Und Jimmy ging zum Regenbogen
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Johannes Mario Simmel<br />
<strong>Und</strong> <strong>Jimmy</strong> <strong>ging</strong><br />
<strong>zum</strong> <strong>Regenbogen</strong><br />
Roman
Dieser Roman beruht auf wahren Begebenheiten, die sich zwischen<br />
1934 und 1965 in einer westdeutschen Großstadt zugetragen<br />
haben.<br />
Um Unschuldige zu schützen, wurde die Handlung in einen anderen<br />
Zeitraum (1938 – 1969) und in eine andere, weit entfernte<br />
Stadt (Wien) verlegt. Es versteht sich deshalb von selbst, daß<br />
die im Buch vorkommenden Präsidien, Gerichte, Ämter, Behörden,<br />
geheimen oder legalen Verbindungen und alle sonstigen<br />
geistlichen oder weltlichen Institutionen zwar ihre richtigen Bezeichnungen<br />
tragen, jedoch in keiner Weise jemals mit den tatsächlichen<br />
Geschehnissen befaßt gewesen sind. In diesem Zusammenhang<br />
stellen ihre Vertreter ausnahmslos reine Produkte<br />
der Phantasie des Verfassers dar.<br />
Gesetze, Paragraphen, Erlasse, Schriftsätze, Gutachten, Reden<br />
sowie Teile von Sendungen der British Broadcasting Corporation<br />
wurden im Wortlaut wiedergegeben.<br />
Die wahren Begebenheiten, Personen und Namen sind in solcher<br />
Weise verändert worden, daß niemand sie wiederzuerkennen<br />
vermag.<br />
Seinen aufrichtigen Dank spricht der Verfasser all denen aus, die<br />
ihm bei der Rekonstruktion jener Begebenheiten geholfen haben.
Dieses Baums Blatt, der von Osten<br />
Meinem Garten anvertraut,<br />
Gibt geheimen Sinn zu kosten,<br />
Wie’s den Wissenden erbaut.<br />
Ist es ein lebendig Wesen,<br />
Das sich in sich selbst getrennt?<br />
Sind es zwei, die sich erlesen,<br />
Daß man sie als eines kennt?<br />
Solche Frage zu erwidern,<br />
Fand ich wohl den rechten Sinn:<br />
Fühlst du nicht an meinen Liedern,<br />
Daß ich eins und doppelt bin?<br />
Goethe: Ginkgo biloba,<br />
aus dem ›Westöstlichen Diwan‹.
Vers eins<br />
Das Geheimnis<br />
Dieses Baums Blatt, der von Osten<br />
Meinem Garten anvertraut,<br />
Gibt geheimen Sinn zu kosten,<br />
Wie’s den Wissenden erbaut.
1 Sie wollten unbedingt einen Kopfschuß. Deshalb hatten<br />
sie Clairon kommen lassen. Er war Spezialist für Kopfschüsse.<br />
Ich weiß nicht, was Manuel Aranda getan hat, dachte Clairon.<br />
Das sagen sie einem ja nie. Ich weiß nur, daß sie Manuel Aranda<br />
tot haben wollen, und zwar schnell. Sobald das erledigt ist, darf<br />
ich wieder heim zu Janine. Janine war Clairons fünfjährige Tochter.<br />
Er liebte sie mehr als alles andere auf der Welt. Vor zwei Jahren<br />
war seine Frau gestorben. Er hatte auch seine Frau geliebt,<br />
aber nicht so sehr wie Janine. Bei dem kleinen Mädchen war er<br />
völlig von Sinnen. Tags zuvor hatte er in einem Spielwarengeschäft<br />
einen niedlichen scharlachroten Fuchs mit schwarz-weißer<br />
Schnauze gekauft, der eine Schnur besaß. Zog man an ihr,<br />
dann ertönte silberhell die Melodie einer kleinen eingebauten<br />
Spieluhr: ›Fuchs, du hast die Gans gestohlen!‹<br />
Clairon brachte Janine stets Stofftiere oder Puppen mit, wenn er<br />
zurückkam. Sie besaß schon eine ganze Sammlung. Er dachte an<br />
das Kind und lächelte.<br />
Sie hatten ihm Manuel Aranda gezeigt, als dieser das Hotel<br />
›Ritz‹ am Kärntner-Ring verließ und in den gemieteten blauen<br />
Mercedes stieg; als er das Gerichtsmedizinische Institut in der<br />
Sensengasse betrat; auf verschiedenen Straßen; vor dem Sicherheitsbüro<br />
der Polizeidirektion in der Berggasse. Sie hatten ihm<br />
Fotografien und mit versteckten Kameras aufgenommene farbige<br />
8-Millimeter-Filme gezeigt, denn er sollte in aller Ruhe<br />
Wuchs und Gestalt, Kopfform, Gangart, Bewegungen und Eigentümlichkeiten<br />
seines Mannes studieren. Die Bilder und die<br />
Filme waren mit dem gleichen Flugzeug eingetroffen wie Manuel<br />
Aranda. Derartiges Tempo, derartige Hektik und Nervosität<br />
hatte Clairon noch bei keiner seiner Missionen erlebt. Jede<br />
Stunde, die Manuel Aranda lebte, schien eine tödliche Gefahr<br />
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darzustellen. Muß eine schlimme Sache sein, dachte Clairon. So<br />
verrückt haben sie noch nie gespielt.<br />
