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1 Fulbert Steffensky Brot für die Fremden. Die Kirchen in der ...

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1<strong>Fulbert</strong> <strong>Steffensky</strong><strong>Brot</strong> für <strong>die</strong> <strong>Fremden</strong>. <strong>Die</strong> <strong>Kirchen</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> säkularen StadtIch er<strong>in</strong>nere an e<strong>in</strong>e wun<strong>der</strong>volle Geschichte aus dem 1. Buch <strong>der</strong> Chronik (21). Der Satanreizte David dazu, Israel zählen zu lassen. David sprach zu Joab und zu den Obersten desVolkes: „Geht h<strong>in</strong>, zählt Israel von Beerscheba bis Dan und br<strong>in</strong>gt mir Kunde, damit ich weiß,wie viel ihrer s<strong>in</strong>d!“ So wurde gezählt. Es waren von ganz Israel 11 mal huntertausendKrieger und von Juda vierhun<strong>der</strong>tsiebenzigtausend Mann, <strong>die</strong> das Schwert trugen. (Man sieht:Auch damals schon hat man Statistiken gefälscht!) <strong>Die</strong> Zählerei missfiel Gott, denn Davidsetzte auf <strong>die</strong> Zahl statt auf <strong>die</strong> Kraft Gottes. Gott schlägt Israel. E<strong>in</strong>e Pest kommt über Israel,und es sterben 70.000 Menschen. Meistens wird ja das Volk geschlagen, wenn <strong>die</strong> Königesündigen. David bekehrt sich, wie immer etwas spät: „Ich habe schwer gesündigt, dass ich dasgetan habe.“ Wer fasz<strong>in</strong>iert ist von Zahlen, vertraut Gott nicht. David darf den Tempel nichtbauen, den er so herrlich geplant hat. Er hat zu viel gezählt, zu viel Blut vergossen und sich zuviel auf Schwerter und Eigenstärken gesetzt. Wachsen ist zunächst e<strong>in</strong> geistlicher Begriff, erbedeutet nicht e<strong>in</strong>fach Größer- und Mehrwerden. Vielleicht müssen wir <strong>in</strong> schmerzlicherHeiterkeit e<strong>in</strong>sehen und zugeben, dass wir Kirche im Exil s<strong>in</strong>d. <strong>Die</strong> Ehre und das RechtGottes sollen wachsen; das Reich Gottes soll wachsen, und das heißt nicht e<strong>in</strong>fach, dass <strong>die</strong>Kirche wachsen soll. Es gibt <strong>die</strong> ekklesiologische Verblendung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir heimlich undunbewusst <strong>die</strong> real existierende Kirche und Reich Gottes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>s setzen.War <strong>die</strong> Kirche je groß? War unsere abendländische Gesellschaft je so christlich, wiewir vermuten? Liegt e<strong>in</strong> Teil unserer Depression nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> falschen Annahme, es hättee<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Zeit gegeben, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Geist Christi e<strong>in</strong>e selbstverständliche Stätte <strong>in</strong> unsererGesellschaft gehabt hätte, heute aber sei jener Geist verjagt und aufgegeben. Ja, religiös war<strong>die</strong>se alte Welt. Man sieht es an ihren großen <strong>Kirchen</strong>, <strong>die</strong> man gebaut hat. Man sieht es an<strong>der</strong> Ähnlichkeit kirchlicher und gesellschaftlicher Strukturen; an <strong>der</strong> Ähnlichkeit <strong>der</strong>Rechtsstrukturen und <strong>der</strong> Gehaltsstrukturen; man sieht es an <strong>der</strong> gleichen Hochachtung, <strong>die</strong>kirchliche und gesellschaftliche Würdenträger fanden. Man sieht es daran, wie religiöse Idealeauf verdächtige Weise gesellschaftlichen Idealen entsprachen. <strong>Die</strong> Kirche dom<strong>in</strong>ierte vieleInstitutionen <strong>der</strong> Gesellschaft. <strong>Die</strong> Gesellschaft und <strong>der</strong> Staat machten sich <strong>die</strong> Kirche<strong>die</strong>nstbar. Ich denke an den Beitrag <strong>der</strong> <strong>Kirchen</strong> zur Kriegslüsternheit <strong>der</strong> Gesellschaft, zurFe<strong>in</strong>dschaft gegen alles Fremde, zum Nationalismus und zum Judenhass. Vielleicht ertragenwir <strong>die</strong> Mühen des Weges, <strong>der</strong> vor uns liegt, leichter, wenn wir wahrnehmen, dass <strong>die</strong> alten


3Reichtum und vom Ansehen zu verabschieden. Jetzt beim Abschied spüren wir erst, wiemateriell reich wir waren. Unsere Verzweiflung wächst, wo wir weiter Großkirche spielenwollen, <strong>die</strong> wir nicht mehr s<strong>in</strong>d. Unsere Depression wächst, wo wir uns auf Zählen verlegen;wo wir berauscht s<strong>in</strong>d von Quantitäten und mutlos bei ger<strong>in</strong>gen Zahlen.Unsere gegenwärtige Sünde ist <strong>die</strong> Mutlosigkeit Wir werden mutlos, wenn wir sehen,dass <strong>die</strong> Gesellschaft als ganze unsere Lebenskonzeptionen immer weniger teilt. Wir werdenmutlos, wenn wir sehen, dass wir als Christen <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Land nicht mehr <strong>die</strong> E<strong>in</strong>zigen s<strong>in</strong>dund wenn <strong>die</strong> christliche Sprache nicht mehr <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zige Dialekt <strong>der</strong> Hoffnung ist. Es ist nichtleicht, nicht e<strong>in</strong>zigartig zu se<strong>in</strong>. Es kränkt unseren Narzissmus, wenn wir sehen, dass nebenden <strong>Kirchen</strong> plötzlich Moscheen stehen; dass es nicht nur christlichen, son<strong>der</strong>n auchislamischen und jüdischen Religionsunterricht geben soll. In den alten Zeiten kannte man nursich selber, <strong>die</strong> eigene Sprache, <strong>die</strong> eigenen Bräuche und <strong>die</strong> eigene Religion. Nun aber ist <strong>der</strong>Glaube schwerer geworden, weil unsere Sprache umstritten ist und e<strong>in</strong>e unter vielengeworden ist. Er ist schwerer und ernsthafter geworden.