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Interventionen, die der Bildung und Aufrechterhaltung eines ...

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Kapitel 11<br />

<strong>Interventionen</strong>, <strong>die</strong> <strong>der</strong> <strong>Bildung</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Aufrechterhaltung</strong> <strong>eines</strong><br />

therapeutischen Milieus <strong>die</strong>nen<br />

Jeff Roberts<br />

(Übersetzt von Barbara Kowalenko)<br />

Der Leiter einer therapeutischen Gruppe wird sowohl <strong>die</strong> Therapie<br />

des Einzelnen, als auch <strong>die</strong> Entwicklung <strong>eines</strong> therapeutischen<br />

Milieus in seiner Gruppe anstreben. D. h. er muß<br />

sich sowohl um das einzelne Mitglied als auch um <strong>die</strong> Gruppe<br />

kümmern. Die Bedürfnisse <strong>der</strong> Gruppe sind nicht immer gleichzeitig<br />

<strong>die</strong> Bedürfnisse des Einzelnen, obwohl auf lange Sicht den<br />

Bedürfnissen des Einzelnen am besten durch <strong>die</strong> Entwicklung<br />

<strong>eines</strong> therapeutischen Milieus in <strong>der</strong> Gruppe <strong>und</strong> <strong>die</strong> Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Gruppe zu einem therapeutischen Instrument entsprochen<br />

wird. Die meisten Gruppenanalytiker glauben, daß <strong>die</strong> Anwendung<br />

<strong>der</strong> Methode, <strong>die</strong> S. H. Foulkes vertrat, zur Entwicklung<br />

<strong>eines</strong> günstigen therapeutischen Milieus <strong>und</strong> einer effektiven<br />

therapeutischen Gruppe führen wird. Es können jedoch destruktive<br />

Prozesse in <strong>der</strong> Gruppe möglicherweise für kurze o<strong>der</strong><br />

sogar lange Zeitperioden auftreten, <strong>die</strong> bestenfalls untherapeutisch<br />

<strong>und</strong> im schlimmsten Fall schädigend sind. In den folgenden<br />

Abschnitten werden Überlegungen über <strong>die</strong> Balance zwischen<br />

destruktiven <strong>und</strong> konstruktiven Prozessen in <strong>der</strong> Gruppe dargelegt<br />

<strong>und</strong> wie <strong>die</strong>se durch <strong>Interventionen</strong> des Leiters beeinflußt<br />

werden können.<br />

Die Gruppenmatrix<br />

Es wird allgemein angenommen, daß <strong>die</strong> Idee <strong>der</strong> Matrix einer<br />

<strong>der</strong> bedeutendsten Beiträge von Foulkes zur gruppenanalytischen<br />

Theorie ist. Er definierte an verschiedenen Stellen den


144 Kapitel 11<br />

Begriff <strong>der</strong> Gruppenmatrix. Eine <strong>der</strong> einleuchtendsten Definitionen<br />

ist <strong>die</strong> folgende:<br />

Die Matrix ist ein angenommenes Netz von Kommunikation<br />

<strong>und</strong> Beziehung in einer bestimmten Gruppe. Sie ist<br />

<strong>der</strong> gemeinsam geteilte Gr<strong>und</strong>, welcher letztlich den Sinn<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Bedeutung aller Ereignisse bestimmt <strong>und</strong> auf dem<br />

alle Kommunikationen verbal <strong>und</strong> nonverbal stattfinden.<br />

(Foulkes 1964)<br />

Mit <strong>die</strong>ser Idee lieferte er eine Möglichkeit, unser Verständnis<br />

von menschlicher Kommunikation in Gruppen mit einem umfangreichen<br />

wissenschaftlichen Material zu verbinden, welches<br />

mit Kreation <strong>und</strong> Verän<strong>der</strong>ung zu tun hat. In einem früheren<br />