Jetzt, im Januar, herrschte mörderische Hitze in Buenos Aires.<br />
Die Filme zeigten Manuel Aranda auf den Straßen seiner Heimatstadt<br />
stets mit Panama-Hüten. Auf den Straßen Wiens lief er<br />
stets mit einer Pelzmütze herum. Gewiß fror er ebenso wie Clairon.<br />
Der hatte sich auch eine Pelzmütze gekauft, gleich nach der<br />
Ankunft.<br />
Kopfschuß bei bedecktem Kopf also. Mir soll’s recht sein, dachte<br />
Clairon. Ich hatte schon andere Kunden mit Mützen. Auch solche<br />
mit Hüten oder Kappen, einen sogar mit Stahlhelm. Es<br />
klappte noch immer. Man muß ein wenig genauer arbeiten, das<br />
ist alles.<br />
Als der blaue Mercedes in die vereiste Allee einbog, benötigte<br />
Clairon knappe eineinhalb Sekunden, dann hatte er die vordere<br />
Nummerntafel des Wagens im Fadenkreuz. Das Kennzeichen<br />
stimmte. Clairon las es bedächtig. Er war ein sehr bedächtiger<br />
Mann geworden, seit sie ihn <strong>zum</strong> Tod verurteilt hatten.<br />
Bedächtig und konservativ. Sieben Jahre schon bewohnte er<br />
dasselbe Haus in Anfa, einem der eleganten Villenviertel von<br />
Casablanca, die westlich des Parc Lyautey liegen und sich bis<br />
<strong>zum</strong> Meer hinunter ausdehnen. Sieben Jahre schon besuchte er<br />
die gleichen Restaurants, Friseursalons und immer das gleiche<br />
türkische Bad in dem noch von hohen Mauern umgebenen arabischen<br />
Altstadtteil Medina; hielt er dem gleichen Schneider,<br />
dem gleichen Hemdenmacher und dem gleichen Briefmarkenhändler<br />
die Treue; dem gleichen Zahnarzt, der gleichen Kirche<br />
und der gleichen Waffe – dem deutschen Modell 98 k, System<br />
Mauser, Kaliber 7,9 Millimeter, Patronenlänge 75 Millimeter,<br />
Gewehrlänge 1110 Millimeter, Ladestreifen mit fünf Schuß,<br />
aufgesetztes Zielfernrohr. Dieses inklusive wog die Waffe nur<br />
4,2 Kilogramm, der Rückstoß war leicht, sanft konnte man fast<br />
schon sagen, das Repetieren <strong>ging</strong> blitzschnell, und Clairon hatte<br />
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seine 98 k auf eine Entfernung von 150 Metern eingestellt. Der<br />
Lauf des Gewehrs ruhte neben dem linken Fuß eines weinenden<br />
Engels.<br />
2 Zu diesem Zeitpunkt, um 14 Uhr 43 am 16. Januar 1969,<br />
einem Donnerstag, gab es in dem 1874 von der Gemeinde Wien<br />
eröffneten Zentralfriedhof auf einer Fläche von 2 459 508 Quadratmetern<br />
329 627 Grabstätten. Clairon hatte die Verwaltung<br />
angerufen und sich erkundigt; er wollte wissen, wie groß der Ort<br />
war, an dem es geschehen sollte. Eine enorme Zahl von Gräbern<br />
hatte man seit der Jahrhundertwende bereits mehrfach wieder<br />
aufgelassen und <strong>zum</strong> zweiten-, dritten- oder viertenmal neu belegt.<br />
In einer Stunde würden es 329 629 Gräber sein, denn an<br />
diesem Nachmittag fanden, wie Clairon einer Informationstafel<br />
beim Hauptportal entnehmen konnte, noch zwei Beerdigungen<br />
statt, darunter die eines hohen Offiziers des österreichischen<br />
Bundesheeres. So hartgefroren war die Erde, daß man beim<br />
Ausschachten neuer Grabstätten Preßluftbohrer einsetzte.<br />
Obwohl <strong>zum</strong> erstenmal hier, wußte Clairon praktisch alles über<br />
die phantastische Anlage. Er hatte sich mit Hilfe einer Broschüre<br />
und eines Taschenplans des Friedhofs, des geschwätzigen<br />
Verkäufers der beiden, nach Hinweisschildern und vor allem<br />
durch persönliche Inspektion informiert. Da er seinen eitlen, ins<br />
eigene Genie verliebten Auftraggebern stets mißtraute, informierte<br />
er sich vor jedem Unternehmen persönlich so genau wie<br />
möglich. Früher war Clairon Lehrer (Mathematik und Latein)<br />
gewesen. Er besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Menschen,<br />
Namen und Zahlen.<br />
Daß Manuel Aranda an diesem Nachmittag das Grab besuchen<br />
wollte, wußte Clairon schon seit gestern. Um 16 Uhr 55 war da<br />
der Lautsprecher des Kurzwellensenders munter geworden, der<br />
13
sich in einem der zahlreichen Hinterzimmer des französischen<br />
Reisebüros ›Bon Voyage‹ befand. Das französische Reisebüro<br />
befand sich am unteren Ende des Schwarzenbergplatzes.<br />
»J’appelle Olymp … j’appelle Olymp … Ici le numéro onze …«<br />
