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DER VERTRAG VON LISSABON: REFORM DER EU ... - WHI-Berlin

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WALTER HALLSTEIN INSTITUTFÜR <strong>EU</strong>ROPÄISCHES VERFASSUNGSRECHT<strong>DER</strong> <strong>VERTRAG</strong> <strong>VON</strong> <strong>LISSABON</strong>:<strong>REFORM</strong> <strong>DER</strong> <strong>EU</strong> OHNE VERFASSUNG?KOLLOQUIUM ZUM 10. GEBURTSTAG DES <strong>WHI</strong>Hrsg. Prof. Dr. Dr. h. c. Ingolf PerniceZusammenfassung der Beiträge des Festaktes und des Kolloquiums anlässlich deszehnjährigen Jubiläums des <strong>WHI</strong> am 25./26. Oktober 2007


Dieses Buch ist unter demselben Titel in der von Prof. Dr. Dr. h.c.Ingolf Pernice herausgegebenen Schriftenreihe Europäisches Verfassungsrechtim Nomos-Verlag erschienen.ISBN 978-3-8329-3720-1www.nomos.deDie Online-Version ist verfügbar unterwww.whi-berlin.de/documents/Lissabon.pdf


InhaltsverzeichnisEinführung: Zehn Jahre <strong>WHI</strong> und die Reform der Europäischen Union 7Teil I: Festakt zum zehnjährigen Jubiläum des Walter Hallstein-Institutsfür Europäisches Verfassunsgrecht am 25.10.2007 17Zur Eröffnung: Zehn Jahre <strong>WHI</strong> im Dienste EuropasProf. Dr. Dr. h.c. Ingolf Pernice 17Grußwort des Präsidenten zum zehnjährigen Jubiläum des <strong>WHI</strong>Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies 22Der Reformvertrag – das Ende der Verfassungsvision?Dr. Joachim Wuermeling 25I. Einleitung 25II. Hauptteil 261. Blick zurück – Warum wollten die Mitgliedstaaten eineVerfassung? 262. Blick in die Gegenwart – Was haben wir davon erreicht? 27a) Historie 27b) Analyse des Reformvertrags 28c) Bewertung 293. Blick in die Zukunft – Was ist noch zu tun? 30a) Verfahren 30b) Offene Fragen 30III. Schluss 31Teil II: Wissenschaftliches Kolloquium anlässlich des zehnjährigenJubiläums des Walter Hallstein-Institus für EuropäischesVerfassungsrecht am 26.10.2007 33Einführung: Vom Verfassungs- zum Reformvertrag 33Schlussfolgerungen zum ReformvertragPeter Tempel 33I Einleitung 33II. Ablauf der Verhandlungen und Ergebnisse 34III. Ausblick 355


Vermittlung, Steuerung und demokratische Verantwortung:Die Sollbruchstellen des ReformvertragesDr. Andreas Maurer 36I. Wie bewerten wir Ratspräsidentschaften? 36II. Rahmenbedingungen der <strong>EU</strong>-Präsidentschaft 38III. Der Verfassungsvertrag im Kontext der deutschenRatspräsidentschaft 39IV. Handlungsbeschränkungen an der Schnittstelle zwischenImpulsgeber- und Vermittlungsfunktion 41V. Die Verhandlungen und die Präsidentschaftsstrategie 42VI. Sollbruchstellen der Präsidentschaft im Reformvertrag 471. Von geltenden zu neuen Regeln 472. Die künftige Vorsitzfunktion in der Außenpolitik 483. Der künftige <strong>EU</strong>-Präsident 49VII. Organisationsfragen der nahen Zukunft 51Mitverantwortung der Rechtswissenschaft für die Verwendung desVerfassungstopos – Die Europäische Verfassung als Opferdersymbolischen Tragweite des Begriffes?Prof. Dr. Christian Calliess 54I. Mitverantwortung 541. Einführung 542. Bekenntnisse eines „professionellen Europadeuters“ 55II. Verfassungstopos, Staatswerdung Europas und europäischeBürger 571. Einführung 572. Das Motiv des Verfassungstopos: Auf der Suche nach demeuropäischen Bürger 603. Die Diskussion in einzelnen Mitgliedstaaten 63a) Frankreich 63b) Polen 65c) Großbritannien 66d) Niederlande 684. Zwischenergebnis 69III. „Wir haben es ja schon immer gesagt…“ !? – Der Verfassungstoposim Spiegel des wissenschaftlichen Streits in Deutschland 731. Alte und neue Verfassungsskeptiker 732. Stellungnahme 75IV. Fazit 786


Perspektiven der Ratifikation – Verfassung oder Vertrag?Prof. Dr. Stefan Kadelbach 81I. Einleitung 81II. Der Neuansatz des Reformvertrages 82III. Regierungskonferenz als Verfassungsprozess? 84IV. Ausblick 85Horizontale Fragestellungen 87Schutz vor der Grundrechte-Charta oder durch die Grundrechte-Charta?Anmerkungen zum europäischen Grundrechtsschutz nach dem Vertrag vonLissabonProf. Dr. Franz C. Mayer 87I. Rechtsverbindlichkeit der Charta 89II. Erklärungen zur Charta 90III. Ein Protokoll zur Charta mit Übersetzungsfehlern 91IV. Ein grundrechtlicher Sonderweg für Großbritannien und Polen? 94V. Fortbestand des Richterrechts (Grundrechte als allgemeineRechtsgrundsätze) 95VI. Motivsuche 96VII. Weitere grundrechtsskeptische Mitgliedstaaten 97VIII. Schlussbetrachtung – Grenzen der Wertegemeinschaft? 97Rat und Europäischer Rat nach dem Vertrag von Lissabon (Reformvertrag)Edgar Lenski 99I. Der Europäische Rat 1001. Aufgaben des Europäischen Rates 1012. Der Präsident des Europäischen Rates 1023. Zusammensetzung, Tagungen und Abstimmungen desEuropäischen Rates 104II. Der Rat 1071. Aufgabe 1082. Vorsitz , Ratsformationen und Tagungen 1083. Qualifizierte Mehrheit („doppelte Mehrheit“) 110a) Verfahren von 2009 bis 2014 112b) Verfahren von 2014 bis 2017 112c) Verfahren ab 2017 113d) Bewertung 113III. Abschließende Bemerkungen 1147


Die Kompetenzordnung im Vertrag von LissabonBeate Braams 115I. Einleitung 115II. Die Kompetenzordnung im Vertrag von Lissabon 1161. Der Unionsvertrag 1182. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union(A<strong>EU</strong>V) 119a) Ausschließliche Kompetenzen 120b) Geteilte Zuständigkeiten 121c) Unterstützungs-, Koordinierungs- undErgänzungsmaßnahmen 125d) Zuständigkeiten außerhalb des Kompetenztrias 1273. Flexibilitätsklausel 1324. Vorrang des Unionsrechts 132III. Zusammenfassung und Ausblick 133Die Justiziabiliät des Subsidiaritätsprinzips im Lichte derSubsidiaritätsprotokolleMichaela Hailbronner 135I. Einleitung 135II. Bisherige Praxis und Kritik 1371. Justiziabilität und Prüfungsmaßstab 1372. Das Subsidiaritätsprotokoll zum Amsterdamer Vertrag 1383. Stellungnahme 139III. Die Überprüfung des Subsidiaritätsprinzips nachdem Reformvertrag 1421. Das Subsidiaritätsprotokoll zum Reformvertrag 1422. Stellungnahme 143Die Handlungsformen im Vertrag von Lissabon –bloß die symbolische Beseitigung des Symbolischen oder wesentlicheVeränderungen ?Anne C. Becker 145I. Bloß die symbolische Rückkehr vom Symbolischen? 146II. Die Transparenz der Namen 147III. Doch Neues im Handlungsformenregime! 148IV. Schlussbemerkung 1518


Das Prinzip der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Vertrag vonLissabonProf. Dr. Frank Hoffmeister 152I. Einleitung 152II. Die Rechtsgrundlagen des Solidaritätsprinzips 1531. Der allgemeine Teil 1532. Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 1533. Die Wirtschaftspolitik 1544. Die Energiepolitik 1545. Die Außenpolitik 1556. Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik 155III. Die dogmatische Bedeutung des Solidaritätsprinzips 155IV. Schlussbemerkung 156Vertragsauslegung nach Lissabon. Methodische Implikationen desReformprozesses am Beispiel des detaillierten Mandats und derErläuterungen zur Charta der GrundrechteMattias Wendel 158I. Vertragsauslegung und Reformprozess 158II. Anknüpfungspunkte künftiger Auslegung 1591. Das detaillierte Mandat 1602. Die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte 162III. Akzentverschiebungen nach Lissabon? 167Einzelne Politikbereiche 169Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach dem Reformvertrag– Kontinuierliche Verfassungsgebung in schwierigem TerrainProf. Dr. Matthias Ruffert 169I. Innere Sicherheit als zentrales Politikfeld 169II. Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 170III. Substantielle Neuerungen 170IV. Gemeinschaftsmethode im Recht der inneren Sicherheit 171V. Freiheit – Sicherheit – Recht: Ein harmonischer Dreiklang? 172Außenverfassungsrecht nach dem Lissaboner VertragDr. Daniel Thym 173I. Fortbestand der intergouvernementalen Vertragsgrundlage 174II. Umbenennung des Außenministers 178III. Ausformulierung der Verteidigungspolitik 181IV. Kollektive Verteidigung und Solidaritätsklausel 183V. Kohärenz des auswärtigen Handelns 185VI. Reform der supranationalen Außenbeziehungen 186VII. Fazit 1899


Der Vertrag von Lissabon und das Wettbewerbsprinzip – Status quo ante,Neugewichtung oder Unwucht?Dr. Stephan Wernicke 190I. Eine Französische Allüre? 190II. Interpretationsrahmen 192III. Schlussfolgerungen 195Die Soziale Marktwirtschaft nach dem ReformvertragProf. Dr. Markus Kotzur 197I. Einleitung 197II. Der Textbefund 1981. Im Unionsvertrag 1982. Im „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“(A<strong>EU</strong>V), -vormals EGV 200a) Präambelbekenntnisse 200b) Zu den Kompetenzen 200c) Zu den allgemeinen Vorschriften und den Politikender Union 2013. In der <strong>EU</strong>-Grundrechtecharta 202III. Gesamtbewertung 203Umwelt, Energie und LandwirtschaftDr. Marc-Oliver Pahl 205I. Einführung 205II. Umwelt 205III. Energie 206IV. Landwirtschaft 208V. Schlussfolgerungen 208Perspektiven der Ratifikation 210Polnische Erfahrungen und ErwartungenProf. Dr. Stanislaw Biernat 210A British Referendum on the Treaty?Brendan Donnelly 21310


Einführung: Zehn Jahre <strong>WHI</strong> und die Reform der Europäischen UnionIm Oktober 2007 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der EuropäischenUnion auf dem informellen Rat in Lissabon über die Reform der Union. Der Vertragvon Lissabon wurde am 13. Dezember 2007 unterzeichnet und soll am 1. Januar2009 in Kraft treten. Dies war Grund genug, das zehnjährige Jubiläum des WalterHallstein-Instituts für Europäisches Verfassungsrecht am 25./26. Oktober 2007 thematischdieser längst überfälligen Reform zu widmen. Dass die Regierungen schonim Mandat vom Juni 2007 für die Regierungskonferenz festgelegt hatten, die künftigenvertraglichen Grundlagen der Union sollten keinen Verfassungscharakter haben,verleiht der Thematik dabei eine besondere Spannung.Die Jubiläumsfeier war mit dem Nachdenken über die Bedeutung des Reformvertrags,insbesondere im Blick auf die weitere Verwendung des Verfassungstopos 1verbunden. Stefan Kadelbach und Christian Calliess widmen sich intensiv und instruktivder Frage, ob diese von der höchstrichterlichen Rechtsprechung 2 angenommeneQualifikation schon des EWG-Vertrags als Verfassungsrecht gerechtfertigt istund bleibt. 3 Denn die Streichung der Verfassungssymbolik ändert wenig an derSubstanz der mit dem Vertrag über eine Verfassung für Europa schon vereinbartenund in den Vertrag von Lissabon übernommenen Reform. Dass die Regierungendurch die Entmythologisierung des Vertragswerks in Form und Inhalt auch derStaatsanalogie für die Europäische Union eine klare Absage erteilten, kann sogar alsErfolg verbucht werden.Die Finalität der Integration liegt nicht im europäischen Superstaat, 4 das wurdejetzt klar. Das wirklich Originelle und zugleich der Erfolg und die Attraktivität derUnion liegen doch darin, dass der Staat in seiner klassischen Allzuständigkeit undUnentrinnbarkeit gerade relativiert wird durch eine Konstruktion gemeinsam ausgeübter,letztlich von den Bürgern der in der Union verbundenen Mitgliedstaaten herlegitimierter öffentlicher Gewalt, die dem Subsidiaritätsgedanken folgend für daszuständig ist, was die Staaten allein nicht wirksam zu tun imstande sind. Frieden inFreiheit, Wohlfahrt, Sicherheit unter den Bedingungen der Globalisierung, nachhal-1 S. dazu Müller-Graff, Die Zukunft des Europäischen Verfassungstopos und Primärrechtsnach der Deutschen Ratspräsidentschaft, FCE 06/2007, http://whi-berlin.de/fce/2007.dhtml.2 Vgl. BVerfGE 22, 293 (296): „Der EWG-Vertrag stellt gewissermaßen die Verfassung dieserGemeinschaft dar“. S. auch EuGH Gutachten 1/91 – EWR I, Slg. 1991, I-6069, Rn. 21: „Dagegenstellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunftgeschlossen wurde, nichtsdestoweniger die grundlegende Verfassungsurkunde eienr Rechtsgemeinschaftdar“.3 Krit. aber Donnelly, A British Referendum on the Treaty?, in diesem Band, S. 213.4 In diesem Sinne schon Pernice, Zur Finalität Europas, in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.),Europawissenschaften, 2005, S. 743.11


tige Entwicklung, die Selbstbehauptung Europas und die Vertretung unserer werteund Interessen weltweit – hierüber ist viel geschrieben worden.Der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft im Europäischen Verbund und dem Verzichtauf physische Zwangsgewalt, durch dessen Monopol sich nach Max Weber derStaat definiert, durch europäischen Institutionen korrespondiert die Herrschaft desRechts, der Respekt der gemeinsam vereinbarten Regeln über Institutionen, Befugnisse,Verfahren und Rechtsgarantien als verfassungsmäßige Grundlage des Systemsgemeinsamer supranationaler Interessenwahrnehmung. Integration manifestiert sichhier nicht nur horizontal zwischen Völkern und Staaten etwa in Form des Binnenmarktesoder jetzt mit gestärkten Kompetenzen zum Raum der Freiheit, der Sicherheitund des Rechts, 5 sondern vor allem vertikal in der Verknüpfung der staatlichenmit der supranationalen Verfassungsebene im Interesse der Bürgerinnen und Bürger.Dies ist der Kern dessen, was die <strong>EU</strong>, also den europäischen Verfassungsverbundausmacht. Beide Ebenen sind hier aufeinander angewiesen, nur mit Blick auf diejeweils andere effektiv und verstehbar, nur als Einheit den Herausforderungen unsererZeit gewachsen. 6Die besondere Mehrebenen-Struktur der Union, dieses gegenüber dem überkommenenStaatensystem völlig neuartige institutionelle Konzept erfährt durch denReformvertrag eine nachhaltige Stärkung. Als Rechtsgemeinschaft (Walter Hallstein)gewinnt sie klarere Konturen hinsichtlich Auftrag und Zielen, aber auch hinsichtlichihrer Eigenart und Grenzen: Das Austrittsrecht unterstreicht die Freiwilligkeitder Mitgliedschaft in der Union; die Systematisierung der Kompetenzenzugleich mit der gebetsmühlenartig wiederholten Feststellung, dass nicht durch denVertrag übertragene Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben und dieRechtspersönlichkeit, die Grundrechte und ähnliche Dinge keine Ausweitung derKompetenzen bedeuten, zielen auf mehr Klarheit darüber, wer für was verantwortlichist; 7 das Frühwarnsystem mit verstärkter gerichtlicher Kontrolle 8 sichert denSubsidiaritätsgedanken prozedural ab, die institutionellen Änderungen hinsichtlichRatsvorsitz und Außenvertretung, Ratsbeschluss und Formen der Gesetzgebungdienen der Effizienz und Sichtbarkeit des gemeinsamen Handelns, die Öffentlichkeitder Sitzungen des Rates im Legislativbereich, die Aufwertung des EuropäischenParlaments und die Artikulierung der Verantwortung der nationalen Parlamente5 S. Ruffert, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach dem Reformvertrag –Kontinuierliche Verfassungsgebung in schwierigem Terrain, in diesem Band, unten, S. 169.6 S. zuletzt – im Gespräch mit einigen Kritikern des Ansatzes: Pernice, Theorie und Praxis desEuropäischen Verfassungsverbundes, in: Calliess (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischenStaaten- und Verfassungsverbund. Göttinger Gespräche zum deutschen und europäischenVerfassungsrecht, 2007, S. 61-92.7 Näher: Braams, Die Kompetenzordnung im Vertrag von Lissabon, in diesem Bande, unten, S.115.8 S. Hailbronner, Die Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips im Lichte der Subsidiaritätsprotokolle,in diesem Band, unten, S. 135.12


stärken demokratische Kontrolle und Legitimation, die Bürgerinitiative und dieBezeichnung der Abgeordneten im Europäischen Parlament als Vertreter der Unionsbürgerinnenund –bürger fördern deren Einbindung und Selbstbewusstsein alsLegitimationssubjekte der Union, die Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechteschließlich klärt – trotz des polnisch/britischen „opt out“ mit seiner grundsätzlichenProblematik 9 – das Verhältnis zwischen der Union und ihren Bürgern undunterstreicht damit, dass die Union eben nicht nur eine Organisation von Staaten ist,sondern ein politisches Gemeinwesen besonderer Art mit unmittelbaren Rechtsbeziehungenauch zwischen den Einzelnen untereinander sowie der Einzelnen zu denTrägern der supranationalen öffentlichen Gewalt.Das Jubiläums-Kolloquium konnte sich damit durchaus auch als Feier des Erfolgsverstehen, der – wie vom Leiter der Europaabteilung im Kanzleramt, Uwe Corsepius,erläutert 10 und vom zuständigen Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt, PeterTempel, bestätigt 11 – durch die deutsche Ratspräsidentschaft mit dem Abschluss desVertrags von Lissabon erreicht wurde. Wie so oft bei der Beurteilung des Einflussesvon Wissenschaft auf die Politik, ist auch der Beitrag des <strong>WHI</strong> zum Reformprozessder <strong>EU</strong>, wenn es ihn überhaupt gibt, 12 nicht eindeutig an einzelnen Schritten oderInhalten abzulesen. Umso größer war die Freude über die Würdigung der Arbeit des<strong>WHI</strong> in den Begrüßungsworten des Präsidenten der Humboldt-Universität zu <strong>Berlin</strong>,Christoph Markschies, des <strong>Berlin</strong>er Kulturstaatssekretär André Schmitz und desLeiters der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, GerhardSabathil. In seiner Festrede machte Joachim Wuermeling, Staatssekretär im Bundesministeriumfür Wirtschaft und Technologie, seinerseits darüber hinaus deutlich,dass mit dem Reformvertrag ein Schlussstrich unter die Debatte über die Finalitätder Integration gezogen sei. Angesichts der Schwierigkeit des Verfahrens der Vertragsreform,die die Zustimmung und ggf. positiven Referenden aller 27 Mitgliedstaatenvoraussetzt, wird man gewiss auf eine weitere Reform einige Zeit wartenmüssen. Die Ratifikation des Vertrags von Lissabon wäre angesichts der Lage inPolen und im Vereinigten Königreich, auf die Stanislaw Biernat bzw. Brendan9 Näher: Mayer, Schutz vor der Grundrechte-Charta oder durch die Grundrechte-Charta? Anmerkungenzum europäischen Grundrechtsschutz nach dem Vertrag von Lissabon, in diesemBand, S. 87.10 Eine schriftliche Fassung liegt leider nicht vor.11 Tempel, Schlussfolgerungen zum Reformvertrag, in diesem Band, unten, S. 33.12 Von den Versuchen zeugen die Vortragsreihen des FCE (8 Bände bei Nomos, Baden-Baden,Schriftenreihe Europäisches Verfassungsrecht) und der HRE - s. Pernice (Hrsg.), Europa –Visionen, Humboldt-Reden zu Europa, Band 1, 2007 -, die Workshops im Rahmen des „Club2004“ (vgl. <strong>WHI</strong>-Berichte 2002 und 2003), der zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftungveranstalteten „Werkstattgespräche zur Europäischen Verfassung“ sowie eine Vielzahl von„<strong>WHI</strong>-Papers“, dokumentiert auf der Seite www.whi-berlin.de. Hinzu kommen die Kolloquien,die im Rahmen des European Constitutional Law Network (ECLN) regelmäßig stattfinden,s. dazu die bei Nomos, Baden-Baden, erschienen Reihe „European ConstitutionalLaw Network Series“, Bd. 1-6, sowie www.ecln.net.13


Donnelly am Schluss des Kolloquiums eingingen, schon ein großer Erfolg, aberauch unbedingt nötig.Die in diesem Band veröffentlichten ersten Analysen zu den Einzelheiten des Reformvertragshinsichtlich einerseits der horizontalen Fragen wie auch zu den Politikender Union zeigen, dass mit der Reform trotz mancher kritischer Punkte durchausdauerhaft tragfähige Grundlagen für eine effektive europäische Politik geschaffenwerden, die den Herausforderungen, denen sich die Europäische Union heute stellenmuss, gerecht wird. Dies betrifft insbesondere die Schaffung eines für die Dauer vonzweieinhalb bzw. fünf Jahren gewählten Präsidenten des Europäischen Rats undeines Außenministers, der zwar nicht so heißt, aber eine sichtbare und effektivereVertretung der Außenpolitik der Europäischen Union erwarten lässt. 13 Die Änderungenzu den Handlungsformen Verordnung, Richtlinie und Entscheidungen erhöhendie Transparenz, auch wenn – oder weil? – deren Umbenennung in Gesetz, Rahmengesetzetc. wieder zurückgenommen wurde. 14 Wichtig sind die Reformen aberauch hinsichtlich der neuen Solidaritätsklauseln 15 oder der Konsequenzen des neuenVerfahrens – Konvent, Mandat, Regierungskonferenz – für die Methoden der Auslegungeuropäischen Rechts, 16 der Ziele der Union – Wettbewerb 17 bzw. sozialeMarktwirtschaft 18 – und einzelner Politikbereiche, zu denen Änderungen beschlossenbzw. für die, wie im Bereich Energie, 19 neue Zuständigkeiten eingeführt wurden.In gewissen Grenzen sind wichtige Fortschritte zu mehr Effizienz für die GemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik zu verbuchen, einschließlich der Verteidigungspolitik,für die zwar keine Gemeinschaftskompetenz, aber doch insbesondere mitdem „Doppelhut“ des Hohen Vertreters und der Schaffung eines europäischen auswärtigenDienstes eine kohärentere und effektivere Struktur geschaffen wurde, dieden besonderen Formen des Handelns in diesem Bereich durchaus angemessensind. 2013 S. dazu Lenski, Rat und Europäischer Rat nach dem Vertrag von Lissabon (Reformvertrag),in diesem Bande, unten, S. 99.14 Vgl. Becker, Die Handlungsformen im Vertrag von Lissabon – bloß die symbolische Beseitigungdes Symbolischen oder wesentliche Veränderungen?, in diesem Bande, unten S. 145.15 Vgl. Hoffmeister, Das Prinzip der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Vertrag vonLissabon, in diesem Bande, unten, S. 152.16 S. Wendel, Vertragsauslegung nach Lissabon. Methodische Implikationen des Reformprozessesam Beispiel des detaillierten Mandats und der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte ,in diesem Band, unten, S. 158.17 Insbesondere zur Verbannung Wettbewerbsziels in ein Protokoll, s. Wernicke, Der Vertragvon Lissabon und das Wettbewerbsprinzip – Status quo ante, Neugewichtung oder Unwucht?,in diesem Bande, unten, S. 190.18 Kotzur, Die Soziale Marktwirtschaft nach dem Reformvertrag, in diesem Bande, unten, S.197.19 S. Pahl, Umwelt, Energie und Landwirtschaft, in diesem Bande, unten, S. 205.20 Im Einzelnen s. Thym, Außenverfassungsrecht nach dem Lissabonner Vertrag, in diesemBande, unten, S. 173.14


Zum Reformvertrag und seinen Implikationen kann die Debatte mit den hier vorgestelltenBeiträgen erst beginnen. Die positive Aufnahme des Vertrages, wie sie inden FCE-Vorträgen des Vorsitzenden des Ausschusses für konstitutionelle Fragenim Europäischen Parlament, Jo Leinen, 21 des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts,Hans-Jürgen Papier 22 und in der Humboldt-Rede zu Europa der irischenStaatspräsidentin, Mary McAleese, 23 zum Ausdruck kam, stützt die Hoffnung aufzeitgerechtes Inkrafttreten des Vertrags, wenn nicht die Schwierigkeiten in Deutschlandum die Begleitgesetze oder mit einer erwarteten Klage vor dem Bundesverfassungsgerichteine Verzögerung erzwingen.Dass die Europäische Kommission sowie die Heinz-Schwarzkopf-Stiftung das<strong>WHI</strong>-Jubiläum mitsamt dem wissenschaftlichen Kolloquium so großzügig unterstützthaben, sei ihnen sehr herzlich gedankt. Ebenso bedanke ich mich bei den Teilnehmernder Veranstaltung für die aktive Mitwirkung und ihre wertvollen Beiträge,die der weiteren Diskussion eine wichtige Grundlage geben.Meinen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen, Beate Braams und MichaelaHailbronner, danke ich besonders für die Hilfe bei der Organisation der Veranstaltungund bei der redaktionellen Bearbeitung dieses Bandes.<strong>Berlin</strong>, im März 2008Ingolf Pernice21 Leinen, Der Vertrag von Lissabon: Durchbruch für Europa, FCE 08/2007, http://whiberlin.de/fce/2008.dhtml.22 Papier, Europas neue Nüchternheit: Der Vertrag von Lissabon, FCE 1/2008, http://whiberlin.de/fce/2008.dhtml.23 McAleese, Europe in the Coming Times – an Irish Perspective, Humboldt-Rede zu Europa(HRE) vom 28. Febr. 2008, http://whi-berlin.de/hre.15


Teil I: Festakt zum zehnjährigen Jubiläum des Walter Hallstein-Instituts für Europäisches Verfassungsrecht am 25.10.2007Zur Eröffnung: Zehn Jahre <strong>WHI</strong> im Dienste EuropasProf. Dr. Dr. h.c. Ingolf Pernice *Welch eine wunderbare Musik: Herzlichen Dank den Musikerinnen, Helke Dwarsund Pauline Jaroszewski! Was gespielt wird, finden Sie auf der Rückseite des Programms.Der Anfang war eine Sonate von Mendelsson-Bartholdy.Wir sind keine Elite – und wenn man den Gutachtern folgt, sind wir auch nicht exzellent!Also haben wir jedenfalls keinen Grund zur Überheblichkeit. Aber vielleichtdarf man dennoch die kleinen Dinge feiern, in bescheidenem Rahmen, wenn eseinen Grund gibt: 10 Jahre Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrechtder Humboldt-Universität zu <strong>Berlin</strong>!Herr Präsident,Herr Staatssekretär, lieber Joachim,Herr Staatssekretär, lieber Herr Schmitz,Lieber Herr Schwarz,Exzellenzen,verehrte Abgeordnete,meine Kolleginnen und Kollegen,Kommilitonen,meine Damen und Herren,seien Sie herzlich willkommen zu unserer Feier. Und es ist nicht nur das Jubiläumdes <strong>WHI</strong>, was wir feiern. Wir können auch den erfolgreichen Abschluss des Reformvertragsder <strong>EU</strong> feiern. Vielleicht ist damit die Verfassungskrise der EuropäischenUnion beendet – jedenfalls vorerst. Das wäre sicher ein Grund zu Feiern. Undirgendwie hängt beides miteinander zusammen. Denn• den Prozess der „Verfassung Europas“ wissenschaftlich zu begleiten, kritisch zukommentieren, wenn möglich zu beflügeln,• die öffentliche Debatte über Europa mit wissenschaftlichen Analysen und konstruktivenVorschlägen im engen Kontakt mit den Akteuren anzuregen,* Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Völker- und Europarecht derHumbodt-Universität zu <strong>Berlin</strong> und geschäftsführender Direktor des Walter Hallstein-Instituts für Europäisches Verfassungsrecht der Humboldt-Universität zu <strong>Berlin</strong> (www.whiberlin.de).17


• ja Foren für diese Debatte zu bieten, so etwa das Forum Constitutionis Europae(FCE) oder die Humboldt-Reden zu Europa (HRE)• und auch ein vertrauliches brain-storming in der ‚Begegnung von Wissenschaftund Politik zu arrangieren, wie seinerzeit durch den „Club 2004“ oder unsereWerkstattgespräche zur Europäischen Verfassung –dies alles war unser erklärtes Ziel bei der Gründung des Walter Hallstein-Instituts.Dass die Arbeit vielleicht nicht ganz ohne Nutzen war, machte u.a. freundlicherweiseder irische Premierminister Bertie Ahern deutlich. Er hatte als Präsident desEuropäischen Rates im Sommer 2004 die schwierige Einigung über den Vertragüber eine Verfassung für Europa erreicht. In seiner „Humboldt-Rede zu Europa“ einJahr später sagte er an dieser Stelle, dass unsere Reden hier an der Humboldt-Universität in den vergangenen fünf Jahren, „enormously“ zur politischen Debatteüber Europa beigetragen haben. Sie können das in dem Buch „Europa-Visionen“nachlesen.Wem ist das zu verdanken? Natürlich den Rednern, aber auch dem Auditorium,das hier immer aktiv zugehört und mitdiskutiert hat, also Ihnen, meine verehrtenDamen und Herren. Beim Dankeschön zuerst nenne ich auch meinen Kollegen,Freund und Ko-Direktor, Prof. Michael Kloepfer. Er hat das Institut mitgegründetund steht im Hintergrund immer zur Verfügung, wenn es einmal schwierige Fragengibt. Herzlichen Dank Michael! Die Rückschau auf zehn Jahre intensiver Aufbauarbeitlenkt den Blick aber auch auf unsere Humboldt-Universität und ihre Präsidenten,insbesondere auf Sie, lieber Herr Markschies, auf unsere Fakultät und eine Vielzahlvon anderen Institutionen und höchst engagierten Personen. Ohne Ihre großzügigeUnterstützung gäbe es dieses <strong>WHI</strong> nicht. Mein herzlicher Dank gilt auchunseren Kooperationspartnern:• Der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung und mit ihr André Schmitz und Frau Keuper –ich begrüße auch Sie herzlich – die mit uns zusammen nicht nur dieses schöneJubiläum gestalten, sondern auch helfen, wenn wir für unsere Studierenden dieSeminarreisen nach Luxemburg und Brüssel organisieren, unter dem Motto:„Europa vor Ort“;• der Europäischen Kommission – meiner alten „Heimat“ – und ihrem Vertreterhier im Saal, Herrn Dr. Gerhard Sabathil. Er und die Kommission laden nichtnur nachher zu einem köstlichen Buffet, sondern die Kommission hat mit einerfrühen Anschubfinanzierung den Aufbau der Hallstein-Bibliothek in Gang gebrachtund mit einer weiteren Hilfe den Aufbau des ECLN ermöglicht;• der Rudolf von Bennigsen-Foerder-Stiftung, der Axel Springer-Stiftung, derMarga und Kurt Möllgaard-Stiftung sowie der Alfried Krupp von Bohlen undHalbach-Stiftung für großzügige Spenden zur Anschaffung weiterer Literaturzum vergleichenden und europäischen Verfassungsrecht;• der Robert-Bosch-Stiftung, die gemeinsam mit uns die Vortragsreihe „ForumConstitutionis Europae“ gestaltet; für diese Reihe konnten wir den damaligen18


Außenminister Joschka Fischer gewinnen, der mit seiner berühmt gewordenen„Humboldt-Rede“ vom 12. Mai 2000 den Verfassungsprozess beflügelte – undzugleich unser Forum;• der Deutschen Nationalstiftung, die uns nach dieser Rede anspornte, noch eineweitere Vortragsreihe ins Leben zu rufen, und diese seither großzügig finanzierthat: Die Humboldt-Reden zu Europa. Der damalige Vorstandsvorsitzende derStiftung, Helmut Schmidt, startete die Serie am 8. November 2000 mit einerspannenden Rede zur Selbstbehauptung Europas;• der Friedrich-Ebert-Stiftung für die wunderbare Zusammenarbeit bei der Organisationunserer Werkstattgespräche zur Europäischen Verfassung und neuerdingsauch der „Model European Union Conference“, in der wir mit den Studierendenaus vielen Ländern Sitzungen des Europäischen Rats sowie des EuGHsimulieren;• den institutionellen und persönlichen Mitgliedern unseres Vereins für EuropäischesVerfassungsrecht, Freunde und Förderer des <strong>WHI</strong>, die mit großem Wohlwollenunsere Bemühungen unterstützen: Bücherkauf, Veröffentlichungen, Tagungenetc. Wer von Ihnen, meine Damen und Herren, noch nicht Mitglied ist,ist herzlich zum Beitritt aufgerufen – die Formulare liegen vor dem Saal bereit.Nicht zuletzt möchte ich mich in besonderer Weise bei meinen Mitarbeitern bedanken,die mich schon vor, vor allem aber seit der Gründung des Instituts unermüdlichunterstützt haben und ohne die das <strong>WHI</strong> nichts wäre: Die Liste ist lang, einigevon Ihnen sind inzwischen schon in hohen Ämtern bei der Kommission, bei derUNO, in Bundes- oder in Landesministerien, so wie etwa Michael Pallek, VeraRodenhoff, Edgar Lenski, Wolfram Spelten, Anna Goltze, Philipp Steinberg oderMarc-Oliver Pahl. Wie ihnen gebührt der Dank auch den anderen, am Aufbau undLeben des <strong>WHI</strong> intensiv Beteiligten:• Herr Mayer hat nach langjähriger Arbeit für das <strong>WHI</strong> jetzt gerade sein neuesAmt als Professor nach Bielefeld angetreten: Herzlichen Glückwunsch!• Herr Hoffmeister ist neben seinem Amt bei der Kommission schon Professor inBrüssel.• Herr Wernicke arbeitet mit dem Anhörungsbeauftragten der Kommission undsoll demnächst hier zum Honorarprofessor ernannt werden.• Herr Thym war als studentische Hilfskraft 1998 ans <strong>WHI</strong> gekommen und hatvor 18 Monaten das Graduierenkolleg „Verfassung jenseits des Staates“ mit ausder Taufe gehoben; er koordiniert es seither in meisterhafter Weise.• Frau Müller leitet seit sieben Jahren unser Büro und betreut die Bibliothek,organisiert die Humboldt-Reden und trägt auch die Verantwortung für den heutigenAbend.• Anne Becker, Ralf Kanitz, Mattias Wendel, Patricia Stöbener, MichaelaHailbronner, Miroslav Angelov, Jule Martin, Beate Braams und RüdigerSchwarz sind als wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktoranden um das Wohldes <strong>WHI</strong> bzw. des Graduiertenkollegs und damit auch des europäischen Verfassungsrechtsbemüht, und19


• unsere studentischen Hilfskräfte Lisa Teichmann, Nina Pilgrim, Michael Kuhn,Sarah Paulat, Sayid Bayoumi-Ali unterstützen sie dabei unermüdlich.• Als mehr oder weniger freie Mitarbeiter schließlich haben Astrid van der Merweund Martin Mlynarski die „Model European Union Conference“ entwickelt, diejetzt von Henner Fries-Henrich betreut wird.Herzlichen Dank Ihnen allen, die sie den Lehrstuhl, das <strong>WHI</strong> und das Graduiertenkollegmit aufgebaut haben und mit Leben füllen.Meine Damen und Herren,erlauben Sie mir ein paar Worte zum Institut, das wir heute feiern: Namensgeberist Walter Hallstein. Sie sehen hier eine „pre-view“ des schönen Portraits, das HerrSabathil hat malen lassen, nach einem Foto aus dem Hause Ritter, dem Patensohnvon Walter Hallstein.Das Institut nach Hallstein zu benennen, war nicht meine Idee. Ich wollte JeanMonnet ehren, aber mein damaliger Assistent, Markus Pallek – jetzt Rechtsberaterbei der UNO – fragte, warum nicht Walter Hallstein. Ich war sofort überzeugt: Hallsteinwar der größte deutsche Europäer der Nachkriegs- und Aufbaujahre, er wardeutscher Delegationsleiter bei den Verhandlungen zu Euratom und EWG-Vertrag,erster Präsident der Europäischen Kommission und Erfinder des Konzepts derRechtsgemeinschaft. Für ihn, wie für viele seiner Zeit, wie etwa später auch für dasBVerfG und den EuGH, hatten schon EGKS- und EWG-Vertrag Verfassungscharakter.Was könnte näher liegen, als einem Institut für Europäisches Verfassungsrechtseinen Namen zu verleihen?Das <strong>WHI</strong> steht von Anbeginn an auf drei Säulen:• Eine Spezialbibliothek für vergleichendes und europäisches Verfassungsrecht –die Walter Hallstein Bibliothek – die auch von vielen Gastforschern aus demAusland gern genutzt wird;• eine Webseite, mit der wir die Arbeiten des <strong>WHI</strong> sowie die Vorträge aus denVortragsreihen einer weltweiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, und diesich einer erstaunlichen Beliebtheit erfreut als Zugang zu Europa;• ein Netzwerk von Kollegen und Instituten aus den Partnerländern der <strong>EU</strong> undaus den USA, ein Netzwerk, das ich selbst initiiert habe und koordiniere unterdem Namen European Constitutional Law Network, ECLN, mit einer eigenenWebseite.Zusammen mit Kollegen aus der juristischen, der philosophischen Fakultät unsererUniversität und mit Frau Börzel von der Freien Universität haben wir im Jahre2005 den Blick über Europa hinaus gewagt.Das neue Forschungsfeld, dem wir uns zusätzlich widmen wollen, wird vielleichtam besten mit dem englischen Titel des Graduiertenkollegs bezeichnet, dem dieDFG seit etwa einem Jahr 15 Doktorandenstipendien und großzügige weitere Unterstützunggewährt: „Multilevel Constitutionalism. European Experiences and GlobalPerspectives“.20


Einige Erfahrungen dazu hatte ich nicht nur als EG-Beamter im letzten Jahrhundert,sondern auch jetzt im Rahmen eines Forschungsprojekts zusammen mit demBMU zur Aarhus-Konvention gewinnen können – meine Partner Herrn Hart undFrau Schenk – begrüße ich sehr herzlich. Es geht um das, was die Erfahrungen des11. September und des Irak-Krieges zusammen mit den Reaktionen darauf weltweitals besonders dringlich erscheinen lassen: Die „rule of law“ kann nicht auf innerstaatlicheAngelegenheiten beschränkt bleiben, die Verdichtung der Beziehungenzwischen den Menschen weltweit machen weltweites Recht erforderlich: GlobalesRecht für eine sich bildende globale Gesellschaft.Hier wollen wir weiterforschen, aus den europäischen Dingen lernen. Der BegriffVerfassung macht in Europa deutlich, dass es um die Bürgerinnen und Bürger geht,primär, die Staaten also Instrument sind, ebenso wie die supranationale Union <strong>EU</strong>und ebenso wie die weltumspannenden Institutionen. Aus der Perspektive der Bürgergeht es um gestufte Ordnungen, governance auf verschiedenen Ebenen, bis hinzum globalen Recht. Für die Bürgerinnen und Bürger sind der Staat, die <strong>EU</strong>, ja globaleInstitutionen nur Elemente eines ihn betreffenden, gestuften politischen undrechtlichen Mehrebenensystems, geschaffen durch das Recht, handelnd mit denMitteln des Rechts und gebunden an Recht und Gerechtigkeit: Mit den Worten WalterHallsteins: als Rechtsgemeinschaft.Meine Damen und Herren,ich freue mich auf eine anregende Veranstaltung. Es folgen jetzt Grußworte desPräsidenten unserer Universität, Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies; fürdas Land <strong>Berlin</strong> spricht dann Herr Staatssekretär Dr. André Schmitz, gefolgt voneinem Grußwort des Leiters der Vertretung der Europäischen Kommission inDeutschland, Herrn Dr. Gerhard Sabathil. Die zentrale Perspektive des Mitgliedstaatesist dem Festvortrag von Herrn Dr. Wuermeling vorbehalten. Zwischendurch gibtes Musik, am Schluss möchte ich Ihnen zusammen mit meinem Verleger, Herrn Dr.Volker Schwarz, das Buch vorstellen, das wir „Europa-Visionen“ genannt haben.Nachher lädt die Europäische Kommission zum Buffet. Mit dem Wunsch, dass wiralle eine schöne Veranstaltung erleben werden, übergebe ich jetzt an den HerrnPräsidenten. Herzlichen Dank, meine Damen und Herren! Herr Markschies, Siehaben das Wort!21


Grußwort des Präsidenten zum zehnjährigen Jubiläum des <strong>WHI</strong>Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies ∗Verehrte Herren Staatssekretäre, verehrte, liebe Kolleginnen und Kollegen, meineDamen und Herren, liebe Studierende!Über die Gelegenheit, dem Walter-Hallstein-Institut heute zu gratulieren, freueich mich ganz besonders – macht doch das Jubiläum dieses Instituts deutlich, dassdie Humboldt-Universität seit den Entscheidungen der vergangenen Woche nicht inDepressionen versunken ist. Wir sind, wie uns in den vergangenen Tagen Wissenschaftsratund Deutsche Forschungsgemeinschaft nochmals bestätigt haben, eineherausragende Universität; man hat uns mehr Cluster und Graduiertenschulen zugesprochenals beispielsweise der Ludwig-Maximilians-Universität in München undunser Zukunftskonzept nicht gefördert, weil wir nach der Ablehnung des Vorantragesim Januar 2006 im Unterschied zu anderen Universitäten nur ein einziges JahrZeit hatten, unser neues Zukunftskonzept „Humboldt ins einundzwanzigste Jahrhundertübersetzen“ aufzustellen und ich seinerzeit nach Übernahme des Amtesvollkommen neu ansetzen musste. Die Gutachter wie die Verantwortlichen habendas Konzept sehr gelobt und uns empfohlen, es weiter auszuarbeiten – und genaudas werden wir tun.Was hat das alles mit dem Walter-Hallstein-Institut zu tun? Sehr viel, lieber HerrPernice, meine Damen und Herren. Im Zukunftskonzept der Humboldt-Universitätsind erstmals sechs Profilfelder unserer Hochschule definiert; im Unterschied zumanchen süddeutschen Einrichtungen fehlte eine solche Profilierung zuvor, obwohlsich die Tendenz zur Setzung von Schwerpunkten in den nächsten Jahren eher nochverstärken wird. Wir haben in den letzten Monaten sehr viel über den Profilbereichder integrativen Lebenswissenschaften geredet, in dem wir unter Leitung von KarlEinhäupl ein Institut für Integrative Lebenswissenschaften einrichten werden. Nunmüssen und werden wir – so empfehlen es uns auch die Gutachter im Exzellenzwettbewerb– verstärkt auch über die anderen Profilfelder reden. Viele unter unswissen, dass die Europawissenschaften ein zentrales der sechs Profilfelder dieserUniversität sind – und nun wird deutlich, warum ich zum Jubiläum des Walter-Hallstein-Institutes über unser Zukunftskonzept „Humboldt ins einundzwanzigsteJahrhundert übersetzen“ rede. Europawissenschaften werden an vielen Orten betriebenund wenn die Humboldt-Universität in den nächsten Jahren diesen Profilbereichausbauen, stärken und international noch sichtbarer machen will, dann muss siezunächst einmal klären, welche Schwerpunkte sie auf einem riesigen Forschungsfeld∗Der Verfasser ist Präsident der Humboldt Universität zu <strong>Berlin</strong>.22


setzen will. Ein Schwerpunkt unserer Europa-Studien ist, wie man so schön sagt,bereits gesetzt: das europäische Verfassungsrecht in exakt der Zuspitzung, in der dasWalter-Hallstein-Institut darüber forscht, also mit einem nachhaltigen Interesse ander Vermittlung einschlägiger Fragestellungen in die Öffentlichkeit, aber auch durchden Aufbau einschlägiger wissenschaftlicher Netzwerke, durch Nachwuchsausbildung,durch eine Fülle einschlägiger Publikationen, durchaus auch mit politikberatenderAbzweckung.Durchaus mit politikberatender Abzweckung, meine Damen und Herren? Ich befürchte,dass die deutschen Wissenschaftseinrichtungen und die Universitäten insbesondereallzu oft nur wünschen, dass sie Politik beraten könnten, es aber in Wahrheitnicht tun. Es werden für gewöhnlich dickleibige Publikationen erstellt – wogegennatürlich an und für sich gar nichts zu sagen ist, ich schreibe auch gern fünfhundertseitigeMonographien – und auf einer Pressekonferenz vorgestellt, zu der kein einzigerPolitiker kommt. Ministerien haben ihre eigenen wissenschaftlichen Stäbe, Bundestagsabgeordneteihre Referenten – und für gründliche wissenschaftliche Expertisebleibt oft keine Zeit. Mir scheint das am Walter-Hallstein-Institut grundlegendanders zu sein: Wie es dem Gründungsauftrag der Humboldt-Universität entspricht,liefern Sie, lieber Herr Pernice, mit Lehre wie Forschung Beiträge zur Berufsbildungin dem Sinne, dass Sie künftigen und aktiven Verantwortlichen für die Europapolitikbessere Qualifikationen für ihr Tun vermitteln, aber auch Artikel in jenen allgemeinverbreiteten Kommentaren zum nationalen wie europäischen Verfassungsrechtschreiben, die auf dem Schreibtisch aller einschlägigen Verantwortlichen stehen.Nun hoffen wir, wenn ich das so ehrlich sagen darf, dass das Hallstein-Institut aucheinen gewichtigen Beitrag zur Formierung und Institutionalisierung des ProfilbereichsEuropawissenschaften an der Humboldt-Universität leistet – eine entsprechendeInitiative sollten wir gerade nach den Entscheidungen der letzten Wochenicht länger aufschieben.Der Präsident der Humboldt-Universität nimmt das Walter-Hallstein-Institut natürlichvor allem deswegen wahr, weil es ihm in regelmäßigen Abständen illustreGäste beschert, Staatspräsidenten beispielsweise, mit denen er in seinem Büro parlierendarf, mit deren Leben und Wirken er sich beschäftigt, um dann ein Grußwortzu formulieren und um dann vor allem eine kluge Europa-Rede im größten Hörsaaldes Hauses zu hören. Wenn man das Vorwort des Bandes „Europa-Visionen“ liest,in dem einige dieser Reden gesammelt sind, dann wird deutlich, dass sich das Walter-Hallstein-Instituteiner Vision verpflichtet fühlt – der Vision, dass das Stockenund Scheitern des europäischen Verfassungsprozesses nur ein Zwischenschritt aufeinem längeren Wege darstellt, der zum Erfolg führen muss, führen wird. Eine Reiheprominenter deutscher Politiker, darunter Helmut Schmidt, dessen Rede denReigen des Buches eröffnet, misstrauen Visionen; man kann das bei der Lektüreseines Beitrages auch überdeutlich spüren: „Manchmal steckt Idealismus hintersolchen Ideen, manchmal auch Größenwahn“. Sie ahnen, lieber Herr Pernice, verehrteHerren Staatssekretäre, meine Damen und Herren, dass ich diese Texte in denvergangenen Tagen gern gelesen habe: Auch die Humboldt-Universität ist bei einerwichtigen Initiative zunächst nicht erfolgreich gewesen, muss nun Depression eben-23


so vermeiden wie den Größenwahn eines unreflektierten „Weiter so!“. Man kann amFortschritt des europäischen Reformprozesses nach den Referenden in Frankreichund den Niederlanden lernen, wie man mit derartigen Rückschlägen umgehen undsie produktiv nutzen kann – indem man mit aller Leidenschaft am Ziel festhält,zugleich aber nüchtern die Lage analysiert und seine Konsequenzen zieht. DiesenGeist nüchternen Realismus, engagierter Arbeit, aber zugleich auch unenttäuschterHoffnung auf Fortschritte beim europäischen Einigungsprozess verbreitet die Arbeitdes Walter-Hallstein-Institutes. Dafür, lieber Herr Pernice, gebührt Ihnen und IhremTeam der herzliche Dank der ganzen Universität.24


Der Reformvertrag – das Ende der Verfassungsvision?Dr. Joachim Wuermeling *I. EinleitungSehr geehrter Herr Staatssekretär Schmitz,sehr geehrter Herr Dr. Sabathil,lieber Herr Prof. Pernice,meine sehr geehrten Damen und Herren!„Quo vadis Europa?“ So hat einer, der schon vor mir an diesem Pult eine vielbeachtete Rede gehalten hat, gefragt und gleich die Antwort mitgeliefert: „Vorwärtsbis zur Vollendung der europäischen Integration.“ Und genauso wie mein Vorredneran diesem Pult – es war übrigens Joschka Fischer – möchte ich die Gelegenheitnutzen, jenseits meiner aktuellen Funktion heute als früherer Mitarbeiter der Kommission,als früheres Mitglied des Europäischen Parlaments, als früheres Mitglieddes Verfassungskonvents – kurz als begeisterter Europäer mit Ihnen zu diskutieren.Als beamteter Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, einem der beiden<strong>EU</strong>-Koordinierungsressorts in der Bundesregierung, gehören die Fragen des europäischenAlltags – Bürokratieabbau, Umsetzung der Lissabon-Strategie und der ehrgeizigeneuropäischen Agenda zu Energiepolitik und Klimaschutz usw. – zu meinemtäglichen Brot. Umso mehr freue ich mich, wenn ich über die tagesaktuellenVerpflichtungen hinaus die Gelegenheit erhalte, einmal im wissenschaftlichen Rahmen,und dazu noch in diesem sehr festlichen Rahmen, zu sprechen.Lieber Herr Prof. Pernice, die europäische Verfassungsdiskussion haben Sie mitIhren wegweisenden, oftmals zugespitzten und zeitnahen Beiträgen wesentlich belebtund beeinflusst. Zugleich haben Sie es aber auch vermocht, mit Ihren Beiträgen,die Distanz zwischen Wissenschaft und Politik zu überbrücken. Sie konnten sowichtige Impulse aus der Wissenschaft in den politischen Raum geben, die ich immerals sehr hilfreich und weiterführend empfand. Herzlichen Dank für Ihre Einladung!Vergangene Woche haben sich die Staats- und Regierungschefs auf den neuen<strong>EU</strong>-Reformvertrag geeinigt. Die Einigung wurde auf politischer Ebene allseits begrüßt.Auch das Europäische Parlament hat den Vertrag mit vielen Vorschusslorbeerenbedacht. Doch es haben sich auch schon kritische Stimmen geäußert: „Im Vergleichzu früheren Integrationsschritten ist der Reformvertrag die Aufregung nicht* Der Verfasser war von 2005-2008 beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaftund Technologie.25


wert, die er verursacht hat. Vorsichtiges institutionelles Lifting.“ – So ein Zeitungskommentarder Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 17.10.07!In einer aktuellen Umfrage hat eine deutliche Mehrheit der Bürgerinnen und Bürgerin den größten europäischen Staaten den Vorschlag des französischen Staatspräsidentenzur Einrichtung eines „Rats der Weisen“ unterstützt (aktuelle UmfrageBertelsmannstiftung, wonach zwei von drei Befragten diesen Vorschlag von PräsidentSarkozy unterstützen – 67% in Frankreich, 65% in Deutschland, 47% in Großbritannien).Dieser Rat soll aus angesehenen Persönlichkeiten bestehen und bis zumJahr 2009 Vorschläge für die Weiterentwicklung Europas vorlegen.Hier scheint ein zwiespältiges Bild zu entstehen: Einerseits wird auf politischerEbene das Ende der Verfassungsdiskussion beklatscht. Andererseits scheinen dieBürger der Ansicht zu sein, dass die <strong>EU</strong> noch an ihrem Zukunftskonzept arbeitenmuss. Der Reformvertrag ändert die Grundlagen der <strong>EU</strong>. Doch niemand interessiertsich dafür.Wie steht es also tatsächlich um die Verfasstheit Europas nach der Einigung aufden Reformvertrag? Ist der Traum von einer Verfassung ausgeträumt und müssenwir noch weiter über die Verfassung Europas nachdenken? Oder sind wir nicht docham Ziel der europäischen Reise angekommen, ist mit dem Reformvertrag ein vorläufigerSchlusspunkt gesetzt?II. Hauptteil1. Blick zurück – Warum wollten die Mitgliedstaaten eine Verfassung?Am 29. Oktober 2004 haben die 25 Staats- und Regierungschefs den Vertrag übereine Verfassung für Europa unterzeichnet. Diese Verfassung war das Ergebnis eineslangen Integrationsprozesses. Er war geprägt durch die kontinuierliche Vertiefungder europäischen Einheit und durch die sukzessiven Erweiterungen der Union.Zwei Ziele wurden mit dem Verfassungsprojekt verfolgt. Erstens ging es darum,die akuten Defizite der Gemeinschaft zu beseitigen, die sich insbesondere im Zugeder Erweiterung der Union ergaben und für die der Vertrag von Nizza keine geeignetenLösungen mehr zur Verfügung stellte. Die Struktur Europas war zunehmendkomplexer und für die europäischen Bürger nur noch schwer durchschaubar geworden.Der Verfassungsvertrag sollte daher Verbesserungen im Hinblick auf die Handlungsfähigkeitder <strong>EU</strong>, ihre Transparenz und ihre Bürgernähe bringen. Zweitens:Vollendung der Integration. Nicht zuletzt mit der Erweiterung der <strong>EU</strong> wurde zunehmenddie Frage gestellt, welche Richtung und welches Ziel die europäische Integrationansteuert. Hierauf sollte der Verfassungsvertrag eine Antwort geben. DerSchritt von der materiellen zur formellen Verfassung schien dabei nicht groß undnur konsequent zu sein, da der EuGH in seiner Rechtsprechung dem <strong>EU</strong>-Vertragbereits Verfassungscharakter beimaß.26


2. Blick in die Gegenwart – Was haben wir davon erreicht?a) HistorieNach dem Scheitern der Referenden in Frankreich und den Niederlanden schien die<strong>EU</strong> zunächst in eine tiefe Krise zu fallen. Es folgte dann eine Phase der verordnetenReflexion.Den Anstoß für die neue Dynamik in der Verfassungsfrage gab der EuropäischeRat im Juni 2006, der den Fahrplan für die weitere Debatte festlegte. Der deutschenPräsidentschaft fiel dann die Aufgabe zu, einen Bericht vorzulegen, der eine Bewertungdes Beratungsstands zum Verfassungsvertrag beinhalten sowie mögliche künftigeEntwicklungen aufzeigen sollte.Der Weg zur Fortführung des Verfassungsreformprozesses wurde mit der <strong>Berlin</strong>erErklärung vom 25. März 2007 anlässlich der Feier zum fünfzigjährigen Bestehender Römischen Verträge geebnet. Die Präsidenten der drei europäischen Institutionenverständigten sich darin auf das Ziel, „die Europäische Union bis zu den Wahlenzum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zustellen.“Auf dem Europäischen Rat im Juni konnten sich die Staats- und Regierungschefsschließlich auf ein konkretes Mandat für eine kurze Regierungskonferenz verständigen.Das Mandat zur Erarbeitung des Reformvertrags hatte drei wesentliche Elemente:• Erstens: Das Verfassungskonzept wird aufgegeben. Es gibt keinen einheitlichenText, der alle bestehenden Verträge aufhebt und durch eine einheitliche Verfassungersetzt. Stattdessen wird der Reformvertrag die bestehenden Verträge modifizieren.• Zweitens: Alle Elemente aus dem Verfassungsvertrag, die einen Verfassungscharakteraufweisen, wie etwa die Bezeichnung als Verfassung, Symbole, Hymne,die Einführung eines <strong>EU</strong>-Außenministers oder Europäischer Gesetze, entfallen.• Drittens: Auf der Grundlage des sehr präzisen Mandats wurden alle politischbedeutsamen Fragen für den Reformvertrag bereits geklärt, wie etwa die Verschiebungder doppelten Mehrheit auf 2014/2017, das opt-out für Grundrechtechartaetc.Die portugiesische Präsidentschaft konnte an diese Vorarbeiten anknüpfen undlegte zügig einen ersten Textentwurf vor, der in der Gruppe der Rechtsexperten inwesentlichen Teilen verhandelt wurde. So blieben für den informellen EuropäischenRat der vergangenen Woche nur einige wenige Fragen, die sich schnell klären ließen(wie die Verankerung der Ioannina-Erklärung, die Ausdehnung der Zahl der Generalanwälteam EuGH, davon ein ständiger Generalanwalt für Polen; ein zusätzlicherSitz im Europäischen Parlament für Italien und die Beteiligung des EuropäischenParlaments bei der Ernennung des Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik).27


) Analyse des ReformvertragsWas ist vom Verfassungsvertrag nach den Verhandlungen übrig geblieben? Konntedie Substanz des Verfassungsvertrags – so auch die Position der Bundesregierung inden Verhandlungen – erhalten bleiben oder haben wir nur einen weiteren, schlichtenÄnderungsvertrag bekommen? Eine erste Analyse des Reformvertrages zeigt, dasswesentliche Ziele, die mit dem Verfassungsvertrag verfolgt worden sind, mit demReformvertrag erreicht werden konnten.Unter dem Gesichtspunkt der Zukunftsfähigkeit der Union kann eine positive Bilanzgezogen werden.Die Handlungsfähigkeit der Union wird sich entscheidend verbessern: Der Anwendungsbereichder qualifizierten Mehrheit wird ausgeweitet. Für die Entscheidungendes Rates wird in Zukunft grundsätzlich die „doppelte Mehrheit“ der Mitgliedstaatenund der Bevölkerung gelten. Ein hauptamtlicher Präsident des EuropäischenRates wird die Kontinuität des Unionshandelns stärken. Es wird einen HohenVertreter für Außen- und Sicherheitspolitik geben, der die im Verfassungsvertragvorgesehenen Funktionen des <strong>EU</strong>-Außenministers in vollem Umfang erhält. Auf dieFrage des früheren amerikanischen Außenministers Henry Kissinger, „Who do I callif I want to call Europe?“ gibt es also endlich eine Antwort. Die Zahl der Kommissarewird ab 2014 auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten reduziert – d.h. von 27auf 18.Die Union wird transparenter: Es wird eine – gerade von Deutschland seit langemgeforderte – klare Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedstaatengeben. Ähnlich dem deutschen Grundgesetz wird zwischen drei Kompetenzkategorienunterschieden werden, der ausschließlichen, der geteilten sowie der koordinierendenbzw. unterstützenden Zuständigkeit der <strong>EU</strong>. Das Subsidiaritätsprinzipwird - wie im Verfassungsvertrag - erneut festgeschrieben. Neu eingeführt wird dieSubsidiaritätsrüge („Gelbe Karte“). Wenn die Hälfte der nationalen Parlamente derMitgliedstaaten der Ansicht ist, dass durch eine Kommissionsinitiative das Subsidiaritätsprinzipverletzt ist, muss die Kommission ihren Vorschlag nochmals überprüfen.Die Union wird bürgernäher: Die Grundrechtecharta wird Bestandteil des Primärrechts.Zwar wird der Text nicht im Vertrag selbst enthalten sein, doch wird siedurch einen Verweis rechtsverbindlich werden. Als demokratisches Element wirddas Bürgerbegehren aus dem Verfassungsvertrag in den Reformvertrag übernommen:Mindestens 1 Million <strong>EU</strong>-Bürger aus einer „erheblichen“ Anzahl von <strong>EU</strong>-Mitgliedstaaten können die Kommission auffordern, Vorschläge für Rechtsetzungsakteeinzubringen. Neben der bereits erwähnten Stärkung der nationalen Parlamentewerden die Befugnisse des Europäischen Parlaments weiter ausgebaut. Das Mitentscheidungsverfahrenwird zum Regelverfahren, Parlament und Rat sind insoweitgleichberechtigte Gesetzgeber.28


Auch unter dem Gesichtspunkt der Vollendung der Integration enthält der Reformvertragwichtige Weichenstellungen.Die Grundrechtecharta habe ich eben bereits erwähnt. So wichtig sie für die Bürgernäheder Union ist, so bedeutsam ist sie auch als Ausdruck eines weiteren Integrationsschrittesder Union.Die Europäische Union wird an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft treten.Sie ist deren Rechtsnachfolgerin. Damit erhält sie eine einheitliche Rechtspersönlichkeitund kann künftig schlagkräftiger auf der internationalen Ebene auftreten,z.B. beim Abschluss von internationalen Abkommen. Auch das ist ein wichtigerIntegrationsfortschritt.Auch die Ausweitung der Zuständigkeiten der Union führt zu einer Vertiefungder Integration. Der größte Fortschritt wurde im Bereich Justiz und Inneres erzielt.Hier wurden nahezu vollständig die Regelungen aus dem Verfassungsvertrag übernommen.Gerade in einem Bereich, der klassischerweise Ausdruck der nationalenSouveränität ist, markiert die Vergemeinschaftung einen wichtigen Schritt zur europäischenIntegration.c) BewertungWie sind diese Ergebnisse nun zu bewerten? Die Substanz des Verfassungsvertragskonnte weitgehend erhalten bleiben. Zugeständnisse, die nicht zuletzt den Verhandlungenauf politischer Ebene geschuldet sind, haben nicht dazu geführt, die zentralenElemente des Vertrags aufzuheben. Sicherlich wäre es schöner gewesen, einen einheitlichenVertrag zu erhalten, der in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen gilt. Dochgilt deshalb folgende Aussage, die nach dem Europäischen Rat im Juni getroffenwurde: „Sie beschlossen, dass das Dokument unlesbar sein sollte – wenn es unlesbarist, ist es keine Verfassung.“ (so der ehemalige italienische Ministerpräsident Amato)?Nein, das ist so nicht richtig: Nicht die Bezeichnung des Vertrags ist entscheidend,auch nicht seine Form, sondern das, was sich hinter dem Vertrag verbirgt.Und hier sind wir – entgegen schon wieder am Ergebnis geäußerten Zweifeln undMäkeleien – am Ziel der Reise angelangt. Der Reformvertrag setzt nach meiner ganzpersönlichen Auffassung den Schlussstrich unter die Debatte über die Finalität derIntegration.In einem Ihrer so vielen bedenkenswerten Papiere, lieber Herr Prof. Pernice, habenSie unter dem Titel „Zur Finalität Europas“ noch eingangs geschrieben, dass diesaloppe Antwort auf die Frage nach der Finalität Europas häufig lautet: „Der Wegist das Ziel“. Diese Frage können und müssen wir jetzt anders beantworten. Wirhaben mit dem Reformvertrag die Ziele erreicht, die wir uns im Zuge der Verfassungsdiskussiongesetzt hatten. Die alten Defizite der geltenden Verträge sind behoben.Zugleich wurden die konstitutiven Elemente für die Vollendung der Integrationgeschaffen.29


Hinter die Entwicklung der <strong>EU</strong> wird ein Punkt gesetzt, vielleicht ein deutlichesAusrufezeichen! Der große Wurf der europäischen Integration – hier nehme ichnoch einmal Bezug auf die <strong>Berlin</strong>er Erklärung, die die einzigartigen Erfolge sehrschön zusammengefasst hat – hat mit dem Reformvertrag seinen Abschluss gefunden.Alle weiteren Diskussionen über eine Verbesserung des Vertrages sind unter diesemBlickwinkel zu sehen. Der Reformvertrag bietet alle Möglichkeiten, auf dieFragen der Zukunft Antworten zu geben.3. Blick in die Zukunft – Was ist noch zu tun?a) VerfahrenEin kurzer Blick in die Zukunft des Reformvertrags. Am 13. Dezember werden dieStaats- und Regierungschefs in Lissabon zusammen kommen und das neue Vertragswerkunterzeichnen. Nach Maastricht, Amsterdam und Nizza bekommen wirdann den „Vertrag von Lissabon“.Anschließend muss der Vertrag in allen 27 <strong>EU</strong>-Mitgliedstaaten ratifiziert werden,damit er am 1. Januar 2009 und damit rechtzeitig zur Neuwahl des EuropäischenParlaments in Kraft treten kann. Frankreich hat bereits erklärt, dass es als ersterMitgliedstaat den Vertrag ratifizieren wolle. Auch die Bundesregierung wird dienotwendigen Schritte zügig einleiten. Ein Referendum wird es zwingend nur inIrland geben. Allerdings werden wir alle gefordert sein, die <strong>EU</strong>-Institutionen wie dieMitgliedstaaten, den neuen Vertrag der Bevölkerung zu kommunizieren und ihnnach dem Inkrafttreten mit Leben zu füllen.Andernfalls läuft die <strong>EU</strong> Gefahr, dass das Zerren um die Verankerung nationalerInteressen im Vordergrund stehen bleibt und die eigentlichen Erfolge in den Hintergrundrücken. Das könnte den Ratifizierungsprozess erschweren.b) Offene FragenEinige offene Fragen bleiben noch für die Zukunft. Diese werden Bestandteil derArbeit mit dem neuen Vertrag im <strong>EU</strong>-Alltag sein. Oder – um es salopp zu formulieren:der Arbeit in der real existierenden <strong>EU</strong>! Neue Fragen werden sich in der Arbeitmit dem Reformvertrag dazu gesellen.Unter dem Gesichtspunkt der Handlungsfähigkeit der Union ist es auf längereSicht erstrebenswert, die GASP stärker zu vergemeinschaften. Europa wird überkurz oder lang gefragt sein, seine Ambitionen in der Welt neu zu definieren. Mit30


einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik kann die <strong>EU</strong> zugleich aktiv Globalisierungspolitikbetreiben.Die Ratsarbeit ist reformbedürftig. Ministerräte mit 27 Delegationen, die zumTeil nur noch über Bildschirme miteinander kommunizieren, führen immer wenigerzu konstruktiven Diskussionen auf politischer Ebene. Hier müssen wir über eineeffizientere Organisation nachdenken.Ein interessanter Punkt in den kommenden Jahren wird die Gestaltung des Verhältnisseszwischen dem Präsidenten der Kommission, dem Präsidenten des EuropäischenRates und dem Hohen Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik sein.Ich nehme nicht an, dass die <strong>EU</strong> durch ein „dreiköpfiges Monster“ – so ein gehässigesZeitungszitat – vertreten sein wird. Einmal mehr wird aber entscheidend sein,dass die <strong>EU</strong> nach außen mit einer Stimme auftritt, um im globalen Konzert aktivmitwirken zu können.Die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, z.B. im Steuerrecht wird weiterhinein Thema bleiben. Ebenso die weitere Stärkung des Subsidiaritätsprinzips und dieVerstärkung der Bemühungen zur besseren Rechtsetzung. Denkbar wäre hier etwadie Schaffung eines europäischen Normenkontrollrats.Unter dem Gesichtspunkt der Bürgernähe wäre es wünschenswert, wenn die<strong>EU</strong>-Grundrechte in allen Mitgliedstaaten dieselbe Geltung beanspruchen könnten.Polen scheint nach der Neuwahl hier schon auf dem richtigen Weg zu sein.III. SchlussDer Reformvertrag hat den Schlussstein auf das europäische Haus gesetzt. Wir Europäerkönnen stolz auf das Erreichte sein.In der Zukunft wird es nur noch darum gehen, an diesem Haus zu arbeiten, eswohnlich einzurichten. Dazu – dessen bin ich mir sicher – wird die Arbeit IhresInstituts, lieber Herr Prof. Pernice, weiterhin maßgeblich beitragen.Europa kann sich jetzt mit neuer Kraft den Herausforderungen des 21. Jahrhundertsstellen, dem Klimaschutz, der Energiepolitik oder der Stärkung seiner Wettbewerbsfähigkeit.Der Reformvertrag hat uns dafür in die beste Verfassung gebracht.Mag sein, dass der Reformvertrag in seiner Erscheinungsform wenig attraktivgeworden ist, eher „Graubrot statt Canapés“ liefert. 1 Aber, lieber Herr Prof. Pernice,wenn Sie sich an das Ende eines jeden Seminars bei unserem verehrten Lehrer Prof.Häberle erinnern: Am Ende des Tages gab es immer ein nahrhaftes Schwarzbrot1 Heinig, JZ 2007, 905 ff.31


Teil II: Wissenschaftliches Kolloquium anlässlich des zehnjährigenJubiläums des Walter Hallstein-Instituts für EuropäischesVerfassungsrecht am 26.10.2007Einführung: Vom Verfassungs- zum ReformvertragSchlussfolgerungen zum ReformvertragPeter Tempel ∗I. EinleitungAuf dem informellen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs und der Außenministeram 18. und 19. Oktober 2007 in Lissabon wurde erfolgreich abgeschlossen,was unter deutscher Ratspräsidentschaft hart erarbeitet worden war: DieEinigung auf ein präzises und umfassendes Mandat für eine Regierungskonferenzauf der Tagung des Europäischen Rates vom 21. bis 23. Juni 2007 hatte das Tor zueiner tief greifenden und dringend benötigten Reform der Europäischen Union aufgestoßen.Durch die Einigung auf die Ausarbeitung eines neuen Reformvertrags wurde einmehrjähriger Prozess abgeschlossen, der von der Erklärung über die Zukunft derEuropäischen Union in Nizza im Jahr 2000 über die Erklärung von Laeken 2001 unddie Arbeit des Konvents zur Zukunft Europas in den Jahren 2002 und 2003 bis heutereicht.Der Europäische Rat hatte 2006 den deutschen Ratsvorsitz damit beauftragt, inder ersten Jahreshälfte 2007 einen Bericht vorzulegen, der den Stand der Beratungenüber den Verfassungsvertrag bewertet und mögliche künftige Entwicklungen aufzeigt.Nach ausgiebigen Konsultationen mit allen Mitgliedstaaten hat die Bundesregierungim Juni 2007 dann einen Mandatsentwurf vorgelegt, der schließlich vonallen Staats- und Regierungschefs nach schwierigen Verhandlungen angenommenwurde. Während ihrer Ratspräsidentschaft war die Bundesregierung dabei stets bestrebt,die wesentliche Substanz des Verfassungsvertrags zu erhalten.∗Der Verfasser ist Leiter der Europaabteilung des Auswärtigen Amts.33


II. Ablauf der Verhandlungen und ErgebnisseFür den schnellen Erfolg der Regierungskonferenz war entscheidend, dass sich alleMitgliedstaaten ausdrücklich zum Mandat bekannten und konstruktiv auf einenKonsens hinarbeiteten.So konnten auf dem informellen Gipfeltreffen in Lissabon Mitte Oktober bereitsam ersten Abend die letzten noch offenen Fragen geklärt werden und damit dieHandlungsfähigkeit der Europäischen Union unter Beweis gestellt werden. EinvernehmlicheLösungen wurden insbesondere für die bis zuletzt noch offenen Fragender Sitzverteilung im Europäischen Parlament, für bestimmte Modalitäten der Abstimmungim Rat mit qualifizierter Mehrheit (Stichwort „Ioannina“) sowie für dieZahl der Generalanwälte beim Europäischen Gerichtshof gefunden. Bulgarien wurdegestattet, für seine Sprachfassung die kyrillische Schreibweise „EBPO“ (ewro) zuverwenden anstelle der lateinischen Schreibweise „Euro“. Österreichische Bedenkenhinsichtlich eines unbeschränkten Hochschulzugangs konnten bereits im Vorfeld desGipfels in bilateralen Gesprächen zwischen der Kommission und der österreichischenBundesregierung gelöst werden.Im Rückblick auf die öffentlichen Diskussionen ist zu konstatieren, dass die Auseinandersetzungüber Detailfragen manchmal verdeckt hat, dass wesentliche Fortschrittedes Reformvertrags unumstritten waren und mit seinem Inkrafttreten Wirklichkeitwerden können.Deshalb muss sich auch unser Blick jetzt darauf richten, was der ReformvertragEuropa und seinen Bürgerinnen und Bürgern bringt: Er wird die Europäische Unioninsgesamt demokratischer, transparenter und effizienter machen:• Der Reformvertrag stärkt Demokratie und Grundrechtsschutz: Die Rolle desEuropäischen Parlaments wird ausgebaut und gestärkt, die nationalen Parlamentewerden direkt in die europäischen Gesetzgebungsprozesse eingebunden; mitder neuen Europäischen Bürgerinitiative erhalten die Unionsbürgerinnen und –bürger die Möglichkeit, die Kommission zur Vorlage von Rechtsetzungsvorschlägenaufzufordern; und schließlich wird die Grundrechte-Charta rechtsverbindlich.• Die Europäische Union wird durch den Reformvertrag transparenter: Sie erhälteine einheitliche Rechtspersönlichkeit (das Säulenmodell mit der bisherigen Unterscheidungzwischen <strong>EU</strong> und EG wird aufgegeben); es wird klarere Kompetenzabgrenzungenzwischen der Union und den Mitgliedstaaten geben. Darüberhinaus wird ein verstärkter Subsidiaritäts-Kontrollmechanismus eingeführt; undder Rat tagt künftig öffentlich, soweit es um neue Rechtsetzungsentwürfe geht.• Die Handlungsfähigkeit der Union wird durch tief greifende Reformen im institutionellenBereich gestärkt (vereinfachte Verfahren, Ausweitung des Anwendungsbereichsder qualifizierten Mehrheit, „doppelte Mehrheit“, Verkleinerungder Kommission, hauptamtlicher Präsident des Europäischen Rates).34


• Die Europäische Union wird durch den „Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik“mit einer Stimme nach außen sprechen. Unterstützt wird derHohe Vertreter dabei von einem Europäischen Auswärtigen Dienst.• Die Fortschritte in den Sachpolitiken betreffen neben der Außen- und Sicherheitspolitikvor allem die Justiz- und Innenpolitik einschließlich der Bekämpfungvon Terrorismus und Kriminalität, wo die Integrationsfortschritte des Verfassungsvertragsweitgehend erhalten werden konnten. Aber auch bei der Klimaschutz-und Energiepolitik sowie im Bereich Soziales gibt esbemerkenswerte Fortschritte.III. AusblickNoch vor zwei Jahren hätte kaum jemand für möglich gehalten, dass wir jetzt bereitseine Einigung auf einen Reformvertrag haben, der schon zum 1.1.2009 in Krafttreten soll. Zwar sind wir noch nicht am Ziel angekommen, aber wir sind dem Zielso nah wie noch nie zuvor. Jetzt wird es darauf ankommen, dass alle Mitgliedstaatenden Vertrag von Lissabon so rasch wie möglich ratifizieren.Die Bundesregierung beabsichtigt, das Ratifikationsgesetz unmittelbar nach derUnterzeichnung des Vertrags von Lissabon ins Kabinett zu bringen und dann demBundestag und dem Bundesrat zuzuleiten. Wir werden uns um eine Zustimmung desBundestags und des Bundesrates vor der parlamentarischen Sommerpause 2008bemühen.Alle Mitgliedstaaten haben an dem gemeinsamen Erfolg mitgearbeitet. Jetzt müssenwir genau so hart daran weiter arbeiten, dass der Vertrag rechtzeitig in allenMitgliedstaaten ratifiziert wird.35


Vermittlung, Steuerung und demokratische Verantwortung: Die Sollbruchstellendes ReformvertragesDr. Andreas Maurer ∗Im ersten Halbjahr 2007 übernahm Deutschland den <strong>EU</strong>-Ratsvorsitz in einer schwierigenPhase der europäischen Integrationsgeschichte. Nach den gescheiterten Referendenüber den europäischen Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE), nachder langen und ergebnislosen Phase der (Selbst-)Reflexion der europäischen Elitenüber die zukünftige Gestaltung der <strong>EU</strong> und nach der Kritik am ‚Elitenprojekt Europa’,musste der deutsche Vorsitz davon ausgehen, dass die Vorbehalte gegen die mitdem Verfassungsvertrag geplanten Integrationsschritte, gegen die europäischenOrgane und gegen ihre Politiken erheblich zugenommen haben. Gleichzeitig aberwaren aus Sicht vieler Mitgliedstaaten die Erwartungen an die Präsidentschaft hochund insbesondere durch die Wiederbelebung der Verhandlungen über den VVE dieHandlungsfähigkeit der <strong>EU</strong> unter Beweis zu stellen.I. Wie bewerten wir Ratspräsidentschaften?Eine Ratspräsidentschaft gilt gemeinhin als erfolgreich, wenn es ihr gelingt, dieInteressen nationaler, supranationaler und anderer an der Gestaltung der Europapolitikbeteiligter Akteure so miteinander in Einklang zu bringen, dass substantielleFortschritte bei der Umsetzung der europäischen Politikagenda erreicht und aucheigene Akzente gesetzt werden. In diesem Beitrag geht es darum, die Ziele der deutschenRatspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 und deren Realisierung einandergegenüberzustellen und das Ergebnis unter Berücksichtigung der nationalen undeuropäischen Handlungsrestriktionen und –möglichkeiten, die <strong>EU</strong>-Ratspräsidentschaftenimmer konditionieren, zu erklären und zu bewerten. Diese vielen Bewertungsbedingungensollen kurz begründet werden:Auch wenn Ratspräsidentschaften 1 zu den zentralen Akteuren im politischen Entscheidungsprozessder <strong>EU</strong> gehören, unterliegen sie doch einer Reihe von generellen∗ Der Verfasser leitet die Forschungsgruppe <strong>EU</strong>-Integration am Deutschen Institut für InternationalePolitik und Sicherheit der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).1 Vgl. grundlegend zu diesem Thema Hayes-Renshaw/Wallace, Taking Turns at the Wheel:The Presidency, in: dies. (Hrsg.), The Council of Ministers, Chapter 5, 2. Aufl., 2006, S. 133ff.; Elgström (Hrsg.), European Union Council Presidencies. A Comparative Perspective,36


strukturellen, materiellen und prozeduralen Beschränkungen, die in der Öffentlichkeitkaum wahrgenommen werden.• Erstens ist jede Ratspräsidentschaft zur Umsetzung der laufenden politischenAgenda der <strong>EU</strong> verpflichtet. Die in Arbeits- und Rechtsetzungsprogrammen der<strong>EU</strong>-Organe festgeschriebenen Vorgaben schränken den Freiraum des Vorsitzes,eigene Akzente zu setzen, beträchtlich ein. Außerdem nehmen nicht vorhersehbareexterne Ereignisse (Konflikte, Kriege, Anschläge, Naturkatastrophen usw.)einen großen Teil der Kapazität des Vorsitzes auf Kosten der ursprünglichenPlanung in Anspruch.• Zweitens sind Ratspräsidentschaften auf einen Zeitraum von sechs Monatenbefristet. Diese Spanne reicht meist nur aus, um entweder neue Projekte anzustoßen,laufende Verhandlungen voranzutreiben oder aber Projekte abzuschließen,die vorangegangene Präsidentschaften und andere <strong>EU</strong>-Akteure (insbesonderedas Europäische Parlament) bereits maßgeblich befördert haben.• Drittens sind Ratspräsidentschaften nur ein Akteur unter vielen im europäischenPolitikgestaltungsprozess. Sie agieren neben und mit der Kommission, dem EuropäischenParlament (EP) und anderen nationalen Delegationen im Rat, die gegebenenfallseigene ‚vitale’ Interessen in einzelnen Dossiers geltend machen.• Und viertens unterliegen Präsidentschaften innenpolitischen Beschränkungen.Sie müssen in Planung und Durchführung ihres Vorsitzes laufend Ideen, Kritikund Begehrlichkeiten des Parlaments, der Fraktionen und Parteien, der subnationalenGebietskörperschaften, aber auch der breiteren Öffentlichkeit berücksichtigen.Zudem sind interministerielle Koordinierungsprozesse für die Behandlungressortübergreifender Dossiers auf die Funktionen des <strong>EU</strong>-Vorsitzesauszurichten, wobei das Konfliktpotential zwischen den Ministerien frühzeitigaufgefangen werden muss.In diesen Handlungsbeschränkungen des Ratsvorsitzes liegt das Kernproblem beider Bewertung seiner Arbeit: Welche Erfolge und Misserfolge lassen sich dem Wirkender Präsidentschaft zuschreiben? Ergebnisse, die als Errungenschaften oderFehlschläge eines <strong>EU</strong>-Vorsitzes gefeiert bzw. kritisiert werden, haben vielerlei Ursachen:Zum einen können die Erfolgs- bzw. Misserfolgsfaktoren ‘hausgemacht’,d.h. durch das Verhalten der Präsidentschaft bzw. der Regierung, die den <strong>EU</strong>-Vorsitz ausübt, selbst verursacht sein. Zum anderen können externe Handlungsbeschränkungenaußerhalb der Reichweite der Präsidentschaft dazu führen, dass Verhandlungenscheitern oder abgeschlossen werden. Im ersten Fall geht es um binneninduzierteHandlungsbedingungen (organisatorische, interministerielle Koordinierungs-und diplomatische Fähigkeiten), im zweiten Fall um außeninduzierteVariablen (Vorarbeiten der letzten Präsidentschaft, Abschluss der Dossiers im EP,auf die <strong>EU</strong> einwirkende Verhandlungen zwischen ‘mächtigen’ Drittstaaten usw.).London 2003; Tallberg, Leadership and Negotiation in the European Union, 2006; vgl. auchdie Verweise im SWP-Dossier ‘<strong>EU</strong>-Ratspräsidentschaft Deutschlands 2007’ unter:http://www.swp-berlin.org/de/brennpunkte/brennpunkte.php.37