Aufsatz schrieb Roberts:<br />

Den Analytischen Psychologen zufolge, insbeson<strong>der</strong>e<br />

Neumann (1970), kann das Bewußtsein als eine Kreation<br />

betrachtet werden, welche langsam <strong>und</strong> schmerzvoll in<br />

vielen Jahrtausenden aus dem kollektiven Unbewußten<br />

hervorgegangen ist. Foulkes sagt im Gr<strong>und</strong>e genommen<br />

das gleiche; Indem er <strong>die</strong> Gruppenanalyse för<strong>der</strong>te, deutete<br />

er an, so wird behauptet, daß es für den Einzelnen therapeutisch<br />

sei, mit dem Bewußtsein in eine Gruppe einzutauchen,<br />

um nach <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung in <strong>der</strong> Gruppe<br />

gestärkt <strong>und</strong> neu definiert wie<strong>der</strong> aufzutauchen. Daher<br />

kann <strong>die</strong> Entwicklung des Bewußtseins mit dem (gestaltpsychologischen)<br />

Figur-Gr<strong>und</strong>-Phänomen <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

verglichen werden <strong>und</strong> (ein wenig vereinfacht,<br />

aber treffend) als sich in Relation zu einem Hintergr<strong>und</strong><br />

definierend verstanden werden. Die Gruppenmatrix<br />

kann einen solchen Hintergr<strong>und</strong> bilden, aus welchem<br />

ein beschädigtes individuelles Bewußtsein gekräftigt hervorgehen<br />

kann. Diese Sichtweise korrespon<strong>die</strong>rt gut mit<br />

an<strong>der</strong>e Bedeutungen des Wortes Matrix (Oxford English<br />

Dictionary 1971):<br />

1. Mutter, schwanger o<strong>der</strong> auch als Gebärende<br />

2. Mutterschoß<br />

3. Gr<strong>und</strong>substanz, Milieu<br />

4. Gußform, in <strong>der</strong> etwas hergestellt wird.


<strong>Bildung</strong> <strong>und</strong> <strong>Aufrechterhaltung</strong> <strong>eines</strong> therapeutischen Milieus 145<br />

5. Platz, an dem etwas Strukturiertes, häufig lebendig<br />

<strong>und</strong> vielleicht sehr wertvoll, während seiner Formation<br />

o<strong>der</strong> Transformation gehalten wird.<br />

(Roberts 1983)<br />

Roberts schlägt vor, <strong>die</strong> Gruppenmatrix als Kontext zu sehen, in<br />

dem eine sichere <strong>und</strong> bemerkenswert tiefe Regression erreicht<br />

werden kann, <strong>die</strong> eine behutsame neue Formation o<strong>der</strong> Transformation<br />

wesentlicher Persönlichkeitselemente ermöglicht.<br />

Benigne <strong>und</strong> maligne Matrizen<br />

Die Idee einer Gruppenmatrix liefert ein hervorragendes Bild für<br />

das Vermögen <strong>der</strong> Gruppe, Energie zu halten <strong>und</strong> zu transformieren.<br />

Diese ziemlich tiefgründige <strong>und</strong> vielleicht esoterisch anmutende<br />

Idee korreliert jedoch mit Forschungsergebnissen von<br />

Yalom; daß <strong>die</strong> kohäsive Gruppe eine effektive Gruppe sei. Ein<br />

eng gewobenes Netz fängt mehr Fische, ein eng gewobener Teppich<br />

ist kostbarer. Die Gruppenmatrix; eine Metapher für <strong>die</strong><br />

„therapeutische Umwelt“, kann sowohl ein Behälter für destruktive<br />

als auch für kreative Prozesse sein. Einige Vorstellungen, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong>s verdeutlichen, sind <strong>die</strong> folgenden.<br />

