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Deutschland im Jahr 2035 (Leseprobe) 691,00 kb - PDF

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2 Inhalt<strong>Deutschland</strong> <strong>2035</strong>:Inhalt ................................................................................................................................. 2VorwortProf. Dr. Kurt J. LaukJetzt handeln, übermorgen profitieren .........................................................4Kapitel 1 – <strong>Deutschland</strong> und Europa .........................................................................8Journalistisches SzenarioWohlstand für alle .............................................................................................10Prof. Dr. Clemens FuestDie Europäische Währungsunion ..................................................................13Prof. Dr. Michael HütherDivergenz in Europa gestalten! ......................................................................27Prof. Dr. Thomas StraubhaarWarum die Europäisierung der Wertschöpfung weitergehen muss ...39Kapitel 2 – <strong>Deutschland</strong>s Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit . .......50Journalistisches SzenarioBildung für alle ..................................................................................................52Prof. Dr. Norbert BolzDas neue Soziale in den Netzwerken ............................................................55Prof. Dr.-Ing. Klaus HenningVon "Made in Germany" zu "Enabled by Germany" .................................67Prof. Dr. Dr. Franz Josef RadermacherStärken stärken .................................................................................................79Kapitel 3 – Soziale Absicherung in <strong>Deutschland</strong> . ...............................................88Journalistisches SzenarioIn der Mitte der Gesellschaft .........................................................................90Prof. Dr. Tilman Allert & Prof. Dr. Andreas HackethalWarum Vertrauen Wirtschaftswachstum beflügelt ................................93


Jetzt handeln, übermorgen profitieren:Welche Zukunft hätten Sie gern?5Wir haben die Beiträge um fünf zentrale Leitfragen gruppiert. Ein vollständig fiktives, abernicht völlig unrealistisches Szenario führt kurz und knapp in jede Leitfrage ein. Beginnen wiralso die Reise in die Zukunft! Und starten wir sie da, wo sie uns momentan zentral gefährdet erscheint:<strong>im</strong> Zusammenspiel der Länder der Europäischen Union, <strong>im</strong> Verhältnis <strong>Deutschland</strong>szu Europa.Wie wird sich die Rolle <strong>Deutschland</strong>s in Europa wandeln? Welche Entwicklung n<strong>im</strong>mtdie Europäische Union, und welche Perspektive hat die europäische Währung? Wie kann<strong>Deutschland</strong> in Europa und darüber hinaus sein Know-how, sein Innovationspotenzial undseinen Erfahrungsschatz nutzen, um die fortschreitende Globalisierung ebenso wie Fragen internationalerGovernance aktiv mitzugestalten?Prof. Dr. Clemens Fuest, der seit kurzem amtierende Präsident des Zentrums für EuropäischeWirtschaftsforschung (ZEW) in Mannhe<strong>im</strong>, entwirft ein positives Szenario: <strong>2035</strong> gibt es denEuro noch. Die aktuelle Krise ist überstanden, ohne dass die Eurozone eine Transferunion oderWeichwährungszone wird. Wirtschaftliche Ungleichgewichte werden durch mehr Flexibilitätin den Arbeitsmärkten aufgefangen.Sein Kollege Prof. Dr. Michael Hüther, der Präsident des Institutes der Deutschen Wirtschaft(IW) in Köln, erklärt das mit dem weiter überdurchschnittlichen Erfolg der deutschen Industrie.Sie sei „die Konsequenz langer Pfade“: Weil <strong>Deutschland</strong> <strong>im</strong> 19. <strong>Jahr</strong>hundert nicht geeint, sondernin 36 Staaten des Deutschen Bundes zerfallen war, konnten sich regionale Wirtschaftskreisläufeund Exzellenzcluster entwickeln. Um diese Stärke zu halten, seien zwei Entwicklungen zentral:demografiefeste Bildungssysteme und eine Neujustierung der Energiewende.Und bessere Regeln für die Expansion der Dienstleistungsökonomie, fügt Prof. Dr.Thomas Straubhaar hinzu, der Präsident des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitutesHW WI. Hier droht Europa unter seinem Potenzial zu bleiben – und zwar vor allem, weil dasUrsprungslandprinzip <strong>im</strong> EU-Dienstleistungshandel derzeit keine grundsätzliche und generelleGültigkeit hat. Das aber ist eine unverzichtbare Voraussetzung für mehr Wachstum undBeschäftigung in Europa.Bei der zweiten Leitfrage geht es uns um <strong>Deutschland</strong>s Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit:Wie sollte <strong>Deutschland</strong> den technologischen Wandel sowie die fortschreitendeEtablierung neuer Kommunikations- und Transfermedien in einer <strong>im</strong>mer stärker digitalgeprägten Welt nutzen, um seine Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit zu erhaltenoder auszubauen? Welche Herausforderungen erwachsen aus diesen Veränderungen an dieWeiterentwicklung der bisherigen Lehr- und Lernsysteme in <strong>Deutschland</strong> – gleichermaßen inHinsicht auf die Schulbildung, die berufliche Bildung sowie das lebenslange Lernen?Prof. Dr. Norbert Bolz von der Technischen Universität Berlin weist darauf hin, dass<strong>im</strong> Zeitalter des Internets nicht mehr die Information knapp sei, sondern die Orientierung.Sozialkapital entsteht durch Vernetzung und Verlinkung. Die Frage ist also: „Wen kennst du,und wer kennt dich?“ Das ist ein entscheidender Unterschied zu traditionellen Netzwerken wieder Familie oder dem Freundeskreis, die auf starken statt auf schwachen Bindungen fußen.Lernen müsse auf allen Ebenen neu gelernt werden, um unsere Potenziale zu entfalten, fordertProf. Dr.-Ing. Klaus Henning, der die Bundeskanzlerin bei ihrem Zukunftsdialog begleitet