Ein eindimensionaler Abgleich von Präsidentschaftsprogrammen und deren Ergebnissenoder das bloße Aufzählen von Projekten, die unter einer Ratspräsidentschaftvollendet wurden, 2 sagen somit wenig aus über die Leistungsfähigkeit einesVorsitzes. Auch rein inhaltlich-normative Analysen der Substanz von politischenBeschlüssen, die während der Amtszeit einer Präsidentschaft erreicht wurden, greifenzu kurz. Denn angesichts von 27 Mitgliedstaaten, einer Vielzahl von Entscheidungsträgernund der Kompetenzen des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungs-und Haushaltsrecht der <strong>EU</strong> hat der Ratsvorsitz nur begrenzt Einfluss auf dieSubstanz der unter seiner Regie erzielten Ergebnisse.Für die folgende Analyse greife ich daher auf eine Methode zurück, 3 mit der dieeingangs genannten Probleme bei der Untersuchung der Arbeit von Ratspräsidentschaftenüberwunden werden. 4 Ich nehme dazu im Folgenden an, dass die Umfeldbedingungenverschiedener Verhandlungssituationen auch unterschiedliche Anforderungenan den Ratsvorsitz in seinen Funktionen stellen.Die zentrale Frage lautet damit: Inwieweit gelang es der deutschen Ratspräsidentschaft,ihre Funktion(en) durch Wahrnehmung derjenigen Aufgaben zu erfüllen, dieihr unterschiedliche Verhandlungssituationen für ein erfolgreiches Steuern, Abschließen,Voranbringen oder Initiieren der Dossiers abforderten?II. Rahmenbedingungen der <strong>EU</strong>-Präsidentschaft<strong>EU</strong>-Präsidentschaften haben kein Zepter in der Hand. Sie füllen ein symbolischesMachtdispositiv im System des Ministerrates der <strong>EU</strong> auf Zeit und in den engenGrenzen, die ihnen die Verträge der EG und <strong>EU</strong> gestatten, aus. Sie erfüllen somitvertraglich vorgesehene Pflichten und Funktionen (Organisation und Koordination;Vermittlung; Impulsgebung und Steuerung; Repräsentation 5 ), die sich aus den laufendenArbeiten aller <strong>EU</strong>-Organe sowie spezifischen Sprecher- und Vertretungsaufgabenim außen- und sicherheitspolitischen Bereich ableiten. Jede Präsidentschaft istmit einem umfassenden, ‚Pflichtprogramm’ konfrontiert, das die Fortführung im2 Vgl. z.B. Centrum für angewandte Politikforschung (CAP), Bilanz der deutschen <strong>EU</strong>-Ratspräsidentschaft. Analyse und Bewertung, 2007 (CAP Analyse 6/2007); Kurpas/Riecke, IsEurope Back on Track? Impetus from the German Presidency, Centre for European PolicyStudies (CEPS), 2007 (CEPS Working Document Nr. 273).3 Vgl. Schout/Vanhoonacker, JCMS 44 (2006), 1051 ff.4 Vgl. zur Abgrenzung dieses konzeptuellen Rahmens zu der Arbeit von Schout und Vanhoonackerausführlich Kietz, Funktionen, Handlungsbedingungen und Stellschraubender Präsidentschaft im System des <strong>EU</strong>-Ministerrats, in: ders./Perthes (Hrsg.), Handlungsspielräumeeiner <strong>EU</strong>-Ratspräsidentschaft. Eine Funktionsanalyse des deutschen Vorsitzes im erstenHalbjahr 2007, SWP-Studie, Nr. S 24/07.5 Vgl. zu den Funktionen der Ratspräsidentschaft Maurer, Österreichische Zeitschrift fürPolitikwissenschaft, 35. Jg., Nr. 2/2007, 139 ff.38


Entscheidungsprozess befindlicher Gesetzgebungsvorhaben sowie das Bearbeitenvon ‚Terminarbeiten’ umfasst. Dies galt auch für die deutsche Ratspräsidentschaft inder ersten Jahreshälfte 2007. Zudem waren außeninduzierte politische Prozesse undArbeitszyklen internationaler Organisationen und Regime wie dieG-8-Präsidentschaft Deutschlands, die Verhandlungen über den Kosovo-Status etc.zu berücksichtigen.Am Beispiel der Verhandlungen über die Revision des Verfassungsvertrages sollnun gezeigt werden, unter welchen Bedingungen die Funktionen der Präsidentschaftgenutzt wurden und welche Schlüsse hieraus für künftige Ratspräsidentschaftengezogen werden können. Mit Blick auf die Neuerungen des Reformvertrages solldaran anschließend dargelegt werden, welche Untiefen das System des Rates inZukunft zu umschiffen hat.III. Der Verfassungsvertrag im Kontext der deutschen RatspräsidentschaftFür die Vorgespräche und anschließenden Verhandlungen zur Revision des im Oktober2004 unterzeichneten, aber im Mai und Juni 2005 in zwei Referenden abgelehntenVertrages über eine Verfassung für Europa (VVE) waren in erster LinieImpulsgeber-, Koordinations- und Vermittlungsfunktionen des Vorsitzes zu aktivieren.Analytisch war das Dossier der Kategorie relativ stark „vorbehandelter“ Themenzuzurechnen, bei denen die Organisationsfähigkeit des Vorsitzes zur Ersterkundungnationaler Positionen weniger stark gefragt ist. Es handelte sich gleichwohl um einenSchwerpunkt, bei dem nur die Eckdaten nationaler Positionen zu Beginn derVorbereitungen der Ratspräsidentschaft weitestgehend bekannt waren. Der Vorsitzverfügte in den allermeisten Fällen nicht über einen sicheren Einblick in die Untiefennationaler Rückfallpositionen. Gefragt war damit die Vermittlungsfunktion aufunsicherem Terrain. Die Präsidentschaft konnte sich hierbei nicht auf die Existenzweiterer Vermittler verlassen. Lediglich in zugespitzten und daher auch erst späteingegrenzten Einzelfragen wie dem Streit mit Polen über die Frage der Stimmengewichtungim Ministerrat war die Präsidentschaft in der Lage, einen Kreis ausFrankreich, Großbritannien, Spanien und Luxemburg mit dem Premierminister Litauensals „Verbindung“ zwischen den Lagern zu etablieren, der die Gespräche mitdem polnischen Staatspräsidenten aufnahm und in Rücksprache mit der deutschenDelegation verhandelte.Das Dossier „VVE“ gehörte zu den politisch sensibelsten Themen der Ratspräsidentschaft.Wesentlich erleichtert wurde das Vorhaben der Präsidentschaft durchfünf Faktoren:Erstens die Vorarbeiten der österreichischen Ratspräsidentschaft, die im erstenHalbjahr 2006 die Debatte um den VVE energisch vorangetrieben hatte und in den39


Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Juni 2006 ein klares Mandat anden deutschen Vorsitz formulierte. 6Zweitens die Vorarbeiten der finnischen Ratspräsidentschaft, die im zweitenHalbjahr 2006 die Grenzen der pragmatischen Fortentwicklung des europäischenPrimärrechts auf der Grundlage der bestehenden Verträge auslotete. Zwar testeteFinnland diese Reformalternative „nur“ für den Bereich der strafrechtlichen undpolizeilichen Zusammenarbeit. Gleichwohl machte aber das Scheitern dieser Varianteallen Beteiligten klar, dass der Ausweg aus der Reformkrise nicht darin bestehenkonnte, mit kleineren, funktional eng begrenzten Schritten voranzuschreiten.Drittens die Madrider Zusammenkunft und Erklärung der „Freunde des Verfassungsvertrages“für ein „besseres Europa“ vom 26. Januar 2007. Auf Initiative derRegierungen Spaniens und Luxemburgs kamen hier diejenigen immerhin 21 Staatenzusammen, die den VVE bereits ratifiziert hatten bzw. dem VVE grundsätzlichpositiv gegenüberstanden (Irland, Dänemark, Schweden und Portugal) und mit derTeilnahme an der Konferenz ihre Bereitschaft zur Ratifikation dieses Textes bekundeten.7 Die Konferenz barg zwar das Risiko der Antagonisierung vermeintlicher„Befürworter“ und „Gegner“ des VVE. Aber genau diese beschworene Gefahr –seitens Frankreichs, der Niederlande und Großbritanniens – erleichterte es der Präsidentschaft,ihre Autorität als Vermittlerin zwischen den Fronten zu festigen.Zugleich veränderte sich mit dieser Zusammenkunft die Diskursmacht der Akteure:Denn waren bis dahin vor allem die „Neinsager“ und Kritiker des VVE in einemvirtuellen Wettbewerb darum hervorgetreten, wer den markigsten Begriff für denAbgesang auf das unliebsame Vertragswerk formuliert, stellte nun eine übergroßeMehrheit der Regierungen klar, dass sie – mit der deutschen Bundesregierung - ander Substanz dieses Vertrages festhielt und nur auf dieser Grundlage bereit war, inVerhandlungen über das weitere Vorgehen zu treten. Mit dieser Ansage mussten diekritischen Staaten nun auch mit konkreten Vorschlägen zur Frage aufwarten, wie sieeine Alternative zum VVE konsensfähig machen wollten.Viertens stellten die neue niederländische Regierung in ihrem Koalitionsvertragund der französische Präsident Sarkozy (bereits als Kandidat) frühzeitig klar, anwelchen Stellen des VVE sie Nachbesserungsbedarf erkennen und wie sie sich einenformal zwar anderen, sachlich aber stark am VVE orientierten „konsolidierten“ bzw.Reformvertrag vorstellten. Hiermit wurde nicht nur für die Präsidentschaft, sondernvor allem auch für Großbritannien, Tschechien und Polen deutlich, dass der „Rückbau“am VVE selbst aus Sicht der beiden „Nein-Staaten“ an Grenzen stieß und diese6 Vgl. Punkt 47-48 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes zum Europäischen Rat vom15./16.6.2006, Dok. Nr. 10633/1/06, 17.7.2006.7 Vgl. „Die <strong>EU</strong>-Verfassungs-Freunde sammeln sich. Treffen der Befürworter des Entwurfs inMadrid“, Neue Zürcher Zeitung, 27.1.2007; sowie die Erklärung: Ministertreffen der Freundedes Verfassungsvertrags: „Für ein besseres Europa“, Madrid, 26.1.2007.40


Regierungen an den im Konvent und der anschließenden Regierungskonferenz vereinbartenReformen weitestgehend festhalten wollten.Fünftens erreichte die Bundesregierung im Rahmen der „<strong>Berlin</strong>er Erklärung“ einewichtige Vorbedingung für den Erfolg des Gesamtvorhabens: Erklärtes Ziel derRegierung war es, die Stimmung in Europa für einen möglichen Verfassungskompromisspositiv zu beeinflussen. Auch wenn in der Erklärung der VVE selbst nichterwähnt wurde, konnte die Bundeskanzlerin doch durchsetzen, dass sich alle StaatsundRegierungschefs sowie die Präsidenten der <strong>EU</strong>-Kommission und des EuropäischenParlaments darauf verständigten, „die Europäische Union bis zu den Wahlenzum Europäischen Parlament 2009 auf eine erneuerte gemeinsame Grundlage zustellen.“ Durch diesen Schlusssatz war die Präsidentschaft berufen, den weiterenReformprozess zum VVE zeitlich zu begrenzen. Hieraus leitete die Präsidentschaftzwei operative Maßgaben ab: Erstens musste das angestrebte Mandat zum Juni 2007konkret genug ausfallen, um die Regierungskonferenz innerhalb von maximal sechsMonaten abschließen zu können. Daher war – zweitens – auch nur ein enger, vertrauterund von den Staats- und Regierungschef direkt beauftragter Kreis an derAusarbeitung dieses Mandats zu beteiligen.IV. Handlungsbeschränkungen an der Schnittstelle zwischen Impulsgeber- undVermittlungsfunktionDie Rolle des vermittelnden, aufgrund vertragsrechtlicher und geschäftsordnungsmäßigniedergelegter Vorgaben zur Neutralität aufgerufenen Vorsitzes geriet vonAnfang an mit der Rolle des Impulsgebers und nationalen Interessenvertreters in einSpannungsverhältnis. Innenpolitisch stand die Bundesregierung allerdings im Vergleichzu ähnlichen Situationen (Vertragsverhandlungen von Maastricht, Amsterdamund Nizza) weniger stark unter Druck. Einzig die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,die Verfassungsbeschwerde des CSU-Bundestagsabgeordneten PeterGauweiler gegen das Zustimmungsgesetz zum VVE bis auf weiteres nicht zu verhandeln,engte den Handlungsspielraum des Vorsitzes ein. Denn durch die KarlsruherEntscheidung zur Nichtentscheidung konnte sich die Bundesrepublik fortannicht mehr zu den Staaten zählen, die ohne jede Einschränkung hinter dem VVEstanden. Dies stärkte mittelbar Länder wie Großbritannien, Polen und die TschechischeRepublik, die sich seit den gescheiterten Referenden bequem zurücklehnten.Das wahrscheinliche Szenario war damit, dass unter deutschem Vorsitz der Weg fürVerhandlungen über einen Änderungsvertrag zu den bestehenden EG- und<strong>EU</strong>-Verträgen vorgezeichnet werden musste, dessen Gehalt in den HauptstädtenEuropas allerdings sehr unterschiedlich definiert wurde. Die Bundesregierung enthieltsich jedoch jeder Stellungnahme zum Karlsruher Querschuss. 8 Insofern konnte8 Maurer/Schwarzer, Querschuss aus Karlsruhe, in: Financial Times Deutschland, 3.11.2006,S. 30.41


sie zwar in der Sache beschädigt, aber argumentativ mit einem relativ weiten, fürden weiteren Verlauf belastbaren Ideenkatalog in die Verhandlungen treten.V. Die Verhandlungen und die PräsidentschaftsstrategieAngesichts des ins Stocken geratenen Ratifizierungsprozesses des Verfassungsvertragsbeauftragte der Europäische Rat am 15./16. Juni 2006 die deutsche Präsidentschaft,in der ersten Jahreshälfte 2007 mit den <strong>EU</strong>-Mitgliedstaaten ausführlicheKonsultationen zu führen und anschließend dem Europäischen Rat einen Berichtvorzulegen. Der Bericht sollte mögliche künftige Entwicklungen aufzeigen und alsGrundlage für Beschlüsse dienen, wie der Reformprozess der <strong>EU</strong> fortgesetzt werdensollte. Hieraus leitete sich für den deutschen Vorsitz eine besondere ImpulsgeberundVermittlungsfunktion ab, die des „Wegbereiters“ und „Erwartungsmanagers“.Die intern bereits Ende 2005 abgestimmte und vor Beginn der Präsidentschaft alleneuropäischen Partnern mehrfach verdeutlichte „rote Linie“ der Bundesregierungbestand darin, eine Vertragsrevision zu vereinbaren, deren Ergebnis sehr eng ambereits in 18 Staaten ratifizierten VVE orientiert werden sollte. Andernfalls hätte diePräsidentschaft die Unterstützung des Kreises der „Freunde des VVE“ aufs Spielgesetzt. Auch wenn der Vorsitz zur Neutralität verpflichtet war, ergriffen deutscheRegierungsvertreter von Anfang an Partei für diese Linie: Hierzu gehörte, dass dieBundesrepublik offen zum Verfassungsvertrag stand und diesen in „seiner politischenSubstanz erhalten“ 9 wollte. Im Hinblick auf die <strong>EU</strong>-Mitgliedstaaten wurdesodann eine nie explizierte, aber für den weiteren Gang der Verhandlungen wichtigeRangordnung herausgearbeitet: An erster Stelle galt es, „die Einschätzung [der]französischen und niederländischen Partner zur Kenntnis zu nehmen, wonach dervorliegende Vertrag nicht noch einmal in dieser Form vorgelegt werden kann.“ 10 Anzweiter Stelle waren diejenigen Staaten zu berücksichtigen, die den VVE bis Anfang2007 noch nicht zur Ratifikation vorgelegt hatten und dies auch während der deutschenRatspräsidentschaft nicht beabsichtigten. Erst an dritter Stelle kamen diejenigenzum Zuge, die den Vertrag ratifiziert hatten und sich hinter die Ausgangspositionder Bundesregierung stellten. 11 Diese Hierarchie kam klar zum Ausdruck, indemdie Bundesregierung die Losung ausgab, dass sich zwar „alle bewegen [müssen],aber im Lichte dieser Konstellation vielleicht einige mehr als andere.“ 129 Vgl. Rede von Bundesaußenminister Steinmeier in der Haushaltsdebatte des DeutschenBundestags, 6.9.2006.10 Vgl. „Ausblick auf die deutsche Präsidentschaft: Stand der Vorbereitung in der Bundesregierung“,Rede von Staatssekretär Silberberg für die Veranstaltungsreihe „<strong>EU</strong>-Countdown: In100 Tagen zur <strong>EU</strong>-Präsidentschaft“, 4.10.2006.11 Vgl. ebenda.12 Vgl. ebenda.42


Die Rolle als Erwartungsmanager hatte somit eine für die Bewertung der Präsidentschaftwichtige Folgewirkung: Aufgrund der eigenen Haltung zum Verfassungsprozesszog sich die Bundesregierung auf Verhandlungsarenen zurück, dienicht öffentlich und nur unter Beteiligung eines sehr kleinen Kreises tagten. DerRatsvorsitz griff auf für Regierungskonferenzen eingeübte Verfahren zurück, umInformationen über den Verhandlungsspielraum der einzelnen Regierungen zu erlangenund diese im Aufstieg zum Gipfel des Europäischen Rates im Juni 2007 imHinblick auf ihre Kerngehalte und hinter den Positionen liegende Interessen einzugrenzen,diese einander anzunähern und schließlich konsensfähig aufzubereiten. ImUnterschied zu vorangegangen Regierungskonferenzen, die in aller Regel von politischenBeamten und Staatssekretären der Außenministerien vorbereitet wurden,schlug Bundeskanzlerin Merkel jedoch eine direkte, streng vertrauliche Konsultationzwischen den Regierungszentralen in einem Schreiben am 2. Januar 2007 an dieStaats- und Regierungschefs vor. Die Liste der daraufhin benannten, jeweils maximalzwei „Focal Points“ machte deutlich, dass die unter normalen Umständen mitarbeitendeArbeitsebene der Außenministerien und ihrer Akteure in den StändigenVertretungen bei der <strong>EU</strong> weitgehend außen vor blieb. Die Verhandlungen über denReformvertrag sollten in erster Linie „zwischen den Hauptstädten“, unter gleichberechtigterMitwirkung der Präsidenten des Europäischen Parlaments und der Kommissiongeführt werden. Auf Seiten der anderen Verhandlungspartner wurde dererweiterte „Bannkreis“ der in die Beratungen der Focal Points einbezogenen Akteureebenfalls eng gesteckt.Die Termine für die bilateralen Treffen mit den Focal Points wurden für den Zeitraumzwischen Ende April und Anfang Mai 2007 vereinbart. Die Basis hierfür bildetenzwölf Fragen der deutschen Focal Points. Die Chefunterhändler der Präsidentschaftlegten im April 2007 einen Fragebogen für die folgenden Sitzungen vor, dersich an den bis dahin ermittelten Änderungswünschen am VVE orientierte.Die Fragen wurden unter den Focal Points im Vorstadium zum Europäischen Ratmit dem maximalen Ziel der Erstellung eines Mandats für eine Regierungskonferenz,die vor Ende 2007 ihren Abschluss finden sollte, bilateral und auf einer gemeinsamenSitzung beraten. Parallel hierzu führten die Bundeskanzlerin selbst sowie– in enger Absprache mit ihr – der französische Staatspräsident sowie dieStaatschefs Spaniens, Luxemburgs und Italiens intensive und direkte Einzelgesprächemit ihren Amtskollegen aus Großbritannien, Tschechien und Polen, um aufallerhöchster Ebene vermeintliche Maximal-, d.h. öffentlichkeitswirksam inszenierte„echte“ Minimalpositionen bzw. „red lines“ und die dazwischen liegenden Rückfallpositionender Vertragsreform auszuloten.Zwölf Fragen der Chefunterhändler (Focal Points) der Ratspräsidentschaft zurRevision des VVE: 1313 Zur Positionierung der Akteure im Verlauf der Verhandlungen zum Europäischen Rat im Juni2007 vgl. Ludlow, Angela Merkel’s Mandate. The June European Council and Treaty Reform,Juli 2007 (Eurocomment Briefing Note, Vol. 5, Nr. 3–4).43


Fragen zur Revision des VVEBeibehaltung der gegenwärtigen Vertragsstruktur(kein allumfassender Vertrag) beiEinführung einer Rechtspersönlichkeit fürdie <strong>EU</strong>Beibehaltung des ersten Teils des VVE alsKernstück eines ReformvertragsAufgabe der „Verfassungssprache“ (z.B.staatsanaloger Begrifflichkeiten wie „Außenminister“oder „Gesetz“)Aufgabe der VVE-Artikel zu den Symbolender <strong>EU</strong>Aufgabe des VVE-Artikels zum Vorrangdes Gemeinschaftsrechts vor nationalemRechtErsetzung von Teil II des VVE (Grundrechtecharta)durch einen Verweis auf diese undihre RechtsverbindlichkeitBeibehaltung des institutionellen Reformpaketsdes VVEBeibehaltung anderer VVE-Reformen alsKernstück neuer VerträgeHinzufügung neuer Vertragselemente (unddiesbezüglicher Handlungsermächtigungen)in den Feldern Energie/Klima und illegaleEinwanderungBekräftigung der Kopenhagener Beitrittskriterienim Vertrag (durch Verweis oderNennung)Bekräftigung oder noch stärkere Betonungder sozialen Dimension der <strong>EU</strong> im VertragProtagonisten unter den Mitgliedstaaten, aufdie diese Fragen zurückgehen*F (Konsolidierter „Minivertrag“ zur Änderungder bestehenden Verträge), GB (technischeVertragsänderungen machen ein Referendumunnötig), NL und CZ (Vermeidungjedweder „Verfassungsanalogie“)F (siehe oben) mit Unterstützung aus I. Inden Verhandlungen rückte F von Verweisenauf Teil I des VVE jedoch explizit abNL, GB (siehe oben) mit passiver Unterstützungaus CZ und PLNL, GB, CZ mit breiter Unterstützung fastaller Delegationen (außer B, LUX)NL, GB mit Unterstützung aus CZ (undpassiver Unterstützung deutscher Akteure)GB mit Unterstützung aus PL, wobei sichGB selbst gegen die Rechtsverbindlichkeiteines entsprechenden Verweises aussprach„Freunde des VVE“ mit Unterstützung ausDK, S, P und IRL (erklärte Gegnerschaft nuraus PL mit passiver Unterstützung aus CZ)Offene Frage, die im Verlauf der Verhandlungenzur Infragestellung anderer, im Fragebogennicht genannter Bereiche führte;dies war der „Türöffner“ für NL und GB, dennationalen Parlamenten im Rahmen desVVE-Subsidiaritätsprotokolls größere EinspruchskompetenzeneinzuräumenGB, PL, EST, LIT, LET, HU, A (Energie/Klima)und D, NL (illegale Einwanderung)F, NL mit Unterstützung aus A, D und derEVP-ED-Fraktion des Europäischen ParlamentsF, D, B und SPE-Fraktion des EuropäischenParlaments (nach der Präsidentschaftswahl44


Hinzufügung spezifischer Ausnahmeregeln(Opting-out) oder/und spezieller Regeln zurverstärkten Zusammenarbeit in besonderenBereichenwurde dieser Punkt von F indirekt verworfen)Für Ausnahmen: GB, PLFür verstärkte Zusammenarbeit: B, I, LUX,DAm 6. Juni 2007 legten die Focal Points einen Bericht der Präsidentschaft überden Stand des Reformprozesses vor, der einige wichtige Vorabklärungen im Hinblickauf das Mandat fixierte: So konnte der Verzicht auf den Verfassungsbegriffund die Neustrukturierung der Verträge nach dem klassischen Muster vergangenerRegierungskonferenzen als Ausgangspunkt festgehalten werden. Darüber hinauswurde die Liste der 12 Ausgangsfragen vom April 2007 auf drei offene Punkte reduziertund – als Ergebnis der Focal Point-Beratungen – um vier neue Punkte ergänzt,so dass für den Europäischen Rat ein relativ klares Bild über den wahrscheinlichenzeitintensiven Ablauf der Beratungen entstand: Die Frage der Symbole unddes Vorrangs des <strong>EU</strong>-Rechts vor nationalem Recht (Frage 4); terminologische Änderungenim Vertragstext, die sich hieraus ergeben (Frage 5); die rechtliche Qualitätder Grundrechtecharta (Frage 6); die Besonderheiten der GASP und ESVP im Verhältniszum gesamten Politikbereich der europäischen Außenpolitik (neuer, vonGroßbritannien eingebrachter Punkt); die Umsetzung und Kontrolle der Kompetenzverteilungzwischen der <strong>EU</strong> und den Mitgliedstaaten (von Tschechien eingebracht);und die Rolle der nationalen Parlamente in der <strong>EU</strong> (von den Niederlanden eingebracht).Hinzu kam die von Polen in die Diskussion gebrachte Frage der Änderungdes Entscheidungsmodus im Ministerrat, die zwar nicht in dem Bericht der Präsidentschafterwähnt wurde, aber doch allen Beteiligten präsent war und den Sitzungsverlaufdes Europäischen Rates in erheblichem Maße bestimmen sollte.Auf der Grundlage dieses Berichts arbeiteten die deutschen Focal Points einenEntwurf für das Mandat der Regierungskonferenz aus. In den Feinabstimmungenmit den Fachkollegen behielt der Vorsitz zu jeder Zeit die Autorität über den inenglischer Sprache abgefassten „Urtext“. Abgesehen von einigen wenigen Punkten(Organbezeichnungen, Ausformulierungen zu Protokollen und Erklärungen) konnteso in enger Zusammenarbeit mit dem Juristischen Dienst des Ratssekretariats einText redigiert und dem Europäischen Rat vorgelegt werden, dessen Substanz sehrviel weiter ging, als dies bei Einberufungsmandaten für Regierungskonferenzenüblicherweise der Fall ist. Denn tatsächlich handelte es sich um ein „geschlossenes“Mandat, das politische Kontur, funktionale Reichweite und inhaltlich-rechtlicheTiefe des Rückbaus des Verfassungsvertrages und seines Umbaus in einen Reformvertragauf der Grundlage der bestehenden EG- und <strong>EU</strong>-Verträge abschließend definierte.1414 Vgl. Rat der <strong>EU</strong>: Schlussfolgerungen des Vorsitzes – Brüssel, 21./22.6.2007, Dok. Nr.11177/07, 23.6.2007: Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz 2007.45


Die deutsche Präsidentschaft erzielte mit der Einigung auf das Mandat zur Einberufungder Regierungskonferenz ein Ergebnis, das alle Staaten auf ein politischesZiel, nämlich die rasche Ausarbeitung eines runderneuerten Vertragswerkes einte.Als Ergebnis des Europäischen Rates vom Juni 2007 manifestierten sich im Mandatzur Einberufung der Regierungskonferenz aber erneut politikbereichsspezifischeAusnahmeregeln für einige Staaten (Großbritannien im Bereich der polizeilichenund strafrechtlichen Zusammenarbeit 15 sowie – im Verbund mit Polen 16 – im Hinblickauf Geltungsbereich und Durchsetzungsmodus der Grundrechtecharta 17 ) und –teilweise als Reaktion hierauf – neue Regeln zum Eintritt in Formen der verstärktenZusammenarbeit unter dem Dach der <strong>EU</strong>. 18 Sowohl diese neuen Ausnahmen alsauch die damit einhergehenden Kooperationsformen einer Gruppe von Staaten werfendie Frage nach dem künftigen inneren Zusammenhalt der Union auf.Welche Lehren können aus dem praktizierten Verfahren und dem hierbei ermitteltenFunktionsprofil der deutschen Ratspräsidentschaft beim Blick auf das Dossierdes VVE für künftige Vorsitze gezogen werden?Erstens ist selbst ein großer vorsitzführender Staat in Krisensituationen, deren Lösungin Form ratifikationsbedürftiger Verträge gegossen wird, bei der Wahrnehmungseiner Impuls-, Vermittlungs- und Erwartungsmanagementfunktionen abhängigvon einem „Freundeskreis“, der bei allen <strong>EU</strong>-Staaten und <strong>EU</strong>-Organen ein hohesMaß an Vertrauen genießt.Zweitens ist eine alle Seiten befriedigende Vermittlungsfunktion in institutionellenKrisen nur zum Preis extremer Transparenz (z.B. in der Konventsmethode) oderstarker Intransparenz zu haben. Wählt man die erste Variante – der Reformvertragerlaubt dieses Verfahren künftig explizit –, ist eine erfolgreiche Vermittlung verschiedenerInteressenlagen leichter, wenn diese Funktion gemeinsam mit neutralenAkteuren gestaltet wird, die keinen mitgliedstaatlichen Weisungen unterliegen, sondernglaubhaft im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten agieren können. Ob derim Reformvertrag geschaffene Präsident des Europäischen Rates hierzu in der Lagesein wird, hängt davon ab, wie er die unterhalb der Europäischen Ratsebene auchkünftig agierenden Teampräsidentschaften der Staaten (deren durch die Außenministerbestückte Ratsformation „Allgemeine Angelegenheiten“ ja bestehen bleibt)einbindet, vor allem aber als Partner und „Freunde der Präsidentschaft“ akzeptiert.Greifen die Mitgliedstaaten dagegen auf die jetzt praktizierte Variante der Geheimverhandlungenzurück, ist das Risiko groß, dass nicht nur einzelne Akteure, sondernauch die Präsidentschaft die „Bodenhaftung“ verlieren und an den Interessen und15 Vgl. Punkt 19-L des Mandats für die Regierungskonferenz 2007.16 Vgl. Fußnote 18 des Mandats für die Regierungskonferenz 2007.17 Vgl. Fußnote 19 des Mandats für die Regierungskonferenz 2007.18 Vgl. Mandat für die Regierungskonferenz 2007: Änderungen des EG-Vertrags, Anlage 2,Punkt A-2 c) und d).46


Bedürfnissen der Bürgergesellschaften vorbei handeln. Der Preis hierfür wird dannspätestens bei Wahlen zu zahlen sein, wenn sich die Bürger immer weiter von etabliertenParteien abwenden und ihre Stimme Populisten und Extremisten geben. Dergroße Verlierer ist in beiden Varianten die Europäische Kommission. Sie wird nurnoch dann eine entscheidende Kovermittlungsrolle übernehmen können, wenn es umdie Reform der Funktionen und Politiken der Integration geht. Denn unter diesenUmständen sind die Staaten auf politisch-programmatische Leitlinien, Expertisenund Initiativen auf der Grundlage eines europäischen Gemeininteresses angewiesen,dass sie aufgrund ihrer divergierenden Interessenlagen nicht glaubhaft definierenkönnen.VI. Sollbruchstellen der Präsidentschaft im ReformvertragDie Analyse wäre unvollständig, wenn sie die Funktionsbilanz nicht mit den imReformvertrag vorgesehenen Änderungen im Ratssystem in Bezug setzen würde.Denn nach den heute geltenden Vertragsregeln hätte Deutschland erst wieder in 13Jahren eine Ratspräsidentschaft zu organisieren. Aller Voraussicht nach ändern sichjedoch mit Inkrafttreten des Reformvertrages Mitte 2009 die Grundregeln der Vorsitzführungim Ratssystem: Ein auf zweieinhalb Jahre gewählter <strong>EU</strong>-Präsident sitztkünftig dem Europäischen Rat vor und ein auf fünf Jahre von Rat und Parlamenternannter „Hoher Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“übernimmt den ständigen Vorsitz des Rates Außenbeziehungen. Das Rotationsprinzipwird in Zukunft auf die übrigen Fachministerräte beschränkt, wobei eine Verstetigungder 2007 erstmals getesteten achtzehnmonatigen Teampräsidentschaftenangestrebt ist.1. Von geltenden zu neuen RegelnAn einer grundlegenden Reform des Systems aus Europäischem Rat und Ministerratwird seit Ende der 1990er Jahre gearbeitet, um die organisatorischen Herausforderungender 2004 und 2007 erfolgten Erweiterung aufzufangen. Oberstes Ziel isthierbei die Verbesserung der Handlungsfähigkeit des Ratssystems nach innen – imHinblick auf seine Binnenstruktur der Fachratskoordination sowie auf die Zusammenarbeitdes Rates mit dem Europäischen Parlament und der Kommission – undnach außen gewesen – im Hinblick auf die Verbesserung der Kohärenz, Identifizierbarkeitund Durchsetzungsfähigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik. 19 Gemes-19 Vgl. ausführlicher Maurer, Auf dem Weg zur Staatenkammer. Die Reform des Entscheidungs-und Koordinationssystems im Ministerrat der <strong>EU</strong>, SWP-Studie, Nr. 6/2003, <strong>Berlin</strong>:Stiftung Wissenschaft und Politik.47


sen an den von allen 27 <strong>EU</strong>-Staaten bereits 2001 in der Erklärung von Laeken aufgestelltenAnforderungen einer handlungsfähigeren, demokratischeren und transparenteren<strong>EU</strong> wird schließlich auch die Verbesserung der Impulsgebungs- und Steuerungsfähigkeitendes Europäischen Rates und die Stärkung der Funktionen des Vorsitzesim Rat und im Europäischen Rat zur Koordinierung, Steuerung und Führungdes Rates angestrebt. Diese Reformen werden sich nachhaltig auf die Handlungsmöglichkeiten‘nationaler’ Ratsvorsitze auswirken.2. Die künftige Vorsitzfunktion in der AußenpolitikSeit Jahren unterstreichen politische Akteure und Beobachter der Europapolitik dieNotwendigkeit verstärkter Kontinuität und Kohärenz in der <strong>EU</strong>-Außenpolitik. Derim Verfassungsvertrag vorgesehene und vom Reformvertrag in seinen Funktionenbestätigte „Hohe Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik“ (Artikel 9e Reformvertrag– man beachte, dass das „Gemeinsame“ der Außen- und Sicherheitspolitikals konzeptionelles Dach des Hohen Vertreters entfällt!) soll hier Abhilfe schaffen.Durch seine Doppelhutfunktion in Rat und Kommission wird er den Vorsitz inder neuen Ratsformation für Auswärtige Angelegenheiten ausüben und ab 2009gleichzeitig als Vizepräsident der Kommission fungieren. Mit diesem Doppelhutwird die Koordinierung und Durchführung der <strong>EU</strong>-Außenbeziehungen einschließlichder zivilen und militärischen Aspekte europäischer Missionen in Absprache mitden nationalen Außenministern im Rat erstmals auf ein Amt und eine Person konzentriert.Die Formulierung der gemeinsamen europäischen Außenpolitik fällt demHohen Vertreter ebenso zu wie eine internationale Repräsentationsfunktion. Mit derKoordinierungsfunktion in Rat und Kommission kommt ihm damit ein ungewöhnlichgroßer Aufgabenbereich und besondere Verantwortung in einem institutionellenSpannungsfeld zu. Er wird nicht nur vor die Herausforderung verschiedener Verfahren,Kompetenz- und Legitimationsquellen, sondern auch in ein strukturelles Spannungsverhältniszu anderen Akteuren gestellt. Denn neben den nationalen Außenministernwerden der Präsident der Kommission und der für zweieinhalb Jahre gewähltePräsident des Europäischen Rates im außenpolitischen Bereich agieren.Die Schaffung des neuen Außenamtes der <strong>EU</strong> stellt zudem die 2002 vereinbarteReduzierung der Ratsformationen in Frage. Denn sachlich nachvollziehbar ist dieWahrnehmung der Vorsitzrolle als ‚Ratsmitglied’ bei gleichzeitiger Wahrnehmungder Rolle des Kommissionsamtes bisher nur im außen- und sicherheitspolitischenTeil des Außenrates. Eine entsprechende Personalunion für die gegenwärtig auch indieser Ratsformation behandelten Tagesordnungspunkte zur Außenhandelspolitikund Entwicklungszusammenarbeit würde dagegen die historisch gewachsene Eigenständigkeitund das politische Profil der Kommission sowie die Wahl der Kommissarein diesen Bereichen grundsätzlich in Frage stellen. Organisatorisch könnte dieSchaffung des neuen <strong>EU</strong>-Außenamts damit die Verknüpfung und langfristige Zu-48


sammenführung von mindestens fünf Generaldirektionen in der Kommission mitzwei Direktionen im Generalsekretariat des Rates, den Wegfall wichtiger Kommissionsportfoliosund damit eben auch prominenter Ernennungsmöglichkeiten für dieMitgliedstaaten bedeuten. Aus Sicht der kleineren Staaten, der Kommission und desEuropäischen Parlaments wird eine derart weitgehende Zusammenführung aller mitder Außenpolitik der <strong>EU</strong> befassten Köpfe eher als Schwächung der Rolle der Kommissiondenn als Versuch angesehen, mehr Kohärenz in den Außenbeziehungen der<strong>EU</strong> herzustellen. Es wäre daher mittelfristig auch angebracht, die Einrichtung desneuen Außenamtes im Lichte der damit einhergehenden Struktur der Ratsformationenund -vorsitze auf den Arbeitsebenen zu überprüfen. Sollte sich der Hohe Vertreterkünftig vor allem auf das enge Themenfeld der GASP und ESVP konzentrieren,dann müsste zwangsläufig darüber nachgedacht werden, die 2002 abgeschaffte Ratsformation‘Entwicklungszusammenarbeit’ wiederherzustellen sowie die Neugründungeines Außenhandelsrates zu erwägen, um die Funktionen der Kommission undihre Rechenschaftspflicht gegenüber dem Europäischen Parlament aufrechtzuerhalten.3. Der künftige <strong>EU</strong>-PräsidentDie wohl weitreichendste Reform des <strong>EU</strong>-Ratssystems ist die Wahl eines <strong>EU</strong>-Präsidenten durch den Europäischen Rat für eine Zeitspanne von zweieinhalb Jahren.Er führt ab 2009 den Vorsitz und leitet die Beratungen des Europäischen Rates. Indieser Funktion ist er auch für die Vorbereitung und Kontinuitätssicherung der Gipfeltreffenzuständig, wobei er mit dem Präsidenten der <strong>EU</strong>-Kommission kooperierenund sich auf die Vorarbeiten des Rates ‚Allgemeine Angelegenheiten’ stützen soll.Darüber hinaus ist der Präsident aufgerufen, „auf seiner Ebene, unbeschadet derZuständigkeiten des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik, dieAußenvertretung der Union in Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitikwahrzunehmen“ (Artikel 9b Abs. 6 a.E. Reformvertrag).Diese Aufgabenbeschreibung klingt nicht gerade eingängig. Der um diesen Vertragsartikelgeworfene Schleier lichtet sich erst beim Blick auf die im Reformvertragangeführten Handlungsermächtigungen des Europäischen Rates. Denn erst diesegeben das sachliche Aufgabenspektrum des Vorsitzenden des Europäischen Rateswieder.Nach Artikel 9b Abs. 1 Reformvertrag gibt der Europäische Rat „der Union diefür ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischenZielvorstellungen und Prioritäten fest.“ Diese Rollendefinition lehnt sich an diegültige Funktionszuschreibung aus dem Vertrag von Nizza an. Gleichwohl gehendie im Reformvertrag einzeln aufgeführten Aufgaben des Europäischen Rates weitüber die in Artikel 9b Abs. 1 definierte Rolle hinaus. Der Europäische Rat wirdkünftig über Beschlussfassungs-, Benennungs-, Wahl- und Abberufungsrechte verfügen:49


Beschlussfassungsrechte institutioneller Art erhält der Europäische Rat im Hinblickauf die Zustimmung zum Vorschlag über die Zusammensetzung des EuropäischenParlaments, zur Festlegung der Zusammensetzung der einzelnen Ratsformationen,zur Festlegung des Rotationsprinzips in den Ratsformationen, zur Verlängerungder Ausnahmebestimmungen im Protokoll über die Vertretung der Bürger imEuropäischen Parlament und die Stimmengewichtung im Rat, zur Überführung besondererRechtsetzungsverfahren in das normale Gesetzgebungsverfahren, zur Überführungder Einstimmigkeitspflicht im Rat in den Entscheidungsmodus der qualifiziertenMehrheit, zur Festlegung der paritätischen Rotation innerhalb der Kommission,und zur Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen zu den Verträgen und derFestlegung eines Mandats für neuerliche Regierungskonferenzen.Politikbereichsspezifische Beschlussfassungsrechte überträgt der Vertrag demEuropäischen Rat zur Verabschiedung allgemeiner GASP-Beschlüsse, zur Überführungdes Entscheidungsmodus des Rates in der GASP von der Einstimmigkeit in diequalifizierte Mehrheit, zur Feststellung, dass die gemeinsame Verteidigungspolitikzu einer gemeinsamen Verteidigung führt, zur Festlegung von Leitlinien hinsichtlichder Abkommen der Union mit einem Mitgliedstaat, der aus der Union auszutretenbeabsichtigt, zur Fristverlängerung im Hinblick auf die Anwendung der <strong>EU</strong>-Verträge in einem Mitgliedstaat, der aus der Union austritt, zur Verabschiedung vonSchlussfolgerungen zu den Grundzügen der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaatenund der Union, zur Verabschiedung von Schlussfolgerungen zur Beschäftigungslage,zur Festlegung der strategischen Leitlinien für die legislative und operative Programmplanungim Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, zur Festlegungder strategischen Interessen und Ziele der Union sowie zur Verabschiedung vonBeschlüssen über andere Bereiche des außenpolitischen Handelns der Union, dieBeziehungen der Union zu einem Land oder einer Region oder zu Fragen mit verteidigungspolitischenBezügen und zur Einschätzung der Bedrohungen, denen dieUnion ausgesetzt ist.Wahl-, Benennungs- und Abberufungsrechte macht der Europäische Rat künftiggeltend bei der Wahl seines Präsidenten für einen Zeitraum von zweieinhalb Jahrenund seiner vorzeitigen Entpflichtung, der Benennung des Präsidenten der EuropäischenKommission, der Ernennung (nach Zustimmung des EP und des Kommissionspräsidenten)und Abberufung des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik.In ihren Wirkungen nicht eindeutig definierte Beschluss- und Weisungsrechtemacht der Europäische Rat gegenüber dem Ministerrat zur Bestimmung der strategischenInteressen der Union und zur Festlegung der Ziele ihrer Gemeinsamen AußenundSicherheitspolitik geltend. Darüber hinaus verfügt der Europäische Rat ab 2009über ein Konsultationsrecht gegenüber jedem Mitgliedstaat, wenn dieser auf internationalerEbene tätig wird oder eine Verpflichtung eingeht.Erst diese neuen Handlungsermächtigungen des Europäischen Rates geben dassachliche Aufgabenspektrum des künftigen Präsidenten des Europäischen Rates50


wieder. Fraglich ist hierbei aber gerade angesichts der Funktionsbilanz des deutschen<strong>EU</strong>-Vorsitzes zweierlei:Verfügt der künftige Präsident oder die Präsidentin über ausreichende personelle,administrative und finanzielle Ressourcen, um Führungs-, Leitungs-, Vorbereitungs-,Kontinuitätssicherungs-, Konsensförderungs- und Vertretungsaufgaben gerechtzu werden, wie sie gegenwärtig von den Staats- und Regierungschefs der jeweilsvorsitzführenden Länder wahrgenommen werden?Verfügt der <strong>EU</strong>-Ratspräsident oder die neue <strong>EU</strong>-Ratspräsidentin aufgrund desumfänglichen Aufgabenzuschnitts des Europäischen Rates über ein ausreichendesMaß an Anerkennung unter den Staats- und Regierungschefs und Legitimität? Dennwährend die auf sechs Monate ernannte <strong>EU</strong>-Präsidentin Merkel dem DeutschenBundestag gegenüber rechenschaftspflichtig war, gilt für den künftigen, gewählten<strong>EU</strong>-Vorsitz nichts Entsprechendes. Weder die nationalen Parlamente noch das EuropäischeParlament verfügen über irgendwie geartete Instrumente, um regelaversesVerhalten des <strong>EU</strong>-Präsidenten zu sanktionieren.VII. Organisationsfragen der nahen ZukunftAngesichts der in den letzten Jahren beobachteten Realentwicklung des EuropäischenRates im Verhältnis zu den anderen Fachräten ist anzunehmen, dass sich seineRolle als höchste Schlichtungs- und Schiedsinstanz in denjenigen Fällen weiterentwickeln wird, in denen mehrere Fachratsformationen zu gegensätzlichen Haltungenund Positionen im Gesetzgebungsprozess gelangen und in denen der AllgemeineRat nicht zu einer Einigung kommt. Der Europäische Rat wird sich in diesem Fall zueiner Art ‘Oberrat’ entwickeln, der als letzte Instanz politische Beschlüsse verabschiedetund diese faktisch als Weisungen an die einzelnen Fachratsformationenweiterleitet.Diese Entwicklung wird dann aber auch Konsequenzen für die innerstaatlicheKoordinierung der Europapolitik, die demokratische Kontrolle und die Vorbereitungund Durchführung künftiger Präsidentschaften in den Fachräten nach sich ziehen:Tendenziell wird der Druck auf die Staats- und Regierungschefs sowie die ihnenangeschlossenen Verwaltungsapparate zunehmen, entsprechende KoordinierungsundWeisungsstrukturen aufzubauen bzw. weiter zu entwickeln. Diese Entwicklunghat mittelbare Folgen für das Verhältnis der Außenminister (als Vertreter im AllgemeinenRat) zu den Fachministern (als Vertreter in den Fachräten) sowie für dieEinrichtung spezifischer Konsultations- und Koordinierungsmechanismen zwischenden „national’ geführten Fachpräsidentschaften und den Gipfelvorsitzen des EuropäischenRatspräsidenten. Unklar ist nämlich, wer in längerfristig angelegten strategischenProjekten wie der Energie- und Klimapolitik die Fäden zwischen Fach- undGipfeltreffen zusammenführt, wer die heute üblichen ‘Schlussfolgerungen des Vorsitzes’künftig nicht nur formal autorisiert, sondern auch gegenüber Dritten im Sinnedes Europäischen Ratspräsidenten glaubwürdig vertritt. Werden sich Staats- und51


Regierungschefs hinter ‚ihren’ Präsidenten stellen und sich selbst auch in denjenigenFeldern zurücknehmen, in denen die Versuchung nationaler ‚Nebenpräsidentschaften’groß bleibt, sei es in der Außenpolitik oder in national bedeutsamen Themenfeldern?Oder werden sie auf die weiterhin bestehende Option ausweichen, häufiger‚normale’ Fachratssitzungen in Zusammensetzung der Staats- und Regierungschefsabzuhalten, um ihren weiterhin aufgetragenen Fachpräsidentschaften Profil undPrestige zu verleihen? Und damit dann aber auch den <strong>EU</strong>-Präsidenten faktisch zudemontieren? Und auf wen stützt sich der Ratspräsident innerhalb des Generalsekretariats?Wird ihm ein neuer Dienst zugeordnet oder kann er auf alle bestehendenGeneraldirektionen des Sekretariats zurückgreifen? Während für den ersten Fallbereits heute Vorkehrungen im Hinblick auf die Personalstruktur und –rekrutierungzu treffen wären, ist für den letzten Fall ein Mechanismus zu schaffen, der Konflikteum Zugriffe auf Personal und Finanzen mit dem Generalsekretär des Rates sowiedem Hohen Vertreter kanalisiert.Konsequenzen sind auch für die innerstaatliche Strukturierung des Verhältnisseszwischen den nationalen Parlamenten und ihren Regierungen zu erwarten. Denn jenach Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Regierung und Parlament in <strong>EU</strong>-Angelegenheiten werden sich Kooperations-, Kontroll- und Konfliktstrukturen verändern.Ein dritter Strang möglicher Weiterentwicklungen besteht in den Beziehungenzwischen dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament. Das Mitentscheidungsverfahrenist an enge Fristen gebunden. Da der Europäische Rat vierteljährlichtagen soll, wären für die strittigen Dossiers des Rates Strukturen im Ratssekretariat– bzw. beim Präsidenten des Europäischen Rates – anzusiedeln, die derSchlichterrolle des Europäischen Rates und seiner faktischen Funktion als in derGesetzgebung informell beteiligtes Organ gerecht werden.Die Stärkung des Europäischen Rates im interinstitutionellen Gefüge der Unionwurde seit Mitte der 1990er Jahre von den größeren <strong>EU</strong>-Mitgliedstaaten mit vielEinsatz und letztlich erfolgreich vorangetrieben. Sowohl deutsch-französische alsauch spanisch-italienische und verschiedene britische Initiativen haben hierzu entscheidendbeigetragen. Den Bedenken aus den Reihen der kleineren Staaten gegeneine zu starke Rolle des Europäischen Rates und dessen Präsident wird im nun auszuarbeitendenReformvertrag teilweise Rechnung getragen. Im Ergebnis dieser Auseinandersetzungwird über die Aufgabenzuweisungen des Europäischen Rates in denBestimmungen des den EGV künftig ersetzenden „Vertrages über die Funktionsweiseder Europäischen Union (VF<strong>EU</strong>)“ ein Organ ins Leben gerufen, dessen Zuständigkeitennicht nur wie bislang rein impulsgebender Natur sind. Die institutionelleBalance zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission wirddabei zu Lasten der Kommission und des Parlaments verändert.Die weitgehenden Befugnisse des Europäischen Rates und seines Vorsitzendensollten daher einer baldigen Überprüfung und gegebenenfalls einer klaren Begrenzungunterzogen werden:52


• durch die Einführung von Anhörungs- oder weitergehenden Kontroll- und Mitwirkungsrechtendes Europäischen Parlaments in denjenigen Fällen, in denender Europäische Rat über vertragliche Beschlussfassungsrechte verfügt, die mittelbareAuswirkungen auf die Gesetzgebung der Union haben, und• durch die Einführung eines sanktionsbewährten, selbständigen Anhörungs-,Zitier-, Frage- oder Interpellationsrechts des Europäischen Parlaments gegenüberdem Präsidenten des Europäischen Rates.Außenpolitisch kann die Stärkung des Europäischen Rates im positiven Falldurch die gemeinsame Positionierung der Staats- und Regierungschefs gegenüberDrittstaaten zu einer Stärkung der Union insgesamt führen. Demgegenüber bleibtallerdings die Gefahr einer Blockade des Europäischen Rates als politisch bedeutendstesEntscheidungsgremium der Staaten weiterhin bestehen, was dann zu einemAusweichen einzelner Staatengruppen auf die ‘verstärkte Zusammenarbeit’ führenkann. Diese Option birgt im Endeffekt die Gefahr der Aushöhlung der Union aufrein wirtschaftliche Zusammenhänge. Der Einfluss des neu konstituierten Rates„Allgemeine Angelegenheiten“ ist in diesem Zusammenhang relativ begrenzt, daseine Arbeiten nur die Grundlage für die Arbeit des Europäischen Ratspräsidentendarstellen.Entscheidend für das Funktionieren des neuen Systems im Europäischen Rat wirdsomit sein, welche Rolle die Mitglieder des Europäischen Rates dem Präsidenten imAlltag seiner Arbeit zugestehen wollen. Da er kein einzelstaatliches Amt innehabendarf, d.h. ihm eine direkte Hausmacht fehlt, kann er – und hier lässt der Reformvertragvieles offen – zum Spielball der Staats- und Regierungschefs im EuropäischenRat werden, genauso aber aufgrund seiner Persönlichkeit eine starke Rolle gegenüberallen Organen der <strong>EU</strong> spielen oder sich genötigt sehen, seine Stärke aus derZusammenarbeit mit den anderen europäischen Institutionen zu beziehen.Damit bleibt auch die Frage offen, ob der neue Präsident eine ähnliche Impulsgeberkraftund Repräsentationsleistung entwickeln kann wie sie vereinzelt von denheutigen Staats- und Regierungschefs in ihrer Funktion als Ratspräsident/in ausgeübtwird. Das strategische Agieren der Ratspräsidentin Merkel, die Dramaturgie derPräsidentschaft und ihres administrativen Unterbaus im Hinblick auf die Zuspitzungvon Problemlagen und deren feierlich verkündete ‘Lösung’ auf zwei EuropäischenRatsgipfeln hatten entscheidenden Einfluss auf die <strong>EU</strong>- und G-8-Entscheidungen inder Klimapolitik oder die Entwicklung hin zu einem transatlantischen Wirtschaftsraum– allerdings unter Nutzung vielfältiger nationaler Ressourcen des deutschenVorsitzes wie der guten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Ebenso zentralwar ihre Rolle in Verhandlungen über die Änderungen der europäischen Verträge.Die derzeitige herausgehobene Rolle der Regierungschefs als <strong>EU</strong>-Ratspräsidenten,die in dem ab 2009 gültigen System nicht kompensiert wird, macht die Entwicklunggewisser Antagonismen zwischen den nunmehr auch während ihrer eigenen Präsidentschaftzu ‘normalen’ Mitgliedern des Europäischen Rates degradierten Regierungschefsund dem neuen Präsidenten wahrscheinlich. Auf die Behebung dieserSollbruchstellen des neuen Vertrages sollte sich die praktische Europapolitik raschund konsequent einstellen.53


Mitverantwortung der Rechtswissenschaft für die Verwendung desVerfassungstopos – Die Europäische Verfassung als Opfer der symbolischenTragweite des Begriffes?Prof. Dr. Christian Calliess ∗I. Mitverantwortung1. EinführungDer Begriff der Verantwortung impliziert ein Rechenschaftgeben für ein bestimmtesHandeln oder für dessen Folgen. Und in der Tat finden wir in der Debatte über denin den Referenden gescheiterten Verfassungsvertrag immer wieder Hinweise aufeine (Mit-) Verantwortung der Europa- und Rechtswissenschaftler. So konstatiertbeispielsweise Heinig 1 , dessen Ausführungen nachfolgend in den Mittelpunkt gestelltwerden, weil sie gerade in ihrer Zuspitzung als paradigmatisch gelten können:„Die Europawissenschaften, insbesondere die Rechtswissenschaft, haben den Konstitutionalisierungsprozessmaßgeblich vorbereitet und in gewisser Hinsicht überhaupt erst angestoßen.Folgt man dieser Einschätzung, stellt sich nach dem Scheitern der Verfassung einer EuropäischenUnion automatisch auch die Frage nach den Konsequenzen für die wissenschaftlicheBegleitung des europäischen Integrationsprozesses.“Daran anknüpfend stellt er die Befürworter des Verfassungsbegriffs an den Pranger,indem er ihnen mehr oder weniger deutlich elitäres, selbstreferentielles sowieantidemokratisches Denken unterstellt. Keiner der von ihm so bezeichneten „professionellenEuropadeuter“ habe sich der Faszination entziehen können, die von derIdee ausging, Europa eine neue Verfassung zu geben:„Es übt eben doch einen unvergleichlich höheren Reiz aus, eine Verfassung zu schreiben, oderzumindest den Prozess ihrer Erarbeitung eng zu begleiten und gegebenenfalls auch zu beeinflussen,als sie nur zu interpretieren und ihr Funktionieren in der Praxis zu beschreiben.“So sei von der Idee der formellen Konstitutionalisierung allenfalls für die Trägergruppeder europäischen Integration der akademischen, politischen und wirtschaftlichenEliten ein Signal des Aufbruchs ausgegangen. Für die breite Öffentlichkeitbehauptet Heinig „ein Phänomen“ der freundlichen Teilnahmslosigkeit, das dieBeratungen des Verfassungskonvents und ihr Ergebnis, den Verfassungsvertrag,∗ Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht und Europarecht an der UniversitätGöttingen sowie Direktor des dortigen Instituts für Völkerrecht und Europarecht.1 Heinig, JZ 2007, 905.54


egleitet habe. 2 An anderer Stelle hält Heinig den Verfassungsprotagonisten in derEuropäischen Union ihre „kulturtheoretische Halbbildung“ vor. Der von den Bürgernabgehobene Verfassungsprozess sei von Beginn an der Gefahr ausgesetzt gewesen,als ein elitäres Projekt wahrgenommen zu werden, das nicht Ausdruck einerkollektiven Selbstregierung der europäischen Völker sei, sondern den Bürgern eineVerfassung oktroyiert, die sie in der Form nicht wollen. 3 Er fährt fort:„Gerade im Moment des Scheiterns realisierte sich die Gefahr elitärer Abkapselung nochmals,indem die Referenden in Frankreich und den Niederlanden als politische Aussagen zur europäischenIntegration nicht weiter ernst genommen und die Mehrheit der Bevölkerung schlicht fürinkompetent zur Bewertung eines komplexen Rechtswerkes erklärt wurde.“In der Ablehnung des Verfassungsvertrages sei das Moment der Politisierung Europasebenso wie die europäische Öffentlichkeit aufgeblitzt. Die selbstgefälligeKritik aus der Retroperspektive, in der konsequent europäische Integration und Demokratiegegeneinander ausgespielt werden, gipfelt in folgender, in einer Fußnoteversteckter Kritik an den Verfassungsbefürwortern:„Für das politische Geschehen wohl kaum von Relevanz, aber doch in diesem Zusammenhangam Rande notiert sei auch, dass sich im Rückblick noch einmal die Stilfrage stellt, wennKommentarwerke zum Verfassungsvertrag vorgelegt wurden, bevor sein Inkrafttreten überhauptabsehbar war. … So manchem schien die Ratifizierung des Verfassungsvertrages wohleine reine Formsache. Der Respekt vor der souveränen Entscheidung in den Mitgliedstaaten,immerhin ein unverzichtbarer und demokratietheoretisch der maßgebliche Teil des Verfassungsprozesses,hätte vielleicht doch eine gewisse Zurückhaltung im publizistischen Eifer nahegelegt.“ 4Mag dieser Beitrag auch eine vereinzelte Zuspitzung darstellen, so gibt er dochexemplarisch Anlass, über die Frage der Mitverantwortung und zugleich die Problematikja, die auch konstatierte „Dialektik“, die in den Referenden gegen den Verfassungsvertragzum Ausdruck kommt, nachzudenken.2. Bekenntnisse eines „professionellen Europadeuters“Ja, ich bekenne mich schuldig: Auch ich trage Verantwortung für die Verwendungdes Verfassungstopos. In verschiedenen Beiträgen habe ich den Begriff der Verfassungverwendet und befördert. 5 Dieses Bekenntnis fällt mir freilich leicht. Als einerder vorstehend gescholtenen „professionellen Europadeuter“ scheint mir die Verwendungdes Verfassungstopos aus zwei Gründen, die ich an dieser Stelle freilich2 Heinig, JZ 2007, 905 (906).3 Heinig, JZ 2007, 905 (908).4 Heinig, JZ 2007, 905 (908, Fn. 26).5 Zuerst in Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu <strong>EU</strong>V und EGV, 1998, Art. 1 <strong>EU</strong>V, Rn.24 ff.; zuletzt in Calliess (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund,2007, S. 187 ff.55


nur kurz skizzieren kann, gerechtfertigt. Vielleicht muss man „ein professionellerEuropadeuter“ sein, um den besonderen, so genannten supranationalen Charakterder Europäischen Union bzw. der Europäischen Gemeinschaft zu verstehen. Nichtvon ungefähr kommt die Kritik am Verfassungsbegriff ganz überwiegend – wienachfolgend noch ausführlich zu zeigen sein wird – aus der Ecke der Staats- bzw.Verfassungsrechtler. Auffallend ist freilich, dass gerade jene Verfassungsrechtler,die mit dem Begriff des Staates an sich ihre Schwierigkeiten haben, absichtlich oderunabsichtlich dazu tendieren, die europäische Integration und ihr Produkt, die EuropäischeUnion, gegen ein entgegen allen Beteuerungen letztlich doch nationalstaatlichvorgeprägtes Demokratie- und Verfassungsverständnis im weiteren Sinne ausspielen.6Geradezu paradigmatisch wird dies in dem bereits zitierten Beitrag von Heinigdeutlich. 7 In hochabstrakter Weise wird den Verfassungsbefürwortern vorgehalten,sie verkennten – wie es abstrakt-raunend heißt – „das Politische“ hinter dem Verfassungsbegriffund überspielten in ihrem elitären Ansatz den Bürger. In hochinteressanterWeise wird in diesen Beiträgen, wie noch zu zeigen sein wird, der Bürger alsArgument missbraucht. Er wird mit dem nationalen Verfassungsbegriff verbunden,womit aber gerade eine klassisch staatliche Sichtweise auf die Europäische Unionprojiziert wird.Dabei wird jedoch der besondere Rechtscharakter der Europäischen Union, wie erin ihrer Beschreibung als Staaten- und Verfassungsverbund zum Ausdruck kommt,verkannt. Als Staatenverbund teilt sich die europäische Union mit ihren Mitgliedstaaten,die sich als offene Verfassungsstaaten verstehen, nicht nur das Staatsgebietund die Staatsgewalt, sondern gerade auch den Bürger, wie es trefflich in den Regelungenüber die Unionsbürgerschaft (vgl. Art. 17 <strong>EU</strong>V) zum Ausdruck kommt. Undim Begriff des Verfassungsverbundes kommt gerade zum Ausdruck, dass die europäischeVerfassung nicht eine klassische Verfassung im staatlichen Sinne ist odersein will, sondern vielmehr eine mit den mitgliedstaatlichen Verfassungen interaktivverzahnte Verfassung darstellt. 8 Um diese, aus den spezifischen Eigenarten desEuroparechts (z. B. Vorrang und unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts)resultierenden Besonderheiten zu verstehen, genügt eine kulturwissenschaftlichverbrämte, im Ergebnis in klassischer Weise jedoch staatsorientierte Sicht aufden Verfassungstopos nicht.6 Genannt sei an dieser Stelle beispielhaft nur Grimm, JZ 1995, 581 ff., letztlich wohl auchMöllers, Staat und Verfassung im Kontext der Europäisierung, in: Calliess (Hrsg.), Verfassungswandelim europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, 2007, S. 9 ff.7 Heinig, JZ 2007, 905 (906).8 Ausführlich dazu Calliess, Zum Denken im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund.Abschließende Reflexionen und (Re-) Konstruktionen eines Konzepts im Lichte der vorstehendenBeiträge, in: ders. (Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund,2007, S. 187 (207 ff.).56


Aber noch aus einem weiteren Grunde bekenne ich mich als gescholtener „professionellerEuropadeuter“ gerne schuldig. Denn wenn die europäischen Verträge imZuge der Vertragsänderungen von Maastricht, Amsterdam und Nizza als Konstitutionalisierungsprozessverstanden werden können, weil ihnen – wie noch zu zeigensein wird – zunehmend die typischen Inhalte einer Verfassung von den Mitgliedstaatenund ihren Bürger zugeschrieben worden sind, dann ist es nicht nur legitim voneinem europäischen Verfassungsrecht (im Sinne des Verfassungsverbunds 9 ) zu sprechen,sondern im Interesse bürgernaher Transparenz sogar geboten nunmehr denVerfassungsbegriff im Sinne einer ehrlichen Politik zu verwenden. So gesehen wurdeden Bürgern mit dem Verfassungsvertrag erstmals „reiner Wein“ eingeschenkt.Die Verwendung des Verfassungstopos macht gerade deutlich, wo die EuropäischeUnion als Staaten- und Verfassungsverbund heute bereits steht. Der Begriff desVerfassungsvertrages und die darin enthaltene Verwendung des Verfassungstoposkorrespondieren in transparenter und ehrlicher Weise exakt dem Begriff des StaatenundVerfassungsverbundes, den die Mitgliedstaaten und die Europäische Unionrealiter bereits seit längerem bilden.Vor diesem Hintergrund bekenne ich mich also gerne schuldig: Ich trage Mitverantwortungfür die Verwendung des Verfassungstopos und will im Folgenden – wiedie vorstehende Definition des Begriffs der Verantwortung impliziert – darüberRechenschaft geben, indem ich die vorstehend skizzierten Gründe für die Verwendungdes Verfassungstopos ausführlicher belege. Dann wird vielleicht deutlich, dasses hierbei nicht um eine selbstreferentielle oder gar selbstverliebte Debatte der „professionellenEuropadeuter“ geht.II. Verfassungstopos, Staatswerdung Europas und europäische Bürger1. EinführungGleich ob man von der Verfassung im formellen Sinne, dem feierlichen Gründungsakt,oder im materiellen Sinne, der Gesamtheit der Normen verfassungsrechtlicherNatur spricht, der traditionelle Begriff der Verfassung nimmt zunächst einmal in derTat auf die Idee des Staates Bezug 10 . Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass <strong>EU</strong>9 Dazu Pernice, Theorie und Praxis des Europäischen Verfassungsverbundes, in: Calliess(Hrsg.), Verfassungswandel im europäischen Staaten- und Verfassungsverbund, 2007, S. 61ff. sowie Calliess, ebenda (Fn. 8), S. 187 ff. m.w.N.10 Mouton/Stein, in: dies. (Hrsg.), Eine neue Verfassung für die Europäische Union?, 1997, S. 2(25); Grimm, JZ 1995, 581 (584 f.); Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Kirchhof (Hrsg.),HStR, Bd. I, 1997, § 13, Rn. 1; Hilf, Integration 1994, 68 (70); Heintzen, EuR 1997, 1 f.; ausführlichhierzu Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 45 ff., 60 ff.;Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 92 ff.; Peters, Elemente einer Theorieder Verfassung Europas, 2001, S. 93 ff., 163 ff.; kritisch Schwarze, EuR-Beiheft 1/2000,7 (16 ff.); Steinberg, ZRP 1999, 365 f.; Walter, DVBl. 2000, 1 (5 ff.); sehr kritisch zur tradi-57


und EG sich mit der ihnen immanenten Integrationsdynamik nur unvollkommen indie klassischen staats- und völkerrechtlichen Kategorien einordnen lassen 11 , ist daherauch umstritten, ob man die Gemeinschaftsverträge als Verfassung und damitdas in ihnen enthaltene sog. Primärrecht als Verfassungsrecht bezeichnen kann 12bzw. – weitergehend – inwiefern das Gemeinschaftsrecht als Recht einer internationalenOrganisation noch Völkerrecht ist oder schon verfassungsrechtlichen Charakterhat 13 .Die europäischen Verträge haben den Verfassungsbegriff 14 zunächst vermieden.Bereits in den Verhandlungen zum Schuman-Plan hatte die deutsche Delegationzwar vorgeschlagen, das zu entwickelnde Vertragswerk „Traité portant Constitutionde la Communauté Européenne pour le charbon et l´acier“ zu nennen, konnte sichdamit aber nicht durchsetzen. Dies hinderte die damalige Bundesregierung freilichnicht, in der Begründung, die sie dem Bundestag vorlegte, von einer Verfassung zusprechen. 15Auch das deutsche BVerfG hatte im Jahre 1967 zunächst ausgeführt, dass derEWGV „gewissermaßen die Verfassung dieser Gemeinschaft“ ist. 16 . Allerdings wirddas Maastricht-Urteil des BVerfG mit seiner Absage an ein quasi-staatliches VertionellenAnknüpfung an den Staat Zumbansen, KJ 2001, 46 (61 ff.); differenzierend, denBegriff der Verfassung für die „Supranationale Union” öffnend Schmitz, Integration in derSupranationalen Union, 2001, S. 393 ff.11 Dazu Stein, VVDStRL 53 (1994), 26 (29 ff.); Tomuschat, DVBl. 1996, 1073 (1075 f.); Isensee,Integrationsziel Europastaat?, in: Festschrift für Everling, 1995, Bd. I, S. 567 ff. (insbesondere572 ff.); ausführlich Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001, S. 65ff. und 113 ff.; Dorau, Die Verfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 20 ff. jeweilsm. w. N. Instruktiv auch der Überblick über die unterschiedlichen Positionen bei von Bogdandy,Der Staat 40 (2001), 3 (25 ff.).12 Hierzu umfassend Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001; Giegerich,Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozeß,2003; Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung,in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 1 ff.; vgl. auch dieselbstverständliche Annahme in den Titeln bei von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht;Weiler, The Constitution of Europe, Cambridge 1999.13 Vgl. dazu auch Pernice, EuR 1996, 27 (29 ff.).14 Vgl. zu den verschiedenen Bedeutungen des Begriffes: Haack, EuR 2004, S.785ff; v. Bogdandyu.a., APuZ 2005, S. 21ff.; Möllers , Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung,in: v. Bogdandy, (Hrsg.),Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 1ff.;Kirchhof, Die rechtliche Struktur der <strong>EU</strong> als Europäisches Verfassungsrecht, Heidelberg2004, S. 897; Kokott/Rüth, CMLR 2003, S. 1315 (1320); Ablehnung des Begriffes z.B.Grimm, JZ 1995, S. 581 (584); Isensee, Integrationsziel Europastaat?, in: Due/Lutter/ Schwarze(Hrsg.), Festschrift für Everling, Bd. 1, 1995, S. 567; Wessels, Konstitutionalisierung der<strong>EU</strong>, in: Chardon u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hrbek, 2003, S.23; Koenig, DÖV 1998, S.268ff.15 Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung, <strong>Berlin</strong> 2003, S.306; ders., Vonder Montanunion zur Europäischen Verfassung, in: Hofmann/Zimmermann, Eine Verfassungfür Europa, 2005, S. 16.16 BVerfGE 22, 293 (296).58


ständnis der <strong>EU</strong> und deren Bezeichnung als „Staatenverbund“ 17 in der Literatur –nicht zu Unrecht – als Distanzierung gegenüber einem konstitutionellen Denkansatzim Gemeinschaftsrecht gedeutet 18 . In der Tat betont das BVerfG in seinem Urteilnicht nur das Fehlen eines europäischen Staatsvolkes, indem es die demokratischeLegitimation der europäischen Institutionen als (noch) von den Staatsvölkern derMitgliedstaaten vermittelt ansieht. Darüber hinaus unterstreicht es auch die Verfügungsbefugnisder Mitgliedstaaten über die Verträge sowie den beschränkten Charakterder Kompetenzübertragung auf die Gemeinschaft.Der EuGH spricht demgegenüber seit seinem Urteil „Les Verts“ explizit davon,dass der EWGV, obwohl in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschlossen,die „Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“ darstellt 19 .Der Verfassungstopos rückte dann freilich erst mit den Verhandlungen des Verfassungskonventsund ihrem Ergebnis, dem „Vertrag über eine Verfassung für Europa“,in das Zentrum der politischen Debatte. 20 Allerdings wurden in der öffentlichenDebatte die Worte „Vertrag über eine…“ gar nicht mehr wahrgenommen, nichtzuletzt weil verkürzt nur noch von der „Europäischen Verfassung“ gesprochen wurde.21 Übersehen wurde dabei, dass die bewusst gewählte Bezeichnung „Verfassungsvertrag“22 die Verfassungsfrage der <strong>EU</strong> insoweit offenlassen wollte 23 , als derEindruck einer Staatswerdung Europas gerade vermieden werden sollte.17 BVerfGE 89, 155 (181, 184 ff., 190, 194 ff.), im Anschluß an Kirchhof, Der deutsche Staatim Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee/ders. (Hrsg.), HStR, Bd. VII, 1992, § 183,Rn. 38, 69; kritisch Pernice, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. VIII, Rn. 64 f.; Tomuschat,DVBl. 1996, 1073 (1075 f.); Frowein, ZaöRV 54 (1994), 1 (6 f.); Schwarze, NJ 1994,1 (3).18 So etwa Herdegen, Vertragliche Eingriffe in das „Verfassungssystem“ der <strong>EU</strong>, in: Festschriftfür Everling, Bd. I, 1995, S. 447 (450 f.).19 EuGH Rs. 294/83 – Les Verts, Slg. 1986, 1339, Rn. 23.20 Das Europäische Parlament hatte den Spinelli-Entwurf von 1984 noch mit dem Begriff „Entwurfeines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union“ überschrieben, erst zehn Jahrespäter sprach der Herman-Entwurf von der „Verfassung der Europäischen Union“ und ließden Vertragsbegriff gänzlich fallen, vgl. Giegerich, Von der Montanunion zur EuropäischenVerfassung, in: Hofmann/Zimmermann (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2005, S. 15f.21 Scheffczyk, Die Europäische „Verfassung“- Ein Beitrag der Begriffsklärung, in: ELSA(Hrsg.), Die Europäische Verfassung, 2004, S. 31 (36).22 Dazu Nolte Verfassungsvertrag für Europa, in: Behrends/Starck (Hrsg.), Gesetz und Vertrag,Bd. I, 2004, S. 151 ff.; s. auch Calliess, in: ders./Ruffert, Verf<strong>EU</strong>, Art. I-1, Rn. 2.23 Vgl. von Danwitz, ZG 2005, 1 ff.; Sack, Der Staat 44 (2005), 67 ff.; Puttler, EuR 2004, 669ff.; Petersen, ZaöRV 64 (2004), 429 ff.59


2. Das Motiv des Verfassungstopos: Auf der Suche nach dem europäischen BürgerGleichwohl war mit der Verwendung des Verfassungsbegriffs sowohl ein politischerals auch ein rechtlicher Paradigmenwechsel beabsichtigt: 24 Über den Umweg derVerfassungsdebatte sollten die Bürger Europas für die Ziele Europas interessiert 25und in ihrer europäischen Identität angesprochen werden. Damit wollte und solltedie <strong>EU</strong> einen Weg konsequent fortsetzen, den sie im Jahre 1961 mit dem Urteil desEuGH im Fall van Gend & Loos erfolgreich beschritten hatte: Integration durchRecht und Bürgernähe durch Bürgerrechte zu schaffen. In dieser bahnbrechendenEntscheidung stellte der EuGH fest,„(…) dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, (...) derenRechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von derGesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen,ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen.“ 26Mit der so begründeten Anerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit hinreichendklarer und bestimmter sowie unbedingter Normen des primären und (späterauch) sekundären Gemeinschaftsrechts und der Klärung der Vorrangfrage in dernachfolgenden Costa/ENEL-Entscheidung verfolgte der Gerichtshof aber auch einZiel. Wörtlich führte der EuGH insoweit in seiner Van Gend & Loos-Entscheidungaus:„Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen stellt eine wirksameKontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß den Artikeln169 und 170 ausgeübte Kontrolle ergänzt“. 27Hiermit hat der EuGH den wesentlichen Schritt zur Funktionalisierung (oder auchMobilisierung) des Bürgers für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts getan.Die Stellung des Einzelnen hatte sich damit grundlegend gewandelt, er wurde nebender Kommission als eigentlicher „Hüterin der Verträge“ (vgl. Art. 211 EGV) zumGaranten für die dezentrale Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben. 28Durch ihre unmittelbare Anwendbarkeit haben die Grundfreiheiten – wie es GeneralanwaltCosmas in seinen Schlussanträgen im Fall Wijsenbeck 29 treffend formulierte–24 Calliess, in: ders./Ruffert: Verfassung der Europäischen Union, Art. I-1, Rn. 2; v. Danwitz,Grundfragen einer Verfassungsbindung der Europäischen Union, JZ 2003, S. 1125 (1127).25 Delors/Havel, Gebt Europa eine Verfassung, Die Zeit vom 1. 2. 2001, S. 3; zur Beteiligungder europäischen Öffentlichkeit vgl. Peters, EuR 2004, 375 ff.26 EuGH Rs. 26/62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (25).27 EuGH Rs. 26/62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (26).28 Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997, S. 42 f.; 45;Calliess, NJW 2005, 929 (931).29 EuGH Rs. 378/97 – Wijsenbeck, Slg. 1999, I-6207, Rn. 84.60


„…zugunsten der Angehörigen der Mitgliedstaaten eine funktionale Möglichkeit geschaffen,die ihnen eingeräumt wurde, damit sie sie zur Schaffung eines Gemeinsamen Marktes einsetzen,dessen Ziel es lediglich war, den Personen die Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeitenunter besseren Bedingungen zu ermöglichen.“Die Teilhabe des Marktbürgers an der Integration ist hier freilich rein ökonomischund funktional definiert. Es wurde gerade nicht dem Bürger, sondern nur dem ProduktionsfaktorArbeit Freizügigkeit gewährt. Die Marktbürger waren deshalb auchnicht das „Volk der Gemeinschaft“ 30 , die Marktbürgerschaft folglich keine Gemeinschaftsangehörigkeit.Dieser ökonomisch-funktionale Ansatz stieß jedoch zunehmend auf Kritik. Als paradigmatischkann insoweit ein Beitrag des Schriftstellers Leon de Winter 31 gelten:„Europa hat eine Fahne und eine Hymne, doch solange es keine Entstehungsmythologie besitzt,Geschichten von Helden und Opfern, Geschichten über Leben und Tod, wird es keineSeele haben. Wer kennt die „Founding fathers“ unserer <strong>EU</strong>? Wer kennt ihre mitreißenden Reden,ihre leidenschaftlichen Ideen? Wer kennt die Orte, an denen unsere Helden für das freieEuropa gefallen sind?“Jahrzehntelang hätten die Techno- und Bürokraten der Union erfolgreich an einemProzess zur wirtschaftlichen Verflechtung der Länder gearbeitet, dabei sei aber„in ihren Papiermühlen“ übersehen worden, dass auch Unionen zwischen Länderneine Seele haben müssen, eine Idee oder ein Ideal, das über allen Einzelinteressensteht und in dem sich alle vereint fühlen. Die <strong>EU</strong> sei ein effektiver Apparat, aberohne innere Mitte, sie veranlasse nicht zur gefühlsmäßigen Identifikation, sondernfungiere höchstens als Interessengemeinschaft, vergleichbar mit dem ADAC, beidem die Mitgliedschaft Vorteile bringe, für den aber, so de Winter wörtlich „niemandsein Leben hingeben würde“. Die Ambivalenz seiner Zeilen erkennt er freilichselbst, wenn er konstatiert:„Europa ist ein entideologisierter Erdteil, den der Gedanke an beseelte Nationen schaudernlässt. Das braucht kein Manko zu sein, im Gegenteil angesichts seiner Vergangenheit ist dasein geradezu rührender Gewinn. Europas Identitätskrise krönt die europäische Zivilisation. DieFrage ist nur, wie lange das so weitergehen kann…“ 32Und in der Tat, mit dem erfolgreichen Übersprung von der wirtschaftlichen Integrationzur politischen Integration stellte sich für die <strong>EU</strong> immer drängender die Notwendigkeitvon der rein wirtschaftlichen Interessenverknüpfung auf die ideelle undnormative Dimension der Gemeinschaftsstiftung umzuschalten. Die vorstehendbeschriebene ökonomisch-funktionale Instrumentalisierung der Marktbürgers für dieeuropäische Integration stieß an ihre Grenzen, nachdem spätestens Anfang derNeunziger Jahre immer deutlicher geworden war, dass mit zunehmenden Gemeinschaftskompetenzenein „Markt ohne Staat“ zu Gemeinwohldefiziten führen musste,die die Gefahr eines schwerwiegenden Akzeptanzproblems bei den betroffenen30 Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 8/6, S. 187.31 Der Spiegel 19/2004, S. 152 ff. (158).32 De Winter, Der Spiegel 19/2004, S. 15861