Das Spinnennetz: Hier sitzt eine furchtsame Kreatur in <strong>der</strong> Mitte<br />

einer von ihr konstruierten Matrix. Die Intention <strong>die</strong>ses Netzes<br />

ist es, unschuldige Kreaturen einzufangen, so daß jene <strong>die</strong>se<br />

paralysieren, lagern <strong>und</strong> verzehren kann. Ohne Zweifel werden<br />

einige Gruppenleiter auf <strong>die</strong>se Weise wahrgenommen <strong>und</strong> vielleicht<br />

neigen sie tatsächlich dazu, wie psychologische Spinnen<br />

ihre Gruppenmitglie<strong>der</strong> zu betrachten.<br />

Das Labyrinth: Die Matrix wurde von Hajidaki (1989) mit einem<br />

Labyrinth gleichgesetzt. Er gab einen detaillierten <strong>und</strong> wissenschaftlichen<br />

Überblick <strong>der</strong> Assoziationen <strong>und</strong> Verbindungen,<br />

welche durch <strong>die</strong> Betrachtung des Labyrinths erzeugt werden<br />

können. Ich kann <strong>die</strong>se Facette <strong>der</strong> Matrix nur kurz berühren,<br />

aber es bestehen keine Zweifel, daß Labyrinthe sehr bedrohliche<br />

Orte sind. Man kann für alle Ewigkeit verloren gehen o<strong>der</strong><br />

noch schlimmer, einem gefährlichen Biest begegnen, welches wie<br />

<strong>die</strong> Spinne, gefangen nimmt <strong>und</strong> verzehrt.<br />

Das Fischnetz: Die Gruppenmatrix kann auch mit einem Fischnetz<br />

verglichen werden, welches es ermöglich, wun<strong>der</strong>volle <strong>und</strong>


146 Kapitel 11<br />

fremde Wesen in das Gruppenbewußtsein zu bringen. Von Zeit<br />

zu Zeit jedoch werden <strong>die</strong> Fischnetze Kreaturen an Bord holen,<br />

<strong>die</strong> so fremd <strong>und</strong> aggressiv sind, daß sie von den Fischern nicht<br />

gehalten werden können, einigen <strong>der</strong> Besatzung schaden <strong>und</strong> das<br />

Fischerboot vielleicht zum Sinken bringen. Manchmal bringt eine<br />

Gruppe tatsächlich psychologischen Horror zum Bewußtsein,<br />

den sie nicht halten kann <strong>und</strong> <strong>der</strong> lange Perioden <strong>der</strong> Stagnation<br />

o<strong>der</strong> Desintegration zur Folge hat.<br />

Der Käfig: Die Gruppenmatrix kann für lange Zeit einen wertvollen<br />

Rahmen für ihre Mitglie<strong>der</strong> bilden. Schließlich kann <strong>die</strong>ser<br />

Rahmen doch zum Käfig werden, <strong>der</strong>, obwohl er Stütze bietet,<br />

keine Freiheit zu gewähren scheint. Tatsächlich hörte ein Teilnehmer<br />

<strong>eines</strong> Londoner Qualifikationskurses das Klirren einer<br />

zuschlagenden Gefängnistür, als er den Raum anläßlich <strong>der</strong> ersten<br />

Sitzung seiner zweiwöchentlich stattfindende Gruppe trat.<br />

Er erwartete mit Schrecken eine wenigstens fünfjährige Gefangenschaft.<br />

Die Korruption <strong>der</strong> Matrix: Matrizen können scheinbar auf verschiedenen<br />

Wegen korrumpiert, verdorben o<strong>der</strong> zerstört werden.<br />

Die Metaphern dafür könnten Knoten, Wirrwarr, Unterbrechungen,<br />

Straßenblockaden, Verkehrsstau, das Werk von Maulwürfen,<br />

<strong>der</strong> Einfluß von einer Informationen verzerrenden Propaganda<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Gegenwart von Ratten in einem Abwassersystem<br />

sein. Wenn man <strong>die</strong>ser Assoziationskette folgt, kann man<br />

schlußfolgern, daß bestimmte Arten <strong>der</strong> Destruktivität in <strong>der</strong><br />