<strong>Die</strong> Mutlosigkeit drückt sich oft aus als Selbstverbergung. Wir trauen uns mit denSchätzen, <strong>die</strong> wir haben nicht mehr an <strong>die</strong> Öffentlichkeit. Der Religionsunterricht verliertse<strong>in</strong>e Eigentümlichkeit und wird oft zum psychohygienischen Stündle<strong>in</strong>, ebenso <strong>der</strong>Konfirmandenunterricht, <strong>die</strong> öffentliche Sprache <strong>der</strong> Kirche im Rundfunk. Ich erzähle gernefolgende Geschichte: Vor e<strong>in</strong>iger Zeit war ich e<strong>in</strong>geladen, zum 8. Mai, zum Tag <strong>der</strong>Befreiung und des Kriegsendes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em großen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenwerk zu sprechen. <strong>Die</strong>seInstitution hatte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nazizeit Schuld auf sich geladen und mit den Nazis kollaboriert. Nunwollten <strong>die</strong> Menschen, <strong>die</strong> dort arbeiteten, e<strong>in</strong>en Bußveranstaltung machen, und sie schriebenmir: Es soll ke<strong>in</strong> Gottes<strong>die</strong>nst werden, aber auch nicht e<strong>in</strong>e gewöhnliche Veranstaltung. Ichsolle sprechen, aber ke<strong>in</strong>e Predigt halten, es solle allerd<strong>in</strong>gs auch nicht e<strong>in</strong> gewöhnlicherVortrag se<strong>in</strong>. Und dann hieß es im Brief: „Wir haben e<strong>in</strong>en gebetsartigen Abschlussvorgesehen.“ Da waren also 4 Pfarrer, <strong>die</strong> sehr gerne e<strong>in</strong>en Gottes<strong>die</strong>nst gemacht und <strong>in</strong> ihreralten Sprache geklagt und bereut hätte. Aber sie trauen sich nicht, sie trauen ihrer Sprache undihrer Tradition nicht. Und so wird alles artig, sogar das Gebet. Welches Misstrauen sich selbergegenüber, und wie können <strong>die</strong> Menschen <strong>die</strong>sen Pfarrern glauben, wenn sie so wenig an sichselber glauben!<strong>Die</strong> Mutlosigkeit ist <strong>die</strong> große Gefahr <strong>der</strong> Seelen- und Schwerterzähler. <strong>Die</strong> zweiteGefahr ist <strong>die</strong> bes<strong>in</strong>nungslose Werkelei. Damit me<strong>in</strong>e ich, dass wir irgend etwas tun, dass <strong>die</strong>Marke Kirche im angenehmen Bewusstse<strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft bleibt. Ich sehe mir <strong>die</strong> Angebote<strong>der</strong> kirchlichen Bildungswerke an. Da gibt es wun<strong>der</strong>volle Sachen, und e<strong>in</strong>e höchst komische


4Selbstdarstellung <strong>der</strong> Kirche. Da gibt es <strong>die</strong> „Fortbildung <strong>in</strong> Provokativen Energietechniken“,den „Dialog mit den Ste<strong>in</strong>en“, „Hormon Yoga für Frauen rund um <strong>die</strong> Wechseljahre“. „Wielerne ich Selbstbewusstse<strong>in</strong>?“ heißt e<strong>in</strong> Sem<strong>in</strong>ar, e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es: „Selbstbewusst auftreten. Stärkezeigen. Schlagfertig kontern“, e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es: „Inst<strong>in</strong>kternährung und Paddeln“. Es ist e<strong>in</strong>eAufgabe <strong>der</strong> Kirche zu heilen, wo sie wunden sieht. Aber e<strong>in</strong>e Kirche, <strong>die</strong> weiß, was sie willund tun muss, weiß auch, was sie nicht will und was sie lassen soll.Es gibt e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Gefahr <strong>der</strong> <strong>Kirchen</strong>: sich unter allen Umständen <strong>in</strong>teressant undlustig machen zu wollen. In Lübeck haben sich vor e<strong>in</strong>iger Zeit Pfarrer vom Kirchturmabgeseilt, um auf <strong>die</strong> Kirche aufmerksam zu machen. Nur schwer habe ich mir das Gebetversagt: Herr, lass <strong>die</strong> Stricke reißen! Mit grimmiger Erheiterung lese ich von an<strong>der</strong>enBeispielen, <strong>in</strong> denen man unter allen Umständen versucht, „<strong>die</strong> Menschen abzuholen, wo sies<strong>in</strong>d“. In Neapel ist e<strong>in</strong> Pater auf <strong>die</strong> Idee gekommen, e<strong>in</strong>en Schönheitswettbewerb unterNonnen zu veranstalten. Er will damit für neue Berufungen werben. E<strong>in</strong>e amerikanischePastor<strong>in</strong> machte ihre Kirche zu e<strong>in</strong>er Art Fitness-Studio. Ihre Begründung: „Bei <strong>der</strong> Gospel-Aerobic tra<strong>in</strong>ieren wir geme<strong>in</strong>sam, um Gott unsere Leiber als Tempel anzubieten.“ Es gibte<strong>in</strong>e kirchliche Anschleimung an den so genannten Zeitgeist, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Geist <strong>der</strong> Zeit denGeist Christi unkenntlich macht und verschl<strong>in</strong>gt.