Bürgern begründete. Die in der Öffentlichkeit erfolgte Kritik des Binnenmarktprojektsist insoweit ein prominentes Beispiel. 33 Mit den immer offensichtlicher werdendenDefiziten eines „Marktes ohne Staat“ war der „Geist aus der Flasche“ entwichen,die <strong>EU</strong> wurde zunehmend mit generellen Anfragen an ihren außerökonomischenGehalt konfrontiert.Jene so skizzierte, immer wieder thematisierte „Identitätskrise“, gepaart mit derwiederkehrenden Klage über ein europäisches Demokratiedefizit, hat den Verfassungstoposbeflügelt. So kann es nicht verwundern, dass schon der offizielle Konventsentwurfauf seinem Titelblatt das Wort „Vertrag“ ganz klein und die Worte„Verfassung für Europa“ ganz groß schrieb. Dies in der Hoffnung, den Bürgern derMitgliedstaaten nicht nur ein ökonomisches Projekt, sondern auch ein politischesProjekt, mit dem sie sich identifizieren können, anbieten zu können.Dieses politische Projekt ist nicht neu, es hat eine lange Vorgeschichte: Unter derBezeichnung „Europa der Bürger“ hat es seit der Haager Gipfelkonferenz im Jahre1969 einige Initiativen gegeben, durch die nicht nur die Rechte der Angehörigen derMitgliedstaaten aus dem Gemeinschaftsrecht heraus gestärkt werden, sondern auchidentitätsstiftende Impulse auf den Bürger übergehen sollten mit dem Ziel, dassdieser die Gemeinschaft „nicht nur als gute, sondern auch als seine Sache betrachtet“34 . Dieses Projekt mündete zunächst in einer Art „Europabürgerschaft“, wie sievom Europäischen Rat Ende 1990 anlässlich der Verhandlungen über die – die Wirtschafts-und Währungsunion ergänzende – Politische Union gefordert und dann mitdem Vertrag von Maastricht in den Art. 17 ff. EGV als Unionsbürgerschaft in dasGemeinschaftsrecht aufgenommen wurde. In den nachfolgenden Regierungskonferenzenblieb das politische Projekt unter dem Stichwort der „Bürgernähe“ auf derTagesordnung. Der Vertrag von Amsterdam versuchte es mit der Stärkung verschiedenerPolitiken – von der Umweltpolitik angefangen bis hin zum „Raum der Freiheit,der Sicherheit und des Rechts“. Der Vertrag von Nizza brachte in einem nächstenSchritt dann den (zuvor immer wieder avisierten und gescheiterten) europäischenKatalog geschriebener Grundrechte in Form der – zunächst nur feierlich deklarierten– Charta der Grundrechte der <strong>EU</strong>, die mit dem Verfassungsvertrag, als dessenTeil II, hätte volle Rechtsverbindlichkeit erlangen sollen.Doch der Vorwurf der Bürgerferne blieb, die <strong>EU</strong> konnte in der Außenwahrnehmungihrer Kritiker und der sich daraus speisenden Innenwahrnehmung nie nahgenug an den Bürger, das „unbekannte Wesen“, herankommen. Solchermaßen ge-33 S. z.B. Spiegel Spezial Nr. 1/1992, Europa ohne Grenzen, Alarm für die Umwelt; fernerRöscheisen, in: Calliess/Wegener, Europäisches Umweltrecht als Chance, 1992, S. 69 ff.;Trittin, ebenda, S. 51 (56 ff.); Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1993, S. 1 ff.m.w.N.34 Magiera, DÖV 1987, 221 (221); ähnlich Nettesheim, Die politische Gemeinschaft der Unionsbürger,Festschrift für Häberle, 2004, S. 193 (196).62


trieben setzte die Europapolitik schließlich auf den „großen Wurf“ der Integrationdurch Recht, indem eine notwendige Vertragsreform, vorbereitet durch einen Konvent,in den Entwurf eines „Vertrages über eine Verfassung für Europa“ umgemünztwurde.Vor diesem Hintergrund ist es fast schon tragisch, dass sich nunmehr ein Teil derjenigenBürger, im Hinblick auf die das politische Projekt motiviert war, in zweiReferenden gegen den Verfassungsvertrag wandten. War das nun die „Quittung“ fürdie Vermessenheit der „europäischen Eliten“, den Bürgern in der <strong>EU</strong> eine „EuropäischeVerfassung“ angeboten zu haben? Angesichts der Tatsache, dass sich in derDiskussion die ersten politischen Mythen um die Referenden verbreiten, wollen dienachfolgenden Ausführungen – so weit dies in diesem Rahmen möglich ist – einenBlick auf die Frage werfen, inwieweit der Verfassungstopos in den Mitgliedstaatenproblematisiert wurde.3. Die Diskussion in einzelnen Mitgliedstaatena) FrankreichDie im Sommer 2004 erreichten Spitzenwerte von knapp 70% Zustimmung zumeuropäischen Verfassungsvertrag sanken im Verlaufe des zweiten Halbjahres aufgrundder Türkeifrage und innenpolitischer Skandale drastisch. 35 Neben der Abstrafungder rechtskonservativen Politik von Chirac und Raffarin votierte die überwiegendeMehrheit der Franzosen auch gegen den in ihren Augen inhaltlich zu liberalangelegten Verfassungsvertrag. 36 Im Mai 2006 veröffentlichte die Zeitung Liberationeine Umfrage, in der 98% derjenigen, die beim Referendum mit Nein gestimmt35 Vgl. Bennhold, <strong>EU</strong> treaty’s long march faces big test in France, in: International HeraldTribune vom 22.2.2005, S. 4.;http://www.iep-berlin.de/fileadmin/website/03_Forschung/Europa_der_Buerger/Finnland.pdf.Die Mitte April angelaufenen Regierungskampagnen (offizieller Start erst 17. Mai 2005) fürden Verfassungsvertrag konnten den Abwärtstrend der Umfragen nur vorübergehend umkehren.(Vgl. Mahony: Official Constitution drive starts in France, 17.5.2005,http://www.euobserver.com; a.a.O. Insgesamt gab es in der französischen Bevölkerung zwischenMärz und Mai 2005 eine rege Debatte zu dem Thema. Allein bis Ende April 2005 wurdenmehr als eine halbe Millionen Bücher, die den Verfassungsvertrag erklärten und/oder a-nalysierten verkauft; vgl. Aïssaoui, La constitution sur le podium des best-sellers, in: Le Figarovom 28.4.2005.36 Vgl. Beunderman, French would still vote ‘no’ to <strong>EU</strong> constitution, 17.5.2006,http://www.euobserver.com; a.a.O., 24% der Verfassungsgegner gaben an, die Gelegenheitzur Opposition gegenüber der Regierung und Jacques Chirac genutzt zu haben.63


hatten, ihre Wahl nicht bereuten. 37 Und immerhin 35% gaben an, sich mit ihremNein gegen einen türkischen <strong>EU</strong>-Beitritt ausgesprochen zu haben. 38Zwar wurde versucht, die Zustimmung der politischen und gesellschaftlichen Elitendurch die Darstellung der Verfassung als Verwirklichung französischer Idealeund Werte auf europäischer Ebene zu gewinnen: So stellte Staatspräsident Chiracden Verfassungsvertrag geschickt als „Tochter von 1789“ dar. Mit dieser Theseeines Gleichlaufs der europäischen und französischen Verfassung wurde der Verfassungsvertragpolitisch massiv aufgewertet. 39 Die Brisanz des Verfassungstoposzeigte sich jedoch in der politischen Diskussion bezüglich des Grundsatzes der offenenMarktwirtschaft mit freiem Wettbewerb: Als Rechtsgrundsatz eines völkerrechtlichenVertrages begegnete er keinen Bedenken (Art. 4 EGV), seine Erhebung zumVerfassungsgrundsatz durch Art. III-177 VVE, d.h. die Festlegung auf ein bestimmtesvolkswirtschaftliches Modell stieß zumindest in der französischen Linken aufWiderstand. 40Die französische Fachöffentlichkeit zeigt sich mit Blick auf den Verfassungstoposals ambivalent. So lehnte ein Teil der Lehre mit Nachdruck die Tendenz ab, denVerfassungsgedanken auf das Gemeinschaftssystem zu übertragen. Die Kritik zieltnicht nur auf die Konstruktion, 41 sondern auch auf das Risiko der politischen Unklarheit,das der Rückgriff auf eine neue Terminologie mit sich bringt 42 sowie derenAngemessenheit. 43 Schon früh wurde auf der Ebene der Rechtslehre das Vorhandenseineines Europäischen Verfassungsgutes anerkannt, daran wurde jedoch nicht dasErfordernis der Ausarbeitung einer Verfassung geknüpft. 44 So findet sich die Ansicht,dass durch die Wahl des Verfassungsbegriffes im Rahmen der Arbeit desKonventes ein Tabubruch begangen wurde. 45 Dem wird entgegengehalten, dass dieKonstruktion des Verfassungsvertrages doch das Vertragselement betone, etwa im37 Ebenda; vgl., Schild, a.a.O., S. 190.38 Schild, a.a.O., S. 200. Selbst die in der französischen Verfassung verankerte Garantie, dassdie Bürger über die Ratifizierung des türkischen Beitrittsvertrags per Referendum werden abstimmenkönnen (Art. 88-5), konnte diesem Thema seine Brisanz für die Referendumskampagnenicht nehmen.39 Schild, integration 03/2005, 187 (198).40 Schmitz, Der Vertrag über einer Verfassung für Europa als Verfassung, in: Festschrift fürStarck, Die Ordnung der Freiheit, 2007, S. 623 (627).41 Gouaud, Revue francaise de droit constitutionnel 22 (1995), 287 ff.42 Göler/Schild, integration 2001, S. 413; Flauss,EuR Beiheift I/2000, 31 (39).43 Favoreu, L´Euroscepticisme du droit constitutionnel, in: Gaudin (Hrsg.), Droit constitutionnel-droit communautaire, 2001, 379 ff.44 Flauss, EuR Beiheift 1/2000, 31 (40).45 Ziller, La nouva Constituzione europea, Bologna 2003, S. 31; ebenso Galetta, DÖV 2004,828; Villalón, Nationale Verfassungsangleichung zur Stunde europäischer Verfassungsgebung,in: Festschrift für Häberle, Verfassung im Diskurs der Welt, 2004, S. 206 (217) beschreibtdie Begriffwahl als schicksalsbestimmend.64


Hinblick auf die Form, das Verfahren des Inkrafttretens und die Vertragsänderung. 46Das Vertragselement in der Bezeichnung führe zu einem Verbleib in der Kategoriedes völkerrechtlichen Vertrages. Der Verfassungsvertrag sei somit ein hybridesKonzept, dass sich unter die literarische Stilfigur des Oxymorons subsumieren lassebzw., ernsthafter betrachtet, den Sui-Generis-Charakter der <strong>EU</strong> festige. 47 Diese Entscheidungwird von anderen Stimmen wiederum als Provisorium und ambivalenteEntscheidung kritisiert. Durch die gewählte Bezeichnung solle klargestellt werden,dass es sich formell um einen Vertrag und materiell um eine Verfassung handele. 48Gerade diese Ambivalenz wird aber wieder kritisiert, da an die jeweilige Einordnungunterschiedliche praktische Auswirkungen geknüpft sind. 49b) PolenWährend der Konvent tagte, wurde durch die polnische Regierung eine Reflexionsgruppezusammen gerufen, die sich der Frage widmete, ob die <strong>EU</strong> auf einer Verfassungoder einem Vertrag basiere. Diese Reflexionsgruppe sprach sich für einenVerfassungsvertrag aus. 50 Der frühere polnische Präsident Kwasniewski verteidigteden Begriff des „Constitutional Treaty“, empfand den Begriff einer Verfassungjedoch als zu weitgehend, da er im Rahmen der bürgerfernen Union, die zudem aneinem Demokratiedefizit leide, entwertet würde. 51 Der ehemalige polnische HauptunterhändlerKulakowski stellte dabei fest, dass der Begriff der Verfassung eineAussage zu Gunsten eines europäischen Föderalismus impliziere. 52Gegen die Verwendung des Verfassungstopos wurde seitens der Reflexionsgruppedahingehend argumentiert, dass dieser nur Euroskeptiker mobilisieren würde undzudem überflüssig sei, da die <strong>EU</strong> bereits über eine Verfassung verfüge. 53 Jedochbefürworteten in Polen auch Euroskeptiker die Schaffung einer Verfassung, da sie46 Derosier, Von einer Union in Europa bis zur verfassten Union Europas, in: Zuleeg/Savat/ders.(Hrsg.), Eine Verfassung für eine Union mit 25 Mitgliedstaaten: Einheit undVielfalt zugleich, 2005, S. 12 (20).47 Savat, Zu Einheit, Vielfalt und Erweiterung: Rück- und Ausblicke, Von einer Union in Europabis zur verfassten Union Europas, in: Zuleeg/ dies./ Derosier (Hrsg.), Eine Verfassung füreine Union mit 25 Mitgliedstaaten: Einheit und Vielfalt zugleich, 2005, S. 12 (20).48 Grewe, Der Parlamentarismus und die Arbeit des Verfassungskonvents aus französischerSicht, in: Festschrift für Starck, Die Ordnung der Freiheit, 2007, S. 565 (572).49 Beaud, Der Entwurf einer Verfassung für Europa- verfassungsrechtliche Betrachtungen ausfranzösischer Perspektive, Vortrag vom 3. Dezember 2003, <strong>WHI</strong> Working Paper, abrufbarunter: http://www.rewi.hu-berlin.de/<strong>WHI</strong>/english/abc.htm.50 Kleger/Karolewski/Munke, a.aO., S. 369.51 Albi, The Referendums in Eastern Europe, <strong>EU</strong>I Working Paper 65/2002, S. 24f., abrufbarunter: http://www.eui.eu/RSCAS/WP-Texts/02_65.pdf.52 Kleger/Karolewski/Munke, a.a.O.53 Kleger/Karolewski/Munke, a.a.O.65


sich von ihr eine Herrschaftsbegrenzung gegenüber der Union versprachen. 54 Freilichist auch in Polen das Verfassungsverständnis eng mit dem Begriff des Nationalstaatesverknüpft 55 , so könne die Schaffung einer europäischen Verfassung nurdurch Unterdrückung nationaler Traditionen erreicht werden. 56 Jedoch wurde trotzder Begriffswahl mehrfach das mangelnde Interesse der Öffentlichkeit wie auch derPolitiker beklagt. 57Einer der wichtigsten Anhänger des Verfassungstopos war in der Fachöffentlichkeitder Vorsitzende des polnischen Verfassungsgerichts Safjan. Er argumentierte,dass die Verfassung eine neue Qualität der Integration nach der Osterweiterungwiderspiegeln soll. 58 Nach Ansicht des polnischen Juristen Sadurski ist die Verfassungerforderlich, da technokratische Effektivität als Grundlage für Integration alleinnicht ausreichen kann. Wichtig erschien ihm die Festschreibung von gemeinsamenWerten. 59 Piontek weist darauf hin, dass der Begriff der Verfassung ursprünglich anden Nationalstaat geknüpft ist. Innerhalb der Union sei dennoch eine Verfassungauch ohne europäische Staatswerdung möglich, diese muss aber die Vielfalt derNationalstaaten beachten. 60 Die ehemalige polnische Premier- und JustizministerinSuchoka ist der Auffassung, dass es sinnvoller erscheine, den Begriff der europäischenVerfassung auf das gesellschaftliche und kulturelle Erbe der Union Europasanzuwenden, statt auf die Struktur der <strong>EU</strong>. 61 Die europäischen Verträge sieht sie alsde-facto Verfassung an, die Bedeutung der europäischen Verfassung müsse aberweiter gehen als das bloße Umstrukturieren der bestehenden Verträge. 62c) GroßbritannienAus britischer Sicht hatte der europäische Konvent primär die Aufgabe, Lösungsvorschlägezu formulieren, um die Handlungsfähigkeit einer sich erweiternden Uni-54 Ähnlich auch eine Kampagne des Economists, der so die Macht der <strong>EU</strong> in Schach haltenwollte.55 Lang, Polen, in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 05/06,2007, S. 381 (383).56 Lang, Polen, in: Weidenfeld/Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der Europäischen Integration 04/05,2006, S. 373 (375); Kleger/Karolewski/Munke, Europäische Verfassung, 3. Auflage, 2004, S.371.57 Z.B. durch Olesky, den Vorsitzenden des polnischen Europaausschusses, vgl. Kleger/Karolewski/Munke.a.a.O.,S. 358.58 Kleger/Karolewski/Munke, Europäische Verfassung, 3. Auflage, Münster 2004, S. 372.59 Kleger/Karolewski/Munke, a.a.O.60 Romer, The Constitutional Treaty from the Polish point of view, <strong>WHI</strong> Working Paper 9/2004:abrufbar unter: http://www.rewi.hu-berlin.de/<strong>WHI</strong>/Rede_Homepage_Romer.pdf.61 Kleger/Karolewski/Munke, Europäische Verfassung, 3. Auflage, 2004, S. 309.62 Kleger/Karolewski/Munke, a.a.O., S. 311.66


on in einer globalisierten Welt sicherzustellen. Diese funktionalen Aufgaben desKonvents wurden somit als prioritär betrachtet. 63 Auch daher sprach Blair unermüdlichvon einem „Treaty“, nicht aber von einer „Constitution“. 64 Vielmehr könne sichdie Verfassung, vom britischen Verfassungsverständnis her, in einer Vielzahl vonVerträgen, Gesetzen und Präzedenzfällen konkretisieren. Erst seit Laeken wird vomeinem „Constitutional Treaty“ gesprochen. 65 Tagespolitisch wird in Großbritannienmit Bezug auf die europäische Verfassungspolitik von einer Aufräumaktion, einer„tidying-up exercise“ gesprochen, die sich lediglich auf die ordnende und nicht aufdie inhaltliche Dimension der Verträge bezieht. 66 Die Regierung Blair forcierte dieBefürchtungen der Gegner der Verfassung durch die Formulierung sog. „red lines“für die Verfassungsverhandlungen. 67 Damit sollte einerseits die Stärke der nationalenRegierungen betont werden, auf der anderen Seite wurde so jedoch der Eindruckvermittelt, das Königreich müsse sich gegen die Union und ihre Verfassung durchdie Bewahrung eines nationalen Kernbereiches erwehren. So soll durch die VerfassungSouveränität gebündelt, aber nicht abgegeben werden. 68 Die Verfassung wirddabei nicht im Sinne einer konstitutionellen Neugründung verstanden, sondern eherals „Label“ für einen weiterentwickelten Vertrag. 69In der Fachöffentlichkeit Großbritanniens wird u.a. mit dem Konzept einer MultilayeredConstitution operiert, womit im Kern die vertikale Auffächerung der Verfassung„nach oben (<strong>EU</strong>) und nach unten (Devolution)“ gemeint ist. 70 Der Verfassungsbegriffwird geöffnet und das Verständnis um weitere (postnationale) Ebenenerweitert, der Verfassungsbegriff sei nicht an den Nationalstaat oder das Entsteheneiner europäischen Staatlichkeit geknüpft. 71 Trotz der vorgenommenen Abgrenzungvon nationalem und europäischem Verfassungsverständnis wird der europäische63 „What we are interested in is a simplification of the legal framework in which the <strong>EU</strong> operates.You can call it constitution if you like!” Straw in einem Interview mit der BBC am 21.Februar 2002.64 Donelly, Constitutional Treaty or Constitution?, Federal Trust Policy Commentary: “Itsreiterated use of the term treaty to describe the outcome of last year’s Intergovernmental Conferenceis one part of this general strategy”, abrufbar unter:http://www.fedtrust.co.uk/admin/uploads/Policy_Commentary_Feb_2005.pdf.65 Ratzmann, Der Konvent als verfassungsgebende Institution, S. 19, abrufbar unter:http://www.iehei.org/bibliotheque/memoires/RATZMANN.pdf.66 Black, The new Europe in 333 pages, The Guardian v. 19.06.2004; ders., Hain plays downany polls on <strong>EU</strong> future, The Guardian v. 15.05.2003.67 Potzeldt, Vereinigtes Königreich: Referenden als Mittel der Wahl, in: König/Daimer/Finke(Hrsg.), Plebiszit und Ratifikation, 2006, S. 111 (121): Für die Bereiche Außen- und Sicherheitspolitik,Arbeitsrecht, im Wahl- und im Steuersystem.68 Göler, Die neue europäische Verfassungsdebatte, S. 19.69 Göler, Die neue europäische Verfassungsdebatte, S. 30.70 Bamforth, Public Law in a Multi-Layered Constitution, 2003.71 Donelly, Constitutional Treaty or Constitution?, Federal Trust Policy Commentary: “Itsreiterated use of the term treaty to describe the outcome of last year’s Intergovernmental Conferenceis one part of this general strategy”,abrufbar unter:http://www.fedtrust.co.uk/admin/uploads/Policy_Commentary_Feb_2005.pdf.67


Verfassungsvertrag mit der nationalen Verfassung verglichen. 72 Im Zentrum derDiskussion stand die Frage, ob eine geschriebene Verfassung nicht zu einer Unbeweglichkeitführe. 73 Anders als in der Öffentlichkeit 74 wurden in der britischenFachwelt vor allem die zwei Elemente des Begriffes Verfassungsvertrag betont. 75d) NiederlandeAm 1. Juni 2005 kam es bei dem Referendum über den <strong>EU</strong>-Verfassungsvertrag zueiner deutlichen Ablehnung. Bei einer verhältnismäßig hohen Wahlbeteiligung vonannähernd 63 % 76 votierten 61,6 % der Wähler gegen die Verfassung. 77Obwohl die nationalen Regierungs- und die meisten Oppositionsparteien in ihreroffiziellen Linie pro-europäisch argumentierten, schlossen sich die niederländischenWähler mehrheitlich den Argumenten der Rand- und Extremparteien an. 78 Die Ablehnungdes europäischen Verfassungsvertrages stellt sich zuvorderst als Ablehnungder politischen Elite, die ihn unterstützt und ausgehandelt hat, dar. 79 Das Problemdes Verfassungsvertrages bestand zugespitzt darin, dass er von allen maßgeblichenpolitischen Kräften der Niederlande unterstützt wurde und somit leicht mit der politischenKlasse identifiziert werden konnte. 8072 Horspool, The Common Law System in a constitutionalised European Union, in: Blanke/Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe under a Constitution, 2006, S. 235 (236).73 Horspool, a.a.O.74 Diese nennt den Verfassungsvertrag kurz Constitution, vgl. Donelly, Constitutional Treaty orConstitution?, Federal Trust Policy Commentary: “Its reiterated use of the term treaty to describethe outcome of last year’s Intergovernmental Conference is one part of this generalstrategy”,abrufbar unter:http://www.fedtrust.co.uk/admin/uploads/Policy_Commentary_Feb_2005.pdf.75 Usher, The United Kingdom Approach to the Draft Constitution, in: Schwarze (Hrsg.), DerVerfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 469; Donelly, ConstitutionalTreaty or Constitution?, Federal Trust Policy Commentary: “Its reiterated use of the termtreaty to describe the outcome of last year’s Intergovernmental Conference is one part of thisgeneral strategy”, abrufbar unter:http://www.fedtrust.co.uk/admin/uploads/Policy_Commentary_Feb_2005.pdf.76 Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament waren es 1999 29,9 Prozent und 2004 39,1Prozent!77 Jopp/ Kuhle, integration 2005, 257.78 Jopp/ Kuhle, integration 2005, 257.79 Bellmann, Niederlande: Die Verfassung als Sündenbock, in: König/Daimer/Finke (Hrsg.),Plebiszit und Ratifikation, 2006, S. 81 (89); Diederichs/Wessels, integration 2005, 287 (289);Das Denkzettel-Motiv war jedoch in den Niederlanden (8 Prozent) nicht so stark ausgeprägtwie in Frankreich (30-40 Prozent), vgl. Jopp/ Kuhle, integration 2005, 257 (258, Fn. 3).80 Diedrichs/Wessels, integration 2005, 287 (290).68


Die Ursachen der Ablehnung sind jedoch auch mit dem Verfassungstopos verknüpft.81 So beflügelte die Verwendung des staatsgeprägten Verfassungsbegriffs bei19 % der Befragten die Furcht vor dem Verlust der nationalen Souveränität. 82 DerVerfassungstopos forciert in deren Wahrnehmung eine größere Verantwortung zwischenden Mitgliedstaaten, ihm wird daran anknüpfend eine Art Selbstverpflichtungbeigemessen, die finanziellen Lasten der anderen Mitgliedstaaten zu tragen und sostärker auch an finanziell schwächere Partner gebunden zu werden. Parallel hierzukonzentrierte sich die die Debatte in den Niederlanden auf die dem Euro angelasteteTeuerungsrate und die Position des Landes als größtem <strong>EU</strong>-Beitragszahler gemessenam Bruttonationaleinkommen, bei gleichzeitigen Bemühungen der Regierung Balkenende,den <strong>EU</strong>-Stabilitätspakt mittels eines nationalen Sparhaushalts einzuhalten.83 Die öffentliche Meinung ging somit in die Richtung, dass der Wohlstand ungeteiltim Inland verbleiben sollte.In der niederländischen Ablehnung der Verfassung ist somit zuvorderst eine Kritikan der nationalen Politik, aber auch die Furcht vor einem „europäischen Superstaat“zu erblicken. Im November 2006 äußerte sich der ehemalige AußenministerBernard Bot dahingehend, dass es ein Fehler war, den Vertrag Verfassung zu nennen.Der Verfassungstopos und das herrschende Bild des europäischen Superstaatesseien zu einem Teil die Gründe dafür, warum der Vertrag verworfen wurde. 844. ZwischenergebnisDer vorstehende Versuch, die Hintergründe der Debatte über den Verfassungsvertragzu skizzieren, macht im Ergebnis zweierlei deutlich: Auch wenn die jeweiligennationalen Debatten zuvorderst von innenpolitischen Aspekten geprägt werden, sowird doch deutlich, dass auch über die Europäische Union und ihre Entwicklungdiskutiert bzw. in den Referenden abgestimmt wurde. In der Debatte und den Referendenüber den Verfassungsvertrag drückt sich ein unbestimmtes Unbehagen über81 Die Niederländer geben aber auch andere Gründe an, so z.B. die Furcht vor einem europäischenWirtschaftsliberalismus mit fehlendem sozialen Bezug, die mangelnde Informationhinsichtlich des Projekts, dies gepaart mit der großen Komplexität des Verfassungswerkes,ferner die Ablehnung des <strong>EU</strong>-Beitritts der Türkei, vgl. Kuhne, Die wachsende Europa-Skepsis der Deutschen: Ursachen und Dimensionen im europäischen Vergleich, InternationalePolitikanalyse Europäische Politik, März 2006, S. 1 ff., Veröffentlichung der FES, abrufbarunter: http://library.fes.de/pdf-files/id/03609.pdf; Bellmann, Niederlande: Die Verfassung alsSündenbock, in: König/Daimer/Finke (Hrsg.), Plebiszit und Ratifikation, 2006, S. 81 (88).82 Bellmann, Niederlande: Die Verfassung als Sündenbock, in: König/Daimer/Finke (Hrsg.),Plebiszit und Ratifikation, 2006, S. 81 (88).83 Jopp/ Kuhle, integration 2005, 258.84 Bot, Rede über die Europäische Verfassung im niederländischen Harvard Club in Amsterdamam 9.November 2006, abrufbar unter:http://www.unimuenster.de/HausDerNiederlande/Zentrum/Projekte/NiederlandeNet/Dossiers/europa/www.minbuza.nl/nl/actueel/speeches,2006/11/Hoegaan-we-nu-verder-.html.69


die Entwicklung der europäischen Integration aus. Dieses machte sich dann symbolhaftam Verfassungsvertrag, befördert durch die verkürzende Rede von einer europäischenVerfassung, fest. Diese verkürzende Rede begann schon mit der Vorlage desKonventsentwurfs: Auf der von den europäischen Institutionen verbreiteten Textausgabedes „Vertrages über eine Verfassung für die Europäische Union“ war derBegriff „Vertrag“ ganz klein geschrieben, hingegen derjenige der Verfassung ganzgroß. Diese Hervorhebung des Verfassungsbegriffs war ganz entscheidend motiviertdurch das Bestreben, die europäischen Bürger für das Projekt der europäischen Integrationwiederzugewinnen. Dies haben die vorstehenden Ausführungen deutlichgemacht. Die vorstehenden Ausführungen haben aber auch deutlich gemacht, dasses gerade die Verwendung des Verfassungsbegriffs war, die manchen Bürgern inmanchen Mitgliedstaaten das Gefühl verlieh, es entstehe mit dem Verfassungsvertragein europäischer Superstaat, der die Mitgliedstaaten entmachte und die nationaleIdentität in Frage stelle. Diese Angst der Bürger vor einem europäischen Superstaatdie sich in der Debatte über den Verfassungsvertrag und die Referenden intuitivam Verfassungstopos festmachte, resultierte aus verschiedenen Defiziten.1. Das erste Defizit resultiert aus der Unkenntnis des Verfassungsvertrages undseiner Hintergründe. Der Verfassungsvertrag wollte verschiedene, immer wiederkritisierte Schwächen der Europäischen Union beseitigen. Er wollte das immer wiederbehauptete Demokratiedefizit der Europäischen Union mit einem Kapitel überdas „demokratische Leben in der Europäischen Union“ beseitigen. Er wollte mit derGrundrechtecharta die Rechte und Freiheiten der Bürger gegenüber der EuropäischenUnion stärken. Ferner wollte er durch eine Auflistung der der EuropäischenUnion zugewiesenen Kompetenzen den Bürgern gerade die Angst vor einem allmächtigenSuperstaat Europa nehmen und schließlich wollte er durch eine stärkersichtbar gemachte sozial- und umweltpolitische Flankierung des europäischen Binnenmarktesdeutlich machen, dass die Europäischen Union nicht mehr nur eine reineWirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine politische Gemeinschaft ist, die nichtder reinen Ökonomisierung der Lebensverhältnisse verpflichtet ist. Und schließlichwollte der Verfassungsvertrag für Transparenz sorgen, indem er die komplizierteTempelkonstruktion der Europäischen Union aufhob und bestimmte in der Rechtsprechungentwickelte Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts, wie etwa denVorrang, erstmals explizit regelte.Aber gerade diese Motivation, diese „Ehrlichkeit“ des Verfassungsvertragesschien sich kontraproduktiv zu wenden, indem Selbstverständlichkeiten des geltendenEuroparechts plötzlich in Frage gestellt wurden. Als Beispiel mag die „Entdeckung“des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts durch manche Stimmen in der Öffentlichkeitgelten. In manchen Medien und politischen Debatten wurden den Bürgernsuggeriert, der Verfassungsvertrag etabliere in Art. I-6 VVE nun erstmals einenVorrang des europäischen Rechts vor dem nationalen Recht. Mit Staunen registriertenmanche Bürger in der Folge erstmals, dass das Europarecht ihr nationales Rechtverdrängen kann. Dass dies bereits seit dem grundlegenden Urteil des EuGH Cos-70


ta/ENEL aus dem Jahre 1964 der Fall ist 85 und bislang allgemein akzeptiert war,geriet in dieser fehlgeleiteten Debatte aus dem Blickfeld. Man muss es schon als fasttragisch bezeichnen, wenn der Verfassungsvertrag den allgemein akzeptierten Vorrangdes Europarechts nunmehr erstmals im Verfassungsvertrag nachlesbar unddamit transparent machte, aber mitunter an solcher Form der Transparenz scheiterte.Der Vorrang ist aber nur ein Beispiel, die Grundrechtecharta wäre ein weiteres:Eigentlich zur Stärkung der Rechte der Bürger, die sich bislang nur auf ungeschriebeneallgemeine Rechtsgrundsätze (vgl. Art. 6 Abs. 2 <strong>EU</strong>V), die der EuGH in seinerRechtsprechung erst einmal entwickeln muss, berufen konnten, gedacht, schien dieGrundrechtecharta nunmehr die Wahrnehmung der Europäischen Union durch dieBürger als Superstaat zu bestätigen.Aber auch die umstrittene Regelung der Symbole der Europäischen Union (Art.I-8 VVE), die man für verzichtbar halten mag, regelte eigentlich nichts Neues: DieFahne der Europäischen Union hängt längst in vielen nationalen Behörden neben derjeweiligen nationalen Flagge, Beethovens Ode an die Freude ist schon lange alsEuropahymne in der Praxis akzeptiert. Und wer wollte etwas gegen den Leitspruchder <strong>EU</strong>, „In Vielfalt geeint“ oder den Europatag einwenden?Die Angst der Bürger vor dem Superstaat kann vor diesem Hintergrund also nichtdurch den Inhalt des Verfassungsvertrags motiviert gewesen sein. Gerade wenn mandas vorstehend stellvertretend zitierte Unbehagen von Leon de Winter an der EuropäischenUnion ernst nimmt, so wäre der Verfassungsvertrag als Antwort auf jeneÄngste der Bürger zu verstehen.2. Vor diesem Hintergrund muss es also ein Erklärungsdefizit geben. Und in derTat haben jene Staats- und Regierungschefs, die den Verfassungsvertrag in Rom mitgroßer Geste unterzeichneten, für seine Ratifizierung zu wenig getan. Die Politik inden Mitgliedstaaten versäumt es regelmäßig den Bürgern die Vorteile der europäischenIntegration nahe zu bringen, vielmehr werden ihre Erfolge gern als Ergebnissenationaler Politik reklamiert. Umgekehrt verhält es sich mit den durchaus kritikwürdigenSchwächen europäischer Politik, die – auch wenn sie nationale Ursprüngehaben – gerne den europäischen Institutionen bzw. ganz pauschal der EuropäischenUnion angelastet werden.Nachdem die Mitgliedstaaten ihren Bürgern über Jahrzehnte den Eindruck vermittelthatten, dass es bei der europäischen Integration um ein primär ökonomischesProjekt gehe, das mit ihrem Alltag nicht viel zu tun habe, konfrontierte sie der Verfassungsvertragmit der geballten politischen Realität. Dieses Informationsdefizithätte durch eine langfristig angelegte und auf umfassende Information über die Inhaltedes Verfassungsvertrages angelegte Debatte kompensiert werden können undmüssen. Genau dies wurde aber in vielen Mitgliedstaaten versäumt. Vielmehr distanziertensich in Frankreich und den Niederlanden die Politiker von dem durch sieunterzeichneten Verfassungsvertrag oder versäumten es zumindest rechtzeitig fürihn zu werben.85 EuGH Rs. 6/64, Slg. 1964, 1141.71


3. Vor dem Hintergrund dieses Informationsdefizits konnte die Lebenslüge dereuropäischen Integration nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ihre Negativwirkungenvoll entfalten. Diese besteht in der von der Europapolitik ganz überwiegendverbreiteten Formel von der gleichzeitigen Erweiterung und Vertiefung. Ihr fehltjedoch in den Augen der Bürger – nicht ohne Grund – die Glaubwürdigkeit: DieBürger empfinden jene auf 27 Mitgliedstaaten erweiterte Europäische Union als zuheterogen für eine gemeinsame Verfassung. Hieraus resultiert ein ganz maßgeblichesUnbehagen, das in der Widersprüchlichkeit der europäischen Politik wurzelt.Denn die Erweiterung, zuletzt um Bulgarien und Rumänien, künftig vielleicht umdie Türkei, macht die Europäische Union in politischer und ökonomischer Hinsichtimmer heterogener. Demgegenüber setzt das Projekt einer Verfassung – auch imgefühlten Empfinden der Bürger – eine gewisse Homogenität voraus, die sie in dererweiterten Europäischen Union zunehmend vermissen. Die Debatte um die Dienstleistungsrichtliniemit ihren Bedrohungen durch günstigere, unter anderen Wettbewerbsbedingungenarbeitende Anbieter und die im Kontext der Globalisierung allgegenwärtigeAngst vor einem Abstieg und Verlust an Besitzständen vermittelt deneuropäischen Bürgern ein Gefühl des „Ungeschütztseins“. Nachdem die EuropäischeUnion über den nach Mittel- und Osteuropa erweiterten Binnenmarkt denWettbewerbsdruck auf das westeuropäische Sozialmodell verstärkte, trauen dieBürger der Europäischen Union eine solche Schutzaufgabe nicht zu, sondern wendensich an „ihren“ Staat. Indem die Formel von der Erweiterung und gleichzeitigenVertiefung die Europäische Union politisch überfordert, wird sie in den Augen derBürger unglaubwürdiger. Intuitiv spüren die Bürger jenen Widerspruch zwischenErweiterung und Vertiefung. Das Unbehagen über diesen Widerspruch schlug sichin der Debatte und in den Referenden über den Verfassungsvertrag nieder. Einegemeinsame Verfassung als Projekt einer vertieften Europäischen Union wurde inden Augen der Bürger als nicht kompatibel mit der Erweiterung angesehen.Die so skizzierten drei Defizite stehen miteinander in engem Zusammenhang. Siegemeinsam können als Ursache für das Scheitern des Verfassungsvertrages angesehenwerden. So gesehen scheint es nicht an und für sich der Verfassungstopos gewesenzu sein, sondern vielmehr jener mit ihm transportierte Widerspruch, der dieBürger zur Kritik bzw. gar Ablehnung des Verfassungsvertrages geführt hat.Es gelang der Politik demgegenüber nicht, den Bürgern den Mehrwert des Verfassungsvertrages,gerade angesichts eines längst erfolgten Verlustes der staatlichenAutonomie, zu vermitteln. 86 Die ursprünglich erhoffte positive Sogwirkung desVerfassungsbegriffs sowie die Mobilisierung der Bürger für und durch eine Verfas-86 Heuser, Der Verfassungsprozess in der öffentlichen Wahrnehmung und die Rolle der Zivilgesellschaft,in: Weidenfeld (Hrsg.), Die Europäische Verfassung in der Analyse, 2. Auflage2005, S. 26ff., Niedermayer, Die öffentliche Meinung zum Europäischen Verfassungsvertrag,in: Jopp/Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung über Europa, 2005, S. 435 ff.72


sung sind ausgeblieben, dies belegen die Befunde zur öffentlichen Meinung, die inder Tat auf einen geringen Grad an Kenntnis und Aufmerksamkeit hindeuten. 87III. „Wir haben es ja schon immer gesagt…“ !? – Der Verfassungstopos im Spiegeldes wissenschaftlichen Streits in Deutschland1. Alte und neue VerfassungsskeptikerVon einem Teil des deutschen Schrifttums, der so unterschiedliche Stimmen wieDieter Grimm und Josef Isensee umfasst, wird die Verwendung des Begriffs „Verfassung“für die Gemeinschaftsverträge seit jeher mit der - bei genauer Betrachtungerstaunlich ähnlichen – Begründung abgelehnt, dass er an den souveränen Staatanknüpfe. Zu einer Verfassung im vollen Sinn des Begriffs gehöre es, dass sie aufeinen Akt zurückgehe, den das Staatsvolk selbst setze oder der ihm zumindest zugerechnetwerden könne 88 . Eine solche Quelle aber fehle dem primären Gemeinschaftsrecht,das nicht auf ein europäisches Volk, sondern auf die einzelnen Mitgliedstaatenzurückgehe und von diesen abhängig bleibe. Im Gegensatz zu souveränenStaaten, die sich ihre Verfassung selbst gäben, werde der <strong>EU</strong> eine Verfassungvon Dritten, den Mitgliedstaaten, gegeben. Folglich könne die <strong>EU</strong> auch nicht überihre eigene Grundordnung verfügen. Zwar übernähmen die Verträge gegenüber deröffentlichen Gewalt der <strong>EU</strong> wesentliche Funktionen, die staatlich einer Verfassungzukämen, insbesondere was die Verrechtlichung von politischer Herrschaft angehe.Aufgrund ihrer Rückführung auf den Willen der Mitgliedstaaten statt auf den einesUnionsvolkes seien sie jedoch keine Verfassung im Vollsinn des Wortes 89 . An demfür die <strong>EU</strong> formulierten „Verfassungsvertrag“ gilt dementsprechend als problematisch,inwieweit sich der durch den Vertrag neu geschaffene Hoheitsträger von denVertragsparteien verselbständigen kann. 9087 Diedrichs/Wessels, integration 2005, 287 (289).88 Grimm, JZ 1995, 581 (586) unter Bezugnahme auf u. a. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip,in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. I, 1987, § 22, Rn. 5 ff.; Isensee, IntegrationszielEuropastaat?, in: Festschrift für Everling, Bd. I, 1995, S. 567 (581); Koenig,NVwZ 1996, 549 (551); grundlegend ders., DÖV 1998, 268 ff.; Böckenförde, in: ders.(Hrsg.), Staat, Nation, Europa, 1999, S. 127 (135 ff.); Rupp, AöR 120 (1995), 269 (270 f.).89 Grimm, JZ 1995, 581 (586 m.w.N.); ders., Die Verfassung im Prozess der Entstaatlichung, in:Festschrift für Badura, 2004, S. 145 (165 f.); ders., in: Schuppert/Pernice/Haltern (Hrsg.), EuropasVerfassung, 2005, S. 177 ff. unter Beharren auf dem Erfordernis eines konstitutionsfähigenGegenstandes und deswegen mit der Unterscheidung zwischen sich vollziehender Verrechtlichungund Konstitutionalisierung; Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV, Art. 1<strong>EU</strong>V, Rn. 28 f.; noch deutlicher dagegen Koenig, NVwZ 1996, 549 (551).90 Vgl. z.B. Hilf, integration 1994, 68 (70); Hirsch, NJW 2000, 46 (47); Walter, DVBl. 2000, 1(12); Schwarze, EuR 2000, 7 (28); Piris, EuR 2000, 311 (337).73


Vor diesem Hintergrund wird die Verwendung des Verfassungsbegriffs für dieVerträge als eine Falsa Demonstratio kritisiert, die Missverständnisse und Enttäuschungenüber die Leistungsfähigkeit der <strong>EU</strong> auslösen könne, so die soziale Geltungskraftder gemeinschaftlichen Rechtordnung in Frage stelle und daher der europäischenEinigungsidee im Ergebnis sogar schaden könne 91 .Im Kontext der Verfassungstheorie unterscheidet Christoph Möllers zwischenherrschaftsbegründender Verfassung (als Hervorbringung und Legitimierung vonHerrschaft) und herrschaftsformender Konstitutionalisierung (als Verrechtlichungeiner nicht von der Verfassung hervorgebrachten, sondern unabhängig von ihr bestehendenHerrschaft) 92 . Dadurch werden gleichberechtigte – wenn auch nichtgleichwertige – Verfassungsbegriffe nebeneinander begründet, wobei der erste demokratischund der letzte rechtsstaatlich akzentuiert sei. Dieses Spannungsverhältnisdürfe auch bei der europäischen Betrachtung nicht außer Acht gelassen werden,wobei bei Anwendung der Verfassungstraditionen auf die <strong>EU</strong> ein doppeltes Defizitan Herrschaftsbegründung und an Herrschaftsformung bestehe. Insbesondere habesich die Europarechtswissenschaft mit ihren Konstitutionalisierungskonzeptionen zuweitgehend auf die rechtsbezogenen Tradition des Verfassungsbegriffs bezogen.Das europarechtlich herrschende, evolutive Konzept könne nur schwer begründen,warum eine der vielen Vertragsänderungen mit dem Begriff Verfassung versehenwerden soll. Im Ergebnis ebenso wie Dieter Grimm stellt Christoph Möllers bei derBestimmung der Qualität einer Verfassung insbesondere auf deren Genese ab, indemer am Akt der Verfassungsgebung anknüpft. Dieser bezieht sich jedoch nichtauf die formalen Rahmenbedingungen, sondern auf die materielle Beteiligung undübernimmt damit die Funktion der autonomen Selbstbeschränkung im Rahmen desGesellschaftsvertrages 93 . Er legt ein „radikal Input-orientiert[es]“ Konzept 94 zugrundeund folgert aus diesem, dass allen Bürgern bei der Verfassungsgebung die gleicheBeteiligungschance eingeräumt werden müsse.An die vorstehende Verfassungsbegriffskritik anknüpfend wird aus einer kulturwissenschaftlichenbzw. -theoretischen Perspektive von Ulrich Haltern hervorgehoben,dass die Normativität einer Verfassung nicht nur auf rationalen Erwägungen,sondern zugleich auf dem Glauben an das unsichtbar-imaginäre der Volkssouveränitätberuhe. Eine Art Gründungsmythos sei Verfassungsvoraussetzung; dieser werde91 Koenig, DÖV 1998, 268 (275); vgl. auch Hillgruber, JZ 2002, 1072 ff.; Rupp, JZ 2003,18 ff.; ders., JZ 2005, 741 (743 ff.); Cromme, DÖV 2002, 593 ff.92 Dazu auch Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in:von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 1 (29 ff.).93 Vgl. Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: vonBogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 1 (31), der in der Verfassungsgebungunter Berufung auf Sieyès einen „Akt der Selbstbindung […] freier und gleicher Bürger“sieht.94 Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: von Bogdandy(Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 1 (33).74


typischerweise in einer Verfassung perpetuiert und fungiere solchermaßen als Sinnspeichereiner politischen Gemeinschaft 95 . Dieser Ursprungsmythos – bestehend ausheroischen erinnerungsfähigen Taten oder Zäsuren – fehle der <strong>EU</strong>, die sich als Vernunftproduktnur über den Binnenmarkt definiere 96 . Danach fehle dem europäischenRecht das Gedächtnis, welches das Recht an die Imagination des Politischen rückkopple,so dass eine europäische Verfassung als Symbol in die leere liefe, da der <strong>EU</strong>der imaginäre politische Zusammenhalt fehle.Argumentativ nichts Neues liefert insoweit die eingangs bereits zitierte Kritik ander Verwendung des Verfassungsbegriffs von Heinig, die genüsslich die Positionender vorstehenden Autoren aufgreift, um den angeblich selbstreferentiellen „professionellenEuropadeutern“ selbstgefällig den Spiegel vorzuhalten.2. StellungnahmeSchon die EG hatte mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza denAnspruch erhoben, nicht mehr nur als reine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auchals ein politisches Gemeinwesen mit eigener Identität und damit als Wertegemeinschaftwahrgenommen zu werden 97 . Dem korrespondierend wurde auch im Schrifttumversucht, einem Verfassungsverständnis den Weg zu bereiten, das den Verfassungsbegriffzeitgemäß vom Staat löst und so der Internationalisierung und Europäisierungdes Staates durch Öffnung gegenüber supranationalen OrganisationsstrukturenRechnung trägt 98 . Damit ist die Frage aufgeworfen, ob man die europäischenVerträge nicht auch unabhängig vom „Verfassungsvertrag“ als Verfassungbezeichnen kann.Dafür spricht zum einen der Umfang der von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaftübertragenen Hoheitsbefugnisse, die Dichte und Intensität der Regelungenzu den Gemeinschaftskompetenzen, ihre Justitiabilität und Durchsetzung. Des95 Haltern, Gestalt und Finalität, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht,2003, S. 803 (820 ff.,); ders., AöR 128 (2003), 511 (545 ff.).96 Haltern, Gestalt und Finalität, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht,S. 803 (837 ff.); ders., Europarecht und das Politische, 2005, S. 371 f., 502 ff.97 Skeptisch Reimer, ZG 2003, 208 ff.98 Hierzu Arnold, Begriff und Entwicklung des europäischen Verfassungsrechts, in: Festschriftfür Maurer, 2001, S. 855 (856 f.); Badura, Die föderative Verfassung der Europäischen Union,in: Festschrift für Heckel, 1999, S. 694 (700); Walter, DVBl. 2000, 1 ff.; Hobe, Der offeneVerfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998, S. 499 ff.; Di Fabio,Das Recht offener Staaten, 1998, S. 139 ff.; ders., JZ 2000, 737 (739); Häberle,Das Grundgesetzals Teilverfassung im Kontext <strong>EU</strong>/EG – eine Problemskizze, in: Festschrift für Schiedermair,2001, S. 81 ff.; Jacqué, EuGRZ 2004, 551 ff.; Hertel, JöR 48 (2000), 233 (244 ff.);Pache, EuR 2002, 767 (770 ff.); Zuleeg, Der Staat 41 (2002), 359 ff. Nach Möllers, VerfassungsgebendeGewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: von Bogdandy, EuropäischesVerfassungsrecht, S. 1 (18 f. m.w.N. in Fn. 93) handelt es sich hierbei um die herrschendeAnsicht.75


Weiteren ist auf die unmittelbare Anwendbarkeit von Bestimmungen des Primärrechtszugunsten von Bürgern sowie den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz(sogar mit Bindungswirkungen für die Mitgliedstaaten 99 ), beide durch eine umfassendegerichtliche Kontrolle des EuGH garantiert, hinzuweisen. Gerade die unteranderem hierin zum Ausdruck kommende Ausgestaltung der <strong>EU</strong> als Rechtsgemeinschaft,der hohe Grad an „Normativität“, der ihr – von den Mitgliedstaaten autonomes– Rechtssystem kennzeichnet, sprechen dafür, Bedenken gegenüber einer Verwendungdes Begriffs der Verfassung aus dem noch-nicht-staatlichen Entwicklungsstandder Gemeinschaft zurücktreten zu lassen. Betrachtet man überdies die höchsteStellung der Verträge in der Normenhierarchie der Gemeinschaftsrechtsordnung, sowird deutlich, dass die Verträge, gleich einer Verfassung, prägender Maßstab für dasnachfolgende Recht sind. Die Verträge mögen zwar angesichts der Tatsache, dassdie europäische öffentliche Gewalt nicht auf den Willen eines Unionsvolkes, sondernnur auf den der Mitgliedstaaten und damit den der „Völker Europas“ (Art. 1Abs. 2 <strong>EU</strong>V) rückführbar ist, keine traditionelle Verfassung darstellen. Von entscheidenderBedeutung ist jedoch, dass die Verträge bereits heute ganz wesentlicheFunktionen und Inhalte einer Verfassung, deren unmittelbares Subjekt nicht nur derjeweilige Mitgliedstaat, sondern gerade auch der einzelne Bürger ist, aufweisen.Zutreffend wird insoweit die Ordnungsfunktion, die Bestandsicherungsfunktion, dieSchutzfunktion, die programmatische Funktion, die Legitimationsfunktion sowie dieIntegrationsfunktion der Verträge hervorgehoben; hinsichtlich der Inhalte wird andie Stichwörter (innere und äußere) Sicherheit, Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaatund Umweltstaat angeknüpft 100 .Die Europäische Integration wurde demnach nicht erst mit dem (noch) unverbindlichenVerfassungsvertrag konstitutionalisiert, sondern es bestand schon länger einesich kontinuierlich herausbildende Verfassung 101 . Mithin hätte der Verfassungsver-99 Ruffert, EuGRZ 1995, 518 ff.100 Zum ganzen ausführlich Huber, VVDStRL 60 (2001), 194 (199 ff.); Steinberg, ZRP 1999,365 (366 ff.); Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 76 ff.;Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 490 ff.; Dorau, DieVerfassungsfrage der Europäischen Union, 2001, S. 69 ff.; Rodriguez Iglesias, EuGRZ 1996,125 ff.; skeptisch aufgrund dieser Kriterien Stein, Europas Verfassung, in: Festschrift fürKrause, 2000, S. 233 (239 ff.); differenzierend Schmitz, Integration in der SupranationalenUnion, 2001, S. 398 ff., insbesondere S. 415 ff., der einzig das (formelle) Merkmal der„Selbstkennzeichnung als Verfassung” vermißt (S. 466 ff.), die materiellen Voraussetzungenaber für erfüllt hält. Als Folge des unionsspezifischen Verfassungsbegriffs bildet sich eine eigeneeuropäische Verfassungslehre; dazu Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2006.101 Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 372 ff.; Oeter, ZaöRV 55(1995), 659 (689); ders., ZaöRV 59 (1999), 901 ff.; Ruffert, EuR 2004, 165 (199); Beutler, in:von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV, Art. 6 <strong>EU</strong>V, Rn 4; Pernice, in: ders./Maduro(Hrsg.), A Constitution for the European Union: First Comments of the European Convention,2003, S, 13 ff., unter Bezugnahme auf Ackermann, Yale Law Journal 99 (1989), 453 ff.,76


trag nicht zu einer konstitutionellen Neugründung Europas geführt, sondern vielmehrwar er eine konstitutionelle Fortschreibung im Kontext einer pragmatischenVerfassungsreform. Dieser evolutive Prozess vom Vertrag zur Verfassung wurde sogesehen durch einen nachholenden Konstitutionalisierungsakt in Form der EuropäischenVerfassung für den Bürger sichtbar und damit transparent gemacht. Mit derNormlogik eines völkerrechtlichen Vertrages, der textlich einer Verfassung angepasstwird, ist eine neuartige Verfassungsordnung entstanden. Dieses sollte demBürger mit dem Verfassungsvertrag vor Augen geführt werden.So gesehen ging es für den Bürger beim Verfassungsertrag eigentlich um einenentscheidenden Schritt der Transparenz: Mit dem Verfassungsvertrag wurde derrealiter bereits existierende Staaten- und Verfassungsverbund sichtbar. Und mit demVerfassungsvertrag sollte die in diesem ausgeübte Herrschaftsgewalt nunmehr erkennbarausgestaltet, gebunden und legitimiert werden. Diese Aufgabe einer Verfassung,normative Bindung und Legitimation von Herrschaftsgewalt zu bewirken,muss im Hinblick auf jene neue im Verbund, geteilt zwischen <strong>EU</strong> und Mitgliedstaaten,ausgeübte Herrschaftsgewalt fortentwickelt werden. Denn im Zuge jener ökonomischund politisch motivierten Enterritorialisierung des Staates in der <strong>EU</strong> kannjener, ursprünglich der staatlichen Verfassung zugeschriebene Anspruch, Hoheitsgewaltterritorial begrenzt, aber sachlich umfassend zu verfassen, nicht mehr erfülltwerden. Wenn also Aufgaben der Verfassung zumindest teilweise auch in nichtstaatlichenOrganisationsformen wie der <strong>EU</strong> erfüllt werden, dann bedarf die damitverbundene Ausübung von Hoheitsgewalt der rechtlichen Bindung. BegrenzungsundLegitimationsfunktion der Verfassung müssen in neuem Kontext, eben jenemdes Staaten- und Verfassungsverbundes, sichergestellt werden. Insoweit kann dieVerfassung vom Staat gelöst werden, ein weiter gefasster, von Stereotypen unddefinitorischem Schubladendenken (Staat = Verfassung; Staaten-(ver-)bund = Vertrag)befreiter, „postnationaler” Verfassungsbegriff ist zu etablieren, im Zuge dessendie Verträge – zumindest bei einer materiellen Betrachtung – als „Verfassung“ bezeichnetwerden können 102 .geht davon aus, dass der fortlaufende Prozess durch „constitutional moments“ geprägt undgefördert wird.102 Zum Begriff Verfassungsverbund: Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148 (155 ff.); in der Saches. auch: Huber, VVDStRL 60 (2001), 194 (198 f.); Dorau, Die Verfassungsfrage der EuropäischenUnion, 2001, 45 ff.; Hirsch, NJW 2000, 46 f.; Steinberg, ZRP 1999, 365 (371 ff.);Walter, DVBl. 2000, 1 (5 f.); ebenso bzw. ähnlich Bieber, in: Müller-Graff/Riedel (Hrsg.),Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 1998, S. 209 ff.; Rodriguez Iglesias,EuGRZ 1996, 125 ff.; Everling, in: Festschrift für Mosler, 1983, S. 173 (180); Epping,JZ 2003, 821 (824); Zuleeg, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003,S. 931 (932); Bernhardt, Quellen des Gemeinschaftsrechts: Die „Verfassung“ der Gemeinschaft,in: Kommission (Hrsg.), Dreißig Jahre Gemeinschaftsrecht, Brüssel/Luxemburg 1981,S. 77 ff.; Tomuschat, DVBl. 1996, 1073 (1074), der die Diskussion – mit Blick auf die rechtlichenKonsequenzen nicht zu Unrecht – als einen „Streit um Worte“ bezeichnet.77


Damit hat sich gezeigt, dass eine Ablösung der Verfassung vom Begriff des Staatesmöglich und im Interesse einer für den Bürger transparenten und verständlichen<strong>EU</strong> auch erforderlich ist. Im Zuge der europäischen Integration hat die rechtlicheGrundordnung der <strong>EU</strong> – weitgehend unbemerkt von nationalen Politikern und densie wählenden Bürgern – wesentliche Verfassungsfunktionen übernehmen müssen.Der mitgliedstaatliche Handlungsrahmen („Staatenverbund“) und die Einbringungseiner Verfassung in einen „Verfassungsverbund“ bewirken eine multipolar begründeteVerbundsgewalt die über eine europäische Verfassung wieder eingehegt werdenmuss. Im Zuge dessen kann der souveränitätstheoretische Geltungsanspruch imeuropäischen Staaten- und Verfassungsverbund nicht mehr allein von den mitgliedstaatlichenVerfassungen eingelöst werden, da sie sich auf Bereiche beschränkenmüssen, die ihnen aufgrund des Anwendungsvorrangs von der gemeinsamen europäischenVerfassung überlassen werden. Längst ist neben dem Staat auch die Verfassungmit der Grundordnung der <strong>EU</strong> verzahnt ist.So gesehen wäre es notwendig gewesen, den Verfassungstopos nicht isoliert,sondern mit Blick auf den realiter existierenden, wenngleich auch sehr komplexenStaaten- und Verfassungsverbund, den die <strong>EU</strong> bildet, zu kommunizieren und zudiskutieren. In diesem Verbund, dem der Begriff des Verfassungsvertrages korrespondiert,geht es eben gerade nicht um einen „Superstaat“ Europa, sondern um eineneuartige Verbindung der Mitgliedstaaten nicht zu einer, sondern in einer EuropäischenUnion, in der auch die Verfassungs- und Rechtsordnungen miteinander verzahntsind. In diesem Verbund behalten die Mitgliedstaaten und ihre jeweiligenVerfassungen ihre Bedeutung, sie sind nur mit der <strong>EU</strong> und ihrer Verfassung verflochten.In diesem Verbund stellt die europäische Verfassung in Form des Verfassungsvertrages„nur“ eine gemeineuropäische Komplementärverfassung dar, die dieStaaten zwar als Mitgliedstaaten einbindet, sie jedoch nicht überflüssig macht.IV. FazitIm Ergebnis könnte man daher zynisch sagen: „Falsa demonstratio non nocet…“.Denn die vorstehenden Ausführungen machen deutlich, dass die <strong>EU</strong> zumindest ausjuristischer Perspektive eine Verfassung im materiellen Sinne hat. Insoweit schadetes in der Tat nicht, dass der Verfassungstopos nunmehr durch den so genanntenReformvertrag bzw. Lissabonner Vertrag ganz bewusst vermieden wird. Doch damitgeht ein Stück Ehrlichkeit, ein Stück der viel beschworenen Transparenz und Bürgernäheverloren. Indem der Verfassungstopos künftig vermieden wird, wird derBürger über die Bedeutung der Europäischen Union weiterhin im Unklaren gelassen,die skizzierte Verbundstruktur, in der Mitgliedstaaten und <strong>EU</strong> samt ihre Verfassungenmiteinander verzahnt sind, wird verheimlicht. Das kann nur als Realitätsverweigerungbezeichnet werden, jedenfalls dann, wenn man den erreichten Integrationsstandnicht in Frage stellen will.78


Zwar kann man demgegenüber einwenden, dass der Reformvertrag die Sorgender Bürger, die in den Referenden aufschienen, ernst genommen hat, indem er dieVerfassungssymbolik entfernte und den Verfassungstopos bewusst mied. Jedochbleibt der Verfassungsvertrag im Interesse der Zukunftsfähigkeit der <strong>EU</strong> in seinerwesentlichen Grundstruktur erfreulicherweise erhalten. Inhaltlich bildet der Reformvertrag(erfreulicherweise) den in institutioneller, demokratischer und rechtstaatlicherPerspektive für die Zukunft der <strong>EU</strong> notwendigen Zugewinn des Verfassungsvertragesab. Ironisch könnte man also formulieren: „Die Verfassung ist tot, es lebedie Verfassung!“.Damit könnte man sich als „professioneller Europadeuter“ zufrieden geben undsich an der fehlerhaften Bezeichnung des Reformvertrages nicht weiter stören, wohlwissend, dass wir es im europäischen Verbund – auch wenn es der Bürger offensichtlichnicht wissen darf oder wissen will – mit einer Verfassung zu tun haben.Hierin liegt jedoch genau die Tragik der Verfassungsdebatte auf die die Verfassungskritikerkeine Antwort geben. Diese Tragik lässt sich einmal mehr am Beispieldes Vorrangs des Gemeinschaftsrechts exemplifizieren: Im Reformvertrag wurdeArt. I-6 VVE, der den Vorrang für den Bürger sichtbar geregelt hatte, kurzerhandgestrichen. In einer Erklärung finden wir jedoch den Hinweis, dass der Vorrang desGemeinschaftsrechts, so wie er in der ständigen Rechtsprechung des EuGH seit1964 immer wieder bestätigt wurde, durch den Reformvertrag nicht angetastet werdensoll. Damit bleibt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts dem Bürger verborgen,Bürgernähe und Transparenz werden so gesehen verfehlt. Ganz ähnlich liegt es nachvorstehenden Ausführungen mit dem Verfassungstopos. Folgt man nun den Verfassungskritikern,dann müssten sie diese Politik des Verschweigens gutheißen – wasmit Blick auf ihre hehren Ansprüche unter demokratietheoretischen Aspekten an dieeuropäische Integration und die Europäische Union kaum zu vereinbaren wäre. Odersie müssten ehrlich sein und sagen, dass diese europäische Integration von den Bürgernoffenbar laut Referenden nicht gewollt ist (es beispielsweise also kein vorrangigesGemeinschaftsrecht geben soll), womit das große Friedensprojekt der europäischenIntegration mit seinen ökonomischen und politischen Erfolgen beendet wäre.Geradezu absurd mutet vor diesem Hintergrund der Ausblick des eingangs zitiertenHeinig an, wenn er schreibt:„Die Europäische Union ist ein politisches und rechtliches Gefüge eigener Art. Diese Singularitätlegte es immer schon nahe für die Vermessung und Kartographie der Union auf den Großteildes Begriffsinstrumentariums der alteuropäischen Staatslehre zu verzichten. … Wergleichwohl an der Verwendung des Verfassungsbegriffs auf europäischer Ebene festhaltenwill, ist deshalb gut beraten, gerade die Eigenarten des supranationalen Verfassungsdenkensherauszuarbeiten.“ 103Hier reibt sich der gescholtene „professionelle Europadeuter“ nunmehr erstauntdie Augen. Ging es nicht eigentlich in der gesamten Debatte um den europäischen103 Heinig, JZ 2007, 905 (909).79


Verfassungsbegriff darum, einen neuen, dem europäischen Integrationsprozess angemessenenVerfassungsbegriff zu etablieren? Sollte die Beschreibung der EuropäischenUnion als Staaten- und Verfassungsverbund nicht gerade dieses Neuartigekennzeichnen? Und sollten nicht jene gescholtenen 104 zum Verfassungsvertrag erschienenKommentarwerke gerade jene Eigenarten des Supranationalen Verfassungsdenkensherausarbeiten, entwickeln und für die öffentliche Debatte transparentmachen. So gesehen wäre jener Verfassungskritiker (in seinen eigenen Worten) „gutberaten“, jene Literatur, die die Eigenarten des supranationalen Verfassungsdenkensherausgearbeitet hat, zu lesen, anstatt einen fehlenden Respekt vor der souveränenEntscheidung in den Mitgliedstaaten zu konstatieren und die „Stilfrage“ zu stellen.105 Angesichts dessen bleibt in Anlehnung an „historische“ Zitate nur noch zurufen:Ich bin ein professioneller Europadeuter! Ich trage Mitverantwortung für die Verwendung desVerfassungstopos! – Und das ist auch gut so…!104 Heinig, JZ 2007, 905 (908, Fn. 26).105 Heinig, JZ 2007, 905 (908, mit Fußnote 26, 909).80


Perspektiven der Ratifikation – Verfassung oder Vertrag?Prof. Dr. Stefan Kadelbach *I. EinleitungIm Zuge der Verfassungsdiskussion hat sich der deutsche Verfassungsbegriff verändert.Hat man ihn lange als untrennbar mit der Staatlichkeit verbunden gesehen, istdie Ansicht heute nicht mehr besonders ungewöhnlich, dass auch nichtstaatlicheEinheiten Verfassungen haben können. Die Staatslehre des 19. Jahrhunderts, dieteils, der zivilistischen Konstruktionsjurisprudenz folgend, Parallelen zum Handelsrechtzog, teils aus der spezifisch rechtsstaatlichen Prägung des deutschen Verfassungsrechtsdie Folge ableitete, dass es legitime Herrschaft – und folglich Bedingungenihrer Ausübung - nur im Staat geben könne, war noch gegen Ende des 20.Jahrhunderts prägend. 1 Zunehmend hat sich die Verfassungstheorie indessen einerEntwicklung geöffnet, die dazu geführt hatte, dass Hoheitsgewalt mehr und mehraußerhalb des staatlichen Herrschaftsverbandes ausgeübt wird. In der „postnationalenKonstellation“ schien ein „post-nationaler Verfassungsbegriff“ angemessen.2Dieser Stimmungswandel hatte sich bereits vor den Arbeiten des europäischenVerfassungskonvents abgezeichnet, ist durch ihn aber sicher weiter gefördert worden.3 Die Initiatoren und Verfasser des „Vertrages über eine Verfassung für Europa“legten diesem Projekt erkennbar einen solchen gewandelten Verfassungsbegriffzugrunde. Dessen Scheitern in seiner ursprünglichen Form und die Neulancierungdes Vorhabens unter dem Begriff des Reformvertrages werfen in dieser HinsichtFragen auf. Liegt hierin eine Abkehr vom postnationalen Verfassungsbegriff undeine Rückkehr zum völkerrechtlichen Vertrag als Reformmodus? Hat sich die Modifizierungdes Verfassungsbegriffs als Irrtum oder zumindest als voreilig erwiesen?Beide Fragen richten sich unmittelbar auf die rechtliche Einordnung des Reformver-* Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrechtan der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt a.M. und Co-Direktor des WilhelmMerton-Zentrums.1 Isensee, Staat und Verfassung, in ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 13 Rn.1 und 8; Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, ebenda, §19 Rn. 18.2 Pernice, VVDStRL 20 (2001), 148 (154 ff.) mit Bezug auf Habermas, Die postnationaleKonstellation, 1998, 91 ff.3 S. nur die Habilitationsschriften von Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränitätund Interdependenz, 1998; Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001;Giegerich, Europäische Verfassung und deutsche Verfassung im transnationalen Konstitutionalisierungsprozess,2003; Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt,2004; Möllers, Gewaltengliederung, 2005, mit Bezug zum europäischen Mehrebenensystem,insbes. S. 213, 331.81


trages. Zu ihrer Beantwortung bedarf es eines Blickes auf die Veränderungen, diedieses Dokument mit sich gebracht hat. Dies kann hier nicht erschöpfend geschehenund ist im Verlaufe dieser Tagung bereits bereichsspezifisch getan worden. Es könnenund sollen lediglich einige Aspekte herausgegriffen werden.II. Der Neuansatz des ReformvertragesBetrachtet man die Veränderungen im Reformvertrag, die in der Öffentlichkeit besondersbetont worden sind, so sieht es auf den ersten Blick so aus, als wären dieVerwendung des Begriffs „Verfassung“ und dessen traditionelle Konnotation mitStaatlichkeit für die Skepsis mitverantwortlich gemacht worden, der der Verfassungsvertragbegegnet ist. Man hat sich zunächst einmal darum bemüht, eine Wortwahlzu vermeiden, die an staatliche Symbolik und staatsorganisationsrechtlicheRegelungen erinnert: Die Bezeichnung „Verfassung“ wird nicht mehr verwendet,die Symbole (Flagge, Hymne, Feiertag) sind aus dem Text verschwunden, eineneuropäischen (Außen-)Minister und europäische Gesetze soll es nicht mehr geben,und die Grundrechtscharta hat durch die neue Technik der Verweisung (s. Art. 6 I<strong>EU</strong>V n.F.) an proklamatorischer Wirkung verloren. Schon in einer früheren Phasewar die vom Konvent entworfene Präambel korrigiert worden, die mit einemschlecht verstandenen Thukydides-Zitat und in missglücktem Pathos versucht hatte,zugleich Assoziationen an das antike Europa und an demokratische Traditionen zuwecken und die Feiertagssprache von Verfassungspräambeln zu imitieren. 4Auch die gescheiterten Referenden in den Niederlanden und in Frankreich lassensich, bei aller Vielschichtigkeit der ansonsten wirksamen Motive (wie Skepsis überdie Erweiterung der Europäischen Union, sozialpolitische Vorbehalte, innenpolitischeGründe), auch so interpretieren, als sei eine europäische Verfassung nicht gewolltund als sollten die Staaten das Monopol auf legitime politische Ordnungsentwürfebehalten. In dieser Hinsicht ist die in Frankreich geäußerte Kritik an der wirtschafts-und sozialpolitischen Orientierung der Union von Interesse. Offenbar trauteman dem Verfassungsvertrag nicht zu, die Rahmenordnung für die Entfaltung politischenWillens zu bieten, sondern stellte sie selbst unter Politikverdacht. Sollte dieseSicht richtig sein, richten sich derartige Vorbehalte weniger gegen den Versucheiner supranationalen Verfassung an sich als auf die Fähigkeit, eine der staatlichenvergleichbare Verfassungskultur zu entwickeln. 54 Kadelbach, Die europäische Verfassung und ihr Stil, Festschrift Georg Ress, 2005, 527 ff.; s.auch A. von Bogdandy, JZ 2004, 53 ff.5 Zur „Repolitisierung“ des Verfassungsbegriffs siehe Tohidipur, Europäische Gerichtsbarkeitim Institutionensystem der <strong>EU</strong>, Diss. Frankfurt a. M. 2007, S. 213 ff.82


Drittens schließlich kann der Umstand, dass im Verlaufe der deutschen Ratspräsidentschaftdas Modell Regierungskonferenz nun die Lösung gebracht zu habenscheint, dafür angeführt werden, dass man sich wieder auf den Vertrag als zwischenstaatlicheHandlungsform besonnnen hätte. 6 Insofern mag man auch die Undurchsichtigkeitdes Reformdokuments mit seinen Korrekturanweisungen, Querverweisen,Fußnoten, Protokollen und Erklärungen als eine Rückkehr zum alten Stil ansehen.In diese Richtung deutet auch die erklärte Absicht, dieses Vertragswerk innahezu allen Mitgliedstaaten nur mehr im parlamentarischen Verfahren zu ratifizierenund auch dort, wo die Staatsverfassung ein fakultatives Referendum zulässt, aufVolksabstimmungen zu verzichten. Denn so unrichtig die Verknüpfung Verfassungsgebung/Volksabstimmungempirisch und verfassungshistorisch auch seinmag, 7 im politischen Denken ist die Vorstellung, der pouvoir constituant müsse inderartigen Formen zum Ausdruck kommen, sehr lebendig.Beim zweiten Blick kommen allerdings Zweifel, ob die Schlussfolgerung, hier seiein Verfassungstext durch einen Änderungsvertrag ersetzt worden, richtig ist.Die Veränderungen im Reformvertrag zeigen sich im Wesentlichen in seinem Stilund in seiner Symbolik. Die Substanz des im Konventsverfahren erarbeiteten Verfassungsvertragesist dagegen im Wesentlichen erhalten geblieben. 8 Den Regelungsbedarfim Hinblick auf die gestrichenen Symbole darf man als geringfügig einschätzen.Viele Staatsverfassungen kennen dergleichen nicht. Geblieben ist die stärkereAusrichtung der Vertragssprache auf die Unionsbürger, 9 und auch die Geltung derGrundrechte-Charta bleibt im Wesentlichen unangetastet. Dass hier nun Ausnahmenzugunsten bestimmter Mitgliedstaaten möglich sind, ist im europäischen Primärrechtnichts grundsätzlich Neues. Das Europäische Parlament geht weiterhin leicht gestärktaus der Vertragsreform hervor, und auch sonst ändert sich an der im Verfassungsvertraginsgesamt eher bescheiden ausgefallenen Reform der Institutionennicht viel, sieht man einmal von den Übergangsfristen für den neuen Abstimmungsmodusim Rat ab. Selbst der Europäische Außenminister behält dieselbe Rollenbeschreibungwie im Verfassungsvertrag, auch wenn er sich nicht so wird nennendürfen.Was die Rolle des Konvents betrifft, so bleibt auch sie unverändert. Nicht nur gehendie neuen Reglungen im Wesentlichen auf seine Vorarbeiten zurück, er bleibtauch im Reformvertrag in das so genannte ordentliche Änderungsverfahren eingeschaltet(Art. 33 <strong>EU</strong>V n.F.).Die Veränderungen des Reformmodus liegen eher auf tagespolitischem Niveau.Die Vertragssprache darf man als technisch und unverständlich bezeichnen. DieRegelungsgehalte sind, wie auch bei früheren Änderungsverträgen, erst erkennbar,6 Vgl. dazu Wessels/Faber, integration 2007, 370 ff.7 Siehe Loewenstein, Verfassungslehre, 1958, S. 269 f.8 Vgl. auch die Analyse bei Quermonne, Le Traité Réformateur Européen dans le « TempsLong », RDC 2007, 549 ff.9 Pernice, Der verfassungsrechtliche Status der Unionsbürger im Vorfeld des Vertrags übereine Verfassung für Europa, FS Gil Carlos Rodriguez Iglesias, 2003, 177 ff.83


wenn man sich eine konsolidierte Fassung beschafft. Versuche einer Inklusivität desVerfahrens und der Verwirklichung eines Transparenzideals, die noch die Konventsarbeitenkennzeichneten, werden nicht weiter verfolgt. Die Streichung einigerBegriffe mit politischer Signalwirkung ist eine oberflächliche kosmetische Operationund nicht mit letzter Konsequenz betrieben worden. So ist der Begriff der Gesetzgebungetwa nur bei Aufzählung der Handlungsformen, aber nicht bei den Verfahrensvorschriftenaus den Reformverträgen verbannt worden. Besonders gespanntsein darf man auf den Fortgang der Debatte über die Rolle von Marktwirtschaft undWettbewerb, die in den Anfangszielbestimmungen des bisherigen EG-Vertrags auffranzösischen Wunsch modifiziert worden ist. 10 Auch wenn das Wettbewerbskapitelder Art. 81 ff. EGV im Wortlaut unangetastet bleibt, ist derzeit völlig offen, wie sichdie Neufassung der Zielbestimmungen auf die Praxis der Kommission auswirkenwird. Es könnte sein, dass sich in diesem Punkt Bedenken bewahrheiten, die in einerfrühen Phase gegen den Verfassungsprozess geltend gemacht worden sind. Dennwenn für eine Vertragsänderung erstmals der Begriff einer Verfassung verwendetwird, so suggeriert dies, dass die früheren Fassungen der Gründungsverträge nichtdiesen Charakter hatten. Nehmen dessen Bestimmungen altes Recht auf und werdenim politischen Prozess abgelehnt und dann verändert, liegt hierin eine Delegitimierungdes Ist-Zustandes. Die Verwendung des Symbolbegriffs „Verfassung“ hat demunvorsichtigen Wurf eines Bumerangs vergleichbare Folgen.III. Regierungskonferenz als Verfassungsprozess?Das Verfahren, das zur Vereinbarung des Reformvertrages geführt hat, hat eineeigenartige Pointe. Bisher war der europäische Verfassungsprozess, wenn ich dieReferendumsstimmung in Frankreich und den Niederlanden richtig deute, insofernparadox, als der Verfassungsvertrag aus Motiven heraus abgelehnt wurde, die demIst-Zustand der Union gelten. Teils handelt es sich regelrecht um Kritik, der er geradehätte entgegenkommen sollen, wie der Vorwurf des Hinwegregierens über denBürgerwillen, der sich in Unzufriedenheit über die Sozialpolitik und die Erweiterungsstrategieausdrückt; denn immerhin wollte der Verfassungsvertrag die demokratischenElemente stärken. 11 Jetzt kommt hinzu, dass die Bestimmungen, die dieerhofften Transparenz- und Legitimationsgewinne bringen sollen, in der Regelungstechnikdes Änderungsvertrages, d.h. durch eine intransparente und schwer verständlicheVertragsgestaltung neu aufbereitet worden sind, um sie, wie man hofft, leichterverwirklichen zu können. Ein als Verfassungstext gemeintes Dokument erscheint10 Art. 3 III, 15 und 97 b A<strong>EU</strong>V, ferner Protokolle Nr. 6 und 9.11 Siehe im Einzelnen Kadelbach, Zur Zukunft des Vertrages über eine Verfassung für Europa,Gedächtnisschrift Bleckmann, 2006, S. 231 (238 ff.).84


nun wie als Vertrag getarnt, und die Errungenschaften des Konventsverfahrens werdenals Produkt einer Regierungskonferenz deklariert. Positiv gewendet lässt sichfeststellen, dass die Legitimationsgewinne des Verfassungsvertrages nicht verlorengegangen sind. Inhaltlich handelt es sich trotz des zeittypisch sehr auf Breiten- undMedienwirkung kalkulierten Umgangs mit Symbolen um einen Vertrag, der vielesan der Union verbessern würde.Welche Folgen hat all dies nun für den Verfassungsbegriff und die Einordnungder Verträge von Lissabon? Die Frage, ob das Zusammenwirken beider Ebenen Teileines europäischen Sozialvertrages ist, kann hier nicht vertieft werden. 12 Bleibt manbeim Verfassungsrecht, so ist auf einer Tagung des Walter-Hallstein-Instituts derVorschlag vielleicht nicht sonderlich überraschend, schon die geltenden Gründungsverträgeals europäische Teilverfassungen anzusehen. Sie waren und sind Bestandteileiner Mehrebenenverfassung, die die Union und ihre Mitgliedstaaten umfasstund in der auf den meisten Politikfeldern die eine nicht ohne die andere Ebene handelnkann. Für die Auffassung, dass nicht nur Staaten eine Verfassung haben können,gab es auch vor der Lancierung des europäischen Verfassungsprojekts guteGründe. 13 Sie ist auch aus Sicht des innerstaatlichen Verfassungsrechts plausibel;behandelt das Grundgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten als Verfassungsänderung(Art. 23 I i.V.m. Art. 79 II und III GG), so kann sich der verfassungsrechtlicheCharakter des Tatbestands der Kompetenzzuweisung nicht dadurch verändern,dass er seine Bedingungen nun aus europäischem Recht bezieht. Die Gründungsverträgesind also beides, Vertrag und (Teil-)Verfassung.IV. AusblickAbschließend seien einige Bemerkungen zum Verfahren der Ratifikation erlaubt.Dieser Prozess fängt jetzt von vorne an. Die – je nach Zählung – 17 oder 18 Staaten,die den Verfassungsvertrag bisher ratifiziert haben, müssen dies nochmals tun. Einigewerden wohl auf das Referendum verzichten, zumindest Irland kann dies ausverfassungsrechtlichen Gründen nicht tun. Ob sich alle Regierungen, die eine parlamentarischeRatifizierung in Aussicht gestellt haben, auf Dauer dem politischenDruck oder auch nur der Versuchung entziehen können, die Verantwortung durchein Referendum abzuwälzen, lässt sich zur Zeit schlecht vorhersagen.Nach wie vor fragt sich daher, was geschieht, wenn der Reformvertrag nicht ratifiziertwird. Die bisher diskutierten Optionen für diesen Fall reichen von einer Versteinerungdes Ist-Zustandes über die Möglichkeit einer Neugründung der Union imkleineren Kreis bis hin zur zumindest vorübergehenden Koexistenz von altem und12 Pernice, VVDStRL 20 (2001), 148 (154 ff.); siehe auch: Frankenberg, ELJ 6 (2000), 257 ff.13 Pernice, Salvaging the Constitution for Europe. A Reform Treaty for the <strong>EU</strong>, <strong>WHI</strong> Paper4/07, S. 6 ff.85


neuem Recht. 14 Nur eine Option gibt es wohl nicht: Die in der Union inzwischenentwickelte Form der Politikgestaltung als Ganzes zu beenden. Die Mitgliedstaatenhaben ihr nicht nur Befugnisse übertragen, sondern auch die Fähigkeit gewonnen,im Verbund Ziele zu erreichen, die für sie als Einzelne nicht erreichbar sind. Dieeuropäische Mehrebenenverfassung ist eine politische Notwendigkeit und ein Kernelementder Verfassungswirklichkeit geworden, auch dann, wenn einige ihrerGrundlagen nach wie vor Verträge heißen.14 Zum Verfassungsvertrag siehe: Monar, integration 2003, 16 ff.; Bieber, Krisenmanagementeiner europäischen Verfassungsgebung, Festschrift Ress, 2005, 1415 ff.; Mayer, JZ 2007, 593ff.; zum Reformvertrag: Quermonne, RDC 2007, 549 (551 f.).86


