'Seek the peace
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„Suchet den Frieden der Stadt, in die ich euch ins Exil geführt<br />
habe“ (Jer 29,7)<br />
Vortrag zu Ehren der Emeritierung von Marten Marquardt,<br />
Köln, 13.3.08<br />
Rabbiner Professor Jonathan Magonet<br />
Die Einladung, diesen Vortrag zu Ehren von Marten Marquardt bei<br />
seiner Emeritierung zu halten, ist mir ein großes Privileg und eine<br />
persönliche Freude. Als man mich ansprach, wurde mir der<br />
Vorschlag gemacht, über etwas zu sprechen, das mit dem Thema<br />
„Theologie in der Stadt“ zu tun hat. Der erste biblische Vers, der<br />
mir zu diesem Thema eingefallen ist, war der aus Jeremia 29,7,<br />
von dem der Titel dieses Vortrages kommt: v’dirshu et-sh’lom hair<br />
asher higleiti etchem shammah v’hitpal’lu va’adah el-adonai ki<br />
vishl’lomah yihyeh lachem shalom „Suchet den Frieden der Stadt,<br />
in die ich euch ins Exil geschickt habe, und betet für sie zum<br />
Ewigen, denn in ihrem Frieden wird euer Friede sein.“<br />
Dieser Vers enthält für Juden eine besondere Resonanz. Er ist Teil<br />
eines Briefes, den Jeremia an die Gemeinde der vor kurzem ins<br />
babylonische Exil Gefangengenommenen geschrieben hat. Der<br />
Brief wurde sicher in großem Schmerz aber auch mit viel Mut<br />
geschrieben. Angesichts der größten Tragödie in der Geschichte<br />
seiner Nation, konnte der Prophet in diesem Ereignis die Hand<br />
Gottes sehen, ja sogar den Höhepunkt seines Lehrens und<br />
Predigens. Er hatte die Warnung ausgesprochen, dass die<br />
Korruption, die er in seiner eigenen Zeit sah, eine Perversion des<br />
Bundes zwischen Israel und Gott sei, und dass Zerstörung und Exil<br />
die unausweichlichen Folgen sein würden. Der Glaube des Volkes<br />
an die ewige Existenz Jerusalems und des Tempels, vielleicht noch<br />
verstärkt durch die Prophezeiungen des Jesaja ein Jahrhundert<br />
zuvor, hat das Volk sowohl gegenüber der geistlichen als auch der<br />
politischen Wahrheit blind gemacht. Denn als Jeremia es wagte,<br />
das Volk mit dieser unwillkommenen Warnung zu konfrontieren,<br />
wurde ein Prozeß gegen ihn geführt, er kam unter Hausarrest, es<br />
1
wurde ihm verboten, in der Öffentlichkeit zu sprechen, er wurde<br />
in einen Kerker geworfen um zu verrotten, and er wurde mit<br />
Verschwörungen gegen sein Leben konfrontiert. Wenn die<br />
Bekenntnisse, die in seinem Buch enthalten sind, eine wahre<br />
persönliche Aufzeichnung sind, dann wurde er manchmal in<br />
Geisteskrankheit und Verfolgungswahn getrieben. Aber seine<br />
eigenen inneren Zweifel, die scheinbare Sinnlosigkeit seines<br />
Predigens und das erschreckende Gefühl, von Gott verlassen zu<br />
sein, waren noch größer als all diese äußeren und inneren Leiden.<br />
Doch jetzt da gezeigt worden war, dass er mit seinen Warnungen<br />
Recht hatte, bemühte sich Jeremia, der große Kritiker seines<br />
Volkes, in paradoxaler aber konsequenter prophetischer Lehre ihr<br />
Tröster zu werden.<br />
Für die Mehrheit seiner Zeitgenossen muß seine neue Botschaft<br />
genauso pervers und unannehmbar erschienen sein. Er sah den<br />
Einfall der Babylonier, die Zerstörung, die sie gewirkt hatten, und<br />
das Exil der königlichen Familie, der Leitungskräfte und der<br />
Volksmassen als Beweis für das bleibende Engagement Gottes mit<br />
Israel. Gott war den babylonischen Göttern oder ihrer militärischen<br />
