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Neurobiologische Grundlagen der Ergotherapie

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Fortbildung | „Artikel des MonAts“<br />

<strong>Neurobiologische</strong> <strong>Grundlagen</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Ergotherapie</strong><br />

dieter karch | Kin<strong>der</strong>zentrum Maulbronn, Klinik für Kin<strong>der</strong>neurologie und Sozialpädiatrie<br />

Ziel und Zweck <strong>der</strong> ergotherapie<br />

<strong>Ergotherapie</strong> ist ein tätigkeitsorientiertes<br />

Verfahren, das bei motorischen Störungen<br />

eingesetzt wird, um Mobilität, Kraft,<br />

Geschwindigkeit, Exaktheit <strong>der</strong> Ziel- und<br />

Feinmotorik zu verbessern. Die Tätigkeiten<br />

sind oft in Spielsituationen eingebunden,<br />

wodurch auch das soziale Verhalten und die<br />

emotionale Befindlichkeit beeinflusst werden.<br />

<strong>Ergotherapie</strong> wird neben psychotherapeutischen<br />

Maßnahmen auch bei primären<br />

Verhaltensstörungen und psychischen<br />

Störungen angewandt. Die Effekte ergotherapeutischer<br />

Behandlungen werden im<br />

Rahmen eines Lernprozesses erreicht. Die<br />

Kenntnisse über die biologischen <strong>Grundlagen</strong><br />

von Lernprozessen führen somit auch<br />

zum Verständnis <strong>der</strong> Wirkweise von <strong>Ergotherapie</strong>.<br />