Horizontale FragestellungenSchutz vor der Grundrechte-Charta oder durch die Grundrechte-Charta? – Anmerkungen zum europäischen Grundrechtsschutz nachdem Vertrag von LissabonProf. Dr. Franz C. Mayer *Es gibt viele Merkmale, die die europäische Integration einzigartig machen. Einesdavon: Die <strong>EU</strong> ist die einzige über- oder zwischenstaatliche Einrichtung, die Rechtsschutzgegen eigene Hoheitsakte bietet. Dieser einzigartige Grundrechtsschutz jenseitsdes Staates ist das Korrelat zur Fähigkeit der <strong>EU</strong>, abgeleitetes Recht von hoherDichte und damit – potenziell – sehr unmittelbarer Grundrechtsrelevanz zu setzen.Bislang ist dieser Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene richterrechtlich entwickeltund für ausreichend erachtet worden. Das BVerfG hat diesem richterrechtlichen,europäischen Grundrechtsschutz bekanntlich in seiner Solange II-Entscheidung von 1986 1 attestiert, dass er einen im Wesentlichen vergleichbarenGrundrechtsschutz wie das Grundgesetz bietet. Diese Formel ist heute in Art. 23 GGals Bedingung für die Mitwirkung an der europäischen Integration formuliert.Mit der Charta der Grundrechte aus dem Jahre 2000 ist der europäische Grundrechtsschutzin eine neue Entwicklungsstufe getreten – so scheint es zumindest.Allerdings war die Grundrechte-Charta im Dezember 2000 zunächst lediglich alspolitische Erklärung ohne rechtliche Bindungswirkung am Rande des Gipfels vonNizza durch das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission – nicht durchdie Mitgliedstaaten – verkündet worden. 2 Eine Rechtsverbindlichkeit in der Form,wie sie der Verfassungsvertrag durch Eingliederung der Grundrechte-Charta als TeilII des Verfassungsvertrages gebracht hätte, ist insbesondere von britischer Seitekontinuierlich und intensiv bekämpft worden. Ihr weiteres Schicksal, insbesondereihr Stellenwert, ist aus deutscher Sicht von besonderem Interesse.Dies nicht nur, weil die deutsche Sicht auf Verfassungsrecht nach 1945 außerordentlichgrundrechtszentriert ist, sondern auch, weil die Entwicklung eines europäischenGrundrechtsschutzes das Verhältnis von nationaler Verfassung zu europäi-* Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht,Rechtsvergleichung und Rechtspolitik an der Universität Bielefeld.1 BVerfGE 73, 339.2 Amtsblatt Nr. C 364 v. 18.12.2000.87


schem Recht in Deutschland stark geprägt hat. 3 Ferner ist daran zu erinnern, dass dieGrundrechte-Charta ein deutsches Vorhaben war. 4Bekanntlich soll die Charta mit dem Vertrag von Lissabon endlich Rechtsverbindlichkeiterlangen, allerdings nicht ohne Einschränkungen. Die Hintergründe undZusammenhänge um die im Vertrag von Lissabon niedergelegten Bestimmungenzum Grundrechtsschutz und insbesondere zur Grundrechte-Charta erschließen sicham besten über eine Analyse des Mandats für die Regierungskonferenz zu diesemVertrag vom Juni 2007 5 im Vergleich zu dem Mandatsentwurf, den die deutschePräsidentschaft den Staats- und Regierungschefs unterbreitet hatte. 6 Im Falle desVertrags von Lissabon waren nämlich alle wesentlichen Streitpunkte bereits für dasMandat geklärt worden, wo man früher die streitigen Punkte eher ganz am Ende derVerhandlungen geklärt hatte. Mit dem Mandat für die Regierungskonferenz bzw.durch eine Ermittlung der im Mandat streitigen Punkte lässt sich der Vertrag vonLissabon weitgehend entschlüsseln.In den Schlussverhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten über das Mandat sindEnde Juni 2007 erhebliche Änderungen im Vergleich zu dem von der deutschenPräsidentschaft unterbreiteten Mandatsentwurf gerade im Hinblick auf die Grundrechte-Chartaerfolgt. Diese Änderungen geben Aufschluss über Konfliktstellen3 BVerfGE 37, 271 und 73, 339, Solange I und II.4 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Köln am 15. und 16. Oktober 1999,Dokument 150/1/99 REV 1; s. auch Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21.Jahrhundert. Koalitionsvereinbarung zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlandsund Bündnis 90 / Die Grünen v. 20.10.1998.5 Der förmliche Vorschlag zur Vertragsänderung gemäß Art. 48 <strong>EU</strong> findet sich in einemSchreiben der Bundesregierung, zugleich Ratspräsidentschaft, an den Rat vom 26. Juni 2007,Ratsdokument 11222/07, dem das auf dem Europäischen Rat vereinbarte Mandat beigefügtist. Die in den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates (Ratsdokument 11177/07) enthalteneVersion des Mandates ist in der deutschen Sprachfassung in der Folge immer wiedersprachlich nachbearbeitet worden. In der deutschen Sprachfassung von Ratsdokument11222/07 finden sich jedoch sowohl sprachliche Unebenheiten wie auch (wieder) echte Übersetzungsfehlerim Kontext des Protokolls zur Grundrechte-Charta (s. unten). Eine fehlerfreieund sprachlich überarbeitete Fassung findet sich in dem ebenfalls auf den 26. Juni 2007 datiertenRatsdokument 11218/07, im Wesentlichen wird diese Fassung im Folgenden für denWortlaut des Mandatstextes zugrunde gelegt. Im Vertrag von Lissabon sind dann einige bereitsvom Wortlaut im Mandat vorgegebene Passagen wiederum sprachlich leicht modifiziertworden, um die Kohärenz des Gesamttextes herzustellen. Auf solche Abweichungen zwischenRatsdokument 11218/07 und dem Vertrag von Lissabon wird im Folgenden nicht gesonderthingewiesen.6 Dokument SN 3116/2/07 REV 2. Der Entwurf wurde trotz Sperrvermerks innerhalb kürzesterZeit durch Europaaktivisten mit Hinweis auf das Erfordernis einer transparenten Debatte imInternet verfügbar gemacht.88


zwischen den Mitgliedstaaten in Sachen Grundrechte, diese werden im Folgendennachgezeichnet. 7I. Rechtsverbindlichkeit der ChartaDie Rechtsverbindlichkeit der Charta wird durch den Vertrag von Lissabon wie imVerfassungsvertrag vorgesehen eingeführt. Allerdings wird der Text der Chartagleichsam ausgegliedert und mit einem Verweis auf diesen Text gearbeitet. Da dieCharta von 2000 insbesondere auf britisches Drängen hin im Konvent bzw. derRegierungskonferenz 2003/2004 verändert wurde, ist die Charta in dieser Fassungdes Verfassungsvertrages erneut verkündet worden. 8Im Mandat für die Regierungskonferenz wird dies wie folgt formuliert:(Rdnr. 9) Der Artikel über die Grundrechte wird einen Querverweis 9auf die 10 Charta der Grundrechte enthalten,dieser damit Rechtsverbindlichkeit verleihen und ihren Geltungsbereich festlegen.(Anlage I Nr. 5) Artikel 6 über die Grundrechte erhält folgende Fassung:“(1) Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechtevom 7. Dezember 2000 in der am [… 2007] 117 Für eine umfassende Analyse der Konfliktstellen im Mandat s. Mayer, ZaöRV 67 (2007),Heft 4, im Druck.8 Dies geschah am 12. Dezember 2007, einen Tag vor der Unterzeichnung des Vertrags vonLissabon. Der Text des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die EuropäischeUnion und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet inLissabon am 13. Dezember 2007, findet sich mit 13 Protokollen und einer Übereinstimmungstabellezur Umnummerierung der Vertragsartikel in Dokument CIG 14/07, dieSchlussakte der Regierungskonferenz mit 65 Erklärungen in Dokument CIG 15/07, s. für beidesauch ABl. <strong>EU</strong> Nr. C 306 v. 17.12.2007. Die am 12. Dezember 2007 neu verkündete Chartader Grundrechte findet sich mit Erläuterungen in ABl. <strong>EU</strong> Nr. C 303 v. 14.12.2007. Fürden Gesetzentwurf der Bundesregierung für das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabons. BR-Drs. 928/07 v. 20.12.2007. Dort finden sich neben der Denkschrift der Bundesregierungeine Zusammenfassung des Vertragsinhaltes (S. 133-141), Übersichts- und Konkordanztabellensowie Erläuterungen der einzelnen Vertragsartikel. Der <strong>EU</strong>-Vertrag in der Fassungdes Vertrags von Lissabon wird im Folgenden mit “<strong>EU</strong>V-Liss.” abgekürzt, der Vertragüber die Arbeitsweise der Europäischen Union – der frühere EG-Vertrag – mit “A<strong>EU</strong>V”.9 Einfügung in den Schlussverhandlungen um das Mandat, dementsprechend offenbar einkontroverser Punkt. Die Änderungen am Mandatsentwurf der Bundesregierung werden imFolgenden mit gekennzeichnet.10 Einfügung in den Schlussverhandlungen.89


angepassten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte hat dieselbe Rechtsverbindlichkeitwie die Verträge. Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgenfestgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert. 12(2) Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheitenbei. Dieser Beitritt ändert nicht die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeitender Union.(3) Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechteund Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungender Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.”II. Erklärungen zur ChartaZu dieser Bestimmung des Mandates sind während der Schlussverhandlungen imJuni 2007 nicht weniger als vier allgemeine Fußnoten im Vergleich zu dem von derBundesregierung vorgelegten Entwurf eingefügt worden. 13Aus dieser Erklärung wird eine Kompetenzangst deutlich, die sich auch an anderenStellen im Vertrag von Lissabon manifestiert. Damit ist die symbolische Überkompensationaus vorgeblicher oder echter Sorge um den Verlust mitgliedstaatlicherZuständigkeiten gemeint, unter Ausblendung der horizontalen Dimension der Kom-11 Einfügung in den Schlussverhandlungen.12 Die Erläuterungen sind im Zuge der Arbeiten am Verfassungsvertrag im Vergleich zur Ausgangsfassungvon 2000 leicht überarbeitet worden und wurden mit der Charta-Fassung 2007neu veröffentlicht, ABl. <strong>EU</strong> Nr. C 303 v. 14.12.2007.13 Einfügung in den Schlussverhandlungen; siehe. Erklärung Nr. 1.90


petenzfrage und der Mitverantwortung der Mitgliedstaaten im Ministerrat für <strong>EU</strong>-Handeln.” 14Diese einseitige Erklärung spiegelt polnische Befindlichkeiten im Bereich vonEhe und Familie wider. Polen hat später eine weitere einseitige Erklärung abgegeben:15Erklärung der Republik Polen zu dem Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechteauf Polen und das Vereinigte Königreich:Die Republik Polen erklärt, dass sie in Anbetracht der Tradition der sozialen Bewegung der“Solidarnosc” und ihres bedeutenden Beitrags zur Erkämpfung von Sozial- und Arbeitnehmerrechtendie im Recht der Europäischen Union niedergelegten Sozial- und Arbeitnehmerrechteund insbesondere die in Titel IV der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigtenSozial- und Arbeitnehmerrechte uneingeschränkt achtet.III. Ein Protokoll zur Charta mit ÜbersetzungsfehlernInsbesondere der britischen Seite ging die Ausgliederung der Charta nicht weit genug.Die britische Regierung setzte daher ein Protokoll durch, das für GroßbritannienSonderregeln enthält, denen sich im Verlaufe des Sommers Polen anschloss.Hier noch der Wortlaut im Mandat, ohne die Einbeziehung Polens: 16


in der Erwägung, dass die Charta sowohl Bestimmungen staatsbürgerlicher und politischer Artals auch Bestimmungen wirtschaftlicher und sozialer Art enthält;in der Erwägung, dass die Charta die in der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätzebekräftigt und diese Rechte besser sichtbar macht, aber keine neuen Rechte oder Grundsätzeschafft;eingedenk der Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs aufgrund des Vertrags über dieEuropäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Unionsrechtsim Allgemeinen;in Kenntnis des Wunsches des Vereinigten Königreichs, bestimmte Aspekte der Anwendungder Charta zu klären;demzufolge in dem Wunsch, die Anwendung der Charta in Bezug auf die Gesetze und dasVerwaltungshandeln des Vereinigten Königreichs und die Frage der Einklagbarkeit im VereinigtenKönigreich zu klären;unter Bekräftigung, dass in diesem Protokoll enthaltene Bezugnahmen auf die Funktionsweisespezifischer Bestimmungen der Charta auf keinen Fall die Funktionsweise anderer Bestimmungender Charta berühren:unter Bekräftigung, dass dieses Protokoll die Anwendung der Charta in anderen Mitgliedstaatennicht berührt;unter Bekräftigung, dass dieses Protokoll andere Verpflichtungen des Vereinigten Königreichsaufgrund des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der EuropäischenUnion und des Unionsrechts im Allgemeinen nicht berührt –sind über folgende Bestimmungen übereingekommen, die dem Vertrag über die EuropäischeUnion beigefügt sind:Artikel 1(1) Die Charta bewirkt keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofes oder eines Gerichtsdes Vereinigten Königreichs zur Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften,die Gepflogenheiten oder das Handeln des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch dieCharta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen in Einklang stehen.(2) Insbesondere – und um Zweifel auszuräumen – werden mit [Titel IV] 17 der Charta keinefür das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen, soweit das VereinigteKönigreich solche Rechte nicht in seinem nationalen Recht vorgesehen hat.Artikel 2Wird in einer Bestimmung der Charta auf das nationale Recht und die nationalen GepflogenheitenBezug genommen, so findet diese Bestimmung auf das Vereinigte Königreich nur in17 Dieser Titel “Solidarität” betrifft insbesondere Arbeitnehmerrechte und soziale Sicherheit.92


dem Maße Anwendung, in dem die darin enthaltenen Rechte oder Grundsätze in den Rechtsvorschriftenoder Gepflogenheiten des Vereinigten Königreichs anerkannt sind.”]> 18Zu diesem Protokoll ist zunächst festzuhalten, dass die deutsche Fassung als einzigeSprachfassung an einer nicht unerheblichen Stelle anfänglich von der englischenSprachfassung abwich. Anfangs hieß es in der veröffentlichten deutschenVersion: 19Artikel 1(1) Durch die Charta wird die Befugnis eines Gerichts des Vereinigten Königreichs nicht inder Weise ausgedehnt, dass ein Gericht des Vereinigten Königreichs feststellen könnte, dassdie Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Praktiken oder das Handeln des Vereinigten Königreichsnicht mit den in der Charta enthaltenen Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen inEinklang stehen.Erst in Ratsdokument 11218/07 wird wie in der englischen und allen anderenSprachfassungen auch auf Deutsch die Befugnis des EuGH eingeschränkt:Artikel 1(1) Die Charta bewirkt keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofes oder eines Gerichtsdes Vereinigten Königreichs zur Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften,die Gepflogenheiten oder das Handeln des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch dieCharta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen in Einklang stehen. 2018 Einfügung in den Schlussverhandlungen.19 S. die Schlussfolgerungen des Vorsitzes der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel am21.und 22. Juni 2007, Ratsdokument 11177/07 (CONCL 2). S. auch das Ratsdokument 11222/07in der deutschen Fassung, bei dem noch die nicht korrigierte Sprachfassung verwendet wurde.Zur unübersichtlichen Versionsgeschichte der deutschen Sprachfassung: Der förmliche Vorschlagzur Vertragsänderung gemäß Art. 48 <strong>EU</strong> findet sich in einem Schreiben der Bundesregierung,zugleich Ratspräsidentschaft, an den Rat vom 26. Juni 2007, Ratsdokument11222/07, dem das auf dem Europäischen Rat vereinbarte Mandat beigefügt ist. Die in denSchlussfolgerungen des Europäischen Rates (Ratsdokument 11177/07) enthaltene Versiondes Mandates ist in der deutschen Sprachfassung in der Folge immer wieder sprachlich nachbearbeitetworden. In der deutschen Sprachfassung von Ratsdokument 11222/07 finden sichjedoch sowohl sprachliche Unebenheiten wie auch (wieder) echte Übersetzungsfehler imKontext des Protokolls zur Grundrechte-Charta (s. unten). Eine fehlerfreie und sprachlich ü-berarbeitete Fassung findet sich in dem ebenfalls auf den 26. Juni 2007 datierten Ratsdokument11218/07, im Wesentlichen wird diese Fassung im Folgenden für den Wortlaut desMandatstextes zugrunde gelegt. Im Vertrag von Lissabon sind dann einige bereits vom Wortlautim Mandat vorgegebene Passagen wiederum sprachlich leicht modifiziert worden, um dieKohärenz des Gesamttextes herzustellen. Auf solche Abweichungen zwischen Ratsdokument11218/07 und dem Vertrag von Lissabon wird im Folgenden nicht gesondert hingewiesen.20 Hervorhebung hinzugefügt. Wiederum leicht sprachlich verändert die deutsche Fassung inProtokoll Nr. 7 über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das VereinigteKönigreich, CIG 2/1/07 REV 1 vom 5.10.2007, 22:Artikel 11. Die Charta bewirkt keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der EuropäischenUnion oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zur Feststellung, dassdie Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Gepflogenheiten oder das Handeln Polens oder93


Ob nur die britischen (bzw. polnischen) Gerichte oder auch der EuGH in Bezuggenommen werden, ist nicht völlig gleichgültig. Allerdings scheint es, dass dieserÜbersetzungsfehler auf die Verhandlungen keinen Einfluss gehabt hat, weil dort dieenglischen Texte die Grundlage bildeten. Misslich bleibt, dass die ersten politischenReaktionen in Deutschland auf dieses Protokoll auf der Grundlage eines harmloserenTextes als tatsächlich vereinbart erfolgten.IV. Ein grundrechtlicher Sonderweg für Großbritannien und Polen?Insbesondere die britische Regierung hatte in Konvent und anschließender Regierungskonferenzbereits Änderungen an Art. 51 GRCh (2000) bzw. Art. II-111 VVEveranlasst (Bindung der Mitgliedstaaten). Es ist nun nicht recht plausibel, warumdiese Zugeständnisse an Großbritannien trotz des weitere Zugeständnisse für Großbritannienenthaltenden Protokolls noch Bestand haben sollen.In der Sache erscheint es zunächst als hochproblematisch, dass sich ein Mitgliedstaatvon Bindungen an die europäischen Grundrechte losmachen können soll. Zwarrichten sich die europäischen Grundrechte vorrangig an die europäischen Einrichtungenund Organe. 21 Jedoch haben sich im Laufe der Zeit in der Rechtsprechungdes EuGH bestimmte Fallgruppen entwickelt, in denen ausnahmsweise auch einmaldie Mitgliedstaaten durch europäische Grundrechte gebunden sind. Dies ist einmalbei der Durchführung und Umsetzung des Europarechts der Fall, zum anderen dann,wenn sich die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Europarechts betätigen.Letzteres betrifft typischerweise Konstellationen, in denen Mitgliedstaaten Ausnahmenvon den Verpflichtungen auf die Grundfreiheiten geltend machen, beispielsweiseaus Gründen der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Sicherheit keine Niederlassungsfreiheitgewähren wollen. 22 Zwar sind öffentliche Ordnung, Gesundheit undSicherheit in den Mitgliedstaaten eben gerade keine positiven Kompetenzbereicheder <strong>EU</strong>, aber Ausnahmen zu den Grundfreiheiten müssen einheitlich gehandhabtwerden, so dass diese Rechtsprechung des EuGH Zustimmung verdient.des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheitenund Grundsätzen in Einklang stehen.2. Insbesondere – und um jeden Zweifel auszuräumen – werden mit Titel IV der Charta keinefür Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen, soweitPolen bzw. das Vereinigte Königreich solche Rechte nicht in seinem nationalen Recht vorgesehenhat.21 Siehe hier im einzelnen Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der EuropäischenUnion, 2003, Loseblattsammlung, nach Art. 6 <strong>EU</strong>V (Grundrechtsschutz und rechtsstaatlicheGrundsätze) Rn. 29 ff. m.w.N.22 EuGH Rs. 260/89 – ERT, Slg. 1991, I-2925.94


Aus Mitgliedstaatensicht mag man das anders sehen wollen. Genauer betrachtetwird jedoch deutlich, dass ein britisches bzw. polnisches Sonderregime in Sacheneuropäischer Grundrechtsschutz vor allem die ausländischen Unionsbürger undUnternehmen erfasst, die sich in Großbritannien oder Polen auf europäische Grundrechteberufen wollen, nicht die Einheimischen. Britische bzw. polnische Unionsbürgerund britische bzw. polnische Unternehmen dagegen können sich in den anderenMitgliedstaaten weiterhin auf die Grundrechte-Charta berufen. In einer grundsätzlichauf gleiche Rechte ausgerichteten Rechtsgemeinschaft ist ein solcherZustand eigentlich nicht haltbar. Und auch wenn Reziprozität sogar im völkerrechtlichenMenschenrechtsschutz keine Rolle mehr spielt, so stellt sich doch gerade inder gemeinschaftsrechtlichen Konstellation die Frage, wie beispielsweise ein MitgliedstaatFrankreich, der Hoheitsrechte an die <strong>EU</strong> nur unter dem Vorbehalt derGegenseitigkeit abtritt (Art. 88-1 französische Verfassung), mit einer solchen Rechtsungleichheitumgehen wird. 23V. Fortbestand des Richterrechts (Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze)Der Widerstand Großbritanniens bzw. Polens gegen eine Bindung der Mitgliedstaatenim Anwendungsbereich des Europarechts dürfte jedoch weitgehend ins Leeregehen. Denn jedenfalls gilt, dass die Verpflichtung auch der Mitgliedstaaten auf dieGrundrechte nach Art. 6 Absatz 1 <strong>EU</strong> bestehen bleibt.Vor allem aber geht der Kampf gegen die Reichweite der Grundrechte-Chartadeswegen ins Leere, weil der europäische Grundrechtsschutz, wie bereits im Verfassungsvertragvorgesehen, auch nach dem Reformvertrag zweierlei Gestalt habenwird: Neben die Charta-Grundrechte treten die europäischen Grundrechte als allgemeineRechtsgrundsätze, wie sie der EuGH richterrechtlich entwickelt hat. 24 Und andiese allgemeinen Rechtsgrundsätze sind die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereichdes Europarechts gebunden. Die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH, derdie Grundrechte als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze konzeptualisiert, wäreselbst durch ein echtes Opt-out aus der Grundrechte-Charta nicht betroffen. Dass derWortlaut des Protokolls entgegen der vielfach verwendeten Formel vom „Opt-outaus der Charta“ ein solches gar nicht hergibt, ist bereits im Oktober 2007 auch im23 In der Entscheidung des Conseil constitutionnel vom 20. Dezember 2007 zu den durch denReformvertrag erforderlichen und am 4. Februar 2008 beschlossenen Änderungen der französischenVerfassung kommt dieser Gesichtspunkt allerdings nicht zur Sprache, Conseil constitutionnel,Entscheidung 2007-560 DC, Traité modifiant le traité sur l’Union européenne et letraité instituant la Communauté européenne, Journal Officiel No. 302 v. 29.12.2007, 21813(deutsche Übersetzung unter http://www.conseil-constitutionnel.fr/decision/2007/2007560/index.htm). Art. 23 GG sieht Reziprozität nicht ausdrücklich vor.24 Vgl. auch weiterhin Art. 6 Abs. 3 <strong>EU</strong>V-Liss.95


itischen Parlament festgestellt worden, und zwar in einem Bericht des House ofCommons European Scrutiny Committee. 25Ohnehin lässt auch der Wortlaut des Protokolls eine Reihe von Auslegungsspielräumen,die britische und polnische Gerichte möglicherweise nutzen werden. Beispielsweiseist die Rede davon, dass Befugnisse nicht ausgeweitet werden – diesimpliziert einen Status quo, in dem bereits Befugnisse bestehen.VI. MotivsucheZu den Motiven für den britischen Widerstand gegen die Charta, über die aus einerRegierungslogik wahrscheinlich stets ungünstige Einengung bei der Berufung auföffentliche Ordnung, Sicherheit, Gesundheit (siehe oben) hinaus, gibt es eine Reihevon möglichen Erklärungen. Am wenigsten überzeugt dabei die Behauptung, dasbritische Common Law sei besonders schwer mit den Vorgaben einer Charta zuvereinbaren. 26 Plausibler erscheint vielmehr die Vermutung, dass regierungsseitigmit Blick auf die intergouvernementale Zusammenarbeit ein geringes Interesse anmehr Berechtigungen für den Einzelnen besteht, und dass außerdem Interessengruppen,namentlich der Industrie und der Juristen, 27 ihren Einfluss geltend machen. Fürden Einzelnen in Großbritannien sollte es eigentlich nicht nachvollziehbar sein,warum die eigene Regierung den Grundrechtsschutz verkürzt, zumal wenn sichdieser Grundrechtsschutz im Grundsatz gegen die in Großbritannien doch weithineher skeptisch beäugte europäische Hoheitsgewalt richtet.Die polnische Motivation für die Beteiligung an diesem Protokoll entzieht sicheiner rationalen Rekonstruktion. Insbesondere finden sich in der Charta keine Verpflichtungenfür die Mitgliedstaaten, gleichgeschlechtliche Verbindungen als Eheanerkennen zu müssen, und die Wiedereinführung der Todesstrafe wäre auch ohnedie Charta mit der Mitgliedschaft in der <strong>EU</strong> nicht vereinbar. Diese beiden Punktescheinen bei einigen Akteuren in Polen eine Rolle gespielt zu haben.25 HC 1014 Ziffer 58.26 Implizit bestätigt ein solches Argument eigentlich, dass der Grundrechtsschutz in Großbritanniennicht dem europäischen Standard entspricht.27 Hier kommt die Problematik der wirtschaftlichen und sozialen Rechte sowie der Gewerkschaftsrechtein den Blick.96


VII. Weitere grundrechtsskeptische Mitgliedstaaten 28Welche beiden Staaten sich Großbritannien im Widerstand gegen die Charta anschließenwollten, war zunächst nicht öffentlich gemacht worden. In Medienberichtenwurden alsbald Polen und anfänglich auch Irland genannt. 29 In jenen Mitgliedstaatensind die jeweiligen Regierungen in dieser Frage zum Teil heftig kritisiertworden. 30 Polen hat sich gleichwohl dem Protokoll angeschlossen, immerhin miteiner Erklärung zur Bedeutung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Chartavor dem Hintergrund „der sozialen Bewegung der ‘Solidarnosc’ und ihres bedeutendenBeitrags zur Erkämpfung von Sozial- und Arbeitnehmerrechten“. 31Die im November 2007 ins Amt gelangte Regierung Tusk erklärte entgegen anderslautender Ankündigungen vor der Wahl wohl mit Blick auf die Ratifikationsmehrheiten,dass sie die durch die Vorgängerregierung Kaczynski beschlosseneBeteiligung Polens an dem Protokoll bis auf weiteres nicht rückgängig machen werde.VIII. Schlussbetrachtung – Grenzen der Wertegemeinschaft?Insgesamt bleibt fraglich, ob man nicht ohne Ausnahmeregelung für Großbritannienund Polen durch das Verharren auf dem Status quo der lediglich als politische Erklärungverkündeten Charta von 2000 einen umfassenderen Grundrechtsschutz in der<strong>EU</strong> sichergestellt und ein positiveres politisches Signal gesendet hätte: Schließlichist auf einer rechtlichen Ebene festzuhalten, dass die Charta schon heute – als politischeErklärung – im Wege der Selbstbindung von EP, Rat und Kommission, 32 durch28 Einfügung in den Schlussverhandlungen.29 State Gets Opt-out Clause in <strong>EU</strong> Rights Charter, Irish Times v. 26.6.2007; Ireland and PolandGet “opt-out” Option on <strong>EU</strong> Rights Charter, <strong>EU</strong> Observer v. 26.6.2007.30 S. etwa Cicha furtka w sprawie praw człowieka, Gazeta Wyborcza v. 27.6.2007.31 Erklärung Nr. 62 (Erklärung der Republik Polen zu dem Protokoll über die Anwendung derCharta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich).32 Siehe zur Beachtung der Charta durch das EP insbesondere Art. 58 GeschO EP (s. auch dieHinweise im Duff-Bericht über die Wirkung der GRCh, EP-Dok. A5-332/2002); zur Selbstbindungder Kommission die Mitteilung der Kommission SEK(2001)380/3 vom 13.3.2001;zur Selbstbindung des Rates Beschlüsse und Entschließungen, in denen auf die Charta verwiesenwird, etwa die Beschlüsse 2001/903/EG (Behinderungen); 2002/187/JI (Eurojust);2002/475/JI (Terrorismus); 2002/584/JI (Haftbefehl) oder die Entschließungen 2002/C50/01(Sprachen); 2002/C163/01 (Lernen); zu Hinweisen des Gesetzgebers bei im Mitentscheidungsverfahrendurch Rat und EP angenommenen Rechtsakten die VO Nr. 1049/2001, denBeschluss 50/2002/EG, die Richtlinie 2002/47/EG; zur Berufung auf die Charta durch Mitgliedstaatendas Beispiel der Niederlande in EuGH Rs. 377/98 – Biopatentrichtlinie, Slg.2001, I-7079.97


nationale Gerichte (etwa das BVerfG 33 ), das EuG und die Generalanwälte beimEuGH, 34 sogar den EGMR 35 und nun seit kurzem auch durch den EuGH herangezogenwird. 36 Sie ist ferner Gegenstand etlicher Kommentierungen und wissenschaftlicherDiskussion. 37 Sie entfaltet damit schon heute normative Wirkung, so dass es aufeine wirksame Ratifikation als Primärrecht möglicherweise gar nicht mehr ankommt.Das Protokoll dagegen ist nicht nur eine Einladung dazu, grundrechtliche Sonderwegezu beschreiten. Es ist auch ein hässliches Signal zur Frage der gemeinsamenWertebasis der Mitgliedstaaten. Letztlich wird es vor allem auf die britischenund polnischen Gerichte ankommen, das gemeinsame Wertefundament zu bekräftigenund hinreichenden Grundrechtsschutz zu gewährleisten.33 BVerfG, NPD-Verbot, 2 BvB 1-3/01, Beschluss v. 22. November 2001.34 S. EuG Rs. 54/99 - max.mobil, Slg. 2000, II-1335 Rn. 57; GA Alber Rs. 340/99 - Traco, Slg.2001, I-4109, zu Art. 36 GRCh; GA Mischo verb. Rs. 122/99 P und 125/99 P – Schweden/Ratu. Komission, Slg. 2001, I-4319, zu Art. 9 GRCh; GA Tizzano Rs. 173/99 – BECTU, Slg.2001, I-4881, zu Art. 31 Abs. 2 GRCh; GA Jacobs Rs. 377/98 – Biopatentrichtlinie, Slg.2001, I-7079 Rdnr. 197, 210, zu Art. 1 u. 3 Abs. 2.35 EGMR Urt. v. 11.7.2002, 25680/94, I/Großbritannien, Rdnr. 80 a.E.; Urt. v. 11.7.2002,28957/95, Goodwin/Großbritannien, Rdnr. 100 a.E., jeweils für Art. 9 GRCh.36 EuGH Rs. 540/03 – EP/Rat, Slg. 2006, I-05769, Rn. 38.37 Pernice/Mayer (Fn. 21); Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union,Kommentar, 2. Aufl., 2005; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union,2005; Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006; Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag,2007; Burgorgue-Larsen u.a. (Hrsg.), Traité établissant une Constitution pour l’Europe.Commentaire article par article, Tome 2: La Charte des droits fondamentaux de l’Union,2005.98


Rat und Europäischer Rat nach dem Vertrag von Lissabon (Reformvertrag)Edgar Lenski ∗Die Europäische Union muss handlungsfähig bleiben. Die institutionellen Bestimmungendes Primärrechts waren daher – schon seit den Beratungen des EuropäischenRates in Laeken – im Fokus der Reformdiskussion. Zwar wurde im Konventkeine gesonderte Arbeitsgruppe zum institutionellen Recht ins Leben gerufen wurde1 – anders als beispielsweise zu den Themen „Subsidiarität“, „Charta“, „Ordnungspolitik“und „Außenpolitisches Handeln“. 2 Das Konventspräsidium unterValérie Giscard d’Estaing hielt hier die Zügel in der Hand und ließ in den Beratungendes Konvents erst relativ spät eine Diskussion der institutionellen Bestimmungenzu. 3 Jedoch zeigte sich die Brisanz des Themas während der Regierungskonferenz2004 im vollen Umfang. Die schließlich gefundenen Lösungen des Vertragsüber eine Verfassung für Europa (VVE) konnten weitgehend in den Vertragvon Lissabon hinübergerettet werden. Mit den schließlich gefundenen Kompromissenwurde nicht nur die Größe der Kommission und die Zusammensetzung des EuropäischenParlaments neu geregelt, eine Stärkung der nationalen Parlamente vereinbartund das ordentliche Gesetzgebungsverfahren zum Regelverfahren gemacht,sondern vor allem das institutionelle Recht des Europäischen Rates (dazu 0.) unddes Rates (dazu 0.) einer Reform unterzogen: Mit dem Vertrag von Lissabon werden∗ Der Verfasser ist Referent in der Europaabteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft undTechnologie, Referat „Recht der <strong>EU</strong>“. Die hier vertretenen Auffassungen geben ausschließlichseine persönliche Meinung wieder (Kontakt: edgar.lenski@gmx.de). Überarbeitete underweiterte Fassung des Beitrags zum Kolloquium anlässlich des zehnjährigen Bestehens desWalter Hallstein-Instituts für Europäisches Verfassungsrecht der Humboldt-Universität zu<strong>Berlin</strong> (<strong>WHI</strong>). Mein besonderer Dank gilt dem Direktor des <strong>WHI</strong>, Professor Dr. Dr. h.c. IngolfPernice, und meinen ehemaligen Kollegen für die interessante und anregende Zeit am Institut.1 Ausnahmen in einzelnen Sektoren gab es im Bereich der Außenpolitik (vgl. den Schlussberichtder Gruppe VII „Außenpolitisches Handeln“ des Europäischen Konvents vom 16. Dezember2002, Konventsdokument CONV 459/02), hinsichtlich der Eurogruppe (vgl. denSchlussbericht der Gruppe VI „Ordnungspolitik“ vom 21. Oktober 2002, KonventsdokumentCONV 357/02), sowie beim Gerichtshof (vgl. Schlussbericht des Arbeitskreises über die Arbeitsweisedes Gerichtshofs vom 25. März 2003, Konventsdokument CONV 636/03).2 Der Konvent richtete folgende Arbeitsgruppen ein: „Subsidiarität“, „Charta“, „Rechtspersönlichkeit“,„Einzelstaatliche Parlamente“, „Ergänzende Zuständigkeiten“, „Ordnungspolitik“,„Außenpolitisches Handeln“, „Verteidigung“, „Vereinfachung“, „Freiheit, Sicherheit undRecht“, „Soziales Europa“; zusätzlich gab es drei Arbeitskreise zu den Themen „Gerichtshof“,„Haushaltsverfahren“, „Eigenmittel“.3 Fischer, Konvent zur Zukunft Europas, 2003, S. 65 ff. Zudem setzte Giscard d’Estaing sichmit den Präsidiumsvorschlägen überwiegend durch.99


das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates und die Funktion des Hohen Vertretersder Union für Außen- und Sicherheitspolitik geschaffen sowie die Stimmgewichtungim Rat neu festgelegt. Insbesondere der letzte Punkt gehörte zu denFragen, die auch in der Öffentlichkeit große Beachtung fanden.I. Der Europäische RatMit dem Vertrag von Lissabon wird die institutionelle Stellung des EuropäischenRates (ER) 4 gestärkt. Auch wenn der ER schon nach dem geltenden Recht durch den„einheitlichen institutionellen Rahmen“ des Art. 3 <strong>EU</strong> 5 in der Struktur der <strong>EU</strong> undinsbesondere der EG fest verankert ist, so schafft es doch erst der Vertrag von Lissabon,dies auch unionsrechtlich klar abzubilden. Der ER wird in Art. 13 [9] <strong>EU</strong>-Vertrag 6 – gleich nach dem EP – als reguläres Organ der (neuen) <strong>EU</strong> aufgezählt.Verbunden mit der neuen Organstellung ist auch die Unterwerfung des ER unter dieGerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs, soweit der ER mit Rechtswirkunggegenüber Dritten tätig wird. 7 Der ER soll sich hauptsächlich mit den „großen Linien“befassen, auch wenn absehbar ist, dass sich dies – wie bisher – nicht immerdurchhalten lassen wird.Art. 15 [9b] <strong>EU</strong>-Vertrag übernimmt – wie die vorgenannten Neuerungen – weitestgehenddie Änderungen des VVE und führt als grundlegende Neuerung vor allemdas Amt des ER-Präsidenten (häufig fälschlicherweise als „<strong>EU</strong>-Ratspräsident“bezeichnet) ein.4 Die Abkürzung „ER“ ist in der (rechts-)wissenschaftlichen Literatur – jedenfalls bisher –nicht sehr gebräuchlich, hingegen im europapolitischen Jargon gang und gäbe.5 Die geltenden Verträge werden mit den beim Gerichtshof üblichen Abkürzung „<strong>EU</strong>“ für denVertrag über die Europäische Union und „EG“ für den Vertrag zur Gründung der EuropäischenGemeinschaft abgekürzt.6 Die zukünftig geltenden Verträge werden „<strong>EU</strong>-Vertrag“ für den geänderten Vertrag über dieEuropäische Union und „A<strong>EU</strong>-Vertrag“ für den Vertrag über die Arbeitsweise der EuropäischenUnion abgekürzt. Artikelangaben in eckigen Klammer beziehen sich auf die Altnummerierungbzw. die Nummerierung, die der Vertrag von Lissabon in den Text der Verträgeeinfügt, aber aufgrund der Übereinstimmungstabelle gemäß Art. 5 des Vertrags gleich wiederdurch eine Neunummerierung ersetzt.7 Dies ergibt sich aus Art. 263 [230] und 265 [232] des Vertrages über die Arbeitsweise der <strong>EU</strong>(A<strong>EU</strong>-Vertrag). Eine Einschränkung für die GASP enthält allerdings Art. 275 [240a] A<strong>EU</strong>-Vertrag. Gleichermaßen wird der ER in Zukunft einen eigenen Teil im Haushaltsplan erhaltenund insoweit vom Rat abgekoppelt.100


1. Aufgaben des Europäischen RatesDie Aufgabenbeschreibung für den Europäischen Rat hat sich gegenüber dem geltendenPrimärrecht (und dem Verfassungsvertrag) praktisch nicht geändert: gemäßArt. 15 [9b] Abs. 1 <strong>EU</strong>-Vertrag gibt er der <strong>EU</strong> „die für ihre Entwicklung erforderlichenImpulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritätenhierfür fest.“Dem ER kommt also weiterhin die Aufgabe zu, die Grundzüge der europäischenPolitik festzulegen. 8 Damit reklamiert er für sich immer stärker die Rolle des Motorsder Integration, die eigentlich der Europäischen Kommission zugedacht ist. Wennman die Schlussfolgerungen des ER-Vorsitzes der letzten Jahre liest, fällt auf, dassdie Kommission regelmäßig „aufgefordert“ oder „ersucht“ wird, Vorschläge oderBerichte vorzulegen und so – jedenfalls aus Sicht der Staats- und Regierungschefs –eher als ausführendes Organ des ER erscheint. 9 Dieser Tendenz einer stärkeren Intergouvernementalisierunghat der Vertrag von Lissabon nicht entgegengewirkt, wasangesichts der Entstehungsgeschichte und der handelnden Personen nicht weiterverwundern kann.Daneben erhält der ER eine Reihe von Aufgaben in den verschiedensten Bereichendes Unionsrechts, insbesondere bei Personalentscheidungen (Wahl des ER-Präsidenten, Vorschlag eines Kommissionspräsidenten sowie Ernennung des Kommissionskollegiumsund des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik)im Bereich der Außenbeziehungen, vor allem der GASP, bei der Koordinierung derWirtschaftspolitik sowie als Schiedsrichter in den so genannten „Notbremsemechanismen“für die Arbeitnehmerfreizügigkeit und den Bereich Justiz und Inneres. 10Durch den Vertrag von Lissabon ist in Art. 15 [9b] Abs. 1 S. 2 <strong>EU</strong>-Vertrag explizitfestgelegt, dass der ER nicht gesetzgeberisch tätig werden soll. Allerdings agierter heute de facto vielfach gerade als „Super-Rat“ und macht – wenn auch nicht formaldurch Beschlüsse, sondern im Wege der Schlussfolgerungen des Vorsitzes –recht deutliche Vorgaben für den Rat bei einzelnen Gesetzgebungsdossiers. 11 Dies8 Kritisch zur Funktion des ER als „oberstem Beschlussfassungsorgan mit universeller Zuständigkeit(...), das in Streitfragen im politischen Entscheidungsprozess der <strong>EU</strong> als Schiedsrichterauftritt“, Mayer, AöR 129 (2004), 411 (432 f.)9 Zu dieser Rolle des ER siehe auch Ludlow, integration 2005, 3 (S. 8 ff.).10 Der Mechanismus ist in Art. 48 [42] Abs. 2 A<strong>EU</strong>-Vertrag für sozialpolitische Maßnahmenzur Freizügigkeit der Arbeitnehmer, in Art. 82 [69a] Abs. 3 A<strong>EU</strong>-Vertrag für Teilbereiche derjustiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, in Art. 83 [69 b] Abs. 3 A<strong>EU</strong>-Vertrag für diestrafrechtliche Mindestharmonisierung sowie in Art. 87 [69 f] Abs. 3 A<strong>EU</strong>-Vertrag für diepolizeiliche Zusammenarbeit vorgesehen.11 Vgl. Europäischer Rat vom 23./24. März 2006, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Rn. 57 (zurDienstleistungsrichtlinie); allgemein zum „Mikro-Management“ durch den ER s. Persson,European Challenges: A Swedish Perspective, Humboldt-Rede zu Europa am 18. Oktober2001, http://www.whi-berlin.de/persson.htm, S. 8 (abgedruckt in Pernice (Hrsg.), Europa-Visionen, <strong>Berlin</strong> 2007, S. 62 (70)). Kritisch dazu Mayer, AöR129 (2004), 411 (432 f.).101


wird der ER wohl auch künftig nicht ändern, obwohl ihm die Gesetzgebungsbefugnissenun explizit abgesprochen werden.2. Der Präsident des Europäischen RatesMit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wird das institutionelle Gefüge mitdem Präsidenten des Europäischen Rates um einen weiteren Akteur bereichert. DieNeuerung war sowohl im Konvent als auch in der Regierungskonferenz 2004 umstritten,12 auch in der wissenschaftlichen Literatur wurden das Amt und seine verschiedenenAusgestaltungsmöglichkeiten intensiv diskutiert. 13Gemäß Art. 15 [9b] Abs. 5 <strong>EU</strong>-Vertrag wählt der Europäische Rat seinen Präsidentenfür zweieinhalb Jahre mit einmaliger Verlängerungsmöglichkeit. Wie schonim VVE vorgesehen ist dafür eine qualifizierte Mehrheit im ER erforderlich. Zwarerscheint es unwahrscheinlich, dass tatsächlich über einen Kandidaten 14 abgestimmtwird, jedoch dürfte bereits die bloße Möglichkeit einer Mehrheitsentscheidung dieKonsensfindung erheblich vereinfachen.Um Interessenkollisionen zu vermeiden, legt Art. 15 [9b] Abs. 6 UAbs. 3 <strong>EU</strong>-Vertrag die Inkompatibilität des Amtes mit nationalen Ämtern fest. Allerdings siehtder Vertrag keine Unvereinbarkeit mit einem anderen europäischen Amt vor. Eswird sich daher vor allem bei der ersten Besetzung des Postens herausstellen, ob dieStaats- und Regierungschefs mehrheitlich eine Lösung bevorzugen, bei der die administrativeFunktion des ER-Präsidenten im Vordergrund steht, und den Postendann möglicherweise sogar in Personalunion mit dem des Generalsekretärs des Ratesbesetzen, 15 oder ob der ER die repräsentative Position seines Präsidenten herausstellenwill und dann ein ehemaliges ER-Mitglied, quasi als „elder statesman“, fürden Posten des ER-Präsidenten wählen wird.12 Fischer, Konvent zur Zukunft Europas, 2003, Art. 21 VVE-Entwurf, Anm. (1).13 Vgl. nur Pernice, Democratic Leadership in Europe: The European Council and the Presidentof the Union, <strong>WHI</strong>-Paper 1/03, http://www.whi-berlin.de/pernice-leadership.htm , S. 15 ff.14 Als mögliche Kandidaten werden u.a. Tony Blair, Jean-Claude Juncker, Bertie Ahern, José-Maria Aznar und auch Aleksander Kwaśniewski gehandelt, vgl. EurActiv vom 9. Januar2008, Kandidatenliste für neuen <strong>EU</strong>-Präsidenten wächst, http://www.euractiv.com. Die Entscheidungdürfte – bei erfolgreichem Ratifizierungsfortschritt – auf dem Dezembergipfel2008 unter französischer Präsidentschaft fallen.15 Die bisherige Lösung der Personalunion von Hohem Vertreter für die GASP und Generalsekretärdes Rates wird durch den „Doppelhut“ des neuen Hohen Vertreters als „Außenkommissar“und Außenministerratsvorsitz unmöglich. Einer (wohl ohnehin theoretischen) Personalunionvon ER-Präsident und Kommissionspräsident oder Hohem Vertreter für Außen- undSicherheitspolitik schiebt Art. 245 [213] A<strong>EU</strong>-Vertrag einen Riegel vor, indem dort ein Verbotfür alle Mitglieder der Kommission aufgestellt wird, eine andere Berufstätigkeit auszuüben.102


Die Aufgaben des ER-Präsidenten sind in Art. 15 [9b] Abs. 6 <strong>EU</strong>-Vertrag niedergelegt.Er bereitet die Tagungen des Europäischen Rates vor, 16 führt den Vorsitz undsoll die erforderlichen Impulse geben, aber auch für Kontinuität, Kohäsion und Konsenssorgen. Zudem ist er verpflichtet, im Anschluss an die ER-Tagungen dem EPeinen Bericht vorzulegen. Die bisher üblichen Auftritte des jeweiligen ER-Vorsitzesvor dem EP in der Woche nach der Tagung des Europäischen Rates wird daher inZukunft der ER-Präsident wahrnehmen.Neben diesen unmittelbar mit den ER-Tagungen zusammenhängenden Arbeitenüberantwortet Art. 15 [9b] Abs. 6 UAbs. 2 <strong>EU</strong>-Vertrag dem ER-Präsidenten auchdie Außenvertretung der Union „auf seiner Ebene“ – unbeschadet der Befugnissedes Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik.Voraussichtlich werden die Tätigkeiten rund um die eigentlichen ER-Sitzungeneine politisch profilierte Person kaum ausfüllen. Es stellt sich daher schlicht dieFrage, was der ER-Präsident in der Zeit zwischen den ER-Tagungen macht.Im oben erwähnten Fall, dass ER-Präsident und Generalsekretär in Personalunionbesetzt werden, dürfte der Amtsinhaber hinreichend mit der täglichen Ratsarbeit„beschäftigt“ sein. Allerdings könnte sich aus der Verbindung mit dem Chefpostenim Ratssekretariat – trotz des vermeintlich niedrigen Profils des Amtsinhabers – eineMachtverschiebung innerhalb des Rates ergeben. Die bisher (eher) als Ratssekretariatarbeitende Behörde, würde durch die Verbindung mit dem ER-Vorsitz erheblichgestärkt und könnte durchaus ein gewisses Eigenleben entwickeln – auch und geradein den internen Politikbereichen, in denen auch in Zukunft die zwischen den Mitgliedstaatenrotierende Präsidentschaft in den Fachministerräten bestehen bleibt.In dem Fall, in dem der ER-Präsident eher repräsentativ besetzt wird, dürftenKonflikte im Verhältnis zum Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik(und den Mitgliedstaaten) vorprogrammiert sein. Die Formulierung in Art. 15 [9b]Abs. 6 UAbs. 2 <strong>EU</strong>-Vertrag, nach der der ER-Präsident die Außenvertretung derUnion „auf seiner Ebene“ und unbeschadet der Befugnisse des Hohen Vertreters derUnion für Außen- und Sicherheitspolitik ausübt, ist denkbar offen gehalten unddürfte – wie oben bereits skizziert – ein erhebliches Konfliktpotenzial im Verhältniszum Hohen Vertreter bergen. Aber auch gegenüber dem Kommissionspräsidentendürfte es zu strukturellen Konflikten kommen. 17 Der ER-Präsident wird in diesemFall – mangels umfangreicher interner Handlungsmöglichkeiten (s.o.) – vor allemauf der internationalen Bühne auftreten. Dabei wird er sich kaum auf Repräsentativbesucheund feierliche Vertragsunterzeichnungen beschränken, sondern eher versuchen,außenpolitische Akzente auf der internationalen Bühne zu setzen – sofern dieMitgliedstaaten ihn dabei nicht „an die Leine“ nehmen.16 Dabei ist er allerdings auf die Arbeiten des Rates in der Formation „Allgemeine Angelegenheiten“angewiesen.17 Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, 2005, Art. I-22, Anm. (9), sah für die Vorgängervorschriftdes VVE zudem eine Konkurrenzsituation im Verhältnis zur Ratspräsidentschaft.103


3. Zusammensetzung, Tagungen und Abstimmungen des Europäischen RatesNicht nur aus dem neu geschaffenen Amt des ER-Präsidenten ergeben sich Änderungenbei der Zusammensetzung des Europäischen Rates. Im ER versammeln sichzwar weiterhin die Staats- und Regierungschefs und der Kommissionspräsident.Hinzu kommt allerdings – neben dem ER-Präsidenten – auch der Hohe Vertreter fürAußen- und Sicherheitspolitik, der gemäß Art. 15 [9b] Abs. 2 S. 2 <strong>EU</strong>-Vertrag jedochnur an den Arbeiten des ER teilnimmt, 18 d.h. kein konstituierendes Mitglied desER wird und somit auch nicht stimmberechtigt ist.Der Präsident des Europäischen Parlaments kann hingegen auch nach dem Vertragvon Lissabon lediglich vom ER gehört werden, vgl. Art. 235 (neu) Abs. 2 A<strong>EU</strong>-Vertrag. Auch jetzt wird der EP-Präsident schon eingeladen, sich jeweils zu Beginnder ER-Tagungen mit den Staats- und Regierungschefs über aktuelle Themen auszutauschen.19 Über diese Praxis geht auch der neue Vertrag nicht hinaus: Ein Anwesenheitsrechtwährend der eigentlichen Tagung hat der EP-Präsident auch in Zukunftnicht. Auch in einem weiteren Punkt bleibt der Vertrag beim Bewährten: Die Tagungendes ER werden nicht öffentlich stattfinden, da es keine entsprechende Pflichtgibt.Anders als bisher nehmen die Außenminister künftig nicht mehr zwingend an denTagungen des ER teil. Während der Vertrag von Maastricht (Art. D Abs. 2 <strong>EU</strong>V,später Art. 4 Abs. 2 <strong>EU</strong>) noch vorsah, dass sich die Staats- und Regierungschefsdurch ihre Außenminister (und der Kommissionspräsident durch ein Kommissionsmitglied)unterstützen lassen, so spricht der Vertrag von Lissabon (Art. 15 [9b] Abs.3 S. 1 <strong>EU</strong>-Vertrag) nur noch von einem Minister, der die „Chefs“ unterstützenkann – ohne dies auf die Außenminister zu beschränken. 20 Zudem ist in Zukunft nurnoch die Rede davon, dass die ER-Mitglieder beschließen können, einen Minister(bzw. im Fall des Kommissionspräsidenten ein Kommissionsmitglied) hinzuziehen,sofern es die Tagesordnung erfordert. Diese Änderung ist insofern konsequent, alsdie Themen des ER – auch schon heute – die klassische Außenpolitik sowieGrundsatzfragen der europäischen Integration bei weitem übersteigen. 21Ob sich diese neu eröffnete Flexibilität in der Praxis auch umsetzen lässt, wird allerdingsgerade von den Außenministern abhängen, deren Einfluss durch diese fle-18 Auch heute nimmt der Hohe Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitikbereits an den ER-Tagungen teil, wobei sich dies nicht zuletzt aus seiner Funktion als Generalsekretärdes Rates ergibt (vgl. zu dieser Doppelfunktion: Art. 18 Abs. 3 <strong>EU</strong>).19 Europäischer Rat (Sevilla) vom 21. und 22. Juni 2002, Schlussfolgerungen des Vorsitzes,Anlage I („Regeln für die Organisation der Beratungen des Europäischen Rates“), Ziff. 6,Ratsdokument 13463/02.20 Vgl. Epping, in Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art.I-21, Rn. 5, der darin eine Schwächung der Außenminister sieht.21 Dazu schon oben. I.1.104


xible Regelung verringert würde: Die Tagungen des ER werden nämlich gemäß Art.15 [9b] Abs. 6 lit. b) <strong>EU</strong>-Vertrag vom ER-Präsidenten auf der Grundlage der Arbeitendes Rates „Allgemeine Angelegenheiten“ vorbereitet, der sich regelmäßig ausden Außenministern zusammensetzt. Durch ihre Vorarbeiten und die voraussichtlichweiter bestehende Einflussnahmemöglichkeit auf die Tagesordnung besteht für dieAußenminister damit zumindest ein gewisses Steuerungspotenzial.Bezeichnend ist auch die Formulierung, dass die „Mitglieder des EuropäischenRates“ beschließen können, sich von einem Minister unterstützen zu lassen. Es bedarfdazu nicht eines ER-Beschlusses, die Entscheidung steht vielmehr im Ermessendes jeweiligen Staats- oder Regierungschefs. 22 Daher wird es nicht zuletzt von innenpolitischenKonstellationen abhängen, ob die Fachminister diese neue Möglichkeiteinfordern werden – beispielsweise im Fall der Wirtschafts- und Finanzministerfür den regelmäßig im März stattfindenden Frühjahrs-ER, der sich vor allem mitwirtschaftspolitischen Themen der Lissabon-Strategie befasst.Aus der Perspektive der institutionellen Handlungsfähigkeit ist diese Flexibilitätdurchaus sinnvoll. Zwar scheint ein Petitum des Reformprozesses durch eine wechselndeBegleitung der Staats- und Regierungschefs und des Kommissionspräsidentengerade nicht erfüllt zu werden, nämlich die Kontinuität und Koordination derTätigkeiten. Da jedoch der ER-Präsident und die Staats- und Regierungschefs selbstals konstante Teilnehmer hinreichende Garanten für Kontinuität und Konsistenz derArbeiten des ER sind, erscheint es durchaus sinnvoll, die fachliche Komponente zustärken. 23Während sich die Arbeit des Rates vielfältiger Kritik wegen mangelnder Koordinationausgesetzt sieht, 24 ist dies für den ER (bisher) nicht der Fall. 25 Aufgrund seinereinheitlichen Zusammensetzung erscheint dies auch nicht weiter verwunderlich.Die in Art. 15 [9b] Abs. 6 <strong>EU</strong>-Vertrag niedergelegten Aufgabe für ER-Präsident,Kommissionspräsident und Rat „Allgemeine Angelegenheiten“, die Arbeiten des ERvorzubereiten und für Kontinuität zu sorgen, dürfte daher in Zukunft nicht zu einer(noch) koordinierteren Arbeitsweise des Europäischen Rates führen. Vielmehr droht– jedenfalls in der Anfangsphase – sogar das Gegenteil. Die Präsidentschaft in derRatsformation „Allgemeine Angelegenheiten“ (Außenminister) wird – anders alsbisher im Rat „Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen“ – in ihremoriginären Politikbereich der Außenpolitik keine Vorsitzfunktion im Außenministerratmehr inne haben, da der Hohe Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitikdieser Ratsformation vorsitzt. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass die Außenmi-22 Anders Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, 2005, Art. I-22, Anm. (4) zur wortlautidentischenRegelung im VVE, der er die Notwendigkeit eines ER-Beschlusses entnimmt.23 In gewissem Rahmen geschieht dies auch bereits jetzt. Beispielsweise treffen sich die Finanzministerparallel zum Frühjahrsgipfel 2008 aufgrund des Schwerpunktthemas Finanzdienstleistungen.24 Mayer, EuGRZ 2002, 111 (113) m.w.N.25 Vgl. de Schoutheete, Forces et faiblesses du Conseil européen, in: Vandersanden (Hrsg.),Mélanges en hommage à Jean-Victor Louis (Bd. 1), Brüssel 2003, S. 109 (110 ff.).105


nister – zumindest des jeweiligen Vorsitzlandes – in der Ratsformation „AllgemeineAngelegenheiten“ gleichsam als Kompensation für den Vorsitzverlust im Rat „AuswärtigeAngelegenheiten“ stärker als bisher koordinierend tätig werden wollen –auch und gerade mit Blick auf die Vorbereitung des ER. Da jedoch auch der ER-Präsident und der Kommissionspräsident zur Koordination aufgerufen sind, dürfte es– jedenfalls anfänglich – zu Koordinationsschwierigkeiten zwischen den Koordinatorenkommen. Letztlich wird hier, wie häufig, viel von den handelnden Personen(ER-Präsident, Kommissionspräsident, Ratspräsidentschaft), ihren Ambitionen undihrem (persönlichen) Verhältnis abhängen – und zwar vor allem im ersten Halbjahr2009 (nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon) unter tschechischer Ratspräsidentschaft.In jedem Fall dürfte es für den neuen ER-Präsidenten relativ schwierigwerden, die bestehenden Strukturen aufzubrechen und hier eigene Akzente zu setzen.Voraussichtlich wird der Europäische Rat sich auch in Zukunft regelmäßig inForm von Schlussfolgerungen des Vorsitzes äußern. Dabei handelt es sich um politischeund im Grundsatz nicht um rechtliche Äußerungen, 26 die wie bisher grundsätzlichim Konsens 27 entschieden werden, Art. 15 [9b] Abs. 4 <strong>EU</strong>-Vertrag. Ausnahmenfür eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit sind vor allem für Ernennungsentscheidungenvorgesehen, einstimmige Beschlüsse sind namentlich im Grenzbereichzur Vertragsänderung festgelegt. 28 Der Präsident des Europäischen Rates sowie der26 Vgl. Wichard, in Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, München2006, Art. I-21, Rn. 2.27 „Konsens“ dürfte dabei zwar im Regelfall gleichbedeutend mit „Einstimmigkeit“ sein, bleibtaber insofern dahinter zurück, als Stimmenthaltungen einem Konsens schon grundsätzlichnicht entgegenstehen (allerdings regelmäßig auch der Einstimmigkeit nicht, vgl. nur Art. 238[205] Abs. 4 A<strong>EU</strong>-Vertrag) und zudem ein Konsens politisch leichter zu erzielen ist, da nichtdie „harte“ Formulierung der Einstimmigkeit im Raume steht.28 Ausnahmen finden sich in Art. 7 <strong>EU</strong>-Vertrag (einstimmige Feststellung über Verletzung derGrundsätze der <strong>EU</strong>), Art. 14 [9a] <strong>EU</strong>-Vertrag (Einstimmigkeit für die Entscheidung über dieZusammensetzung des EP); Art. 15 [9b] <strong>EU</strong>-Vertrag (Wahl des ER-Präsidenten erfolgt mitqualifizierter Mehrheit), Art. 17 [9d] <strong>EU</strong>-Vertrag (Einstimmigkeit für die Änderung der Größedes Kommissionskollegiums, einstimmiger Beschluss über die Rotation der Kommissionsmitglieder– s. auch Art. 244 [211] A<strong>EU</strong>-Vertrag –, qualifizierte Mehrheit für Kommissionspräsidentenvorschlagsowie Ernennung des Kommissionskollegiums), Art. 18 [9e] <strong>EU</strong>-Vertrag (Ernennung des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik mit qualifizierterMehrheit), Art. 22 [10b] <strong>EU</strong>-Vertrag (strategische Interessen und Ziele der Außenbeziehungen),Art. 24 [11] <strong>EU</strong>-Vertrag (einstimmige Festlegung der GASP), Art. 31 [15b] <strong>EU</strong>-Vertrag (Einstimmigkeit in der GASP, einstimmiger Beschluss zum Übergang in die qualifizierteMehrheit für den Rat im Rahmen der GASP), Art. 42 [28] <strong>EU</strong>-Vertrag (Einstimmigkeitfür Übergang zur gemeinsamen Verteidigungspolitik), Art. 48 <strong>EU</strong>-Vertrag (einfache Mehrheitfür Einberufung eines Konvents, Einstimmigkeit für das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren),Art. 40 [49a] <strong>EU</strong>-Vertrag (Einstimmigkeit bei Verlängerung der Frist für einen Austritt);Art. 86 [67e] A<strong>EU</strong>-Vertrag (einstimmiger Beschluss über Ausweitung der Befugnisseder europäischen Staatsanwaltschaft), Art. 235 [201a] A<strong>EU</strong>-Vertrag (einfache Mehrheit für106


Kommissionspräsident dürfen nach Art. 235 (neu) A<strong>EU</strong>-Vertrag nicht an den Abstimmungenteilnehmen.Schließlich werden sich ebenfalls keine Änderungen beim Sitzungsort des EuropäischenRates ergeben: Die Tagungen werden auch in Zukunft in Brüssel stattfinden.29 Durch die nun vertraglich vorgeschriebene Frequenz von mindestens zweiER-Tagungen pro Halbjahr 30 und die neu geschaffene Funktion des ER-Präsidentenwird es unwahrscheinlich, dass informelle ER-Tagungen im Land des Ratsvorsitzeshinzukommen.II. Der RatDie Rolle des Rates 31 bleibt weitgehend unverändert. Er ist das Gremium, in dem dieMitgliedstaaten durch ihre Regierungen vertreten sind und damit das „föderale Element“im institutionellen Gefüge.die Annahme der Geschäftsordnung), Art. 236 [201b] A<strong>EU</strong>-Vertrag (qualifizierte Mehrheitfür die Beschlüsse über die Ratsformationen und den Ratsvorsitz), Art. 283 [245b] A<strong>EU</strong>-Vertrag (qualifizierte Mehrheit für Ernennung des EZB-Direktoriums), Art. 312 [270a] A<strong>EU</strong>-Vertrag (einstimmiger Beschluss zum Übergang in die qualifizierte Mehrheit im Rat für denmehrjährigen Finanzrahmen – die heutige Finanzielle Vorausschau), Art. 355 [311a] A<strong>EU</strong>-Vertrag (einstimmiger Beschluss über Änderungen des territorialen Anwendungsbereichs fürehemalige französische, dänische und niederländische Kolonien).29 Vgl. Schlussakte der Regierungskonferenz zum Vertrag von Nizza vom 28. Februar 2001,Erklärung Nr. 22. Der ER tagt im Justus-Lipsius-Gebäude (Ratsgebäude) am Rond PointSchuman im Brüsseler Europa-Viertel. Vertraglich festgeschrieben ist der Sitz des ER allerdingsnicht – anders als der Sitz von EP (Straßburg, mit starker Brüsseler Komponente), Rat(Brüssel, Tagungen im April, Mai und Oktober in Luxemburg), Kommission (Brüssel, mitDienststellen in Luxemburg), Gerichtshof, Rechnungshof und EIB (Luxemburg), WSA undAdR (Brüssel) sowie EZB (Frankfurt/M.) gemäß dem Protokoll über die Festlegung der Sitzeder Organe und bestimmter Einrichtungen und Dienststellen der Europäischen Gemeinschaftensowie des Sitzes von Europol (1997). Die Überlegungen, Straßburg als Sitz des ER festzulegenund im Gegenzug alle Tagungen des EP in Brüssel durchzuführen (vgl. den Antragder Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs. 16/8051), haben einen gewissenCharme, dürften aber angesichts der politische Realitäten, insbesondere in Paris, kaum Aussichtauf Erfolg haben, vgl. auch die Initiative „One Seat“, http://www.oneseat.eu, die sich füreinen einzigen Tagungsort des EP einsetzt.30 Der VVE sah noch vor, dass der ER vierteljährlich tagen sollte, was insbesondere in denzweiten Jahreshälften zu (Termin-)Problemen hätte führen können. Bisher ist lediglich eineTagung pro Halbjahr festgelegt.31 Anders als in Art. I-19 Abs. 1 VVE wird der Rat auch nicht in „Ministerrat“ umbenannt.107


1. AufgabeDie Hauptaufgaben des Rates liegen im Bereich der Gesetzgebung sowie bei derAufstellung des Haushalts – in beiden Fällen gemeinsam mit dem EP. Daneben trittwie bisher seine Rolle im Bereich der GASP, bei der Koordinierung der Wirtschaftspolitik,im Rahmen der so genannten „Methode der offenen Koordinierung“und beim Abschluss internationaler Abkommen der <strong>EU</strong>. Die Änderungen durch denVertrag von Lissabon betreffen weniger die Aufgaben des Rates an sich als vielmehreinzelne Politikbereiche, in denen der Rat vom Alleingesetzgeber zum gemeinsamenGesetzgeber mit dem Parlament im Rahmen des „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“wird. 32In gewisser Hinsicht ist der Rat durch diese Änderungen (und trotz der damit verbundenenTeilung der Legislativmacht mit dem EP) bei seiner Funktion als Legislativorgan„angekommen“. Schon die Bezeichnung des „ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens“und seine starke Ausdehnung auf weitere Bereiche macht deutlich, dassRat und EP – als gemeinsame Legislative – die Gesetzgebung als Hauptaufgabe der<strong>EU</strong> meistern müssen.2. Vorsitz , Ratsformationen und TagungenDie Präsidentschaft im Rat wird – mit Ausnahme des Vorsitzes in der Formation„Auswärtige Angelegenheiten“, den der Hohe Vertreter innehat – auch in Zukunftzwischen den Mitgliedstaaten rotieren. Statt des Rates (Art. 203 Abs. 2 EG) wirdkünftig der ER über die Abfolge der wechselnden sechsmonatigen Präsidentschaftenbeschließen, Art. 16 [9c] <strong>EU</strong>-Vertrag i.V.m. Art. 236 [201b] A<strong>EU</strong>-Vertrag. Wiebereits im Rahmen des Verfassungsvertrages hat auch die Regierungskonferenz2007 eine „Erklärung (Nr. 9) zu Art. 16 [9c] Abs. 9 <strong>EU</strong>-Vertrag betreffend den Beschlussdes Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat“ verabschiedet,mit der der entsprechende Beschluss bereits vorformuliert ist. Danach sindzwar 18-monatige „Triopräsidentschaften“ von jeweils drei Mitgliedstaaten vorgesehen.Die Mitgliedstaaten in diesen Dreiergruppen werden jedoch weiterhin einzelnfür jeweils sechs Monate den Vorsitz innehaben. 33Da durch den Vertragstext die Ratsformationen „Allgemeine Angelegenheiten“und „Auswärtige Angelegenheiten“ bereits vorgeschrieben sind, muss durch einen32 Wichtige Beispiele sind u.a. die Agrarpolitik, Art. 43 [37] Abs. 2 A<strong>EU</strong>-Vertrag, legale Migration,Art. 79 [63a] A<strong>EU</strong>-Vertrag, die interne Umsetzung der Gemeinsamen Handelspolitik,Art. 207 [133] Abs. 2 A<strong>EU</strong>-Vertrag.33 Das Gleiche gilt auch für den AStV und die Ratsarbeitsgruppen, mit einigen Sonderregeln fürden Bereich Auswärtige Angelegenheiten. Die genaue Abfolge wird auch in Zukunft vom Ratfestgelegt108


Beschluss des Europäischen Rates nur noch über die restlichen Ratsformationenentschieden werden, Art. 236 [201b] A<strong>EU</strong>-Vertrag. Absehbar wird es bei den bekanntenacht weiteren Formationen bleiben. 34Eine entscheidende Neuerung wird durch die eher versteckte Vorschrift des Art.16 [9c] Abs. 8 <strong>EU</strong>-Vertrag eingeführt: Der Rat muss öffentlich tagen, wenn er alsGesetzgeber tätig wird. Zwar ist auch jetzt schon in der Geschäftsordnung des Rates(Art. 8) vorgesehen, dass der Rat u.a. dann öffentlich tagt, 35 wenn die Kommissionihren Gesetzgebungsvorschlag vorstellt und wenn der Rat schließlich über ihn abstimmt.Die Neuregelung geht aber deutlich weiter. 36 Diese schon im VVE enthalteneNeuerung ist ein entscheidender Schritt zu mehr Transparenz und Medienöffentlichkeit.37 Ob die Medien diese neue Möglichkeit auch nutzen, bleibt allerdingsabzuwarten. Die heute technisch bereits zur Verfügung stehenden Möglichkeitenwerden in den audiovisuellen Medien eher spärlich genutzt.Wie bisher wird es auch in Zukunft erheblicher Anstrengungen bedürfen, die Kohärenzder Arbeiten des Rates sicher zu stellen. Der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ist zwar gemäß Art. 16 [9c] Abs. 6 UAbs. 2 <strong>EU</strong>-Vertrag dazu aufgerufen, „fürdie Kohärenz der Arbeiten des Rates in seinen verschiedenen Zusammensetzungen“zu sorgen. Diese Aufgabe hat er jedoch schon jetzt auf der Grundlage der Geschäftsordnungdes Rates (Art. 2 Abs. 2). Inwieweit der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“tatsächlich Kohärenz sicherstellen kann, wird dabei nicht zuletzt von denKonstellationen in den nationalen Regierungen abhängen. Es ist bereits absehbar,dass die Fachminister sich nicht von ihren Außenministerkollegen koordinierenlassen werden. Das mag zwar aus integrationspolitischer Sicht bedauert werden,erscheint aber aufgrund des mittlerweile erreichten Standes der Integration sachlichgeboten. Anders als noch in den Anfangszeiten der Integration ist die Bandbreite dereuropäischen Themen mittlerweile so groß, dass es kaum sinnvoll erscheint, denAußenministern eine Koordinationsfunktion für so unterschiedliche Themen wie denEuropäischen Haftbefehl, die Wasserrahmenrichtlinie und den Energiebinnenmarkt34 Es handelt sich dabei um die in Anhang zur Geschäftsordnung aufgezählten Formationen:Wirtschaft und Finanzen (ECOFIN), Justiz und Inneres (JI), Beschäftigung, Sozialpolitik,Gesundheit und Verbraucherschutz (EPSCO), Wettbewerbsfähigkeit (WBF) (Binnenmarkt,Industrie und Forschung), Verkehr, Telekommunikation und Energie (TTE), Landwirtschaftund Fischerei, Umwelt sowie Bildung, Jugend und Kultur (EJC).35 Praktisch erfolgt dies durch Videoübertragung in eine so genannte „salle d’écoute“ (Mithörsaal)im Ratsgebäude sowie einen Videostream auf der Ratswebseite,http://www.consilium.europa.eu/cms3_fo/showPage.asp?lang=de&id=1103.36 Interessant ist auch die Vorgabe in Art. 16 [9c] Abs. 8 S. 2 <strong>EU</strong>-Vertrag, der die bisherigeAufteilung der Ratstagesordnung in A- und B-Punkte durcheinander bringen dürfte, da künftigdie Gesetzgebungspunkte auf der Tagesordnung zusammengefasst werden müssen – stattwie bisher die bereits auf Beamtenebene geklärten A-Punkte von den zu debattierenden B-Punkten zu trennen.37 Pernice, Salvaging the Constitution for Europe – A Reform Treaty for the <strong>EU</strong>, <strong>WHI</strong>-Paper4/07, http://www.whi-berlin.de/documents/whi-paper0407.pdf, S. 11.109


zu überantworten. 38 Allein die Tatsache, dass die Außenminister, d.h. insbesondereder Außenminister des Vorsitzlandes nicht mehr die Präsidentschaftsrolle in derRatsformation „Auswärtige Angelegenheiten“ inne haben wird, dürfte aber dazuführen, dass der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ bei den Außenministern größereAufmerksamkeit bekommen wird. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Machtbalancezwischen den Außenministern und den Fachministerräten einpegeln wird.3. Qualifizierte Mehrheit („doppelte Mehrheit“)Die Änderungen am Entscheidungsverfahren im Rat dürften die meistdiskutiertenFragen sein, die der Vertrag von Lissabon einführt. Grundsätzlich ist in Art. 16 [9c]Abs. 3 <strong>EU</strong>-Vertrag nun festgelegt, dass der Rat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet,es sei denn die Verträge sehen ein anderes Verfahren explizit vor. Entscheidungenmit qualifizierter Mehrheit werden so auf zahlreiche Bereiche (z.B. die legaleMigration, 39 das Recht des geistigen Eigentums 40 oder den Energiebereich 41 ) ausgeweitet.Besonders sensible Bereiche bleiben aber weiter in der Einstimmigkeit (insbesondereim Steuerbereich).Die Berechnungsmethode für die qualifizierte Mehrheit war in der Phase vor derEinigung auf dem Juni-Gipfel 2007 unter deutscher Präsidentschaft höchst umstritten.42 Hauptgegner war Polen – mit der damaligen Doppelspitze aus Lech undJarosław Kaczyński. Als Gegenmodell propagierte die polnische Staatsführung einehäufig als „Quadratwurzelsystem“ oder „Jagiellonischer Kompromiss“ betitelteBerechnungsmethode, die vor allem von zwei Krakauer Wissenschaftlern – aufbauendauf spieltheoretischen Forschungen von Penrose – entwickelt worden war. 43Nach diesem Modell sollte jeder Mitgliedstaat ein Stimmgewicht entsprechend derQuadratwurzel seiner Bevölkerungszahl erhalten. Ein Beschluss käme zustande,wenn einem Vorschlag 61,6 % der gewichteten Stimmen (Wurzel der Bevölke-38 Die gegenwärtige Praxis im Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ macht dies insofern deutlich,dass der regelmäßige „Bericht über den Stand der Beratungen in anderen Ratsformationen“als sog. A-Punkt, d.h. ohne Debatte, auf die Tagesordnung des Rates gesetzt wird.39 Art. 79 [63a] A<strong>EU</strong>-Vertrag.40 Art. 118 [97] A<strong>EU</strong>-Vertrag.41 Art. 194 [176a] A<strong>EU</strong>-Vertrag – gegenwärtig ist hier noch teils ein Rückgriff auf Art. 308 EG(Einstimmigkeit) nötig.42 Zur Entwicklung der Mehrheitsentscheidungen im Rat, s. Dony, La majorité qualifiée auConseil du traité de Rome à la Convention sur l’avenir de l’Union, in: G. Vandersanden(Hrsg.), Mélanges en hommage à Jean-Victor Louis (Bd. 1), 2003, S.139.43 Słomczyński/śyczkowski, Jagiellonian Compromise,http://chaos.if.uj.edu.pl/~karol/pdf/JagCom07.pdf; dies., From a toy model to the doublesquare root voting system, Homo Oeconomicus (2008) i.E. (Manuskript).110


ungszahl) 44 sowie die Mehrheit der MS zustimmen. 45 Die Berechnung anhand derQuadratwurzel sowie das Quorum von 61,6 % führen nach Ansicht der KrakauerWissenschaftler dazu, dass das Ziel einer gleichmäßigen Repräsentation der Bürgerim Rat weitestmöglich erreicht werde. 46 Die deutsche Präsidentschaft – unterstütztvon der ganz überwiegenden Zahl der Mitgliedstaaten – war allerdings nicht bereit,den im Verfassungsvertrag gefundenen Kompromiss wieder aufzuschnüren unddamit das gesamte Projekt des Reformvertrags aufs Spiel zu setzen. 47Im Ergebnis verankert der Vertrag von Lissabon daher die bereits in der Regierungskonferenz2004 vereinbarte Regelung. Danach ist für die qualifizierte Mehrheitin Zukunft eine „doppelte Mehrheit“ aus 55 % der Mitgliedstaaten und 65 % derBevölkerung erforderlich, wobei eine Sperrminorität mindestens vier Mitgliedstaatenumfassen muss. 48 Ergänzt wird diese Regelung um den bereits in einer Erklärung49 vorformulierten Beschluss des Rates über den so genannten „Ioannina-Mechanismus“, der annähernd so auch schon im VVE geregelt war. 50 Eine Besonderheitdes modifizierten Ioannina-Mechanismus besteht darin, dass der Ratsbeschluss,mit dem dieses System eingeführt wird, nur durch Konsens geändert werdenkann. 5144 Dieses Kriterium ergibt sich aus den Berechnungen der o.g. Autoren, nach denen die Entscheidungsmachtder Mitgliedstaaten bei einem Quorum von 61,6% am gleichmäßigsten jedeneinzelnen Unionsbürger repräsentiert.45 So der erweiterte Vorschlag von Kirsch/Słomczyński/śyczkowski, Getting the votes right,European Voice, 3-9 May 2007, S. 12.46 Słomczyński/śyczkowski, From a toy model to the double square root voting system, HomoOeconomicus (2008) i.E., S. 14 (Manuskript).47 Eine umfassende Bewertung des polnischen Vorschlags kann hier nicht erfolgen. In derGesamtschau weist er aber erhebliche Mängel auf. Schon die Grundannahme des Entwurfsgeht fehl, da die Stimmverteilung im Rat nicht dazu dient, den einzelnen Unionsbürgergleichmäßig zu repräsentieren, sondern die Mitgliedstaaten als Gesamtvertreter ihrer Bevölkerung.Die Europäische Union als „Bürger- und Staatenunion“, vgl. Art. I-1 VVE, stellt einGebilde dar, in dem die Unionsbürger direkt über das EP und indirekt über ihren jeweiligenMitgliedstaat im Rat repräsentiert werden. Das Ziel einer (möglichst) gleichen Repräsentationjedes Unionsbürgers muss daher Ziel einer Stimmverteilung im direkt gewählten Parlamentsein, nicht aber in einem Organ zur Repräsentation der Mitgliedstaaten. Eine Stimmgewichtungim Rat anhand des Kriteriums der Bevölkerung ist durchaus angemessen: die jeweiligeRegierung steht in der nationalen Regierungsverantwortung; sie ist nach ihrem nationalenVerfassungssystem legitimiert und auch verpflichtet, mit ihrer Politik für die gesamte Bevölkerung(nach außen) zu sprechen.48 Die Sonderregelungen in Art. 238 [205] Abs. 2 und 3 A<strong>EU</strong>-Vertrag werden hier nicht weiterthematisiert.49 Erklärung (Nr. 7) zu Artikel 16 [9c] Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union undzu Artikel 238 [205] Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.50 Die Änderungsfestigkeit und die gesenkte Anwendungsschwelle ab 2017 (s.u.) sind erstdurch den Vertrag von Lissabon hinzugekommen. Diese Punkte sind vor allem als Kompensationfür die polnische Forderung nach dem Quadratwurzelsystem zu verstehen.51 Dies ergibt sich aus dem „Protokoll über den Beschluss des Rates über die Anwendung desArtikels [16] 9c Absatz 4 des Vertrags über die Europäische Union und des Artikels 238111