»Je vous entends, numéro onze. Parlez!«<br />
Also hatte Nummer Elf zu sprechen begonnen, der Funkverkehr<br />
lief ausgezeichnet: »Aranda ist in das Hotel zurückgekommen.<br />
Er hat Nummer Null gesagt, daß er morgen <strong>zum</strong> Zentralfriedhof<br />
fahren will, und gebeten, ihm den Weg zu erklären.«<br />
Sie hatten sich schnuckelig eingerichtet da in Wien. Sie besaßen<br />
ein gutes Hauptquartier hinter dem Reisebüro, eine erstaunliche<br />
Anzahl von Agenten und fünf Autos, in die gleichfalls Sender<br />
eingebaut worden waren. Alle Sender hatten Zerhacker und<br />
Entzerrer, für jeden Dritten war der Sprechverkehr nur unverständliches<br />
Gestammel. Der Wagen, den sie Clairon geben wollten,<br />
besaß ebenfalls eine solche Anlage.<br />
»<strong>Und</strong> der Schlüsselbund?« hatte jener, der gerade den Sender<br />
der Zentrale bediente, aufgeregt gefragt. Es waren fünf Männer<br />
in dem fensterlosen Raum versammelt gewesen, auch der Chef,<br />
Jean Mercier, der das Reisebüro leitete, und er, Clairon. Mit Ausnahme<br />
von Clairon, der nicht wußte, um welchen Schlüsselbund<br />
es <strong>ging</strong>, hatten alle rechte Nervosität erkennen lassen.<br />
»Der ist im Karton.«<br />
»Idiot! Wo ist der Karton?«<br />
»Na, im Leichenschauhaus natürlich … in diesem Institut meine<br />
ich.«<br />
»Seid ihr ganz sicher?«<br />
Der Chef persönlich sprach jetzt ins Mikrophon. Jean Mercier<br />
war ein großer Mann mit blassem Gesicht, umschatteten Augen,<br />
langen Wimpern und graumeliertem Haar. Er führte die Wiener<br />
Zentrale seit fünf Jahren. Sein Hobby waren schöne Frauen, und<br />
was Clairon so gehört hatte in der kurzen Zeit, bekam der Fünfundfünfzigjährige<br />
immer noch jede, die er wollte.<br />
14
»Vollkommen sicher. Aranda hat sich bei Nummer Null eben<br />
noch darüber beschwert, daß sie den Karton nicht freigegeben<br />
haben. Er bekommt ihn nur zusammen mit dem Leichnam, und<br />
den Leichnam bekommt er erst morgen um zehn.« Die Männerstimme<br />
klang deutlich und klar aus dem Lautsprecher, in dem es<br />
leise knisterte. Komplizierter geht es nicht, dachte Clairon. Nummer<br />
Null, vermutlich ein Portier, kann nicht von seinem Arbeitsplatz<br />
fort. Also muß er alles, was er über Aranda erfährt, einem<br />
anderen Mann im Hotel sagen, der sich frei zu bewegen vermag.<br />
Wer ist das? Clairon wußte es nicht. Sie machten ein Mysterium<br />
aus allem. Dieser zweite Mann jedenfalls durfte nicht wagen, das<br />
Reisebüro einfach anzurufen. Er mußte in eine öffentliche Telefonzelle<br />
gehen und von dort einen dritten Mann verständigen.<br />
Der besaß einen Sender in seiner Wohnung und trat dann mit<br />
der Zentrale in Verbindung, die anders zu informieren strengstens<br />
verboten war.<br />
»Aranda kann nicht Verdacht geschöpft und Nummer Null belogen<br />
haben?«<br />
»Chef! Aranda wurde den ganzen Tag verfolgt. Jede Minute! Er<br />
kam ohne Karton aus dem Institut!«<br />
»<strong>Und</strong> daß er den Schlüsselbund allein mitnahm und in der Tasche<br />
hat?«<br />
»Unmöglich!«<br />
»Sie wissen, was davon abhängt! Wenn er jetzt mit dem Schlüssel<br />
auftaucht, ist alles verloren.«<br />
»Beruhigen Sie sich endlich, Chef. Bitte! Wir haben uns doch erkundigt!<br />
Die arbeiten nach Vorschrift dort. Nicht ein Stück, nicht<br />
einen Schnürsenkel hat Aranda mitnehmen dürfen. Schließlich<br />
basiert der ganze Plan auf dieser Vorschrift, oder?«<br />
»Ja, das stimmt.« Mercier hatte seine Krawatte herabgezerrt.<br />
»Also! Aranda erhält den Schlüsselbund morgen vormittag, aber<br />
danach muß er gleich zur Luftfracht-Expedition, damit die Leiche<br />
endlich verschwindet. Das dauert bestimmt bis Mittag, hat<br />
15
er gesagt. Er will ins Hotel zurückkommen, essen und <strong>zum</strong> Grab<br />
fahren.«<br />
»<strong>Und</strong> wenn er nicht fährt? Dann hat er den Schlüssel! Wenn er<br />
dann sagt, los, aufmachen?«<br />
»Nummer Null behauptet, Aranda will wirklich <strong>zum</strong> Friedhof. An<br />
den Schlüsselbund denkt er überhaupt nicht. Den hat er kaum<br />
zur Kenntnis genommen. Er weiß doch gar nichts! Nummer Null<br />
ist davon überzeugt, daß Aranda den Karton in sein Appartement<br />