6 VorwortProf. Dr. Kurt J. Laukhat. Die duale Ausbildung solle exportfähig gemacht werden und habe durchaus das Zeug zumExportschlager. Dann könnte <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>2035</strong> die Nachfrage nach Bildungsdienstleistungen rundum die Welt den Export von Industriegütern ergänzen.Prof. Dr. Dr. Franz Josef Radermacher von der Universität Ulm mahnt neue Governance-Strukturen in der Welt an, die sich am Vorbild der Europäischen Union anlehnen sollten. Für<strong>Deutschland</strong> sei die weitere Konzentration auf Innovationen überlebenswichtig.Dies führt zur dritten Leitfrage zur sozialen Absicherung in <strong>Deutschland</strong>: Was bedeutendie demografischen Entwicklungen in <strong>Deutschland</strong> für die Sicherung der sozialenVersorgung und für die Gestaltung eines nachhaltig finanzierbaren Leistungsangebotes derSozialversicherungssysteme und anderer staatlicher Institutionen für den sozialen Zusammenhaltaller Gruppen der Gesellschaft? Welchen Wandel wird die Rolle der Familien erfahren,und wie kann die Umstellung in der Gesellschaft auf ein längeres Leben, aber auch auf einebewusstere, gesündere Lebensweise gelingen?Die Professoren Dr. Tilman Allert (Universität Frankfurt/M.) und Dr. Andreas Hackethal(Dekan der Goethe Business School in Frankfurt/M.) weisen auf die Bedeutung von Vertrauenin der Gesellschaft für das Wirtschaftswachstum hin. <strong>Deutschland</strong> sei in dieser Hinsicht einreiches Land – und der demografische Wandel begünstige diese Bildung von Sozialkapital.Doch auch hier nehme der Typus des „ungebundenen Abenteurers“ zu, der vor allem in Markt-Systemen angelsächsischer Prägung zu finden sei. Welchen Weg <strong>Deutschland</strong> hier nehme, seioffen.Aber wir können es beeinflussen, ebenso wie die Tragfähigkeit unserer Finanzpolitik. Prof.Dr. Martin Werding von der Ruhr-Universität in Bochum nennt dazu die Stellschrauben <strong>im</strong>Sozial- und Steuersystem, ist aber insgesamt zuversichtlich. Der Kern staatlicher Sicherungsangebotekönne auch <strong>2035</strong> erhalten bleiben, wenn die bereits eingeleiteten Reformen bei derRente aufrecht erhalten werden und weitere Reformen eingeleitet werden.Prof. Dr. Eberhard Wille, der Vorsitzende des Sachverständigenrates Gesundheit, nennthier an erster Stelle das Gesundheitssystem. Trotz des Schrumpfens der Bevölkerung um rundsechs Millionen Menschen n<strong>im</strong>mt die Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen bis <strong>2035</strong>zu. Mit Reformen sowie dem Wechsel zu einer „solidarischen Gesundheitspauschale“ lässt sichder Anstieg der Beiträge begrenzen.Um die Erfolgsfaktoren für den Produktionsstandort <strong>Deutschland</strong> geht es bei der viertenLeitfrage. Wie kann <strong>Deutschland</strong> die von der Wirtschaft benötigte Energie- und Rohstoffversorgungsowie die Erreichung der Kl<strong>im</strong>aziele sicherstellen? Wie kann der notwendigeAusbau der Infrastrukturen für eine beschleunigte Umsetzung der Energiewende und die weitereSteigerung der Energieeffizienz gelingen? Wie soll die Balance zwischen staatlicher undprivatwirtschaftlicher Verantwortung ausgestaltet werden? Welche strategischen Allianzengilt es dafür zu bilden, und welche Gefahren können den Industriestandort <strong>Deutschland</strong> bedrohen?Prof. Dr. Marc-Oliver Bettzüge, Direktor des Energiewirtschaftlichen Institutes an derUniversität Köln, mahnt dringend eine gemeinsame Energiepolitik in der EuropäischenUnion an – auch um den wirtschaftlichen Bedeutungsverlust der Region bis dahin <strong>im</strong> globalenRanking zu dämpfen. Die Integration sollte über den Strommarkt beginnen und eine europäischeRegulierungsbehörde beinhalten.Im <strong>Jahr</strong> <strong>2035</strong> sind es dann noch fünfzehn <strong>Jahr</strong>e bis zum Zieljahr der Energiewende, wie Prof.Dr. Georg Erdmann von der Technischen Universität Berlin schreibt. Während die Reduktionder Treibhausemissionen bis dahin gelungen ist, sind die Kosten für die regenerativen Energienaus dem Ruder gelaufen und die Elektromobilität ein Flop. Soll die Energiewende bis 2050