Matrix das Ergebnis von Vernachlässigung <strong>und</strong> Unachtsamkeit<br />

sind.<br />

Destruktive Prozesse in Gruppen<br />

Die Tatsache, daß Gruppenprozesse sowohl für <strong>die</strong> Gruppe als<br />

auch für ihre Mitglie<strong>der</strong> über lange Zeitperioden destruktiv sein<br />

können, stand im Brennpunkt des Interesses <strong>der</strong> letzten 15 Jahre.<br />

Schon zuvor wies W. R. Bion auf <strong>die</strong>ses Phänomen hin. Er berichtete<br />

in „Experiences in Groups“ (1961), welche primitiven <strong>und</strong><br />

destruktiven Funktionsweisen Gruppen hervorbringen. Angesichts<br />

des Problems, Teil einer aufgabenlosen Gruppe zu sein, unterminieren<br />

sie ständig <strong>die</strong> Versuche des Leiters defensive o<strong>der</strong><br />

kooperative Lösungen zu entwickeln. Diese destruktiven Funk-


<strong>Bildung</strong> <strong>und</strong> <strong>Aufrechterhaltung</strong> <strong>eines</strong> therapeutischen Milieus 147<br />

tionsweisen bezeichnete er als „Gr<strong>und</strong>annahmen“. Bion hatte<br />

nicht <strong>die</strong> Absicht, therapeutische Gruppen durchzuführen, <strong>und</strong><br />

das scheint auch <strong>die</strong> Erfahrung <strong>der</strong> meisten seiner Gruppenmitglie<strong>der</strong><br />

zu sein. Jedoch haben Gruppen, <strong>die</strong> in einer för<strong>der</strong>nden<br />

<strong>und</strong> weniger Angst provozierenden Weise als Bions geleitet werden,<br />

wie<strong>der</strong>holt bewiesen, daß sie in <strong>der</strong> Lage sind, destruktive<br />

Kräfte innerhalb <strong>der</strong> Gruppe zu überwinden <strong>und</strong> ein gutes Ergebnis<br />

für <strong>die</strong> meisten engagierten <strong>und</strong> gut motivierten Patienten<br />

zu erzielen. Die gruppenanalytische Technik ist solch eine Methode,<br />

bei <strong>der</strong> im allgemeinen <strong>die</strong> Gruppenanalytikern mit aller<br />

Zuversicht erwarten, den kreativen Umgang mit destruktiven<br />

Tendenzen in einer Gruppe för<strong>der</strong>n zu können. Nichtsdestoweniger,<br />

eine fehlerfreie Technik ist nicht zu erwarten.<br />

Zwei wichtige Ideen sind durch Gruppenanalytiker entwickelt<br />

worden, <strong>die</strong> destruktive Prozesse in gruppenanalytischen Gruppen<br />

beschreiben <strong>und</strong> versuchen, <strong>die</strong>se zu verstehen. Die erste<br />

Idee von Zinkin (1983) identifiziert ein Phänomen, welches er<br />

„maligne Spiegelung“ nannte. Die zweite Idee von Nitsun (1991)<br />

führt eine „Antigruppe“ ins Feld. Diese verfolgt Prozesse, wodurch<br />

Gruppen, <strong>die</strong> mit einer therapeutischen Absicht beginnen,<br />

in eine Phase eintreten, in welcher dunklere Motivationen auftauchen.<br />

Maligne Spiegelungen<br />

„Durchlebte er in <strong>die</strong>sem höchsten Augenblick vollkommener<br />

Erkenntnis noch einmal <strong>die</strong> Einzelheiten <strong>der</strong> Begierden<br />

<strong>und</strong> Versuchungen <strong>und</strong> Hingabe, denen er in seinem<br />