Wesentliche Faktoren sind: Anregung<br />

zur eigenständigen Aktivität in einer<br />

verständnisvollen Therapiesituation; dem<br />

Entwicklungsstand bzw. <strong>der</strong> aktuellen Symptomatik<br />

angepasste Lernschritte, so dass<br />

erreichte Effekte die eigene Motivation unterstützen;<br />

Konsolidierung des Gelernten<br />

durch Wie<strong>der</strong>holen und implizite Speicherung<br />

im Langzeitgedächtnis.<br />

neuroanatomische und<br />

neurophysiologische grundlagen<br />

Tätigkeitsbezogene Interventionen wirken<br />

sich auf die biomechanischen und neurophysiologischen<br />

Komponenten des Muskel-<br />

Skelett-Systems aus, stimulieren die Wahrnehmung<br />

und ihre Verarbeitung und sind<br />

meist mit kognitiven Funktionen verknüpft<br />

[6]. Entwicklungs- und Lernprozesse erfolgen<br />

in einem funktionellen Zusammenhang<br />

mit alltäglichen Anfor<strong>der</strong>ungen. Die<br />

<strong>Grundlagen</strong> des motorischen Lernens und<br />

74<br />

ihre Einbindung in die Behandlung von<br />

Kin<strong>der</strong>n mit sensomotorischen Störungen<br />

(z. B. nach dem NTT-Konzept) bzw. zerebralen<br />

Bewegungsstörungen wurden bereits<br />

an an<strong>der</strong>er Stelle beschrieben (Kipra Heft<br />

1/2012, S. 10, S. 14). Welche Faktoren in welchem<br />

Ausmaß und auf welche Weise das<br />

Steuerungs- und Regelsystem <strong>der</strong> Motorik<br />

beeinflussen, ist noch immer nicht vollständig<br />

geklärt. Es ist bisher nicht gelungen, alle<br />

relevanten Elemente in ein allgemein akzeptiertes<br />

theoretisches System einzubringen.<br />

Es wurden unterschiedliche Modellvorstellungen<br />

entwickelt [16]. Willkürliche<br />

und gezielte Bewegungen werden generiert<br />

und ausgeführt unter Einschluss sowohl des<br />

assoziativen Kortex als auch des limbischen<br />

Systems, wobei Efferenzen und Afferenzen<br />

in einem komplizierten Wechselspiel eingebunden<br />

sind.<br />

Bestimmte Funktionen können bestimmten<br />

Arealen des Kortex und den zugehörigen<br />

Bahnsystemen zugeordnet werden:<br />

dem kortikospinalen System differenzierte<br />

Willkürbewegungen, dem Kleinhirn<br />

die Modulation des Muskeltonus und das<br />

Programmieren <strong>der</strong> zeitlichen Folge <strong>der</strong><br />

Bewegungsabläufe sowie <strong>der</strong> Vergleich von<br />

intendierter mit ausgeführter Bewegung,<br />

den Basalganglien Planen und Steuern von<br />

komplexen Handlungen. Diese Regelkreise<br />

sind auch in kognitive (und psychische)<br />

Prozesse involviert und umgekehrt. Die<br />

Aufgabenverteilung und die Zusammenarbeit<br />

dieser Systeme werden in Lehrbüchern<br />

<strong>der</strong> Physiologie detailliert beschrieben.<br />

kortiko-subkortikale regelkreise<br />

Parallel zu den o. g. Arealen und Regelkreisen<br />

zur sensomotorischen Kontrolle<br />

existieren neuroanatomisch und neurophysiologisch<br />

abgrenzbare subkortikale<br />

Regelkreise unter Beteiligung <strong>der</strong> Basalganglien.<br />

Sie sind für Verknüpfungen von<br />

Handlungen mit Emotionen, Verhalten<br />

und Kognition verantwortlich [12]. Hierauf<br />

gründet sich die Möglichkeit, durch<br />

tätigkeitsbezogene Interventionen bei <strong>der</strong><br />

<strong>Ergotherapie</strong> nicht nur die psychomotorische<br />

Entwicklung zu för<strong>der</strong>n und sensomotorische<br />

Reorganisationsvorgänge o<strong>der</strong><br />

Funktionsübernahmen bei Läsionen o<strong>der</strong><br />

Anomalien des ZNS anzuregen, son<strong>der</strong>n<br />

auch das Verhalten zu modifizieren. Alexan<strong>der</strong><br />

et al. [1] definieren 5 Regelkreise, denen<br />

bestimmte Aufgaben zugeordnet werden:<br />

motorisch-skelettär, okulomotorisch,<br />

dorsolateral-praefrontal, orbitofrontal und<br />

anterior bzw. medial cingulär. Koziol und<br />

Budding [12] fügten 2 weitere hinzu.<br />

Störungen <strong>der</strong> motorischen bzw. augenmotorischen<br />

kortiko-subkortikalen<br />

Regelkreise führen in <strong>der</strong> Regel zu Parkinson-,<br />

bzw. Chorea-Symptomen und Koordinationsstörungen<br />

<strong>der</strong> willkürlichen, intendierten<br />

Bewegungen. Dabei ist auch die<br />

Fähigkeit zum prozeduralen Lernen (s.u.)<br />

und zum Erwerb von Automatismen und<br />

Routinen betroffen und damit die Fähigkeit<br />

zur ständigen Anpassung, z.B. im Verlauf<br />

<strong>der</strong> motorischen Entwicklung [12].<br />

Störungen des dorsolateral-präfrontale<br />

Regelkreises (DLPFC) beeinträchtigen vor<br />

allem eigenständiges und selbstverantwortliches<br />

(ohne externe Führung o<strong>der</strong> Anregung)<br />

Handeln. Im Vor<strong>der</strong>grund <strong>der</strong> Symptomatik<br />

steht meist die mangelnde Aufmerksamkeitssteuerung.<br />

Normalerweise<br />

unterstützt <strong>der</strong> Regelkreis die sog. exekutiven<br />

Funktionen: selektive Aufmerksamkeit<br />

kin<strong>der</strong>ärztliche Praxis 83, 74 – 78 (2012) Nr. 2 www.kin<strong>der</strong>aerztliche-praxis.de