Jetzt handeln, übermorgen profitieren:Welche Zukunft hätten Sie gern?7noch gelingen, müsse sich der Staat aus der Mikrosteuerung der Märkte zurückziehen und aufdie allgemeine Marktüberwachung konzentrieren.Prof. Dr. Michael Stürmer sieht in der Energiefrage zusätzlich eine wichtige Determinantefür die globale Sicherheitspolitik. Weil die Vereinigten Staaten von Amerika in wenigen <strong>Jahr</strong>endurch neue, „unkonventionelle“ Öl- und Gasfunde energieautark werden, sinke ihr Interesse anden Krisenregionen <strong>im</strong> Nahen Osten. Auch werde sich ihr Fokus zunehmend auf Asien richten,um die neue (Militär-)Macht China in Schach zu halten. Die Nato wird für die Amerikaner unwichtiger,sodass die Europäer mehr sicherheitspolitische Verantwortung insbesondere für dieEuropa umgebenden Krisenregionen <strong>im</strong> Nahen Osten und Nordafrika übernehmen müssen.Angesichts dieser weitreichenden Veränderungen sind wir bei der fünften Leitfrage, die sichmit den Konsequenzen für <strong>Deutschland</strong> beschäftigt: Welche Modernisierungserfordernissewerden für die föderale Staatsordnung, das Ordnungssystem der sozialen Marktwirtschaftund das System der parlamentarischen Demokratie in <strong>Deutschland</strong> entstehen? Inwiefern verlangendie wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Veränderungen eine Neugestaltung derAufgabenverteilung zwischen Staat und Privat sowie der Finanzierung der Staatsaufgaben undeine stärkere Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungsprozessen aber auch an deraktiven Mitgestaltung des öffentlichen Lebens?Eine Diskussion über die Staatsaufgaben fordert Prof. Dr. Johanna Hey, die Direktorindes Institutes für Steuerrecht an der Universität Köln. Auch <strong>2035</strong> werde es weder weltweitnoch in Europa einheitliche Regeln für einen fairen Steuer- und Standortwettbewerbgeben. Deshalb werde die deutsche Regierung auch in den nächsten <strong>Jahr</strong>zehnten für dieWettbewerbsfähigkeit des Landes zuständig sein. Notwendig dafür sei eine Entflechtung derFinanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen zugunsten einer Stärkung derVerantwortungszusammenhänge.Prof. Dr. Johann Eekhoff (Direktor des Institutes für Wirtschaftspolitik an der UniversitätKöln) und Prof. Dr. Lars P. Feld (Direktor des Walter Eucken Instituts und Mitglied <strong>im</strong>Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung) warnenin ihrem gemeinsamen Beitrag davor, dass uns die derzeit relativ gute wirtschaftliche Lage<strong>Deutschland</strong>s dazu verleitet, notwendige Reformen aufzuschieben. Sie wenden sich scharfgegen die derzeit zu hörende These, dass die soziale Schieflage in <strong>Deutschland</strong> zugenommenhabe. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssten die Erfolge der Vergangenheit beachtet werden.Entscheidend seien ein hoher Beschäftigungsstand, die globale Einbindung der deutschenWirtschaft und eine leistungsstarke Wirtschaftsstruktur.Habe ich Ihnen zu viel versprochen? Ist sie nicht überaus spannend, diese Reise in dieZukunft? Nun gilt es, sie anzupacken. Für uns, unsere Kinder und Kindeskinder. Wir möchtenSie ermutigen, sich aktiv einzumischen und die notwendigen Reformen auf allen Ebenen voranzutreiben:damit <strong>Deutschland</strong> auch <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>2035</strong> ein freies, sicheres und wohlhabendes Landist. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre und viele neue Erkenntnisse.Prof. Dr. Kurt J. LaukPräsident des Wirtschaftsrates <strong>Deutschland</strong>


18Prof. Dr.-Ing.Klaus Henningapitel


Vom „Made in Germany“ zu „Enabled by Germany“ –und wie aus Bildung ein Exportschlager wird9<strong>Deutschland</strong>und EuropaWie wandelt sich die Rolle <strong>Deutschland</strong>s in Europa:Welche Entwicklung n<strong>im</strong>mt die Europäische Union,und welche Perspektive hat die europäische Währung?Wie kann <strong>Deutschland</strong> in Europa und darüber hinaussein Know-how, sein Innovationspotenzial undseinen Erfahrungsschatz nutzen, um die fortschreitendeGlobalisierung ebenso wie Fragen internationalerGovernance aktiv mitzugestalten?Prof. Dr. Clemens FuestProf. Dr. Michael HütherProf. Dr. Thomas Straubhaar