Leben erlegen war? Im Flüsterton rief er einer Vision,<br />

einer Erscheinung zu – er rief es zweimal, wenn <strong>der</strong><br />

Ruf auch nicht lauter war als ein Hauch – ,Das Grauen!<br />

Das Grauen¡“ (Conrad 1902; Übersetzung: In Erzählung;<br />

Herz <strong>der</strong> Finsternis Elli Berger)<br />

Die gruppenanalytische Gruppe ist dichterisch mit einem Spiegelsaal<br />

verglichen worden (Anthony 1957). Das betont <strong>die</strong> Erfahrung<br />

<strong>der</strong> Gruppenmitglie<strong>der</strong>, welche <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong><br />

ihrer Gruppe nicht nur wahrnehmen, son<strong>der</strong>n Aspekte von sich<br />

in den an<strong>der</strong>en reflektiert sehen. In den meisten Beschreibungen<br />

<strong>der</strong> Spiegelung wird angenommen, daß <strong>der</strong> Effekt, sich in


148 Kapitel 11<br />

solch einem Spiegelsaal wie<strong>der</strong>zuerkennen von Vorteil für das<br />

Individuum sei <strong>und</strong> zu einer positiven Entwicklung <strong>der</strong> Gruppe<br />

beitrage. Doch Zinkin (1983) führt aus, daß <strong>die</strong> in dem Spiegelsaal<br />

erworbene Selbstsicht als intensive Verfolgung erfahren<br />

werden kann. Die Selbsterkenntnis durch den Gruppenprozeß<br />

kann zu Bestätigung, Verän<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> Wachstum führen, aber<br />

sie kann auch Wut, Panik, Verleugnung <strong>und</strong> Flucht herbeiführen.<br />

Wie Zinkin nahe legt, kann <strong>der</strong> eigene Blick in den Spiegel<br />

eher eine entfremdende als eine aufbauende Erfahrung sein.<br />

Dennoch geben Spiegel meistens <strong>die</strong> Wahrheit wi<strong>der</strong> (Garland<br />

1983). Das Grauen für einige wird nicht durch den Spiegelprozeß<br />

<strong>und</strong> auch nicht durch <strong>die</strong> Verzerrung erzeugt, son<strong>der</strong>n<br />

es ist möglicherweise in <strong>der</strong> Vorstellung von sich selbst verankert.<br />

Die gehasste <strong>und</strong> wirklich furchtbare Erfahrung, <strong>die</strong> oft<br />

gewaltsam abgewehrt wird, ist wohl <strong>die</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Differenz<br />

zwischen Wahrnehmung des Spiegelbildes <strong>und</strong> individueller Erwartung<br />

davon wie man gesehen werden will.<br />

Ein Patient einer Gruppe, <strong>die</strong> durch den Autor geleitet<br />

wurde, verbrachte sozusagen gebannt wie Narziß nur Zeit<br />

vor dem Spiegel, den er seinem Leben <strong>und</strong> sich vorhielt.<br />

Er war jedoch nicht durch <strong>die</strong> Schönheit des Gesehenen<br />

gefesselt, son<strong>der</strong>n wie Kurtz, <strong>der</strong> mysteriöse Antiheld Joseph<br />

Conrads (1902) in „Das Herz <strong>der</strong> Finsternis“, durch<br />

„das Grauen, das Grauen“.<br />

Die Psychoanalytiker <strong>und</strong> Gruppenanalytiker sind gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

in <strong>der</strong> Wahrheitssuche mit <strong>der</strong> Erwartung engagiert, daß <strong>die</strong> Entdeckung<br />

<strong>der</strong> Wahrheit ges<strong>und</strong>es Wachstum <strong>und</strong> Entwicklung des<br />

Individuums <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gruppe för<strong>der</strong>n wird. Einige Menschen<br />

sind jedoch nicht bereit, <strong>der</strong> eigenen Wirklichkeit ins Gesicht zu<br />

sehen, <strong>und</strong> sie werden wahrscheinlich niemals dazu bereit sein.<br />