Fortbildung | „Artikel des MonAts“<br />

und Aufrechterhaltung <strong>der</strong> Aufmerksamkeit,<br />

adäquate Reaktionen auf externe Ereignisse<br />

und Informationen sowie das Arbeitsgedächtnis,<br />

insbeson<strong>der</strong>e die aktuelle<br />

Planung und Organisation des Verhaltens.<br />

Störungen des orbitofrontalen Regelkreises<br />

(OFC) führen zu Persönlichkeitsverän<strong>der</strong>ungen,<br />

wie z.B. mangelnde Inhibitionskontrolle,<br />

Impulsivität, Irritabilität,<br />

und emotionale Labilität als Ausdruck <strong>der</strong><br />

mangelnden zeitlichen und lokalisatorischer<br />

Organisation des Verhaltens, d.h. des<br />

adäquaten sozialen Verhaltens zum richtigen<br />

Zeitpunkt am richtigen Ort. Normalerweise<br />

wird die intrinsische Motivation<br />

zur Betätigung aufrechterhalten, d.h. auch<br />

Handeln und Lernen ohne die vielfältigen<br />

Formen einer Belohnung.<br />

Störungen des medial-frontalen Regelkreises<br />

(MFC) führen zu Antriebslosigkeit<br />

bis hin zur Apathie. Selbst bei guter kognitivern<br />

Fähigkeiten besteht wenig Interesse<br />

zur Betätigung Vermutlich ist eine insuffiziente<br />

Funktion des N. accumbens, <strong>der</strong><br />

normalerweise als wichtigster Generator<br />

(„Turbo“) von Lernprozessen ist, für das<br />

Verhalten verantwortlich. Dieser Regelkreis<br />

ist zusammen mit Anteilen des OFC<br />

verantwortlich für das intrinsische Belohnungssystem<br />

des ZNS.<br />

Zwei weitere Regelkreise: inferior temporal<br />

und posterior parietal, vermitteln<br />

sensorische Reize zum frontalen Kortex<br />

und dem übrigen Kortex [12]. und unterstützen<br />

instrumentelles Lernen. Läsionen<br />

in diesen hinteren thalamokortikalen<br />

Verbindung, wie sie z. B: Frühgeborenen<br />

entdeckt wurden [8], führen zu abnormer<br />

Wahrnehmungsverarbeitung (Berührung,<br />

Propriozeption und Kraft) und mangeln<strong>der</strong><br />

Objektrepräsentation.<br />

Viele Lernprozesse und Entwicklungsschritte<br />

<strong>der</strong> Kognition und des Verhaltens<br />

verlaufen „assoziativ“ und sind nicht auf bewusste<br />

und kortikale Steuerung angewiesen;<br />

neurophysiologisch beruhen sie auf den<br />

gleichen Regelkreisen, die für die Sensomotorik<br />

zuständig sind. Die Basalganglien sind<br />

auch an <strong>der</strong> Entwicklung und dem Erwerb<br />

sprachlicher und rechnerischer Fähigkeiten<br />

beteiligt [15]. Sie sind dabei für die gleichen<br />

Funktionen wie bei <strong>der</strong> Motorik zuständig:<br />

76<br />

Steuerung von Intention, Regulierung von<br />

Geschwindigkeit sowie Ablauf von Handlungen<br />

o<strong>der</strong> Denkprozessen.<br />

kleinhirn<br />

Das Kleinhirn ist mit beinahe allen Arealen<br />

des Gehirns verbunden, es verknüpft<br />

und moduliert Tätigkeiten, kognitive Leistungen<br />

und Affekte mit dem Ziel eines<br />

zeitlich geordneten, effizienten Ablaufes<br />

und Verhaltens. Insofern ist es auch beteiligt<br />

an prozeduralen Lernprozessen. Läsi-<br />

Emotionen und Affekte sowie Kognition<br />

beeinflussen die sensomotorischen<br />

Lernprozesse.<br />

Spezielle neuroanatomisch nachweisbare<br />

Verbindungsstrukturen von<br />

Cortex und Subcortex werden neurophysiologischen<br />

Regelkreisen zugeordnet,<br />

die Sensomotorik, Kognition,<br />