<strong>Die</strong> Gesellschaft braucht unsere Deutlichkeit und unsere Kenntlichkeit. Wir sollenzeigen, was wir lieben. Unsere K<strong>in</strong><strong>der</strong> brauchen Väter und Mütter, Pfarrer<strong>in</strong>nen, Lehrer, <strong>die</strong>zeigen, was sie lieben. Lehrer se<strong>in</strong>, heißt zeigen, was man liebt. Vater und Mutter se<strong>in</strong>, heißtnicht nur, <strong>die</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>, <strong>die</strong> Schüler und Schüler<strong>in</strong>nen, <strong>die</strong> Konfirmanden mit allen äußerenD<strong>in</strong>gen zu versorgen. Es heißt zeigen, welche Lebensoptionen man hat; worauf man hofft undworan man glaubt. Vielleicht werden unsere K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>die</strong> Wege unseres Glaubens nicht gehen,aber sie haben dann gelernt, dass man überhaupt an etwas glauben und auf etwas hoffen kann.Sie haben gelernt, dass man nicht im blanken Zynismus verkommen muss.Noch e<strong>in</strong>mal: <strong>die</strong> Gesellschaft braucht <strong>die</strong> Deutlichkeit <strong>der</strong> Kirche. Wo gibt eseigentlich Institutionen und Gruppen mit Texten, auf <strong>die</strong> sie sich berufen? Wo gibt esInstitutionen, <strong>in</strong> denen Geschichten vom Recht erzählt und Lie<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Würde <strong>der</strong> Armengesungen werden? Dass das Leben kostbar ist; dass e<strong>in</strong>mal alle Tränen abgewischt werdensollen; dass <strong>die</strong> Tyrannen gestürzt werden sollen und dass das Recht wie Wasser fließen soll;dass wir zur Freiheit berufen s<strong>in</strong>d, das sagt, das s<strong>in</strong>gt und spielt uns unsere Tradition <strong>in</strong> vielenLie<strong>der</strong>n und Bil<strong>der</strong>n vor: Der Lahme soll se<strong>in</strong>en aufrechten Gang lernen, <strong>der</strong> Verstummte sollse<strong>in</strong>e Lie<strong>der</strong> f<strong>in</strong>den und <strong>der</strong> Bl<strong>in</strong>de se<strong>in</strong> Augenlicht. Das Evangelium baut an unserenTräumen vom Gewissen und von <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Träume, Gewissen und Lebensvisionen


5s<strong>in</strong>d nicht selbstverständlich , und sie halten sich nicht durch das pure Argument. Sie liegennicht e<strong>in</strong>fach naturhaft <strong>in</strong> uns, wir müssen sie lernen.Stolz kann man nur se<strong>in</strong>, wenn wir uns selber von den <strong>Brot</strong>en nähren, <strong>die</strong> für unsgebacken s<strong>in</strong>d. <strong>Die</strong> Frage <strong>der</strong> Brauchbarkeit <strong>der</strong> Kirche für <strong>die</strong> Gesellschaft ist zugleich <strong>die</strong>Frage an <strong>die</strong> Spiritualität <strong>die</strong>ser Kirche. Es kann se<strong>in</strong>, dass es nicht überflüssig ist, dass <strong>die</strong>Kirche sich untersuchen, stylen und umorganisieren lässt von allen möglichen Institutionenund Organisationsgesellschaften. Sie ist <strong>in</strong> weltlichen D<strong>in</strong>gen ja oft sehr e<strong>in</strong>fältig. Aber <strong>die</strong>eigentliche Hoffnung liegt nicht <strong>in</strong> ihrer neuen Organisation. <strong>Die</strong> Zukunft <strong>der</strong> Kircheentscheidet sich an ihrer Spiritualität. Weiß sie, was Gebet und Anbetung s<strong>in</strong>d? Lesen <strong>die</strong>Christen ihre Bibel? Gehen <strong>die</strong> Pfarrer, <strong>die</strong> <strong>Kirchen</strong>vorsteher sogar <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kirche, wenn sienicht predigen müssen und ke<strong>in</strong>en <strong>Die</strong>nst haben? Sagen <strong>die</strong> Christen, wer sie s<strong>in</strong>d, o<strong>der</strong>schämen sie sich ihres Glaubens?Spiritualität heißt Frömmigkeit und Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit: Wen nimmtunsere Kirche wahr? Von wem her denkt sie; entwirft sie ihre Theologie; formuliert sie ihreGebete? Wen wählt sie <strong>in</strong> ihre Presbyterien und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Synoden. Ist <strong>die</strong> Kirche <strong>die</strong> e<strong>in</strong>facheWie<strong>der</strong>holung e<strong>in</strong>er bürgerlichen Mittelschicht? Kennt sie <strong>die</strong> ersten Adressaten desEvangeliums: <strong>die</strong> Armen, <strong>die</strong> Geschlagenen, <strong>die</strong> <strong>Fremden</strong>, <strong>die</strong> Entrechteten? Wo liegen <strong>die</strong>Leidenschaften <strong>die</strong>ser Kirche. Man kann beten, wenn man weiß, wofür man beten soll. <strong>Die</strong>Spiritualität <strong>die</strong>ser Kirche ist also nicht Entrissenheit und weltloses Vers<strong>in</strong>ken. Es istAnwesenheit und Aufmerksamkeit. Sie ist nicht Fe<strong>in</strong>es und re<strong>in</strong> Geistiges; sie iststörungsanfällig und lumpig, weil sie auf <strong>die</strong> Straße geht; dah<strong>in</strong> also, wo <strong>die</strong> zu f<strong>in</strong>den s<strong>in</strong>d,<strong>die</strong> das Leben geschlagen hat. Ich wünsche uns e<strong>in</strong>e Kirche, <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>die</strong> Frömmigkeit kritischist und <strong>die</strong> Kritik fromm. Endlich sollen Leidenschaft und Frömmigkeit, Gebet