In einem Zusammenspiel von Art. 16 [9c] Abs. 4 und 5 <strong>EU</strong>-Vertrag und Art. 3des Protokolls über die Übergangsbestimmungen wird die neue Regelung für diequalifizierte Mehrheit zeitlich dreifach gestaffelt eingeführt: bis 2014, 2014 bis 2017und ab 2017.a) Verfahren von 2009 bis 2014Nach Art. 3 Abs. 3 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen gilt nach demfür den 1. Januar 2009 geplanten Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon bis zum31. Oktober 2014 zunächst noch die in Nizza vereinbarte Stimmgewichtung. DerRat stimmt demnach dann für einen Kommissionsvorschlag, wenn eine Mehrheit derMitgliedstaaten das Quorum von 255 der 345 gewichteten Stimmen aufbringt. AufAntrag eines Mitgliedstaats wird zusätzlich überprüft, ob die zustimmenden Ratsmitglieder62% der Bevölkerung repräsentieren. 52b) Verfahren von 2014 bis 2017Am 1. November 2014 wird das neue System der „doppelten Mehrheit“ eingeführt:die qualifizierte Mehrheit kommt dann zustande, wenn 55 % der Mitgliedstaaten füreinen Rechtsakt stimmen und dabei 65 % der Gesamtbevölkerung der <strong>EU</strong> repräsentieren.53 Hinzu kommt, dass eine Sperrminorität mindestens aus vier Mitgliedstaatenbestehen muss. Diese zusätzliche Bedingung soll verhindern, dass drei große Mitgliedstaatenalleine einen Beschluss zu Fall bringen können, selbst wenn sie mehrals 35 % der Bevölkerung in der <strong>EU</strong> vertreten (beispielsweise Deutschland, Frankreichund das Vereinigte Königreich).Hinzu kommt, dass in der Zeit bis zum 31. März 2017 jeder Mitgliedstaat im Ratbeantragen kann, dass nach dem System der gewichteten Stimmen gemäß dem Vertragvon Nizza abgestimmt wird (Art. 3 Abs. 2 des Protokolls über die Übergangsbestimmungen).[205] Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zwischen dem 1.November 2014 und dem 31. März 2017 einerseits und ab dem 1. April 2017 andererseits“.52 Die Bevölkerungszahl wird einmal pro Jahr durch eine Änderung des Anhangs IIa der Geschäftsordnungdes Rates festgelegt (vgl. zuletzt Beschluss 2007/881/EG des Rates vom 20.Dezember 2007 zur Änderung seiner Geschäftsordnung, ABl. L 346 vom 29.12.2007, S. 17).Gemäß Art. 2 dieses Anhangs übermitteln die Mitgliedstaaten dazu ihre Bevölkerungszahlen(übrigens nicht die Zahl ihrer Staatsangehörigen!) jährlich an Eurostat.53 Das zusätzliche Kriterium von mindestens 15 Mitgliedstaaten ist in der <strong>EU</strong> mit 27 Mitgliedstaatenobsolet.112


Ergänzt wird die neue „doppelte Mehrheit“ durch den Ioannina-Mechanismus, 54mit dem eine Gruppe von Mitgliedstaaten, die die Sperrminorität fast erreichen, ihreablehnende Haltung gegenüber der geplante Maßnahme artikulieren und die Beschlussfassungverzögern können: sprechen sich drei Viertel der Ratsmitglieder, diefür die Bildung einer Sperrminorität nötig sind, gegen eine Beschlussfassung mitqualifizierter Mehrheit, erörtert der Rat die Thematik und muss innerhalb einer angemessenenFrist und unter Berücksichtigung eventueller zwingender Fristen (insbesondereim ordentlichen Gesetzgebungsverfahren) versuchen, eine zufrieden stellendeLösung für die vorgebrachten Anliegen zu finden. 55Übersetzt bedeutet dies, dass der Ioannina-Mechanismus durch drei Viertel derMitgliedstaaten, die für eine Sperrminorität von 45 % der Mitgliedstaaten nötig sind(33,75 %), d.h. zehn Mitgliedstaaten, oder drei Viertel der Mitgliedstaaten, die eineBevölkerung repräsentieren, die für eine Sperrminorität i.H.v 35 % erforderlich sind(26,25 %), d.h. eine Bevölkerung von zur Zeit 129.964.774 Menschen, ausgelöstwerden kann.c) Verfahren ab 2017Ab dem 1. April 2017 gilt die Regelung zur qualifizierten Mehrheit dann uneingeschränkt,allerdings bleibt es beim Ioannina-Mechanismus, dessen Verfahren nocheinmal modifiziert wird. Da nicht mehr nach der Stimmgewichtung gemäß Nizzazurückgegriffen werden kann, wird die Schwelle für den Verzögerungsmechanismusgesenkt. Erforderlich sind dann nur noch 55 % der Ratsmitglieder für eine staatenbezogeneSperrminorität i.H.v. 45 % (d.h. 24,75 % der Mitgliedstaaten, mit anderenWorten sieben Ratsmitglieder) oder 55 % der bevölkerungsbezogenen Sperrminoritäti.H.v. 35 % (also 19,25 % der Bevölkerung, d.h. eine Zahl von Mitgliedstaaten,die eine Bevölkerung von 95.307.500 Menschen vertreten).d) BewertungDie Ausweitung der Mehrheitsentscheidung im Rat ist ein weiterer wichtiger Schritt,um die Handlungsfähigkeit des Rates sicher zu stellen. Allerdings geht damit unmit-54 Der Name lehnt sich an den „Kompromiss von Ioannina“ an (Beschluss des Rates vom 29.März 1994 über die Beschlussfassung des Rates mit qualifizierter Mehrheit, ABl. C 105 vom13.4.1994, S. 1), der vor dem Beitritt Finnlands, Österreichs und Schwedens erzielt wurde, daGroßbritannien und Spanien den Beitrittsvertrag von dieser Verzögerungsmöglichkeit abhängiggemacht hatten, vgl. Götz, Mehrheitsbeschlüsse des Rates der Europäischen Union, inDue/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Everling, 1995, S. 339 (354 f.).55 Nicht zu unterschätzen ist auch, dass in Art. 3 und 6 des Beschlusses ausdrücklich auf dieGeschäftsordnung des Rates verwiesen wird.113


telbar einher, dass den unterliegenden Mitgliedstaaten ein höheres Maß an gegenseitigerToleranz abverlangt wird.Die bisherige Praxis, trotz der Möglichkeit von Mehrheitsabstimmungen, imKonsens zu entscheiden, 56 dürfte auch in Zukunft fortgeführt werden. Dabei darf vorallem nicht unterschätzt werden, dass schon die bloße Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungendurchaus zu einfacheren und besseren Entscheidungen führt. Vetomöglichkeitensind ausgeschlossen und trade-offs, die zu „faulen Kompromissen“führen, können vermieden werden. Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen sind alsoallemal besser als Einstimmigkeitserfordernisse.Der Ioannina-Mechanismus ist durch den Vertrag von Lissabon (gegenüber demVVE) nur leicht modifiziert worden: die Änderungsfestigkeit (Konsens) und dieSenkung der Anwendungsschwelle ab 2017 (55 % statt 75 % der Sperrminorität)sind zwar bedauernswert, dürften aber in der Praxis keine große Relevanz haben.Der alte Ioannina-Beschluss von 1994 ist nur in einer handvoll Fällen zum Tragengekommen – die Quellen sind hier nicht ganz eindeutig: teils wird sogar nur voneinem einzigen Fall gesprochen. Ähnlich wird es auch dem neuen Ioannina-Mechanismus ergehen.III. Abschließende BemerkungenMit dem Vertrag von Lissabon wird sich das „institutionelle Dreieck“ aus Kommission,EP und Rat nicht nennenswert ändern. Ein echtes „institutionelles Viereck“entsteht trotz der Organstellung des Europäischen Rates nicht, da er seine Aufgaben– wie bisher – einerseits eng angebunden an die Ratsarbeit ausüben wird und andererseitsbereits jetzt als Impulsgeber für die <strong>EU</strong> außerhalb dieses Dreiecks steht.Die Entscheidung, wer erster ER-Präsident wird, steht unter französischer Präsidentschaftim zweiten Halbjahr 2008 an. Damit werden entscheidende Weichenstellungenfür die künftige Ausgestaltung des Amtes getroffen. Die spannendste institutionelleEntscheidung in Folge des Vertrags von Lissabon wird allerdings vermutlichnicht im Rat oder im ER entschieden, sondern bei der kommenden EP-Wahl. Solltendie EVP und die SPE mit eigenen Kandidaten für das Amt des Präsidenten derKommission antreten, dürfte sich das gesamte Gefüge der <strong>EU</strong> – mit einer gesteigertendemokratischen Legitimation der Kommission – erneut stark verändern.56 Dazu: Hayes-Renshaw/van Aken/Wallace, When and Why the <strong>EU</strong> Council of Ministers VotesExplicitely, JCMS 2006, S. 161 ff.114


Die Kompetenzordnung im Vertrag von LissabonBeate Braams ∗I. EinleitungBlickt man zurück auf die Anfänge des europäischen Verfassungsprozesses unddamit auf den Europäischen Rat von Laeken im Dezember 2001 und die „Erklärungzur Zukunft der Europäischen Union“ 1 , so ist aus deutscher Sicht 2 wohl insbesondereder Auftrag an den Europäischen Verfassungskonvent zur „besseren Aufteilungund Festlegung der Zuständigkeiten der <strong>EU</strong>“ 3 in Erinnerung geblieben. Unter dieserÜberschrift formulierte der Europäische Rat von Laken drei Ziele, die eine Überarbeitungder europäischen Kompetenzordnung berücksichtigen sollte. Die Aufteilungder Kompetenzen zwischen nationaler und europäischer Ebene sollte verdeutlicht,vereinfacht und an die neuen Herausforderungen der Union angepasst werden, wobeiletzteres auch die Frage einschließen sollte, ob Kompetenzen dann an die nationaleEbene zurückgegeben werden können, wenn die Union die ihr zu einem früherenZeitpunkt übertragene Kompetenzen nicht mehr nutzt. 4 Es drängt sich daher dieFrage auf, wie diese Zielsetzungen im nunmehr wohl als Ergebnis des VerfassungsundReformprozesses zu verstehenden Vertrag von Lissabon verwirklicht wurdenund wo die Neuerungen der Kompetenzverteilung im Vertrag von Lissabon liegen.∗ Die Verfasserin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Walter Hallstein-Institut für EuropäischesVerfassungsrecht und Doktorandin bei Prof. Dr. Ruffert (Universität Jena).1 Europäischer Rat, Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, Anlage 1 derSchlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates von Laeken, 14./15.12. 2001, S.21, http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/68829.pdf; imeuropäischen Konvent beschäftigten sich insgesamt 11 Arbeitsgruppen mit Fragestellungender vertikalen Kompetenzordnung, insbesondere aber: Arbeitsgruppe I(Subsidiaritätsprinzip),Arbeitsgruppe V (Ergänzende Zuständigkeiten), Arbeitsgruppe VI (Ordnungspolitik), ArbeitsgruppeVII (Außenpolitisches Handeln), Arbeitsgruppe VIII (Verteidigung) und ArbeitsgruppeXI (Soziales Europa).2 Siehe die langjährige Debatte der Kompetenzordnung in der deutschen Literatur: Jarass, AöR121 (1996), 173; Mayer, ZaöRV 61 (2001), 577 ff; Pernice, JZ 2000, 866 ff.; Schwarze,DVBl. 1995, 1265; von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2004, 441 ff.; grundlegend auch; Fischer,Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration,Rede an der Humboldt Universität am 12.5.2000.3 Siehe: Erklärung von Laeken (Fn. 1), S. 22.4 Siehe: Erklärung von Laeken (Fn. 1), S. 21; siehe auch den Beitrag von: Craig, Competence:Clarity, Containment and Consideration, in: Pernice/Maduro (Hrsg.), A Constitution fort heEuropean Union: First Comments on the 2003-Draft of the European Convention, 2004, 75(76).115


Dieser Beitrag nimmt hierzu die Kompetenzordnung 5 in einem wörtlich verstandenenSinn unter dem Lissabonvertrag in den Blick. Es erfolgt insbesondere eineAnalyse des Textbefundes der Art. 2 ff. [Art. 2a ff.] A<strong>EU</strong>V 6 , die wohl nun deutlicherals zuvor Aktivitäten der Union 7 der Kompetenzordnung unterwerfen, die sich außerhalbdes Instrumentarium der Gemeinschaftsmethode und mithin des Rechtsaktsbegriffsi.e.S. 8 bewegen 9 sowie des Mehrgewinns einer solchen Ordnung und Klassifizierungder Kompetenzen. Mit Blick auf den Beitrag von Michaela Hailbronneräußert sich dieser Beitrag nicht zu Fragen des Subsidiaritätsprinzips und damit imZusammenhang stehend zur Rolle der nationalen Parlamente. Fragestellungen zuden materiellen Veränderungen in einigen Politikfeldern werden angesprochen, aberebenfalls nicht vertieft. 10II. Die Kompetenzordnung im Vertrag von LissabonDer Vertrag von Lissabon übernimmt in weiten Teilen die Kompetenzordnung derArt. I-11 ff. des Vertrags über eine Verfassung für Europa (VVE) 11 , unterscheidetaber trotz Schaffung einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit der Union auch weiterhinzwischen dem Unionsvertrag und dem Vertrag über die Arbeitsweise der5 Der Beitrag verwendet die Begriffe der Kompetenz und Zuständigkeit synonym, da mit Blickauf die verschiedenen Sprachfassungen des Vertrags von Lissabon beiden Begriffen wohlkein unterschiedlicher Bedeutungsgehalt zugewiesen wird; siehe hierzu beispielsweise dieÜberschrift des Titel I im Vertrag über die Arbeitsweise der <strong>EU</strong> im Vergleich der deutschen,englischen und französischen Sprachfassung: „Arten und Bereiche der Zuständigkeit der U-nion“, „Categories and Areas of Union Competence“, „Catégories and Domaines de la Compétencede l’Union“; grundlegend hierzu: Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung,2000, S. 21 f.6 Die Bestandteile des Vertrags von Lissabon werden in diesem Beitrag als „Unionsvertrag“ –für den geänderten Vertrag über die Europäische Union – und „A<strong>EU</strong>V“ – für den Vertrag ü-ber die Arbeitsweise der Europäischen Union – abgekürzt. Die Artikelangaben in eckigenKlammer beziehen sich auf die Altnummerierung bzw. die Nummerierung, die der Vertragvon Lissabon in den Text der Verträge einfügt, aber aufgrund der Übereinstimmungstabellegemäß Art. 5 des Vertrags gleich wieder durch eine Neunummerierung ersetzt.7 Siehe hierzu insbesondere die „Maßnahmen“ der Union i.S.d. Art. 2a Abs. 5 [Art. 2 Abs. 5]A<strong>EU</strong>V.8 Zum Rechtsaktsbegriff i.e.S. verstanden als rechtlich unmittelbar verbindlicher Akt, s. Härtel,Handbuch Europäische Rechtsetzung, 2006, S: 9 ff.9 Zum Umfang des Verständnisses des Kompetenzbegriffs in den europäischen Verträgen, s.Mayer, Competences – Reloaded? The Vertical Dimension of Powers in the <strong>EU</strong> after the NewEuropean Constitution, <strong>WHI</strong> Paper 19/04, S. 5 ff.; ders., Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung,2000, S. 21 f.10 Siehe hierzu die Beiträge zu ausgewählten Politikfeldern von: Ruffert (Raum der Freiheit,Sicherheit und des Rechts); Thym (Auswärtiges Handeln); Wernicke (Wettbewerbsprinzip),Kotzur (Soziale Marktwirtschaft), Pahl (Umweltpolitik) in diesem Buch.11 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl<strong>EU</strong> v. 16.12.2004, C 310/1.116


Europäischen Union (A<strong>EU</strong>V) 12 . Für die Frage nach der europäischen Kompetenzordnungfinden sich Regelungen in beiden Verträgen. Während der Unionsvertragdie allgemeinen Prinzipien der europäischen Kompetenzordnung im Art. 4 [Art. 3b]Unionsvertrag zusammenfasst, widmen sich die Bestimmungen der Art. 2 ff. [Art.2a] A<strong>EU</strong>V der Frage nach der Ordnung und Systematisierung verschiedener Kompetenzkategorien.Die Substanz der Bestimmungen zur Kompetenzordnung entstammtmithin dem im Konventsverfahren erarbeiteten Verfassungsvertrag 13 undübernimmt die folgenden vier grundlegenden Aussagen:• Grundlegendes Prinzip der europäischen Rechtsordnung bildet auch unter demVertrag von Lissabon das in Art. 4 [Art. 3b] Unionsvertrag verankerte Prinzipder begrenzten Einzelermächtigung.• Art. 2 [Art. 2a] A<strong>EU</strong>V formuliert verschiedene Kategorien von Zuständigkeitenund übernimmt insoweit die Regelungen des Art. I-12 VVE. Die Unterteilung inverschiedene Zuständigkeiten erfolgt nach der Intensität europäischen Handelnsund dessen Wirkungen für die mitgliedstaatliche Ebene. Die ausdrückliche Aufnahmeder Kategorie der Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung undErgänzung mitgliedstaatlichen Handelns i.S.d. Art. 2 Abs. 5 [Art.. 2a Abs. 5]A<strong>EU</strong>V sowie des in seiner Zuordnung unklar ungebliebene Bereichs der Koordinierungder Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik i.S.d. Art. 2 Abs. 3 [Art.2a Abs. 3] A<strong>EU</strong>V lassen vermuten, dass der Vertrag von Lissabon unionalesHandeln außerhalb des klassischen Instrumentariums der Gemeinschaftsmethodeder Kompetenzordnung unterstellt.• Schließlich erfolgt in den Art. 3 ff. [Art. 2b ff.] A<strong>EU</strong>V, wenn zumeist auch nichtin abschließender Form 14 , eine Zuordnung verschiedener Sachbereiche zu einerder in Art. 2 [Art. 2a] A<strong>EU</strong>V genannten Kompetenzkategorien.• Ein teilweise immer wieder geforderter Gleichklang zwischen der jeweiligenKompetenzkategorie und den zur Verfügung stehenden Handlungsformen wirdauch durch den Vertrag von Lissabon nicht eingeführt. 15 Es bleibt weiterhin denam Gesetzgebungsverfahren beteiligten Institutionen überlassen, die geeigneteHandlungsform in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzipzu wählen.12 Neben dem Unionsvertrag und dem Vertrag über die Arbeitsweise der <strong>EU</strong> existiert der Vertragüber eine europäische Atomgemeinschaft fort.13 Oppermann, DVBl. 2003, 1165 (1170); Quermonne, RDC 2007, 549 ff.; Ruffert, EuR 2004,165 (190).14 Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-11 VVERn. 1 f.; zur Frage nach dem Model-Charakter des Kompetenzkatalogs des Grundgesetzessiehe: Epping, JZ 2003, 821 (827) unter Verweis auf die hierauf hinweisende Äußerung desKonventspräsidenten Giscard d’Estaing.15 Becker, Die vertikale Kompetenzordnung im Verfassungsvertrag, in: Jopp/Matl (Hrsg.), DerVertrag über eine Verfassung für Europa – Analysen zur Konstitutionalisierung der <strong>EU</strong>,2005, 187 (195); eingehend zu dieser Frage: Bast, Grundbegriffe der Handlungsformen der<strong>EU</strong> entwickelt als praxisgenerierter Handlungsform des Unions- und Gemeinschaftsrechts,2006.117


1. Der UnionsvertragArt. 1 Abs. 1 [Art. 1] Unionsvertrag stellt in seiner neuen Fassung in Anlehnung anden Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 1 des Verfassungsentwurfs (VVE) klar, dass „(…)die Mitgliedstaaten der Union Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsamenZiele übertragen“ und bringt damit im ersten Artikel das Wesen der <strong>EU</strong> alseiner, auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beruhenden, supranationalenIntegrationsgemeinschaft zum Ausdruck. Weggefallen ist der bisherige Satz 2des Art. 1 VVE, wonach die Union, „(…) die diesen Zielen dienende Politik derMitgliedstaaten [koordiniert] und (…) die ihr von den Mitgliedstaaten übertragenZuständigkeiten in gemeinschaftlicher Weise [ausübt].“ Zwar mag fraglich sein, obdieser zweite Satz inhaltlich etwas Neues hinzugefügt hätte, er hätte jedoch nebendem vertikalen Kompetenzverhältnis zwischen Mitgliedstaaten- und <strong>EU</strong>-Ebene denhorizontalen Aspekt des europäischen Verfassungsverbundes 16 durch die Betonungder gemeinschaftlichen Ausübung der Kompetenzen zutreffend an den Anfang gestellt.Hintergrund für die Diskussionen und schlussendlich wohl auch für die Streichungdieses Satzes war aber weniger der horizontale Charakter der Kompetenzwahrnehmung,sondern vielmehr der sprachliche Gegensatz zwischen Politikkoordinierungund Zuständigkeiten der <strong>EU</strong>. Eine allumfassende Politikkoordinierungaußerhalb der der <strong>EU</strong> übertragenen Kompetenzen sollte hiermit gerade nicht begründetwerden, so dass die Streichung dieses Satzes andernfalls zu befürchtendenDiskussionen erfreulicherweise von vornherein die Grundlage entzieht. 17Art. 1 [Art. 2] Unionsvertrag, der an die Stelle des jetzigen Art. 2 <strong>EU</strong>V tritt, wirdgeändert und an die Regelung des Art. I-3 VVE angepasst. Art. 1 [Art. 2] Unionsvertragdefiniert die Ziele der Union, die diese bei all ihren Handlungen zu beachtenhat und die durch die den jeweiligen Sachbereichen im Unionsvertrag und im A<strong>EU</strong>Vteilweise vorangestellten Zielbestimmungen konkretisiert werden. Art. 3 Abs. 6[Art. 2] Unionsvertrag betont damit deutlicher als der bisherige Art. 2 UAbs. 2<strong>EU</strong>V, dass eine Verfolgung der genannten Ziele nur im Rahmen der der Union übertragenenZuständigkeiten in Betracht kommt und bindet so die Verwirklichung derim Vertragstext niedergelegten Ziele ausdrücklich an die im Vertragstext übertragenenZuständigkeiten.Art. 4 und 5 [Art. 3a und 3b] werden neu in den Unionsvertrag eingefügt, übernehmenaber aus dem EG-Vertrag bekannte Prinzipien. Art. 4 Abs. 1 [Art. 3a Abs.1] Unionsvertrag stellt klar, dass alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen16 Zum Begriff Pernice, Bestandsicherung der Verfassungen: Verfassungsrechtliche Mechanismenzur Wahrung der Verfassungsordnung, in: Bieber/Widmer (Hrsg.), Der europäische Verfassungsraum,1995, S. 225 (261 f.); ders., VVDStrL 60 (2001), 148 (163 ff.); ders., Die EuropäischeVerfassung, Festschrift für Steinberger, 2002, 1315 (1326 f.)17 Fischer, Der Europäische Verfassungsvertrag, 2005, S. 123, s.auch den ursprünglichen Textentwurfund die Änderungen im Konvent: Europäischer Konvent, Überarbeiteter Text vonTeil I v. 24.5.2003, CONV 742/03, S. 49 f.118


Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Art. 5 [Art. 3b] Unionsvertragfasst die Grundsätze der Übertragung und Ausübung der Zuständigkeiten der Unionzusammen und regelt damit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, dasSubsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip 18 . Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigungals grundlegendes Prinzip der supranationalen Rechtsordnung wirdin seiner im EG-Vertrag geltenden Form des Art. 5 Abs. 1 EGV sprachlich erweitert.In Übernahme der Bestimmungen des Art. I-11 Abs. 2 S. 1 VVE i.V.m. Art. I-3Abs. 5 VVE hebt Art. 5 Abs. 2 S. 1 [Art. 3b Abs. 2 S. 1] Unionsvertrag in Übereinstimmungmit Art. 3 Abs. 6 [Art. 2 Abs. 6] Unionsvertrag den Zusammenhang zwischenZuständigkeiten und Zielen hervor. Die Verwirklichung der Unionsziele musssich hiernach, wie oben bereits dargelegt, in den Grenzen der der Union übertragenenZuständigkeiten bewegen. Eine Lockerung dieses Grundsatzes ergibt sich jedenfallsfür die die Zuständigkeitsbereiche des A<strong>EU</strong>V, aber auch weiterhin aus derFlexibilitätsklausel des Art. 352 [Art. 308] A<strong>EU</strong>V. Hiernach ist ein Tätigwerden ineinem vertraglich festgelegten Politikfeld unter den dort genannten Voraussetzungenauch dann möglich, wenn eine konkrete Befugnisnorm nicht vorhanden ist, ein Tätigwerdender Union aber zur Erreichung eines Vertragszieles erforderlich ist.2. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (A<strong>EU</strong>V)Der Vertrag über die Arbeitsweise der <strong>EU</strong> (A<strong>EU</strong>V) nennt in seinem Titel I die Artenund Bereiche der Zuständigkeiten und beginnt damit in Anlehnung an die Art. I-12VVE mit einer Kategorisierung der Zuständigkeiten. Diese allgemeinen Bestimmungenordnen und klassifizieren die Zuständigkeiten der Union, ohne jedoch, wieinsbesondere Art. 2 Abs. 6 [Art. 2a Abs. 6] A<strong>EU</strong>V klarstellt, selbst Kompetenznormendarzustellen. Die eigentlichen Kompetenznormen sowie der Umfang der Zuständigkeitenund die zu ihrer Ausübung zur Verfügung stehenden Mittel richtensich gem. Art. 2 Abs. 6 [Art. 2a] A<strong>EU</strong>V nach den Bestimmungen in den einzelnenSachbereichen. Die eigentliche Funktion der allgemeinen kompetenzrechtlichenBestimmungen muss sich daher auf die Funktion einer Art Auslegungshilfe für dieHeranziehung und Anwendung der jeweils speziellen Kompetenznormen beschränken.19Wie schon im Verfassungsentwurf wird nunmehr in Art. 2 [Art. 2a] A<strong>EU</strong>V zwischenausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten unterschieden und mithin eineUnterscheidung im Vertragstext ausdrücklich verankert, die in der Rechtsprechung18 Konkretisiert werden das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip wie bisher schonim Protokoll Nr. 30 des Amsterdamer Vertrages jetzt durch das Protokoll Nr. 2 „über dieAnwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“, welches im Art.8 des Protokolls um ein Klagerecht der im Namen der nationalern Parlamente handelndenMitgliedstaaten wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips erweitert wird.19 Nettesheim, EuR 2004, 511 (527).119


des EuGH seit langem anerkannt ist, aber bisher dem Vertragstext nur mittelbar inArt. 5 Abs. 2 EGV entnommen werden konnte. Was die Bezeichnung der Kategorienanbetrifft, so ist der Begriff der geteilten Zuständigkeiten neu gewählt und dieAbkehr von dem an die Zuständigkeitsverteilung im Bundesstaat erinnernden Begriffder konkurrierenden Zuständigkeiten zu begrüßen. Ebenso erstmals ausdrücklichim Vertragstext erwähnt ist die dritte Zuständigkeitskategorie der Unterstützungs-,Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen.a) Ausschließliche KompetenzenDie Kategorie der ausschließlichen Zuständigkeiten dürfte in ihrer Ausgestaltungwenig Neues hervorbringen. Art. 2 Abs. 1 [Art. 2a Abs. 1] A<strong>EU</strong>V definiert in Anlehnungan Art. I-12 Abs. 1 VVE den Charakter ausschließlicher Zuständigkeitenund stellt diesen damit erstmals im Vertragstext klar. Ist eine ausschließliche Zuständigkeitder <strong>EU</strong> im Vertragstext übertragen, so sind die Mitgliedstaaten unabhängigvon einem konkreten Tätigwerden der <strong>EU</strong> in diesem Bereich nicht mehr handlungsbefugt.20 Art. 3 [Art. 2b] A<strong>EU</strong>V nennt in Übereinstimmung mit der bisherigenRechtssprechung die Gebiete der Zollunion, die für das Funktionieren des Binnenmarktserforderlichen Wettbewerbsregeln, die Währungspolitik der Euro-Länder, dieErhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitikund die gemeinsame Handelspolitik als Politikbereiche ausschließlicher Unionszuständigkeit.Der Sachbereichskatalog der ausschließlichen Zuständigkeiten istzu Recht kurz gehalten, da eine Charakterisierung eines Sachbereichs als ausschließlicheUnionszuständigkeit die Mitgliedstaaten an einer selbständigen Regulierungdieses Bereichs hindert und damit eng interpretiert werden sollte. Art. 3 Abs. 2 [Art.2b Abs. 2] A<strong>EU</strong>V betrifft die Frage der Kompetenz der <strong>EU</strong> zum Abschluss internationalerÜbereinkünfte und ist als Kodifizierung der Rechtsprechung zu verstehen. 21Hervorgehoben sei hier mit Blick auf die Währungspolitik der Euro-Länder dieMöglichkeit der Einführung strengerer Maßnahmen zur Koordinierung und Überwachungder Haushaltsdisziplin i.S.d. Art. 136 [Art. 115a] 22 sowie die Kompetenz zumErlass von Maßnahmen zur Außenvertretung des Euro in internationalen Einrichtungengem. Art. 138 [Art. 115c] A<strong>EU</strong>V. 2320 Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-11 VVERn. 7.21 EuGH Rs. 22/70 – AETR, Slg. 1971, 263, Rn.22; EuGH verb. Rs. 3,4 und 6/76 – Kramer, Slg.1976, 1276; EuGH Gutachten 1/76 – Stilllegungsfonds, Slg. 1977, 741; EuGH Gutachten 1/94– WTO, Slg. 1994, I-526.22 Siehe bereits Art. III-194 VVE23 Siehe bereits: Art. III-196 VVE.120


Problematisch und in seiner Abgrenzung zu den Bereichen der geteilten Zuständigkeitenschwierig bleibt die bereits in den Diskussionen um den Verfassungsentwurfdiskutierte Frage nach der Reichweite der „Wettbewerbsregelungen, die für dasFunktionieren des Binnenmarktes erforderlich sind“ 24 i.S.d. Art. 3 Abs. 1 lit. b) [Art.2b Abs. 2 lit. b)] A<strong>EU</strong>V. 25 Hier wäre es wünschenswert gewesen, diesen Bereich zustreichen, da sich die hiermit angesprochenen Kontrollkompetenzen des europäischenWettbewerbsrechts einer legislativen Ausgestaltung weitgehend entziehen unddamit ähnlich wie der ursprünglich in dieser Vorschrift enthaltene Zusatz der „Gewährleistungder Grundfreiheiten“ nicht in die Systematik der als legislative Zuständigkeitenkonzipierten Kategorie der ausschließlichen Zuständigkeiten passen. 26b) Geteilte ZuständigkeitenDer Kompetenztyp der geteilten Zuständigkeiten i.S.d. Art. 2 Abs. 2 [Art. 2a Abs. 2]A<strong>EU</strong>V entspricht der bisher in der Literatur als konkurrierende Zuständigkeit bezeichnetenKategorie und findet im A<strong>EU</strong>V in Übernahme der Bestimmungen desVerfassungsentwurfs erstmals ausdrücklich Erwähnung in einem Vertragsdokumentder <strong>EU</strong>. Wesentliches Kennzeichen der geteilten Zuständigkeiten ist, wie es dernatürliche Wortsinn der Kategorie bereits zum Ausdruck bringt, das mögliche Tätigwerdenzweier Entscheidungsebenen, wobei, wie es Art. 2 Abs. 2 [Art. 2a Abs. 2]A<strong>EU</strong>V verdeutlicht, ein solches Tätigwerden der nationalen und europäischen Entscheidungsebeneallerdings nicht gleichzeitig möglich ist. Im Ausgangspunkt obliegtdie Zuständigkeit trotz der Übertragung auf die europäische Ebene den Mitgliedstaaten.Erst ein Handeln des europäischen Gesetzgebers in den genannten Bereichenbewirkt eine Sperrwirkung 27 gegenüber der nationalen Ebene. 28 Die Mitgliedstaatenkönnen ihre Zuständigkeit gemäß Art. 2 Abs. 2 [Art. 2a Abs. 2] A<strong>EU</strong>V daher nurausüben, „(...) sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeiten nicht ausgeübt hat“,und erneut wahrnehmen, „(...) sofern und soweit die Union entschieden hat, ihreZuständigkeiten nicht mehr auszuüben.“ Schwierigkeiten dürfte hier, wie auch imnationalen Recht, die Frage nach der Reichweite der Sperrwirkung bereiten. Zwarhat der Europäische Rat von Lissabon auf der Grundlage des Mandats des EuropäischenRats vom 23.6.2007 29 sich zur Auslegung dieser Frage auf ein „Protokoll über24 Siehe bereits Art. I-13 VVE.25 Craig, Competence: Clarity, Containment and Consideration, in: Pernice/Maduro (Hrsg.), AConstitution for the European Union: First Comments on the 2003-Draft of the EuropeanConvention, 2004, 75 (79); Schwarze, EuZW 2004, 135 (137).26 Nettesheim, EuR 2004, 511 (532).27 Zur Entwicklung der Sperrwirkung in der Rechtsprechung des EuGH siehe vor allem: EuGHRs. 106/77 – Simmenthal II, Slg. 1978, 629, Rn. 17/18.28 Weber, EuZW 2008, 7 (11 f.).29 Rat der Europäischen Union, Mandat für die Regierungskonferenz 2007, Dok. 1228/07 v.26.6.2007.121


die Ausübung der geteilten Zuständigkeiten“ geeinigt, jedoch dürfte fraglich sein, obdieses eine brauchbare Auslegungshilfe darstellt. So ist im genannten Protokolllediglich festgelegt, dass sich die Ausübung einer geteilten Zuständigkeit durch deneuropäischen Gesetzgeber nur „auf die durch den entsprechenden Rechtsakt derUnion geregelten Elemente und nicht auf den gesamten Bereich [erstreckt].“Unabhängig von der Frage nach der Klarheit dieser Regelung, bleibt die wohlwichtigere und bereits vom Europäischen Rat von Laeken in seiner Erklärung zurZukunft der <strong>EU</strong> gestellte Frage nach einer möglichen Rückübertragung von Kompetenzenauch im Text des A<strong>EU</strong>V unbeantwortet. 30 Aus diesem Grund wurde zusätzlichzum eben genannten Protokoll eine „Erklärung zur Abgrenzung der Zuständigkeiten“31 auf der Grundlage des Mandats des Europäischen Rats vom 23.6.2007abgegeben, die eine Auslegungshilfe zur Frage der Wahrnehmung der geteiltenZuständigkeiten liefern soll. Hier wird in überraschend klarer Art und Weise festgestellt,dass die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit dann wieder wahrnehmen, wenndie europäischen Organe beschließen, den fraglichen europäischen Gesetzgebungsaktaufzuheben. Im Übrigen kann der Rat auf Initiative eines oder mehrerer seinerMitglieder gemäß Art. 241 [Art. 208] A<strong>EU</strong>V die Kommission auffordern, Vorschlägefür die Aufhebung von Gesetzgebungsakten zu unterbreiten.Schwieriger als bei den ausschließlichen Kompetenzen ist die Zuordnung bestimmterSachbereiche zur Kategorie der geteilten Zuständigkeiten. Im Unterschiedzur Kategorie der ausschließlichen Zuständigkeiten ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1[Art. 2c Abs. 1] A<strong>EU</strong>V, dass es sich bei den in Art. 4 Abs. 3 [Art. 2c Abs. 3] A<strong>EU</strong>Vgenannten Sachbereichen um eine nicht abschließende Aufzählung handelt. 32 Vielmehrsind alle der Union im Vertrag zugewiesenen Zuständigkeiten, die nicht bereitsin Art. 3 [Art. 2b] bzw. 6 [Art. 2e] A<strong>EU</strong>V genannt sind, Bereiche geteilter Zuständigkeit.Wichtigstes Politikfeld der geteilten Zuständigkeiten ist die allgemeine Binnenmarktkompetenz.33 Die sich hinsichtlich der Binnenmarktkompetenz stellendenAbgrenzungsfragen zur Kategorie der ausschließlichen Zuständigkeiten wurdenbereits angesprochen. Hervorzuheben ist im Zusammenhang mit der Binnernmarktkompetenzdie neu eingeführte Kompetenz zum Erlass von Rechtstiteln über eineneinheitlichen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums in der Union gem. Art. 11830 Siehe: Erklärung von Laeken (Fn. 1), S. 21.31 Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Erklärung Nr. 18 zu Abgrenzungder Zuständigkeiten vom 3.12.2007, CIG 15/07.32 Craig, Competence: Clarity, Containment and Consideration, in: Pernice/Maduro (Hrsg.), AConstitution for the European Union: First Comments on the 2003-Draft of the EuropeanConvention, 2004, 75 (82).33 Zur Frage der Einordnung der Binnenmarktkompetenz als geteilte Zuständigkeit: EuGH Rs.491/01 – British American Tobacco, Slg. 2002, I-11453; siehe auch: Calliess, SubsidiaritätsundSolidaritätsprinzip in der Europäischen Union, 2. Aufl., 1999, S. 76 ff.122


Abs. 1 [Art. 97a Abs. 1] A<strong>EU</strong>V 34 sowie damit verbunden die Ermächtigung zurSchaffung einer Sprachenregelung für europäische Rechtstitel gem. Art. 118 Abs. 2[Art. 97a Abs. 2] A<strong>EU</strong>V.Die Hinzufügung der Sozialpolitik als Bereich der geteilten Zuständigkeiten inArt. 4 Abs. 2 lit. c) [Art. 2c Abs. 2 lit. c)] A<strong>EU</strong>V entspricht weitgehend der bisherigenPraxis und stellt keinesfalls eine Erweiterung der Unionszuständigkeit in diesemPolitikfeld dar. Ein Blick auf die Bestimmung des Art. 151 ff. [Art.136 ff.] A<strong>EU</strong>Vverdeutlicht nämlich, dass es weitgehend bei den in Art. 136 ff. EGV genanntenBefugnissen bleibt.Weitere Änderungen im Bereich der geteilten Zuständigkeiten betreffen den Bereichder Umweltpolitik, den neu hinzugefügten Bereich der Energiepolitik sowiekleinere Änderungen im Bereich der Gesundheitspolitik. In der Umweltpolitik könnenim ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nunmehr gem. Art. 191 Abs. 1 [Art.174 Abs. 1] A<strong>EU</strong>V auch Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels erlassenwerden, wobei hier der Begriff des Klimawandels neu durch den Vertrag von Lissabonhinzugefügt wird. 35 Die Energiepolitik wird entsprechend den Bestimmungendes Verfassungsentwurfs in den Vertrag von Lissabon übernommen und ermächtigtdie <strong>EU</strong> zur Entwicklung einer europäischen Energiepolitik 36 i.S.d. Art. 194 [176a]A<strong>EU</strong>V. 37 Der Bereich des Gesundheitsschutzes ermöglicht nunmehr auch Maßnahmenzur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel- undMedizinprodukte gem. Art. 168 Abs. 4 lit. c [Art. 152 Abs. 4 lit. c)] A<strong>EU</strong>V. 38Wesentlichste Neuerung im Bereich der geteilten Zuständigkeiten ist die ebenfallsaus dem Verfassungsvertrag übernommene Hinzufügung des Raums der Freiheit,Sicherheit und des Rechts i.S.d. Art. 4 Abs. 2 lit. j) [Art. 2c Abs. 2 lit. j)] AUEV.Dieser ursprünglich zur dritten Säule gehörende Bereich wird nunmehr in die ehemaligeerste Säule verschoben und, wie es bisher hieß, „vergemeinschaftet“. 39 Erweiterungenund Ergänzungen finden sich hier im Bereich der Asylpolitik, insbesonderehinsichtlich der Kompetenz zum Erlass einheitlicher Asylregelungen in Art.77 f. [Art. 62 f.] A<strong>EU</strong>V 40 sowie der Befugnis zum Erlass von Maßnahmen zur Entwicklungeiner gemeinsamen Einwanderungspolitik gemäß Art. 79 [Art. 63a]34 Siehe bereits: Art. III-176 VVE.35 Vgl. Art, III-233 Abs. 1 Spstr. 4 VVE, wo zwar von der Bewältigung regionaler und globalerUmweltprobleme die Rede ist, der Begriff des Klimawandels allerdings nicht fällt.36 Siehe hierzu: Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Erklärung Nr. 35zu Art. 176a des Vertrages über die Arbeitsweise der <strong>EU</strong> vom 3.12.2007, CIG 15/07.37 Siehe bereits Art. III-256 VVE.38 Siehe auch: Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Erklärung Nr. 32zuArt. 152 Abs. 4 Buchstabe c des Vertrags über die Arbeitsweise der <strong>EU</strong> vom 3.12.2007, CIG15/07.39 Neu hinzugefügt wird Art. 75 [Art. 61h] A<strong>EU</strong>V, der zur Ergreifung von restriktiven Maßnahmenim Bereich der Kapitalbewegungen zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismusermächtigt; siehe hierzu der Beitrag von Ruffert, S. 169 ff.40 Siehe bereits Art. III-265 f . VVE.123


A<strong>EU</strong>V 41 . Im Zusammenhang mit der justiziellen Zusammenarbeit ist hervorzuheben,dass gemäß Art. 81 Abs. 3 [Art. 65 Abs. 3] A<strong>EU</strong>V nunmehr auch das Feld desFamilienrechts in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren überführt werden kann. 42Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen schließlich ermöglicht die Schaffungeiner Europäischen Staatsanwaltschaft gem. Art. 86 [Art. 69e A<strong>EU</strong>V] 43 . Auffälligmit Blick auf die Zuordnung zu den geteilten Zuständigkeiten ist hinsichtlich derjustiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen allerdings die aus dem Verfassungsvertrag44 übernommene Regelung zur Kriminalprävention in Art. 84 [Art. 69c] A<strong>EU</strong>V,die insofern einen Bruch in der Zuordnung als geteilte Zuständigkeit erkennen lässt.Gem. Art. 84 [Art. 69c] A<strong>EU</strong>V sind die Befugnisse der <strong>EU</strong> auf die Ergreifung vonMaßnahmen zur Förderung und Unterstützung beschränkt. Eine Harmonisierung derRechtsvorschriften ist ausdrücklich ausgeschlossen, so dass dieser Bereich der justiziellenZusammenarbeit in Strafsachen wohl dem Art. 6 [Art. 2e] A<strong>EU</strong>V hätte zugeordnetwerden sollen.Innerhalb der Kategorie der geteilten Zuständigkeiten und wiederum in Anlehnungan die Regelungen des Verfassungsentwurfs 45 erhalten in Art. 4 Abs. 3 und 4[Art. 2c Abs. 3 und 4] A<strong>EU</strong>V die Bereiche der Forschung, technologischen Entwicklungund Raumfahrt sowie der Entwicklungszusammenarbeit und humanitärenHilfe eine Sonderregelung. Gemäß Art. 4 Abs. 3 und 4 [Art. 2c Abs. 3 und 4] A<strong>EU</strong>Vhindert hier die Erstellung und Durchführung europäischer Programme die Mitgliedstaatennicht an der Ausübung ihrer Zuständigkeiten 46 ; mit anderen Worten, dieSperrwirkung greift für diese Bereiche nicht ein. Das führt zu einer gewissen Widersprüchlichkeitund lässt zugleich die Unterscheidung zwischen geteilten Zuständigkeitenund der Gruppe der Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmenverschwimmen. In den genannten Bereichen bleibt es damit auch bei Tätigwerdendes europäischen Gesetzgebers bei einer parallelen Zuständigkeit dereuropäischen und nationalen Ebene. Im Unterschied zur Kategorie der Unterstützungs-,Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen ist für diese Bereiche in Art. 4Abs. 3 und 4 [Art. 2c Abs. 3 und 4] A<strong>EU</strong>V eine Harmonisierung der Rechtsvorschriftender Mitgliedstaaten zwar nicht ausgeschlossen; doch stehen diese Bereichder dritten Zuständigkeitskategorie i.S.d. Art. 2 Abs. 5 [Art. 2a Abs. 5] A<strong>EU</strong>V wohlnäher als der Kategorie der geteilten Zuständigkeiten. 47 Dieser Widerspruch wurde41 Siehe bereits: Art. III-267 VVE.42 Siehe bereits Art. III-269 Abs. 3 VVE.43 Siehe bereits Art. III-274 VVE.44 Siehe bereits: At. III-272 VVE.45 Siehe Art. I-14 Abs. 3 und 4 VVE:46 Siehe auch: Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Erklärung Nr. 34zu Art. 163 des Vertrages über die Arbeitsweise der <strong>EU</strong> vom 3.12.2007, CIG 15/07.47 Obwexer, Vertikale Kompetenzverteilung zwischen der Uion und ihren Mitgliedstaaten, in:ders./Hummer (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 125 (134); Oppermann,DVBl 2003, 1172.124


zwar bereits im Rahmen der Regierungskonferenz über die Verfassung im Jahr2003 48 bemerkt, jedoch konnte man sich nicht auf eine Verschiebung dieser Politikbereichein die Kategorie der Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmeneinigen, so dass die missliche „Zwitterstellung“ 49 dieses Bereichs auchEingang in den Reformvertrag gefunden hat.c) Unterstützungs-, Koordinierungs- und ErgänzungsmaßnahmenDie dritte Kategorie von Zuständigkeiten i.S.d. Art. 2 Abs. 3 [Art. 2a Abs. 3] AUEVwählt bewusst und in Abgrenzung zu den Kategorien der geteilten und ausschließlichenZuständigkeiten den Begriff der Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierungund Ergänzung mitgliedstaatlichen Handelns. Im Unterschied zur Kategorie derausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten tritt das Handeln der <strong>EU</strong> in diesenBereichen neben die bei den Mitgliedstaaten verbleibende Zuständigkeit und beschränktsich auf ein Unterstützen oder Ergänzen nationaler Politiken. 50 Eine Sperrwirkungtritt gerade nicht ein. Auch ist eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriftengemäß Art. 2 Abs. 5 UAbs. 3 [Art. 2a Abs. 5 UAbs. 3] A<strong>EU</strong>Vausgeschlossen, was jedoch nicht dahingehend missverstanden werden darf, dassdamit auch der Erlass rechtlich verbindlicher Maßnahmen ausgeschlossen sei. Verallgemeinertgesprochen wird sich ein Tätigwerden der <strong>EU</strong> in diesen Bereichenwohl auf nicht-rechtsetzende Handlungsformen der <strong>EU</strong> beschränken, wie finanzielleFördermaßnahmen, Vergabe von Projekten etc. 51 Sie werden ergriffen, wenn eingemeinsames europäisches Interesse ein Zusammenwirken von europäischer undnationaler Ebene gebietet. 52 Damit unterstellt die Union deutlicher als zuvor Aktivitätender Kompetenzordnung der <strong>EU</strong>, die sich außerhalb der rechtssetzenden unddamit auch außerhalb der durch die Gemeinschaftsmethode generierten Rechtsaktei.e.S. 53 bewegen. Dieses erweiterte Kompetenzverständnis ist als solches nicht48 Konferenz der Regierungen der Mitgliedstaaten, Redaktionelle und juristische Anmerkungenzu dem Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa, Brüssel vom 6.10.2003,CIG 4/03, S. 49.49 In diesem Sinne: Oppermann, DVBl. 2003, 1165 (1172).50 Zur Frage der Zuständigkeitsverteilung in diesen Bereichen siehe: Konferenz der Vertreterder Regierungen der Mitgliedstaaten, Erklärung Nr. 31 zu Ar. 140 des Vertrages über die Arbeitsweiseder <strong>EU</strong> vom 3.12.2007, CIG 15/07.51 Zu den Handlungsformen in diesen Zuständigkeitsbereichen siehe: Mayer. ZaöRV 61 (2001).577 ff.52 Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-12 VVERn. 30.53 Zum Rechtsaktsbegriff i.e.S. verstanden als rechtlich unmittelbar verbindlicher Akt, s. Härtel,Handbuch Europäische Rechtsetzung, 2006, S. 9 ff.125


neu, da auch der EG-Vertrag in den Art. 149 ff. EGV 54 Ergänzungs- und Förderungsmaßnahmenkannte; neu und zugleich begrüßenswert ist jedoch die ausdrücklicheErfassung als Kompetenzkategorie und mithin die deutlich transparentereGrenzziehung unionaler Befugnisse in diesen Bereichen einhergehend mit der ausdrücklichenVerankerung dieses weiteren Kompetenzbegriffs 55 . Obgleich der EG-Vertrag dieses Instrumentarium der Fördermaßnahmen und anderer Instrumente derLenkungsverwaltung seit langem kennt, wird die hiermit erzeugte Einwirkung undLenkung der Mitgliedstaatenpolitik kaum thematisiert und zuweilen die Auswirkungenauf den mitgliedstaatlichen Handlungsspielraum unterschätzt. 56 Umso wichtigerist die vor die Klammer gezogene kompetenzrechtliche Bestimmung des Art. 2 Abs.5 [Art. 2a Abs. 5] A<strong>EU</strong>V.Die Kategorie der Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmenist entsprechend der Systematik des Art. 2 [Art. 2a] A<strong>EU</strong>V und mit Blick auf dasnur für diese Kategorie ausdrücklich formulierte Harmonisierungsverbot i.S.d. Art. 2Abs. 5 UAbs. 2 [Art. 2a Abs. 5 UAbs. 2] A<strong>EU</strong>V eine eigenständige Kategorie. Inder deutschen Literatur 57 wurde und wird diese oft als parallele Zuständigkeit bezeichneteKategorie als Unterfall der geteilten Zuständigkeiten eingeordnet, jedochscheint diese Annahme nun durch die Regelung des Art. 4 Abs. 1 [Art. 2c Abs. 1]A<strong>EU</strong>V widerlegt. 58 Hiernach sind Zuständigkeiten der <strong>EU</strong> dann als geteilte Zuständigkeiteneinzuordnen, wenn es sich nicht um Sachbereiche i.S.d. Art. 3 [Art. 2b]A<strong>EU</strong>V (ausschließliche Zuständigkeiten) bzw. i.S.d. Art. 6 [Art. 2e] A<strong>EU</strong>V (Unterstützungs-,Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen) handelt. Der Lissabonvertragfolgt insofern der Bestimmung des Art. I-14 Abs. 1 VVE und will die Unterstützungs-,Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen als eigenständige Kategorieetablieren und ihrem Umfang nach von den geteilten Zuständigkeitenunterscheiden. Die in Art. 6 [Art. 2e] A<strong>EU</strong>V vorgenommene, wiederum nicht abschließendzu verstehende Aufzählung der zu dieser Kategorie zählenden Sachbereiche59 entspricht dem Verfassungsentwurf 60 und den bereits genannten, im bisherigenGemeinschaftsrecht existierenden Bestimmungen, die eine Unterstützung, Ergän-54 S. Art. 149-150 EGV (allgemeine und berufliche Bildung); Art. 151 EGV (Kultur); Art. 152EGV (Gesundheitswesen); Art. 157 EGV (Industrie); s. hierzu: Calliess, in: ders./Ruffert(Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-17 VVE Rn. 4 ff.55 von Bogdangdy/Bast/Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung im Entwurf des Verfassungsvertrags,in: Zuleeg (Hrsg.), Die neue Verfassung der Europäischen Union, 2006, 21 (24f.).56 S. hierzu: Ruffert, in: Calliess/ders. (Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV Kommentar, 3. Aufl. 2007, Art. 149EGV Rn. 16.57 So: Calliess, in: ders./Ruffert (Hrsg.), Verfassungen der Europäischen Union, 2006, Art. I-12VVE Rn. 26 ff.; Nettesheim, EuR 2004, 511 (530); Weber, EuZW 2008, 7 (12).58 Wuermeling, EuR 2004. 216 (223).59 Siehe im A<strong>EU</strong>V: Art.165 [149] und Art. 167 [151 ] A<strong>EU</strong>V (allgemeine und berufliche Bildung),Art. 168 [152] A<strong>EU</strong>V (Gesundheitswesen), Art. 173 [157] A<strong>EU</strong>V (Industrie).60 Siehe Art. I-17 VVE.126


zung oder Förderung der Mitgliedstaatenpolitiken vorsehen. Neu hinzukommen diein Art. 6 [Art. 2e] A<strong>EU</strong>V genannten Gebiete des Tourismus (Art. 195 [Art. 176b]A<strong>EU</strong>V), des Katastrophenschutzes (Art. 196 [176c] A<strong>EU</strong>V) und der Verwaltungszusammenarbeit(Art. 197 [Art. 176d] A<strong>EU</strong>V). Der bereits existierende Bereich derallgemeinen und beruflichen Bildung wird um den Bereich des Sports (Art. 165[Art. 149] A<strong>EU</strong>V) ergänzt und gehört ebenfalls zur Kategorie der Unterstützungs-,Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen.Abgrenzungsschwierigkeiten bereitet innerhalb dieser Zuständigkeitskategorieder Bereich des „Schutzes und Verbesserung der menschlichen Gesundheit“ i.S.d.Art. 6 lit. a) [Art. 2e lit. a)] A<strong>EU</strong>V, da der Gesundheitsschutz teilweise zur Kategorieder geteilten, teilweise zur dritten Kategorie i.S.d. Art. 2 Abs. 5 [Art. 2a Abs. 5]A<strong>EU</strong>V zählt. Die Verankerung verschiedener Zuständigkeitskategorien lässt sichhier jedoch der speziellen Bestimmung des Art. 168 [Art. 152] A<strong>EU</strong>V 61 ihrem Wortlautnach relativ leicht entnehmen. Art. Art. 168 Abs. 4 [Art. 152 Abs. 4] A<strong>EU</strong>Vregelt die Felder des Gesundheitsschutzes, die der Kategorie der geteilten Zuständigkeitenzugeordnet werden, wohingegen der übrige Artikel lediglich zu Unterstützungs-,Koordinierungs- und Fördermaßnahmen ermächtigt. Die Regelungsbefugnisseim Bereich der gemeinsamen Sicherheitsanliegen erfahren insofern eine Erweiterungals Art. 168 Abs. 5 [Art. 152 Abs. 5] die Unterstützungszuständigkeiten aufden Schutz der Bevölkerung vor Tabakkonsum und Alkoholmissbrauch sowie diefrühzeitige Meldung und Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreitenderGesundheitsgefahren ausdehnt. 62d) Zuständigkeiten außerhalb des KompetenztriasZwei weitere Zuständigkeitsbereiche, die ebenfalls aus dem Verfassungsentwurf 63 inden Lissabonvertrag übernommen wurden, erfahren ebenso wie die zuletzt genannteKategorie der Unterstützung-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen erstmalseine Einordnung als Kompetenzkategorie, obgleich es sich bei diesen zweiBereichen streng genommen nicht um Kompetenzkategorien i.S.d. oben genanntenKlassifikation handelt, sondern um zwei Sachgebiete, die nicht in die Systematik desArt. 2 [Art. 2a] A<strong>EU</strong>V passen, sondern aufgrund ihrer Bedeutung eine besondereRegelung finden. Es handelt sich um die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik(GASP) einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitiki.S.d. Art. 2 Abs. 4 [Art. 2a Abs. 4] A<strong>EU</strong>V sowie um die Koordinierungder Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik i.S.d. Art. 2 Abs. 3 [Art. 2a Abs. 3]A<strong>EU</strong>V. Beide Bereiche sind im Unterschied zu den übrigen Kompetenzkategorien61 Siehe bereits: Art. III-278 VVE.62 Siehe: Art. III-278 Abs. 4 lit. c) VVE; siehe der Beitrag von Hoffmeister in diesem Buch, S.152 ff.63 Siehe Art. I-12 Abs. 3 und 4 VVE.127


sachbereichsbezogen ausgestaltet. 64 Die Einfügung dieser zwei neuen Kategorienhinter den geteilten Zuständigkeiten i.S.d. Art. 2 Abs. 2 [Art. 2a Abs. 2] A<strong>EU</strong>V undvor den Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen i.S.d. Art. 2Abs. 5 [Art. 2a Abs. 5] A<strong>EU</strong>V lässt zunächst vermuten, dass hinter dieser Reihenfolgeeine gewisse Abstufung hinsichtlich des Umfangs europäischer Befugnissesteht. Ein Blick auf die Sachbereiche der GASP und der Koordinierung der Wirtschafts-und Beschäftigungspolitik lässt jedoch bereits erahnen, dass diese Politikfelderzur nationalen Zuständigkeit gehören, eine Kompetenzübertragung i.S. einesVerlusts der Handlungsfähigkeit auf nationaler Ebene also politisch nicht gewollt istund sich damit auch die teilweise aus der Auffangklausel des Art. 4 Abs. 1 [Art. 2cAbs. 1] A<strong>EU</strong>V abgeleitete Zuordnung als geteilte Zuständigkeit mit Blick auf dieInhalte und spezielle Ausgestaltung dieser Politikfelder nicht begründen lässt. 65Die GASP ist systematisch infolge der fortbestehenden Trennung zwischen Unionsvertragund A<strong>EU</strong>V gesondert in den Art. 21 ff. [Art. 10 ff.] Unionsvertrag geregeltund durch ihre besonderen Beschlussformen und Abstimmungsmodi weiterhinvon den supranationalen Handlungsformen des A<strong>EU</strong>V zu unterscheiden. Die Nennungder GASP als Zuständigkeitskategorie im A<strong>EU</strong>V ist damit widersprüchlichund wirkt ein wenig wie eine unreflektierte Übernahme aus dem Verfassungsentwurf.Letzterer sah eine Trennung in zwei Verträge gerade nicht vor, so dass eineAufnahme in den allgemeinen Zuständigkeitskatalog nachvollziehbar war. Mit derBeibehaltung zweier getrennter Verträge hätte eine systematisch widerspruchsfreieGestaltung des Art. 2 [Art. 2a] A<strong>EU</strong>V auf eine Verankerung der GASP als Zuständigkeitskategorieim Rahmen des A<strong>EU</strong>V verzichten müssen; schließlich betontArt. 40 [Art. 25b] Unionsvertrag ausdrücklich, dass die Durchführung der GASP alsvon anderen Sachbereichen und Verfahren zu trennender Bereich zu begreifen ist.Ebenfalls schwierig erscheint die Einbeziehung des Bereichs der Koordinierungder Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik in den allgemeinen Art. 2 [Art. 2a]A<strong>EU</strong>V. Die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik stellt jedoch im Unterschied zurGASP einen Regelungsbereich des A<strong>EU</strong>V dar, so dass hier die Schwierigkeiteneiner Einordnung dieses Bereichs als Kompetenzkategorie andere Gründe haben.Auch hier unterscheidet sich das für die Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitikzur Verfügung stehende Instrumentarium sowie das institutionelleGefüge von den übrigen in Art. 2 Abs. 1, 2 und 5 [Art. 2a Abs. 1, 2 und 5] A<strong>EU</strong>Vgenannten Zuständigkeitskategorien. Doch ist es hier nicht der klassisch intergouvernementaleCharakter dieser Instrumente, der eine Einordnung als Zuständigkeitskategoriezunächst schwer nachvollziehbar erscheinen lässt. Wie sich dem Wortlautdes Art. 2 Abs. 3 [Art. 2a Abs. 3] A<strong>EU</strong>V entnehmen lässt, liegt das Ziel der Koordinierungder Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik nicht in der Schaffung inhaltlichverbindlicher Vorgaben, die an die Stelle nationalen Rechts treten, sondern vielmehr64 Kritisch zu diesen Regelungen insbesondere: Krebber, EuGRZ 2004, 592.65 So auch: Ludwigs, ZEuS 2004, 211 (235).128


in der Bereitstellung eines europäischen prozeduralen Handlungsrahmens, innerhalbdessen die Mitgliedstaaten ihre nationale Politik koordinieren. Die Ausgestaltungder Politikkoordinierung in den Bestimmungen des Art. 121 [Art. 99] AUV und desArt. 148 [Art. 128] A<strong>EU</strong>V machen deutlich, dass es sich bei den Koordinierungsprozessenum Verfahren der multilateralen Überwachung handelt 66 und damit nichtum Handlungsformen i.S.d. Gemeinschaftsmethode. Wie bereits im Rahmen derMaßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung und Ergänzung mitgliedstaatlichenHandelns angemerkt, werden mit diesen Politikfeldern Handlungen der <strong>EU</strong> als Zuständigkeitenverankert, die nicht auf die Schaffung rechtlich verbindlicher Vorgabenfür die Mitgliedstaatenebene abzielen und sich mithin vom traditionellen Kompetenzverständnisunterscheiden. Traditionell wird mit den Kategorien der ausschließlichenund geteilten oder konkurrierenden Zuständigkeiten auf einlegislatives Handeln des Unionsgesetzgebers geblickt, wohingegen die Koordinierungder Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik nun ausdrücklich auch weicheFormen der Politiksteuerung der Kompetenzordnung unterwirft. Auch hier ist dieVerankerung der Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik wiederumkeinesfalls neu, jedoch seit dem Ende der neunziger Jahre in ihrer Bedeutunggewachsen, so dass die ausdrückliche Verankerung als Zuständigkeitskategorie imVerfassungsentwurf und nunmehr im Vertrag von Lissabon wohl kein Zufall war,sondern Ausdruck eines gesteigerten Bedürfnisses nach alternativen Handlungsformen67 und damit zugleich einer deutlicheren Grenzziehung zwischen unionaler undnationaler Tätigkeit.Schwierig und in Teilen inkonsequent ist allerdings die nähere Ausgestaltung dieserKoordinierungszuständigkeit und die schon dem natürlichen Wortlaut nachschwierige Abgrenzung von den Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung undErgänzung mitgliedstaatlichen Handelns i.S.d. Art. 2 Abs. 5 [Art. 2a Abs. 5] A<strong>EU</strong>V.So ist in Art. 2 Abs. 3 [Art. 2a Abs. 3] A<strong>EU</strong>V lediglich von der Koordinierung derWirtschafts- und Beschäftigungspolitik die Rede, wohingegen der diesen Artikelkonkretisierende Art. 2d Abs. 3 [Art. 5 Abs. 3] A<strong>EU</strong>V auf einmal auch die Sozialpolitikerwähnt. Art. 4 [Art. 2c] A<strong>EU</strong>V ordnet die Sozialpolitik bereits dem Bereichgeteilter Zuständigkeit zu, so dass fraglich ist, welcher Teilbereich der Sozialpolitik66 Siehe hierzu: Schäfer, Die neue Unverbindlichkeit, 2005, S., 10 ff.; ders.; JEPP 13 (2006), 70ff.67 Grundlegend zum Problem der „Politikverflechtungsfalle“ in sozialen Polikfeldern: Scharpf,PVS 26 (1985), 323 (324); zum Zusammenhang zwischen Einführung der Wirtschafts- undWährungsunion und einem erhöhten Bedürfnis nach Koordinierung der allgemeinen Wirtschaftspolitikund der Beschäftigungspolitik s.: Delors Bericht, Bericht zur Wirtschafts- undWährungsunion in der EG, vorgelegt vom Ausschuss zur Prüfung der Wirtschafts- und Währungsunionam 17.4.1989, EA 89, D 283 ff.; Entscheidung des Rates 90/141/EWG v.12.3.1990 zur Erreichung einer schrittweisen Konvergenz der Politiken und der wirtschaftlichenErgebnisse während der ersten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion, ABlEWG v.24.3.1990, L 78/23; Begg/Hodson/Mahler, National Institute Economic Review 183 (2003),66 (76); Rödl, integration 2005, 150 (156 ff.); Schwarze, <strong>EU</strong>ZW 2004, 135 (136, 138).129


nun i.S.d. Art. 5 Abs. 3 [Art. 2d Abs. 3] A<strong>EU</strong>V gemeint ist und wie eine Abgrenzungzwischen beiden Zuständigkeitskategorien erfolgen soll. Die Aufnahme derSozialpolitik an dieser Stelle der Koordinierungszuständigkeiten erklärt sich wohlnur mit Blick auf ein außerhalb der Verträge entwickeltes und an die Koordinierungder Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik angelehntes Instrument der so genanntenOffenen Methode der Koordinierung (OMK). 68 Der Verfassungskonvent hat dieAufnahme und ausdrückliche Verankerung der OMK diskutiert, aber schlussendlichabgelehnt. 69 Der Kompromiss, der damals vom Präsidium in sozusagen letzter Minuteeingefügt wurde, nannte das Instrument der OMK nicht direkt, sondern verwiesan verschiedenen Stellen im Vertragstext auf die Möglichkeit, „Leitlinien und Indikatorenfestzulegen, den Austausch bewährter Verfahren durchzuführen und dieerforderlichen Elemente einer regelmäßigen Überwachung und Bewertung auszuarbeiten“.70 Die Unsicherheiten über die Einordnung der OMK und die fehlendeTransparenz dieser indirekten Verankerung wurden in den Vertrag von Lissabonübernommen, da der diesbezüglich gefundene Kompromiss im Europäischen Konventin der Folgezeit nicht noch einmal aufgeschnürt wurde. 71 Dies ist zu bedauern,da damit weiterhin ein Instrument mit wachsender Bedeutung und noch nicht vorhersehbarenWirkungen für die Mitgliedstaatenebene zumindest offiziell auch wei-68 Die OMK wurde durch den Europäischen Rat von Lissabon 2000 eingeführt und seit dem aufzahlreiche Gebiete der Sozialpolitik ausgedehnt, siehe: Europäischer Rat, Schlussfolgerungendes Vorsitzes, Lissabon, 23./24.3.2000, Rn. 7 und 37, abrufbar unter:http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/00100-r1.d0.htm; für einen Überblicküber die Anwendungsfelder und Funktionsweise der OMK siehe: Bodewig/Voß, EuR 2003,310 ff.; Joerges/Braams/Everson, Die europäische Wende zu neuen Formen des Regierens,TranState Working Paper 55/2007, Universität Bremen, S. 20 ff.69 Siehe jeweils den Abschlussbericht der Arbeitsgruppen: Europäischer Konvent, Schlussberichtder Arbeitsgruppe IX – Vereinfachung v. 29.11.2002, Dok. CONV 424/02, S. 7; EuropäischerKonvent, Schlussbericht der Arbeitsgruppe V – Ergänzende Zuständigkeiten v.4.11.2002, CONV 375/1/02, S. 4 und 7; Europäischer Konvent, Schlussbericht der ArbeitsruppeVI – Ordnungspolitik v. 21.10.2002, Dok. CONV 357/02, S. 5 f.; Schlussbericht derArbeitsgruppe XI – Soziales Europa v. 30.1.2003, Dok. CONV 516/03, S. 2 und 17 f.70 Siehe: Art. III-213 Abs. 2 VVE (Sozialpolitik); Art. III-250 Abs. 2 VVE (Forschung undtechnologische Entwicklung); Art. III-278 Abs. 2 UAbs. 2 VVE (Gesundheitspolitik); Art.III-279 Abs. 2 VVE (Industrie). Unter leichter Veränderung des Wortlauts der Art. 129 EGV,Art. 137 Abs. 2 lit. a) EGV und Art. 140 EGV wie diese Umschreibung in den folgenden Gebietenverankert: Art. III-2107 Abs. 3 VVE (Beschäftigungspolitik, entspricht weitgehendArt. 129 EGV); Art. III-210 Abs. 2 lit. a) EGV (Sozialpolitik, entspricht weitgehend Art. 137Abs. 2 lit.a) EGV; Art. Art. III-213 VVE (Sozialpolitik, entspricht weitgehend Art. 140EGV).71 Siehe folgende Bestimmungen (jeweils angegeben mit neuer Nummerierung: Art. 156 Abs. 2A<strong>EU</strong>V (Sozialpolitik); Art. 168 Abs. 2 A<strong>EU</strong>V (Gesundheitspolitik); Art. 173 Abs. 2 A<strong>EU</strong>V(Industrie); Art. 181 Abs. 2 A<strong>EU</strong>V (Forschung und technologische Entwicklung).130


terhin außerhalb der europäischen Kompetenzordnung verbleibt. 72 Eine ausdrücklicheVerankerung dieses Instruments der weichen Politiksteuerung im Vertragstexthätte die Bedeutungszunahme der Koordinierung zwar nicht einschränken könnenund vielleicht auch nicht einschränken wollen, sie hätte jedoch die Transparenzerhöht und das Instrument aus einer „Grauzone“ 73 der Unionstätigkeiten hervorgehoben.74Aus dem gerade Gesagten folgt damit allerdings auch, dass sich trotz der systematischenStellung der Art. 2 Abs. 3 und 4 [Art. 2a Abs. 3 und 4] A<strong>EU</strong>V nach dengeteilten Zuständigkeiten, aber vor den Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierungund Ergänzung i.S.d. Art. 2 Abs. 5 [Art. 2a Abs. 5] A<strong>EU</strong>V kaum eine Abstufungi.S.d. eines Mehr an europäischen Befugnissen gegenüber der Kategorie desArt. 2 Abs. 5 [Art. 2a Abs. 5] A<strong>EU</strong>V ergibt und eine Verankerung der Koordinierungder Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik an dieser Stelle im Vertragstextwohl lediglich deren Sonderrolle und die Neuartigkeit des Instruments der multilateralenÜberwachung hervorheben sollte.Eindeutiger dürfte jedoch die Eigenständigkeit dieser Kategorie der Koordinierungim Verhältnis zur Kategorie der geteilten Zuständigkeiten sein. Die Auffangregelungdes Art. 4 Abs. 1 [Art. 2c Abs. 1] A<strong>EU</strong>V, die nach ihrem Wortlauf auch dieBereiche des Art. 2 Abs. 3 und 4 [Art. 2a Abs. 3 und 4] A<strong>EU</strong>V als geteilte Zuständigkeiteinordnen würde, muss wohl in Zusammenhang mit den speziellen Vorschriftendieser Politikbereiche gelesen werden. Beide Bereiche des Art. 2 Abs. 3und 4 [Art. 2a Abs. 3 und 4] A<strong>EU</strong>V sind mit Blick auf das zur Verfügung stehendeInstrumentarium weder geeignet, eine Sperrwirkung gegenüber mitgliedstaatlichenHandelns auszulösen, noch bezwecken sie dies. Zudem war eine Zuordnung zurKategorie der geteilten Zuständigkeiten auch vom Konvent nicht gewollt. Eine teilweisegeforderte Zuordnung dieser Bereiche zu den geteilten Zuständigkeiten fandaufgrund der dann geltenden Sperrwirkung gerade keine Mehrheit, 75 und schließlichwollte auch das Präsidium eine Trennung dieser Politikfelder von den übrigen Zuständigkeitskategoriendurchsetzen. Die jetzige Fassung der Art. 2 Abs. 3 und 4[Art. 2a] AUEV i.V.m. Art. 4 Abs. 1 [Art. 2c] A<strong>EU</strong>V ist daher wohl in erster Linieals Ausdruck eines politischen Kompromisses zu begreifen, der einige Unsicherheitbestehen lässt und der Auslegung nach dem Wortlaut, wie so oft im Europarecht,Grenzen setzt.72 von Bogdangdy/Bast/Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung im Entwurf des Verfassungsvertrags,in: Zuleeg (Hrsg.), Die neue Verfassung der Europäischen Union, 2006, 21(25).73 So: Bünger/Höreth/Janowski/Leonardy, Zuständigkeiten der Union, in: Höreth/Janowski/Kühnhardt (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Analyse und Bewertung ihrer Strukturentscheidungen,2005, 93 (104 f.)74 Siehe hierzu auch die Einfügung des Instrumentariums der OMK in Art. 140 Abs. 2 [156]A<strong>EU</strong>V(Sozialpolitik); Art. 165 Abs. 2 [Art. 181 Abs. 2] (Forschung, technologische Entwicklungund Raumfahrt).75 KONV 724/03, Brüssel, den 26.5.2003, S. 68.131


3. FlexibilitätsklauselAuch mit Blick auf die Flexibilitätsklausel des Art. 352 [Art. 308] A<strong>EU</strong>V werdendie begrüßenswerten Änderungen des Art. I-18 VVE übernommen. Art. 352 [Art.308] A<strong>EU</strong>V erfährt in seinem Anwendungsbereich insofern eine Ausdehnung als einRückgriff auf diese Auffangkompetenz nicht mehr nur zur Erreichung der Ziele desGemeinsamen Marktes erfolgen darf, sondern immer dann, wenn es der Verwirklichungeines der im Vertragstext festgelegten Ziele bedarf, ohne dass hierfür an andererStelle besondere Handlungsermächtigungen vorhanden sind. 76 Voraussetzungwar aber auch bereits in Art. I-18 VVE, dass es sich hierbei um ein Tätigwerden ineinem der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche handelt. Voraussetzung füreine Inanspruchnahme des Art. 352 [308] A<strong>EU</strong>V ist, wie bereits in Art. 308 EGVfestgelegt, dass der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission entscheidet.Jedoch wird nunmehr gemäß Art. 352 Abs. 1 [Art. 308 Abs. 1] A<strong>EU</strong>V zusätzlichund in Übernahme der Bestimmung des Art. I-18 Abs. 1 VVE verlangt, dass der Ratvor seiner Beschlussfassung die Zustimmung des Parlaments abwarten muss. Art.352 Abs. 2 [Art. 308 Abs. 2] A<strong>EU</strong>V verpflichtet die Kommission, die nationalenParlamente im Rahmen des Verfahrens zur Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzipsauf die auf Art. 352 [308] A<strong>EU</strong>V gestützten Gesetzesvorschläge hinzuweisen.Art. 352 Abs. 3 [308 Abs. 3] A<strong>EU</strong>V stellt klar, dass Maßnahmen, die aufArt. 352 [308] A<strong>EU</strong>V gestützt werden, dann keine Harmonisierungsvorschriftenenthalten dürfen, wenn diese in dem jeweiligen Sachbereich im Vertragstext geradeausgeschlossen ist. Auch darf eine GASP-Maßnahme gem. Art. 352 Abs. 4 [308Abs. 4] A<strong>EU</strong>V nicht auf die Flexibilitätsklausel gestützt werden.4. Vorrang des UnionsrechtsDer im Verfassungsvertragstext in Art. I-6 VVE ausdrücklich verankerte Vorrangdes Gemeinschaftsrechts wurde wegen des Widerstands einiger Mitgliedstaaten,insbesondere Großbritanniens, aus dem Vertragstext gestrichen. Auf der Grundlagedes Mandats der Regierungskonferenz 77 verabschiedeten die Regierungsvertreter dieErklärung Nr. 17 78 zum Vorrang des Unionsrechts. Mit dieser Erklärung wird der in76 Nettesheim, The order of competence within the Treaty establishing a Consitution for Europe,in: Blanke/Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe under a Constitution – The Hard Roadfrom the European Treaties to e European Constitutional Treaty, 2006, 309 (319). Rossi, in:Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, I-18 Rn. 6.77 Rat der Europäischen Union, Mandat für die Regierungskonferenz 2007, Dok. 1228/07 v.26.6.2007.78 Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, Erklärung Nr. 17 zum Vorrangvom 3.12.2007, CIG 15/07.132


der Rechtsprechung des EuGH 79 entwickelte Anwendungsvorrang bestätigt undbekräftigt. 80 Die nun vollständig in den A<strong>EU</strong>V überführten Gebiete Justiz und Inneresunterfallen der Rechtsprechung des EuGH und mithin dem Grundsatz vom Anwendungsvorrang,wohingegen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik(GASP) intergouvernemental bleibt und mithin dem nationalen Souveränitätsvorbehaltunterfällt.III. Zusammenfassung und AusblickZusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass die wesentlichen Änderungen desVerfassungsvertrages auch im Vertrag von Lissabon enthalten sind. Das politischeSpannungsverhältnis, das den Verfassungsprozess und die Verhandlungsprozesse imKonvent von Anfang an kennzeichnete, war geprägt vom Auftrag zur Systematisierungder Kompetenzen 81 einerseits und der Vorgabe der weitgehenden Beibehaltungder bisherigen Zuständigkeitsverteilung andererseits, so dass weitergehende Veränderungenin den Sachpolitiken wohl von Anfang an nicht zu erwarten waren. 82 Inhaltlichsind die Änderungen überschaubar und halten fest an der im Prinzip derbegrenzten Einzelermächtigung zum Ausdruck kommenden Grundüberlegung einerauf der Übertragung von Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten an die <strong>EU</strong> basierendenRechtsgemeinschaft 83 eigener Art. Die Neuaufteilung und Kategorisierung folgterichtigerweise nicht dem deutschen Modell eines geschlossenen Kompetenzkatalogs84 und erhöht als vor die Klammer gezogene Systematisierung trotz einiger kate-79 EuGH Rs. 6/64 – Costa/ENEL, Slg. 1964, 1251 (1269).80 Siehe das der Erklärung beigefügte Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom22.6.2007, Dokument 11197/07 (JUR 260).81 Siehe zum Beispiel: Europäischer Konvent, Schlussbericht der Gruppe V („ErgänzendeZuständigkeiten“) v. 4.11.2002, CONV 375/1/02 REV 1, S. 8,82 Eingehend: Nettesheim, in: Blanke/Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe under a Constitution– The Hard Road from the European Treaties to e European Constitutional Treaty, 2006,309 (315 f.). siehe auch: Riedel, ZRP 2002, 244; Wuermelimg, EuR 2004, 220.83 Zum Begriff der Rechtsgemeinschaft: Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 33,insbes. S. 48; ders., Die Europäische Gemeinschaft, 1979, S. 53 ff.; Mayer, in: Schuppert/Pernice/Haltern,Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 429 (430 ff.); Pernice, in: Zuleeg(Hrsg.), Der Beitrag Walter Hallsteins zur Zukunft Europas, 2003, S. 56 ff.; grundlegend:Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaft I, 1977, S. 640 ff.; s. auch dieRechtsprechung des EuGH: EuGH Rs. 294/83 – „Les Verts“, Slg. 1986, 1339, Rn. 23; ebensodas Europäische Gericht erster Instanz (EuG) Rs. 17/00 – Rothley u.a./Europäisches Parlament,Slg. 2000, II-2085, Rn. 54.84 Gegen die Verankerung eines abgeschlossenen Kompetenzkatalogs: Dorau, Die Verfassungsfrageder Europäischen Union, Diss. Freiburg 2001, S. 129; Jennert, NVwZ 2003, 936 (938);Swenden, JCMS 42(2004), 371 (384); von Bogdangdy/Bast/Westphal, The order of competencewithin the Treaty establishing a Consitution for Europe, in: Zuleeg (Hrsg.), Die neueVerfassung der Europäischen Union, 2006, 21 (24). a.A.: Scholz, Die zukünftigen Kompeten-133


gorieller Unklarheiten eine erheblich Steigerung der Transparenz europäischerKompetenzen. 85Auch wenn man die Einteilung der Kategorien oder die Zuteilung bestimmterSachbereiche zu bestimmten Kategorien als zu undeutlich kritisieren kann, wie insbesonderemit Blick auf die Kategorie der unterstützenden, koordinierenden undergänzenden Maßnahmen und die hier genannten Sachbereiche der GASP sowie derKoordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, so muss man dochzugeben, dass die Verankerung dieser Kategorien und Sachbereiche gerade auf einBedürfnis nach einem europäischen Handeln reagiert, das sich oftmals eben auchaußerhalb des traditionellen, auf legislatives Handeln fokussierten Kompetenverständnissesbewegt. In vielen dieser Bereiche sind die Mitgliedstaaten geradenicht mehr allein handlungsfähig, so dass, wie Ingolf Pernice 86 es in einem seinerjüngsten Beiträge zutreffend beschreibt, die Verankerung etwas schwammiger Befugnissezur Unterstützung mitgliedstaatlicher Tätigkeit gerade nicht als Kompetenzverlustder Mitgliedstaaten charakterisiert werden kann, sondern wohl aucheinen Reaktionsgewinn darstellt, den einzelne Mitgliedstaaten aufgrund des weitfortgeschrittenen Standes europäischer Integration und der immer stärker miteinanderverflochtenen europäischen Volkswirtschaften nicht zu leisten imstande wären.Das wachsende Bedürfnis nach Politikabstimmung zwischen den <strong>EU</strong>-Mitgliedstaaten in Gebieten außerhalb der Kernbereiche des gemeinsamen Marktesund damit die Verankerung der Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitikund der diesen Bereichen nahe stehenden Unterstützungs-, Koordinierungs-und Ergänzungsmaßnahmen im Vertrag legt den Schluss nahe, dass diegrundlegende Unterscheidung zwischen ausschließlichen und geteilten Zuständigkeitenorientiert an der Setzung verbindlichen europäischen Rechts in den Verfahrender Gemeinschaftsmethode zu kurz greift. 87 Die ausdrückliche Zuordnung sonstiger„Maßnahmen“ der <strong>EU</strong> zur Kompetenzordnung des Art. 2 [Art. 2a] A<strong>EU</strong>V erhöht dieTransparenz und schärft damit das Bewusstsein dafür, dass auch weiche Steuerungsformender Union von erheblicher Bedeutung für die Handlungsfreiheit der Mitgliedstaatensein können und nach dem Konzept der europäischen Rechtsgemeinschaft88 jegliche Form der Ausübung europäischer öffentlicher Gewalt einer klarenund nachvollziehbaren Kompetenzgrundlage bedarf.zen der Europäischen Union. Über die Vorschläge des Konvents, in: Zuleeg (Hrsg.), Die neueVerfassung der europäischen Union, 2006, 9 (10 f.).85 Lorenz, EuR Beiheft 1, 2006, 43 (58); Nettesheim, The order of competence within the Treatyestablishing a Consitution for Europe, in: Blanke/Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe undera Constitution – The Hard Road from the European Treaties to the European ConstitutionalTreaty, 2006, 309 (326 f.).86 Pernice, EuZW 2008, 65.87 In diesem Sinne auch: von Bogdangdy/Bast/Westphal, Die vertikale Kompetenzordnung imEntwurf des Verfassungsvertrags, in: Zuleeg (Hrsg.), Die neue Verfassung der EuropäischenUnion, 2006, 21 (24).88 S. Fn. 83.134