Emotionen und Affekte miteinan<strong>der</strong><br />

verknüpfen.<br />

onen des Kleinhirns beeinträchtigen die<br />

Planungsfähigkeit, die Sprechflüssigkeit,<br />

die Fähigkeit zu abstrakten Überlegungen<br />

sowie das Arbeitsgedächtnis und führen<br />

zu Problemen in <strong>der</strong> räumlichen Orientierung<br />

und zu Affektstörungen (enthemmt<br />

o<strong>der</strong> abgestumpft) [3, 9, 18].<br />

kognitive lernprozesse und<br />

lernprozesse des Verhaltens<br />

Aufmerksamkeitssteuerung, Arbeitsgedächtnis<br />

und Antwortauswahl o<strong>der</strong> -inhibition<br />

sind die wichtigsten Bereiche<br />

eines Systems zur kognitiven Kontrolle<br />

(top-down) des bewussten Verhaltens, das<br />

zu den exekutiven Funktionen gehört. Bewusstes<br />

bzw. geplantes Verhalten benötigt<br />

die Fähigkeit, Ziel und Aufgabenstellung<br />

zu behalten, die „Antwort“ vorzubereiten<br />

und zu planen, irrelevante, nicht zielführende<br />

„Antworten“ zu hemmen und <strong>der</strong><br />

Aufgabenstellung angemessen zu bewältigen.<br />

Der praefrontale Kortex ist insbeson<strong>der</strong>e<br />

für Handlungsplanung, metakognitive<br />

Funktionen und Verhaltenssteuerung<br />

verantwortlich [1]. Er kontrolliert<br />

das Verhalten unter Berücksichtigung <strong>der</strong><br />

äußeren Umstände und Lebensbedingun-<br />

gen sowie <strong>der</strong> inneren Befindlichkeit und<br />

Wünsche. Er steht in Verbindung mit fast<br />

allen Arealen des Kortex sowie dem Hippokampus<br />

und dem limbischen System<br />

und damit dem dopaminergen Belohnungssystem<br />

[13]. Die Informationsverarbeitung<br />

wird entsprechend sensorischer<br />

(externer) und interner Einflüsse<br />

(z. B. Motivation o<strong>der</strong> Erinnerung) modifiziert,<br />

wodurch ein angemessenes Verhalten<br />

erreicht wird. Im Gegensatz zum<br />

motorischen Lernen sind die kognitiven<br />

Lernprozesse und -fortschritte nicht physisch<br />

greifbar und sichtbar, son<strong>der</strong>n erschließen<br />

sich über Än<strong>der</strong>ungen des Verhaltens<br />

und Bewältigung von Aufgaben<br />

o<strong>der</strong> Tests (siehe Beitrag Hirnleistungstraining<br />

in diesem Heft).<br />

Zentrales bewertungssystem<br />

und Flow<br />

Lernprozesse werden durch das zentrale<br />

Bewertungssystem unterstützt. Wenn sich<br />

Erfolge bei Lernprozessen einstellen o<strong>der</strong><br />

Ereignisse positiv bewertet werden, wird<br />

Dopamin über das mesolimbische System<br />

ausgeschüttet („dopamin burst“). Die vermehrte<br />

Konzentration von Dopamin führt<br />

zu positiven Emotionen („Glück“), die als<br />

Belohnung empfunden werden. Die Tätigkeit<br />

o<strong>der</strong> das Ereignis wird im Sinne eines<br />

„positive reinforcement“ gespeichert, wodurch<br />

ihre Wie<strong>der</strong>holung beför<strong>der</strong>t wird.<br />

Bleibt <strong>der</strong> Erfolg aus, wird akut weniger Dopamin<br />

ausgeschüttet („dopamin dip“), was<br />

zu einer negativen Emotion führt („Enttäuschung“);<br />

auch diese Tätigkeit o<strong>der</strong> dieses<br />

Ereignis wird gespeichert, aber im Sinne einer<br />

„negative reinforcement“, und in Zukunft<br />

vermieden. Diese Erkenntnisse sind<br />

im Alltag und bei <strong>der</strong> <strong>Ergotherapie</strong> relevant.<br />