undEmpörung, Lob und rebellische Klage nicht mehr ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>fallen.Ne<strong>in</strong>, es geht <strong>der</strong> Kirche nicht um sich selber. Sie darf nicht entarten zu e<strong>in</strong>em Vere<strong>in</strong>,<strong>der</strong> um sich selbst besorgt und <strong>in</strong> sich selber verstrickt ist. Ihre erste Absicht kann nicht se<strong>in</strong>,Mitglie<strong>der</strong> zu werben und zu gew<strong>in</strong>nen. Viele Schwierigkeiten, kle<strong>in</strong>liche Konflikte,unwürdige Fragen kommen daher, dass <strong>die</strong> <strong>Kirchen</strong> nicht mehr im Blick haben als sich selber.Ihre Aufgabe ist es, Zeugnis abzulegen. Ich zitiere den Altbischof <strong>der</strong> Methodisten WalterKlaiber: “Erfolg ist ke<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Namen Gottes’, soll Mart<strong>in</strong> Buber gesagt haben. Das kannnatürlich zur bequemen Ausrede für <strong>die</strong> werden, <strong>die</strong> sich scheuen, das Evangelium <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erWeise weiterzugeben, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>ladend und ansprechend ist. Aber es kann auch e<strong>in</strong>e wichtigeEr<strong>in</strong>nerung daran se<strong>in</strong>, dass man Gottes Wirken nicht mit Statistiken messen kann. Das


6Evangelium ist ke<strong>in</strong>e Ware, <strong>die</strong> man mit allen Mitteln und unter jedem Preis unter <strong>die</strong> Leutebr<strong>in</strong>gen soll. Wer <strong>die</strong> Botschaft von <strong>der</strong> Liebe Gottes … mit psychischem Zwang, wie z.B. <strong>der</strong>Verteuflung <strong>der</strong>er, <strong>die</strong> es an<strong>der</strong>s verstehen, nahe br<strong>in</strong>gen will, beschädigt <strong>die</strong> Botschaftselbst.“ Und Klaiber weiter: „Identitätssuche und Profilierung auf Kosten an<strong>der</strong>er gehört zudem, was Paulus ‚fleischlich nennt: <strong>die</strong> ängstliche Sorgen um <strong>die</strong> eigene Existenz, <strong>die</strong> <strong>die</strong>seum jeden Preis sichern will.“ (Walter Klaiber: Missionarische Ökumene. Wie <strong>Kirchen</strong>geme<strong>in</strong>sam das Evangelium bezeugen können, <strong>in</strong>: Her<strong>der</strong>-Korrespondenz, 61(2007), 352-357)Es wird viel vom Protestantischen Profil geredet. Ist man zu viel auf <strong>der</strong> eigenen Spur undbedacht auf <strong>die</strong> Darstellung se<strong>in</strong>er selbst? Ist es nicht e<strong>in</strong> Problem, das <strong>die</strong> Protestanten sichaufdrängen lassen durch <strong>die</strong> Hochsaison, <strong>die</strong> <strong>der</strong> römische Katholizismus gerade hat?Zwanghafte Selbstprofilierung ist normaler Weise nicht e<strong>in</strong> Zeichen von Souveränität undSelbstgewissheit. Wir müssen uns nicht beweisen durch unser Profil. Wir müssen nichtdauernd darstellen, dass wir wer s<strong>in</strong>d. Das ist immer auch etwas k<strong>in</strong>disch. Vielleicht solltenwir den letzten Vers von Bonhoeffers Gedicht „Wer b<strong>in</strong> ich?“ beten lernen: „Wer b<strong>in</strong> ich?E<strong>in</strong>sames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch b<strong>in</strong>, du kennst mich, de<strong>in</strong> b<strong>in</strong> ich, o Gott.“<strong>Die</strong> fremden GeschwisterLassen Sie mich e<strong>in</strong>ige Sätze sagen zum Verhältnis des Christentums zu an<strong>der</strong>enGlaubensentwürfen! <strong>Die</strong> Grundgefahr religiöser Systeme ist, dass sie sich selber nicht endlichdenken können. Sie s<strong>in</strong>d immer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefahr, sich selber Gottesprädikate zuzulegen: sie s<strong>in</strong>d<strong>die</strong> alle<strong>in</strong> seligmachenden, außerhalb von ihnen gibt es ke<strong>in</strong> Heil, sie s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Wahren, undaußerhalb von ihnen ist nur Lüge und Abfall. Ihre Gefahr ist, <strong>die</strong> Welt zu säubern von denAn<strong>der</strong>sheiten. Der Zwang zur E<strong>in</strong>stimmigkeit lässt sie nur schwer Fremdheiten denken unddulden. Der Verlust <strong>der</strong> Endlichkeit ist <strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> Geschwisterlichkeit. Nur endlicheWesen s<strong>in</strong>d geschwisterliche Wesen. Sich für e<strong>in</strong>zigartig zu halten, heißt immer, bereit se<strong>in</strong>zum Elim<strong>in</strong>ieren. <strong>Die</strong> Anerkennung von Pluralität ist <strong>die</strong> Grundbed<strong>in</strong>gung menschlicherExistenz. Ich wünsche mir e<strong>in</strong>e Kirche und religiöse Gruppen von radikaler Deutlichkeit, <strong>die</strong>ihre eigenen Traditionen, Geschichten und Lie<strong>der</strong> kennen und nicht verschweigen. Ichwünsche mir e<strong>in</strong>en Glauben, <strong>der</strong> Gott unendlich se<strong>in</strong> lässt und <strong>der</strong> auf se<strong>in</strong>e eigeneUnendlichkeit verzichtet. Erst er ist fähig zum Zwiegespräch. Selbstverständlich ist e<strong>in</strong>esolche Kirche e<strong>in</strong>e Missionskirche. Mission heißt, zeigen wer man ist und was man liebt.Gesicht zeigen, heißt Gesicht gew<strong>in</strong>nen.