bringen läßt und gar nicht anschaut. Jedenfalls nicht, bevor<br />
er <strong>zum</strong> Friedhof fährt. Das ist doch das Risiko, mit dem Sie<br />
von Anfang an gerechnet haben – die kurze Zeit zwischen dem<br />
Punkt, wo Aranda den Schlüsselbund erhält, und dem, wo er liquidiert<br />
wird.« Ich möchte wissen, was für Schlüssel das sind, die<br />
dieser Aranda hat oder nicht hat, war es Clairon durch den Kopf<br />
gegangen. Ach was, ich will es gar nicht wissen! Er war Merciers<br />
Blick begegnet. Der hatte gesagt: »Also muß es der Zentralfriedhof<br />
sein, klar?«<br />
»Klar.«<br />
»Von ihm darf Ihr Mann nicht zurückkehren.«<br />
Clairon hatte nur genickt, Mercier hatte weiter in das Mikrophon<br />
gesprochen.<br />
»Wo ist Aranda jetzt?«<br />
»In seinem Appartement. Zum Friedhof kann er heute nicht<br />
mehr. Die lassen ab halb fünf niemanden hinein. Um fünf machen<br />
sie zu. Außerdem will er noch zu seiner Botschaft. Er<br />
braucht auch von dort Papiere für den Sarg.«<br />
»Hallo, Nummer Drei … Nummer Drei, melden!«<br />
»Hier ist Nummer Drei, Olymp.« Eine andere Männerstimme<br />
kam aus dem Lautsprecher.<br />
»Habt ihr zugehört?«<br />
»Ja, Chef.«<br />
»Ihr könnt den Eingang des Hotels gut sehen?«<br />
»Ja.«<br />
16
»Kaffeehauseingang auch?«<br />
»Auch, Chef.«<br />
Das Hotel besaß ein großes Café.<br />
»Wenn Aranda zur Botschaft fährt, folgt ihr ihm. Danach wohin<br />
immer. <strong>Und</strong> meldet es sofort. Die Arbeit geht weiter rund um<br />
die Uhr. In zwei Stunden löst euch Nummer Neun ab …«<br />
Clairon hatte das Reisebüro verlassen und einen Taschenplan<br />
und eine Broschüre über den Zentralfriedhof gekauft. Er bewohnte<br />
während seines Wiener Aufenthalts jenes Hinterzimmer<br />
des ›Bon Voyage‹, in dem sie die Filme vorführten. Der<br />
Raum hatte auch kein Fenster, bloß eine Luke, und anstatt eines<br />
richtigen Bettes nur eine aufklappbare Armeepritsche. Clairon<br />
machte das nichts. Er war abgehärtet. Auf der Pritsche hatte<br />
er abends den Friedhofsplan und die Broschüre studiert und danach<br />
lange gebetet, wobei er Gott beteuerte, wie sehr er den<br />
Mord bereue, den er begehen werde, und innig um ein erfolgreiches<br />
Gelingen des Unternehmens bat. Das tat er immer. Er<br />
war ein Mörder mitten im Herzen des Christentums. Niemand,<br />
so hatte er bei Péguy gelesen, wisse um Dinge des Christentums<br />
besser Bescheid als ein Sünder.<br />
Am nächsten Mittag, um zwölf Uhr bereits, war Clairon losgefahren.<br />
Er hatte sich über Funk gemeldet.<br />
»Hallo, Olymp, ich bin jetzt am Rennweg, unterwegs <strong>zum</strong> Friedhof.«<br />
»Sie haben massig Zeit, Nummer Eins. Aranda kam eben ins<br />
Hotel. Er hat noch nicht einmal gegessen.«<br />
»Muß mir die Gegend da draußen ansehen«, antwortete Clairon.<br />
Er sah sich die Gegend an, gründlich. Zuerst umkreiste er den<br />
riesigen Komplex des Zentralfriedhofs im Süden von Wien. Von<br />
der Simmeringer Hauptstraße bog er in den Weichseltalweg ein<br />
und fuhr diesen bis zur Station der Aspang-Bahn empor. Hier<br />
wandte er sich nach links, folgte den Gleisen der Ostbahn, die<br />
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in einem mächtigen Bogen an der Rückseite des Friedhofs entlangführen,<br />
und kehrte zur Simmeringer Hauptstraße zurück.<br />
Insgesamt, stellte Clairon fest, besitzt der Zentralfriedhof elf<br />
Tore. Acht von ihnen kommen allerdings nur kleineren, bewachten<br />
Eingängen rund um das Areal gleich. Die drei großen<br />
Portale befinden sich an der Vorderfront. Durch das mittlere,<br />
größte, gelangt man ins Zentrum der Katholischen Abteilung,<br />
die nahe dem Eingang zwei Aussegnungshallen und weiter entfernt<br />
eine dritte besitzt. Eine breite Auffahrt führt zur Dr. Karl<br />
Lueger- Kirche. Von ihr laufen nach einem geometrisch exakten<br />
Plan sternförmig die Hauptalleen mit alten Bäumen auseinander.<br />
Clairon bekreuzigte sich, während er an dem geöffneten<br />
Riesentor des Gotteshauses vorüberfuhr, dann meldete er sich<br />
wieder und gab seinen Standort bekannt.<br />
Die Hauptalleen besitzen in großen Abständen Rondells, aus<br />
denen Chauseen in alle Richtungen streben. Am Rand der Rondells<br />