Es existieren 4 Bahnsysteme im ZNS,<br />

die unterschiedliche Wirkungen vermitteln.<br />

Das mesolimbische projiziert zum<br />

limbischen System und wird dem beschriebenen<br />

Belohnungssystem zugeordnet, das<br />

mesokortikale System projiziert zum Frontallappen.<br />

Störungen dieser beiden Regelkreise<br />

führen zu 2 unterschiedlichen Formen<br />

von Aufmerksamkeitsstörungen [17].<br />

Bei einer mesolimbischen Störung versuchen<br />

die Kin<strong>der</strong>, unmittelbare Beachtung<br />

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und Belohnung bei je<strong>der</strong> Tätigkeit zu erreichen,<br />

was sekundär zu Impulsivität,<br />

Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefizit<br />

führt. Bei einer mesokortikalen Störung<br />

sind die exekutiven Funktionen beeinträchtigt;<br />

sie liegt bei den meisten Kin<strong>der</strong>n<br />

mit ADHS vor. Durch medikamentöse<br />

Therapie kann die Dopaminkonzentration<br />

in den Synapsen des ZNS z. B. bei<br />

Personen mit ADHS erhöht bzw. auf einem<br />

möglichst gleichbleibenden Level gehalten<br />

werden. Dabei besteht allerdings das<br />

Risiko, dass Lernprozesse durch „negative<br />

reinforcement“ beeinträchtigt werden<br />

(Übersicht in [12]).-<br />

Die Stimmungslage sowie Affekte und<br />

Emotionen beeinflussen Lernprozesse<br />

(positiv o<strong>der</strong> negativ) im Rahmen <strong>der</strong> normalen<br />

Entwicklung bis hin zur pädagogischen<br />

För<strong>der</strong>ung und bei <strong>der</strong> <strong>Ergotherapie</strong>.<br />

Aus evolutionärer Sicht muss <strong>der</strong> Organismus<br />

emotional auf alle überlebenswichtigen<br />

Ereignisse reagieren und aktiv werden.<br />

Es kommt dabei zu einer emotionalen Bahnung<br />

im Sinne von defensiven und aversiven<br />

o<strong>der</strong> von „appetitiven“ Verhaltensweisen.<br />

Klinisch werden diese Verhaltensweisen<br />

von mess- und erkennbaren physischen<br />

Reaktionen begleitet (Herzschlag,<br />

Blutdruck, Schweißausbruch u. a.).<br />

Die neuroanatomischen Bahnsysteme<br />

Wesentliches für die Praxis . . .<br />

Fortbildung | „Artikel des MonAts“<br />

kin<strong>der</strong>ärztliche Praxis 83, 74 – 78 (2012) Nr. 2 www.kin<strong>der</strong>aerztliche-praxis.de<br />

und neurophysiologischen Regelkreise für<br />

die emotionale Bahnung werden dem mesokortikolimbischen<br />

System (medialer Teil<br />

des OFC und MFC) zugeordnet, zu dem<br />

auch Amygdala und Septum pellucidum gehören.<br />

Sie vermitteln zwischen <strong>der</strong> neokortikal<br />

repräsentierten Wahrnehmungsverarbeitung<br />

und dem Denksystem einerseits<br />

und den emotionalen Reaktionssystemen<br />

des Hypothalamus und <strong>der</strong> Hirnstammstrukturen<br />

(z. B. <strong>der</strong> grauen Substanz im Bereich<br />

des Aquädukts [7]) an<strong>der</strong>erseits. Die<br />

Amygdala ist an <strong>der</strong> Wahrnehmung von<br />

neuen und von erregenden Ereignissen bzw.<br />

Empfindungen beteiligt, verknüpft Ereignisse<br />

mit Emotionen und speichert sie. Sie<br />

spielt eine wichtige Rolle bei <strong>der</strong> Angstentstehung<br />

und <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>erkennung und<br />

Analyse von gefährlichen Situationen, die<br />

negativ bewertet und in Zukunft gemieden<br />

werden. Auch <strong>der</strong> Nucleus accumbens, im<br />

ventralen Bereich <strong>der</strong> Basalganglien gelegen,<br />

ist ein Teil des mediofrontalen Regelkreises<br />

und in das Belohnungssystem eingebunden.<br />

Er erhält Afferenzen von <strong>der</strong><br />

Amygdala und spornt Verhaltensweisen an,<br />

bei denen eine Belohnung erwartet werden<br />

kann. Insofern gilt er auch als „Lernmotor“.<br />

Csikszentmihalyi [4] führte erstmals<br />

den Begriff „Flow“ für einen Zustand<br />

ein, bei dem man in einer Tätigkeit total<br />

◾ Ziele <strong>der</strong> <strong>Ergotherapie</strong> sind die Verbesserung von fein- und grobmotorischen<br />