7Ich wünsche uns den Mut zur Endlichkeit. Ich wünsche uns <strong>die</strong> Gnade <strong>der</strong> Endlichkeit.Sie erleichtert uns das Leben. Wir als E<strong>in</strong>zelne, wir als religiöse Gruppe, wir als Nation s<strong>in</strong>dnicht <strong>die</strong> Garanten <strong>der</strong> Welt. Wir s<strong>in</strong>d nicht <strong>der</strong> Grund des Lebens, das ist Gott, <strong>in</strong> ihm s<strong>in</strong>ddas Leben und <strong>die</strong> Wahrheit begründet. So können wir Fragment se<strong>in</strong>, auch als religiöseGruppe. Welche Lebensleichtigkeit, dass wir nicht alles se<strong>in</strong> müssen. In uns muss nicht <strong>die</strong>ganze Wahrheit zu f<strong>in</strong>den se<strong>in</strong>. An unserem Wesen muss <strong>die</strong> Welt nicht genesen. E<strong>in</strong> Nazi-Satz hieß: Am Deutschen Wesen soll <strong>die</strong> Welt genesen. Welche Aggression mit solchenSätzen verbunden war, haben wir <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung. Wir können uns als religiöse Gruppe <strong>die</strong>Freiheit nehmen, nicht absolut zu se<strong>in</strong>. Damit s<strong>in</strong>d wir von <strong>der</strong> Last <strong>der</strong> E<strong>in</strong>zigartigkeit befreit.Und das ist dann zugleich <strong>der</strong> Lebensraum für an<strong>der</strong>e; für an<strong>der</strong>e Wahrheiten, an<strong>der</strong>eLebensentwürfe, an<strong>der</strong>e Hoffnungen. Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unter vielen, me<strong>in</strong> Glaube ist e<strong>in</strong>er untervielen, me<strong>in</strong> Land ist e<strong>in</strong>es unter vielen. Das drückt nicht me<strong>in</strong>en Mangel und me<strong>in</strong>eGer<strong>in</strong>gfügigkeit aus. Alle Lebensdialekte stammen von <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Grundsprache des Lebens.So gilt beides: Der an<strong>der</strong>e Glaube ist an<strong>der</strong>s als me<strong>in</strong>er, und ich kann ihm se<strong>in</strong>e An<strong>der</strong>sheitlassen. Er ist mir gleich, denn wir haben den gleichen Ursprung des Lebens. An<strong>der</strong>eLebensentwürfe, an<strong>der</strong>e Hautfarben, an<strong>der</strong>e Religionen brauchen also nicht auf dem Altarme<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zigartigkeit geopfert zu werden. <strong>Die</strong> Menschen im an<strong>der</strong>en Glauben s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>eGeschwister – Menschen wie ich und Menschen an<strong>der</strong>s als ich.Das Bewusstse<strong>in</strong> <strong>der</strong> eigenen Endlichkeit als Freiheitsbewusstse<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Gelassenheitund <strong>die</strong> Gewaltlosigkeit dem an<strong>der</strong>en Leben gegenüber stammen aus <strong>der</strong> Gewissheit, dassman selber nicht nichts ist. <strong>Die</strong> Güte hat uns <strong>in</strong>s Leben gerufen und uns unsere Wahrheitgeschenkt. Ich vermute, dass Toleranz nur da gel<strong>in</strong>gt, wo man sich se<strong>in</strong>er selbst halbwegsgewiss ist. Man muss wissen, woher man kommt und wer man ist; man muss <strong>die</strong> eigenenGeschichten und <strong>die</strong> eigenen Lie<strong>der</strong> kennen. Es gibt e<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>fällige Toleranz, <strong>die</strong> ausresignativer Selbstschwäche entsteht; <strong>die</strong> aus dem Bewusstse<strong>in</strong> entsteht, es rentiere sich nicht,gegen etwas zu se<strong>in</strong>, weil man sich selbst verschwommen ist und weil man verzweifelt ist an<strong>der</strong> Erkennbarkeit <strong>der</strong> Wahrheit. E<strong>in</strong>e auf an<strong>der</strong>e wirklich bezogene, e<strong>in</strong>e dialogische undstarke Toleranz setzt Lebensgewissheit voraus; setzt also voraus, dass man sich selberkenntlich ist. Zur dialogische Toleranz gehören Partner, <strong>die</strong> vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verschieden s<strong>in</strong>d,<strong>die</strong> Eigentümlichkeiten haben und <strong>der</strong>en Grenzen erkennbar s<strong>in</strong>d. Der symbiotische Wunsch,alle Grenzen nie<strong>der</strong>zureißen unter Verleugnung aller Unterschiede zerstört <strong>die</strong>Dialogfähigkeit. Man muss jemand se<strong>in</strong>, um sich zu jemandem Verhalten zu können. Auchdas freundlichste Un-Wesen ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefahr, e<strong>in</strong> Unwesen für <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en zu werden.