Macht nicht unterlegen , sondern er hatte vielmehr erlaubt oder<br />
sogar verursacht, dass die widerspenstige Nation mit dieser<br />
Katastrophe bestraft wurde. Jetzt lag es am Volk, ihr Vergehen und<br />
ihre Entfremdung von Gott anzuerkennen, darauf zu warten, dass<br />
Gott ihnen verzieh und das Geschehene rückgängig machte. Im<br />
Exil sollten sie sich weder der Hoffnungslosigkeit hingeben, noch<br />
sollten sie – wie so viele andere Opfer der assyrischen und<br />
babylonischen Politik, die die Deportation ganzer Bevölkerungen<br />
veranlaßte - ihre Identität verlieren und in der umliegenden<br />
Bevölkerung der kaiserlichen Stadt Babylon verschwinden.<br />
Stattdessen sollten sie unter sich heiraten, neue Familien schaffen,<br />
ihrer Identität treu bleiben, bis in Gottes eigener Zeit das Exil<br />
zuende gehen und sie in ihr Land zurückkehren würden.<br />
2
Wenn dieser Rat schockierend war, dann war unser Titelsatz<br />
vielleicht sogar noch beunruhigender. Jeremia hat die Deportierten<br />
dazu aufgerufen, Babylon nicht nur als eine fremde Umgebung,<br />
einen zu hassenden Ort des Exils und der Erniedrigung zu sehen,<br />
sonder stattdessen als eine Stadt, deren Wohlbefinden und Zukunft<br />
auch ihre Verantwortung war. Die Sprache des Jeremia enthält das<br />
Echo von Worten über eine andere Stadt, der Stadt der Geschichte<br />
und des Schicksals Israels, Jerusalem. In Psalm 122 hat der<br />
Psalmist seine Zeitgenossen - vielleicht Pilger, die sich dem<br />
Tempel näherten - mit einem außergewöhnlichen Wortspiel<br />
eingeladen: Sha’alu shalom yerushalayim yishlayu ohavayich –<br />
„Erbittet den Frieden Jerusalems; mögen sich diejenigen, die dich<br />
lieben, wohl fühlen.“ Die Worte geben den Eindruck, dass es ihre<br />
Aufgabe war, zu Gott für die fortdauernde Existenz, das<br />
Wohlbefinden und den Wohlstand Jerusalems zu beten. Aber statt<br />
sha’alu, „fragt“, benützt Jeremia dirshu, „suchen“ oder „ausfindig<br />
machen“, ein Wort, das eine stärkere Bedeutung der tatsächlichen<br />
Teilhabe an der Aufgabe beinhaltet. Er rief sie dazu auf, voll und<br />
ganz im Leben dieser fremden Stadt eine Rolle zu spielen und für<br />
ihr Wohlbefinden zu arbeiten. Auf einer Ebene kann dies als<br />
erleuchtetes Eigeninteresse verstanden werden, wie Jeremia selbst<br />
erklärt: „und betet für sie, ki vishlomah yihyeh lachem shalom,<br />
„denn in ihrem Frieden wird euer Friede sein.“ Aber dies ist auch<br />
ein entscheidender Moment zur Bestimmung der Beziehung des<br />
exilierten jüdischen Volkes mit den Gesellschaften, in denen sie<br />
leben werden, nicht nur während dieses Exils in Babylon, sondern<br />
auch im zweiten Exil nach der Zerstörung Jerusalems durch die<br />
Römer. Diese Tradition des „Suchens nach dem Wohlbefinden“<br />
der Diasporagesellschaft ist zentral im jüdischen Denken und der<br />
jüdischen Praxis, und das „Beten für sie“ kommt zum Ausdruck im<br />
Gebet für die Regierung des jeweiligen Landes, das überall in der<br />
Diaspora in den Synagogen gesprochen wird.<br />
Das ist der unmittelbare Kontext dieses Zitates von Jeremia, aber<br />
es hat mich dazu geführt, es in einem weiteren Sinne zu bedenken.<br />
3
Auch wenn die Stadt in den Worten Jeremias ein spezifischer Ort<br />
des Exils war, ist in der heutigen städtischen Realität eigentlich<br />
jede Stadt für viele ihrer Bewohner ein Ort des Exils. Man muß nur<br />