10Prof. Dr.-Ing.Klaus HenningSzenarioJOURNALISTISCHESWohlstand für alle


Vom „Made in Germany“ zu „Enabled by Germany“ –und wie aus Bildung ein Exportschlager wird11Dass die Aktion so erfolgreich sein würde, hätten sich die Hacker in ihren opt<strong>im</strong>istischstenTräumen nicht vorgestellt: Am 4.2.2022 genau um vier Minuten nach zwei Uhr nachmittagstauchte plötzlich ein Mann mit Zigarre auf den Displays aller Smartphones in <strong>Deutschland</strong>auf. In Sekundenschnelle wurde ein Text auf die Kommunikationsgeräte gespielt, derzumindest den Jüngeren komplett fremd war: „Wohlstand für alle“ – das Buch, mit demLudwig Erhard die soziale Marktwirtschaft in <strong>Deutschland</strong> begründete.Die Guerilla-Aktion feierte den 125. Geburtstag eines Mannes, der zu dieser Zeit in <strong>Deutschland</strong>weitestgehend vergessen war. Die Finanz- und die Eurokrise in den <strong>Jahr</strong>en nach 2<strong>00</strong>8hatten zu globalen Massenbewegungen gegen die angebliche „Macht des Finanzkapitals“geführt. Im Gefolge blieb sogar die soziale Marktwirtschaft Erhardscher Prägung nichtverschont: Wer sie verteidigte, galt lange <strong>Jahr</strong>e als „Büttel des Kapitals“. Das war zwarUnsinn, aber leider der geltende Mainstream.Tatsächlich dauerte es auch viele <strong>Jahr</strong>e, bis die Folgen beider Krisen halbwegs verarbeitet waren.Sehr zögerlich nur wurden Konsequenzen gezogen, auch weil die herrschenden Eliten selbstverzagt und richtiggehend defätistisch waren. Viele glaubten selbsternannten Experten, dass das„Ende des Wachstums“ da sei und <strong>Deutschland</strong> und Europa sich bescheiden müssten.Das war glücklicherweise falsch, und nach 2020 wurde es auch offensichtlich. Die europäischenKrisenstaaten haben ihre Hausaufgaben gemacht. Sowohl der Finanzsektor als auchder Arbeitsmarkt sind europaweit integriert. Wie in der Industrie gilt auch bei Dienstleistungeninzwischen das Ursprungslandprinzip, was enorme Kreativität und viele Firmenneugründungenausgelöst hat. Dass Europa inzwischen trotz der demografischen Entwicklungenwieder gut dasteht, hat aber auch mit der Renaissance der Tugenden des Mannes zu tun, dendie Hacker 2022 feierten: Ludwig Erhard.


28Prof. Dr.Clemens Fuest


Die EuropäischeWährungsunion <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>2035</strong>13<strong>Deutschland</strong> <strong>2035</strong>:Die EuropäischeWährungsunionDer Euro bleibt, der Finanzsektorist europaweit integriert.Prof. Dr. Clemens FuestPräsident, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Mannhe<strong>im</strong>


14Prof. Dr.Clemens FuestProf. Dr. Clemens FuestClemens Fuest (*1968) hat am 1. März 2013 die Präsidentschaft des Zentrumsfür Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannhe<strong>im</strong> sowie eine Professurfür Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannhe<strong>im</strong> übernommen. DerÖkonom war davor Professor für Unternehmensbesteuerung an der UniversitätOxford sowie Forschungsdirektor des dortigen Centre for Business Taxation undgeschäftsführender Direktor des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstitutsan der Universität zu Köln. Fuest hat verschiedene Stipendien und Preise erhalten,unter anderem den Knut-Wicksell-Preis der European Public Choice Society.Forschungsschwerpunkte Fuests sind Wirtschafts- und Finanzpolitik, internationaleBesteuerung, Steuerpolitik und Unternehmensfinanzierung, ArbeitsmarktundSozialpolitik sowie Kommunalfinanzen. Das Handelsblatt zählt Fuest inseinem Ranking der forschungsstärksten jüngeren Ökonomen <strong>im</strong> deutschsprachigenRaum zu den Top 10.Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates be<strong>im</strong> Bundesministerium derFinanzen und war dessen Vorsitzender von 2<strong>00</strong>7 bis 2010, Research Fellow desCESifo und des IZA. Außerdem war er bis Oktober 2<strong>00</strong>8 Mitglied des KronbergerKreises. Er ist <strong>im</strong> Wissenschaftlichen Beirat des Rheinisch-Westfälischen Institutsfür Wirtschaftsforschung (RWI) als Mitglied tätig und Herausgeber der Buchserie„Beiträge zur Finanzwissenschaft“, <strong>im</strong> Mohr Siebeck Verlag (zusammen mit Prof.Dr. H.-W. Sinn) sowie beratender Herausgeber des Canadian Journal of Economics.