Die Justiziabiliät des Subsidiaritätsprinzips im Lichte der SubsidiaritätsprotokolleMichaela Hailbronner *I. EinleitungDas Subsidiaritätsprinzip im Gemeinschaftsrecht hat in der deutschen Debatte umdie Europäische Einigung große Bedeutung gewonnen – dies ergibt sich nicht zuletztaus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil,die Bedenken gegen eine zunehmende Vergemeinschaftung u.a. mit Blick auf dasSubsidiaritätsprinzip als unbegründet zurückweist. Im Widerspruch dazu steht dieeher geringe Bedeutung dieses Prinzips in der Rechtsprechung des EuGH. Mit demScheitern der Referenden des Verfassungsvertrages in Frankreich und den Niederlandenund dem damit verbundenen vorläufigen Ende der europäischen Verfassungsutopiemehren sich jedoch die Stimmen, die das Subsidiaritätsprinzip stärkenund in Zukunft als Schwert gegen die Wasserköpfe der Brüsseler Hydra ins Feldführen möchten.Man muss das Subsidiaritätsprinzip jedoch nicht als Symbol für die Krankheit deseuropäischen Selbstbewusstseins sehen, sondern kann es auch ganz schlicht alsnotwendigen Ausgleich zur Ausweitung des Prinzips der Mehrheitsentscheidungenauf eine Vielzahl von Politikbereichen begreifen. Als Kompetenzausübungsregel 1entspricht das Subsidiaritätsprinzip Klauseln, wie sie sich in allen föderalen Staatsgebildenfinden – im Grundgesetz Art. 72 II GG – und ist damit ein Schritt in Richtungföderaler Normalität. Die Justiziabilität solcher Kompetenzregelungen und das(sinnvolle) Maß ihrer gerichtlichen Überprüfbarkeit ist stets umstritten – das zeigtnicht nur die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum früheren Art. 72II GG, nach der ebenfalls höchstens eine Evidenzkontrolle des „Bedürfnisses“ füreine gesamtstaatliche Regelung in Betracht kommen sollte. 2 Auch jenseits des Atlantiksfindet sich eine ähnliche richterliche Zurückhaltung bei der Überprüfung vonKompetenzen. So heißt es etwa in der landmark decision McCulloch vs. Marylanddes amerikanischen Supreme Court 1819: „The power of passing all laws necessaryand proper to carry into effect the other powers specifically granted, is a politicalpower; it is a matter of legislative discretion, and those who exercise it, have a wide* Die Verfasserin ist Referendarin am Kammergericht und wissenschaftliche Mitarbeiterin desWalter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht.1 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV, Art. 5 EGV Rn. 2; Bieber, Subsidiarität imSinne des <strong>EU</strong>-Vertrages, in: Oppermann/Nörr (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit,Tübingen 1997, S. 165 (175).2 BVerfGE 4, 115; 13, 230; 26, 338.135


ange of choice in selecting means.” 3 und einen Satz später “The more or less ofnecessity never can enter as an ingredient into judicial decision.”Der Streit um die Justiziabilität solcher Regeln ist also dogmatisch betrachtet wenigerein Streit um vertikale Gewaltenteilung als um die horizontale Gewaltenteilungzwischen Judikative und Exekutive. Die vertretenen Positionen reichen vomeinen Extrem (keine gerichtliche Überprüfbarkeit 4 ) zum anderen Extrem (volle Ü-berprüfbarkeit 5 ). Indem der EuGH bisher nur eine eingeschränkte Kontrolle desSubsidiaritätsprinzips vornimmt, vertritt er also durchaus keine Extremposition.Vorzuwerfen ist dem EuGH lediglich, dass er seine eigene Position argumentativwenig entfaltet und keine überzeugende Dogmatik entwickelt hat, wie es die Vielzahlvon nationalen Diskursen zu diesem Thema hätte erwarten lassen.Kritiker des EuGH ignorieren die horizontale Dimension des Streits um die Auslegungdes Subsidiaritätsprinzips gerne, wenn sie vom EuGH einerseits mehr richterlicheZurückhaltung gegenüber den (nationalen!) Gesetzgebern und andererseitseine aktivere Rolle des Gerichts bei der Überprüfung des Subsidiaritätsgrundsatzesfordern – daran wird deutlich, dass sich ihre Kritik letztlich allgemein gegen einenMachtzuwachs der Gemeinschaft richtet. Die Mitgliedstaaten machen sich dieseKritik teilweise zu eigen und verkennen dabei, dass die Verantwortung für die Einhaltungdes Subsidiaritätsprinzip in erster Linie bei ihnen selbst, nämlich beim Ratliegt. Das scheint aber immer dann, wenn es um die Durchsetzung wichtiger politischerZiele auf europäischer Ebene geht, in Vergessenheit zu geraten. 6Mit dem Reformvertrag wird nun ein neues Subsidiaritätsprotokoll in Kraft treten,das nach dem Wunsch der Mitgliedstaaten zu einer aktiveren Überwachung desSubsidiaritätsprinzips durch den EuGH führen soll und so die neu geschaffenenpolitischen Kontrollmechanismen ergänzt. Selbst wenn man – vermutlich mit demEuGH – die hierin liegende partielle Abwälzung der politischen Verantwortung derMitgliedstaaten auf die Justiz kritisieren mag, muss man doch zur Kenntnis nehmen,dass der Gerichtshof mit dem neuen Protokoll die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzipsin Zukunft einer effektiven gerichtlichen Kontrolle unterwerfen muss. 73 US Supreme Court (1819), 17 U.S. 316 (387).4 Grimm, KritV 1994, 6 ff.5 Heinze, RdA 1994, 1 ff., für grundsätzliche Justiziabilität, siehe auch BVerfG 89, 155 (211) –Maastricht Urteil.6 Vgl. Pernice, JZ 2000, 866, der den Aspekt der notwendigen politischen Kontrolle des Subsidiaritätsprinzipsbetont und die Scheinheiligkeit der Mitgliedstaaten mit einem sehr plakativenZitat von Helmut Kohl entlarvt; siehe auch Papier, Das Subsidiaritätsprinzip als Bremsedes schleichenden Zentralismus in Europa?, Ringvorlesung im Rahmen des studium generalean der Universität Tübingen, 28. November 2006, S. 19,http://www.unituebingen.de/uni/wwa/download/Ringvorlesung/Prof_Papier_das_subsidiaritaetsprinzip.pdf.7 So auch Koopmans, EuConst 1 (2005), 112 (115), a.A. Nettesheim, EuR 2004, 511 (543).136


II. Bisherige Praxis und Kritik1. Justiziabilität und PrüfungsmaßstabBedauerlicherweise hat der EuGH in der Vergangenheit nie explizit seinen Prüfungsmaßstabdargelegt – aus seiner Rechtsprechung geht jedoch hervor, dass er dieEinhaltung des Subsidiaritätsprinzips grundsätzlich überprüft. Dies bestätigt einelakonische Aussage des Gerichts erster Instanz, nach der der Gemeinschaftsrichternach ständiger Rechtsprechung die Rechtsakte der Gemeinschaft im Hinblick aufdas Subsidiaritätsgebot überprüfe. 8 Zu Prüfungsmaßstab und Kontrolldichte findensich allerdings in der Rechtsprechung keinerlei Angaben.In der Literatur werden jedoch Äußerungen des EuGH zum Prüfungsmaßstab beidem artverwandten Verhältnismäßigkeitsprinzips teilweise auch auf das Subsidiaritätsprinzipbezogen. 9 Hier hat der EuGH dem Gemeinschaftsgesetzgeber nämlicheinen weiten Entscheidungsspielraum zuerkannt und festgestellt, dass „die Ausübungeiner solchen (Gesetzgebungs-)Befugnis (...) gerichtlich nur darauf überprüftwerden (kann), ob ein offensichtlicher Irrtum oder ein Befugnismissbrauch vorliegtoder ob das Organ die Grenzen seiner Befugnis offenkundig überschritten hat.“ 10Gegen eine Übertragung dieser Erwägungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfungkönnte sprechen, dass Subsidiaritätsprinzip und Verhältnismäßigkeit ansich zwei logisch getrennte Prüfungsschritte darstellen, wobei die Prüfung der Verhältnismäßigkeitvoraussetzt, dass zunächst die Notwendigkeit eines gemeinschaftlichenRegelung unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips bejaht wurde. 11Allerdings sind das Subsidiaritätsprinzip und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatznicht nur beide in Art. 5 EGV verortet, sondern sind auch in ihrer Struktur vergleichbarund bei ihrer praktischen Anwendung nur schwer zu trennen; bei der Prü-8 EuG Rs. 253/02 – Ayadi, Slg. 2006, II-02139, mit Verweis auf EuG Rs. 65/98 – Van denBergh Foods Ltd. gegen Kommission, Slg. 2003, II-04653 und EuGH Rs. 491/01 – Vorabentscheidungsersuchen,Slg. 2002, I-11453 sowie Rs. 110/03 – Belgien gegen Kommission, Slg.2005, I-02801.9 So wohl Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 70.10 EuGH Rs. 84/94 – Arbeitszeitrichtlinie, Slg. 1996, I-05755, Rn. 58; siehe auch EuGH Rs.310/04 – Spanien gegen Rat, Slg. 2006, I-07285, Rn. 96 und EuGH Rs. 198/01 - Vorabentscheidungsersuchen,Slg. 2003, I-08055, Rn. 80 m.w.N.11 Die Prüfung des Subsidiaritätsprinzips erfolgt grundsätzlich in zwei Schritten: Zunächst istdas sog. Negativkriterium zu prüfen, d.h. ob Massnahmen der Mitgliedstaaten die vertraglichenZiele nicht erreichen können. Dann ist im Rahmen des Positivkriteriums, nach dem dievertraglichen Ziele wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebeneerreicht werden können. – Der Mehrwertgehalt dieser zweiten Voraussetzung ist umstritten,krit. Mager, ZeuS 2003, 471 (474). Nach überzeugender Ansicht sortiert das Positivkriteriumaber jedenfalls solche Fälle aus, in denen die Gemeinschaft ebenfalls nicht fähig ist,das angestrebte Ziel mit ihren Mitteln zu erreichen. – Zuleeg, Die Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips,in: Oppermann/Nörr (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, Tübingen1997, S. 185 (193).137


fung der beiden Grundsätze sind ähnliche Erwägungen anzustellen, die jeweilsprognostische Elemente miteinbeziehen müssen. Dies alles spricht dafür, dass diezurückhaltende Rechtsprechung des EuGH zum Subsidiaritätsprinzip auf ähnlicheErwägungen wie beim Verhältnismäßigkeitsprinzip zurückgeht. 12 Eine Äußerungdes Generalanwalt Geelhoed in der Rs. C-491/01 über die Tabakrichtlinie2001/37/EG bestätigt diesen Verdacht: Danach ist das Subsidiaritätsgrundsatz „eindynamisches Konzept, das der Beurteilung durch den Gemeinschaftsgesetzgeber dennotwendigen Raum lässt.“2. Das Subsidiaritätsprotokoll zum Amsterdamer VertragFür eine solche weise richterliche Zurückhaltung und die Annahme eines gesetzgeberischenErmessensspielraums gibt das Subsidiaritätsprotokoll zum AmsterdamerVertrag auch genügend Anlass. Das Protokoll ist auffällig zweigespalten und lässtdeutlich die Handschrift des politischen Kompromisses erkennen, der seiner Entstehungzugrunde liegt. 13 Die Befürworter des Subsidiaritätsprinzips Deutschland undGroßbritannien drängten nämlich auf eine Verankerung des Subsidiaritätsprinzips inrechtlich überprüfbarer Form im Vertrag, 14 während Frankreich und der südlichenMitgliedstaaten lediglich eine Aufnahme in die Präambel befürworteten. Die gegenwärtigeRegelung ist das Ergebnis des Kompromisses zwischen diesen beidenPositionen.So finden sich im Subsidiaritätsprotokoll neben der Betonung der „strikte(n) Beachtungund kohärente(n) Anwendung“ des Subsidiaritätsprinzips denn auch Formulierungen,die hervorheben, dass die Anwendung des Prinzips „unter voller Wahrungdes gemeinschaftlichen Besitzstands“ 15 zu erfolgen habe und „die vom Gerichtshofaufgestellten Grundsätze für das Verhältnis zwischen einzelstaatlichemRecht und Gemeinschaftsrecht“ nicht berührt würden. 16 In Ziff. 3 folgt die – vomEuGH gern und oft zitierte - Feststellung, dass das Subsidiaritätsprinzip die Befugnissenicht in Frage stelle, über die die Europäische Gemeinschaft aufgrund desVertrags entsprechend der Auslegung des Gerichtshofs verfüge. Für die Annahmeeines gesetzgeberischen Spielraums bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzipsspricht ferner die Formulierung in Ziff. 3 des Protokolls, nach der das Subsidiaritätsprinzipals „dynamisches Konzept“ verstanden werden müsse und „unter Berücksichtigungder im Vertrag festgelegten Ziele“ angewendet werden solle.12 Zum Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung Koopmanns, EuConst 1 (2005), 112 ff.13 Lienbacher, in: Schwarze (Hrsg.), <strong>EU</strong>-Kommentar, Art. 5, Rn. 21.14 Dies geschah auf Antrieb des Bundesrats - BR-Drucks. 550/90.15 Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit(zum Amsterdamer Vertrag), dort Zif. 2.16 Ebd.138


Schließlich heißt es ebenfalls in Ziff. 3 des Protokolls: „Nach dem Subsidiaritätsprinzipkann die Tätigkeit der Gemeinschaft im Rahmen ihrer Befugnisse sowohlerweitert werden, wenn die Umstände dies erfordern, als auch eingeschränkt odereingestellt werden, wenn sie nicht mehr gerechtfertigt ist.“Ein solches Verständnis des Subsidiaritätsprinzips als „dynamisches Konzept“,das nicht nur zur Begrenzung von Gemeinschaftskompetenzen, sondern auch zuihrer Erweiterung führen kann, passt nicht zur Vorstellung der Subsidiarität als einesInstruments für die Rückgewinnung mitgliedstaatlicher Kompetenzen. Die Ambiguitätdes Protokolls erschwert die Formulierung eines Prüfungskatalogs für die Einhaltungdes Subsidiaritätsprinzips und damit auch eine effektive gerichtliche Kontrolle.17 Vielmehr weist die Formulierung auf ein Konzept von Subsidiarität hin, in demdie Subsidiarität als staatsphilosophisches Prinzip die Legitimation für ein Tätigwerdender Gemeinschaft schafft, indem es Bürgernähe und Freiheitssicherung gewährleistet.183. StellungnahmeDennoch bleibt bei einer genaueren Betrachtung der Rechtsprechung des EuGH einUnbehagen zurück – nicht weil der Gerichtshof bisher in keinem einzigen Fall einenRechtsakt am Subsidiaritätsprinzip scheitern ließ, sondern weil er seinen Prüfungsmaßstabnicht zu erkennen gibt und auch deshalb nicht klar wird, worin der Spielraumdes Gemeinschaftsgesetzgebers bestehen soll und in Bezug worauf eine gerichtlicheÜberprüfung stattfindet.Dies liegt u.a. daran, dass die Prüfung, ob eine (konkurrierende) Gesetzgebungskompetenzder Gemeinschaft besteht (die der Prüfung des Subsidiaritätsprinzipslogisch vorausgehen müsste 19 ) inhaltlich meist nicht über diese hinausgeht. Insbesonderein der Vielzahl der Fälle, in denen Rechtsakte aufgrund von Harmonisierungsvorschriftenerlassen worden sind, schließt der EuGH aus dem bloßen Besteheneiner Harmonisierungskompetenz auf die Notwendigkeit gemeinschaftlichenVorgehens. 20Die letzte Entscheidung des EuGH zur Nahrungsergänzungsmittel-Richtlinie (RL2002/46/EG) 21 ist nur die letzte in einer Serie ähnlicher Entscheidungen des EuGH. 2217 Immerhin nennt das Amsterdamer Protokoll in Zif. 5 konkrete Leitlinien für die praktischeAnwendung, wie sie im neuen Protokoll bedauerlicherweise fehlen.18 Vgl. Höffe, Subsidiarität als staatsphilosophisches Konzept, in Oppermann/Nörr (Hrsg.),Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, Tübingen 1997, S. 49 ff.; Mager, ZeuS 2003, 471 (474).19 Statt vieler Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV, Art. 5 EGV, Rn.8 ff.20 Mit ausführlicher Darstellung der Rechtsprechung Albin, NVwZ 2006, 629 (632 ff.).21 EuGH verb. Rs. 154/04 und 155/04 – Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie, Slg. 2005, I-06451.22 EuGH Rs. 84/94 – Arbeitszeitrichtlinie, Slg. 1996, I-05755; Rs. 377/98 – Biopatentrichtlinie,Slg. 2001, I-07079; Rs. 242/99 – Vogler, Slg. 2000, I-09083; Rs. 491/01, Slg. 2002, I-11453.139


Hier führt der EuGH zum Subsidiaritätsprinzip zunächst aus, dass dieses auch imBereich von Maßnahmen nach Art. 95 EGV Anwendung finde, da diese Vorschriftdem Gemeinschaftsgesetzgeber„keine ausschließliche Zuständigkeit für die Regelung der wirtschaftlichen Tätigkeiten imBinnenmarkt verleiht, sondern nur die Zuständigkeit für die Verbesserung der Bedingungenfür die Errichtung und das Funktionieren dieses Marktes durch Beseitigung von Hemmnissenfür den freien Waren und Dienstleistungsverkehr oder von Wettbewerbsverzerrungen(..)“ 23Danach prüft der EuGH die Richtlinie am Maßstab des Subsidiaritätsprinzips undhierbei ausschließlich am Positivkriterium und stellt hierzu fest:„Das sich aus diesen Bestimmungen ergebende Verbot der Vermarktung von Nahrungsergänzungsmitteln,die nicht der Richtlinie 2002/46 entsprechen, zusammen mit der Verpflichtungder Mitgliedstaaten aus Artikel 15 Absatz 2 Buchstabe a der Richtlinie, den Verkehr mit ihrentsprechenden Nahrungsergänzungsmitteln zuzulassen (vgl. entsprechend Urteil British AmericanTobacco [Investments] und Imperial Tobacco, Randnr. 126), soll Hindernisse aufgrundder Unterschiede zwischen den nationalen Regelungen über Vitamine und Mineralstoffe, diebei der Herstellung von Nahrungsergänzungsmitteln zugelassen oder verboten sind, beseitigenund gleichzeitig gemäß Artikel 95 Absatz 3 EG ein hohes Schutzniveau im Bereich dermenschlichen Gesundheit gewährleisten.Bliebe es den Mitgliedstaaten überlassen, den Handel mit Nahrungsergänzungsmitteln zu regeln,die nicht der Richtlinie 2002/46 entsprechen, so würden die ungleichartige Entwicklungder nationalen Regelungen und damit die Hemmnisse für den Handel zwischen den Mitgliedstaatenund die Wettbewerbsverfälschungen in Bezug auf diese Erzeugnisse fortbestehen.Folglich kann das Ziel, zu dem die Artikel 3, 4 Absatz 1 und 15 Absatz 2 Buchstabe b derRichtlinie 2002/46 beitragen, durch eine Handlung allein auf der Ebene der Mitgliedstaatennicht zufrieden stellend erreicht werden; es setzte eine Handlung auf Gemeinschaftsebene voraus.Dieses Ziel konnte demnach besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden.“ 24Wird der Subsidiaritätsgrundsatz so verstanden, verbleibt für ihn im Bereich derHarmonisierung letztlich kein eigenständiger Anwendungsbereich mehr. Eine solcheAuslegungspraxis lässt sich auch nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass dieKompetenzvorschriften teilweise bereits Ausprägungen des Subsidiaritätsgrundsatzesdarstellten. Zwar ist durchaus richtig, dass einige Regelungen Konkretisierungendes Subsidiaritätsprinzips enthalten, das im Anwendungsbereich dieser speziellenNormen dann ggf. durch weitere Voraussetzungen, wie etwa im Rahmen von Art. 95EGV das Erforderlichkeitskriterium, ergänzt wird. 25 Dennoch muss auch in diesenFällen für das Subsidiaritätsprinzip ein eigener Anwendungsbereich verbleiben. Diesgilt umso mehr, als ein großer Teil der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzender Gemeinschaft der Harmonisierung von Rechtsvorschriften dienen. Auch der23 EuGH verb. Rs. 154/04 und 155/04 - Nahrungsergänzungsmittelrichtlinie, Slg. 2005, I-06451, Rn. 103.24 Ebd., Rn. 105-107.25 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 59.140


EuGH scheint letztlich dieser Auffassung zu folgen, denn andernfalls bedürfte eseiner über die bloße Prüfung der Harmonisierungskompetenzen hinausgehendenPrüfung des Subsidiaritätsprinzips gar nicht mehr. Findet aber – richtigerweise –eine selbständige Prüfung des Subsidiaritätsprinzips statt, darf sich der EuGH hierbeinicht auf die bloße Wiederholung der Ausführungen zur Gemeinschaftskompetenzbeschränken. Vielmehr wäre zu ermitteln, ob eine notwendige Harmonisierungnur durch gemeinschaftliches Vorgehen erreicht werden kann oder ob mitgliedstaatlicheRegelungen hierfür vielleicht ausreichend sind und – im Rahmen der hiervonnur schwer zu trennenden Verhältnismäßigkeitsprüfung – wie hoch die Regelungsdichtedes gemeinschaftlichen Handelns sein muss und welche Spielräume den Mitgliedstaatenverbleiben können. Im Rahmen des zweiten Prüfungsschrittes wäredann etwa nach einem Beispiel aus Ziff. 6 des Subsidiaritätsprotokolls des AmsterdamerVertrages eine Richtlinie bei gleicher Wirksamkeit einer Verordnung vorzuziehen.Gleiches gilt für die Rechtsprechung des EuGH über die Einhaltung der Begründungspflichtvon Rechtsakten hinsichtlich der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips,die sich aus Art. 253 EGV und Ziff. 4 des Subsidiaritätsprotokolls ergibt. Der EuGHnimmt hier ebenfalls eine großzügige Kontrolle vor, indem er auch solche Begründungengenügen lässt, die sich nicht explizit auf das Subsidiaritätsprinzip beziehen.26 Selbst wenn man dem EuGH einräumen mag, dass auch ohne eine expliziteBezugnahme eine Prüfung und sinnvolle Begründung von Art. 5 EGV möglich ist,so wäre doch aus Gründen der Selbstkontrolle (ähnlich wie beim deutschen Zitiergebot)eine explizite Stellungnahme wünschenswert 27 , zumal bei der Überprüfungder Begründungspflicht kein Grund für gerichtliche Zurückhaltung besteht 28 und diebisher vorgelegten Begründungen oftmals formelhaft und aus Textbausteinen zusammengesetztsind. 29Verfehlt ist hingegen die gelegentlich anzutreffende Forderung, auch der EuGHselbst müsse sich bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts am Subsidiaritätsprinziporientieren. In diese Richtung zielte eine Forderung Deutschlands in der Rechtssache103/01, 30 die der EuGH in seiner Urteilsbegründung zu Recht keines Kommentarswürdigte. Denn es sind zwar nach Ziff. 1 des Protokolls alle Organe derGemeinschaft zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips verpflichtet, dies gilt jedochnach Art. 5 Abs. 2 EGV nur in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft keineausschließliche Kompetenz besitzt. Für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts26 EuGH Rs. 233/94 – Deutschland gegen Rat, Slg. 1997, I-02405.27 So auch Albin, NVwZ 2006, 629 ff.28 Siehe auch Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV, Art. 5 EGV Rn. 74.29 Von Danwitz, JZ 2006, 1 (4); Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV, Art. 5 EGVRn. 64.30 EuGH Rs. 103/01, Slg. 2003, I-05369, Rn. 19.141


esitzt der Gerichtshof jedoch eine solche ausschließliche Kompetenz, die Subsidiaritätserwägungennicht zugänglich ist. 31III. Die Überprüfung des Subsidiaritätsprinzips nach dem Reformvertrag1. Das Subsidiaritätsprotokoll zum ReformvertragMit dem neuen Protokoll zum Reformvertrag, das im Wesentlichen dem Protokollzum Verfassungsvertrag entspricht, soll die gerichtliche Kontrolle des Subsidiaritätsprinzipsgestärkt werden, so dass dem EuGH für seine bisher schon zweifelhaftePrüfungspraxis nunmehr keine argumentativen Stützpunkte mehr verbleiben. Zwarliest sich das neue Protokoll zunächst recht unspektakulär – eine genauere Betrachtungund insbesondere der Vergleich mit dem Protokoll zum Amsterdamer Vertraglassen aber den Wunsch der Mitgliedstaaten nach einer schärferen Überprüfung desSubsidiaritätsprinzips durch den Gerichtshof deutlich erkennen. Denn es wird nichtnur in Art. 8 des Protokolls explizit festgestellt, dass der Gerichtshof für Klagennach Art. 230 EGV zuständig ist, es fehlen vor allem auch Bestimmungen wie imfrüheren Protokoll, die ein dynamisches Subsidiaritätskonzept proklamieren. Zieldes Protokolls ist ausweislich seiner Präambel, „ein System zur Kontrolle der Anwendungdieser Grundsätze zu schaffen“. Diese Kontrolle sollen freilich zunächstdie Gemeinschaftsorgane und neuerdings auch die nationalen Parlamente wahrnehmen,schließlich aber auch der Gerichtshof.Unter der Formulierung, dass der EuGH für Klagen nach Art. 230 EGV zuständigsei, nur eine vertragliche Zementierung des Status Quo zu verstehen, trifft m.E. nichtden Kern dieser Aussage. 32 Denn eine solche Festschreibung der ständigen Rechtsprechungdes EuGH wäre nicht nur überflüssig, sondern verfehlte auch die Gesamtaussagedes Protokolls. Mit dem Verzicht auf Klauseln, die ein dynamischesSubsidiaritätskonzept proklamieren, soll dem EuGH offenbar ein Rückzug auf einepolitische und daher einer effektiven gerichtlichen Kontrolle nicht zugängliche Naturdes Subsidiaritätsprinzips künftig verwehrt werden. Das Verständnis des Subsidiaritätsprinzipsist hier ein anderes als noch im Protokoll zum Amsterdamer Vertrag.Das zeigt sich auch darin, dass von einer möglichen Kompetenzerweiterung derGemeinschaft unter Rückgriff auf das Subsidiaritätsprinzip keine Rede mehr ist -ebenso wie auf die Feststellung der Wahrung der Kompetenzen der Gemeinschaftnach der Auslegung des Vertrages verzichtet wird.31 So auch Albin, NVwZ 2006, 529 (633); Zuleeg, Die Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzipsin Oppermann/Nörr (Hrsg.), Subsidiarität: Idee und Wirklichkeit, 1997, S. 185 (204).32 So auch – trotz Kritik daran – zum Protokoll des Verfassungsvertrages Koopmanns, EuConst2005, S. 115; a. A. Nettesheim, EuR 2004, 511 (541 ff.), Ludwigs, ZeuS 2004, 211 ff.142


Sicherlich wird auch bei der Auslegung eines so verstandenen Subsidiaritätsprinzipsein nicht voll gerichtlich überprüfbarer Ermessensspielraum des Gemeinschaftsgesetzgebersverbleiben, soweit es um die Einschätzung tatsächlicher Entwicklungengeht und prognostische Entscheidungen getroffen werden müssen. Hierkann der EuGH sinnvoll nur kontrollieren, ob der Gesetzgeber die verfügbaren empirischenDaten und Erfahrungssätze bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat. Dienormativen Bezüge der Prognose sollen aber in Zukunft voll überprüfbar sein. 33 DerEuGH muss daher bei den ihm vorgelegten Rechtsakten nach subsidiaritätsschonendenAlternativen suchen und ausführlicher als bisher begründen, warum es solcheAlternativen nicht gibt oder warum sie nicht vorzugswürdig sind.2. StellungnahmeWenn auch mit dem so neu gefassten Protokoll die Mitgliedstaaten einen Teil ihrerVerantwortung auf den Gerichtshof abwälzen, ist die Änderung im Interesse derTransparenz und der Qualität der Rechtsprechung des EuGH letztlich zu begrüßen.Durch die Schaffung des sog. Frühwarnmechanismus und der Subsidiaritätsklagewird im Lager der Mitgliedstaaten mit den nationalen Parlamenten eine zusätzlicheKontrollinstanz geschaffen. 34 Nehmen die Parlamente die ihnen übertragenen Aufgabeernst – wofür jedenfalls die umfangreichen Vorbereitungen auf die neuenRechte im deutschen Bundestag sprechen – so wird der EuGH in Zukunft vermutlichmit einer Zunahme von Nichtigkeitsklagen zu rechnen haben, die ein Mitgliedstaatentsprechend Art. 8 Abs. 1 des neuen Protokolls im Namen seines nationalen Parlamentsüberbringt. Da auch der Ausschuss der Regionen nach Art. 8 des Protokollsklageberechtigt ist, wird die Zahl der Klagen, die speziell die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzipsrügen, zunehmen. Dies ist zu begrüßen, weil der EuGH dadurchgezwungen wird, sich mit dem erhobenen Einwand entsprechend gründlicher auseinanderzusetzenund eine eigene Dogmatik zum Subsidiaritätsprinzip zu entwickeln.35Es bleibt zu hoffen, dass diese Chance nicht durch innerstaatliche Umsetzung desKlagerechts in einzelnen Mitgliedstaaten wieder vertan wird. So droht gerade die inDeutschland geplante Umsetzung des Klagerechts (durch Grundgesetzänderung) mit33 So bereits zum “alten” Subsidiaritätsprinzip, Calliess, in: Calliess/Ruffert, (Hrsg.) <strong>EU</strong>V/EGV,Art. 5 EGV, Rn. 76 f.34 Strittig ist allerdings, ob die nationalen Parlamente lediglich die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzipsüberprüfen sollen oder ob sie auch das Vorliegen einer konkurrierenden Gemeinschaftskompetenzmitprüfen müssen. M.E. ist eine isolierte Prüfung des Subsidiaritätsprinzipswenig sinnvoll, da erst das Vorliegen einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz denAnwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips eröffnet. Ebenso Calliess, in: Calliess/Ruffert(Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV, Art. 5 EGV Rn. 68, a.A. Albin, NVwZ 2006, 629 (630).35 So auch Steeg, EuZW 2003, 325 (328).143


ihrer vorgesehenen Stärkung der Minderheitenrechte im Parlament 36 die Subsidiaritätsklagezur Allzweckwaffe populistischer Euroskepsis zu deformieren und demEuGH auf diese Weise wenig Anreiz für eine ernsthafte Auseinandersetzung mitdiesem Grundsatz zu bieten.Sollte sich der EuGH entgegen dem deutlichen Wortlaut des Subsidiaritätsprotokollseiner entsprechend gründlicheren Prüfung des Subsidiaritätsprinzips verwehren,so wäre dies nicht nur aus demokratietheoretischer Perspektive bedenklich,sondern auch strategisch unklug. Die Zahl der Euroskeptiker mehrt sich auch in denReihen der Rechtswissenschaft und insbesondere die Kritik aus den Reihen desBundesverfassungsgerichts 37 könnte auf Dauer der Vorrangstellung des EuGH gefährlichwerden 38 . Auch eine Wiederbelebung der in der Debatte um den Verfassungsvertragerhobenen Forderungen 39 nach einem eigenständigen Kompetenzgericht40 oder einem Subsidiaritätsausschuss 41 kann aus Sicht des EuGH kaum wünschenswertsein. 4236 So soll der Bundestag auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder zur Erhebung der Subsidiaritätsklageverpflichtet sein, was allerdings gegenüber der früheren Regelung zum Verfassungsvertrag,die eine solche Anfrage bereits auf Antrag einer Fraktion vorsah, eine Vebesserungsdarstellt.37 Interview mit Hans-Jürgen Papier, FAZ v. 24.7.2007, dort ders.: „Das Subsidiaritätsprinzipist zwar geltendes Recht, spielt aber in der Praxis kaum eine Rolle. Das muss sich ändern.“38 Vgl. Altmaier, Die Subsidiaritätskontrolle der nationalen Parlamente nach dem Subsidiaritätsprotokollzum <strong>EU</strong>-Verfassungsvertrag, in: Hans-Jörg Derra (Hrsg.), Festschrift für Meyer,2006, S. 301 (321).39 Vgl. die Beratungen der Konventsarbeitsgruppe den Zwischenbericht WG I – WG 9 sowiedie Schlussfolgerungen CONV 286/02.40 Herzog/Gerken, EuConst 2007, 209 ff.41 Vgl. Pernice, JZ 2000, 866, dessen Vorstellung eines Subsidiaritätsausschusses, in dem u.a.Mitglieder nationaler Parlamente vertreten sein sollen, sich allerdings in ihrer Ratio stark andas gegenwärtige Modell des Frühwarnsystems annähert.42 Interessanterweise geht mit der Stärkung des Subsidiaritätsprinzips durch den Reformvertragzugleich eine Stärkung des sog. Solidaritätsprinzips einher, vgl. Hoffmeister, im selben Band,S. 152 ff. Wie hieraus ggf. resultierende Spannungen zu lösen sind, wird sicherlich zu denspannendsten Fragen des europäischen Verfassungsrechts nach dem Reformvertrag gehören.Zu diesem Komplex vgl. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EuropäischenUnion, 2. Aufl., 1999.144


Die Handlungsformen im Vertrag von Lissabon –bloß die symbolische Beseitigung des Symbolischen oder wesentlicheVeränderungen ? ∗Anne C. Becker ∗∗Der Vertrag von Lissabon enthält zahlreiche wesentliche Änderungen des europäischenPrimärrechts, mit denen eine ganze Reihe von ernstzunehmenden Zielsetzungenverfolgt werden: Die Europäische Union soll demokratischer, transparenter undeffizienter werden; ihre Rolle als tatkräftiger global player soll deutlicher hervortreten,und die auf ihre Rechte und Werte gründende Gemeinschaft soll erkennbarwerden als ein Raum, in dem Freiheit, Solidarität und Sicherheit gleichermaßengewährleistet sind. Nicht alle dieser Zielsetzungen, fast möchte ich behaupten, diewenigsten, lassen sich durch einmalige Reformen am Vertragswerk bewirken. Dauerhafterweist sich die Verwirklichung dieser Ziele erst in vielen kleinen Schritten,im täglichen Handeln der Institutionen und Mitgliedstaaten. Diese fast schon banaleAlltagsweisheit lenkt den Blick auf die Instrumente (als Juristen interessieren unsvor allem die rechtlich verbindlichen Instrumente, die Rechtsakte), mit denen derWeg zur demokratischeren, effizienteren und transparenteren Union im Kleinenbeschritten werden soll. In welcher Form sollen die Organe und Einrichtungen derUnion handeln, damit diesen Zielen Rechnung getragen wird?Ein erster Blick auf die Regelung der Handlungsformen im Vertrag enttäuschtzunächst: Artikel 249 EG (in der konsolidierten Version des Vertrags über die Arbeitsweiseder Union wird der geänderte Artikel 249 EG zu Artikel 288 A<strong>EU</strong> 1 ), derdie typischen Rechtsakte der Union nennt und definiert, wird nur geringfügig verändert.Die „Entscheidung“ trägt in Zukunft den Namen „Beschluss“, und erhält eineleicht modifizierte Definition. Ansonsten scheint alles beim Alten geblieben zu sein.Die Regelung der Handlungsformen wird auch nach dem Inkrafttreten des Vertragsvon Lissabon im Wesentlichen (mit Änderungen nur im Hinblick auf die Reihe dermöglichen Urheber der Rechtsakte) dem alten Artikel 189 EWG entsprechen, der indieser Form schon seit 1957 besteht. Damit stellt sich die Frage, ob diese Regelungder Handlungsformen etwa schon seit Anbeginn den eben genannten Zielen entsprochenhat, so dass es insofern beim so genannten Reform-Vertrag keiner Modernisierungmehr bedurfte. Andererseits ist es keineswegs so, als hätten die Handlungsformenin der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon keine Rolle gespielt.∗ Die Vortragsform wurde beibehalten.∗∗ Anne C. Becker war bis Februar 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin amWalter Hallstein-Institut und ist seit März 2008 wissenschaftliche Assistentin bei Prof. JosephWeiler (Jean Monnet Center, NYU Law School, New York).1 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.145


Das Mandat des Europäischen Rats vom 22. Juni bezieht sich vielmehr mehrfachausdrücklich auf die Formen der Rechtsakte der Union und bestimmt insbesonderedie Beibehaltung der Bezeichnungen „Verordnung“ und „Richtlinie“ gegenüber denim Verfassungsvertrag vorgesehenen Termini „Gesetz“ und „Rahmengesetz“ schonin einer der ersten Randnummern, an äußerst prominenter Stelle also.I. Bloß die symbolische Rückkehr vom Symbolischen?Die Bedeutung des Vertrags von Lissabon für das Regime der Handlungsformen istdemnach vor allem in der Betonung des status quo ante zu sehen. Diese Entscheidungerklärt sich, wenn man sie mit der im Vertrag von Lissabon gewollten undschon im Mandat zur Regierungskonferenz ausdrücklich angeordneten Beseitigungdes Verfassungscharakters des Primärrechts in Zusammenhang stellt. Für den vorliegendenKontext soll dahinstehen, ob der Charakter des Primärrechts als (materielle)Verfassung überhaupt durch entsprechenden Beschluss der Staats- und Regierungschefsbestimmt und beseitigt werden kann; interessant ist insofern aber, dassdie Bezeichnung der Rechtsakte anscheinend als eines der Konzepte angesehenwurde, mit dem ein (symbolischer) Anklang an den Verfassungscharakter des Primärrechtsder Europäischen Union zunächst hergestellt und dann beseitigt werdensollte. In dem Bemühen, keine, auch nur unterbewussten, Parallelen zu den Verfassungender Nationalstaaten mehr zuzulassen, um dem Vertrag von Lissabon einebessere Annahme unter den Unionsbürgern zu ermöglichen als dem Verfassungsvertrag,mussten die aus den nationalstaatlichen Rechtsordnungen bekannten Begrifflichkeitendes „(Rahmen-)Gesetz(es)“ daher ebenso weichen wie die im Verfassungsvertragenthaltene Symbolik einer Flagge, Hymne oder eines Leitspruchs.Dahinter stand die Idee, dass mit dem Gebrauch des Begriffsarsenals aus den Nationalstaatendie Befürchtung genährt würde, die <strong>EU</strong> entwickele sich mit diesem Vertragswerkauch zu einem Staat. Der Verweigerung einer Übernahme dieser Terminologiedagegen liegt die Überlegung zugrunde, dass die Bezeichnung der wichtigstenRechtsakte der Union als „Verordnung“ und „Richtlinie“ zwar implizit, aber ausreichenddeutlich die Gewähr enthalten, dass es sich beim Europarecht um etwas Andersartigeshandelt und wir es jedenfalls nicht mit staatlichem Handeln zu tun haben.Damit bewirkt der im Mandat zur Regierungskonferenz am prominentesten angekündigteUnterschied des Vertrags von Lissabon gegenüber dem Verfassungsvertrag,die Beseitigung des Verfassungscharakters, zumindest im Hinblick auf dieHandlungsformen, dass eigentlich „nichts Neues“ im Vertrag steht.Verallgemeinernd könnte man anhand dieser Feststellung vermuten, die Frage derHandlungsformen sei ohnehin ein vernachlässigbares Detail, ein Steckenpferd derJuristen, aber keine der großen Entscheidungen, an denen die Modernität einerRechtsordnung ermessen werden könne. Wenn sich diese Rechtsordnung aber vorallem Transparenz als Zielsetzung auf die Fahnen geschrieben hat, dann können146


Handlungsformen durchaus von großer Bedeutung sein. Tatsächlich hatte der Konventdie neuen Termini für die Rechtsakte des Europarechts damit begründet, dieBürger sollten das europäische Rechtssystem besser durchschauen können, um etwaigeProbleme und Unzufriedenheiten überhaupt erkennen, kritisieren und schließlichkontrollieren zu können. Was eine Verordnung sei und bewirke, sei leichterverständlich, wenn sie einen Namen trage, unter dem sich alle Unionsbürger etwasvorstellen können. Die so geförderte Durchschaubarkeit des Rechtssystems werdedie demokratischen Grundlagen der Rechtsordnung der Union stärken, so der Abschlussberichtder Arbeitsgruppe IX im Verfassungskonvent. Mit der Benennung derRechtsakte als „(Rahmen-)Gesetz“ sollte also gerade Transparenz, Klarheit undVerständlichkeit gefördert werden, genauso wie jetzt mit der Rückkehr zur Bezeichnungals „Verordnung“, „Richtlinie“ und „Beschluss“. Wenn zwei eindeutig entgegengesetzteMaßnahmen auf dieselbe Begründung gestützt werden, dann muss dasZweifel hervorrufen: Sind die Namen der Rechtsakte etwa letzten Endes bloß„Schall und Rauch“, eine Symbolik, die erst eingeführt und jetzt ebenso gut entferntwerden kann, wie überflüssige Dekoration am Rechtssystem, die aber tatsächlichkeine Auswirkung auf die Transparenz des Rechtssystems hat?II. Die Transparenz der NamenDamit ist die Frage aufgeworfen, ob die Termini eines Handlungsformenregimesüberhaupt für die Transparenz einer Rechtsordnung relevant sind, und, wenn ja,welche der Begrifflichkeiten, die aus dem Verfassungsvertrag oder die aus demVertrag von Lissabon bzw. von 1957, für mehr Transparenz und Verständlichkeitstehen.Als Ausfluss des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Rechtsstaatlichkeit (bzw. derrule of law, um die Bezugnahme auf Staatlichkeit in diesem Zusammenhang zuvermeiden), wie er heute in Artikel 6 <strong>EU</strong> – und nach dem Vertrag von Lissabon inArtikel 1a <strong>EU</strong>-Vertrag – enthalten ist, ist Transparenz nicht zum Selbstzweck geboten.Vielmehr dient die Idee der Transparenz dem Zweck der Nachvollziehbarkeitund der Verständlichkeit hoheitlichen Handelns. Die Bürger, von denen die Hoheitsgewaltund die Legitimation ihrer Ausübung ausgeht, müssen erkennen können,welche Organe in welcher Form und mit welchen Konsequenzen handeln, damit klarist, wer ihnen gegenüber die Verantwortung für hoheitliche Entscheidungen trägtund wer ihnen Rechenschaft schuldig ist für das Handeln, dessen Legitimation siebieten. Eine Kategorisierung der Formen, in denen die Ausübung von Hoheitsgewalterfolgen kann, kann helfen, einfach und verständlich die Urheber und Rechtswirkungeneines Akts zu erkennen. Die Bestimmung etwa, dass Empfehlungen undStellungnahmen gemäß Artikel 249 EG (in Zukunft Artikel 288 A<strong>EU</strong>) nicht verbindlichsind, erlaubt eine einfache Unterscheidung zwischen Handlungen mit undsolchen ohne Rechtswirkungen. Selbst ohne Kenntnis des Vertragstextes lässt derübliche Wortsinn jeden Bürger ahnen, dass es bei Empfehlungen oder Stellungnah-147


men um unverbindliches Handeln und keine zwingenden Ge- und Verbotsnormengeht.Aus Sicht des Transparenzgebots spricht demnach Einiges für die im Verfassungsvertraggetroffene Wahl des „(Rahmen-)Gesetz(es)“. Unionsbürger sind esgewohnt, dass allgemein verbindliche Rechtsakte in Form von Gesetzen ergehen, diegenerell-abstrakte Regelungen enthalten und für alle unmittelbar gelten. Diese Charakteristikaund Rechtswirkungen werden nicht zwingend mit dem Begriff der „Verordnung“assoziiert. „Verordnung“ und „Richtlinie“ dagegen verdeutlichen, wiebereits erwähnt, die Andersartigkeit des Rechtsakts gegenüber staatlichen Gesetzen.Mit Blick auf den historischen Kontext des Vertrags von Lissabon, nach den gescheitertenReferenden über den Verfassungsvertrag, war diese Klarstellung dringendgeboten; es ist einleuchtend, warum diesem Aspekt (auch der Transparenz) imMandat zur Regierungskonferenz bereits mehr Gewicht zugebilligt wurde als derallgemeinen Verständlichkeit des im Handlungsformenregime verwandten Begriffsarsenals.Man kann hier leicht geteilter Meinung sein. Jedenfalls ist die Rückkehr zuden gewohnten Bezeichnungen im Hinblick auf die damit erstrebte Transparenzkeineswegs als ungerechtfertigt, sondern vielmehr als (zumindest auch) nötig anzusehen.Die demonstrative Wiedereinführung der vor dem Verfassungsvertrag bestehendenTerminologie schafft Klarheit, indem explizit keine Anlehnungen an Staatlichkeitenvorgenommen wurden und dient somit der Transparenz. Diese semantischenKlarstellungen bewirken zwar eine Rückkehr vom Verfassungsvertragbewirken, bringen jedoch keine substantiellen Änderungen gegenüber der bisherigenRegelung mit sich. Gab es denn keine Vorschläge zum Handlungsformenregime desArtikel 249 EG (in Zukunft Artikel 288 A<strong>EU</strong>), mit denen die effizientere, demokratischereund transparentere Union besser erreicht werden kann als mit der Regelungvon 1957?III. Doch Neues im Handlungsformenregime!Entgegen den bisherigen Feststellungen, die Neuerungen des Vertrags von Lissabonzu den Rechtsakten bewegten sich in erster Linie im Bereich des Symbolischen, istder Denkschrift der Bundesregierung zum Vertrag von Lissabon die Aussage zuentnehmen: „Der Vertrag von Lissabon regelt das System der Rechtsinstrumente derUnion völlig neu.“ (S. 125). 2 Und in der Tat werden, zusätzlich zur besprochenenterminologischen Änderung im Vertrag von Lissabon, auf den im Wesentlichenunveränderten Artikel 249 (in Zukunft Artikel 288 A<strong>EU</strong>), folgend vier neue Artikeleingeführt, die Änderungen aus dem Verfassungsvertrag fortschreiben.2Abrufbar unter:http://www.bundesrat.de/cln_051/nn_8694/SharedDocs/Drucksachen/2007/0901-1000/928-07,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/928-07.pdf148


Anders als die zuvor als vorrangig symbolisch abgetane Frage der Bezeichnungder Rechtsakte stellen die neuen Artikel 249a bis 249d EG (in Zukunft Art. 289 bis292 A<strong>EU</strong>) wesentliche substantielle Fortschritte im Hinblick auf das mit dem Vertragvon Lissabon verfolgte Ziel der größeren Transparenz dar. In dem neuen, umdie Artikel 249 a bis 249 d EG (in Zukunft Artikel 289 bis 292 A<strong>EU</strong>) erweiterten,Handlungsformenregime wird nämlich – das dürfte aus den Diskussionen zum Verfassungsvertraghinlänglich bekannt sein – insbesondere zwischen Gesetzgebungsaktenund Rechtsakten ohne Gesetzescharakter unterschieden.Die neue Kategorie der Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, im Nationalstaatwürde man sagen, der exekutiven im Gegensatz zur legislativen Rechtsetzung, wirdweiterhin unterteilt in delegierte Rechtsakte (Artikel 249b, künftig Artikel 290A<strong>EU</strong>) und Durchführungsrechtsakte (Artikel 249c EG, künftig Artikel 291 A<strong>EU</strong>).Zwar ist die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen nichts völlig Neues im Europarecht,und auch die Tatsache, dass auf europäischer Ebene Durchführungsmaßnahmenin Form von Verordnungen oder Richtlinien erlassen werden, überraschtnicht. Aber zum ersten Mal werden diese Handlungsformen mit einer eigenen Bezeichnungversehen, die ihren anderen Charakter wiedergibt, und die Bedingungenihrer Wahl werden im Vertrag konkret festgelegt; so werden sie erstmalig klar vonden legislativen Rechtsetzungsakten unterschieden.Zur delegierten Rechtsetzung bestimmt Artikel 249a (künftig Artikel 289 A<strong>EU</strong>),dass eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen nur an die Kommission möglichist. Des Weiteren müssen „Ziele, Inhalt, Geltungsbereich und Dauer der Befugnisübertragungin dem zugrundeliegenden Gesetzgebungsakt ausdrücklich festgelegtsein. Aufgrund delegierter Rechtsetzungsbefugnis können Ergänzungen oder Änderungenbestimmter, nicht wesentlicher Vorschriften des Gesetzgebungsakts vorgenommenwerden. Delegierte Rechtsakte sind folglich solche Rechtsakte, mit denendie Kommission bestimmte, nicht wesentliche Bestimmungen eines Gesetzgebungsaktsergänzen und abändern, nicht aber ersetzen kann. Vergleichbar der Delegationvon Rechtsetzungsbefugnissen auf die Exekutive im Nationalstaat müssen also diegrundlegenden politischen Entscheidungen und wesentlichen Bestandteile derRechtsetzung in den Händen des prinzipalen Gesetzgebers (auf europäischer EbeneRat und Parlament gemeinsam) bleiben, während der Delegationsadressat bloß technischeEinzelheiten, die keinen weiteren Gesetzgebungsakt erfordern, regeln kann.Auch im Hinblick auf die Durchführungsrechtsakte, die trotz grundsätzlicher Zuständigkeitder Mitgliedstaaten zur Durchführung des Europarechts auf europäischerEbene erlassen werden können, besteht die größte Änderung gegenüber der bestehendenRechtslage in der ausdrücklichen Anerkennung und Kennzeichnung dieserKategorie von Rechtsakten sowie der Festlegung ihrer Bedingungen im Vertrag.Artikel 249c II (künftig Artikel 291 II A<strong>EU</strong>) sieht lediglich vor, dass die Befugnisfür die Annahme von Durchführungsrechtsakten durch die Kommission (oder ausnahmsweiseden Rat) in dem Gesetzgebungsakt, um dessen Vollzug es geht, zuregeln ist.Die Einführung dieser neuen Kategorie der „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter“schafft also – genauso wie die Bezeichnung der Rechtsakte allgemein – in erster149


Linie Transparenz, indem die Systematisierung und entsprechende Kennzeichnungder Rechtsakte die Verständlichkeit des gesamten Systems europäischer Sekundärrechtsaktefördert. Die Bedeutung dieser aus dem Verfassungsvertrag übernommenen,substantiellen Differenzierung des Handlungsformenregimes geht jedoch darüberhinaus. Sie schafft erstmalig eine Hierarchie der Rechtsakte der Union undtrennt die grundlegenden Bestimmungen der Gesetzgebungsakte von den nicht wesentlichen,hierarchisch untergeordneten, Regelungen. Dem Gesetzgeber wird esermöglicht, sich auf die wesentlichen Fragen und grundsätzlichen politischen Optioneneines Politikbereichs zu konzentrieren, die unmittelbar in Anwendung des Vertragsgeregelt werden können. Damit wird der weit verbreiteten Kritik an der übertriebenDetailliertheit des europäischen Sekundärrechts Rechnung getragen, dieihrerseits die „Durchschaubarkeit“ des acquis communautaire erschwert. Die Denkschriftzum Vertrag von Lissabon drückt dies so aus 3 : Der <strong>EU</strong>-Gesetzgeber werde„von der Notwendigkeit befreit, jede Kleinigkeit in europäischen Legislativaktenselbst regeln zu müssen.“ (S. 17). Gleichzeitig bleibt durch den Fortbestand derdelegierten und Durchführungsrechtsetzung die Möglichkeit erhalten, flexibel undeffizient auf sich schnell ändernde Sachverhalte, neue Herausforderungen und Erfordernisseder Wirklichkeit zu reagieren.Des weiteren verhilft die im Vertrag von Lissabon vorgesehene Unterscheidungzwischen den Gesetzgebungsakten und den Rechtsakten ohne Gesetzescharakter zueiner leichteren Zuordnung der Handlungen zu ihrem Urheber und dem Verfahrenfür ihr Zustandekommen. Nur für die Gesetzgebungsakte, die legislativen Handlungen„normativen Charakters“, wie man derartige Vorschriften in der Rechtsprechungzu Artikel 230 IV nennt, ist das Mitentscheidungsverfahren gemäß Artikel 249a(Art. 289 A<strong>EU</strong>) als ordentliches Gesetzgebungsverfahren vorgesehen. Diese Kategorisierungder Rechtsakte unterstützt damit genau das Anliegen der Rechtsstaatlichkeit,durch Transparenz und Klarheit bis hin zur Wahl und Bezeichnung der hoheitlichenHandlungen, auf verständliche und eindeutige Weise die für einen hoheitlichenAkt verantwortlichen Urheber kenntlich zu machen. Bei Gesetzgebungsakten,in Zukunft erkennbar dadurch, dass sie nicht als „delegierte“ oder „Durchführungs-“Rechtsakte bezeichnet sind, kann jeder Bürger also wissen, dass sie von Rat undParlament gemeinsam im Mitentscheidungsverfahren gem. Artikel 251 ergangensind.Durch diese erstmalige Einführung einer Normenhierarchie in das Unionsrechtund einer klaren Unterscheidung zwischen legislativen und exekutiven Rechtsaktenwird mithin nicht nur der europäische Gesetzgeber von der Notwendigkeit befreit, ineuropäischen Legislativakten alles bis ins Detail zu regeln, sondern es wird mitdieser klareren Kategorisierung der Rechtsakte auch ein vereinfachtes, kohärenteresSystem der Sekundärrechtsakte auf europäischer Ebene geschaffen. Das ‚streamlining’des Handlungsformenregimes wird erfolgt zudem dadurch, dass seine An-3S. Fn. 2.150


wendbarkeit nun auf alle drei „Säulen“ der bisherigen Verträge (Gemeinschaftsrecht,GASP und PJZS) erstreckt wird. Die Fusion der intergouvernementalen undsupranationalen Elemente des <strong>EU</strong>- und des EG-Vertrags wird an keinem anderenBeispiel so sichtbar wie anhand der Tatsache, dass Rechtsakte nun in allen drei Bereichenin denselben, einheitlich bezeichneten Handlungsformen ergehen. Zusammenmit weiteren, aus dem Verfassungsvertrag übernommenen Änderungen, die dasRechtsetzungsverfahren betreffen (insbesondere die Öffentlichkeit der Ratssitzungen)erhöhen diese Vereinfachungen des Handlunsgformenregimes seine Effizienzund stellen eine deutliche Verbesserung hinsichtlich der Transparenz und Verständlichkeitder europäischen Rechtsetzung dar. Damit bildet das Handlungsformenregimenach dem Vertrag von Lissabon eine gute Ausgangsbasis für den Weg zureffizienteren, demokratischen und vor allem transparenteren Union.IV. SchlussbemerkungWenn man das Mandat der Regierungskonferenz im Hinblick auf das Handlungsformenregimedes Europarechts betrachtet, fällt als Erstes auf, dass die Umbenennungder Rechtsakte aus dem Verfassungsvertrag zurückgenommen wird. DieseRückkehr zum (terminologischen) status quo entspricht der in Randnummer 1 desMandats ausdrücklich angeordneten Vorgabe, „das Verfassungskonzept aufzugeben“.Zusammen mit der Beseitigung aller Symbolik, mit der dem Vertragswerkzuvor gerade eben Verfassungscharakter verliehen werden sollte (Flagge,Hymne, Leitspruch, Termini wie „Verfassung“, „Außenminister“ etc., vgl. Randnummer3 des Mandats), wird nun sogar in der Wahl der Termini für die Rechtsaktejeder Anklang an (Verfassungs-)Staatliches vermieden. Das Regime der Handlungsformenist insofern einerseits ein äußerst illustratives Beispiel für einen Prozess, derunabhängig vom tatsächlichen Verfassungscharakter des Primärrechts erst die damitassoziierte Symbolik enthusiastisch einbezogen und dann mit ähnlich demonstrativer,symbolischer Haltung wieder beseitigt hat.Diese „symbolische Beseitigung des Symbolischen“ ist andererseits aber nicht alles,was der Vertrag von Lissabon im Hinblick auf das Regime der Handlungsformenzu bieten hat. Als Wegbereiter einer transparenteren Union werden in den neuenArtikeln 249 a bis 249c EG (künftig Artikel 289 bis 291 A<strong>EU</strong>) substantielle Veränderungendes Verfassungsvertrags übernommen, die helfen können, das Handelnder Unionsorgane besser zu systematisieren und die verantwortlichen Akteure leichterzu identifizieren. Den Unionsbürgern, die jede Hoheitsausübung auf europäischerEbene legitimieren, wird es so erleichtert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zuziehen. Und dieser Fortschritt an Transparenz und Nachvollziehbarkeit des hoheitlichenHandelns in der Union ist wahrlich kein symbolischer.151


Das Prinzip der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Vertragvon LissabonProf. Dr. Frank Hoffmeister ∗I. EinleitungWenn man sich mit der Frage beschäftigt, welchen wesentlichen Änderungen diePolitikbereiche der Europäischen Union im Vertrag von Lissabon unterliegen, sokönnte man nach einem kursorischen Blick auf das Vertragswerk zunächst auf zweiGesichtspunkte hinweisen.In Teil 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (A<strong>EU</strong>V)sind die internen Politikbereiche umfassend systematisiert worden. Hinzu tritt derneue Teil Fünf über das auswärtige Handeln der Union, der diesen Politikbereichkompakt abhandelt. Der Vertrag führt somit zu einer strukturellen Verbesserung inder Darstellung der Unionspolitiken.Zweitens fällt auf, dass nach der Abschaffung des 3. Pfeilers der Bereich Innenund Justiz nunmehr der Gemeinschaftsmethode unterliegt und die Union in einigenPolitikbereichen bedeutende neue Zuständigkeiten erhält. Ein neuer Artikel 97a/118A<strong>EU</strong>V autorisiert die Union, europaweite Harmonisierung im Bereich des geistigenEigentums vorzunehmen. Die Regelungs- und Unterstützungsbefugnisse im Bereichder öffentlichen Gesundheit sind vergrößert worden (Artikel 152/168 A<strong>EU</strong>V). Essoll in der Zukunft eine europäische Weltraumpolitik geben (Artikel 172a/189A<strong>EU</strong>V). Der Umweltschutz ist um die Klimapolitik ergänzt worden (Artikel174/191 A<strong>EU</strong>V). Neue Titel sind für die Energiepolitik (Artikel 176a/194 A<strong>EU</strong>V)und den Katastrophenschutz vereinbart worden (176c/196 A<strong>EU</strong>V).Nun sind derartige Änderungen von der Regelungstechnik her nicht neu. JedeÄnderung über die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaften undder Europäischen Union führte bis dato zu neuen Strukturen und erweiterten Befugnissen.Ein qualitativ besonderes Merkmal des Lissabonner Vertrags könnte jedochein dritter Gesichtspunkt sein. Der Vertrag statuiert in bemerkenswerter Häufigkeiteine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Ausübung von Solidarität, etwa im Bereich vonJustiz und Inneres, der Wirtschafts- und Energiepolitik sowie im Auswärtigen Handeln.Hinzu tritt die Stärkung der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten als allgemeinesZiel der Union. Den Gedanken von Pahl aufnehmend 1 , gibt dieser Befund∗ Der Verfasser ist Mitglied des Juristischen Dienstes der Europäischen Kommission undProfessor (Teilzeit) an der Universität Brüssel. Der Beitrag enthält die persönliche Ansichtdes Verfassers. Auf Nachweise wurde bewusst verzichtet.1 Pahl, Umwelt, Energie und Landwirtschaft, in diesem Band, S. 205.152


Anlass zur Untersuchung, ob hiermit nicht ein neues Strukturprinzip Eingang in das<strong>EU</strong>-Recht gefunden hat. Unter Berücksichtigung der Referate von Ruffert, Pahl undThym und der anschließenden Diskussion auf der Tagung geht dieser Beitrag dieserFrage in einem ersten Anlauf kurz nach. Hierbei geht aus ausschließlich um dieSolidarität zwischen den Mitgliedstaaten, während für die Frage nach der „sozialenDimension“ des Vertrages im Verhältnis zwischen Unionsbürger und Union aufandere Beiträge zurückgegriffen werden kann 2 .II. Die Rechtsgrundlagen des Solidaritätsprinzips1. Der allgemeine TeilDie Formulierung von Artikel I-3 des Verfassungsvertrages aufnehmend, schreibtArtikel 2/Artikel 3 (3) UA 3 des Vertrages über die Europäische Union (<strong>EU</strong>V) dasZiel der Union fest, die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. DieserHinweis erfolgt im Zusammenhang mit dem Unionsziel der Stärkung des wirtschaftlichen,sozialen und territorialen Zusammenhalts. Bekanntlich waren dies seit jeherZiele der Gemeinschaft gemäß Artikel 2 EGV. Neu ist allein die Einfügung desAdjektivs „territorialer“ Zusammenhalt. Entstehungsgeschichte und Kontext vonArtikel 2/Artikel 3 (3) UA 3 <strong>EU</strong>V legen daher nahe, dass sich das Solidaritätsprinzipim allgemeinen Teil vor allem in der Kohäsionspolitik der Union nach Titel XVIIverwirklichen soll.2. Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des RechtsGemäß Artikel 61/Artikel 67 (2) A<strong>EU</strong>V entwickelt die Union eine gemeinsamePolitik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen,„die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigenangemessen ist“. Hintergrund dieser von Artikel III-257 des Verfassungsvertragesübernommenen, aber im Verhältnis zum geltenden Recht innovativenVorschrift ist die politisch häufig kontrovers diskutierte Frage der gemeinsamenVerantwortung der Mitgliedstaaten in Flüchtlings- und Migrationsfragen. So hatteinsbesondere Deutschland darüber geklagt, dass während des Bosnienkrieges 1992-1995 die weitaus größte Anzahl von Flüchtlingen humanitären Schutz in Deutschlandfand, während andere Mitgliedstaaten wenig Bereitschaft zeigten, temporärenAufenthalt für Bürgerkriegsflüchtlinge zu gewähren. Heutzutage erheben eher diesüdlichen Länder ihre Stimme und fordern eine bessere Arbeitsverteilung bei derKontrolle der illegalen Migration über das Mittelmeer. Der Vertrag unterstellt nun2 Dazu Kotzur, Die soziale Marktwirtschaft nach dem Reformvertrag, in diesem Band, S. 197.153


sämtliche dieser Felder (Asyl, Immigration, Grenzkontrollen) dem gemeinsamenPrinzip der Solidarität. Es könnte insofern ein Leitprinzip für den Unionsgesetzgeberdarstellen, bei der Ausgestaltung von Rechtsakten darauf hinzuwirken, dass dieterritoriale Nähe des Mitgliedstaates zum Flüchtlings- oder Einwanderungsbrennpunktkein Ausschlussgrund sein darf für ein Engagement der Union als Ganzes.3. Die WirtschaftspolitikNach Artikel 100 EGV in seiner jetzigen Fassung kann der Rat auf Vorschlag derKommission „über die der Wirtschaftslage angemessenen Maßnahmen entscheiden,insbesondere falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmtenWaren auftreten“. In der Praxis hat diese Ermächtigung zum Krisenmanagementjedoch keine Rolle gespielt. Das mag daran gelegen haben, dass bis zum Vertragvon Nizza die Einstimmigkeit im Rat vorgeschrieben war. Auch die Überführung indie qualifizierte Mehrheit im Jahr 2001 hat an dem Charakter dieser Vorschrift alsNotkompetenz nichts geändert. Auch der Verfassungskonvent sah keine Notwendigkeit,inhaltliche Änderungen in Artikel III-180 des Verfassungsvertrages vorzunehmen.Insofern ist beachtlich, dass Artikel 100 (1) A<strong>EU</strong>V nunmehr vorschreibt,dass der Rat über die angemessenen Maßnahmen „im Geiste der Solidarität zwischenden Mitgliedstaaten“ entscheiden soll. Außerdem wird als Beispiel für einknappes Gut der Energiebereich ausdrücklich genannt. Gleichwohl zeigt die Stellungder Vorschrift im Kapitel Wirtschaftspolitik, dass es sich nicht nur um eineKlausel über die Energieversorgungssolidarität handelt. Vielmehr sind potentiellsämtliche Bereiche der Wirtschaftspolitik betroffen. Auf der anderen Seite macht derBezug auf den „Geist“ der Solidarität klar, dass es sich um ein politisches Leitprinziphandelt. Vorschläge und Entscheidungen auf dieser Rechtsgrundlage müssen vondem Grundgedanken ausgehen, dass Mitgliedstaaten sich in wirtschaftlichen Notsituationengegenseitig helfen sollen. Die konkrete Ausgestaltung dieser Einstandspflichtdurch einen Unionsakt obliegt im Einzelfall dem Rat.4. Die EnergiepolitikAuch im neuen Titel XX über die Energiepolitik weht der „Geist der Solidaritätzwischen den Mitgliedstaaten“. In Artikel 176a/194 A<strong>EU</strong>V wird er im Zusammenhangmit den Zielen der Unionspolitik bemüht, einen funktionierenden Energiemarktund die Energieversorgungssicherheit herzustellen sowie die Energieeffizienz, -diversifizierung und Vernetzung zu unterstützen. Gleichwohl erhält dieser Auftrageinen gewissen Dämpfer, wenn in Artikel 176a/194 Absatz 2 A<strong>EU</strong>V daran festgehaltenwird, dass die Mitgliedstaaten ihr Recht behalten, selbst über ihren „Energiemix“und die generelle Energieversorgung zu entscheiden.154


5. Die AußenpolitikIm außenpolitischen Bereich fällt der Begriff der Solidarität in zweierlei Hinsicht.Zum einen fordert – wie schon Artikel I-3 (4) des Verfassungsvertrages – Artikel2/Artikel 3 (5) <strong>EU</strong>V die Union auf, einen Beitrag zu „Solidarität und gegenseitigenAchtung unter den Völkern“ zu leisten. Artikel 10a/21 (1) <strong>EU</strong>V erläutert, dass essich hierbei um ein Prinzip handelt, dass die Schaffung, Entwicklung und Erweiterungder Union selbst getragen hat. Zum zweiten schafft Artikel 188r A<strong>EU</strong>V einenvöllig neuen Titel, der die Überschrift „Solidaritätsklausel“ trägt. Bemerkenswerterweisegeht dessen Formulierung noch über den Vorgänger in Artikel III-329 desVerfassungsvertrages hinaus. Ein neuer erster Absatz ruft die Union auf, alle ihreInstrumente, inklusive militärischen Ressourcen zu mobilisieren, falls ein MitgliedstaatOpfer eines Terroranschlags oder einer Katastrophe geworden ist. Interessanterweisebezieht sich der „Geist der Solidarität“ hier auf die Union und ihre Mitgliedstaaten,welche gemeinsam handeln sollen. Demgegenüber enthielt Artikel188r/222 (2) A<strong>EU</strong>V eine Beistandspflicht, die sich allein an die Mitgliedstaatenrichtet.6. Die gemeinsame Sicherheits- und VerteidigungspolitikSchließlich darf nicht unterschlagen werden, dass auch im Bereich der gemeinsamenSicherheits- und Verteidigungspolitik der Gedanke der Solidarität zwischen denMitgliedstaaten gestärkt wurde. Artikel 28a/42 (6) <strong>EU</strong>V statuiert die bereits in ArtikelI-41 (7) des Verfassungsvertrages enthaltene Pflicht zu Hilfe und Beistand imRahmen aller zur Verfügung stehenden Mittel, falls ein Mitgliedstaat Opfer einesbewaffneten Angriffs auf sein Hoheitsgebiet geworden ist. Die Ausübung desRechts wird an die Einhaltung des in Artikel 51 UN-Charta verbrieften Rechtes auf(kollektive) Selbstverteidigung gebunden. Außerdem gelten die beiden bekanntenverteidigungspolitischen Prinzipien weiter, wonach der spezifische Charakter derVerteidigungspolitik einiger Mitgliedstaaten unberührt bleibt (Neutralität) und dieVerpflichtungen aus dem <strong>EU</strong>-Vertrag sich den Pflichten aus dem NATO-Vertragunterordnen für diejenigen Mitgliedstaaten, die beiden Organisationen angehören.III. Die dogmatische Bedeutung des SolidaritätsprinzipsWelche dogmatische Bedeutung kommt nun diesen Bezugnahmen auf die Solidaritätzwischen den Mitgliedstaaten zu? Wie gesehen, wird das Prinzip in durchaus unterschiedlicherWeise zum Ausdruck gebracht. Dabei lassen sich drei Funktionen herausbilden.Erstens wird das Prinzip herangezogen, um das Bestehen bestimmter Unionspolitikenzu begründen. So wird etwa auf die Frage, warum die Union eine wirtschaftli-155


che, soziale und territoriale Kohärenzpolitik betreibt, verfassungsrechtlich geantwortet,es gehe darum, die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern. Analogkann angeführt werden, die Durchführung einer Flüchtlings- und Migrationspolitikoder Zuständigkeiten zum gegenseitigen Beistand hätten genau dasselbe Ziel. Mitanderen Worten besteht die erste Funktion des Solidaritätsprinzips darin, verfassungsrechtlicheLegitimation für zum Teil neue Unionszuständigkeiten bereitzustellen.Zweitens bindet das Solidaritätsprinzip die Union bei der Ausübung speziellerZuständigkeiten. Wenn das Prinzip im Rahmen einer Ermächtigungsgrundlage besondersgenannt wird, so muss der Unionsgesetzgeber bei der Annahme der jeweiligenRechtsakte darauf hinwirken, die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zustärken. Diese Funktion ist besonders augenfällig für die Wirtschafts- und Energiepolitik.Wie stark das Prinzip hierbei das gesetzgeberische Ermessen beschränkt,lässt sich schwer abschätzen. Viel spricht dafür, dass es sich um ein begrenzt justiziablesPrinzip handelt. So wird der EuGH prüfen können, ob der Gesetzgeber dieSolidarität zwischen den Mitgliedstaaten im Auge behalten hat. Wie er diese imEinzelfall verwirklicht hat, dürfte indessen nur bei offenkundigen Ermessensfehlernüberprüfbar sein. Die zweite Funktion des Solidaritätsprinzips liegt also darin, einenbegrenzten verfassungsrechtlichen Maßstab für bestimmte Arten von Unionsgesetzgebungaufzustellen.Drittens transportiert das Solidaritätsprinzip eine rechtliche Pflicht der Mitgliedstaatenuntereinander. Gerade die Solidaritätsklausel im außenpolitischen Teil, wieauch die Beistandsklausel in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nehmen dashorizontale Verhältnis in den Blick. Quasi von dem Schleier des Nichtwissens geschützt,welcher von ihnen von einer Katastrophe oder einem bewaffneten Angriff inder Zukunft heimgesucht wird, sichern sich die Mitgliedstaaten gegenseitig vorabden gegenseitigen Beistand zu. Hierin kommt in juristischer Form das Selbstverständniseiner Union zum Ausdruck, die nicht erst als Reaktion auf Schicksalsschlägezueinander findet, sondern bereits einen Grad der Integration erreicht hat, dass siedie Ausübung von Solidarität geradezu als Ausfluss des bereits erreichten Zusammenhaltesbetrachtet. So gesehen könnte man die dritte Funktion des Solidaritätsprinzipsdarin sehen, der verfassungsrechtlichen Qualität der Unionsmitgliedschaftbesonderen Ausdruck zu verleihen.IV. SchlussbemerkungAls Ingolf Pernice vor 10 Jahren das Walter Hallstein-Institut an der Humboldt-Universität gründete, erhob er das Europäische Verfassungsrecht zur eigenständigenForschungsmaterie. Der damals als kühn empfundene Schritt erscheint heute nurfolgerichtig. Die verfassungsrechtliche Qualität des europäischen Primärrechts wird156


kaum mehr bestritten. Im Vertrag über eine Verfassung Europas wäre diese Entwicklungkodifiziert und wohl zum Abschluss gebracht worden.Mit dem Vertrag von Lissabon haben die Staats- und Regierungschefs davon Abstandgenommen, den Verfassungsbegriff textlich zu verankern. Politisch gewollt,sticht der Reformvertrag vor allem durch die Anwendung der klassischen Vertragsänderungsmethodehervor. Inhaltlich sind gleichwohl viele Inhalte des Verfassungsvertragsübernommen worden. Es besteht somit die Möglichkeit, die europäischeVerfassungswissenschaft auch auf der Grundlage des Lissabonner Vertrags glaubwürdigweiter zu betreiben. Dieser Beitrag kann somit auch als unausgesprochenesDankeschön an meinen akademischen Lehrer für Europarecht und als ein indirekterAufruf an die neue <strong>Berlin</strong>er Forschungsgeneration gelten, auf der Grundlage derbewährten <strong>WHI</strong>-Methodik die verfassungsrechtlichen Neuerungen im LissabonnerVertrag kritisch zu würdigen. Ob – wie hier vorgeschlagen – die Solidarität zwischenden Mitgliedstaaten wirklich eine verfassungsrechtliche Legitimation für neueUnionszuständigkeiten bereitstellt, einen begrenzten verfassungsrechtlichen Maßstabfür bestimmte Arten von Unionsgesetzgebung aufstellt und die verfassungsrechtlicheQualität der Unionsmitgliedschaft betont, könnte sich insofern als Themafür das Forschungscurriculum des Instituts anbieten.157


Vertragsauslegung nach Lissabon. Methodische Implikationen desReformprozesses am Beispiel des detaillierten Mandats und der Erläuterungenzur Charta der GrundrechteMattias Wendel *I. Vertragsauslegung und ReformprozessDie folgenden Überlegungen zum Vertrag von Lissabon setzen bei der methodischenDimension europäischen Verfassungsrechts an. 1 Spezifisch geht es um dieFrage nach Neuerungen und möglichen Akzentverschiebungen im Hinblick auf diekünftige Methodik der Vertragsauslegung. 2Anders als bei früheren Vertragsänderungen ist der in den vergangenen Jahreneingeschlagene Reformweg durch eine grundsätzlich gesteigerte Transparenz desVerfahrensablaufs, insbesondere während der beiden Konvente, gekennzeichnet. DieArbeiten und Debatten des Grundrechtekonvents, des Verfassungskonvents sowieauch der Regierungskonferenzen 2003/2004 und 2007 wurden ausführlich dokumentiertund der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zu beobachten ist, dass in der Wissenschaftin jüngerer Zeit verstärkt auf Begleitdokumente des Reformprozesseszurückgegriffen wird. 3 Dies ist für den Bereich des europäischen Verfassungsrechts* Der Verfasser (mattias.wendel@rewi.hu-berlin.de), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter amWalter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (<strong>WHI</strong>) der Humboldt-Universitätzu <strong>Berlin</strong> und derzeit Gastforscher am Institute of European and Comparative Law (IECL)der University of Oxford.1 Vgl. Dann, Überlegungen zu einer Methodik des europäischen Verfassungsrechts, in: Beckeru.a. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 161 ff. sowie in Bezugauf die Europarechtswissenschaft Pernice, Europarechtswissenschaft oder Staatsrechtslehre?Eigenarten und Eigenständigkeiten der Europarechtslehre, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.),Staatsrechtslehre als Wissenschaft. Die Verwaltung, Beiheft 7 (2007), S. 225 (238 ff.).2 Zu den Auslegungsmethoden im Gemeinschaftsrecht vgl. eingehend Anweiler, Die Auslegungsmethodendes Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, (1997); Grundmann,Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1997; Müller/Christensen,Juristische Methodik II – Europarecht, 2004; Buck, Über die Auslegungsmethodendes Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1998; Schübel-Pfister, Spracheund Gemeinschaftsrecht – Die Auslegung der mehrsprachig verbindlichen Rechtstexte durchden Europäischen Gerichtshof, 2004; Kutscher, Thesen zu den Methoden der Auslegung desGemeinschaftsrechts aus der Sicht eines Richters“, in: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften(Hrsg.), „Begegnung von Justiz und Hochschule, 27.-28. September 1976. KritischHillgruber, Grenzen der Rechtsfortbildung durch den EuGH – Hat Europarecht Methode?, in:von Danwitz u.a. (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer europäischen Staatlichkeit?, 1993, S. 31 ff.3 S. Amato/Bribosia/de Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentairedu Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoireset perspectives d’avenir (2007), S. 311 (347 ff.).158