an die außergewöhnliche Mischung von Menschen so<br />
verschiedener Hintergründe denken, die in den großen Städten des<br />
Westens wohnen, um die vielen Ebenen des Exils zu sehen, die sie<br />
vertreten. Manche sind im Exil vom Land oder der Kultur, in der<br />
sie oder ihre Eltern geboren wurden; sie versuchen in dieser neuen<br />
Umgebung ein neues Leben zu finden, ob sie als Flüchtlinge vor<br />
Verfolgung fliehen, oder als Migranten physische Freiheit oder<br />
wirtschaftliche Möglichkeiten suchen. Viele sind im Exil von ihrer<br />
Familie oder von der Gemeinde, in der sie groß geworden sind,<br />
einfach weil sie umziehen mußten, um ihren Lebensunterhalt an<br />
einem neuen Ort zu verdienen; dort mußten sie Wurzeln schlagen,<br />
eine neue Gruppe von Freunden und Freundinnen aufbauen und<br />
sich eine neue Art von Familie schaffen. Manche sind in der Tat<br />
im Exil und isoliert, ganz und gar von ihren Wurzeln und ihrer<br />
Vergangenheit abgeschnitten. Andere denken, dass sie in einer<br />
Diaspora sind, in der sie durch ihre Familie und Kultur noch mit<br />
einem anderswärtigen Heimatland verbunden sind, zwischen zwei<br />
Welten lebend und manchmal weder in der einen noch in der<br />
anderen zu Hause. Vielleicht ist jeder Ort, an dem wir gezwungen<br />
sind, unsere eigene Identität zu schaffen, das Exil.<br />
Auch wenn diese Sicht nur zu einem Teil stimmt, beeinflußt sie die<br />
Weise, wie wir die Stadt sehen. Sie ist nicht einfach ein Zuhause,<br />
dessen Bekann<strong>the</strong>it und Sicherheit wir als selbstverständlich<br />
hinnehmen, die uns automatisch ein Gefühl des Dazugehörens, des<br />
Besitzes und der Verantwortung gibt. Sie ist nicht der Ort, wo<br />
Hoffnungen und Erwartungen automatisch erfüllt werden. Sie ist<br />
auch nicht ein Ort, der ausschließlich uns gehört, wo Fremde mit<br />
Argwohn zu betrachten sind, denn wir alle sind potentiell oder<br />
tatsächlich im Transit von einem Ort zu einem anderen. Sie ist<br />
vielmehr ein Ort, der es nötig hat, ständig neu geschaffen zu<br />
werden, an dem sein Friede und Wohlbefinden, sein shalom – um<br />
4
den Begriff des Jeremia zu verwenden – etwas ist, das wir alle<br />
durch unsere eigenen Bemühungen darash, ausfindig machen und<br />
verdienen müssen.<br />
Wer bringt diese Herausforderungen am besten zum Ausdruck? In<br />
Abwesenheit von anerkannten Propheten heute, sind es oft die<br />
Dichter wie Jeremia selbst, die die Wahrheit unter der Oberfläche<br />
spüren, und die das überwältigende Bedürfnis empfinden, dies zum<br />
Ausdruck zu bringen. Vielleicht müssen wir uns an Dichter<br />
wenden, um die Materialien einer zeitgenössischen Theologie der<br />
Stadt zu finden, an Stimmen, die noch nicht durch die notwendige<br />
Vorsicht der institutionalisierten Religion kompromittiert sind. Es<br />
gibt jüdische Dichter des letzten Jahrhunderts, die die Realität des<br />
Exils erfahren haben, und ich möchte von ihnen lernen.<br />
Trotz der enormen Anzahl von Menschen in der Stadt, ist es fast<br />
ein Gemeinplatz zu sagen, dass die meisten von uns sich als isoliert<br />
und allein erfahren. Riesige Industrien bieten uns Vorstellungen,<br />
wie diese Isolation überwunden werden kann: durch die Art der<br />
Kleidung oder des Parfums, die wir tragen, das Auto, das wir<br />
fahren, die Nahrung, die wir essen, die Getränke, die wir zu uns<br />