Die EuropäischeWährungsunion <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>2035</strong>15Das <strong>Jahr</strong> <strong>2035</strong> liegt weit in der Zukunft, aber nicht weiter als das <strong>Jahr</strong> 2012 <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> 1989:23 <strong>Jahr</strong>e. Wenn wir <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> 1989 darüber nachgedacht hätten, wie die Wirtschafts- undWährungsordnung der Europäischen Union – damals noch Europäische Gemeinschaftgenannt – <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> 2012 aussehen würde, welche Prognose hätten wir abgegeben? Hätten wirChancen gehabt, die künftige Entwicklung zu erahnen?Das <strong>Jahr</strong> 1989 war ein <strong>Jahr</strong> historischer Umwälzungen, ein <strong>Jahr</strong>, in dem die europäischeGeschichte ihre Richtung grundlegend wechselte. Der Inhalt einer Prognose aus dem <strong>Jahr</strong>1989 wäre sicherlich davon abhängig gewesen, wann <strong>im</strong> Laufe des <strong>Jahr</strong>es sie erstellt wordenwäre. Eine Prognose, die wie dieser Aufsatz <strong>im</strong> Oktober des Prognosejahres aufgeschriebenworden wäre, hätte alle Chancen gehabt, schnell zu veralten. Denn die Öffnung der Mauer,die <strong>Deutschland</strong> teilte, und der Zusammenbruch des DDR-Reg<strong>im</strong>es kamen erst <strong>im</strong> November1989. Im Oktober 1989 feierte die politische Führung der DDR <strong>im</strong>merhin noch das vierzigjährigeBestehen ihres Staates. Zwar waren die Proteste der ostdeutschen Bevölkerung nichtzu überhören, aber dass der Zusammenbruch unmittelbar bevorstand, war nicht klar. DieEntwicklung des <strong>Jahr</strong>es 1989 ist ein besonders krasses Beispiel dafür, dass die Zukunft oft etwasanderes ist als die lineare Fortschreibung bestehender Trends.Gleichzeitig kann man nicht sagen, dass vor den Ereignissen <strong>im</strong> November 1989 keinerleiHinweise auf die bevorstehenden Umwälzungen in Osteuropa erkennbar gewesen seien. Ganz<strong>im</strong> Gegenteil: In der Sowjetunion und in anderen Staaten des kommunistischen Blocks gab esseit langer Zeit deutlich sichtbare wirtschaftliche und politische Veränderungen. Überraschendwar sicherlich, dass die Ereignisse sich <strong>im</strong> November 1989 so dramatisch beschleunigten. Vielehatten eher eine mehr oder weniger lineare Fortentwicklung des Trends zu Öffnungen undReformen erwartet, aber nicht den Zusammenbruch der kommunistischen Systeme und denBeschluss zur Wiedervereinigung <strong>Deutschland</strong>s innerhalb von Monaten.„Die Entwicklung des<strong>Jahr</strong>es 1989 ist einbesonders krassesBeispiel dafür, dassdie Zukunft oft etwasanderes ist als dielineare Fortschreibungbestehender Trends.“Könnten in den nächsten <strong>Jahr</strong>en ähnlich tief greifende Veränderungen anstehen wie <strong>im</strong><strong>Jahr</strong> 1989? Dass es zu einer grundlegenden Umwälzung der politischen und gesellschaftlichenOrdnung in einem großen Teil Europas kommt, ist nicht zu erwarten. Obwohl essehr unterschiedliche Vorstellungen über die weitere Entwicklung Europas gibt, sind keineEntwicklungen sichtbar, die das Gesellschaftsmodell der rechtsstaatlichen Demokratiein Frage stellen. Im Bereich der Wirtschafts- und Währungsordnung ist die Lage allerdingsweit weniger stabil. Die Finanzkrise und die Verschuldungskrise <strong>im</strong> Euroraum und in anderenIndustriestaaten, vor allem in den USA und Großbritannien, haben zu einer intensiven Debatteüber die Funktionsweise unseres Wirtschaftssystems geführt. Während diese Debatte sich inden USA und in Großbritannien auf die Ordnung des Finanzsektors, die Rolle der Industriefür das Wirtschaftswachstum und die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen konzentriert, geht dieReformdiskussion in der Europäischen Währungsunion darüber hinaus.Die Verschuldungskrise <strong>im</strong> Euroraum hat die Grundlagen der gemeinsamen Währungsordnungund das Vertrauen in die Stabilität der Gemeinschaftswährung tief erschüttert. Deshalbwird in der Debatte über die Neuordnung der Währungsunion geklotzt und nicht gekleckert:Die Europäische Zentralbank (EZB) soll unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen, Eurobonds solleneingeführt werden, ein europäischer Finanzminister soll außer Kraft setzen können, wasnationale Parlamente beschlossen haben. Ein Schuldentilgungsfonds soll errichtet werden,dessen Volumen ungefähr dem des deutschen Bruttoinlandsprodukts entspricht und dessenTilgungszeit über das <strong>Jahr</strong> <strong>2035</strong> hinausreichen soll. Andere Vorschläge sehen gar die Errichtungeines europäischen Bundesstaates vor. Wieder andere Vorschläge sehen vor, dass einzelne Länderoder ganze Ländergruppen temporär oder für <strong>im</strong>mer aus der Eurozone austreten. Schließlichgibt es Vorschläge zur Spaltung der Eurozone in Süd- und Nordeuro, Parallelwährungskonzepteund vieles mehr. Wohlgemerkt sind das nicht Gegenstände einer rein akademischen Debatte,in der Visionäres und Unkonventionelles dazugehört, sondern Themen der alltäglichen politischenDiskussion über Dinge, die umgesetzt werden sollen. Vor diesem Hintergrund wirken die