überaus bemerkenswert, weil der historischen Auslegungsmethode jedenfalls imPrimärrecht klassischerweise eine eher marginale Rolle zukommt. 4Anhand zweier Beispiele soll die Eignung und mögliche Bedeutungsaufwertungder historischen Auslegung im hermeneutischen Prozess diskutiert werden (dazuII.). Beiden untersuchten Texten kommt unter den Begleitdokumenten des Reformprozesseseine besonders wichtige Stellung zu. Aus dieser exemplarischen Betrachtunglassen sich abschließend somit in gewissem Umfang Schlussfolgerungen fürden künftigen Auslegungsprozess ziehen (dazu III).II. Anknüpfungspunkte künftiger AuslegungErster untersuchter Bezugspunkt ist das detaillierte Mandat für die Regierungskonferenz2007. Die Frage nach seiner Eignung für die Interpretation des neuen Vertragswerkserscheint in besonderem Maße interessant, handelt es sich bei dem Mandatdoch um die zentrale textliche Ausgangsbasis der Regierungskonferenz 2007(dazu 1.). Zweites Analyseobjekt sind die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte.Bereits der Verfassungsvertrag, der in Art. II-112 Abs. 7 VVE ihre „gebührendeBerücksichtigung“ bei der Auslegung normierte, warf die Frage nach ihrer Zulässigkeitund Bedeutung als historisches Auslegungsmittel auf. 5 Der im Zuge der Regierungskonferenz2007 neu gefasste Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 <strong>EU</strong>V (Liss), rückt dieseProblematik in neues Licht (dazu 2.).4 Vgl. dazu nur Buck (Fn. 2), S. 141; Kutscher (Fn. 2), S. I-23; Pernice/Mayer in: Grabitz/Hilf,Art. 220 EGV, Rn. 53; Schübel-Pfister (Fn. 2), S. 130; Zuleeg, EuR 1969, 97 (107); a.A. soweitersichtlich einzig Ophüls, Über die Auslegung der Europäischen Gemeinschaftsverträge,in: FS-Müller-Armack, 1961, S. 279 (285 ff.).5 Vgl. dazu Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa - Interpretationsgrundsätze unddie Bedeutung der Erläuterungen des Konventspräsidiums nach Art. II-112 Abs. 7 VVE,<strong>WHI</strong>-Paper 4/2005, http://www.whi-berlin.de/documents/whi-paper0405.pdf; Kingreen, in:Calliess/Ruffert, <strong>EU</strong>V/EGV, 3. Aufl., 2007, Art. 112, Rn. 43; Ladenburger, FundamentalRights and Citizenship of the Union, in: Amato/Bribosia/de Witte (Hrsg.), Genèse et destinéede la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pourl’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, 2007, S. 311 (347ff.); ders., in : Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur EuropäischenGrundrechte-Charta, 2006, Art. 52, Rn. 126 ff.159


1. Das detaillierte MandatDas detaillierte Mandat 6 ist das Kernprodukt der erfolgreichen Bemühungen währendder deutschen Ratspräsidentschaft um die Wiederbelebung des Reformprozessesund die Rettung der inhaltlichen Substanz des Verfassungsvertrages. Zwar wares aufgrund der politischen Rahmenbedingungen nicht gelungen, bereits eine Einigungüber einen konkreten Vertragsentwurf zu erreichen, jedoch konnten Inhalt undStruktur des neuen Vertragswerks bereits präzise – z.T. bereits dem Wortlaut nach 7– im Mandat vorgegeben werden. Es bildet zudem laut eigener Aussage „die ausschließlicheGrundlage und den ausschließlichen Rahmen für die Arbeit der Regierungskonferenz“.Eine Besonderheit ist gerade darin zu sehen, dass die Positionenbereits zeitlich vor Eröffnung der eigentlichen Regierungskonferenz in einer derartigenGenauigkeit festgelegt wurden.Das Mandat gibt somit unmittelbar Rückschluss auf den Willen der verhandelndenStaats- und Regierungschefs – und damit der späteren Vertragsparteien.Daneben ermöglicht es einen komprimierten und vergleichsweise übersichtlichenZugriff auf die wesentlichen Änderungen und Neuerungen. Eine vor diesem Hintergrundzentrale Passage regelt den Umgang mit dem inhaltlichen „Erbe“ des Verfassungsvertragesund findet sich in Rn. 4 des Mandats. Dort heißt es:„Was die inhaltlichen Änderungen an den bestehenden Verträgen anbelangt, so werden die aufdie RK 2004 zurückgehenden Neuerungen so, wie es in diesem Mandat angegeben ist, in den<strong>EU</strong>V und den Vertrag über die Arbeitsweise der Union eingearbeitet. Änderungen an diesenNeuerungen, die sich aufgrund der in den vergangenen sechs Monaten mit den Mitgliedstaatengeführten Konsultationen ergeben, sind nachstehend eindeutig angegeben.“ 8Grundsätzlich werden die Neuerungen des Verfassungsvertrages übernommen, essei denn in der enumerativen Auflistung des Mandats wird ausdrücklich davon abgewichen.Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis macht das Mandat gleichsam zueiner Art Scharnier zwischen Verfassungs- und Reformvertrag. Es eignet sich damitin besonderem Maße für den Abgleich beider Texte. Dabei darf allerdings nichtübersehen werden, dass einige Kernpunkte der Verhandlungen, etwa die Frage desEntscheidungsmodus im Rat, trotz der Rigidität des Mandats bis zuletzt in der Regierungskonferenzdiskutiert wurden und das Mandat hierüber insoweit keine abschließendeAussage trifft.6 Ratsdok. 11218/07 (sprachlich überarbeitete Version). Die ursprüngliche und mit Übersetzungsfehlerninsbesondere in der deutschen Sprachfassung versehene Version ist als Anhangzu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 21./22. Juni 2007 in Brüssel zumEnde der deutschen Ratspräsidentschaft enthalten, Dok. 11177/07.7 Vgl. dazu Anlage 1 (Änderung des <strong>EU</strong>V) sowie Anlage 2 (Änderung des EGV) zum Mandat.Zweck der Anlagen ist es nach eigener Aussage, die genaue Abfassung, soweit erforderlich,zu verdeutlichen und ggf. (bei Anlage 2) anzugeben, an welcher Stelle bestimmte Bestimmungenaufgenommen werden.8 Speziell für die Änderungen des derzeitigen EG-Vertrages findet sich eine entsprechendePassage in den Randnummern 18 und 19.160


Davon einmal abgesehen erlaubt es, methodisch übersetzt, aber nicht nur dieNachzeichnung des (Kompromiss-)Willens der Vertragsparteien. Es bildet gleichermaßeneinen Ausgangspunkt für die historische Konkretisierung, soweit es dienormtextliche Entwicklung einer bestimmten Vorschrift spiegelt. Erste wissenschaftlicheAnalysen zum Vertrag von Lissabon greifen dementsprechend bereits invertieftem Ausmaß auf das detaillierte Mandat zurück. 9Verwirrend entpuppt sich dieses allerdings im Hinblick auf die Frage nach der(Rechts-)Natur des Reformvertrages. In Rn. 3 wird festgehalten, dass „<strong>EU</strong>V und derVertrag über die Arbeitsweise der Union (…) keinen Verfassungscharakter haben“werden. Das Mandat stellt selbst nicht klar, was mit „Verfassungscharakter“ substanziellgemeint sein könnte. Als Konsequenz seines Fehlens wird lediglich derVerzicht auf die Verwendung des Verfassungsbegriffs sowie dem Staat entlehntersymbolischer Elemente genannt. Zudem besteht das aufzugebende „Verfassungskonzept“in der Terminologie des Mandats (vgl. Rn. 1) offenbar darin, „alle bestehendenVerträge aufzuheben und durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung‚Verfassung’ zu ersetzen“.Eine substanzielle Aussage über die rechtliche Natur der Verträge, die als historischerWille identifiziert und in den Auslegungsprozess einfließen könnte, kann demDokument also nicht entnommen werden. Vor dem Hintergrund, dass aus überwiegenderSicht der Europarechtswissenschaft bereits das derzeit geltende Vertragswerkdie wesentlichen Funktionen einer Verfassung erfüllt und insoweit Verfassungscharakterbesitzt, 10 wäre ein anderes Ergebnis im Hinblick auf den Reformvertrag auchnicht vertretbar.Dennoch. Das Mandat hält dem Leser eine geradezu surrealistisch anmutendeWarnung Magritte’scher Prägung vor Augen, während jener – jedenfalls mit derBrille der Europarechtswissenschaft – auf die künftige Verfassung der <strong>EU</strong> in derFassung des Vertrages von Lissabon blickt: „Ceci n’est pas une constitution.“ 11Leider dient dies nicht etwa aufklärenden Zwecken, sondern ist vielmehr als Ausdruckeiner Verschleierungstaktik zu verstehen, die im Kontext der künftigen Ratifi-9 Vgl. die Analyse von Mayer, Die Rückkehr der europäischen Verfassung? Ein Leitfaden zumVertrag von Lissabon, ZaöRV 67 (2008) i.E.10 Vgl. Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148 ff.; Weiler, The Constitution of Europe, 1999; MayerEuropäische Verfassungsgerichtsbarkeit. Gerichtliche Letztentscheidung im europäischenMehrebenensystem, in: von Bogdandy (Hrsg.): Europäisches Verfassungsrecht, 2003, 229 ff.;Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 37 ff. u. 93 ff. Der EuGHspricht seit dem Urteil vom 23.04.1986 – Rs. 294/83 – Les Verts, Slg. 1986, 1339 (1365) voneiner „Verfassungsurkunde“.11 Die Anspielung bezieht sich auf eine Gemäldereihe von René Magritte, die das präzise gemalteAbbild eines bestimmten Gegenstandes, etwa einer Pfeife oder eines Apfels, mit demgeschriebenen Hinweis konterkarieren, es handle sich in Wirklichkeit nicht um das, was manzu sehen meine. René Magritte, „La trahison des images : Ceci n’est pas une pipe“ (1929)sowie „Ceci n’est pas une pomme“ (1964). Vgl. In diesem Kontext auch das Tagungsthemades European Constitutional Law Network (ECLN) für die Tagung in Sofia vom 17. bis 19.April 2008: „Ceci n’est pas une constitution – Constitutionalisation without a constitution?“.161


kation steht. Politisch riskante (Zweit-)Referenden mit der Rechtfertigung umgehenzu können, es gehe nunmehr nicht mehr um die Ratifikation einer „Verfassung“, istzweifelsfrei ein zentrales Motiv der beteiligten Akteure. Zwar mag man dieser Strategieeine erhöhte Chance auf einen Erfolg, jedenfalls im Ergebnis, attestieren. Allerdingsist sie mit der Idee eines transparenten „Europas der Bürger“ nicht in Einklangzu bringen.Das Mandat als historisches Auslegungsmittel heranzuziehen, ist folglich ein ambivalentesUnterfangen. Einerseits als systematische Brücke zwischen VerfassungsundReformvertrag für die Interpretation des neuen Textes zweifellos von Nutzen,enthält es andererseits als Ausdruck politischen Kompromisses – und gleichsam alsInstrument zur Inkraftsetzung der Kerngehalte des Verfassungsvertrages – Elementepolitischer Camouflage, die seiner (er)klärenden Funktion im Rahmen der Interpretationentgegenstehen.2. Die Erläuterungen zur Charta der GrundrechteAuch im Hinblick auf die Frage nach Eignung und Bedeutung der Erläuterungen zurGrundrechtecharta als historisches Auslegungsmittel muss die Antwort differenziertausfallen. 12 Wie einleitend bereits angedeutet, wirft die im Zuge der Regierungskonferenz2007 eingefügte Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 <strong>EU</strong>V (Liss) diesesProblem erneut auf. Die Norm war bereits ihrem Wortlaut nach im Mandat vorgezeichnet:13„Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze werden gemäß den allgemeinenBestimmungen des Titels VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt,und unter gebührender Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, indenen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt.“Daneben wird die „gebührende Berücksichtigung“ der Erläuterungen weiterhin inArt. 52 Abs. 7 GRC (ehemals Art. II-112 Abs. 7 VVE) sowie in Satz 2 der fünftenPräambelerwägung der Charta festgehalten. Wenn man überhaupt Verständnis fürdiese gleich dreifach verankerte Referenz aufbringen will, so ist hierfür jedenfallsein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte der Erläuterungen notwendig.Sie wurden ursprünglich „unter der Leitung“ des Präsidiums des Charta-Konventsim Jahre 2000 erstellt, wobei die Letztfassung 14 erst nach Abschluss der Arbeiten imKonvent fertig gestellt und den Konventsmitgliedern nur mehr zur Kenntnis gebrachtwurde. Daher können sie nicht, allenfalls mittelbar, als Aussage des Konvents12 Vgl. zu Fragen des Grundrechtsschutzes nach dem Vertrag von Lissabon, insbesondere zurbritischen und polnischen Sonderlösung, den Beitrag von Mayer in diesem Band, S. 87.13 Rn. 5 in Anlage I des Mandats. Statt „Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten undGrundsätze“ sprach das Mandat von den „in der Charta enthaltenen Rechte(n)“.14 Dok. CHARTE 4473/00 CONVENT 49.162


selbst angesehen werden. 15 Sie sind in erster Linie als ein Zugeständnis des Präsidiumsgegenüber der britischen Verhandlungsposition zu sehen, wonach die Chartakeinerlei Änderungen an der zum Zeitpunkt der Chartaentstehung geltenden Rechtslagebewirken sollte. Erreichen wollte die britische Seite dies durch einen erläuterndenund rechtsverbindlichen Teil II, der eine „fotografische“ Abbildung der geltendenRechtslage gewährleisten sollte.Dieser Hintergrund verdeutlicht, warum der Dokumentation von Herkunft undErkenntnisquellen der jeweiligen Rechte ein nicht unwesentlicher Anteil an denheutigen Erläuterungen zukommt. Angeführt werden neben Quellen des Primär- undSekundärrechts sowie Urteilen des EuGH vor allem Gewährleistungen der EuropäischenMenschenrechtskonvention. Zu betonen ist allerdings, dass die Erläuterungen– mit Ausnahme der Ausführungen zu Art. 51 ff. GRC – zumeist recht knapp gehaltensind. Auf spezifische Einzelfragen in künftigen Streitigkeiten werden sie oftmalskeine Antwort enthalten. Einen beträchtlichen Teil des Gesamtumfangs nimmt darüberhinaus die bloße Wiedergabe korrespondierender EMRK-Rechte in Anspruch,ohne dass insoweit ein systematisierender oder gar wertender „Kommentar“ erfolgenwürde. Die darüber hinaus in den Erläuterungen anzutreffenden Aussagen sindin ihrer Gesamtheit zudem recht heterogen, sodass im Hinblick auf ihre inhaltlicheAussagekraft genau nach Einzelfall differenziert werden muss.Im Rahmen des Europäischen Konvents wurden die Erläuterungen an die Änderungender Charta und des VVE redaktionell angepasst und z.T. – insbesondere imBereich der Querschnittsklauseln – erweitert. 16 Hervorzuheben ist, dass auch dieEndfassung der Erläuterungen nicht vom Konvent selbst verabschiedet, sondernlediglich vom Präsidium gebilligt wurde. 17 Die Erläuterungen wurden dann innochmals angepasster Version nach Abschluss der Regierungskonferenz 2003/2004im Rahmen der Schlussakte in Erklärung 12 aufgenommen. 18 Anlässlich der Proklamationder Charta der Grundrechte am 12. Dezember 2007 erfolgte nach geringfügigenredaktionellen Anpassungen ihre (zweite) Veröffentlichung im Amtsblatt. 19Wie bereits zuvor wird in den Erläuterungen selbst einleitend festgehalten, sie hättenals solche „keinen rechtlichen Status“, stellten jedoch eine „nützliche Interpretationshilfe“dar, die dazu diene, die Bestimmungen der Charta zu verdeutlichen.Zwar konnte sich der Ansatz eines rechtsverbindlichen Status der Erläuterungennicht durchsetzen. Jedoch erfolgte als Kompromisslösung die textliche Fixierung der„gebührenden Berücksichtigung“ der Erläuterungen bei der Auslegung. Erster15 Vgl. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S.65.16 Ein synoptischer Vergleich der Erläuterungen des Grundrechte-Konvents (Dok. CHARTE4473/00) mit der Fassung nach Abschluss der Regierungskonferenz 2003/2004 (CIG 87/04ADD 2 REV 1 = ABl. <strong>EU</strong> Nr. C 310/424 v. 16.12.2004) findet sich bei Wendel (Fn. 5) inAnhang II.17 Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg,), GRC, Art. 52, Rn. 117.18 Abl. <strong>EU</strong> Nr. C 310/424 v. 16.12.2004.19 ABl. <strong>EU</strong> Nr. C 303/17 v. 14.12.2007.163


Schritt hierzu war die Aufnahme einer Verweisung auf die Erläuterungen in derfünften Präambelerwägung des Verfassungsentwurfs des Europäischen Konvents.Diese ist in leicht abgewandelter Form bis heute an gleicher Stelle erhalten geblieben.Unter irischer Ratspräsidentschaft wurde im Zuge der Verhandlungen dann derneue Absatz 7 in Art. II-112 VVE eingefügt, dessen Wortlaut nunmehr in Art. 52Abs. 7 GRC übernommen wurde. Wie oben bereits dargelegt, kam während derdeutschen Ratspräsidentschaft mit Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 <strong>EU</strong>V (Liss) die dritte Referenznormhinzu. Anders als Art. 52 Abs. 7 GRC hebt sie nicht darauf ab, die Erläuterungenseien „als Anleitung für die Auslegung“ der Charta verfasst worden, sonderncharakterisiert sie als Text „in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegebensind“. 20Dies entspricht, wie gesehen, eher dem tatsächlichen Charakter der Erläuterungen,wenngleich sich nicht alle in ihnen enthaltenen Ausführungen als (Erkenntnis)quellenkategorisieren lassen. War die zusätzliche Einfügung von Art. II-112Abs. 7 VVE im Hinblick auf die Problematik der Bindungswirkung der Präambelbestimmungnoch rechtstechnisch begründbar, 21 so ist die mit dem neuen Art. 6 Abs. 1UAbs. 3 <strong>EU</strong>V (Liss) einhergehende Verdreifachung wohl in erster Linie mit demsymbolischen Stellenwert der Norm unmittelbar im <strong>EU</strong>V zu erklären. 22Der Entstehungsprozess macht letztlich also deutlich, dass die BestimmungenAusdruck eines langwierig gewachsenen politischen Kompromisses sind, der zwischender britischen Forderung rechtsverbindlicher Erläuterungen einerseits und derdiesbezüglich ablehnenden Haltung der großen Mehrheit andererseits gelagert ist.Die rechtliche Einordnung der Referenznormen und ihres Einflusses auf die Stellungder Erläuterungen differiert in der Literatur dabei erheblich, wobei sich dieStellungnahmen bislang auf die fünfte Präambelerwägung oder den bisherigen Art.II-112 Abs. 7 VVE beziehen. So ist zu lesen von einer als „Weichmacher eingefügtenInterpretationsvorgabe“, deren Wortlaut bereits die „Negationsschneise“ weise. 23Auch methodische Zweifel an ihrer Eignung als Auslegungsmittel werden erhoben.24 Andere meinen, die Erläuterungen erlangten aufgrund der Präambelerwägung„offiziösen Charakter“ 25 bzw. den „hybriden Status amtlicher Auslegungshinweise.“26 Sie seien imstande, den Spielraum des Richters bei der Auslegung „erheblichzu begrenzen“. 27 Teilweise wird den Erläuterungen über den Verweis sogar „die20 Engl. Sprachfassung: „that set out the sources of those provisions“; franz. Sprachfassung:„qui indiquent les sources de ces dispositions“.21 Vgl. insoweit auch Turpin, RTDE 2003, 615 (132).22 Gleichermaßen kann wohl auch die Dopplung in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 <strong>EU</strong>V (Liss) erklärtwerden.23 Epping, Die Verfassung Europas?, JZ 2003, 821 (826).24 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), <strong>EU</strong>V/EGV, Art. 112, Rn. 43.25 Schmitz, EuR 2004, 691 (692).26 Mayer, integration 2003, 398 (400).27 Bourgogue-Larsen, in: dies./Levade/Picod (Hrsg.), Traité établissant une Constitution pourl’Europe, Tome 2 (2005), Art. II-112, Rn. 40.164


Funktion einer verbindlichen Auslegungshilfe“ beigemessen, 28 zuweilen auch ein„authentischer“ Charakter nachgesagt. 29 Wiederum andere relativieren die Bedeutungder Erläuterungen zwar prinzipiell, sehen die Frage ihrer künftigen Brauchbarkeitim Auslegungsprozess vor allem aber an den jeweiligen Inhalt der betreffendenErläuterung geknüpft. 30Eine Besonderheit bilden die Referenznormen allein schon deshalb, weil sie alsunmittelbar auf den Auslegungsvorgang bezogene Normen auf die „rechtlicheRückbindung juristischer Methodik“ 31 abzielen. Im Hinblick auf die Problematikeines möglichen Selbstreflexes kann dabei festgestellt werden, dass ihre metasprachlicheAussage – die gebührenden Berücksichtigung der Erläuterungen im hermeneutischenProzess – sich jedenfalls nicht auf das Verständnis ihrer selbst bezieht, schonweil die Erläuterungen die Art. 52 Abs. 7 GRC und die Präambelerwägung selbstnicht kommentieren. 32 Die Referenznormen beziehen sich folglich nur auf die Auslegunganderer Bestimmungen, nicht aber auf ihre eigenen.Der Wortlaut der „gebührenden Berücksichtigung“ („shall be given due regard“bzw. „sont dûment prises en considération“) ist zunächst unergiebig. Schärfere Formulierungenwären durchaus denkbar, etwa die einer „maßgeblichen“ oder gar „ausschließlichen“Berücksichtigung. Auch hätte man die Erläuterungen als „verbindlicheLeitlinien“ titulieren können. Ein Gericht, das die Erläuterungen in seiner Urteilsfindung„gebührend berücksichtigt“, kann sich mit treffenden Argumenten auchgegen die darin verankerte Aussage wenden. 33Die Bedeutung der Erläuterungen als historisches Auslegungsmittel wird dadurchbegrenzt, dass sie, wie bereits dargelegt, nicht den originären Willen des Vertragsgebersdokumentieren, sondern lediglich den Konventspräsidien – und auch diesennur bedingt – zugerechnet werden können. Demgegenüber kommt ihnen eine gesteigerteBedeutung zu, soweit sie (Erkenntnis-)Ursprung und Herkunft der einzelnenGrundrechte nachzeichnen.28 Streinz in: ders. (Hrsg.), EGV/<strong>EU</strong>V, Präambel GR-Charta, Rn. 18.29 So offenbar Jacqué, RTDE 2005, 227 (236).30 Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), GRC, Art. 52, Rn. 130 ff. Ähnlich auch Borowsky,in: Meyer, GRC, Art. 52, Rn. 47 b, der davon ausgeht, dass „der Begründungsaufwand gesteigert“werde, „je klarer und eindeutiger sich die ‚Erläuterungen’ zu einer spezifischen Frageerweisen“. Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag,Art. 52, Rn. 15 spricht davon, der „Wert der Erläuterungen für die Rechtserkenntnis“sei „begrenzt“.31 Müller/Christensen, (Fn. 2), S. 182.32 Der neue Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 <strong>EU</strong>V (Liss) ist ja nicht Bestandteil der Charta und daher auchnicht Gegenstand der Erläuterungen.33 So auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 52, Rn. 47 b. Während der Verhandlungenunter irischer Ratspräsidentschaft stand im Hinblick auf Art. II-112 Abs. 7 VVE als Alternativeeine bloße Sollvorschrift zur Auswahl (vgl. Dok. CIG 80/04, S. 21). Allerdings kannauch die Wahl des Imperativs die in der Formulierung der „gebührenden Berücksichtigung“liegende Mehrdeutigkeit nicht auflösen. Diese verbleibt insoweit Ausdruck eines bewusst inKauf genommenen Formelkompromisses.165


Unabhängig davon würde allerdings eine allzu strenge Ausrichtung der Interpretationam Maßstab der Erläuterungen zu einem systematischen Widerspruch innerhalbder Charta führen. Ohne die begleitende Aktualisierung der Erläuterungenwürde deren Auslegung gewissermaßen auf dem Stand der gegenwärtigen Rechtslageeingefroren. Zwar kommt dies der geschilderten britischen Verhandlungspositionrecht nahe. Ein solcher Ansatz ist aber mit den Regelungen von Art. 52 Abs. 2, 3und 4 GRC nicht in Einklang zu bringen. Diese Normen stellen den interpretatorischenGleichklang der Charta mit den entsprechenden Bestimmungen aus den Verträgen(Abs. 2), der EMRK (Abs. 3) sowie den allgemeinen Verfassungsüberlieferungender Mitgliedstaaten (Abs. 4) her, soweit das in Rede stehende Charta-Rechtauf eine oder mehrere dieser (Erkenntnis)Quellen rückführbar ist. Damit geht notwendigeinher, dass die Auslegung sich am aktuellen Stand dieser Quellen orientiert.34 Die Charta kann jedoch nicht einerseits eine dynamische Ausrichtung an deraktuellen Rechtslage vorschreiben, um andererseits unter Bezugnahme auf die Erläuterungenden dort aufgeführten Rechtsprechungsstand zum Zeitpunkt des Verhandlungsabschlussesals Auslegungsmaßstab vorzugeben. 35 Der Verweis auf dieErläuterungen ist damit nur eingeschränkt in den Rahmenbedingungen dynamischerRechtsfortbildung möglich.Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass Interpretation als Verständnisprozesszwar normativ beeinflussbar, nicht aber abschließend regelbar ist. Hinzukommenmuss stets ein Element schöpferischer intellektueller Eigenleistung. Gerade die ineiner Auslegungsregel enthaltene normative Vorgabe umfasst dieses über das reinRezeptive hinausgehende Produktive nicht. 36 Allenfalls vermag sie dem Auslegendeneinen erhöhten Rechtfertigungsdruck abzuverlangen, wenn er sich für eine andereDeutungsvariante entscheidet. Die Erläuterungen stellen zwar einen Ausgangspunktder Interpretation dar. Von diesem kann sich jedoch mit entsprechenden Gegenargumentengelöst werden.In der Rechtspraxis ist auf die Erläuterungen dennoch bereits mehrfach rekurriertworden. So berief sich Generalanwältin Stixt-Hackl in ihren Schlussanträgen zumFall Omega auf die Ausführungen zu Art. 51 GRC. 37 Den Erläuterungen wird zu-34 Beispielsweise muss ein in der Charta verbürgtes Grundrecht, das die „gleiche Bedeutungund Tragweite“ wie ein bestimmtes EMRK-Recht hat, unter fortlaufender Orientierung amMaßstab der Rechtsprechung des EGMR zu diesem Recht ausgelegt werden. In Bezug aufAbs. 3 wird darum auch treffend von einer „dynamischen Verweisungsklausel“ gesprochen,vgl. Borowsky: in: Meyer, GRC (Hrsg.), Art. 52, Rn. 37.35 Ein Beispiel für die Folgen, die sich hieraus ergeben können, liefert der Fall Roquette Frères(EuGH, Urteil vom 20.09.2002 – Rs. C-94/00 – Roquette Frères, Slg. 2002 I-9011 [9052ff.]). Hier änderte der EuGH seine alte Rechtsprechungslinie (EuGH, Urteil vom 21.09.1989– verb. Rs. 46/87 und 227/88 – Hoechst, Slg. S. 2859) in Bezug auf die Reichweite desSchutzes der Privatsphäre bei Geschäftsräumen und passte sie der des EGMR an (EGMR, Urteilvom 16.12.92, Ser. A, Nr. 251-B – Niemitz; EuGRZ 1993, 65 ff.).36 Vgl. dazu Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (3. Aufl. 1995), S. 69.37 Schlussanträge vom 18.03.2004 – Rs. C-36/02 – Omega, Rn. 55, Fn. 29. Vgl. auch GA Mischo,Schlussanträge vom 22. Februar 2001 – verb. Rs. C-122/99 P u. C-125/99 P – D undKönigreich Schweden / Rat , Rn. 97.166


weilen auch in wissenschaftlichen Analysen eine wichtige Rolle beigemessen. 38Noch bemerkenswerter aber ist, dass sowohl der französische Conseil constitutionnel39 als auch das spanische Tribunal Constitucional 40 in ihren Entscheidungen überdie Vereinbarkeit des Verfassungsvertrages mit der nationalen Verfassung explizitauf die Erläuterungen Bezug nahmen.Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Erläuterungen von den Gerichtenjedenfalls in den Auslegungsvorgang einzubeziehen sind, auf das Ergebnisdieser Interpretation aber keinen zwingenden Einfluss haben. In Abhängigkeit vonder inhaltlichen Aussagekraft der jeweiligen Erläuterung wird zwar so der Begründungsaufwandfür eine abweichende Entscheidung erhöht, die Referenznormenkönnen einen generellen Vorrang der Erläuterungen als Auslegungsmittel gegenüberanderen Interpretationsmitteln jedoch nicht begründen.III. Akzentverschiebungen nach Lissabon?Auslegung ist, wie bereits angedeutet wurde, kein Vorgang, der sich auf abschließendnormierbare Verständnisregeln oder festgesetzte Relationsaussagen zwischeneinzelnen Interpretationsmitteln reduzieren ließe. 41 Insoweit ist eine klare, hierarchieorientiertePositionierung der historischen Auslegung im Kanon der Interpretationsansätzefür das europäische Verfassungsrecht nicht möglich.Dennoch kann in Bezug auf das Primärrecht zumindest eine Akzentverschiebungim Vergleich zu ihrer früheren Bedeutung(slosigkeit) beobachtet werden.Im Hinblick auf das detaillierte Mandat ist jedenfalls festzuhalten, dass es als systematischeBrücke zwischen Verfassungs- und Reformvertrag für die Interpretationdes Reformvertrages nutzbringend herangezogen werden kann und dementsprechendauch bereits heute Ausgangspunkt wissenschaftlicher Analysen ist, selbst wenn esim Hinblick auf die Frage des „Verfassungscharakters“ mehr eintrübend als(er)klärend wirkt. Die Erörterung der auf die Erläuterungen zur Grundrechtechartaverweisenden Auslegungsregeln legt neben den klaren systemimmanenten Grenzender Erläuterungen als Interpretationsmittel aber auch offen, dass sie in der Praxisvon Rechtsprechung und Wissenschaft für die Auslegung der Charta der Grundrechteherangezogen werden und jedenfalls in den Interpretationsvorgang einzubeziehensind.38 Vgl. etwa die Kommentierung von Bourgogue-Larsen (Fn. 27), Art. II-112.39 Entscheidung des Conseil constitutionnel v. 19.11.2004, décision no. 2004-505 DC, Rn. 18 ff.Dazu Carcassonne, EuConst 2005, 293 ff. und Mayer, EuR 2004, 925 ff.40 Urteil des spanischen Tribunal Constitucional v. DTC 1/2004, Abschnitt II, Rn. 6. DazuBecker, Vorrang versus Vorherrschaft, EuR 2005, 353 ff.41 Gadamer charakterisiert das menschliche „Wissen“ um Recht insoweit treffend als stets„vom Einzelfall her ergänzt, ja geradezu produktiv bestimmt, vgl. ders., Wahrheit und Methode,6. Aufl. 1990, S. 44.167


Zudem ist die einleitend bereits erwähnte gesteigerte Transparenz des Verfahrensablaufs,insbesondere während der beiden Konvente, zu berücksichtigen. VerbesserteTransparenz und Zugänglichkeit der Entscheidungsprozesse sprechen apriori für eine verstärkte Einbeziehung des historischen Arguments, soweit das Materialaussagekräftig genug ist. Diese Entwicklung ist nicht nur zunehmend in derLiteratur, sondern auch, wie gesehen, bereits vereinzelt in der Rechtspraxis zu beobachten.Ob das zweifelsfrei gestiegene Anwendungspotenzial der historischenAuslegungsmethode in der künftigen Praxis aber auch hinreichend genutzt werdenund die kritische Masse erreichen wird, von der an es als gerechtfertigt erscheinenmag, von einer (Re-)Naissance der historischen Auslegungsmethode im europäischenVerfassungsrecht zu sprechen, wird letztlich nur die Zukunft zeigen.Gleichwohl ist hervorzuheben, dass mit einem erweiterten Anwendungsfeld derhistorischen Auslegungsmethode nicht automatisch eine gesteigerte argumentativeDurchschlagskraft der historischen Auslegung einherginge. Neben der schlichtenTatsache, dass die travaux préparatoires früher nicht veröffentlicht wurden, 42 liegtder Grund für die bislang eher untergeordnete Bedeutung der historischen Auslegunggerade auch in der Schlüsselrolle der systematisch-teleologische Interpretationals methodischem Instrument dynamischer und evolutiver Fortentwicklung europäischenVerfassungsrechts. Eine mögliche Bedeutungsaufwertung der historischenAuslegungsmethode hätte insoweit Einfluss auf Grundfragen europäischer Verfassungsentwicklung.Der europäischen Rechtsordnung kommt bekanntlich aber weniger eine statischeOrdnungs-, als vielmehr eine dynamische Integrationsfunktion zu. 43 Diese darf beider Frage der Auslegung keinesfalls ausgeblendet werden. Das Inkrafttreten desVertrages von Lissabon wird keinen Wandel hin zu einer statischen oder gar geschlossenenRechtsordnung bedeuten. Auch die zukünftige Gestalt der EuropäischenUnion ist prägend durch Zielbestimmungen und eine offene Finalität gekennzeichnet.Diese spezifische Dynamik der europäischen Rechtsordnung markiert damitgleichsam die Grenze der Zulässigkeit historischer Auslegungsmittel.42 Bzgl. der Gründungsverträge wurde das Material nach Ablauf der dreißigjährigen Sperrzeitmittlerweile gesichtet und zusammengestellt, vgl. Schulze/Hoeren (Hrsg.) Dokumente zumEuropäischen Recht, 3 Bd. (1999 u. 2000).43 Bleckmann, Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung im Europäischen Gemeinschaftsrecht,in: Gedächtnisschrift Constantinesco, S. 61 (65 f.).168


Einzelne PolitikbereicheDer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach dem Reformvertrag– Kontinuierliche Verfassungsgebung in schwierigemTerrainProf. Dr. Matthias Ruffert ∗I. Innere Sicherheit als zentrales PolitikfeldUnter den Themen, die neben dem großen Komplex „Wirtschaft und Soziales“ dieöffentliche Debatte beherrschen, nimmt das Spannungsfeld zwischen Freiheit undSicherheit ohne jeden Zweifel eine herausragende Rolle ein. Seit den Erschütterungender Anschläge vom 11. September 2001 sowie den schrecklichen europäischenNachfolgetaten in Madrid und London beherrscht das Sicherheitsthema die Schlagzeilen.Wie viel Freiheit kann geopfert werden, um welches Maß an Sicherheit gewährleistenzu können? 1Schon lange vor diesen Ereignissen hatte sich die <strong>EU</strong> der inneren Sicherheit angenommenund der Europäische Rat von Tampere 1999 den Raum der Freiheit, derSicherheit und des Rechts proklamiert. 2 Die auf dieser Basis entwickelte unionaleSicherheitspolitik ist ausgesprochen weitreichend. 3 Entsprechend gravierend sind dieRechtsprobleme, die in diesem Kontext ausgelöst werden. Erinnert sei nur an denRechtsstreit vor dem EuGH über das Abkommen der <strong>EU</strong> mit den USA zur Übermittlungvon Fluggastdaten 4 . Erinnert sei auch an die Kontroverse um den EuropäischenHaftbefehl – das streitbare Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2006 5 undnunmehr die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Advocaaten voor de Wereld6 . Aktuell wird die Problematik der Vorratsdatenspeicherung – nicht nur, aber∗ Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrechtan der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die Ausführungen sind nachträgliche Aufzeichnungdes kurzen Statements in <strong>Berlin</strong> am 26. Oktober 2007.1 Statt aller Calliess, DVBl. 2003, 1096.2 S. die Schlußfolgerungen des Vorsitzes zum Europäischen Rat von Tampere (15./16.10.1999), abrufbar unter http://www.europarl.eu.int/summits/tam_de.htm.3 S. die Übersicht bei Suhr, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verf<strong>EU</strong>, 2006, Art. I-42, Rn. 3 ff.4 EuGH verb. Rs. 317/04 und 318/04 – EP/Rat, Slg. 2006, I-4722.5 BVerfGE 113, 273.6 EuGH Rs. 303/05 – Advocaaten voor de Wereld, Slg. 2007, I-3633. Dazu die Anmerkung vonSchmahl, Der Europäische Haftbefehl vor dem EuGH: Des Rechtsstreits letzter Teil?, DVBl.2007, 1463.169


esonders intensiv auch in Deutschland – heftig diskutiert 7 . Soll es wirklich demGrundrechtsstandard in der <strong>EU</strong> entsprechen, wenn sämtliche Telekommunikationsdatenüber Monate gespeichert werden? Der EuGH ist in dieser Sache bereits angerufenworden, allerdings im kompetenzrechtlichen Kontext mit einer von Irlandangestrengten Nichtigkeitsklage 8 .Auch im Vorfeld des Verfassungsgebungsprozesses, der nun mit dem Reformvertrageinen mehr als nur vorläufigen Abschluß finden soll, ist die Thematik besondersintensiv diskutiert worden 9 . Der beinahe überraschende Abschluß: Im Reformvertragsind spektakuläre Änderungen ausgeblieben.II. Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des RechtsIm Zentrum steht das Verfassungsziel in Art. 3 Abs. 2 <strong>EU</strong>V n.F.:„Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit unddes Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezugauf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütungund Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“Die <strong>EU</strong> hat sich mit dieser Zielbestimmung endgültig als Sicherheitsunion etabliert.Die Binnenmarktorientierung gerade beim freien Personenverkehr bleibt erhalten,doch reichen die Aufgaben der <strong>EU</strong> mittlerweile weit darüber hinaus. Kooperationsvorteilekönnen gerade im sensiblen Bereich der Politik innerer Sicherheit genutztwerden.III. Substantielle NeuerungenIm A<strong>EU</strong>V – dem EGV in der Fassung des Vertrages von Lissabon – sind auf dieserGrundlage die verschiedenen Politikfelder zur Errichtung des Raumes der Freiheit,der Sicherheit und des Rechts zusammengefaßt, nämlich− Grenzkontrollen, Asyl und Zuwanderung,− Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen,− Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und− Polizeiliche Zusammenarbeit.In allen diesen Bereichen hat die <strong>EU</strong> schon vor dem Reformvertrag umfassendeAktivitäten entfaltet. Neuerungen betreffen – allerdings sehr wichtige – Einzelhei-7 Bizer, DuD 2007, 586; Gietl, K&R 2007, 545; Puschke/Singelnstein, NJW 2008, 113 (118);Gola/Klug/Reif, NJW 2007, 2599.8 Klage Irlands: Rs. C-301/06, ABl.<strong>EU</strong> 2006 Nr. C 237/9.9 S. die Zusammenfassung in Ruffert, Die unionsverfassungsrechtlichen Grundlagen desRaums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Eckhard Pache (Hrsg.), Die EuropäischeUnion – Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts?, Baden-Baden 2005,S. 14.170


ten. Sie sind sämtlich schon in Konventsentwurf und Verfassungsvertrag enthaltengewesen. Die Debatte um die Politik der inneren Sicherheit hat sich mithin im Verfassungsgebungsprozessberuhigt und zu einem stabilen Ergebnis geführt. Im Detailgeht es um folgende Neuerungen:− Einrichtung einer neuen Kompetenz für Maßnahmen betreffend Pässe, Personalausweise,Aufenthaltstitel o.ä. (durch Wegfall von Art. 18 Abs. 3 EGV),− Festlegung von strategischen Leitlinien im Bereich innerer Sicherheit durch den−Europäischen Rat (Art. 68 A<strong>EU</strong>V n.F./61a A<strong>EU</strong>V),Einrichtung einer spezifischen Evaluationskompetenz (Art. 70 A<strong>EU</strong>V n.F./61cA<strong>EU</strong>V),− Einrichtung einer Kompetenz für ein einheitliches Grenzschutzsystem (Art. 77Abs. 1 lit. c bzw. Abs. 2 lit.d A<strong>EU</strong>V n.F./62 Abs. 1 lit. c bzw. Abs. 2 lit.d A<strong>EU</strong>V),−−−Einrichtung einer Kompetenz zur Einführung einheitlicher Asylregelungenanstelle von bloßen Mindestvorschriften (Art. 78 A<strong>EU</strong>V n.F./63 A<strong>EU</strong>V),Aufnahme des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen undEntscheidungen in das Verfassungsrecht (Art. 81 Abs. 1 und 82 Abs. 1 A<strong>EU</strong>Vn.F./Art. 65 Abs. 1 und 69a Abs. 1 A<strong>EU</strong>V),Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft durch besonderes Gesetzgebungsverfahren(Art. 86 A<strong>EU</strong>V n.F./Art. 69e A<strong>EU</strong>V).IV. Gemeinschaftsmethode im Recht der inneren SicherheitIm Vorfeld sowie im Verlauf des Verfassungsgebungsprozesses war vor allem dieEinführung neuer Mehrheitserfordernisse im Bereich der inneren Sicherheit umstritten.Die Nichtigkeitsklage Irlands zeigt die Substanz der Streitfrage eindrucksvollauf. Mehrheitsentscheidungen sind nunmehr möglich in folgenden Fällen:−Verwaltungszusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres (Art. 74 A<strong>EU</strong>Vn.F./ 61g A<strong>EU</strong>V),− Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen (Art. 79 Abs. 2 A<strong>EU</strong>V n.F./63a Abs. 2A<strong>EU</strong>V),− Maßnahmen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 82und 83 A<strong>EU</strong>V n.F./Art. 69a und b A<strong>EU</strong>V). Für das materielle Strafrecht sowiedas Strafprozeßrecht gelten allerdings mitgliedstaatliche Vorbehaltsregelungen,−im Familienrecht – und damit in der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen– ist ein Übergang zu Mehrheitsentscheidungen nach entsprechendem einstimmigenRatsbeschluß möglich (Art. 81 Abs. 3 A<strong>EU</strong>V n.F./65 Abs. 3 A<strong>EU</strong>V).Schließlich wird das Initiativrecht der Mitgliedstaaten insoweit modifiziert, alsnunmehr nicht ein einzelner Mitgliedstaat innenpolitische Initiativen ergreifen kann,sondern hierfür ein Viertel der Mitgliedstaaten erforderlich ist(Art. 76 A<strong>EU</strong>V n.F./61i A<strong>EU</strong>V). Das Initiativrecht der Kommission bleibt erhalten.171


V. Freiheit – Sicherheit – Recht: Ein harmonischer Dreiklang?Alles in allem ist es weniger eine Frage der Verfassungsgebung, sondern der politischenPraxis, wie sich die Politik der inneren Sicherheit in der <strong>EU</strong> entwickeln wird.Der Anfälligkeit dieses Politikfeldes für tagespolitische Strömungen ist eine effektiverechtliche Steuerung gegenüberzustellen, die dem Dreiklang Freiheit – Sicherheit– Recht zu seiner vollen akustischen Entfaltung verhilft. Die Freiheit der Unionsbürgergilt es zu gewährleisten – sowohl die spezifisch europarechtliche Freiheit zugrenzüberschreitender Aktivität als auch die persönliche Freiheit vor übermäßigem,sicherheitspolitischem Zugriff. Hiervor schützen gegenwärtig in erster Linie nochmitgliedstaatliche Zustimmungsvorbehalte, doch die Zukunft gehört dem Grundrechtsschutzauf der Basis der in den neuen <strong>EU</strong>V inkorporierten Grundrechtecharta(Art. 6 Abs. 1 <strong>EU</strong>V n.F.), dessen prozessuale Flankierung einer Stärkung bedarf.Insofern ist auch der weitgehende Wegfall der Restriktionen für den Gerichtshof inArt. 35 <strong>EU</strong>V zu begrüßen. Die Sicherheit der Unionsbürger darf durch die Politikder Union in diesem Bereich nicht aus dem Auge verloren werden. Effektive sicherheitspolitischeKooperation in der Europäischen Union kann erheblich zu Akzeptanzund Legitimation der supranationalen Herrschaftsform beitragen. Mittel zur Erreichungdieser Ziele ist das Recht: Die Rechtsgemeinschaft Walter Hallsteins erhält inder Union der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts eine den Fragen des beginnendendritten Jahrtausends eigene, moderne Prägung.172


Außenverfassungsrecht nach dem Lissaboner VertragDr. Daniel Thym *Die Reform des auswärtigen Handelns gehörte zu den Kernthemen des Verfassungsprozesses:Zwei Arbeitsgruppen des Europäischen Konvents befassten sich mitden auswärtigen <strong>EU</strong>-Politiken; in der öffentlichen Debatte wurden der Außenministerund die Verteidigungspolitik diskutiert – auch vor den Referenden in Frankreichund den Niederlanden; schließlich erreichte das Vereinigte Königreich auf der kurzenRegierungskonferenz des Jahres 2007 eine fortgesetzte Sonderbehandlung derGemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Angesichts dieser Bedeutungdes auswärtigen Handelns im Entstehungsprozess eignet sich die Analyse der entsprechendenRegelungen im Lissaboner Vertrag in besonderer Weise zur Veranschaulichungder Tragweite des neuen Reformvorhabens. 1Hierbei ergibt die Gegenüberstellung des Vertrags von Nizza, des Verfassungsvertragsund der künftigen Rechtslage aufgrund des Vertrags von Lissabon keinekategorialen Unterschiede der verfassungsrechtlichen Grundlagen des auswärtigenHandelns – trotz der Bedeutung jeder Änderung für sich genommen. Stattdessenentsteht das Gesamtbild eines inkrementellen Wandels aufgrund wiederholter Reformenseit der Begründung der GASP durch den Vertrag von Maastricht, dieschrittweise die auswärtige Gewalt der Europäischen Union stärken. Insbesonderebegründen die Unterschiede zwischen dem Verfassungsvertrag und dem Vertrag vonLissabon keinen Rückschritt der verfassungsrechtlichen Ambitionen. Dieses Ergebnisgründet letztlich darauf, dass die Bedeutung der jeweiligen Änderungen überzeichnetwurde – und zwar sowohl die Neuheiten des Verfassungsvertrags als auchderen teilweise Rücknahme aufgrund des Reformvertrags.Diese These eines Zwischenstopps im Prozess der zunehmenden Formalisierungund Verrechtlichung der europäischen auswärtigen Gewalt soll nachfolgend anhandsechs repräsentativer Einzelfragen begründet werden: Fortbestand der intergouvernementalenzweiten Säule, Umbenennung des Außenministers, Ausformulierung derVerteidigungspolitik, kollektive Verteidigung und Solidaritätsklausel, Kohärenz derverschiedenen Politikbereiche sowie Reform der supranationalen Außenbeziehungen.Die Neuerungen des Vertrags von Lissabon schreiben frühere Reformen aufgrundder Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza fort, begründen aber* Der Verfasser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Walter-Hallstein-Institut für europäischesVerfassungsrecht und Postdoktorand im Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staates:von der europäischen zur globalen Rechtsgemeinschaft?“ an der Humboldt-Universität zu<strong>Berlin</strong>; ich danke Ingolf Pernice für die langjährige Unterstützung als wissenschaftlicher Lehrer.1 Zur Entstehungsgeschichte der neuen Bestimmungen Grevi, The Institutional Framework ofExternal Action, in: G. Amato/H. Bribosia/B. de Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de laConstitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l'Europe àla lumière des travaux préparatoires et perspectives d'avenir (2007), S. 773 (776-784).173


keinen Quantensprung durch eine Vergemeinschaftung. Entsprechend dem Schwerpunktder Reformdiskussion konzentriert sich die nachfolgende Darstellung auf dieVertragsgrundlagen der GASP im <strong>EU</strong>-Vertrag; auf ihrer Grundlage werden die Konturendes künftigen Außenverfassungsrechts der Europäischen Union erkennbar.I. Fortbestand der intergouvernementalen VertragsgrundlageEine wichtige Errungenschaft des Verfassungsvertrags war die Überwindung deraktuellen Säulenstruktur. Stattdessen wurde die Union als einheitliche Rechtspersönlichkeitaufgrund einer einheitlichen Verfassungsurkunde konzipiert. Dagegen bewahrtder Vertrag von Lissabon die Unterscheidung zwischen <strong>EU</strong>-Vertrag und demArbeitsweise-Vertrag aufgrund eines Nebeneinanders zweier Verträge – und erleichtertdamit der britischen (und der französischen) Regierung den Verzicht auf einReferendum, das jeweils nur für den Verfassungsvertrag versprochen worden war. 2Neben dem symbolischen Verzicht auf eine einheitliche Verfassungsurkunde kommtder förmlichen Beibehaltung der „zweiten Säule“ zur GASP eine besondere Bedeutungzu. Hier findet die Fortsetzung des status quo ihren sichtbarsten Ausdruck; dieeigenständige Normierung im <strong>EU</strong>-Vertrag soll klarstellen, dass der Reformvertragkeine Vergemeinschaftung der GASP bewirkt. Entsprechend bestimmt Artikel 24<strong>EU</strong>V-Liss. ausdrücklich: „Für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geltenbesondere Bestimmungen und Verfahren.“ Eine ergänzende Erklärung stellt sogarfest, dass der künftige <strong>EU</strong>-Vertrag „die bestehenden Rechtsgrundlagen, Zuständigkeitenund Befugnisse der einzelnen Mitgliedstaaten in Bezug auf die Formulierungund Durchführung ihrer Außenpolitik ... nicht berühr(t).“ 3Soweit die restriktive Sprache der neuen Bestimmungen, die jeden Eindruck einerVergemeinschaftung der GASP im Keim ersticken. Bei einer Betrachtung der rechtlichenDetails ändert sich in der Sache gegenüber dem Verfassungsvertrag gleichwohlwenig. Auch dessen Bestimmungen waren nämlich auf Drängen vor allem desVereinigten Königreichs so konzipiert, dass die GASP hinter der Fassade eines einheitlichenDokuments eine Enklave der Intergouvernementalität innerhalb des Verfassungsvertragsbegründete. 4 Bei näherer Untersuchung sind die Rechtsgrundlagenund Entscheidungsverfahren der GASP nach dem Verfassungsvertrag und dem Vertragvon Lissabon weitgehend identisch. Zwar erhebt der Vertrag von Lissabonbewusst die textliche Formulierung der aktuellen Artikel 11-28 <strong>EU</strong>V-Nizza zurGrundlage der neuen Bestimmungen; in der Sache wurden sodann allerdings alleNeuerungen der früheren Artikel III-294-308 VVE sorgsam eingearbeitet. Hiernach2 Zur Beibehaltung von zwei getrennten Verträgen als Ausdruck einer Abkehr vom Verfassungsprojektdas (britische) White Paper: The Reform Treaty. The British Approach to the<strong>EU</strong> Intergovernmental Conference, Juli 2007, http://www.fco.gov.uk/.3 Erklärung (Nr. 33) zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.4 Ausführlich Cremona, CML Rev. 40 (2003), 1347 (1350-1361) und Thym, AVR 42 (2004),44 (47-52).174


finden sich alle wichtigen Reformschritte des Verfassungsvertrags im LissabonerNachfolgewerk wieder.Dies gilt zuerst für die Einführung einer einheitlichen Rechtspersönlichkeit derEuropäischen Union, welche das gegenwärtige Nebeneinander von Gemeinschaftund Union beseitigt und zugleich klarstellt, dass die Union in Übereinstimmung mitder völkervertragsrechtlichen Praxis der vergangen Jahre im Rahmen der GASPeigenständige Verträge mit Drittstaaten zu schließen berechtigt ist. 5 Auch die Handlungsformender GASP folgen der etablierten Praxis des status quo und des Verfassungsvertrags.Zwar bestimmt der neue Vertrag ausdrücklich: „Der Erlass von Gesetzgebungsaktenist ausgeschlossen“. 6 Dies bekräftigt jedoch die Eigenart vonGASP-Beschlüssen, die nicht auf Gesetzgebung im Sinn eines direkten Zugriffs aufdie Rechtspositionen von Individuen ausgerichtet sind, sondern auf die Koordinierungder mitgliedstaatlichen Außenpolitiken. 7 Eine Übertragung eigenständigerUnionskompetenzen, die mit supranationaler Durchgriffswirkung ausgeübt werden,ist nach dem geltenden und künftigen Vertragsrecht weder vorgesehen noch notwendig;eine unmittelbare und vorrangige Anwendung des Unionsrechts scheidetaus – ungeachtet seiner rechtlichen Verbindlichkeit. 8 Die Ratspraxis bestätigt, dassGASP-Rechtsakte nur dort angenommen werden, wo die Bereitstellung von Personalund Geldmitteln eine förmliche Rechtsgrundlage erfordert; die Koordinierungder nationalen Außenpolitiken beruht dagegen auf nichtförmlichen Vereinbarungen. 9Die fehlende Relevanz der Entscheidungsverfahren und Handlungsformen derGASP mag daran liegen, dass der <strong>EU</strong>-Vertrag bislang vor dem entscheidendenSchritt zurückschreckt, eine Beschlussfassung gegen den erklärten Willen eines5 Vgl. Art. 47 <strong>EU</strong>V-Liss. und entsprechend zuvor Art. I-7 VVE; aufgrund des Abschlusses vonmehr als sechzig Verträgen mit zahlreichen Drittstaaten und Internationalen Organisationenseit dem Jahr 2001 auf Grundlage der Art. 24, 38 <strong>EU</strong>V-Nizza steht fest, dass die <strong>EU</strong> bereitsheute über eine eigene Völkerrechtspersönlichkeit verfügt, welche diejenige der EG ergänzt;näher Thym, ZaöRV 66 (2006), 863.6 Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3 <strong>EU</strong>V-Liss.7 Zu den besonderen Handlungsformen der GASP Art. 12 ff. <strong>EU</strong>V-Nizza, Art. III-294 ff. VVEund Art. 25 ff. <strong>EU</strong>V-Liss.; zu keinem Zeitpunkt wurde eine Angleichung an die Gemeinschaftsmethodeunternommen; deutlich zeigt dies der Unterschied zur vormaligen drittenSäule, deren Handlungsformen schrittweise dem Normalfall des Art. 249 EGV-Nizza angenähertwurden; dagegen bleibt die GASP auch nach dem Verfassungsvertrag vom Gesetzgebungsverfahrenausgeschlossen.8 Ausführlicher Thym (Fn. 5), S. 900 ff. und ders., Auswärtige Gewalt, in: von Bogdandy(Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht (2. Aufl. 2008), Abschnitt IV.3 (im Erscheinen).9 Anstelle Gemeinsamer Strategien und Positionen werden zumeist öffentlichkeitswirksameRatsschlussfolgerungen, Erklärung der Präsidentschaft und informale Strategiepapiere angenommen,die man rechtlich allenfalls als soft law zu qualifizieren vermag; näher E. Regelsberger,Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der <strong>EU</strong>. Konstitutionelle Angeboteim Praxistest (2004), S. 90 ff.; positiver Dashwood, The Law and Practice of CFSP Joint Actions,in: Cremona/de Witte (Hrsg.), <strong>EU</strong> Foreign Relations Law. Constitutional Fundamentals(2008), im Druck.175


Mitgliedstaats zu ermöglichen. 10 Hier unternimmt der Vertrag von Lissabon einebedeutsame Neuerung, wenn er eine Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungenermöglicht. Dies gilt zuerst für spezielle Ersuchen des Europäischen Rats,welche einer Mehrheitsentscheidung politische Legitimität verleihen und verhindernsollen, dass vermeintliche Durchführungsfragen einer Einigung im Wege stehen. 11Ergänzt wird diese ad-hoc-Regelung durch eine allgemeine Bestimmung, die fürbestimmte Sachfragen oder geografische Regionen den schrittweisen Übergang zuqualifizierten Mehrheitsentscheidungen generell ermöglicht. Hiernach entscheidetder Europäische Rat einstimmig über den verfassungsimmanenten Übergang zuqualifizierten Mehrheitsentscheidungen, gegebenenfalls nach einer Einschaltung dernationalen Parlamente. 12 Eine erleichterte Beschlussfassung ermöglicht auch dieverstärkte Zusammenarbeit mit Wirkung für einige Mitgliedstaaten, welche künftigim gesamten Anwendungsbereich der GASP ermöglicht wird. 13Die Aufnahme dieser Evolutivklauseln ist zu begrüßen; sie erlaubt eine schrittweiseAnpassung der Entscheidungsverfahren entsprechend der Bereitschaft derMitgliedstaaten zur förmlichen Einschränkung ihrer außenpolitischen Entscheidungshoheit.Hiernach kann eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in der tagespolitischenPraxis im Idealfall die Grundlage für einen schrittweisen Übergang zu Mehrheitsentscheidungenbereiten – zumal für besonders sensible Beschlüsse mit militärischenund verteidigungspolitischen Bezügen dauerhaft eine einstimmige10 Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen nach Art. 23 Abs. 2 <strong>EU</strong>V-Nizza greifen nur dort, wozuvor einstimmig eine europäische Position vereinbart wurde und sind dauerhaft durch dieKodifizierung einer modifizierten Fassung des Luxemburger Kompromisses relativiert.11 Vgl. Art. 31 Abs. 2 Sps. 2 <strong>EU</strong>V-Liss. und entsprechend zuvor Art. III-300 Abs. 2 Buchst. bVVE; die frühere Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen gemäß Art. 23 Abs. 2<strong>EU</strong>V-Nizza aufgrund des Vertrags von Amsterdam bewirkte keine Änderung des Abstimmungsverhaltensin der Verfassungswirklichkeit; näher Regelsberger (Fn. 9), S. 118 ff.12 Unklar bleibt das Verhältnis der speziellen Regelung hinsichtlich eines einstimmigen Beschlussesdes Europäischen Rats in Art. 31 Abs. 3 <strong>EU</strong>V-Liss. zum vereinfachten Vertragsänderungsverfahrendes Art. 48 Abs. 7 <strong>EU</strong>V-Liss., das ausdrücklich die GASP einbezieht,zugleich jedoch eine ergänzende Einspruchsmöglichkeit der nationalen Parlamente vorsieht;wegen der ausdrücklichen Nennung der GASP in beiden Vorschriften fällt eine Abgrenzungim Wege der Auslegung nicht notwendig zu Gunsten der lex specialis der GASP aus; in derPraxis ist die Unterscheidung relativiert, weil insbesondere die britische Regierung ihre Zustimmungim Europäischen Rat innerstaatlich in beiden Fällen von einer Zustimmung desParlaments abhängig macht; vgl. House of Commons Foreign Affairs Select Committee: ForeignPolicy Aspects of the Lisbon Treaty, 3rd Report, Session 2007/8,http://www.parliament.uk, Rn. 88.13 Nach der speziellen Bestimmung der Art. 333 Abs. 1, 329 A<strong>EU</strong>V-Liss. besteht kein formellesEinspruchsrecht der nationalen Parlamente gegen die Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungenim Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit, die allgemein den Vorzug besitztzögernde Mitgliedstaaten nicht zu umfassen und mithin auch einstimmige Beschlüsse leichterermöglicht; allerdings ist die Teilnahme möglichst vieler Mitgliedstaaten in der Außenpolitikaus strukturellen Gründen besonders wichtig; ausführlicher Thym (Fn. 4), S. 52-58 und zurbegrenzten außenpolitischen Flexibilität des Nizzaer Vertragswerks ders., Ungleichzeitigkeitund europäisches Verfassungsrecht (2004), S. 159 ff. (online unterhttp://www.ungleichzeitigkeit.de).176


Beschlussfassung gilt und die modifizierte Kodifizierung des Luxemburger Kompromissesin allen anderen Fällen eine rechtliche „Notbremse“ aus „wesentlichenGründen der nationalen Politik“ bereitstellt. 14 Die intergouvernementale Kontrolleder Mitgliedstaaten über die GASP wird abgesichert durch den nahezu vollkommenenAusschluss der supranationalen Organe. Bei der entsprechenden Stellung vonKommission, Parlament und Gerichtshof wird der begrenzte Reformeifer des Verfassungsprozessesbesonders deutlich. In bemerkenswerter Kontinuität wird dieintergouvernementale Entscheidungsfindung in der GASP fortgeführt – im Vertragvon Lissabon nicht anders als im Verfassungsvertrag. 15Dessen ungeachtet sei davor gewarnt, die Bedeutung von Handlungsformen undEntscheidungsverfahren für die GASP zu überschätzen. 16 Es besteht ein sachlicherUnterschied zur supranationalen Integrationsmethode des EG-Vertrags: Letztereberuht auf einer Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten;dieses Modell kann die Union nicht einseitig auf ihre internationalen Beziehungenübertragen. Selbst wenn alle Mitgliedstaaten einen GASP-Rechtsakt in der Praxisbefolgen, als ob es sich um einen unmittelbar anwendbaren supranationalen Rechtsakthandelte, ist das keine hinreichende Erfolgsbedingung europäischer Außenpolitik.Iran wird nicht auf sein Atomprogramm verzichten, weil die <strong>EU</strong> eine GemeinsamePosition diesen Inhalts annimmt und im Amtsblatt veröffentlicht. Stattdessenverlangt erfolgreiche Außenpolitik ein politisches Engagement, das die Verständigungauf strategische Zielsetzungen verbindet mit der Entwicklung und beständigenAnpassung von Methoden ihrer Durchsetzung. Erfolgreiche europäische Außenpolitikerfordert eine sachliche Klugheit des strategischen Vorgehens und die politischeUnterstützung der Mitgliedstaaten – nicht notwendig eine Rechtsförmlichkeit derBinnenbeschlüsse. 17Aus der Beibehaltung der zweiten Säule aufgrund des Vertrags von Lissabonfolgt: Die Sprache und Struktur des Vertragswerks stellen einen Integrationsrückschrittdar, nicht aber die Substanz der Bestimmungen; diese begründeten schon im14 Zur Kodifizierung des Luxemburger Kompromisses Art. 31 Abs. 2 <strong>EU</strong>V-Liss., der zugleichvon „wesentlichen“ statt den bisherigen „wichtigen“ Gründen spricht; entsprechend zuvorArt. III-300 Abs. 2 VVE und Art. 23 Abs. 2 <strong>EU</strong>V-Nizza. Zum Ausschluss qualifizierterMehrheitsentscheidungen bei militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen Art. 31Abs. 4, 48 Abs. 7 <strong>EU</strong>V-Liss. und Art. 333 Abs. 2 A<strong>EU</strong>V-Liss. und zu deren ReichweiteThym, ebd. 167-169; zuvor ebenso Art. I-41 Abs. 4, III-300 Abs. 4, 422 Abs. 3 VVE undArt. 23 Abs. 2 <strong>EU</strong>V-Nizza.15 Bemerkenswert ist der nahezu umfassende Ausschluss des Europäischen Parlaments nachArt. 36 <strong>EU</strong>V-Liss., Art. III-304 VVE und Art. 21 <strong>EU</strong>V-Nizza, welche im wesentlichen derRegelung in der Einheitlichen Europäischen Akte entsprechen; ausführlicher Thym, EFA Rev.11 (2006), 109. Ähnliches gilt für den Gerichtshof, der nach Art. 275 A<strong>EU</strong>V-Liss., Art. III-376 VVE nur für Sanktionsbeschlüsse eine gegenüber Art. 46 <strong>EU</strong>V-Nizza erweiterte Zuständigkeiterfährt; näher Garbagnati Ketvel, ICLQ 56 (2006), 77.16 Die Grenzen rechtlicher Integration in der GASP bestätigt Cremer, EuGRZ 2004, 587(589 f.).17 Hierzu wiederum Thym (Fn. 8), Abschnitt IV.3 (i.E.).177


Verfassungsvertrag keine Supranationalisierung der GASP. Es bleibt bei der intergouvernementalenZusammenarbeit im Rahmen der GASP, die aufgrund eines inkrementellenWandels durch Fortschreibung früherer Reformen schrittweise dasVerfassungsrecht der europäischen auswärtigen Gewalt ausbaut.II. Umbenennung des AußenministersDer Posten des Außenministers und die Einrichtung eines Auswärtigen Dienstessind die zentralen Errungenschaften des Verfassungsvertrags im Bereich der auswärtigenGewalt. Hierdurch soll das kompetitive Nebeneinander von Kommission undRat beendet werden und der europäischen Außenpolitik Gehirn und Stimme verliehenwerden. Auch insoweit begründet der Vertrag von Lissabon einen sprachlichenReformrückschritt, bewahrt jedoch die inhaltliche Substanz des Verfassungsvertrags.Es kommt zu einer Umbenennung des „Außenministers der Union“ (UnionMinister for Foreign Affairs) in einen „Hohen Vertreter der Union für Außen- undSicherheitspolitik“ (High Representative of the Union for Foreign Affairs and SecurityPolicy) 18 – eine insoweit missverständliche Bezeichnung als seine Zuständigkeitanders als beim gegenwärtigen „Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- undSicherheitspolitik“ (High Representative for the Common Foreign and SecurityPolicy) gerade nicht auf die GASP nach dem <strong>EU</strong>-Vertrag beschränkt ist, sondern diesupranationalen Außenbeziehungen umfasst.Die Änderung des Titels ist zuerst eine Reaktion auf den Wunsch verschiedenerRegierungen, sprachlich die Integrationsschraube zu lockern, um auf einer symbolischenEbene vom Verfassungsvertrag und dem politischen Versprechen eines Referendumszu dessen Ratifikation abzurücken. Es würde jedoch zu kurz greifen, dieNamensänderung aufgrund einer streng juristischen Betrachtung als irrelevant beiseitezu schieben. Wenn es nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen zutrifft,dass Außenpolitik anders als Binnenrechtssetzung nicht in erster Linie durch dieBewirkung von Rechtsfolgen geprägt ist, sondern ein politisches Engagement verlangt,das inhaltliche Positionen aufgrund diplomatischen Vorgehens durchsetzt,bewirkt die Namensänderung reale Folgen. Die konstruktivistische Denkschule derPolitikwissenschaft hilft beim Verständnis, dass die soziale Konstruktion der europäischenAußenpolitik einen wichtigen Beitrag zum schrittweisen Erfolg der GASPin den vergangenen Jahren leistete. Die Zusammenarbeit der beteiligten Akteure undihre Wahrnehmung in den Augen der Öffentlichkeit und von Drittstaaten werdendurch Selbstverständnis und Präsentation des europäischen Handelns beeinflusst. 1918 So die offizielle Amtsbezeichnung in Art. I-28 VVE im Vergleich zur neuen Bestimmung desArt. 18 <strong>EU</strong>V-Liss.; man beachte, dass in der englischen Sprachfassung der Unterschied zurnachfolgend aufgeführten Bezeichnung des gegenwärtigen Hohen Vertreters sichtbarer ist.19 Vgl. zumeist aufgrund einer Verbindung konstruktivistischer Ansätze mit Erklärungsmodellendes Realismus und des Institutionalismus Glarbo, Reconstructing a CFSP, in: Christiansen/Jørgensen/Wiener(Hrsg.), The Social Construction of Europe (2001), S. 140 (142),178


Hiernach unterstützt allein die Bezeichnung „Außenminister“ die Effektivität europäischerAußenpolitik – umgekehrt bedeutet der bewusste Verzicht auf den Titel,dass die reale Wirkungskraft der Symbolik nicht eintritt.Dessen ungeachtet kann man darüber streiten, ob die Bezeichnung „Hoher Vertreter“die Befugnisse des bisherigen Außenministers nicht besser kennzeichnet. Gegenwärtigist die vertragliche Rolle des Hohen Vertreters auf die Unterstützung desRatsvorsitzes beschränkt und er darf eigenständige Repräsentationsaufgaben nur„auf Ersuchen“ des Rates wahrnehmen. 20 Hieran ändert sich unter Geltung des Verfassungsvertragsund in seiner Folge des Vertrags von Lissabon nichts grundlegendes:Der Hohe Vertreter und vormalige Außenminister bleibt von der regelmäßigeinstimmigen Zustimmung der Mitgliedstaaten zu außenpolitischen Maßnahmenabhängig; ohne Zustimmung des Rates darf er keine eigenen Initiativen im Namender Union starten. Die Existenz eines Außenministers hätte die Spaltung Europaswährend des Irak-Kriegs nicht verhindert; mangels Einigkeit im Rat wäre EuropasStimme stumm geblieben. Aus diesem Grund sollte die Reformdebatte keinesfallsauf die greifbare Frage der Außenvertretung beschränkt bleiben, sondern die vorstehendausgeführten Grundlagen der auswärtigen Gewalt gleichberechtigt in die Analyseeinbeziehen.Gleichwohl unternimmt der Vertrag von Lissabon in Fortfolge des Verfassungsvertragseinige bedeutsame Neuerungen, welche in der Verfassungswirklichkeit eineweitere Stärkung des Hohen Vertreters bewirken könnten – entsprechend der Erkenntnis,dass Javier Solana beträchtlichen Einfluss gewann und vom Rat wiederholtmit wichtigen diplomatischen Missionen betraut wurde. Insbesondere die Leitungder neuen Ratsformation „Auswärtige Angelegenheiten“ und die generalisierteVertretungsbefugnis anstelle der Ratspräsidentschaft, sein außenpolitisches Vorschlagsrecht,die Übersicht über die Durchführung der GASP und der Zugriff aufden ministerialbürokratischen Unterbau im Europäischen Auswärtigen Dienst bewirkeneine Vielfalt an Einflussmöglichkeiten an den Schaltstellen außenpolitischenHandelns, welche dem Außenminister eine institutionelle Schlüsselstellung sichern.21 Hinzu treten seine Befugnisse als Vizepräsident der Kommission gemäßØhrgaard, International Relations or European Integration: Is the CFSP sui generis?, in: Tonra/Christiansen(Hrsg.), Rethinking European Union Foreign Policy (2004), S. 26 (28-32) undaus der deutschen Literatur Bedarff/Jakobeit, Die GASP der <strong>EU</strong> aus der Perspektive von politikwissenschaftlichenIntegrationstheorien, in: Bruha/Nowak (Hrsg.), Die Europäische Union:Innere Verfasstheit und globale Handlungsfähigkeit (2006), S. 183 (190 ff.).20 Vgl. Art. 26, 18 Abs. 3 <strong>EU</strong>V-Nizza, wonach die Vertretung der GASP im ersten Zugriff derRatspräsidentschaft obliegt.21 Zum Vorsitz im Rat Art. 18 Abs. 3 <strong>EU</strong>V-Liss., zur Außenvertretung Art. 27 Abs. 2 <strong>EU</strong>V-Liss., zur Initiative Art. 27 Abs. 1 <strong>EU</strong>V-Liss., zur Durchführung Art. 18 Abs. 2 <strong>EU</strong>V-Liss.sowie die Einzelbestimmungen der Verteidigungspolitik, zum Auswärtigen Dienst Art. 27Abs. 3 <strong>EU</strong>V-Liss.); weiterführend die ausführliche Kommentierung von Cremer, in: Calliess/Ruffert(Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union. Kommentar der Grundlagenbestimmungen(2006), Art. I-28 Rn. 8 ff.179


Artikel 18 Absatz 4 <strong>EU</strong>V-Lissabon mit den einhergehenden Vorrechten bei derAusarbeitung, Annahme und Durchführung der supranationalen Außenbeziehungen.Viel wird von der Handhabung der neuen Vorschriften in der Praxis abhängen.Das gilt nicht nur für die Vorrechte des Hohen Vertreters bei der außenpolitischenEntscheidungsfindung, sondern entsprechend für das Verhältnis des Hohen Vertreterszu seinen beiden Heimatinstitutionen Rat und Kommission. Tatsächlich beendetder Lissaboner Vertrag die aktuelle Troika europäischer Außenvertretung (HoherVertreter, Vorsitz des Rates und Kommissar mit dem Portfolio der Außenbeziehungen)durch die Zusammenführung der unterschiedlichen Funktionen in Form einerPersonalunion. Konzeptionell kennzeichnet das Projekt sein institutioneller Pragmatismusund die Verknüpfung supranationaler und intergouvernementaler Integrationspräferenzen.22 Das neue Amt erreicht eine Zusammenlegung der externen Vertretungsfunktion,ohne die zu Grunde liegende Kompetenzverteilung zwischen denbeteiligten Organen zu verändern. Aufgrund seines „Doppelhuts“ erhält der Außenministerim Anwendungsbereich der GASP seine Aufträge vom Rat, während er alsVizepräsident der Kommission in die supranationale Entscheidungsfindung der EG-Außenbeziehungen integriert ist. 23Es bleibt dem Praxistest vorbehalten, ob eine solche Konstruktion in der Verfassungswirklichkeiterfolgreich sein kann, wenn der Außenminister aufgrund seines„Doppelhuts“ zwischen den Organen in einer Grauzone unklarer Verantwortlichkeitund doppelter Loyalität verbleibt. 24 Zusätzliche Komplikationen bewirkt der neuePräsident des Europäischen Rates. Wenn dieser „auf seiner Ebene“ 25 die Außenvertretungder GASP übernimmt und ergänzend der Präsident der Kommission seinesupranationale Vertretungsmacht in Anspruch nimmt, gefährdet dies das Ziel einereinheitlichen Stimme Europas. Erneut könnte eine Vielheit der Außenvertretung denMehrwert der erstrebten Einheitlichkeit verhindern. Umso wichtiger ist die Verständigungauf die Realisierung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes, welcher deninstitutionellen Doppelhut des Hohen Vertreters auf Ebene der Ministerialbürokratiedurch eine Zusammenlegung von Dienststellen der Kommission und des Ratesnachzeichnet. Anstelle des vielfachen Gegeneinanders könnte ein neues Miteinanderder Institutionen den Weg bereiten für eine kohärente und schlagkräftige europäischeAußenpolitik, welche die intergouvernementale GASP verbindet mit den supranationalenAußenbeziehungen der Handels-, Entwicklungs- und Nachbarschaftspolitik.2622 Stellvertretend Hofmann/Wessels, integration 2008, 3 (7).23 So ausdrücklich Art. 18 Abs. 2, 4 <strong>EU</strong>V-Liss. sowie die Analyse der Vorgängerbestimmungenvon Thym (Fn. 4), S. 60-65, Grevi (Fn. 1), S. 788-795 und Hummer, Gemeinsame AußenundSicherheitspolitik sowie Solidaritätsklausel, in: ders./Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag übereine Verfassung für Europa (2007), S. 307 (313 ff.).24 Näher Thym, ELJ 10 (2004), S. 5 (18-22).25 Art. 15 Abs. 6 <strong>EU</strong>V-Liss.; weiterführend Blavoukos/Bourantonis/Pagoulatos, JCMS 45(2007), 231.26 Art. 27 Abs. 3 <strong>EU</strong>V-Liss. normiert nur eine Vertragsgrundlage für die teilweise Zusammenlegungvon Ratssekretariat sowie einzelnen Generaldirektionen der Kommission; die überaus180