Diese Menschen neigen zu katastrophalen Reaktionen, wenn sie<br />

<strong>die</strong> eigene Wahrheit, zu schnell, zu deutlich o<strong>der</strong> zu massiv erreicht.<br />

Die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophenreaktion bei<br />

<strong>der</strong> Begegnung mit ihrer Wirklichkeit schwankt entsprechend<br />

<strong>der</strong> Art <strong>und</strong> Weise <strong>der</strong> Darbietung <strong>und</strong> des Zusammenhangs, in<br />

welchem sie vorgebracht wird. Eine taktlose Konfrontation in<br />

einer neuen Gruppe ist völlig verschieden vom langsamen Erarbeiten<br />

<strong>der</strong> Wahrheit in einer tragfähigen <strong>und</strong> fürsorglichen Ma-


<strong>Bildung</strong> <strong>und</strong> <strong>Aufrechterhaltung</strong> <strong>eines</strong> therapeutischen Milieus 149<br />

trix. Die Katastrophenreaktion <strong>eines</strong> Gruppenmitgliedes, welche<br />

aufgr<strong>und</strong> einer Selbsterkenntnis infolge <strong>der</strong> Spiegelung durch <strong>die</strong><br />

Gruppe hervorgerufen wurde, kann eine destruktive Phase in <strong>der</strong><br />

Gruppe initiieren o<strong>der</strong> einen bereits begonnenen destruktiven<br />

Gruppenprozeß verstärken. Eine <strong>der</strong>artige destruktive Phase ist<br />

in einem Artikel von Zinkin anschaulich beschrieben.<br />

Die Kenntnis <strong>die</strong>ses Problem hat starke Auswirkungen auf<br />

<strong>die</strong> Auswahl <strong>und</strong> <strong>die</strong> Zusammensetzung <strong>der</strong> Gruppen <strong>und</strong> auf<br />

den Zeitpunkt <strong>der</strong> <strong>Interventionen</strong> im Gruppenprozeß. Dieses<br />

Problem erfor<strong>der</strong>t auch über jene Patienten nachzudenken, <strong>die</strong><br />

plötzlich <strong>die</strong> Gruppen verlassen, aus welchem äußeren Gr<strong>und</strong><br />

auch immer. Es ist wahrscheinlich, daß solche Patienten Probleme<br />

haben, <strong>der</strong> Wahrheit über sich selbst, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Gruppe<br />

aufgezeigt wird, ins Gesicht zu sehen. Je dramatischer <strong>der</strong> Weggang,<br />

desto wahrscheinlicher ist es, daß <strong>der</strong> Wahrheit niemals<br />

ins Gesicht gesehen werden kann. Schließlich wurde Kurtz mit<br />

seinen Wahrheiten an seinem Totenbett konfrontiert.<br />

Die Antigruppe<br />

Nitsun (1991) zeigt auf, daß <strong>der</strong> Glaube, <strong>die</strong> Gruppe sei an sich<br />

kreativ <strong>und</strong> daher therapeutisch, nur <strong>die</strong> Konsequenz <strong>eines</strong> blinden<br />

Idealismus sein kann. Nach seiner Erfahrung werde sich insbeson<strong>der</strong>e<br />

in einer neuen Gruppe <strong>und</strong> vor allem, wenn Auswahlfehler<br />

gemacht worden sind, eine Antigruppe entwickeln, <strong>der</strong>en<br />

Ziel es sei, <strong>die</strong> Gruppe zu fragmentieren, zu unterminieren <strong>und</strong><br />

dadurch ihr integratives <strong>und</strong> therapeutisches Potential zunichte<br />

zu machen. Aus Nitsuns Werk geht hervor, daß <strong>die</strong> Balance zwischen<br />