16Prof. Dr.Clemens FuestVorkehrungen zur Wahrung der Währungsstabilität, die bei der Gründung der Währungsuniongetroffen wurden – das Verbot der monetären Staatsfinanzierung in den EZB-Statuten, die No-Bailout-Regel, die Verschuldungsgrenzen und die Verfahren zur Koordination und Überwachungder nationalen Fiskalpolitik –, geradezu naiv.Dass die Wirtschafts- und Währungsordnung in der Europäischen Union vor Veränderungensteht, ist also abzusehen. In welche Richtung diese Umwälzungen gehen und ob sie wirklich soweit gehen müssen, wie die aktuelle Debatte über die Krise suggeriert, ist jedoch unklar. Zwarist in Umrissen erkennbar, was die derzeit dominierenden politischen Kräfte in Europa sichvorstellen: eine Stabilisierung der Währungsunion durch mehr politische Integration. Aberwas das genau bedeutet, darüber herrscht keine Klarheit. Im Folgenden soll zunächst kurz beschriebenwerden, welche Positionen die Debatte über die Zukunft der Währungsunion <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong>2012 prägen. Im Anschluss daran wird skizziert, wie die Europäische Währungsunion <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong><strong>2035</strong> aussehen könnte.1.Zwei idealtypische Ansätze zur Gestaltungder Fiskalpolitik in der EurozoneDie aktuelle Verschuldungskrise in der Eurozone hat deutlich gemacht, dass dieWährungsunion in der Form, in der sie gegründet wurde, krisenanfällig ist. Die Idee,dass die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, die No-Bailout-Regel und dieUnabhängigkeit der EZB ausreichen würden, um die Eurozone funktionsfähig zu halten, hatsich als Illusion erwiesen.Darüber, was zu tun ist, um die Währungsunion zu stabilisieren, gibt es aber sehr unterschiedlicheAuffassungen. Um das zu verstehen, ist es hilfreich, zwei idealtypische Modelle einerFiskalunion gegenüberzustellen. Erstens das Modell der dezentralen Fiskalunion und zweitensdas Modell der zentralistischen Fiskalunion. 1 Diese beiden Modelle unterscheiden sich inzwei wichtigen Punkten: erstens in der Frage der Haftung für Staatsschulden und zweitens inder Frage der Kontrolle darüber, wie die Fiskalpolitik der Mitgliedstaaten gestaltet wird. DerUnterschied zwischen beiden Ansätzen lässt sich am besten anhand der Schlussfolgerungenillustrieren, die sie aus der aktuellen Krise ziehen.1.1 Konsequenzen aus der Verschuldungskrise in der EurozoneNach den Regeln, die bei der Gründung der Europäischen Währungsunion vereinbartwurden, hätten Griechenland, Portugal, Irland und Spanien keine Kredithilfen von den anderenMitgliedstaaten erhalten dürfen, und die EZB hätte auch keine Staatsanleihen kaufendürfen, um zu verhindern, dass die Finanzierungskosten zu weit ansteigen. Dass diese Regelngebrochen wurden, hatte in erster Linie folgenden Grund: Ohne die Interventionen wärendiese Staaten zahlungsunfähig geworden. Die Insolvenzen hätten voraussichtlich zu einer1 Zu diesen Konzepten siehe Wissenschaftlicher Beirat be<strong>im</strong> Bundesministerium der Finanzen, FiskalpolitischeInstitutionen in der Eurozone, Berlin, Februar 2012.


Die EuropäischeWährungsunion <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>2035</strong>17Destabilisierung des Finanzsektors und einer Banken- und Finanzkrise mit erheblichen negativenAuswirkungen auf die Realwirtschaft geführt. Diese Gefahr bestand deshalb, weil vieleBanken in Europa in großem Umfang Staatsanleihen ihres Sitzlandes hielten, sie generell mitsehr wenig Eigenkapital operierten und weil die Bankenregulierung es ihnen sogar erlaubte,Staatsanleihen ohne jede Eigenkapitalunterlegung zu halten.Das Finanzsystem in der Eurozone beruhte auf der Annahme, dass Staatsanleihen sichersind und es bei ihnen nicht zu Zahlungsausfällen kommen kann. Eine solche Annahme ist beiStaaten sinnvoll, die eine eigene Notenbank haben, die notfalls unbegrenzt Staatsanleihen aufkauft.Dann kann es zwar passieren, dass ein Staat seine Währung durch Inflation ruiniert, aberes kann nicht dazu kommen, dass der Staat in der eigenen Währung zahlungsunfähig wird.Ein Staat, der Mitglied der Eurozone ist, hat aber keinen Zugang zu einer nationalenNotenbank, die als Lender of Last Resort fungiert. Die EZB sollte diese Rolle in der EuropäischenWährungsunion nicht übernehmen, weil sie die Notenbank vieler Staaten ist und eine Rolle alsLender of Last Resort einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben würde, Kosten übermäßigerVerschuldung auf die anderen Mitgliedstaaten abzuwälzen.Mit der Entscheidung, dass die EZB nicht Lender of Last Resort für die Regierungen derMitgliedstaaten sein soll, hat man sich bei der Gründung der Währungsunion dafür entschieden,eine Welt zu schaffen, in der Staatsanleihen nicht so sicher sein können wie <strong>im</strong> Fall nationalerWährungen. Insolvenzen einzelner Mitgliedstaaten konnten damit konstruktionsbedingtnicht mehr ausgeschlossen werden. Man hat daraus aber nicht die Konsequenz gezogen, denFinanzsektor so zu reformieren, dass er Zahlungsausfälle bei Staatsanleihen aushalten kann,ohne dass es zu einer schweren Finanzkrise kommt. Als dann in Griechenland <strong>im</strong> Frühjahr 2010tatsächlich ein Zahlungsausfall bei Staatsanleihen drohte, brach das institutionelle Gefüge derWährungsunion zusammen. 2 Vor die Wahl gestellt, staatliche Insolvenzen hinzunehmen undzu versuchen, durch Stützungsaktionen <strong>im</strong> Finanzsektor wie nach dem Kollaps der Lehman-Bank <strong>im</strong> Herbst 2<strong>00</strong>8 das Schl<strong>im</strong>mste zu verhindern, oder Griechenland direkt mit Kreditenzu stabilisieren, hat die Politik sich für Letzteres entschieden. Damit waren die Weichen für dieVorgehensweise in den anderen Krisenstaaten gestellt.Wie kann man die institutionellen Regeln der Währungsunion reformieren, damit sie in dernächsten Krise eingehalten werden können? Es gibt zwei Möglichkeiten. Erstens kann man versuchen,die bei der Gründung der Währungsunion verpasste Reform des Finanzsektors nachzuholen.Das würde bedeuten, den Finanzsektor so robust zu machen, dass er Zahlungsausfälle beiStaatsanleihen absorbieren kann, ohne dass es zu einer allgemeinen Finanzkrise kommt. Das istdie Schlussfolgerung, die das Modell der dezentralen Fiskalunion zieht. Zweitens kann man dieNo-Bailout-Regel aufgeben und zu einer Währungsunion mit Solidarhaftung übergehen, in derdie Mitgliedstaaten gemeinsam für ihre Schulden haften. Bei einer solchen Solidarhaftung könntedie EZB als Lender of Last Resort fungieren. Das ist die Schlussfolgerung, die das Modell derzentralistischen Fiskalunion zieht. Im Folgenden sollen beide Ansätze näher erläutert und ihreStärken und Schwächen diskutiert werden.„Wie kann man dieinstitutionellen Regelnder Währungsunionreformieren, damit siein der nächsten Kriseeingehalten werdenkönnen?“1.2 Die dezentrale FiskalunionDas Modell der dezentralen Fiskalunion lässt den Mitgliedstaaten das Recht zur Gestaltungder Fiskalpolitik einschließlich der Verschuldung, sieht aber auch vor, dass die einzelnenMitgliedstaaten allein für ihre Schulden haften und <strong>im</strong> Fall finanzieller Probleme keine Hilfenvon anderen Mitgliedstaaten erhalten. Wenn einzelne Mitgliedstaaten zahlungsunfähig wer-2 Dass es wegen mangelnder Vorkehrungen für Finanzkrisen einzelner Mitgliedstaaten zu einer solchenEntwicklung in der Eurozone kommen könnte, wird bereits dargestellt in: C. Fuest (1993): „Stabilefiskalpolitische Institutionen für die Europäische Währungsunion“, Wirtschaftsdienst, X/1993, S. 539-545.