und vieler Chausseen stehen weiße kleine Gebäude. Clairon<br />
besichtigte zwei von ihnen. Es gibt eine Unmenge Bedürfnisanstalten<br />
auf dem Zentralfriedhof. Die Sternbahnen der<br />
Alleen und Chausseen werden geschnitten von einem komplizierten<br />
Netz quadratisch angelegter Straßen. Große Quadrate<br />
sind in kleinere unterteilt, in die ›Gruppen‹, durch welche, wieder<br />
in rechten Winkeln zueinander, unzählige Wege laufen. Die<br />
Gruppen hatte man stets mit einem Buchstaben und einer Zahl<br />
gekennzeichnet, die Unterteilungen desgleichen.<br />
Ein Glück, daß ich mit Ketten fahre, dachte Clairon. Nach den<br />
katastrophalen Schneefällen der letzten Tage war es offenbar<br />
nur unter größten Anstrengungen gelungen, wenigstens die viele<br />
Kilometer langen Hauptalleen und -chausseen zu räumen. Die<br />
Nebenstraßen und alle Wege, die in den Gruppen von Abschnitt<br />
zu Abschnitt führten, versanken in halbmeterhohem Schnee.<br />
Räumpflüge hatten kleine Gebirge der weißen Bedrohung gegen<br />
die Ränder der Alleen geschoben, die kaum begehbar und<br />
18
schwierig befahrbar waren, denn die Streukolonnen kamen in<br />
ihrer Arbeit nicht nach.<br />
»Olymp ruft Nummer Eins … Olymp ruft Nummer Eins …«<br />
»Hier ist Nummer Eins, Olymp. Kommen Sie!«<br />
»Aranda hat das Restaurant verlassen und ist in das Kaffeehaus<br />
hinübergegangen. Er trinkt seinen Kaffee dort. Jetzt Zeitvergleich,<br />
bitte, Nummer Eins!«<br />
Clairon sah auf seine Armbanduhr.<br />
» 13 Uhr 34.«<br />
» 13 Uhr 34, richtig.«<br />
Was für ein elendes Getue, jedesmal von neuem, dachte Clairon.<br />
Gott, habe ich das alles satt! Aber was soll ich machen? 1961 war<br />
ich bei der OAS, dieser ›Terrororganisation‹, wie man sie nannte.<br />
Nun gut, sehr fein <strong>ging</strong> es nicht zu bei uns. Was ich heute kann,<br />
habe ich damals gelernt. Schließlich war es auch nicht sehr fein,<br />
wie de Gaulle mit den französischen Siedlern in Algerien umsprang.<br />
Sie erwischten mich, als wir ein Kino in die Luft sprengten<br />
(ich liebe Kinder, ich hatte keine Ahnung, daß da gerade<br />
eine Kindervorstellung lief), und sie verurteilten mich <strong>zum</strong> Tode<br />
und führten mich <strong>zum</strong> Erschießen. Dann, als ich mit verbundenen<br />
Augen an der Wand stand, kam so ein Drecksack und sagte,<br />
sie würden mich nicht erschießen, wenn ich von nun an für sie<br />
arbeitete. Ich bin kein Held, dazu bin ich nicht blöde genug. Also<br />
sagte ich ›einverstanden‹, und seither arbeite ich für sie. Diesmal<br />
in Wien.<br />
Die Saubande, dachte Clairon bitter. Wann werde ich sie jemals<br />
los? Nie! Nun ist auch meine Frau gestorben. Wenn ich nicht Janine<br />
hätte … Der Gedanke an seine kleine Tochter richtete Clairon<br />
wieder auf. So schlecht <strong>ging</strong> es ihm eigentlich gar nicht. Das<br />
Kind, das Haus, ein gutes Einkommen. Sie hatten ihn pro forma<br />
als Leiter einer französischen Importfirma in Casablanca etabliert.<br />
Seit Clairon auf dem Friedhof umherfuhr, waren ihm kaum<br />
19
zwei Dutzend Menschen und nur vier Autos begegnet. Gott sei<br />
Dank.<br />
Unter der weißen Last aus dem Himmel waren schwere Äste,<br />
ja ganze Bäume gebrochen. In ungeheuren Mengen lagerte der<br />
Schnee auf Hecken, Büschen, Fliedersträuchern und dem Astwerk<br />
von Buchen, Ulmen, Trauerweiden, Platanen, Ahorn- und<br />
Kastanienbäumen, hohen Fichten und Zypressen, auf allen Gräbern,<br />
allen Grabsteinen, Schmiedeeisengittern und Miniaturkapellen.<br />
Büsten, allegorische Gestalten und Steinfiguren waren<br />
zu grotesken Gebilden geworden. Eine lebensgroße Trauernde<br />
aus Sandstein, die an einem Grabrand lehnte, sah aus wie im<br />
neunten Monat, ein lockiger Knabenkopf feixte besoffen. Der<br />
Schnee war der Herr des Friedhofs, und seine Höflinge waren<br />
die Krähen. Unzählig, zu Tausenden, hockten sie dicht nebeneinander<br />
in den Kronen der Bäume, groß, plump und scheußlich.<br />
Ihr heiseres lautes Geschrei erfüllte die Luft.<br />
Ein Alptraum, ein Nachtmahr in Weiß, unheimlich und unwirklich,<br />
beklemmend und öde, ein schreckenerregendes Reich des<br />
Todes war der Wiener Zentralfriedhof an diesem 16. Januar. Entfernte<br />
