der Gruppe das verstehen können.“ (19)<br />

M „Sie könnten enttäuscht darüber sein, daß ich nicht hinbekommen<br />

habe, Sie von Ihren schlechten Gefühlen zu befreien<br />

und daß Sie im Begriff sind, damit wegzugehen ...“<br />

(20)<br />

F „Vielleicht ist Ihnen danach, mich zu zerstückeln, weil Sie<br />

ärgerlich und frustriert darüber sind, daß Sie nicht das<br />

bekommen, was Sie von mir oder der Gruppe brauchen.“<br />

(21)<br />

M „Sie scheinen zu fürchten, daß die Gruppe und ich unfähig<br />

sind Ihnen zu helfen oder auch nur zu verstehen, wie verzweifelt<br />

und wütend Sie sich manchmal fühlen.“ (22)<br />

F „Ich möchte nicht, daß Sie mich verletzen, aber ich kann<br />

sehen, daß Sie von starken Gefühlen beherrscht werden.<br />

Denken Sie, daß ich Ihnen ein Stück von mir geben<br />

könnte, wenn Sie mich zerstückeln, das Sie behalten<br />

könnten und nicht mit den anderen Mitgliedern teilen<br />

müssten?“ (23)<br />

F„Möchten Sie, daß ich Schmerzen habe so wie Sie?“ (24)<br />

<strong>Die</strong>se Therapeuten suchen auf die eine oder andere Art einen<br />

Zugang zu den unausgesprochenen und unaussprechlichen unbewußten<br />

Vorstellungen, welche diesem Verhalten zugrunde liegen.<br />

Wie schon zuvor diskutiert, wurzelt diese Art des primitiven


140 Kapitel 10<br />

Verhaltens in Verwundungen während der frühen Entwicklung<br />

<strong>durch</strong> Vernachlässigung oder Traumatisierung <strong>durch</strong> die Eltern.<br />

Solche Wunden sind die Quelle für den inneren Schmerz und<br />

das anhaltende Verlangen nach Rache. Der Verwundete kann<br />

da<strong>durch</strong> gewinnen, daß er in der Lage ist, diese Erfahrung in<br />

Worte zu fassen und da<strong>durch</strong> nicht mehr gezwungen ist, diese<br />

Erfahrung auf primitive Art und Weise wieder zu inszenieren.<br />

Hier versuchen die Therapeuten auf verschiedenen Wegen,<br />

den Patienten in die Lage zu versetzten, einen Zugang zu diesen<br />

zutiefst beunruhigenden Erfahrungen zu finden. Das langfristige<br />

Ziel könnte die Vorstellung sein, daß die Wunden heilen und daß<br />

es zwecklos ist, das ganze Leben an Rachegedanken festzuhalten.<br />

Eine verbale Antwort, die mit Grenzverletzungen umgeht<br />

M „Sie wissen, daß <strong>physische</strong> <strong>Gewalt</strong> in der Gruppe verboten<br />

ist, egal wie wütend wir sind.“ – So autoritär wie möglich.<br />

(25)<br />

M „O.K. Sie sind wütend auf mich, aber hier benutzen wir<br />

Worte. Ich denke, daß Sie das auch können ...“ und dann<br />

eine Warnung, daß in Zukunft jeglicher Akt von <strong>Gewalt</strong><br />

bedeutet, daß sie sofort ihren Platz in der Gruppe verliert.<br />

(26)<br />

F „In der Gruppe können wir über Wut sprechen, aber ich<br />

bin hier nicht auf körperliche Angriffe vorbereitet.“ (27)<br />

M „Sie haben das Recht angehört und ich hoffe auch verstanden<br />

zu werden, ohne daß sie die Anderen dazu erschrecken<br />

müssen.“ (28)<br />

F „Bitte legen Sie die Rasierklinge weg. – Wie ich Ihnen<br />

im Vorgespräch erklärt habe, ist dies eine GE-<br />

SPRÄCHSGRUPPE – Können Sie sagen, was Sie fühlen?<br />

Dann können wir vielleicht etwas damit anfangen.“ (29)<br />

M „In dieser Gruppe soll keine <strong>Gewalt</strong> ausgeübt werden;<br />

entweder legen Sie die Rasierklinge weg oder Sie gehen<br />

raus. Physische <strong>Gewalt</strong> ist nicht möglich, weil es dann zu<br />

unsicher in der Gruppe wäre, eine Therapie zu machen.“<br />

(30)<br />

M „Meine Erfahrung mit gewalttätigen Borderline-Patienten<br />

ist, daß das Vermeiden von extremer Furcht oder ex-


<strong>Die</strong> <strong>Bedrohung</strong> <strong>durch</strong> <strong>physische</strong> <strong>Gewalt</strong> 141<br />