8<strong>Die</strong> Duldung <strong>der</strong> fremden GästeLassen Sie mich e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Geschichte erzählen! Vor e<strong>in</strong>iger Zeit musste ich e<strong>in</strong>en Mannbeerdigen, <strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr unkirchlichen Kontext lebte. Alle waren erstaunt darüber, sogarse<strong>in</strong>e Familie, dass <strong>die</strong>ser Mann noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kirche war. Er war katholisch. Da ich wusste,dass fast niemand von den Trauergästen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kirche war, leitete ich <strong>die</strong> Feier so e<strong>in</strong>: „E<strong>in</strong>Mensch, den Sie verehrt und geliebt haben, ist gestorben. Wir wünschen ihm <strong>in</strong> <strong>die</strong>semGottes<strong>die</strong>nst das, wofür wir selber nicht stehen können: dass ihr Leben und ihr Todaufgehoben s<strong>in</strong>d im Schoße Gottes. Wir tun es <strong>in</strong> <strong>der</strong> alten Sprache, <strong>die</strong> für wenige von IhnenMuttersprache ist, den meisten ist sie fremd. E<strong>in</strong>ige er<strong>in</strong>nern sich noch und s<strong>in</strong>d halb <strong>in</strong> ihrbeheimatet. Es ist <strong>die</strong> Sprache, <strong>die</strong> gewaschen ist mit den Tränen und den Wünschen <strong>der</strong>Toten, <strong>die</strong> sie vor uns gesprochen haben. Der Tote hatte sich nie ganz verabschiedet von<strong>die</strong>ser Sprache. Ich lade Sie e<strong>in</strong>, für e<strong>in</strong>e Stunde Gast <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Sprache zu se<strong>in</strong>, auch wenn sieihnen fremd ist. Legen Sie für den Toten <strong>die</strong> Masken <strong>der</strong> Hoffnung an und s<strong>in</strong>gen Sie –vielleicht mit frem<strong>der</strong> Stimme – <strong>die</strong> Lie<strong>der</strong>, sprechen Sie den Psalm und beten Sie dasVaterunser! Lassen Sie uns nicht auf unserer kärglichen Stummheit bestehen, son<strong>der</strong>nausgreifen bis <strong>in</strong> das Land des Glücks, <strong>in</strong> dem <strong>die</strong> Wunden geheilt und <strong>die</strong> Toten geborgens<strong>in</strong>d! Spielen Sie für e<strong>in</strong>e Stunde <strong>die</strong>sen Glauben, auch wenn ihr Herz nicht mitkommt!“Am Ende sagte mir e<strong>in</strong> nachdenklicher Teilnehmer: „Ich habe me<strong>in</strong>e Glaubensmaske wie<strong>der</strong>abgelegt. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie sie mir für e<strong>in</strong>e Stunde geliehen haben.“ Auch dasist Mission – <strong>die</strong> Masken des Glaubens und <strong>der</strong> Hoffnung auf Zeit zu verleihen.Manchmal borgen sich Menschen für e<strong>in</strong>en Tag o<strong>der</strong> o<strong>der</strong> vielleicht für e<strong>in</strong>e Stundeunsere Sprache aus. Wir s<strong>in</strong>d nicht <strong>die</strong> Meister ihres Glaubens, und wir haben <strong>die</strong>sen Glaubenauf Zeit zu ehren und ihm zu <strong>die</strong>nen. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Aufgabe <strong>der</strong> Kirche ist es, mit ihrer Sprache,mit ihren Gesten, mit ihren Räumen und Zeiten zur Verfügung zu stehen, wenn Menschen unsbrauchen. Zum Beg<strong>in</strong>n des Golfkrieges o<strong>der</strong> am 11. September 2001 o<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> großen Flut<strong>in</strong> Asien waren <strong>die</strong> <strong>Kirchen</strong> <strong>in</strong> Hamburg voll. Menschen s<strong>in</strong>d auf Zeit Gast <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haus, dasihnen nicht gehört und <strong>in</strong> dem sie nicht zuhause s<strong>in</strong>d. Sie leihen sich Sprache, Räume, Zeitenund Gesten für <strong>die</strong> Not o<strong>der</strong> das Glück ihres Herzens. Sie brauchen das Haus, aber sie wollendort nicht zuhause se<strong>in</strong>. Sie wollen, dass wir uns nicht verleugnen. Sie wollen nicht, dass wir<strong>die</strong> Sprache und <strong>die</strong> Gesten zu Tode erklären. Sie wollen <strong>in</strong> e<strong>in</strong> fremdes Haus gehen.Vielleicht ist <strong>die</strong>se Sprache überhaupt nur <strong>in</strong> ihrer Fremdheit für sie zu sprechen und zuertragen. Sie wollen nicht, dass es ihre Sprache ist und dass sie ihnen auf den Leibzugeschnitten ist. <strong>Die</strong> Fremdheit lässt ihnen Distanz und Ambivalenz. Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haus,


9und es schützt sie auf Zeit, aber sie s<strong>in</strong>d nicht zuhause und sie wollen dort nicht zuhause se<strong>in</strong>.Sie spielen <strong>die</strong> Clowns <strong>der</strong> Hoffnung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er fremden Sprache. Man kann Fremdes manchmalbesser verstehen und annehmen als immer schon Verstandenes und immer schon Gewusstes.Es ist schon erstaunlich, was Menschen heute alles annehmen, obwohl es nie <strong>in</strong> ihrerTradition gelegen hat. Soll man vielleicht sagen, weil es nie zu ihrem Traditionsbestandgehörte? Wir s<strong>in</strong>d nicht <strong>die</strong> Meister des Glaubens <strong>die</strong>ser Menschen, aber wir können – mitPaulus gesprochen – <strong>Die</strong>ner <strong>in</strong> ihrer Freude und <strong>in</strong> ihrem Unglück se<strong>in</strong>. Mission heißt,Gastfreundschaft üben und nicht neidisch darüber se<strong>in</strong>, dass <strong>die</strong> Menschen nicht für immerbleiben und Vollmitglie<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d. Es gibt an<strong>der</strong>e Wege des Geistes als unsere eigenen.Wir Alten haben es wohl mit e<strong>in</strong>em