Fertigkeiten sowie die För<strong>der</strong>ung des selbstständigen Handelns einschließlich<br />

◆ <strong>der</strong> Bewältigung von Alltagsanfor<strong>der</strong>ungen,<br />

◆ <strong>der</strong> Arbeitshaltung und<br />

◆ von angemessenen Verhaltensweisen in unterschiedlichen Lebens-<br />

situationen.<br />

◾ Die angestrebten Lernprozesse sind vergleichbar mit denen bei <strong>der</strong> kindlichen<br />

Reifung bzw. Entwicklung im Alltag und im schulischen o<strong>der</strong> beruflichen Rahmen.<br />

◾ Methoden und Ziele <strong>der</strong> <strong>Ergotherapie</strong> werden auch von kulturellen Einflüssen<br />

mitbestimmt.<br />

◾ Die neurophysiologischen, (neuro-) psychologischen und sozialen <strong>Grundlagen</strong><br />

von Lernprozessen gelten unabhängig von bestimmten Therapieverfahren und<br />

ihren theoretischen Konzepten.<br />

◾ Sie sind gültig bei <strong>der</strong> Behandlung von Entwicklungsstörungen, von Erkrankungen<br />

o<strong>der</strong> Läsionen des ZNS sowie von Verhaltensstörungen und psychischen<br />