18Prof. Dr.Clemens Fuestden, haften ihre Gläubiger, es kommt also zu einer staatlichen Insolvenz. Diese Regeln entsprechen<strong>im</strong> Prinzip dem, was bei der Gründung der Währungsunion vereinbart wurde.Das Hauptproblem dieses Ansatzes liegt darin, dass die Insolvenz eines Mitgliedstaatesmassive Auswirkungen auf das Finanzsystem in der Währungsunion und darüber hinaushaben würde. Deshalb müssen die Reformanstrengungen sich in diesem Konzept aufden Finanzsektor konzentrieren. Er muss so verändert werden, dass er auch bei staatlichenInsolvenzen stabil bleibt und die Versorgung der Realwirtschaft mit Krediten leisten kann.Das bedeutet <strong>im</strong> Wesentlichen, dass Banken in diesem Konzept nur noch in viel geringeremAusmaß als bisher Staatsanleihen halten dürfen. Die Bankenregulierung wird so geändert, dasses für die meisten Institute uninteressant wird, Staatsanleihen zu halten – die erforderlicheEigenkapitalunterlegung ist zu hoch.Das führt dazu, dass Staatsanleihen vorrangig von Pensionsfonds, Versicherungen und allgemeinenInvestmentfonds gehalten werden. Diese Institutionen streuen ihre Anlagen breit,halten also in ihren Portfolios <strong>im</strong>mer nur begrenzte Mengen an Anleihen einzelner Staaten.„Für Banken wirdes uninteressant,Staatsanleihenzu halten.“Da Verluste dieser Institutionen nicht die Stabilität des Bankensystems bedrohen, ist esglaubwürdig, dass bei einer Überschuldung einzelner Mitgliedstaaten der Währungsunion dieprivaten Gläubiger haften müssen. Dass es dazu kommen kann, wird auch dadurch signalisiert,dass alle Staatsanleihen, die von Mitgliedstaaten der Eurozone emittiert werden, ‘CollectiveAction Clauses’ haben, die regeln, unter welchen Umständen es zu Vereinbarungen über einenSchuldenschnitt kommen kann. Die Investoren an den Kapitalmärkten gewöhnen sich an dieseRegelungen und verlangen von einzelnen Schuldnern unterschiedliche Zinsen, die unter anderemvom Insolvenzrisiko abhängen.In dieser dezentralen Fiskalunion sind politische Verfahren zur Begrenzung der Staatsverschuldung,wie etwa der Stabilitäts- und Wachstumspakt, entbehrlich. Da Investoren wegender größeren Robustheit der Finanzmärkte nicht erwarten können, dass überschuldeteMitgliedstaaten Hilfen zur Bedienung ihrer Schulden erhalten, verlangen sie Risikoprämien,die von der Bonität der jeweiligen staatlichen Schuldner abhängen. Dadurch sinken dieVerschuldungsspielräume der Mitgliedstaaten in der Eurozone erheblich. Da die No-Bailout-Regel glaubwürdig ist, kann die Kontrolle der Verschuldung durch die Kapitalmärkte funktionieren.1.3 Die zentralistische FiskalunionDas Konzept der zentralistischen Fiskalunion zieht aus der Verschuldungskrise <strong>im</strong> Euroraumdie Schlussfolgerung, dass die Zweifel an der Sicherheit von Staatsanleihen der Mitgliedstaatenausgeräumt werden müssen, indem staatliche Insolvenzen und Schuldenschnitte ausgeschlossenwerden.Das erfordert eine Solidarhaftung für Staatsschulden und den Einsatz der EZB als Lenderof Last Resort. Um zu verhindern, dass einzelne Mitgliedstaaten sich auf Kosten der anderenverschulden, wird die Kontrolle über die Fiskalpolitik in Europa zentralisiert. Das könnte beispielsweisewie folgt funktionieren: Jeder Mitgliedstaat erhält einen Rahmen für die nationaleFiskalpolitik, innerhalb dessen die nationalen Parlamente frei über Staatsausgaben und Steuernentscheiden können. Wird dieser Rahmen überschritten, erhält eine europäische Institution– ein „Europäischer Finanzminister“ – Eingriffsrechte in der Form, dass er Beschlüsse der nationalenParlamente aufheben und durch andere finanzpolitische Maßnahmen ersetzen kann.Insofern ist die finanzpolitische Souveränität der Mitgliedstaaten beschränkt.