neuen Selbstverständnis zu tun, an das wir uns erstgewöhnen müssen. Menschen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Jugend waren Nesthocker. Sie blieben, <strong>in</strong> <strong>der</strong>Religion, <strong>die</strong> sie ererbt hatte; <strong>in</strong> den Ehen, <strong>die</strong> sie geschlossen haben; am Ort, an dem siegeboren waren; <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schicht ihrer Eltern; <strong>in</strong> dem Beruf, den sie e<strong>in</strong>mal erlernt hatten. Wirs<strong>in</strong>d selber Zugvögel geworden und haben es mit Zugvögeln zu tun. <strong>Die</strong> Signatur <strong>die</strong>serExistenz ist Zeitweiligkeit, Wechsel, Doppelexistenzen. Zeitweilig: Man glaubt auf Zeit, hatse<strong>in</strong>en Beruf auf Zeit, hat vielleicht sogar se<strong>in</strong>e Ehe auf Zeit (wie Frau Pauly vorschlägt). InMe<strong>in</strong>er Jugend hatte man alles lebenslänglich. Doppelexistenz: Ich kenne denTheologiestudenten, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> <strong>in</strong>dianischen Schwitzhütte kommt, das theologische Sem<strong>in</strong>arbesucht, auf se<strong>in</strong>en Luther schwört, <strong>die</strong> Fronleichnamsprozession besucht und am Abend noche<strong>in</strong> Sem<strong>in</strong>ar über <strong>die</strong> Mystik <strong>der</strong> Sufis besucht. Es ist erstaunlich, welche biographischen undreligiösen Karrieren schon junge Menschen haben. Alles hat se<strong>in</strong>en Preis, <strong>die</strong>Nesthockerexistenz und <strong>die</strong> Zugvogelexistent. Wir können uns <strong>die</strong> Menschen, mit denen wirumgehen, nicht aussuchen. Sie s<strong>in</strong>d, wie sie s<strong>in</strong>d. Wenn man mit Menschen, vor allem auchmit sich selber umgeht, braucht man viel Humor und wenig Zwang.Was aber wird aus uns Christen, wenn wir das Geheimnis <strong>in</strong> <strong>die</strong> Öffentlichkeit tragen?Bleiben wir noch deutlich, o<strong>der</strong> verlieren wir Kontur - vor uns selber und vor den an<strong>der</strong>en,wenn wir <strong>die</strong> Sprache aus dem Arcanum nehmen und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Fremde tragen? Ich vermute, jedeutlicher wir selber s<strong>in</strong>d als Christen, als Pfarrer<strong>in</strong>nen, als Lehrer<strong>in</strong>nen, als <strong>Kirchen</strong>vorsteher,um so eher können wir undeutliche Gäste ertragen. Je mehr wir unsere Traditionen nicht nurkennen, son<strong>der</strong>n sie lieben gelernt haben als Geschichten <strong>der</strong> Freiheit und <strong>der</strong> Schönheit; jemehr wir sie uns angeeignet haben und wir spirituelle Menschen s<strong>in</strong>d, um so mehr könnenwir furchtlos verteilen, was wir haben, und zeigen, wer wir s<strong>in</strong>d. Je unsicherer wir s<strong>in</strong>d, umsostärker üben wir uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst <strong>der</strong> Selbstverbergung.


10Ich spreche immer wie<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Deutlichkeit und Kenntlichkeit <strong>der</strong> Kirche. Ichmöchte <strong>der</strong> Deutlichkeit e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Wort h<strong>in</strong>zufügen: Keuschheit. Es gibt e<strong>in</strong>e Entwertungdes Öffentlichen Raums, e<strong>in</strong>e konzentrierte Form organisierter Umweltkrim<strong>in</strong>alität und e<strong>in</strong>eSichtverschmutzung durch Reklame. Wenn ich durch e<strong>in</strong>e Stadt gehe, kann ich nicht freiEntscheiden, ob ich <strong>die</strong>sen o<strong>der</strong> jenen Schwachs<strong>in</strong>n propagierter Produkte ansehen will. Ichb<strong>in</strong> gezwungen zu sehen, me<strong>in</strong> Blick ist gefangen. <strong>Die</strong>se Art von Öffentlichkeit wünsche ich<strong>der</strong> Botschaft des Evangeliums nicht. Das Evangelium soll nicht an <strong>die</strong> Blick<strong>in</strong>dustrieverkauft werden. Es ist zu schade dazu. Wenn man etwas liebt, zeigt man es, das ist wahr.Aber man verbirgt auch das Herz und trägt es nicht vor je<strong>der</strong>mann auf <strong>der</strong> Zunge. Lassen Siemich e<strong>in</strong> Beispiel nennen. Ich freue mich, wenn ich e<strong>in</strong>em Auto begegne, das e<strong>in</strong>enFischaufkleber hat. Es ist e<strong>in</strong>e Art Wie<strong>der</strong>erkennen e<strong>in</strong>es Menschen, den ich nie gesehenhabe, <strong>der</strong> aber <strong>die</strong> selbe Hoffnung hat. Das Zeichen ist diskret. Es offenbart und verhülltzugleich. Weniger lieb ist es mir, wenn es mir von jedem Heckfenster entgegen schreit: „Jesusliebt dich!“ O<strong>der</strong>: „Hast du heute schon gebetet?“ Christus zu bezeugen, hat nichts mitgeistlicher Schamlosigkeit zu tun. Alles und je<strong>der</strong>zeit zu veröffentlichen, ist e<strong>in</strong>e Zerstörung<strong>der</strong> Öffentlichkeit.<strong>Die</strong> neue Religiosität<strong>Die</strong> Kirche wird kle<strong>in</strong>er werden, und <strong>die</strong> Frage nach Religion stellt sich <strong>in</strong> vielen neuenGestalten, und zwar vor allem <strong>in</strong> den hochsäkularen Regionen. „Alle Religionen wachsen imweltweiten Kontext.