nehmen, die Plätze, an denen wir uns versammeln. Und doch<br />
kämpfen wir jeden Tag mit der Vergänglichkeit von Beziehungen,<br />
mit den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten von Glück und<br />
Erfüllung, die versprochen aber selten verwirklicht werden. Etwas<br />
vom verlockenden Charakter des Lebens in der Stadt mit seinen<br />
Hoffnungen und Enttäuschungen wird von Kurt Tucholsky<br />
festgehalten, der im Exil sich selbst das Leben genommen hat:<br />
Augen in der Groß-Stadt<br />
Wenn du zur Arbeit gehst<br />
am frühen Morgen,<br />
wenn du am Bahnhof stehst<br />
mit deinen Sorgen:<br />
5
da zeigt die Stadt<br />
dir asphaltglatt<br />
im Menschentrichter<br />
millionen Gesichter:<br />
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,<br />
die Braue, Pupillen, die Lider –<br />
Was war das? vielleicht dein Lebensglück …<br />
vorbei, verweht, nie wieder.<br />
Du gehst dein Leben lang<br />
auf tausend Straßen;<br />
du siehst auf deinem Gang,<br />
die dich vergaßen.<br />
Ein Auge winkt,<br />
die Seele klingt;<br />
du hast’s gefunden,<br />
nur für Sekunden …<br />
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,<br />
die Braue, Pupillen, die Lider;<br />
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück …<br />
Vorbei, verweht, nie wieder.<br />
Du mußt auf deinem Gang<br />
durch Städte wandern;<br />
siehst einen Pulsschlag lang<br />
den fremden Andern.<br />
Es kann ein Feind sein,<br />
es kann ein Freund sein,<br />
es kann im Kampfe dein<br />
Genosse sein.<br />
Es sieht hinüber<br />
und zieht vorüber …<br />
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,<br />
die Braue, Pupillen, die Lider.<br />
6
Was war das?<br />
Von der großen Menschheit ein Stück!<br />
Vorbei, verweht, nie wieder.<br />
Kurt Tucholsky 1<br />
Was sind die Merkmale des Exils, die im Leben der Stadt zum<br />
Ausdruck kommen können? Eines kann gut die Erinnerung an das<br />
Trauma sein, das uns hierher gebracht hat, oder die Gefühle, die<br />
durch diese Erfahrung hervorgerufen werden, die noch immer<br />
präsent sind, und die sogar an eine zweite oder dritte Generation<br />
vermittelt werden. Unterdrückte Ängste, ein tiefes Gefühl des<br />
Verlustes, des Zorns und der Verbitterung über die Vertreibung,<br />
eine Gewohnheit der Unsicherheit, des Argwohns gegenüber<br />
jenen, die Macht oder Autorität haben; all das und noch mehr kann<br />
die private, bewußte und sogar unbewußte Landschaft der<br />
Exilierten ausmachen. Erich Fried reflektiert auf ironische Weise<br />
über die Tatsache, dass man solchen Gefühlen und Erfahrungen<br />
nicht einfach entfliehen kann, noch ist es möglich, sie einfach<br />
abzuschütteln, da sie zu einem notwendigen Teil der neuen<br />
Identität des Exilierten geworden sind.<br />
Das verlorene Paradies<br />
Als ich meine erste Heimat<br />
verloren hatte und als ich<br />
in meiner zweiten Heimat<br />
und in meiner Zuflucht<br />
und in meiner dritten Heimat<br />
und in meiner zweiten Zuflucht<br />
alles verloren hatte<br />
da machte ich mich auf den Weg<br />
1 Aus Kurt Tucholsky Wenn die Igel in der Abendstunde: Gedichte, Lieder und Chansons<br />
(Rowohlt 1988, Seite 34)<br />
7
um mir ein Land zu suchen<br />
das durch keine Erinnerung<br />
an unersetzbare Verluste<br />
vergiftet war<br />
So kam ich ins Paradies<br />
Dort fand ich Frieden<br />
Alles war ganz und war neu<br />
Nichts fehlte mir<br />