Bäume, Wege oder Gräber sah Clairon plötzlich nicht<br />
mehr – feiner Eisnebel, der in der Luft hing, ließ sie verschwinden<br />
wie ein gespenstischer Zauberer. Dunkel und tief lagerte<br />
eine geschlossene, schneegeladene Wolkendecke über der trostlosen<br />
Erde. Das Licht war fahl. Clairon trat leicht auf das Gaspedal.<br />
Die Katholische Abteilung, die den meisten Raum einnimmt,<br />
wird links und rechts flankiert von der Neuen und der<br />
Alten Israelitischen Abteilung, deren Synagoge, im Krieg durch<br />
Bomben fast gänzlich zerstört, wiederaufgebaut worden war, wie<br />
er aus der Broschüre wußte. Östlich des katholischen Teils, zwischen<br />
ihn und den neuen israelitischen gebettet, erstreckt sich,<br />
vergleichsweise klein, die Evangelische Abteilung.<br />
Die helfen mir nicht, dachte Clairon. Da sind überall hohe Mauern.<br />
Wenn es darauf ankommt, muß ich sehen, wie ich im katho-<br />
20
lischen Teil zu einem der Ausgänge gelange. Zu einem der kleinen<br />
Tore der Rückseite am besten. Was für ein Monstrum von<br />
einem Friedhof!<br />
»Olymp ruft Nummer Eins … Olymp ruft Nummer Eins …«<br />
Clairon meldete sich.<br />
»Es ist jetzt fünf vor zwei. Arandas Wagen haben sie aus der Garage<br />
gebracht. Er kommt eben aus dem Hotel.«<br />
»Gut«, sagte Clairon.<br />
Er fuhr durch den Friedhof, auf dem er sich nun gut auskannte,<br />
bis vor eine alte große Platane jenes Rondells, das inmitten der<br />
Gruppen 56, 57, 58, 59, 71 und 72 liegt. Kein Mensch war hier,<br />
weit draußen in der Nähe der Friedhofsrückseite, zu sehen. Clairon<br />
rief die Zentrale und teilte mit: »Ich bin jetzt da und gehe<br />
auf Posten.«<br />
»Gut, Nummer Eins. Nummer Zwei folgt Aranda. Wenn er wider<br />
Erwarten doch nicht <strong>zum</strong> Friedhof fährt, ruft Nummer<br />
Zwei Nummer Zwölf, und Nummer Zwölf fährt dann die Allee<br />
herunter, damit Sie informiert sind. Aber Aranda kommt bestimmt.«<br />
»Hoffentlich«, sagte Clairon. Er schaltete den Sender ab, ebenso<br />
den Motor. Dann stieg er aus. Achtundvierzig Jahre alt war Clairon,<br />
aber er wirkte älter. Er hatte eine römische Nase in dem mageren<br />
Gesicht und schmale Lippen. Er trug einen wasserdichten<br />
Mantel aus erbsenfarbenem Popeline, der mit dickem Lammfell<br />
gefüttert war, die neue schwarze Pelzmütze, ein Wollhalstuch,<br />
Skihosen und Pelzstiefel. Die 98 k hielt er unter dem Mantel<br />
versteckt, während er nun vorsichtig die freigeräumte Allee<br />
zur Gruppe 73 hinab<strong>ging</strong> – ein langes Stück Weg auf spiegelndem<br />
Eis. Erst als er sich anschickte, in die verschneite Gruppe 73<br />
einzudringen, holte er zwei Filzlappen aus den Manteltaschen<br />
und band sie um die Stiefelsohlen. Danach sprang er über einen<br />
Schneewall am Rand der Straße. Aufmerksam betrachtete er die<br />
Gruppe 74, die durch eine andere freigeräumte Allee von sei-<br />
21
nem Abschnitt getrennt lag. Er entdeckte sofort, was er suchte.<br />
Sie hatten ihm genügend Fotografien jenes Grabes gezeigt.<br />
Jenes Grab im Abschnitt F 74 stets im Auge behaltend, wählte<br />
Clairon nun das geeignetste seiner Gruppe aus – eine leichte<br />
Arbeit. Nach einigem Herumwaten war die ideale Position gefunden:<br />
Das Grab lag in der Abteilung L 73 und gehörte einer<br />
Familie Reitzenstein. Vier Tote ruhten bereits hier unter einem<br />
grauen Marmorquader, der fast so hoch wie Clairon war, zwei<br />
Männer und zwei Frauen. Clairon las die in den Stein gemeißelten,<br />
schwer vergoldeten und teilweise von Schnee verwehten<br />
Namen.<br />
Über dem mächtigen Quader lagerte, gleichfalls aus grauem<br />
Marmor, ein etwa dreißig Zentimeter hoher Sockel, und auf diesem<br />
kniete, mit breit ausladenden Flügeln, ein grauer Marmorengel,<br />
welcher weinte. Dieser Engel war so groß wie ein normaler<br />
Erwachsener und trug ein wallendes Gewand und langes<br />
Haar, das ihm über den Rücken fiel. Die Hände hielt er vor das<br />
Gesicht geschlagen. Der Griff einer gesenkten Marmorfackel<br />
war an seiner rechten Hüfte befestigt, ihre Krone auf dem Sokkel.<br />
Eine große Steinflamme loderte aus ihr empor. Die Fackelkrone<br />
befand sich an einem Ende des schweren Aufsatzes,<br />