Die EuropäischeWährungsunion <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> <strong>2035</strong>19Ein wichtiger Unterschied dieser zentralistischen Fiskalunion zu den institutionellenGegebenheiten in Europa <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> 2012 besteht darin, dass Hilfen in Form von Krediten derGemeinschaft nicht unter Auflagen gegeben werden, bei deren Verletzung die Hilfen beendetwerden sollen. 3 Statt Auflagen zu machen, intervenieren die europäischen Institutionen direkt.Es ist klar, dass die zentralistische Fiskalunion nach mehr demokratischer Legit<strong>im</strong>ierungdes politischen Handelns auf europäischer Ebene verlangt. Wenn ein MitgliedstaatVerschuldungsgrenzen überschreitet und damit seine finanzpolitische Souveränität verliert,bis er die Regeln wieder einhält, muss jemand entscheiden, welche konkreten Maßnahmen zurSanierung des Landes ergriffen werden. Diese Entscheidungen bedürfen der Legit<strong>im</strong>ierungund der Kontrolle. Es wäre den<strong>kb</strong>ar, den betreffenden Staaten nur Rahmenbedingungen für dieSanierung vorzugeben und die Auswahl der konkreten Maßnahmen den nationalen Parlamentenzu überlassen. Es kann aber durchaus sein, dass ein Parlament die Zusammenarbeit unter diesenBedingungen verweigert. Im Konzept der zentralistischen Fiskalunion müssen Wege gefundenwerden, mit derartigen Situationen umzugehen. Da man aus den bereits genannten Gründennicht glaubwürdig damit drohen kann, Hilfen einzustellen oder die Solidarhaftung aufzuheben,ist letztlich ein hohes Maß an Eingriffsrechten der europäischen Ebene erforderlich.„Die finanzpolitischeSouveränität derMitgliedstaatenwird beschränkt.“2.Welche Richtung schlägt die europäischePolitik <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> 2012 ein: dezentrale oderzentralistische Fiskalunion?Die <strong>im</strong> <strong>Jahr</strong> 2012 dominierenden Kräfte in der europäischen Politik – also die nationalenRegierungen und die Spitzen der europäischen Institutionen – reagieren auf dieVerschuldungskrise mit zwei Botschaften: Erstens drohe bei einem Scheitern desEuro auch ein Scheitern der politischen Integration Europas insgesamt. Zweitens müsse dieWährungsunion durch eine politische Union ergänzt werden. In der Fiskalpolitik wird viel vonder Schaffung einer „Fiskalunion“ geredet.Diese Aussagen sind allerdings recht vage. Was ein Scheitern des Euro bedeutet, ist ebensounklar wie das, was sich hinter dem Begriff der politischen Union verbirgt. Ist schon einAustritt Griechenlands ein Scheitern des Euro, oder wäre der Euro erst gescheitert, wenn alleMitgliedstaaten zu nationalen Währungen zurückkehren? Ist eine politische Union schon erreicht,wenn die Koordination der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken intensiviertwird, oder müssen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre Eigenstaatlichkeit aufgebenund zu einem Bundesstaat verschmelzen, damit man sagen kann, die politische Union seivollendet?Irgendwann muss konkretisiert werden, was unter einer „politischen Union“ oder unter einer„Fiskalunion“ zu verstehen sein soll. Vor allem ist zu klären, ob es in Europa eine dezentraleoder eine zentralistische Fiskalunion geben soll. Die institutionellen Reformen, die bislang auf3 Ein zentrales Problem der aktuellen Rettungsschirmpolitik besteht darin, dass diese Drohungunglaubwürdig ist, weil ein Ende der Hilfen eine Finanzkrise auslösen könnte. Wenn man die Hilfenwirklich ohne große Risiken beenden könnte, hätte man wohl von Anfang an auf sie verzichtet.

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