Da sagte ein Wächter<br />
Mit einem brennenden Schwert:<br />
‘Fort mit dir<br />
Hier hast du nichts verloren’<br />
Erich Fried 2<br />
Und doch können manche, die das traumatischste aller Exile<br />
erfahren haben, eine neue Art Kraft endecken. Sie wissen, dass<br />
nichts selbstverständlich ist. Wir sind nicht die Besitzer<br />
irgendeiner großen Gewißheit, egal was unser äußeres Leben oder<br />
unsere Gesellschaft verheißen mag. Stattdessen müssen wir<br />
versuchen, in der Realität, mit der wir konfrontiert sind, Sinn zu<br />
finden, und wir müssen unsere eigenen inneren Ressourcen<br />
entdecken. In ihren extremsten Formen stören Krieg oder<br />
Terrorismus unsere geordnete Existenz und schaden oder zerstören<br />
die äußeren Dinge, auf die wir uns für unser Selbstverständnis,<br />
unsere Sicherheit oder Identität verlassen. Als sie nach dem Krieg<br />
nach Hause zurückgekehrt ist, hat die italienische Romanautorin<br />
Natalia Ginsberg darüber nachgedacht, was verloren gegangen<br />
war, aber auch über das, was erlangt worden war:<br />
2 Erich Fried Die bunten Getüme (Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1977), Seite 28.<br />
8
Der Krieg is vorüber, die Menschen haben eine Menge<br />
zerbombter Gebäude gesehen. Sie empfinden in ihren<br />
eigenen Häusern nun nicht mehr jene Sicherheit und<br />
Wärme, die sie früher empfunden hatten. Es ist etwas<br />
geschehen, und sie kommen darüber nicht hinweg. Selbst<br />
im Laufe vieler Jahre werden sie nicht darüber<br />
hinwegkommen. Wir haben wieder Lampen auf unseren<br />
Tischen und Blumenvasen und die Bilder von denen, die<br />
wir lieben, aber wir glauben nicht mehr an diese Dinge,<br />
weil wir sie einst aufgeben mußten ohne gewarnt zu<br />
werden oder weil wir sinnlos in den Trümmern nach ihnen<br />
suchen mußten….<br />
Wenn du dies einmal durchgemacht hast, wird die<br />
Erfahrung des Bösen niemals in Vergessenheit geraten.<br />
Alle, die zerbombte Häuser gesehen haben, wissen es<br />
allzugut, wie zerbrechlich Blumenvasen und Gemälde und<br />
saubere weiße Wände sind… Aber wir sind nicht<br />
schutzlos gegen diese Furcht. Wir haben eine Tapferkeit<br />
und eine Widerstandsfähigkeit, die andere vor uns nicht<br />
gekannt haben… Wir sind gezwungen, weiter zu gehen<br />
und eine innere Ruhe zu finden, die sich nicht auf<br />
Teppichen und Blumenvasen gründet…<br />
Nun aber sind all die alten Sicherheiten zerschmettert<br />
worden, und der Glaube war nie nur ein Ruheplatz….<br />
Natalia Ginsberg (Turin 1946)<br />
Einer der härtesten Aspekte des Exils kann gut das Exil von der<br />
eigenen Sprache sein und der tägliche Kampf, sich in einer<br />
fremden Sprache auszudrücken. Ich erinnere mich an den Schmerz<br />
meiner Lehrer am Leo Baeck College: Flüchtlinge aus<br />
Deutschland, die stammelten, um sich in einer neuen Sprache<br />
auszudrücken, ohne Zugang zu haben zu den Feinheiten, den<br />
Nuancen und den Anspielungen ihrer Muttersprache. Es ist<br />
verständlich, dass Regierungen nun die Notwendigkeit für neue<br />
Immigranten betonen, die Sprache zu lernen als Teil des<br />
9
Assimilationsprozesses in ihrer neuen Heimat. Dies hat eine<br />
praktische Grundlage, obwohl auch der Wunsch dahintersteckt, zu<br />
versichern und beweisen, dass der Neuankömmling die notwendige<br />
Loyalität zeigt. Aber für manche kann eine solche Erwartung die<br />