der linke Fuß des Engels am andern. Auf der Vorderseite des<br />
Sockels waren in Großbuchstaben, gleichfalls schwer vergoldet,<br />
diese Worte zu lesen:<br />
EST QUAEDAM FLERE VOLUPTAS<br />
Clairon, vor dem monströsen Grab stehend, übersetzte die Inschrift<br />
gewohnheitsmäßig sogleich im richtigen Rhythmus: Irgendwie<br />
tut es wohl, sattsam sich auszuweinen.<br />
Kurze Ergriffenheit erfaßte ihn, während er den Text für sich<br />
wiederholte und dabei die Drähte an die Lederhandschuhe anschloß.<br />
Es waren Spezialhandschuhe, die sich beheizen ließen.<br />
22
Die Drähte liefen unter Clairons Jackenärmeln bis zu zwei Batterien<br />
in den inneren Brusttaschen. Seine Finger mußten warm<br />
bleiben.<br />
Der Engel trug eine Schneehaube von mindestens vierzig Zentimetern.<br />
Ebenso heftig verschneit waren seine Flügel, der Sokkel,<br />
der Quader, das Grab. Clairon machte es sich hinter ihm bequem.<br />
Es war wirklich ein großartiger Platz. Von den Alleen her<br />
konnte niemand ihn sehen.<br />
Unter dem Knie des abgewinkelten linken Beines ließ das geschürzte<br />
Gewand des Engels eine dreieckige Öffnung entstehen.<br />
Den Durchblick mußte Clairon erst säubern, denn natürlich war<br />
er zugeschneit. Desgleichen reinigte er ein etwa fünfzehn Zentimeter<br />
breites Stück Sockel zwischen der linken großen Zehe des<br />
Engels und jener Stelle, an der dessen rechtes Knie die andere<br />
Seite der Dreieck-Basis abschloß. Nun besaß Clairon eine Schießscharte<br />
für seine 98 k. Er schob den Lauf so ein, daß er als Fixierungspunkt<br />
die große Marmorzehe berührte. Die Mündung befand<br />
sich genau über dem goldenen u in dem Wort VOLUPTAS.<br />
3 14 Uhr 43.<br />
Ganz langsam bewegte sich der Lauf der 98 k, denn Clairon behielt<br />
den näherkommenden blauen Mercedes beharrlich im Fadenkreuz.<br />
Es war weit vom Hotel ›Ritz‹ am Ring bis hier heraus,<br />
er hatte lange auf Aranda warten müssen. Aber nun kam er wenigstens<br />
wirklich. Clairons Hände waren warm, doch sein Körper<br />
begann zu erstarren.<br />
Zart hob er die Waffe an. Durch das Zielfernrohr glitt sein Blick<br />
von der Nummerntafel des Wagens über den Kühler und die<br />
Kühlerhaube bis zur Windschutzscheibe. Ihr Glas spiegelte so<br />
stark, daß Clairon überhaupt nichts erkennen konnte.<br />
Der Mercedes fuhr im Schritt, der Glätte wegen zweifellos, und<br />
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dann suchte Aranda gewiß den richtigen Weg, der von der Allee<br />
fort in die Gruppe 74 hinein und zu jenem Grab führte. Die<br />
kleinen Schilder hier waren alle im Schnee versunken. Aranda<br />
würde es schwer haben, und das war gut so. Der Lauf der 98 k<br />
wanderte weiter, Millimeter um Millimeter. Mit der Engelzehe<br />
als Drehpunkt ließ er sich leicht führen.<br />
In der Ferne erklang wieder dumpfes Brausen.<br />
Clairon hatte das, was nun kam, schon viele Male erlebt, seit er<br />
sich hier aufhielt. Kurz blickte er auf die Armbanduhr.<br />
14 Uhr 45.<br />
Diesmal ist es PAN AMERICAN 751 nach Rom, Beirut, Karatschi,<br />
Kalkutta und Hongkong, dachte er automatisch. Rollt eben<br />
an. Südöstlich, nicht allzuweit entfernt, liegt der internationale<br />
Großflughafen Schwechat. Alle startenden Maschinen überqueren<br />
den Friedhof. Ihr Lärm macht jedes andere Geräusch unhörbar,<br />
also auch das eines Schusses. Die Krähen verstummen,<br />
wenn die Flugzeuge über sie hinwegrasen. Daß die Ausflugsschneise<br />
derart günstig lag, hatte sogar den hochgradig nervösen<br />
und ernsten Chef fröhlicher gestimmt. Im Reisebüro gab es<br />
Flugpläne. Clairons bemerkenswertes Gehirn speicherte seit gestern<br />
abend Zeiten und Flugziele, Typen und Gesellschaften aller<br />
Maschinen, die zwischen 12 und 17 Uhr an diesem Tag starteten<br />
und landeten. Das da <strong>zum</strong> Beispiel war eine Boeing 707. In<br />
einer Minute wird sie hier sein, dachte Clairon. Vielleicht ist Manuel<br />
Aranda dann schon aus seinem Wagen gestiegen. Enormes<br />
Glück natürlich, wenn es gleich beim ersten Versuch klappt. Näher<br />
kam der Mercedes, immer näher. Lauter schwoll das Toben<br />
der Düsen an, immer lauter. Ihr Dröhnen nahm beständig zu, es<br />