Erkrankungen.<br />

77


Fortbildung | „Artikel des MonAts“<br />

versunken, zufrieden mit sich selbst und<br />

glücklich ist und dabei externe Reize ausblendet.<br />

Beobachtet und gemessen wurde<br />

Flow bei Musikern o<strong>der</strong> Künstlern, aber<br />

auch bei verschiedenen an<strong>der</strong>en Beschäftigungen<br />

des täglichen Lebens. Funktionelle<br />

MR-Studien zeigten, dass im ZNS je<br />

nach dem inneren Zustand unterschiedliche<br />

Areale aktiviert werden. Konzentrierten<br />

sich die Probanden auf das Ziel ihrer<br />

visuomotorisch o<strong>der</strong> auditiv orientierten<br />

Tätigkeit, wurden die entsprechenden kor-<br />

tikalen Areale aktiviert, waren die Probanden<br />

in <strong>der</strong> Lust am Arbeiten versunken,<br />

wurden die frontalen Areale aktiviert [5].<br />

Flow unterstützt die intrinsische Motivation,<br />

för<strong>der</strong>t die Selbstregulation von Emotionen<br />

und die Wahrnehmungsverarbeitung<br />

und damit die Lernprozesse. Das<br />

Flow erlebnis wirkt sich auch nachhaltig<br />

auf die psychische Befindlichkeit aus. Das<br />

beschriebene Motivationssystem und als<br />

auch in das o. g. Belohnungssystem wird<br />

außerdem vermittelt von <strong>der</strong> Produktion<br />

und Ausschüttung von Noradrenalin im<br />

Locus Coeruleus o<strong>der</strong> von Serotonin im in<br />

den Nuclei raphae im Hirnstamm, die über<br />

eigene Bahnsystem im ZNS verteilt werden.<br />

Auch sie wirken sich auf den Organismus<br />

und die Emotionen und damit die<br />

Informationsverarbeitung aus.<br />

neuroplastizität und speicherung/<br />

gedächtnis<br />

Bei <strong>der</strong> kindlichen Entwicklung werden<br />

reifungsbedingte Verän<strong>der</strong>ungen des Organismus,<br />

insbeson<strong>der</strong>e des ZNS, durch<br />

umwelt- o<strong>der</strong> erfahrungsbedingte Einflüsse<br />

modifiziert, was letztlich als ein<br />

steter Lern- und Speicherungsprozess begriffen<br />

werden muss. Offensichtlich gibt<br />

es bei einigen Fähigkeiten auch sensible<br />

Phasen o<strong>der</strong> gar kritische Perioden, die<br />

78<br />

Wenn die affektiven und emotionalen<br />

Einflüsse auf die Lernprozesse<br />

gestört sind, gilt es die „appetitiven“<br />

Verhaltensweisen zu för<strong>der</strong>n<br />

und die defensiven zu min<strong>der</strong>n sowie<br />

die Wirkung des Belohnungssystems<br />

zu nutzen.<br />

für das Sehen am besten erforscht worden<br />

sind. Die Lernprozesse werden repräsentiert<br />

durch Entstehung und Untergang<br />

von Synapsen bzw. Neuronenverbänden.<br />

Bei Läsionen des ZNS regenerieren die geschädigten<br />

Neuronen nur im begrenzten<br />

Umfang. Die wichtigste Option stellt die<br />

Reorganisation des ZNS dar, um eine Verbesserung<br />

von Funktionen und Fähigkeiten<br />

im Laufe <strong>der</strong> kindlichen Entwicklung<br />

o<strong>der</strong> im Rahmen eines Rehabilitationsprozesses<br />

zu erreichen. Dass es bei praktischen<br />

und mentalen Aktivitäten im Rahmen<br />

eines Übungs- o<strong>der</strong> Lernprozesses zu<br />

funktionellen (neurophysiologischen) und<br />

strukturellen (neuroanatomischen) Verän<strong>der</strong>ungen<br />

auch im Erwachsenenalter kommen<br />

kann, belegen zahlreiche Studien [11].<br />

Gelernte Bewegungsabläufe und Verhaltensweisen<br />

werden auf verschiedenen<br />

Ebenen bzw. in unterschiedlichen Arealen<br />

des ZNS gespeichert. Die Langzeit-Speicherung<br />

ist komplex abgesichert. Wie<strong>der</strong>holtes<br />

Üben spezieller Bewegungen und<br />

Tätigkeiten führt z. B. zur Vergrößerung<br />

<strong>der</strong> entsprechenden Areale im Motorkortex.<br />

Synaptische Verknüpfungen werden<br />

Lernprozess und Speicherung von<br />

Lernerfolgen sind eng verknüpft mit<br />

den Umgebungsbedingungen und<br />

dem aktuellen Kontext <strong>der</strong> Lernsituation.<br />

Sie werden geför<strong>der</strong>t durch die<br />

Wahl angemessener und sinnvoller<br />

Lernziele, die für den Betroffenen relevant<br />

sind. Insofern gelten für die<br />

normale Entwicklung und die Therapie<br />

bei gestörter Entwicklung bzw.<br />

bei Erkrankungen die gleichen neurophysiologischen<br />

<strong>Grundlagen</strong>.<br />

verän<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> entstehen neu, sogar neuronale<br />

Netzwerke können gebildet werden.<br />

Psychische Einflüsse, wie Motivation,<br />

Freude am Lernen, d. h. die emotionale<br />

Mitbeteiligung, <strong>der</strong> die Aktivierung<br />

des limbischen Systems entspricht, können<br />

über die Neurotransmitter Noradrenalin,<br />

Dopamin und Azetylcholin die strukturellen<br />

und funktionellen Verän<strong>der</strong>ungen<br />

unterstützen.<br />

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Korrespondenzadresse<br />

Prof. Dr. Dieter Karch<br />

Ehem. Leiten<strong>der</strong> Arzt des<br />

Kin<strong>der</strong>zentrums Maulbronn, Klinik für<br />

Kin<strong>der</strong>neurologie und Sozialpädiatrie<br />

Knittlinger Steige 21<br />

75433 Maulbronn<br />

Tel.: 070 43 / 160<br />

E-Mail: karch@kize.de<br />

kin<strong>der</strong>ärztliche Praxis 83, 74 – 78 (2012) Nr. 2 www.kin<strong>der</strong>aerztliche-praxis.de

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