“ (EKD-Stu<strong>die</strong> Gott <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt) <strong>Die</strong> Sehnsucht nach Gott f<strong>in</strong>den wir <strong>in</strong>vielen vermummten Gestalten, etwa als Frage nach dem S<strong>in</strong>n des Leids, dem Ziel des Lebens,<strong>der</strong> Möglichkeit des Rechts. Schon lange nicht mehr haben sich Intellektuelle und nicht-Theologen so sehr mit Religion ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gesetzt. Das Theater beschäftigt sich mitreligiösen Themen. <strong>Die</strong> 7 Hauptsünden werden dramatisiert und <strong>die</strong> 10 Gebote. Das Theater<strong>in</strong> Magdeburg, bisher religiös unverdächtigt, führte „Das Käthchen von Heilbronn“ auf un<strong>der</strong>bittet e<strong>in</strong>en Vortrag darüber, was Christen unter Himmel verstehen. In <strong>der</strong> Diskussion <strong>der</strong>Stadtarchitekten werden <strong>die</strong> <strong>Kirchen</strong> als symbolische und zentrierende Orte neu diskutiert.Der Aufbau <strong>der</strong> Dresdener Frauenkirche und ihre E<strong>in</strong>weihung hat viele Millionen vor denFernseher gelockt. <strong>Die</strong> an vielen Stellen e<strong>in</strong>geführte „Lange Nacht <strong>der</strong> <strong>Kirchen</strong>“ f<strong>in</strong>detBeachtung. An den „Transitpunkten <strong>der</strong> Existenz“ (EKD-Stu<strong>die</strong>) werden religiöse Räumeerrichtet: <strong>die</strong> Räume <strong>der</strong> Stille auf Flughäfen, auf Bahnhöfen und an Autobahnen. KirchlicheGroßereignisse werden beson<strong>der</strong>s beachtet, beson<strong>der</strong>s wenn sie bunt und <strong>in</strong>s Bild zu br<strong>in</strong>gen


11s<strong>in</strong>d. Da haben <strong>die</strong> Katholiken es besser und wir Protestanten es schwerer mit unsererunerotischen kirchlichen Kleidung. Aber ich muss gestehen, dass ich stolz b<strong>in</strong>, auf <strong>die</strong>unverführerische protestantische Kargheit.Ne<strong>in</strong>, <strong>die</strong> Leute kommen nicht mit Haut und Haar<strong>in</strong> <strong>die</strong> Kirche, aber sie leihen sich Texte, Ideen, Bil<strong>der</strong>, Räume, Zeiten, Gebräuche. <strong>Die</strong> Kircheist auch <strong>der</strong> Theaterfundus e<strong>in</strong>er religiös armen Kultur. Warum nicht? Manchmal kommt <strong>der</strong>Geist auf dem Weg <strong>der</strong> Verkleidung.Ich will e<strong>in</strong> Beispiel e<strong>in</strong>es solchen Ausleihverfahrens nennen. Das Theater <strong>in</strong> Bremenführt „<strong>Die</strong> Zehn Gebote“ nach Krzystof Kieslowski auf. Sie bitten darum, <strong>die</strong>s im BremerDom tun zu können. Es ist e<strong>in</strong> hartes, anklagendes und hoffnungsarmes Stück. <strong>Die</strong>Domgeme<strong>in</strong>de lehnt nach anfänglicher Zusage und nach vielen Protesten ab. Der Dom solle<strong>in</strong> Ort des Trostes, <strong>der</strong> Stille und <strong>der</strong> Anbetung bleiben. Schließlich erklärt sich e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>eKirche bereit, den Schauspielern Gastrecht <strong>in</strong> ihrer Kirche zu geben. Auch da kommt es zue<strong>in</strong>em harten Konflikt. Ich frage e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> Schauspieler, warum sie mit ihrem Stück unbed<strong>in</strong>gt<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Kirche wollen. Er: „Wir können nur entlarven und anklagen. E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Sprachehaben wir nicht. Aber wir brauchen eure Kirche, damit sie uns wi<strong>der</strong>spricht. Der Raum <strong>der</strong>Kirche besteht darauf, dass es mehr zu vermuten gibt, als wir sagen können.“ E<strong>in</strong>wun<strong>der</strong>voller Satz: Wi<strong>der</strong>sprecht ihr Christen uns <strong>in</strong> unserer Hoffnungslosigkeit! Tut es miteuren Räumen und Gesten, mit euren Texten und Lie<strong>der</strong>n. Glaubt, und lasst uns zusehen, wieihr glaubt! Zu viel mehr br<strong>in</strong>gen wir es im Augenblick selber nicht. Aber vielleicht könnenwir anfangen, euch euren Glauben zu glauben. Das heißt Zeugenschaft: den <strong>Fremden</strong> deneigenen Glauben leihen, selbst wenn sie ihn nur für Augenblicke o<strong>der</strong> Stunden ausleihen;selbst wenn sie sich nur Splitter davon ausleihen. Wir haben ke<strong>in</strong> Recht auf dem „Alles o<strong>der</strong>nichts“, auf dem „Ganz o<strong>der</strong> gar nicht“ zu bestehen. Wir haben zur Verfügung zu stehen. Dasist Mission.Ich fasse noch e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Aufgaben <strong>der</strong> missionarischen Kirche zusammen:<strong>Die</strong> Kirche soll Gott loben. Wenn ich ängstlich wäre, würde ich befürchten, dass <strong>die</strong> <strong>Kirchen</strong>ur das tut, was sich nach außen rechtfertigen lässt und was allen e<strong>in</strong>leuchtet; nur das sagt,womit sie <strong>der</strong> säkularen Gesellschaft schmackhaft ist. Das heißt: sie würde den Namen Gottesverschweigen.<strong>Die</strong> Kirche soll das Recht ehren. Wenn ich ängstlich wäre, würde ich befürchten, dass <strong>die</strong>Kirche, wo ihr <strong>die</strong> gesellschaftliche Akzeptanz verloren geht, sich eifrig bemüht, politischunauffällig zu werden und ihre prophetische Aufgabe zu vernachlässigen.


12<strong>Die</strong> Kirche soll Gesicht zeigen. Wenn ich ängstlich wäre, würde ich vermuten, dass <strong>der</strong>Kirche <strong>der</strong> Stolz abhanden kommt, sich öffentlich zu zeigen. Sie könnte zu e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>enGruppe von selbstvergewisserten Menschen werden, <strong>die</strong> nur noch nach <strong>in</strong>nen denkt und nichtmehr wahrnimmt als sich selber.Ne<strong>in</strong>, ich habe ke<strong>in</strong>e Angst für <strong>die</strong> Kirche, wenn sie kle<strong>in</strong>er wird. Wohl habe ich Angst ume<strong>in</strong>e Gesellschaft, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Agentur für <strong>die</strong> Freiheit, <strong>die</strong> Würde und für das Recht <strong>der</strong> Armenverloren geht.

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