Ursache weiterer Demütigung, Isolation und Entfremdung sein,<br />
wenn selbst die Legitimität der eigenen Sprache unterminiert wird,<br />
und wenn im schlimmsten Fall die Fähigkeit zu sprechen<br />
weggenommen wird. Für manche kann dies nur eine<br />
vorübergehende Unannehmlichkeit sein. Für einen Schriftsteller,<br />
eine Schriftstellerin, oder für jemand, der oder die von der<br />
Genauigkeit der Sprache abhängt, um zu lehren oder sich<br />
mitzuteilen, kann dies eine Ursache endloser Frustration und<br />
endlosen Schmerzes sein. Hilde Domin hat dies in einem Gedicht<br />
mit dem passenden Titel „Exil“ festgehalten:<br />
Exil<br />
Der sterbende Mund<br />
müht sich<br />
um das richtig gesprochene<br />
Wort<br />
einer fremden<br />
Sprache.<br />
Hilde Domin 3<br />
Selbst diejenigen, die den Übergang in die neue Heimat scheinbar<br />
mit Erfolg geschafft haben, können immer noch eine Sehnsucht<br />
nach einer teils wahren, teils illusorischen Vergangenheit in sich<br />
tragen, die sich manchmal auf unerwartete Weise einmischt. Das<br />
Gefühl von einem nie wieder gutzumachendenVerlust ist ein<br />
anderes Merkmal des Lebens im Exil. Mascha Kaleko hat dieses<br />
Gefühl aufgezeichnet:<br />
3 Hilde Domin in Lyrik des Exils. Herausgegeben von Wolfgang Emmerich und Susanne Heil<br />
(Philipp Reclam jun. Stuttgart 1985), S. 243.<br />
10
Mir ist zuweilen so, als ob<br />
Das Herz in mir zerbrach.<br />
Ich habe manchmal Heimweh.<br />
Ich weiß nur nicht, wonach …<br />
Mascha Kaleko 4<br />
Vielleicht habe ich ein zu düsteres Bild eines Exil genannten<br />
Syndroms gezeichnet und es in unfairer Weise der Stadt auferlegt.<br />
Aber Natalia Ginsberg hat auf wenigstens ein potentielles<br />
Gegenmittel hingewiesen, als sie schrieb: „der Glaube war nie nur<br />
ein Ruheplatz.“ Die Bibel kennt zwei Städte, die in Opposition<br />
zueinander zu stehen scheinen: Jerusalem und Babylon, der Ort,<br />
der Heimat ist, und der Ort, der Exil ist. Beide haben seit mehr als<br />
zweitausend Jahren zur Erfahrung des jüdischen Volkes gehört,<br />
und sie gehören zur Geschichte, die unser Selbstverständnis bildet,<br />
das sich mit der Zeit verändert und entwickelt. Es ist in der Tat die<br />
zweite oder dritte Generation an ihrem neuen Exilsort, die der<br />
Tradition selbst neue Fragen, Einsichten und Möglichkeiten bringt,<br />
die durch die Erfahrung des Großwerdens in dieser anderen Welt<br />
gefärbt sind. Ein Exil, das uns nicht zerstört, kann uns tatsächlich<br />
bereichern. Edmond Fleg beschreibt die sich ständig verändernde<br />
Beziehung zwischen diesen beiden Polen jüdischer Existenz.<br />
Es gibt in unseren Heiligen Schriften ein Land, für das<br />
„Gott sorgt“ (Deut 11,12), in dem Gott wohnt: das Land<br />
Gottes, Eretz. Überall sonst ist die Zerstreuung, Galuth,<br />
der Ort des Exils, denn alle anderen Länder können Galuth<br />
werden...<br />
Aber es ist etwas Merkwürdiges – und dies darf nie<br />
vergessen werden – dass seit ihren frühesten Anfängen<br />
und durch alle Phasen ihres Wachstums hindurch bis<br />
zur Schwelle unserer gegenwärtigen Zeit diese zwei<br />
4 Aus ‘Emigranten Monolog’ in Mascha Kaleko Verse für Zeitgenossen (Rowohlt 1985, Seite<br />
53)<br />
11
Extreme, Galuth und Eretz, sich in den uns bekannten<br />
Traditionen einander nähern, berühren und vermischen.<br />
Edmond Fleg<br />
Wo „berühren und vermischen“ sie sich also? Am Ort des Exils ist<br />