Gruppe <strong>und</strong> Antigruppe unsicherer ist, als wir glauben.<br />

Tatsächlich ist es fe<strong>der</strong>leicht, <strong>die</strong> Gruppe in jede Richtung zu kippen.<br />

Foulkes Methode ist vor allem mühelos <strong>und</strong> subtil, sodaß<br />

eine zeitlich gut gewählte Intervention durch den Leiter, den<br />

Prozeß eher in Richtung Gruppe als in Richtung Antigruppe<br />

kippt, vergleichbar mit <strong>der</strong> Plazierung <strong>der</strong> Fe<strong>der</strong> auf einer Waage.<br />

Das Studium von Foulkes <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en gruppenanalytischen<br />

Autoren führt möglicherweise dazu, daß <strong>die</strong> Therapeuten <strong>der</strong><br />

Fähigkeit <strong>der</strong> Gruppe, ein therapeutisches Instrument zu werden,<br />

zu bereitwillig vertrauen. Foulkes behauptet wie oben ausgeführt;<br />

Gruppenanalysen sind Analysen <strong>der</strong> Gruppe durch <strong>die</strong><br />

Gruppe einschließlich des Leiters. Solch ein Statement mag ein


150 Kapitel 11<br />

falsches Sicherheitsgefühl beim Leiter hervorrufen <strong>und</strong> zu <strong>der</strong><br />

Tendenz zu „fiedeln, wenn Rom brennt“ führen. Ein wenig Mißtrauen<br />

in <strong>die</strong> sich entwickelnde Matrix könnte für den Leiter<br />

nützlich sein. Er sollte <strong>die</strong> Kommunikation in <strong>der</strong> frühen Phase<br />

seiner Gruppe pflegen. Ebenso ist es gut, gegenüber einer älteren<br />

Gruppe mißtrauisch zu sein, <strong>die</strong> ihren Weg geht <strong>und</strong> gut ausgetretenen<br />

Pfaden folgt, während sie <strong>die</strong> wirklich gefährlichen Wege<br />

sorgfältig <strong>und</strong> verschwörerisch vermeidet.<br />

Intervenieren an Wendepunkten<br />

Der Gruppentherapeut wählt einen Beruf, in welchem er auf verschiedenen<br />

Ebenen zwangsläufig in Lebensprozesse an<strong>der</strong>er eingreift.<br />

Das Thema <strong>die</strong>se Buches ist das aktive Eingreifen in den<br />

Entwicklungsprozeß einer kleinen gruppenanalytischen Therapiegruppe.<br />

Die Intention <strong>der</strong> Autoren ist es, das Bewußtsein <strong>der</strong><br />

Gruppentherapeuten für <strong>die</strong> Art <strong>und</strong> Weise zu stärken, in <strong>die</strong> sie<br />

in Gruppenprozesse eingreifen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Palette <strong>der</strong> möglichen<br />

<strong>Interventionen</strong> <strong>und</strong> Interventionsstile, <strong>die</strong> ihnen zur Verfügung<br />

stehen, aufzuzeigen, ohne <strong>die</strong> übrigen Regeln <strong>der</strong> Gruppenanalyse<br />

anzutasten.<br />

Die Aufgabe <strong>der</strong> Gruppentherapeuten ist <strong>die</strong> Pflege einer<br />

ges<strong>und</strong>en Gruppenmatrix. Sie mögen Notiz von den Ideen in<br />

<strong>die</strong>sem Abschnitt nehmen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Metaphern nützlich finden,<br />

<strong>die</strong> ein Gefühl für den Prozeß ermöglichen, <strong>der</strong> sowohl in <strong>der</strong><br />

Gruppe als auch bei den Mitglie<strong>der</strong>n vor sich gehen kann. Ges<strong>und</strong>e<br />