tremen Zorn beruhigt. Ich tue mein Bestes um wieder<br />

Grenzen und Kontrolle für den Patienten zu errichten.<br />

Wenn nötig, äußere ich mich direkt zu diesem Effekt.“<br />

(31)<br />

Der Verlust von Grenzen widerspricht den fundamentalen Prinzipien<br />

von Therapie und ist für viele Therapeuten extrem beängstigend.<br />

Interventionen, die Grenzen wiederherstellen oder<br />

bestärken beruhigen die Therapeuten, die sich selbst dafür<br />

beglückwünschen, daß die Patienten entlastet sind, wenn die<br />

Grenzen erhalten bleiben, was oft der Fall ist. Andererseits, ist<br />

es oft auch so, daß das Erzeugen von Chaos und das Dulden von<br />

Impulsen in der Tat spannend sein kann. Das muß der Therapeut<br />

in seiner Intervention berücksichtigen.<br />

Ein Versuch, diejenigen, die geflohen sind, zurückzuholen<br />

F Wenn sie auf mich zukäme, müsste ich sie körperlich abwehren.<br />

Gleichzeitig hoffe ich, ruhig mit ihr sprechen zu<br />

können. Besäße ich dabei die Geistesgegenwart, würde<br />

ich eines der verbleibenden Mitglieder der Gruppe bitten,<br />

zu versuchen die beiden anderen zurückzuholen. (32)<br />

F Ich würde versuchen die in Panik geratenen Mitglieder zur<br />

Rückkehr in die Gruppe zu bewegen und sagen, „Lassen<br />

Sie uns das ruhig anschauen. Warum muß Y ihre Gefühle<br />

auf diese Art und Weise zum Ausdruck bringen? Was<br />

macht es so schwer für sie zu sagen, wie schlecht sie sich<br />

fühlt? Was bedeutet es, einen <strong>Gewalt</strong>ausbruch zu haben?<br />

(Zu Y) Wen wollen Sie wirklich verletzen?“ (33)<br />

Notiz Der Hauptpunkt ist gelassen zu bleiben und die Kontrolle<br />

über die Gruppe zu behalten. Dafür ist es wichtig die in Panik<br />

geratenen Mitglieder zurückzuholen. Möglicherweise<br />

muß ich eine ganze Weile reden, um die Panik zu stoppen.<br />

Das könnte ebenso dazu beitragen, den Stachel aus der<br />

Aggression zu ziehen.<br />

F Ich stehe auf und versuche, die anderen beiden Mitglieder<br />

daran zu hindern zu gehen. (Wenn sie noch im Raum<br />

sind.) Ich bitte sie, sich hinzusetzen. (34)


142 Kapitel 10<br />

<strong>Die</strong> Patientin droht, den Körper des Therapeuten aufzuschlitzen.<br />

Eine höchst alarmierende Aussicht für den Therapeuten, die anderen<br />

Patienten und unzweifelhaft auch für die Protagonistin<br />

selbst. Das „Wegbluten“ von zwei Mitgliedern aus der Gruppe<br />

entspricht dem potentiellen Bluten des Therapeuten, so daß ein<br />

wünschenswerter Abschluß dieser Situation das Aushalten dieser<br />

<strong>Bedrohung</strong> und das Wiedergewinnen der beiden geflohenen<br />

Mitglieder ist. Dann wäre alles enthalten. Sicherlich haben diese<br />

Therapeuten, die den fliehenden Mitgliedern Aufmerksamkeit<br />

schenken, solch einen Ausgang im Sinn. <strong>Die</strong>se Herangehensweise<br />

ist hoch einzuschätzen, auch wenn fliehende Gruppenmitglieder<br />

fast nie aufzuhalten sind. Der Zusammenhalt ist in der<br />

Regel in der folgenden Stunde erreicht, wenn die Verlorenen<br />

zurückkehren.<br />

Abschließende Bemerkungen<br />

Soweit es möglich ist, sollte man im Verlauf einer Therapie das<br />

Auftreten von beunruhigenden Gefühlen, Gedanken und Verhalten<br />

erlauben und erwarten. Man kann nicht alles Agieren<br />

in einer Gruppe verbieten, weil es die Ausdrucksmöglichkeiten<br />

der Gruppenmitglieder zu sehr begrenzen würde. Das würde<br />

das Auftreten einiger Übertragungselemente verhindern, die die<br />

Gruppe mit Informationen übereinander versorgen. Wie auch<br />

immer, dagegen richtet sich das Bedürfnis, die Integrität der<br />

Gruppe als sicheren therapeutischen Raum zu beschützen und<br />

weiter den Ausdruck von Wut und Verzweiflung in die Richtung<br />

von bewußten Verbalisieren zu kanalisieren. Da<strong>durch</strong> soll das<br />

Selbstbewußtsein gesteigert werden, sowie die Möglichkeit der<br />

bewußten Kontrolle des Verhaltens und der Lebensstrategien.<br />

Anmerkung<br />

Aus der Schilderung dieser Situation geht nicht hervor, ob die Borderline-<br />

Patientin aufstand und auf den Therapeuten zuging, oder ob sie die Rasierklinge<br />

hervorholte während sie saß und vom Platz aus sagte, „Ich zerstückele<br />

Dich!“ <strong>Die</strong> Beschreibung läßt das für Spekulationen und damit für verschiedene<br />

Reaktionen offen. <strong>Die</strong>se Zweideutigkeit hat möglicherweise zu der<br />

großen Breite von Antworten beigetragen. Jeder der Teilnehmer konnte<br />

ein anderes Bild von sich selbst in dieser Situation entwerfen.

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