wurde ungeheuer stark, denn die niedere Wolkendecke wirkte<br />
wie eine Echokammer. Nun begann die Luft zu vibrieren, Clairon<br />
konnte es fühlen. Er preßte sich gegen die Rückseite des<br />
großen Grabsteins. Der vibrierte nicht.<br />
Von den Zweigen der Bäume, von den Grabhügeln stäubten<br />
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Schneewolken auf, von den Ästen fielen ganze Brocken. Nun<br />
kam die Boeing, nun würde sie sofort über dem Friedhof sein.<br />
Man konnte sie nicht sehen, die Wolken hingen zu tief. Der Mercedes<br />
blieb stehen. Gott sei gepriesen, dachte Clairon.<br />
Die unsichtbare Boeing röhrte, heulte und kreischte. Sie jaulte<br />
und donnerte und schien jeden Moment explodieren zu wollen.<br />
So wurde der Frieden dieser riesigen Stätte des Todes immer<br />
wieder zerstört, von halb sechs Uhr früh bis lange nach Mitternacht.<br />
Dem weinenden Engel fiel ein Klumpen Schnee vom Haupt.<br />
Clairons Augen verengten sich zu Schlitzen. Eine unmenschliche<br />
Ruhe, die er in solchen Momenten stets erlebte, überkam ihn.<br />
Da drüben, etwa 110 Meter entfernt, stand der Mercedes. Clairon<br />
hob den Lauf um eine Winzigkeit seitlich rechts empor und<br />
berücksichtigte dabei die geringere Entfernung. Jetzt sah er das<br />
Fenster des linken vorderen Wagenschlags im Zielfernrohr.<br />
Steig aus, dachte Clairon. Steig nun schön aus, mein Freund.<br />
Nicht zu langsam, nicht zu schnell. <strong>Und</strong> bleib stehen, ein Augenblick<br />
genügt. Ich habe wahrhaft Glück, dachte Clairon, in zitternder<br />
Luft, im Höllenlärm der Düsen. Dieser Manuel Aranda,<br />
den ich nicht kenne, von dem ich nichts weiß, dieser Mann, den<br />
ich töten muß, wird es gleich hinter sich haben. <strong>Und</strong> ich auch.<br />
Komm heraus, Mann, dachte Clairon, komm nun heraus.<br />
Der Wagenschlag öffnete sich. Eine Gestalt wurde sichtbar. Es<br />
war kein Mann. Es war eine Frau.<br />
4 »Wie heißt die Tote?«<br />
»Steinfeld.«<br />
»Valerie Steinfeld?«<br />
»Sie kennen den Namen?«<br />
»Na, hören Sie! Hat doch oft genug in den Zeitungen gestan-<br />
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den. Ich hab alles gelesen. Im ›Kurier‹ und im ›Express‹ und in<br />
der ›Kronenzeitung‹. Eine unheimliche Geschichte ist das. Kein<br />
Mensch weiß …«<br />
»Wo liegt das Grab?« fragte Manuel Aranda ungeduldig. Er war<br />
groß und schlank und sah auf den Pförtner herab. Der Pförtner<br />
war klein und alt. Er trug eine dunkle Uniform, eine Tellerkappe<br />
und einen nikotinverfärbten Walroßschnurrbart. Er tat<br />
beim Haupteingang Dienst.<br />
In der Mauer neben der rechten Portalseite befand sich eine<br />
Loge, die Tür stand offen. Aranda sah einen Tisch, zwei Stühle,<br />
ein Telefon, ein Wandbord mit vielen Schlüsseln und Steckuhren<br />
für die Nachtwachleute. Auf dem Zementboden schmolz Schnee<br />
zu Dreck. Von der Decke hing eine kahle elektrische Birne herab<br />
und erhellte die Loge, deren Wände schwarz und grünlich verfärbt<br />
waren. Auf dem Tisch erblickte Aranda eine halbgeleerte<br />
Flasche Bier, daneben lagen Brot und Wurst. Teilchen von beiden<br />
fanden sich in des Pförtners gelblichem Schnurrbart.<br />
»Sind Sie von der Polizei?« Der kleine Mann blinzelte Aranda<br />
an. Sein spitzes Gesicht war sehr weiß, die Ohren und die Nase<br />
waren gerötet, auch die Augen. Er sprach ein wenig schwerfällig.<br />
Aranda überlegte, ob sich wohl Bier in der Bierflasche befand.<br />
»Nein«, sagte er. »Ich bin nicht von der Polizei.«<br />
»Aber ein Ausländer sind Sie! So eine braune Haut! <strong>Und</strong> dann<br />
der Akzent. Obwohl der Herr sehr gut deutsch sprechen.« Der<br />
Pförtner legte den Kopf schief. »Vielleicht ein Verwandter von<br />
der Frau Steinfeld?«<br />
»Auch kein Verwandter!« sagte Aranda sehr laut, während er die<br />
Fäuste in den Taschen seines Kamelhaarmantels ballte.<br />
»Pardon«, brummte der Pförtner gekränkt. »Man interessiert<br />
sich halt. Gerade bei so einem Fall …«<br />
»Das Grab! Wo liegt das Grab?«<br />
»Ja, also auswendig weiß ich das leider nicht. Bestattet worden<br />
ist sie vorgestern, gelt?«<br />
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