Matrizen enthalten unangenehme, destruktive Elemente<br />

<strong>und</strong> Eigenschaften, aber zuweilen kann sich <strong>die</strong> gesamte Struktur<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Gruppenprozeß auf eine Art <strong>und</strong> Weise entwickeln,<br />

<strong>die</strong> ihre Mitglie<strong>der</strong> beschädigt. Das muß einem Leiter bewußt<br />

sein, <strong>und</strong> er muß eine Interventionsstrategie entwickeln, <strong>die</strong> <strong>der</strong><br />

Gruppe ermöglicht zu ges<strong>und</strong>en. Dieses Kapitel beschäftigt sich<br />

mit dem Sinn von <strong>Interventionen</strong> <strong>und</strong> mit dem damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Glauben, daß <strong>der</strong> Psychotherapeut „Fertigkeiten des Intervenierens“<br />

in den psychologischen Prozessen des Einzelnen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Gruppentherapeut in den mehr komplexen interpersonalen<br />

Prozessen entwickeln kann, <strong>die</strong> zu dem beitragen, was allgemein<br />

als Gruppendynamik bekannt ist. Für <strong>die</strong> meiste Zeit wird<br />

<strong>der</strong> Gruppentherapeut einen gutartigen <strong>und</strong> kreativen Prozeß


<strong>Bildung</strong> <strong>und</strong> <strong>Aufrechterhaltung</strong> <strong>eines</strong> therapeutischen Milieus 151<br />

ermöglichen <strong>und</strong> dadurch ein therapeutisches Milieu för<strong>der</strong>n.<br />

Dennoch wird es zunehmend klar, daß <strong>die</strong> Gruppe nicht notwendigerweise<br />

kreative Pfade einschlägt, <strong>die</strong> meisten Gruppensituationen<br />

in <strong>die</strong>sem Buch veranschaulichen das.<br />

Es gibt Zeiten, da scheint sich <strong>die</strong> Gruppe um einen Punkt<br />

zu drehen, um sich danach in eine konstruktive o<strong>der</strong> destruktive<br />

Richtung zu bewegen. Die Energie, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Gruppe verfügbar<br />

hat, kann sie für beide Wege nutzen. Die Kunst des Gruppenanalytikers<br />

besteht im kreativen Umgang mit <strong>der</strong> Entfaltung <strong>und</strong><br />

Auflösung <strong>eines</strong> solchen Wendepunktes. Es ist schon häufig gesagt<br />

worden, daß <strong>die</strong> therapeutische Gruppe einen Mikrokosmos<br />

des normalen Lebens repräsentiert. So ist <strong>der</strong> Umgang mit<br />

Wendepunkten im Leben <strong>eines</strong> Einzelnen wahrscheinlich ein<br />

wesentliches Element <strong>der</strong> Lebenskunst, welcher sozusagen im<br />

geschützten Milieu einer therapeutischen Gruppe geübt werden<br />

kann. Eine Schlüsselaufgabe des Leiters ist es, <strong>die</strong> Kontinuität<br />

<strong>eines</strong> schützenden Milieus sicherzustellen.<br />

Die gruppenanalytische Gruppe <strong>und</strong> <strong>der</strong> Leiter arbeiten auf<br />

<strong>der</strong> Suche nach <strong>der</strong> Bedeutung des Verhaltens <strong>der</strong> Gruppe <strong>und</strong><br />

ihrer Mitglie<strong>der</strong> zusammen. An Wendepunkten in einer Gruppe<br />

o<strong>der</strong> im Leben <strong>eines</strong> Einzelnen wird <strong>der</strong> Sinn wichtig <strong>und</strong> in<br />

<strong>der</strong> Gruppe wird <strong>die</strong> Interpretation <strong>die</strong>ses Sinns ein Hauptbestandteil<br />

<strong>der</strong> Therapie. In dem folgenden Kapitel wird das therapeutische<br />

Werkzeug <strong>der</strong> Interpretation weiter <strong>und</strong> genauer ausgeführt.

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