unter anderen die Glaubensgemeinschaft eine potentielle Heimat<br />
für jene, die geistliches Heimweh haben, für die das Exil ein<br />
Seelenzustand ist. Es ist sicher kein Zufall, dass das babylonische<br />
Exil der Ort war, an dem die Ursprünge der Synagoge zu finden<br />
sind. Seine drei traditionellen Namen zeigen auf die Rollen, die die<br />
Synagoge für das jüdische Volk in der Diaspora gespielt hat und<br />
weiterhin spielt: das Bedürfnis nach gegenseitiger Unterstützung<br />
und Kraft wird im Beth K’nesset, im Haus der Begegnung<br />
befriedigt; das Bedürfnis nach Vertiefung unseres Identitätsgefühls<br />
und nach Kontinuität mit der Vergangenheit, die nur<br />
aufrechterhalten werden können, indem das Neue der Weisheit des<br />
Alten und das Alte den Einsichten des Neuen ausgesetzt wird,<br />
findet im Beth ha-Midrasch, dem Haus des Lernens, Befriedigung;<br />
das Bedürfnis, in unserem individuellen und kollektiven Leben<br />
Sinn und Ziel zu finden, wird im Beth T’fillah, dem Haus des<br />
Gebetes befriedigt. In der heutigen städtischen Landschaft werden<br />
Synagogen, Kirchen, Moscheen und Tempel dazu aufgefordert,<br />
diese Rollen zu erfüllen. Und vom Standpunkt der säkularen Stadt<br />
selbst aus gesehen, sind sie in ihrer Höchstform auch wesentliche<br />
Bausteine der zivilen Gesellschaft.<br />
In der Stadt, die ein Ort des Exils ist, stellen diese Häuser Gottes<br />
etwas von dem ersehnten Heimatland dar – oder besser gesagt, sie<br />
sollten etwas davon darstellen oder zumindest etwas davon<br />
anbieten. Dies ist eine schwere Verantwortung und eine, die nicht<br />
immer erwünscht oder angenommen wird, noch wird immer<br />
danach gehandelt. Mein Kollege Lionel Blue hat darauf<br />
hingewiesen, dass die Synagoge ein Ort ist, wo die Welt und die<br />
Religion einander begegnen; es ist unsere Hoffnung, die Welt<br />
religiöser zu machen, aber das Risiko ist ebenfalls vorhanden, dass<br />
12
stattdessen unsere Religion weltlicher wird! Der jiddische Dichter<br />
Yehoash hat die Tiefen dieser Verantwortung, die auf jene fällt, die<br />
die Häuser Gottes aufrechterhalten, zum Ausdruck gebracht.<br />
Obwohl sein Gedicht an der Grenze des Übersentimentalen steht,<br />
zeigt es doch auf die Aufgabe hin, oder zumindest auf das<br />
Bestreben derjenigen, die danach suchen, in der Stadt einen Ort für<br />
den Glauben zu schaffen, die wirklich den Frieden unserer<br />
Exilsorte suchen.<br />
Das Gotteshaus verschließt den Sehnenden sich nicht,<br />
und nie wird auf des Leuchters Arm gelöscht das Licht.<br />
Bei Gottes Haus soll’n alle Wege sich verbinden.<br />
Die Tauben fliegen hierher, um ein Nest zu finden.<br />
Und wenn am Ende toller Tage, wilder Nächte<br />
du windest dich in Dunkelheit, teuflische Mächte<br />
dich irreführ’n, dein Haupt voll Asche aus der Glut,<br />
unter den Füßen Treibsand, schwer wie Blei dein Blut,<br />
wird Gottes Haus still in der stillen Lichtung liegen.<br />
Es wird nicht schelten, tadeln, spotten oder rügen.<br />
Weit offen steht die Tür, das Licht brennt drinnen hell,<br />
und keiner winkt dich her und keiner weist dich schnell<br />
zurück. Zum Segnen wartet Liebe in der Tür.<br />
Sie heilt die Wunden, lindert wehe Trübsal dir.<br />
Yehoash (Übersetzung von Gesine Popp) Das<br />
Jüdische Gebetbuch: Gebete für die Hohen Feiertage<br />
(Gütersloher Verlagshaus 1997), Seite 388.<br />
13