Hieraus folgt als Fazit: Die Umbenennung des „Außenministers“ in „Hoher Vertreter“ändert zwar nicht die institutionellen Vorrechte von Rat und Kommission,wohl aber die reale Wirkungskraft als Katalysator einer einheitlichen Außenpolitik.Hiernach begründet die Zusammenführung der auswärtigen Vertretungsfunktion imHohen Vertreter und deren Unterstützung durch den Europäischen AuswärtigenDienst eine große Errungenschaft des Lissaboner Vertrags. Das Ausmaß des Erfolgeswird maßgeblich von der Handhabung in der Praxis abhängen.III. Ausformulierung der VerteidigungspolitikIn den vergangenen 8 Jahren gehörte die dynamische Entwicklung der EuropäischenSicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu den großen Wachstumsfelderneuropäischer Politik. Fortschreitend wurden die verteidigungspolitischen Handlungsinstrumenteausgebaut und erste zivile und militärische Krisenbewältigungsoperationenauf dem europäischen Kontinent und in Übersee durchgeführt. 27 AlsGrundlage dient bislang die Bestimmung des Artikels 17 <strong>EU</strong>V-Nizza, der in allgemeinenWorten die verteidigungspolitischen Zuständigen der Europäischen Unionumschreibt. Erst der Verfassungsvertrag und in seiner Folge der Vertrag von Lissabonunternehmen den Versuch, die Entwicklungsdynamik der ESVP textlich einzufangenund in modifizierender Kodifikation im Wortlaut des Vertragstexts als GemeinsameSicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zu verankern – entsprechenddem Modell einer ausgreifenden textlichen Vorformung neuerIntegrationsschritte im EG-Vertrag. 28Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass die neuen Bestimmungen als Momentaufnahmekeine Neuausrichtung der ESVP/GSVP bewirken. Dies folgt aus demNachvollzug allgemeiner Entwicklungen und der fehlenden Durchschlagskraft konstitutionellerNeuerungen. Insbesondere die Europäische Verteidigungsagentur istkein Produkt der Verfassungsdiskussion und wurde zwischenzeitlich aufgrund einesSekundärrechtsakts umgesetzt. 29 Eher umgekehrt: In dem Bemühen die institutionelleund politische Dynamik der ESVP im Verfassungstext nachzuvollziehen, überbedeutsamenEinzelheiten werden im Durchführungsbeschluss festgelegt werden; ausführlicherzu möglichen Modellen Hummer (Fn. 23), S. 316-320, Grevi (Fn. 1), S. 796-800, M.Müngersdorff, Die Einrichtung eines Europäischen Auswärtigen Dienstes, in: Niedobitek/Ruth (Hrsg.), Die neue Union. Beiträge zum Verfassungsvertrag (2007), S. 95-112 undLieb/Maurer, Europas Rolle in der Welt stärken, SWP-Studie S15, 2007, http://www.swpberlin.org.27 Vgl. die monografischen Darstellungen von Graf von Kielmannsegg, Die Verteidigungspolitikder Europäischen Union (2005), Dietrich, Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik(ESVP) (2006) und Kleine, Die militärische Komponente der ESVP (2005).28 Vgl. Art. 42-46 <strong>EU</strong>V-Liss. und zuvor Art. I-41, III-309-312 VVE.29 Siehe Gemeinsame Aktion 2004/551/GASP des Rates (ABl. 2004 L 245, 17) sowie künftigArt. 30 <strong>EU</strong>V-Liss. sowie zuvor Art. III-311 VVE.181


nahm der Konvent den Vorschlag ihrer Einrichtung aus der politischen Debatte,stieß diese aber nicht an. Auch andere zentrale Reformschritte der ESVP, wie dieEinrichtung von battle groups oder der civilian military cell als Keimzelle eines <strong>EU</strong>-Hauptquartiers, werden derzeit ohne ausdrückliche Erwähnung im Vertragstextverwirklicht. 30 Insoweit ist der Lissaboner Vertrags bei seinem Inkrafttreten bereitsvon der Wirklichkeit eingeholt.Der Versuch des Europäischen Konvents, aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgabeneine weitergehende Entwicklungsdynamik der ESVP/GSVP anzustoßen,wurde im Kontext des Irak-Kriegs ausgebremst. Nur begrenzt geht die Übertragungder Durchführung von Militärmissionen auf eine Gruppe von Mitgliedstaaten überdie gegenwärtige Praxis hinaus und begründet zudem eine unklare Verteilung politischerVerantwortung zwischen dem Rat unter Einschluss aller Mitgliedstaaten undder beauftragten Koalition. 31 Vor allem jedoch verfehlt die Ständige StrukturierteZusammenarbeit ihr Ziel durch „anspruchsvollere Kriterien ... im Hinblick auf Missionenmit höchsten Anforderungen ... weiter gehende Verpflichtungen“ zu vereinbaren.32 Ursprünglich sollte durch verbindliche Verpflichtungen, qualifizierte Mehrheitsentscheidungenund benchmarks nach dem Vorbild der Konvergenzkriterien derWährungsunion ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der militärischen Fähigkeitengeleistet werden, auf welche die ESVP angesichts der Ausrüstungsdefizite dereuropäischen Streitkräfte dringend angewiesen ist. Ihr Strukturmerkmal war nebender Verbindlichkeit die Flexibilität: nur ausgewählte Mitgliedstaaten sollten an derStändigen Strukturierten Zusammenarbeit teilhaben. 33Tatsächlich spiegelt der Vertragstext des Artikels 46 <strong>EU</strong>V-Lissabon die ursprünglichenAmbitionen wider und kann bei einer unbefangenen Lektüre als Teilvergemeinschaftungder Rüstungspolitik und mithin als erster Schritt zu einer europäischenArmee verstanden werden. Allerdings widersetzte sich das „neue Europa“einer möglichen Loslösung einer Gruppe von Mitgliedstaaten aus den gemeinsamkontrollierten <strong>EU</strong>-Strukturen zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten nachMaßgabe der flexiblen Arrangements der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit.34 Im heutigen Protokoll (Nr. 4) über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeitwird das Entwicklungspotential der Vertragsbestimmungen durch klare Vorgabeneingefangen, welche als Bestandteil des Primärrecht nur im Wege einer Vertragsän-30 Hierzu Auvret-Finck, Les moyens de la force armée, in : Azoulai/Burgorgue-Larsen (Hrsg.),L’Autorité de l’Union européenne (2006), S. 183 (190-198).31 Vgl. Art. 44 <strong>EU</strong>V-Liss. und der Verweis auf eine unklare Verantwortungsteilung bei Grafvon Kielmannsegg (Fn. 27), S. 415-418; die Regelung des Art. 44 Abs. 2 <strong>EU</strong>V-Liss. zur Kooperationvon Rat und handelnden Mitgliedstaaten ist eher Beschreibung denn Lösung desProblems.32 Zitat nach Art. 27 Abs. 6 <strong>EU</strong>V-Liss.; ausführlicher Art. 46-<strong>EU</strong>V-Liss. sowie das Protokoll(Nr. 4) über die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit; zuvor entsprechend Art. I-41 Abs. 6,Art. III-312 VVE sowie das Protokoll (Nr. 23) zum Verfassungsvertrag.33 Vgl. den ursprünglichen Vorschlag des deutsch-französischen Außenministerduos de Villepin/Fischer,Gemeinsame deutsch-französische Vorschläge für den Europäischen Konventzum Bereich ESVP, 22. 11. 2002, Konvents-Dok. CONV 422/02.34 Näher die politische Analyse bei Howort, EFA Rev. 9 (2004), 482 (486-492).182


derung modifiziert werden können. 35 Hiernach entsprechen die neuen Vertragsbestimmungenweitgehend der bisherigen Praxis und entfalten keine nachhaltige Dynamisierungder europäischen Verteidigungspolitik. 36Für die Zukunft der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gilt: Die umfassendenVertragsbestimmungen bewirken entgegen dem ersten Anschein keine konstitutionellenEntwicklungsimpulse. Stattdessen schreiben sie den status quo als Momentaufnahmefest. Auch in Zukunft wird die Dynamik der ESVP/GSVP in erster Linievon politischen Entscheidungen abhängen.IV. Kollektive Verteidigung und SolidaritätsklauselAngesichts der Unwahrscheinlichkeit eines bewaffneten Angriffs auf das Unionsgebietklammert die ESVP die Landesverteidigung bislang pragmatisch aus und konzentriertsich auf die Herausforderungen der zivilen und militärischen Krisenbewältigungnach Maßgabe der sogenannten Petersberg-Aufgaben. Diese vorrangige Ausrichtungam Krisenmanagement ändern der Verfassungsvertrag und der Vertrag vonLissabon nicht: Im Vordergrund der verfassungsrechtlichen Konzeption derESVP/GSVP steht die umfassende Krisenbewältigung unter Einschluss humanitärerAufgaben, der Konfliktverhütung bis hin zu „Kampfeinsätzen“ und der Post-Konflikt-Stabilisierung, aufgrund derer jeweils auch „zur Bekämpfung des Terrorismusbeigetragen werden (kann).“ 37 Eine Ausweitung der ESVP auf die Landesverteidigungverblieb unter dem Vorbehalt einer Zustimmung der Mitgliedstaaten;rechtliche Beistandspflichten waren auf den NATO-Vertrag und die W<strong>EU</strong> beschränkt.38Wenn der Verfassungsprozess einen Schritt weiter die kollektive Beistandspflichtin den <strong>EU</strong>-Rahmen überführt, verdeutlich dies die verteidigungspolitischen Ambitionendes Vertragswerks. Allerdings war die Unionsierung der Beistandspflicht nur35 Das vereinfachte Änderungsverfahren für materielle Vertragsbestimmungen nach Art. 48Abs. 6 <strong>EU</strong>V-Liss. erstreckt sich nicht auf die Verteidigungspolitik; zur kontroversen Entstehungsgeschichtemit wiederholten Änderungen des Wortlauts im Konvent und der nachfolgendenRegierungskonferenz Bribosia, Les Nouvelles formes de flexibilité en matière dedéfense, in: Amato/ders./de Witte (Fn. 1), S. 835 (840-842).36 Zum Inhalt der schließlich vereinbarten Regelungen Bribosia, ebd. 842 ff., Graf von Kielmannsegg(Fn. 27), S. 429 ff. und Wessel, Differentiation in <strong>EU</strong> Foreign, Security and DefencePolicy, in: Trybus/White (Hrsg.), European Security Law, 2007, S. 225 (234-236).37 Vgl. den im Vergleich zu Art. 17 Abs. 2 <strong>EU</strong>V-Nizza erweiterten Katalog des Art. 43 Abs. 1<strong>EU</strong>V-Liss. und Art. III-309 Abs. 1 VVE, der im Ergebnis keine rechtliche Ausweitung derHandlungsmöglichkeiten bewirkt, sondern den Umfang der Einsatzoptionen sprachlich ausdifferenziert;so zutreffend Graf von Kielmannsegg, CML Rev. 44 (2007), 629 (644-647).38 Siehe Art. 17 Abs. 1 <strong>EU</strong>V-Nizza und die Beistandspflicht nach Art. 5 NATO-Vertrag undArt. V des modifizierten Brüsseler Vertrags zur Gründung der W<strong>EU</strong>, der als Rechtspflichtauch nach der Einstellung deren operativer Tätigkeiten im Jahr 2000 fortbesteht; näher auchThym, DVBl. 2000, 676-682.183


nach Maßgabe eines Kompromisses erreichbar, der insbesondere die Neutralität vonÖsterreich, Schweden, Finnland, Irland, Zypern und Malta unberührt ließ. Entgegendem ursprünglichen Vorschlag eines formalisierten Opt-outs integrierten die Regierungskonferenzen2004 und 2007 zwar die Beistandsklausel auf Grundlage desW<strong>EU</strong>-Vorbilds in den Vertragstext – allerdings ergänzt um die salvatorische Klausel,dass diese „den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitikbestimmter Mitgliedstaaten unberührt (lässt).“ 39 Diese offene Formulierung belässtden Umfang der verfassungsrechtlichen Beistandspflicht im Unklaren, begründetaber gerade wegen dieser Unschärfe einen tragfähigen Kompromiss.Die Offenheit der Beistandspflicht gewährt den neutralen Mitgliedstaaten einehinreichende Flexibilität zur Wahrung und Fortentwicklung ihrer Neutralität, ohneihre Teilnahme an der ESVP grundsätzlich in Frage zu stellen. 40 Zugleich sichert dieallgemeine Formulierung des unberührten „besonderen Charakters der SicherheitsundVerteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten“ den vielfach angenommenVorrang der NATO für die kollektive Verteidigung des Bündnisgebietes gegen bewaffneteAngriffe 41 – ohne dass die neue Bestimmung einen Beitrag zur weiterenKlärung des Verhältnisses von Union und Allianz leistet. Tatsächlich begründet diezunehmende Überschneidung der Aufgaben von <strong>EU</strong> und NATO eine zentrale Herausforderungfür die künftige europäische Sicherheitsarchitektur, welche der Verfassungsprozessim Wissen um die unterschiedlichen Positionen der Mitgliedstaatenbewusst ausklammerte. Da der neue Vertragstext zugleich keinerlei Vorkehrungentrifft, wie im Verteidigungsfall die <strong>EU</strong>-Bündnisklausel umgesetzt werden soll, dürfterein faktisch die Hauptverantwortung bei der NATO verbleiben. 42 Gleichwohl markiertdie kollektive Beistandspflicht die verteidigungspolitischen Ambitionen derUnion und bleibt insoweit ein bemerkenswertes Detail.Aus einem anderen Grund beachtenswert ist die Überlegung der Konventsarbeitsgruppezur Verteidigungspolitik, die kollektive Verteidigungsklausel durch eineSolidaritätsklausel bei Terroranschlägen und Naturkatastrophen zur ergänzen. 43 Esist dies der Versuch, die oft beschworene Überwindung der klassischen Unterscheidungvon innerer und äußerer Sicherheit in konkrete verfassungsrechtliche Vorgabenzu überführen und zu einer „kleinen Beistandspflicht“ 44 auszubauen. Das Er-39 Art. 42 Abs. 7 <strong>EU</strong>V-Liss. und zuvor Art. I-41(7) VVE; zur Interpretation im Lichte der EntstehungsgeschichteHummer (Fn. 23), S. 332-335 und Wessel (Fn. 37), S. 238-241.40 Cremer (Fn. 21), Art. I-41 Rn. 18 verweist auf die Möglichkeit eines „schleichenden Wandels“,der in den meisten neutralen Mitgliedstaaten aktuell zu beachten ist; konkret am BeispielsÖsterreich Rehrl, (Ö)ZÖR 2005, 31-54.41 So zutreffend Heimeshoff, Beistands- und Solidaritätsklausel im Vertrag über eine Verfassungfür Europa, in: Niedobitek/Ruth (Fn. 26), S. 75 (82 f.).42 Instruktiv die Analysen von Naert, Journal of Conflict and Security Law 10 (2005), 187(192 ff.), Krieger, Common European Defence: Competition or Compatibility with NATO?,in: Trybus/White (Fn. 36), S. 174-197 und Reichard, The <strong>EU</strong>-NATO Relationship: A Legaland Political Perspective (2006), S. 171-224.43 Zur Diskussion den Schlussbericht der Gruppe VIII „Verteidigung“, 16. 12. 2002, Konvents-Dok. CONV 461/02, Rn. 56 ff.44 Von Kielmannsegg (Fn. 27), S. 252.184


gebnis des Artikels 222 <strong>EU</strong>-Arbeitsweise-Vertrag ist freilich eher enttäuschend:Zwar umfasst er große Worte vom Handeln „im Geist der Solidarität“ und selbstmilitärische Mittel werden angesprochen. 45 In der Sache wird sodann ein jeder Beistandvom Ersuchen des betroffenen Mitgliedstaats abhängig gemacht und der Unionund den Mitgliedstaaten nur eine allgemeine Unterstützungspflicht im Rahmenihrer Mittel und Möglichkeiten auferlegt. 46 Neue Kompetenzen ergeben sich aus derSolidaritätsklausel nicht. Daher ist es verfassungsrechtlich auch unproblematisch,dass der Europäische Rat eine Woche nach dem Terroranschlag in Madrid die Solidaritätsklauselmit zwei Modifikationen politisch bereits in Kraft setzte. 47Als Fazit gilt festzuhalten: Die Normierung einer kollektiven Beistandspflicht unterstreichttrotz bewusster Unklarheiten der rechtlichen Reichweite die verteidigungspolitischenAmbitionen der Union, welche zunehmend den Aufgabenbereichder NATO berühren. Dagegen verfehlt die Solidaritätsklausel ihr Ziel einer verfassungsrechtlichenNormierung der Überschneidung von innerer und äußerer Sicherheitund bleibt auf eine allgemeine Unterstützungspflicht beschränkt.V. Kohärenz des auswärtigen HandelnsEs bleibt eine wichtige Herausforderung der europäischen Politik, ihre außenpolitischenHandlungsinstrumente aufeinander abzustimmen und durch ein möglichstkohärentes Auftreten eine maximale Wirkung zu erreichen. Dies gilt in besondererWeise für das Nebeneinander intergouvernementaler Außenpolitik und supranationalerAußenbeziehungen gemäß der vertraglich normierten Kohärenzpflicht. 48 Diesewird durch den Lissaboner Vertrag in doppelter Hinsicht konkretisiert. Zum einenverknüpft der Verfassungsprozess in weitgehender Kodifizierung der bisherigenRechtslage die verschiedenen Segmente des auswärtigen Handelns in einem gemeinsamenVertragsteil mit übergreifenden Zielvorgaben. 49 Hierdurch wird dieBedeutung der Außenbeziehungen als einem eigenständigen Handlungsfeld europäischerPolitik im Verfassungstext nachvollzogen und gemeinsamen Zielen unterstellt.50 Programmatisch bestimmt der einleitende Satz von Artikel 21 <strong>EU</strong>V-Liss.:„Die Union lässt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grund-45 Ebenso wie Art. 222 A<strong>EU</strong>V-Liss. zuvor Art. I-43, III-329 VVE.46 Näher Heimeshoff (Fn. 41), S. 88-92, Hummer (Fn. 23), S. 337 f. und M. Sossai, The Anti-Terror Dimension of ESDP, in: Trybus/White (Fn. 36), S. 157 (168-172).47 Hierzu Sossai, ebd. und Reichard, ZEuS 2004, 313.48 Siehe die jeweilige Normierung in Art. 3 UAbs. 2 <strong>EU</strong>V-Nizza, Art. 21 Abs. 3 <strong>EU</strong>V-Liss. undArt. III-292 Abs. 3 VVE.49 Vgl. die nunmehr auf zwei Verträge verteilten Bestimmungen der Art. 21-46 <strong>EU</strong>V-Liss. undArt. 205-222 A<strong>EU</strong>V-Liss. gemäß der Einheitlichkeit der Art. III-292-329 VVE.50 Zu rechtlichen Implikationen Cremona (Fn. 4), S. 1348-1350 und Müller-Graff, Die primärrechtlichenGrundlagen der Außenbeziehungen, in: ders. (Hrsg.), Die Rolle der erweitertenEuropäischen Union in der Welt, 2006, S. 11 (19 ff.).185


sätze leiten, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebendwaren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will.“Zugleich begründet der Hohe Vertreter aufgrund seines „Doppelhuts“ eine institutionelleVerkörperung des neuen Miteinanders der verschiedenen Politikbereiche.Gleiches gilt für den Europäischen Auswärtigen Dienst, der als ministerialbürokratischerUnterbau einer möglichst kohärenten Außenpolitik und einem einheitlichenAuftreten der Europäischen Union den Weg bereitet. 51 Hierdurch werden die bisherigenReibungsverluste zwischen den Säulen im Idealfall zu einer neuen Stärkedurch Einheit gebündelt. 52 Allgemein gilt zu beachten, dass Europäische Unionheute auf das ganze Spektrum außenpolitischer Instrumente zurückgreifen kann: vonder Handels-, Umwelt-, Einwanderungs- und Entwicklungspolitik über diplomatischeAktivitäten bis hin zu Militäroperationen. Aus der Sicht der europäischen Bürgerwaren diese Handlungselemente in den vergangenen Jahrzehnten auf verschiedenenEbenen und Organisationen verteilt und werden nun erstmals wieder in ihrergesamten Bandbreite bei einem Akteur verbunden.Es bleibt festzuhalten: Das neue Vertragswerk fördert durch rechtliche Vorgabenund institutionelle Vorkehrungen die Kohärenz des auswärtigen Handelns. Die verbesserteMöglichkeit, je nach Bedarf unterschiedliche außenpolitische Instrumentezu verbinden, könnte auf Dauer den größten Mehrwert europäischer Außenpolitikdarstellen und wesentlich zu ihrem Erfolg beitragen.VI. Reform der supranationalen AußenbeziehungenDer Konzentration der vorstehenden Ausführungen auf die Reform der GASP alsvormalige „zweite Säule“ sollte nicht den Blick verdecken, dass die supranationalenAußenbeziehungen aufgrund des gegenwärtigen EG-Vertrags weiterhin das Gravitationszentrumdes auswärtigen Handelns bilden. Allerdings stand deren Neuordnungnicht im Zentrum des Verfassungsprozesses; nur punktuell wurden die etabliertenVertragsgrundlagen insoweit fortentwickelt. Im übrigen bleibt es bei den hergebrachtenRegelungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund wiederholterVertragsänderungen und der aktiven Rechtsprechung des Gerichtshof entwickelthatten. 53 Allerdings schreibt der Verfassungsvertrag und in seiner Folge der Vertrag51 Siehe hierzu Fn. 26 und begleitender Text.52 Zum Nebeneinander von EG und <strong>EU</strong> und rechtlichen Abgrenzungsproblemen mit Blick aufArt. 47 <strong>EU</strong>V-Nizza, der nach Art. 40 <strong>EU</strong>V-Liss., Art. III-308 VVE einer neuen Gleichheitvon intergouvernementaler und supranationaler Außenpolitik den Weg bereitet, Thym (Fn. 8),Abschnitt V.2 (im Druck) und Hoffmeister, Inter-pillar coherence in the <strong>EU</strong>’s Civilian CrisisManagement, in: Blockmans (Hrsg.), The European Union and International Crisis Management(2008), im Erscheinen.53 Im Überblick Thym (Fn. 8), Abschnitt III (im Druck) sowie die Lehrbücher und Kommentierungvon Eeckhout, External Relations of the European Union (2004), Dony/Louis (Hrsg.):Commentaire J. Mégret 12. Relations extérieures, 2. Aufl., 2005 und Koutrakos, <strong>EU</strong> InternationalRelations Law, 2006.186


von Lissabon an mehreren Stellen frühere Entwicklungen fort und konsolidiert dabeidie verfassungsrechtlichen Grundlagen der supranationalen Außenbeziehungen.Exemplarisch seien die Ausweitung der Gemeinsamen Handelspolitik, die Kodifizierungder AETR-Rechtsprechung und die Ausweitung des parlamentarischen Zustimmungserfordernisseszum völkerrechtlichen Vertragsschluss genannt.Die Außenhandelspolitik ist das zentrale Standbein der supranationalen Außenbeziehungen– und bewahrheitet die Vorhersage Hallsteins, dass die Gründungsväterinsoweit eine „Teilrechtsverwirklichung einer umfassenden gemeinschaftlichenAußenpolitik (erreichten), im Einklang mit den letzten politischen Zielen der Integration“.54 In seinem grundlegenden WTO-Gutachten war der Gerichtshof insoweitzu dem Schluss gelangt, dass der Handel mit Dienstleistungen und die handelsbezogenenAspekte der Rechte an geistigem Eigentum nur am Rande der Außenhandelspolitikunterfallen. 55 Der Versuch einer Ausweitung aufgrund des Vertrags vonNizza muss wegen der Komplexität der vereinbarten Regelung als missglückt gelten.56 Die neuen Regelungen im Lissaboner Vertrag gehen einen Schritt weiter understrecken die Außenhandelspolitik auf den Handel mit Dienstleistungen und Handelsaspektedes geistigen Eigentums – auch wenn für bestimmte Sachgebiete eineeinstimmige Beschlussfassung notwendig bleibt. 57Zugleich bestimmt das neue Vertragswerk die Gemeinsame Außenhandelspolitik inihrer Gesamtheit unter Einschluss der neuen Regelungsmaterien zu einer ausschließlichenGemeinschaftskompetenz. 58 Vor allem jedoch unternimmt der Vertraggebereine Kodifizierung der AETR-Rechtsprechung. Angesichts deren Komplexität aufgrundder Vorgaben in verschiedenen EuGH-Urteilen der vergangenen fünfundzwanzigJahre überrascht es nicht, dass die künftige vertragliche Regelung einigeUnschärfen aufweist. 59 Insbesondere die doppelte Formulierung mit unterschiedlichemWortlaut an zwei verschiedenen Stellen des Vertrages und die Kurzfassungeiner ausdifferenzierten Rechtsprechung in wenigen Worten führen zu Missver-54 Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 169.55 Für Einzelheiten EuGH Gutachten 1/94 – WTO, Slg. 1994, I-5267 und Eeckhout, ebd. 9-57.56 Siehe Art. 133 Abs. 5-7 <strong>EU</strong>V-Nizza und die Analyse von Herrmann, CML Rev. 39 (2002), 7.57 Siehe, auch zur Einstimmigkeit auf französisches Drängen für „kulturelle und audiovisuelle“sowie „soziale“ Dienstleistungen, Art. 206 f. A<strong>EU</strong>V-Liss., Art. III-314 f. VVE; weiterführendKrajewski, CML Rev. 42 (2005), 91 (106 ff.) und die Beiträge zu Herrmann/Krenzler/Streinz(Hrsg.): Die Außenwirtschaftspolitik der Europäischen Union nach dem Verfassungsvertrag,2006.58 Vgl. Art. 3 Abs. 1 Buchst. e A<strong>EU</strong>V-Liss.; es gilt zu beachten, dass dies keine bloße Kodifizierungdarstellt, sondern zugleich die zuvor konkurrierenden Zuständigkeiten für Dienstleistungen,Handelsaspekte des geistigen Eigentums sowie „ausländische Direktinvestitionen“(Art. 207 Abs. 1 A<strong>EU</strong>V-Liss.) dem Zugriff der Mitgliedstaaten entzieht.59 Zur Entwicklung der Rechtsprechung Eeckhout (Fn. 53), S. 58-100, Koutrakos (Fn. 53),S. 77-134 und Wichard, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.): <strong>EU</strong>V/EGV-Kommentar, 3. Aufl., 2007,Art. 300 EG Rn. 6-17.187


ständlichkeiten. 60 Es steht daher zu erwarten, dass auch in Zukunft die Fortentwicklungder AETR-Grundsätze dem EuGH überlassen bleibt; die genaue Grenzziehungbleibt schwierig und muss letztlich in jedem Einzelfall einer Lösung zugeführt werden.Der Verfassungstext kann dieses komplexe juristische Unterfangen nicht ersetzen– ebenso wie er davor zurückschreckte, die Praxis gemischter Abkommen alsexterne Dimension des Miteinanders von Union und Mitgliedstaaten im EuropäischenVerfassungsverbund einer Kodifizierung zuzuführen. 61Dagegen ist die Bereitschaft des Vertraggebers zu begrüßen, dem Parlament einenerweiterten Einfluss auf den Abschluss völkerrechtlicher Verträge zuzugestehen.Dies entspricht der wachsenden Bedeutung internationaler Regelsetzung in einerglobalisierten Welt. Zwar bleibt das Zustimmungserfordernis nach dem Abschlussauf die binäre Alternative einer Zustimmung oder Ablehnung beschränkt – der Vertraggeberwiderstand erneut der Forderung nach einer Ausweitung des parlamentarischenEinflusses auf den Verhandlungsprozess und die Fortentwicklung völkerrechtlicherRegime und internationaler Organisationen. 62 Durch die neue Parallelitätinterner Mitentscheidung und externer Zustimmung und deren Erstreckung auf dieAußenhandelspolitik wird gleichwohl ein Defizit des aktuellen Vertragsrechts beseitigt.63 Forderungen nach einer weitergehenden Parlamentarisierung der Außenpolitikkönnen über die Kontrolle der hierzu berufenen Akteure in Rat und Kommissionund Reformen auf internationaler Ebene erreicht werden.Es gilt als Ergebnis: Die erweiterten Rechte des Parlaments führen zu einer neuenParallelität seiner auswärtigen und internen Zuständigkeiten und arrondieren insoferndas Verfassungsrecht der supranationalen Außenbeziehungen. Gleiches gilt für60 Vgl. Art. 3 Abs. 2, 216 Abs. 1 A<strong>EU</strong>V-Liss. und zuvor Art. I-13 Abs. 2, III-323 Abs. 1 VVEsowie die kritische Analyse bei Passos/Marquardt, International Agreements, in: Amato/Bribosia/deWitte (Fn. 1), S. 875 (888-893), Martenczuk, Außenbeziehungen und Außenvertretung,in: Hummer/Obwexer (Fn. 23), S. 177 (184-186) und Vedder, EuR Beiheft3/2007, 57 (67 f.).61 Zum Konzept des Verfassungsverbunds, das man auf das Miteinander von europäischer undnationaler auswärtiger Gewalt übertragen kann, grundlegend Pernice, VVDStRL 60 (2001),148 (163 ff.); zu gemischten Abkommen statt vieler Eeckhout (Fn. 53), S. 190-223 und Rodenhoff,Die EG und ihre Mitgliedstaaten als völkerrechtliche Einheit bei umweltvölkerrechtlichenÜbereinkommen (2008), i.E.62 Hierzu umfassender Thym, Parliamentary Involvement in European International Relations,in: Cremona/de Witte (Fn. 9), Abschnitt II (im Druck).63 Art. 218 Abs. 6 Buchst. a A<strong>EU</strong>V-Liss. und entsprechend Art. III-325 VVE fordern eineparlamentarische Zustimmung bei einer Anwendbarkeit der Mitentscheidung (ordentlichesGesetzgebungsverfahren) – nicht nur bei der Änderung eines hiernach angenommenenRechtsakts gemäß Art. 300 Abs. 3 EGV-Nizza, was die völkerrechtliche Determination künftigerGesetzgebung nicht einschließt. Zusätzlich wird der Abschluss internationaler Handelsabkommendem regulären Verfahren unterworfen und damit auch dem Parlament geöffnet;näher Cremona (Fn. 4), S. 1364, Krajewski, Demokratische Kontrolle der GemeinsamenHandelspolitik, in: Bruha/Nowak (Fn. 19), S. 237 (245-248) und de Witte, The ConstitutionalLaw of External Relations, in: Pernice/Poiares Maduro (Hrsg.), A Constitution for Europe.First Comments on the 2003 Draft Constitution for Europe, 2003, S. 95 (105).188


die sachliche Ausweitung der Außenhandelspolitik und die Kodifizierung derAETR-Rechtsprechung, die frühere Entwicklungen fortschreiben.VII. FazitDer Überblick über sechs Regelungsschwerpunkte der Verfassungsreform im Bereichdes auswärtigen Handelns belegt und konkretisiert die eingangs formulierteThese, dass der Verfassungsvertrag und in seiner Folge der Vertrag von Lissabonkeinen Quantensprung und keine Kehrtwende bewirken. Vielmehr führen die neuenBestimmungen die Entwicklung des europäischen Verfassungsrechts in den vergangenenJahrzehnten im Sinn eines inkrementellen Wandels fort. Hierbei begründetder Vertrag von Lissabon keinen Rückschritt der Integrationsdichte gegenüber demVerfassungsvertrag, sondern übernimmt dessen sachliche Neuerungen nahezu unverändert.Wenn in der breiteren Öffentlichkeit gleichwohl ein anderer Einblickverbleibt, gründet dies darauf, dass die Errungenschaften des Verfassungsvertragsoft überzeichnet wurden. Insbesondere bewirken weder der Verfassungsvertrag nochder Vertrag von Lissabon eine Vergemeinschaftung der intergouvernementalenGASP oder entfalten eine konstitutionelle Dynamisierung der ESVP/GSVP. Dengrößten Mehrwert bewirkt die institutionelle Zusammenführung der intergouvernementalenund supranationalen Außenvertretung im Posten des Hohen Vertreters unddessen Unterstützung durch den Europäischen Auswärtigen Dienst. Inwieweit dieseReformen in der Verfassungswirklichkeit eine kohärente und schlagkräftige Außenpolitikerreichen, bleibt dem Praxistest vorbehalten.189


Der Vertrag von Lissabon und das Wettbewerbsprinzip – Status quoante, Neugewichtung oder Unwucht?Dr. Stephan Wernicke ∗I. Eine Französische Allüre?„Paris greift <strong>EU</strong> Wettbewerbsprinzip an” 1 ; “Competition as an ideology, as a dogma,what has it done for Europe?” 2 “This would in a sense begin to disintegrate the union”3 ; “We must remember that the important matter of undistorted competition wasunder threat” 4 .Was war geschehen? Als im Juni 2007 beim Brüsseler Gipfel unter deutscher Ratspräsidentschaftdas Mandat für die Regierungskonferenz erarbeitet wurde, die zumVertrag von Lissabon führen sollte, wurde die interessierte Öffentlichkeit Zeugeeiner nicht gänzlich unüblichen, aber seit dem Prinzip des Konvents eigentlich politischwenig korrekten Methodik der Vertragsrevision: In letzter Minute wurde aufVorschlag Frankreichs das noch im Verfassungsvertrag als Ziel der Union genanntePrinzip eines freien und unverfälschten Wettbewerbs aus dem Zielekatalog gestrichenund stattdessen ein Protokoll verabredet, das dem Wettbewerbsprinzip Gestaltgeben sollte. 5Konkret ging es um die Formulierung des Art. 3 des neuen Vertrages über dieArbeitsweise der Europäischen Union, der die Ziele der Union festschreibt: BotArtikel I-3 des Verfassungsvertrag noch den „Bürgerinnen und Bürgern einen Raumder Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarktmit freiem und unverfälschtem Wettbewerb“, so sollte sich auf französischenDruck und mit deutschem Einverständnis das Ziel des freien und unverfälschtenWettbewerbs nicht mehr in der Formulierung des Vertrags von Lissabon finden.Im schließlich u.a. auf britischen Druck hin verabschiedeten „Protokoll über denBinnenmarkt und den Wettbewerb“ bestätigen die Vertragsparteinen, dass „derBinnenmarkt, wie er in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union beschriebenwird, ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt“ und∗ Der Verfasser ist Mitglied der Europäischen Kommission, GD Wettbewerb, Brüssel. DerBeitrag gibt ausschließlich die Meinung des Autors wieder; s.wernicke@cms.hu-berlin.de.1 Financial Times Deutschland, 22.6.2007.2 Sarkozy, zitiert nach Parker, Financial Times, 22.6.2007.3 Monti, ehem. Wettbewerbskommissar, Financial Times, noch während der Verhandlungen,Reuters, 22.6.2007 Update2.4 House of Lords Debates, 3.7.2007, Lord Evans, http://www.publications.parliament.uk.5 Schlußfolgerungen des Vorsitzes:http://www.consilium.europa.eu/ueDocs/cms_Data/docs/pressData /en/ec/ 94932.pdf (für alleInternet-Verweise im folgenden: zuletzt besucht am 12.2.2008)190


kommen überein, „dass für diese Zwecke die Union erforderlichenfalls nach denBestimmungen der Verträge, einschließlich des Artikels 308 des Vertrags über dieArbeitsweise der Europäischen Union, tätig wird.“Aus Kreisen der Unterhändler war zu hören, dass die deutsche Ratspräsidentschaftmit dem Ziel handelte, größeres Unheil zu vermeiden: Denn ein anderes,Deutschland alternativ zur Wahl gestelltes Angriffsziel Sarkozys sei die innenpolitischin Frankreich stark kritisierte Unabhängigkeit der EZB gewesen – und diese zubewahren war vielleicht den Preis des Wettbewerbsprinzips wert 6 . Hierfür sprichtauch, dass Sarkozy diesen Weg unmittelbar im Anschluss an den Europäischen Ratbei einem informellen Treffen der Finanzminister der Eurogruppe weiterverfolgte:In einem ungewöhnlichen persönlichen Auftreten erklärte er am 9. Juli 2007, dassder Stabilitäts- und Wachstumspakt in einer „intelligenten und dynamischen Art“angewandt werden müsse. Dies würde argumentativ in seine Perspektiven passen,die Unabhängigkeit der EZB zugunsten einer europäischen Wirtschaftsregierung inder Eurozone zu relativieren und die Europäische Zentralbank (EZB) stärker auf dasZiel des Wirtschaftswachstums statt auf das der Preisstabilität zu verpflichten.Diese Erklärung ist durchaus glaubhaft – und doch macht sie stutzig. Wozu wirdein französischer Präsident sich so exponieren, wenn nicht, um beizeiten hierausKapital zu schlagen? Doch war die Reaktion auf den Erfolg Sarkozys unmittelbarauf den Gipfel zwar aufgeregt, aber weitestgehend gegenteilig: Nichts sei passiert.So bekundete etwa der Generaldirektor des Juristischen Dienstes, Michel Petite,öffentlich in einem Leserbrief an die Financial Times die Belanglosigkeit der Änderung,denn, "an objective that does not exist cannot be lost!“ 7 . Sicherlich ist auch imgegenwärtig gültigen Vertragswerk die offene Marktwirtschaft keine als eigenständigesZiel der Union festgeschriebene Norm – doch wozu war dann das Protokollerforderlich? Erneut Michele Petite: “To avoid any risk of uncertainty as to settledlaw and to make fully clear that competition will continue to be one of the mainpolicies aiming at the good functioning of the internal market.” Neben dieser Stellungnahmebemühten sich auch viele andere Deutungen meist mehr um die Darstellungder Entbehrlichkeit der „Streichung“. Sie entdeckten oder kritisierten dabei mitbeachtlichen Argumenten Randeffekte: Etwa wurde die „Streichung“ als Placebo fürFrankreichs Wähler angesehen, mit der diese allerdings kaum zufrieden zu stellensein werden. 86 Der Wunsch der EZB nach einem institutionellen Sonderstatus wurde abgelehnt, sie wirdlediglich in Art. 9 Vertrag über die Arbeitsweise der <strong>EU</strong> als Organ genannt.7 Financial Times, Letters to the Editor, 27. Juni 2007 „<strong>EU</strong> commitment to competition policyis unchanged“: Dieser Leserbrief wurde in Ermangelung anderer Argumente zur Beruhigungder britischen Gemüter auch extensiv in der House of Lords Debate vom 3.7.2007 auf dieFrage hin zitiert, ob nicht der EuGH aus dieser Änderung Folgen ziehen müsse, siehe Fn. 4.8 Stiftung Wissenschaft und Politik, Schwarzer, Aktivist im Europäischen Salon,http://www.swp-berlin.org/de/common/get_document.php?asset_id=4243.191


Kontrastiert wird dies durch die harsche Kritik, der sich die britischen Verhandlungsführerin ihrem Heimatland stellen mussten 9 wie auch durch den ehemaligenWettbewerbskommissar Monti, der durch die Änderung nicht nur eine „Desintegration“der <strong>EU</strong> befürchtete, sondern auch die Gefahr benannte, dass große Mitgliedstaatenden neuen Text für eine Industriepolitik zu Lasten der kleinen Mitgliedstaatenbenutzen könnten. 10 Ähnlich kritisch sind auch die ersten mit Abstand verfasstenStellungnahmen. 11 Was bedeutet diese Entscheidung? Das Walter Hallstein- Institutfür Europäisches Verfassungsrecht und Prof. Dr. Dr. Pernice haben seit jeher derDiskussion um die Europäische Wirtschaftsverfassung einen zentralen Platz eingeräumtund damit das Verständnis um die Einbettung der Wirtschaft- und WettbewerbsrelevantenNormen des Vertrages in den Kontext der Gesamtentwicklung desVerfassungsrahmens befördert. In dieser Tradition möchte ich im Folgenden fünfDeutungsansätze kurz anreißen.II. InterpretationsrahmenIm Folgenden möchte ich erste Ansätze entwickeln, innerhalb derer sich erweisenkönnte, welche Bedeutung diese Entscheidung haben kann.1) Zunächst wäre es vermessen zu behaupten, dass der anzuwendende Vergleichsmaßstabnicht der Verfassungsvertrag, sondern die bisherigen Verträge seinsollten. Der Verfassungsvertrag war der erste Versuch, unter Beteiligung der Zivilgesellschaftdie Grundlagen der <strong>EU</strong> zu verdeutlichen. Sein Scheitern durch Volksabstimmungendarf nicht Anlass bieten, seine Ergebnisse als vernachlässigbar abzutun.Im Gegenteil, er bot seit langem die erste Gelegenheit zu einem europaweiten Diskurs.Dass die sich europäisch gebärenden Eliten hieran im Ergebnis gescheitert sind(und der Erfolg des Vertrags von Lissabon steht noch aus), bedeutet nicht die impliziteRatifikation und die Rückkehr zu der pragmatisch intergouvernementalen, aberheillos intransparenten Vertragsmethodik.2) Gleichwohl ist natürlich richtig, dass auch nach dem gegenwärtigen Rechtsstanddas System des freien und unverfälschten Wettbewerbs kein unter Artikel 2EG genanntes Ziel ist. Der Grundsatz einer freien Marktwirtschaft mit offenemWettbewerb taucht allerdings u.a. in Artikel 3 Abs. 1 Buchstabe g), 4 Abs. 1, 105und 157 auf. Gleichwohl ist die Auslegung des EuGH häufig teleologisch auf dieZielbestimmungen gerichtet – und eine Änderung hier kann durch kein Protokollaufgefangen werden (wie nicht zuletzt die frühere Spannung zwischen der Subsidiaritätsnormdes Art. 5 EG und dem Subsidiaritätsprotokoll zeigten). Rechtstechnischam bedeutendsten ist zukünftig das Fehlen des Art. 3 I g): So muss wohl auch der9 Siehe Fußnote 3.10 Financial Times, 26.6.2007.11 Riley, CEPS Policy Brief, September 2007, No. 142: The <strong>EU</strong> Reform Treaty & the CompetitionProtocol: Undermining EC Competition Law.192


EuGH in Bezug auf das wettbewerbsrechtliche Verbot nicht nur einer privaten, sondernauch einer staatlichen Handlung, die die Einhaltung einer privaten wettbewerbswidrigenMaßnahme „vorschreibt, erleichtert oder bloß deren Wirkungenverstärkt“, eine andere Ableitung finden als die bisherige auf Art. 3 Abs. 1 g), 10und 81 EG basierende 12 , und viele Zitate des Art. 3 I g) aus der Rechtsprechungbedürfen nun anderer Begründung. 133) Das Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb ist Bestandteil derVerträge und nimmt damit Teil am primärrechtlichen Status. Es verdeutlicht undbekräftigt zum einen den gegenwärtigen Status: Das gemeinschaftliche Wettbewerbsrechtwar immer teleologisch determiniert durch den Aufbau des Gemeinsamen-bzw. des Binnenmarktes, 14 und zur Abgrenzung von nationalen und gemeinschaftsrechtlichenKompetenzen im Wettbewerbsrecht war in Funktion einer klassischenKollisionsnorm die Betroffenheit des Handels „zwischen den Mitgliedstaaten“zu prüfen 15 . Seit Einführung der VO 1/2003 16 sind die nationalen Behörden nununmittelbar gehalten, Artikel 81 EG anzuwenden – und soweit sie dies tun auchzugleich in Übernahme der Zielfunktion und des vorrangigen Auslegungstopos desBinnenmarktes.Zum anderen verblüfft aber der Kontext des Protokolls: Es kommt nämlich nichtallein. Es wird nicht nur begleitet durch neue Interpretationstopoi (soziale Marktwirtschaft),sondern insbesondere ergänzt durch eine bislang unbekannte Kompetenzzur Regelung der gemeinwirtschaftlichen Dienste (Dienstleistungen von allgemeinemwirtschaftlichen Interesse: Artikel 16 EG, ex-III-122 Verfassungsvertrag, weiterhinmit qualifizierter Mehrheit) und durch ein weiteres Protokoll über Dienste vonallgemeinem Interesse, das nicht nur den Bezug auf – einzigartig im Vertrag - die„gemeinsamen Werte(n) der Union“ im Sinne des Art. 16 beibehält, sondern in Artikel2 bestimmt, dass die Verträge „in keiner Weise die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten[berühren], nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zurVerfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren.“ Somit werden dieFunktionsfähigkeit des Wettbewerbs und die Wahrung der Einheit des Binnenmarkteseinerseits und die der gemeinwohlorientierten Dienste auf nationaler wie gemeinschaftsweiterEbene andererseits zu gleichrangigen Gemeinwohlbelangen, dietrotz ihres immanenten Spannungsverhältnisses im gemeinschaftsrechtlichen Mehrebenensystemin Erfüllung des Optimierungsgebots des Art. 16 zu einem Ausgleichgeführt werden müssen. 1712 EuGH Rs. 2/91, Slg. 1993, 5751, Rn. 14.13 Für eine Übersicht Riley, siehe Fußnote 11.14 Für eine historische Herleitung vgl. Gerber, Law and Competition in Twentieth centuryEurope: protecting Prometheus, 2001.15 EuGH Rs. 56/65 – Maschinenbau Ulm, Slg. 1966, 303 (313).16 ABl. EG vom 4.1.2003, Nr. L 1/1.17 Pernice/Wernicke, in Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Artikel 16,Rn. 16, 26 ff. Artikel 86, Rdnr. 53 m.w.N.193


Das hier festzustellende Bedürfnis des Vertragsgebers gleich auf zwei Gebieten,dem Bezug zum Binnenmarkt und der Bedeutung der gemeinwirtschaftlichen Dienste,„klarstellend“ zu agieren, unterstreicht den Bedeutungswandel: Das Wettbewerbsprinzipwird kontextsensibler.Bislang waren zur graduellen Einhegung des Wettbewerbsprinzips aus allgemeinpolitischenErwägungen allein die verblüffend deutlichen Hinweise der Rechtsprechungaus Luxemburg zu nennen, wonach der Anwendungsbereich des Wettbewerbsrechtsselbst zu beschränken ist: etwa durch restriktive Interpretation des Unternehmensbegriffs– so im Urteil Fenin 18 –, oder für ganze Rechtsmaterien wieüberwiegend solidarisch geprägte Sozialsysteme im Urteil AOK Bundesverband 19oder schließlich durch Ausgrenzung spezifisch, national determinierter Konstellationenwie im Urteil Wouters 20 zur Kooperation von Rechtsanwälten und Bilanzprüfern.Nunmehr kann darauf verwiesen werden, dass die Regierungskonferenz selbst einenBetonungswechsel intendierte und zu Recht oder zu Unrecht von „im Prinzip“gleichrangigen Unionsbelangen ausgeht. 21 Eine Vorrangstellung des Wettbewerbsi.S. eines zentralen ordnungspolitischen Prinzips wird damit immer schwerer zukonstruieren. Die gesellschaftspolitischen Funktionen des Wettbewerbs – gleichmäßigeMachtverteilung in Wirtschaft und Gesellschaft, herrschaftsfreie Koordination,rechtliche Bindung privater Macht, Entdeckungsverfahren, Privatrechtsgesellschaft– lassen sich nur durch erhöhten Argumentationsaufwand auf die Verträge zurückführen.4) Die These eines sich andeutenden Bedeutungswandels könnte untermauertwerden durch die Einführung des neuen Begriffs der sozialen Marktwirtschaft inArtikel 2 Abs. 3, wonach die Union auf eine „in hohem Maße wettbewerbsfähigesoziale Marktwirtschaft“ hinwirkt. Diese nun auch semantisch durchgeführte Anbindungan ein „Europäisches Sozialmodell“ jenseits der Marktbürgerschaft undbloßer Verbraucherrhetorik wird nicht unbeachtet bleiben und spiegelt sich in denwiederholten Beteuerungen, dass Europa eine soziale Dimension habe. Hier wäreein Ansatzpunkt für Gerichte, etwa bei der Kontrolle von Kommissionsentscheidungenzur Fusionskontrolle oder im Beihilfenrecht Aspekte der Beschäftigungspolitikzu beachten.5) Mit dem Protokoll ist allerdings auch eine positive Festschreibung weitererKompetenzen verbunden: Die explizite Erwähnung des Artikels 308 EG lässt sichdurchaus so interpretieren, dass der Weg, den die Gemeinschaft schon mit der Fusionskontrollverordnung139/2004 22 gegangen ist (die neben Artikel 83 EG auf der18 EuGH Rs. 205/03 P – Federación Española de Empresas de Tecnología Sanitaria (FENIN),Slg. 2006, I-6295.19 EuGH Rs. 264/01 - AOK Bundesverband et alt, Slg. 2004, I-2494.20 EuGH Rs. 309/99 – Wouters, Slg. 2002, I-1577.21 Siehe bereits Cruz, in: de Burca (Hrsg.): <strong>EU</strong> Law and the Welfare State – in Search ofSolidarity, 2005, S. 169 (174 ff. m.w.N. zum Status unter dem Vertrag von Nizza).22 ABl. EG vom 29.1.2004, Nr. L 24, p. 1.194


Kompetenzgrundlage des Art. 308 EG erlassen wurde), auch in weiteren wettbewerbsrechtlichrelevanten Gebieten erfolgen kann – so es denn einstimmig vereinbartwird. Zwar ist Artikel 308 EG keine neue Norm, aber explizit darauf hinzuweisen,nachdem gerade die Debatte um den Verfassungsvertrag zu einer klarerenKompetenzabgrenzung führen sollte, ist beachtlich.Zu denken wäre hier beispielsweise an die sich teilweise überschneidenden, bisweilenkollidierenden Gebiete des Wettbewerbsrechts und des Rechts des GeistigenEigentums. Dass eine Effektivierung des Wettbewerbsrechts sich noch häufig anKonstellationen des national geprägten Immaterialgüterrechts stößt, ist hinlänglichbekannt: Gerade in Zeiten der Digitalisierung von Inhalten kann die Reterritorialisierung,gedeckt durch die Urheberrechtsrichtlinie 23 , wettbewerbsrechtlichnur schwer mit wirksamen Leitplanken versehen werden. Ein Beispiel: Das wettbewerbsrechtlicheVerbot der Wiedererrichtung von nationalen Märkten durch Vereinbarungenauf der Grundlage von Immaterialgüterrechten gilt dem Grunde nach nurfür Waren (CD) und nicht für den als Dienstleistung angesehene Internetvertrieb vonMusik – weshalb man noch heute aus den meisten Beitrittsstaaten heraus keinendownload bei iTunes durchführen kann.Positiv gewendet könnte sich hier aber auch eine weitere Öffnung ergeben: Dasbestehende Aufgreifermessen der Kommission in vielen Bereichen der Wettbewerbspolitik,das sich etwa in sektoriellen Untersuchungen wie jüngst im pharmazeutischenSektor manifestiert, kann sicherlich anders justiert werden: umfassender,unter Hinweis auf die mögliche Effektivierung auch unter Rückgriff auf Artikel 308EG – oder restriktiver, soweit nationale Prioritäten touchiert werden. An politischenVersuchen in beide Richtungen wird es nicht mangeln.III. SchlussfolgerungenIn einer Zeit, in der es um die globale Konkurrenz von Regulierungsordnungen –auch und gerade im Wettbewerbsrecht – geht, muten solche Debatten akademischan. Doch das Odium akademischer Nabelschau haftete Diskursen zur Wirtschaftsverfassungseit jeher an – und dennoch bleiben es die durch sie vermittelten Leitbilder,die für die politische Mehrheitsfindung bedeutsam sind. Eine auch in Zukunftwichtige Frage lautet: Spiegeln sich Ideen nationaler oder europäischer Solidaritätauch im Wettbewerbsrecht? 24Auf die Fragestellung des Titels nach der Wirkung der „Streichung“: „Status quoante, Neugewichtung oder Unwucht?“ könnte allerdings schon heute vorsichtig sogeantwortet werden: Die auf französische Initiative erfolgte Streichung des Prinzips23 Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001zurHarmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte inder Informationsgesellschaft, ABl. EG v. 22.6.2001, L 167 S. 10.24 Wernicke, in: van der Gronden (Hrsg.), Services under WTO and European Law, 2008, i.E.195


eines freien Wettbewerbs aus dem Verfassungsvertrag und die daraufhin erfolgteErgänzung des Vertrags um ein Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerbstellen keine bloße Rückkehr zum status quo ante vor der Diskussion zumVerfassungsvertrag dar.Eine Neugewichtung ist sicher zu vermerken, aber eindeutig kann sie noch nichtverortet werden: Zu disparat sind mögliche Richtungen, schwankend zwischenKompetenzen im Bereich der gemeinwirtschaftlichen Dienste und der vielleichtzwingend erforderlichen Kompetenzerweiterung. Eine Möglichkeit zur Schaffungvon „European Champions“, wie von Sarkozy gewünscht 25 , ist nicht zwingend gegeben– aber die politische Diskussion hierum wird ermutigt.Vielleicht lässt sich daher die durch die Streichung eingetretene Situation am bestenmit einer Unwucht vergleichen: Aus Wikipedia lernt man, dass Unwuchten beihohen Drehzahlen zu Vibrationen und erhöhtem Verschleiß führen, weshalb siedurch Gegengewichte ausgewuchtet werden. Andererseits werden Unwuchten oftabsichtlich für technische Zwecke genutzt. Vielleicht könnte die „Streichung“ desWettbewerbsprinzips als „Ziel“ der Union und eine mehr instrumentelle Wahrnehmung(„Wettbewerb als Mittel zur Erreichung politischer Zwecke“) im weiteren zueiner fruchtbaren Diskussion über die normativen Grundlagen des Wettbewerbsprinzipsführen: zu freudvollen Abgrenzungshändeln mit industriepolitischen Versuchungen(EADS), zu neu motiviertem Widerspruch bei beihilferechtlich korrektemEingriff in polithistorische Monumente (Danziger Werft) oder zu Rückbesinnungenauf Kernaspekte des Binnenmarktes bei immaterialgüterrechtlich gespaltenen Märkten(iTunes): Sollte der vertragstechnische Zweck es gewesen sein, diese Diskussionenzu beleben, dann wäre meine Schlussfolgerung jedenfalls positiv.25 Financial Times, 25.6.2007.196


Die Soziale Marktwirtschaft nach dem ReformvertragProf. Dr. Markus Kotzur ∗I. EinleitungDie soziale Bändigung von freiem Markt und unbeschränktem Wettbewerb sind demGemeinschaftsrecht weniger fremd, als Wettbewerbsorientierung und Binnenmarktkonzeptmanchen Europaskeptiker glauben machen. 1 Die Präambel des <strong>EU</strong>V willnicht erst in der Fassung von Lissabon den „sozialen Fortschritt“. Bestimmungenmit sozialer respektive sozialpolitischer Relevanz finden sich im Zielekatalog des<strong>EU</strong>V und in zahlreichen Vorschriften des EGV, die wichtigsten in Art. 136 bis 150EGV. Das europäische Verfassungsprinzip und Gemeinschaftsziel „Sozialstaat“betonen überdies die Europäische Sozialcharta und, noch sehr viel wichtiger, diesozialen Grundrechte in der <strong>EU</strong>-Grundrechte-Charta. 2 Die unionale Sozialgesetzgebungverleiht ihm Ausdruck, jedenfalls mittelbar auch die Unionsbürgerschaft, dennsie fordert solidarische Gleichbehandlung der Unionsbürgerinnen und -bürger in dennationalstaatlich organisierten Solidar- und sozialen Sicherungssystemen. 3Der Entwurf eines Verfassungsvertrages brachte denn auch weniger revolutionärenFortschritt als evolutionäre Fortschreibung. Den Vorwurf sozialblinden Rückschritts,häufig mit populistischem Unterton erhoben, verdiente er – schon mit Blickauf die inkorporierte Grundrechtecharta – nie. 4 Gleiches gilt für den nun vorliegendendreigliedrigen Reformvertrag. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, nimmtdie Kritik an sozialen Defiziten im Verfassungsvertrag durchaus ernst und will ander einen oder anderen Stelle Abhilfe schaffen.Besonders spektakulär war die Relativierung der Wettbewerbsorientierung aufDrängen Frankreichs unter Nicolas Sarkozy. Europa müsse „beschützen“, es dürfenicht „beunruhigen“, hatte der neu gewählte französische Präsident verlautbart undeine textliche Neuerung durchgesetzt. 5 In Art. I-3 Abs. 2 VVE hieß es unter derÜberschrift „Ziele der Union“ noch:∗ Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Europarecht, Völkerrecht und Öffentliches Rechtan der Universität Leipzig.1 Instruktiv zum wirtschaftsverfassungsrechtlichen Konzept des Gemeinschaftsrecht: Schwarze,EuZW 2004, 135.2 Enders, VVDStRL 64 (2005), 7 (31).3 Borchardt, NJW 2000, 2057.4 Symptomatisch etwa die Internet-Plattform von „Attac“:http://www.attac.de/stuttgart/textarchiv/neoliberales_europa.htm.5 Siehe etwa SZ vom 23./24. Juni 2007, S. 23; FAZ vom 23. Juni 2007, S. 9.197


„Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit unddes Rechts und einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb.“Die neu gefasste Parallelbestimmung in Art. 3 Abs. 2 und 3 <strong>EU</strong>V formuliert vorsichtigerund systematisiert wettbewerbskritischer. Zunächst sagt Abs. 2:„Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit unddes Rechts ohne Binnengrenzen, in dem in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezugauf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütungund Bekämpfung der Kriminalität der freie Personenverkehr gewährleistet ist.“Der Binnenmarkt mit „freiem und unverfälschten Wettbewerb“ ist weggefallen,er begegnet erst in Abs. 3 UAbs. 1: „Die Union errichtet einen Binnenmarkt.“ ImÜbrigen bleibt es bei der ursprünglichen Textfassung des VVE:„Sie wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenenWirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige sozialeMarktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohesMaß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.“Die Wettbewerbsfähigkeit ist nur noch ein Attribut der sozialen Marktwirtschaft,sie findet sich aber auch in Protokollerklärungen wieder 6 .Ob diese symbolträchtige Neuformulierung mehr war als eine kosmetische Operation,darf kritisch bezweifelt werden, ist aber nicht ausgeschlossen. 7 Immerhin hatder EuGH es in der Hand, dieses entstehungsgeschichtliche Moment in seine spätereInterpretation einzubeziehen. Und ein weiteres skeptisches Monitum sei angemerkt.Die schwächere Wettbewerbsorientierung stärkt nicht etwa nur das soziale Europa,sondern sie leistet auch – durchaus eher im französischen als im gemeineuropäischen8 Interesse – der Staatswirtschaft und protektionistischen Tendenzen Vorschub.Protektionismus aber erweist auf lange Sicht weder dem wettbewerbsfähigen nochdem sozialen Europa einen guten Dienst, ganz abgesehen von der globalen Verantwortungder Union für nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit. 9 Damit zu dentextlichen Neuerungen im Einzelnen:II. Der Textbefund1. Im UnionsvertragFür den Unionsvertrag sei auf die Unionsziele verwiesen. Unter diesen kommt dersozialen Marktwirtschaft und dem sozialen Fortschritt im Kontext von nachhaltiger6 Vgl. etwa FAZ vom 25. Juni 2007.7 Siehe Häberle, Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2008, S. 695.8 Zu Begriff und Idee des „Gemeineuropäischen“ Häberle, EuGRZ 1991, S. 261 ff.; ders.,Europäische Rechtskultur, 1994 (TB 1997), S. 33 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 5.Aufl. 2008, S. 104 ff., 124 ff. und öfter.9 Dazu Kotzur, Soziales Völkerrecht für eine solidarische Völkergemeinschaft?, JZ 2008, i. E.198


Entwicklung, ausgewogenem Wirtschaftswachstum und Umweltschutz ein wichtigerStellenwert zu. Art. 2 des Unionsvertrages, der nach der Neufassung zu Art. 3 wird,sagt im bereits zitierten Absatz 3:„Die Union (…) wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenenWirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähigesoziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowieein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin.“Überdies verpflichtet sich die Union, soziale Ausgrenzung und Diskriminierungzu bekämpfen sowie die soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz zu fördern. Indieser querschnittsartigen Zielorientierung wirkt die Nachhaltigkeit wie ein sektorenverbindendesLeitmotiv. 10 Die Verantwortungsbereitschaft des modernen Vorsorgestaatesgriffe zu kurz, hätte sie nur kurzzeitige Symptombekämpfung anstattnachhaltiger Problembewältigung zum Ziel. Nachhaltigkeit hat auch über das Europarechthinaus Leitbildfunktion, ihre Zielvorstellungen gehen vor allem zurück aufinternationale und europäische Impulse aus dem Bereich des Umweltrechts. Erstmalsin dieser Ausdrücklichkeit findet sich der Begriff im Brundtland-Bericht. 11 DieKonferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Riode Janeiro (1992) 12 nahm den Grundsatz des „Sustainable Development“ in die Rio-Deklaration auf, ebenso in das darauf beruhende Aktionsprogramm Agenda 21. 13Der Sozialstaat hat sich den Aufgaben der Daseins-, Risiko- und Wachstumsvorsorgezu stellen. Gemeinsam ist dieser Aufgabetrias nicht nur ihre Bedürfnisorientierung(Bedürfnisse der gegenwärtigen und der künftigen Generationen), sondern auchdas Element der Dauerhaftigkeit mit seinem impliziten Prozesscharakter. Dass derverteilende Staat angesichts knapper Mittel zu einer vorausschauenden und systematischenPlanung verpflichtet ist, folgt aus den genannten Vorsorgedimensionen. 14Diese Verpflichtung ist zugleich Gebot der politischen Vernunft, der ökonomischenRationalität und auf mitgliedstaatlicher wie europäischer Ebene positivierte Rechtspflicht.10 Frenz, EWS 2007, 337; Kotzur, BayVBl. 2007, 257.11 Our Common Future, Report of the World Commission on Environment and Development,1987, entspricht in deutscher Übersetzung Hauff (Hrsg.), Unsere gemeinsame Zukunft, 1987;dazu auch Calliess, DVBl. 1998, 559.12 United Nations Conference on Environment and Development, dazu aus der Lit. Beyerlin,ZaöRV 54 (1994), 132; Ruffert, ZUR 1993, 208.13 Brückmann, UPR 2002, 168; ders., UPR 2001, 121; Bergmann, NDV 2002, 201.14 Siehe Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, 1979, S. 383 ff.; Kirchhof,Mittel staatlichen Handelns, HStR, Bd. V, 1992, § 125, Rn. 103; Hoppe, Planung, HStR,Bd. III, 1988, § 71, Rn. 83.199


2. Im „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (A<strong>EU</strong>V) – vormalsEGVa) PräambelbekenntnisseDer Vorspruch zum A<strong>EU</strong>V erzählt – präambeltypisch – von werthaften Bekenntnissenund wegleitenden Erkenntnissen, er sucht retrospektiv Orientierung in der Vergangenheitund wagt prospektiv den Blick in die Zukunft. Er formuliert schließlichin feierlichem Sprachduktus die Quintessenz des folgenden operativen Vertragstextes.15 Wo die formale Geschlossenheit eines einheitlichen Verfassungsvertragesverloren geht, „verklammern“ immerhin die Präambeln von <strong>EU</strong>V und A<strong>EU</strong>V inihren wechselbezüglichen Formulierungen die beiden Vertragswerke. Deshalb greiftder A<strong>EU</strong>V den „sozialen Fortschritt“ aus dem <strong>EU</strong>V auf und formuliert: „(…) entschlossen,durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschrittihrer Staaten zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigen.“Sozialer Fortschritt verlangt nach dem Selbstverständnis der Union die Dynamik derEntgrenzung.b) Zu den KompetenzenWie schon im Verfassungsentwurf wird nunmehr in Art. 4 zwischen ausschließlicherund geteilter Zuständigkeit unterschieden. 16 Gemäß Abs. 2 lit. b unterfällt die„Sozialpolitik hinsichtlich der in diesem Vertrag genannten Aspekte“ der geteiltenZuständigkeit. Besonders hervorgehoben ist in Abs. 2 lit. c der „wirtschaftliche,soziale und territoriale Zusammenhalt“. Deutlich wird, dass die Union das sozialeMoment als einen maßgeblichen Integrationsfaktor begreift. Freilich aber greift diesozialpolitische Zuständigkeit nur dort, wo ohnehin der Kompetenzraum der Unioneröffnet ist. Diese dem Prinzip der begrenzten Einzelfallermächtigung korrespondierendeLimitierung macht der Textpassus „hinsichtlich der in diesem Vertrag genanntenAspekte“ unmissverständlich klar.Ein Wort zu den geteilten Zuständigkeiten: Die Mitgliedstaaten dürfen hier ihreeigene Zuständigkeit soweit wahrnehmen, als die Union ihre Regelungskompetenzennicht ausgeschöpft hat, eventuell sogar entschieden hat, diese endgültig nicht15 Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Festschrift für Broermann,1982, S. 211 (245); siehe auch Kulow, Inhalte und Funktionen der Präambel des EG-Vertrages, 1997, zu den kognitiven, deliberativen und voluntativen Elementen von Präambeltexten;Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtschutzes, 2001, S. 102.Präambeln sind, wie schon Art. 31 Abs. 2 WVK zeigt, aber auch ein integraler Bestandteildes jeweiligen Vertragstextes und entfalten im Rahmen ihrer spezifischen Funktionen rechtlicheBindungswirkung, in diesem Sinne schon Fitzmaurice, The British Yearbook of InternationalLaw 33 (1957), 202 (228).16 Zur Kompetenzverteilung im Entwurf des Verfassungsvertrages siehe Epiney, Jura 2006,755.200


mehr auszuüben. 17 Das Regelungskonzept entspricht damit der aus dem bundesstaatlichenKompetenz- und Normengefüge bekannten Rahmengesetzgebung. Es entsprichtin seinen Grundzügen weitgehend der bisherigen Regelung in Art. 136 EG.Gemäß Art. 5 Abs. 3 des neuen Vertrages kann die Union Initiativen zur Koordinierungder Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ergreifen. Diese „Koordinierungs-Kompetenz“ ist durch das Prinzip der begrenzten Einzelfallermächtigung und dasSubsidiaritätsprinzip doppelt beschränkt; vor allem darf Koordinierung nicht mitHarmonisierung verwechselt werden.c) Zu den allgemeinen Vorschriften und den Politiken der UnionUnter Titel II „Allgemeine anwendbare Bestimmungen“ findet sich in Art. 9 einesozialpolitisch inspirierte Querschnittsklausel:„Bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik (…) trägt die Union den Erfordernissen imZusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistungeines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie miteinem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des GesundheitsschutzesRechnung.“ Art. 14 verknüpft nach bewährtem Muster „sozialen und territorialen Zusammenhalt“.Die soziale Dimension der Unionsbürgerschaft, die der EuGH in heftig umstrittenerRechtsprechung bisher schon schöpferisch ausgeweitet hat, 18 erfährt in Art. 18Abs. 3 neue Konturierung:„Zu den gleichen wie in Abs. 1 genannten Zwecken kann der Rat, sofern die Verträge hierfüranderweitig keine Befugnis vorsehen, nach einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmenerlassen, die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen. Der Rat beschließteinstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“Ob die dynamische Fortentwicklung der Unionsbürgerschaft im Sinne gleichersozialer Teilhabe durch den EuGH damit befördert oder eher „gesetzgeberisch gebändigt“wird, bleibt abzuwarten.Im Kontext der Arbeitnehmerfreizügigkeit trägt der neu gefasste letzte Absatzvon Art. 42 mitgliedsstaatlichen Bedenken in Sachen gemeineuropäischer SozialstandardsRechnung:„Erklärt ein Mitglied des Rates, dass ein Entwurf eines Gesetzgebungsakts nach Abs. 1 wichtigeAspekte seines Systems der sozialen Sicherheit wie dessen Geltungsbereich, Kosten oderFinanzstruktur verletzen oder dessen finanzielles Gleichgewicht beeinträchtigen würde, sokann es beantragen, dass der europäische Rat befasst wird. (…).“Auch das Wettbewerbsrecht ist nicht sozialblind. In Art. 87 Abs. 3 lit. a am Endewird folgender Satzteil angefügt: „(…) sowie der in Art. 299 genannten Gebiete17 Aus der Lit.: Richter, EuZW 2007, 631; Rabe, NJW 2007, 3153.18 Haltern, Europarecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 775; U. Becker, ZFSH/SGB 2007, 134; K.Hailbronner, NJW 2004, 2185.201


unter Berücksichtigung ihrer strukturellen wirtschaftlichen und sozialen Lage“.Territorial radizierte soziale Asymmetrien dürfen also in Zukunft im Wege der Beihilfeausgeglichen werden. Der neuen Textfassung kommt insoweit jedenfalls eineKlarstellungsfunktion zu.Durchaus programmatisch zu verstehen ist eine systematische Neuerung: Titel XIwird Titel IX und heißt jetzt kurz und bündig: „Sozialpolitik“. Auf Art. 136 folgt einneuer Art. 136 a:„Die Union anerkennt und fördert die Rolle der Sozialpartner auf Ebene der Union unter Berücksichtigungder Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme. Sie fördert den sozialen Dialogund achtet dabei die Autonomie der Sozialpartner. Der dreigliedrige Sozialgipfel für Wachstumund Beschäftigung trägt zum sozialen Dialog bei.“ Einerseits finden die Sozialpartner aufunionaler Ebene gewichtige Erwähnung, andererseits bleibt das soziale Europa „in Vielheitgeeint“, und zwar mit einem unzweideutigen Akzent auf der „Vielheit“. Titel X gilt dem „EuropäischenSozialfonds“.Die neu gefasste Überschrift von Titel XVII bringt eine interessante Kontextualisierung.Der wirtschaftliche und soziale wird mit dem territorialen Zusammenhaltverknüpft. Die soziale Dimension des Ausgleichs zwischen strukturschwachen undstrukturstarken Regionen/Mitgliedstaaten ist damit auf eine neue Textstufe gehoben.Auch im Zusammenhang mit den einzelnen Politiken ist das soziale Moment häufigangesprochen, etwa der „soziale Aufbau der Landwirtschaft“ bei der Agrarpolitik(Art. 33). Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen. Ganz allgemein sind vorallem Querschnittsklauseln und Harmonisierungsregelungen typische Regelungszusammenhänge,um auch im neuen Vertragswerk soziale Für- und Vorsorgeaufgabenbezogen auf gemeinschaftsrechtlich anerkannte Schutzgüter zu entfalten. 193. In der <strong>EU</strong>-GrundrechtechartaDie <strong>EU</strong>-Grundrechtecharta formuliert einen der weltweit wohl modernsten Menschenrechtstexte.Frühe Textvorbilder liefern Art. 22 der Allgemeinen Menschenrechtserklärungvom 10. Dezember 1948, Art. 6 ff. des IPwirtR vom 19. Dezember1966 und die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961, später hinzugekommenist die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9.Dezember 1989. 20Weit stärker als im deutschen Grundgesetz oder anderen mitgliedstaatlichen Verfassungen,weit stärker auch als in der EMRK ist der Aspekt sozialer Teilhabe be-19 Enders, VVDStRL 64 (2005), 7 (31).20 In der neuen Präambel zum <strong>EU</strong>V heißt es: „in Bestätigung der Bedeutung, die sie (die Mitgliedstaaten)den sozialen Grundrechten beimessen, wie sie in der am 18. Oktober 1961 inTurin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialenGrundrechte der Arbeitnehmer von 1989 festgelegt sind“. Vgl. auch Enders, VVDStRL 64(2005), 7 (31).202


ücksichtigt. 21 Kapitel IV wählt mit der Solidarität ein „klassisches Strukturprinzipder europäischen Moderne“ 22 zur programmatischen Überschrift und entfaltet in Art.27 ff. das mitunter vergessen Ideal der Brüderlichkeit zu normativ verbindlichenKonkretisierungen. Damit wird die soziale Marktwirtschaft individualrechtlich abgesichert.Dass die Grundrechtecharta, britischem und polnischem „opting out“ zumTrotz – von völkerrechtlichem soft law zu verbindlichem europäischen Verfassungsrechterstarkt, ist für das soziale Europa der wohl nachhaltigste Gewinn.III. GesamtbewertungAuch wenn der Reformvertrag – klug politischer Notwenigkeit gehorchend, unklugder Verfassungswirklichkeit im europäischen Verfassungsverbund (I. Pernice) trotzend– auf den Verfassungsbegriff verzichtet 23 : Das konstitutionelle Europa bedarfder sozialen Dimension als Gemeinschaftsprinzip. Und dass der Sozialstaat wenigerstaatsbezogenen als prinzipiellen Charakter hat, kann den Wandel vom nationalenStaats- zum Gemeinschaftsziel nur begünstigen – ist doch die Europäische Integrationselbst ein Prozess der Prinzipienbildung. 24 Denn Prinzipien wirken universellerals Regeln, die sie in einem kulturell-partikulären Rechtsraum erst stufenweise konkretisierenwollen. 25 Prinzipien haben im Europäischen Gemeinschaftsrecht traditionellihren festen Platz, 26 entweder als originäre „Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts“oder als „allgemeine Grundsätze, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaatengemeinsam sind.“ 27 Das wichtigste verfassungsbildende Beispiel gebendiesbezüglich die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze. 28 Die grundrechtli-21 Allgemein Winner, Die Europäische Grundrechtscharta und ihre soziale Dimension, 2005.22 Volkmann, Solidarität – Programm und Prinzip der Verfassung, 1998; aus der (europarechtlichen)Lit. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht,2003, S. 149 (182); vorher bereits Tomuschat, Solidarität in Europa, in: Capotortiu. a. (Hrsg.), Liber Amicorum Pescatore, 1987, S. 729 ff.; Bieber, Solidarität als Verfassungsprinzip,in: von Bogdandy/Kadelbach (Hrsg.), Solidarität und Europäische Integration,2002, S. 38 ff.; siehe auch Kersting, Von der Verteilungsgerechtigkeit zur politischen Solidarität– Probleme der Sozialstaatsbegründung, in: Die Zukunft des Sozialen, 2001, S. 67 ff.23 Siehe auch Mayer, JZ 2007, 593; Heinig, JZ 2007, 905.24 Von Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht,2003, S. 149 (155 f.).25 Vgl. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre, 1995, S. 4 (ratio legis undRechtsprinzip).26 Von Bogdandy, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2002; Kadelbach, AllgemeinesVerwaltungsrecht unter europäischem Einfluss, 1999, S. 109 ff.; Schröder, Das Gemeinschaftsrechtssystem,2002, S. 262 ff.27 EuGH verb. Rs. 46/93 and 48/93 – Brasserie de Pêcheur, Slg. 1996, I-1029, Rn. 27; sieheauch Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, 1988, S. 62 ff.; vorher schon Rengeling,Rechtsgrundsätze beim Verwaltungsvollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts,1977, S. 194 ff.28 EuGH Rs. 29/69 – Stauder, Slg. 1969, 419 (425).203


che Absicherung sozial gebändigter Marktwirtschaft gehört denn auch zu den wichtigstenErfolgen des Reformprojekts. 29 Das bisweilen vergessen geglaubte Ideal derBrüderlichkeit findet im neuen europäischen Vertragswerk durchaus seine Fürsprecher.29 Dabei sei nicht vergessen, dass auch der freie Wettbewerb auf grundrechtlicher Freiheit fußt.204


Umwelt, Energie und LandwirtschaftDr. Marc-Oliver Pahl ∗I. EinführungDie Gemeinsame Agrarpolitik ist seit den Römischen Verträgen rechtlich, politischund finanziell einer der Grundpfeiler der Europäischen Gemeinschaft. Die Umweltpolitikhat sich seit den Siebziger Jahren in mehreren politischen und rechtlichenSchüben ebenfalls zu einem stark europäisierten Politikbereich entwickelt.Die Energiepolitik war hinsichtlich des Aspektes der friedlichen Nutzung der Kernenergiemit dem Euratom-Vertrag ebenfalls Bestandteil der Römischen Verträge.Außerhalb der Atomenergie war die Energiepolitik aber bis zum Jahr 2007 relativwenig europäisiert, spätestens seit den grundlegenden Energie- und Klimaschutzbeschlüssender <strong>EU</strong>-Institutionen im ersten Halbjahr 2007 steht aber auch die Energiepolitikvor einem Europäisierungsschub.Die drei Themen Umwelt, Energie und Landwirtschaft stehen somit in der Geschichteder europäischen Integration für drei verschiedene Entwicklungsphasen.Die drei Politikbereiche haben sich in den letzten Jahren thematisch stark miteinanderverwoben. Man denke nur an die heute sehr intensiv diskutierten Themen Klimaschutzund Erneuerbare Energien. Daher sollen die drei Themen hier in einenÜberblick eingebunden werden.Der Status des Reformvertrages (RV) soll dabei sowohl vor dem Hintergrund desvertraglichen Status Quo als auch vor dem Hintergrund des Verfassungstexts analysiertwerden.II. UmweltIm Umweltbereich hat der Reformvertrag – wie schon der Verfassungstext – keinegroßen Änderungen gebracht. Im Wesentlichen wurde der durch die Vertragsänderungender EEA, des Maastrichter und Amsterdamer Vertrages geprägte hohe StatusQuo bewahrt.Umweltaspekte sind zu Beginn des zukünftigen <strong>EU</strong>V, im Zielartikel des Art. 3<strong>EU</strong>V nach dem Reformvertrag (=<strong>EU</strong>V-RV), entsprechend Art. I-3 EuropäischeVerfassung (=EV) signifikant gewichtet. Der im EGV sehr weit vorne verankerte∗Der Verfasser ist Referent für Europa und Internationales im Ministerium für Umwelt undNaturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen. Der Beitrag gibtausschließlich die persönliche Position des Autors wieder.205


und dadurch deutlich sichtbare Umweltintegrationsartikel (Art. 6 EGV) ist im RVdurch seine systematische Position und die Zusammenführung mit anderen Querschnitts-und Integrationsklauseln weniger exponiert (Art. 6 Vertrag über die Arbeitsweiseder Europäischen Union=A<strong>EU</strong>V). Es ist aber nicht zu erwarten, dass diesgroße rechtliche und politische Wirkungen entfalten wird, zudem ist seine zukünftigePosition zumindest exponierter als in der EV (dort Art. III-119 EV).Die einzige Innovation des RV im Umweltbereich ist die Ergänzung des „internationalenKlimaschutzes“ als explizites Ziel der europäischen Umweltpolitik. Da die<strong>EU</strong> bekanntlich auch unter dem allgemeinen Ziel der „Maßnahmen (...) zur Bewältigungglobaler Umweltprobleme“ Vorreiter der internationalen Klimaverhandlungenwar, ist nicht damit zu rechnen, dass die Ergänzung politische und rechtliche Folgenhaben wird.Der rechtlich und praktisch wichtigste Aspekt des Umwelttitels im EGV bleibtunverändert: Auch in Zukunft gilt für Umweltfragen allgemein das Mitentscheidungsverfahren,welches in Zukunft als ordentliches Gesetzgebungsverfahren bezeichnetwird. Es bleibt aber im Reformvertrag – trotz der intensiven KlimaschutzundEnergiedebatten unmittelbar vor dem Verfassungsgipfel im Juni 2007 – wie inder EV bei wichtigen Ausnahmen: Bei „Maßnahmen überwiegend steuerlicher Art“und bei Maßnahmen, die die Struktur der Energieversorgung eines Mitgliedstaateserheblich berühren, entscheidet weiterhin der Rat und zwar mit Einstimmigkeit (Art.175 II EGV/192 II A<strong>EU</strong>V). An dieser zentralen Nahtstelle zwischen Umwelt- undEnergiepolitik wird es daher wegen des Vetorechts jedes einzelnen Mitgliedsstaats –trotz allgemein anerkannten Bedarfs – vermutlich wenige neue Entwicklungsschrittein der <strong>EU</strong>-27 geben. Fortschritte könnte hier möglicherweise das im Vergleich zurEV weitgehende unveränderte Instrument der verstärkten Zusammenarbeit (Art 10<strong>EU</strong>V-RV und Art. 326 ff. A<strong>EU</strong>V) bringen.III. EnergieAuf den ersten Blick ganz anders als im Umweltbereich sieht die Analyse der Neuerungendes RV zur Energiepolitik aus. Wie schon in der EV vorgesehen, soll es imRV erstmals einen eigenständigen Energietitel geben (Titel XX, Art. 194 A<strong>EU</strong>V,unmittelbar nach dem Umwelttitel). Darin werden zum einen Ziele wie die Funktionsfähigkeitdes Energiebinnenmarkts, Energieversorgungssicherheit, Förderungvon Energieeffizienz und Energieeinsparung, Entwicklung neuer und erneuerbarerEnergiequellen und Interkonnexität der Netze vorgegeben. Viele dieser Ziele sindpolitisch und rechtlich nicht neu, durch ihre explizite Festschreibung im Vertraggewinnen sie aber neue rechtliche und politische Qualität.Bemerkenswert ist auch, dass die Energiepolitik „aus dem Stand heraus“ in diezweithöchste Zuständigkeitskategorie der „Geteilten Zuständigkeit“ eingeordnetwird (Art. 2 II, Art. 4 A<strong>EU</strong>V). Auch für die zukünftige Europäische Energiepolitikgilt grundsätzlich das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, die im Umweltbereich206


vorgesehenen Ausnahmen von der Mehrheitsentscheidung gelten jedoch auch imEnergiebereich (Art. 194 A<strong>EU</strong>V).Die wesentliche Neuerung des RV im Vergleich zur EV ist die Aufnahme desAspektes der „Energie(versorgungs)solidarität“ in Art. 194 I A<strong>EU</strong>V, aber auch inArt. 122 I A<strong>EU</strong>V. Diese Ergänzungen entsprachen einer Forderung der polnischenRegierung. Hintergrund dieser Forderung waren zum einen allgemein die AbhängigkeitPolens, aber auch vieler anderer ost- und mitteleuropäischer Länder, vonEnergieimporten aus Russland, zum anderen konkrete Streitfälle wie die (kurzzeitige)Unterbrechung der Erdgaszufuhren aus Russland nach Zentraleuropa im Zugeeines Streits zwischen Russland und dem Transitland Ukraine in 2007 sowie der Fallder so genannten Ostseepipeline. Ob dem Prinzip der Energiesolidarität in Zukunfteine relevante politische Bedeutung zukommen wird oder dieses Prinzip sogar alsjustiziabel angesehen wird, bleibt abzuwarten. Relevanz haben könnte dieses Prinzipz.B. bei dem Zugriff auf (nationale) Energiereserven im Fall eines kurzfristigenVersorgungsnotstandes.Die zukünftige Bedeutung der Energiesolidiarität dürfte auch davon abhängen,wie das vertragliche Prinzip der Solidarität in Zukunft allgemein interpretiert wird.Der Begriff der „Solidarität“ wird im RV – wie schon vorher in der EV – an vielenStellen gebraucht: beginnend mit Art. 2 und 3 <strong>EU</strong>V-RV, über Art. 21 <strong>EU</strong>V-RV zumAuswärtigen Handeln und Art. 67 A<strong>EU</strong>V zur Innen- und Justizpolitik bis zur neuenSolidaritätsklausel in Katastrophenfällen, Art. 222 A<strong>EU</strong>V. Auch der Solidaritätsfondsder <strong>EU</strong> ist erst in den letzten Jahren entstanden. Es gibt insofern zahlreicheAnsatzpunkte um ein bisher im <strong>EU</strong>-Recht nicht ausgeprägtes Solidaritätsprinzipauszuformen.Das mit dem Reformvertrag verfolgte neue Konzept eines Vertrages zur Änderungder bisherigen europäischen Verträge bringt möglicherweise auch eine relevanteÄnderung für den zukünftigen Status des Euratom-Vertrages im Vergleich zumKonzept der EV mit sich. Mit der EV war die Zusammenführung des <strong>EU</strong>V und desEGV (zusammen mit der Grundrechtecharta) in einem Text mit hoher politischerSichtbarkeit geplant. Der Euratom-Vertrag hingegen sollte – insbesondere auch aufBetreiben der damaligen deutschen Bundesregierung – außerhalb der Verfassungskonstruktionbleiben und nur durch ein Protokoll zur EV rechtstechnisch an das neue„Verfassungs-Europa“ angepasst werden. Im Verfassungstext selbst war Euratomnicht erwähnt. Zumindest politisch, wenn auch nicht formaljuristisch, wäre der Euratom-Vertragzu einem Rechtsdokument zweiter Klasse geworden. Da nach demReformvertrag aber <strong>EU</strong>V und EGV (als A<strong>EU</strong>V) weiter bestehen bleiben, ist derEuratom-Vertrag – trotz der Tatsache der separaten Rechtspersönlichkeit der EuropäischenAtomgemeinschaft gegenüber der neuen einheitlichen Europäischen Union– weniger randständig als er es neben einer EV gewesen wäre.Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass der Euratom-Vertrag im Gegensatz zurVerfassung im Reformvertrag an zwei Stellen erwähnt wird (Art. 4 RV mit demVerweis auf das Protokoll Nr. 2 zur Änderung des Vertrags zur Gründung der EuropäischenAtomgemeinschaft und in der Präambel des RV), und zwar ohne dass dieseÄnderung zur Verfassung im Regierungskonferenz-Mandat des Europäischen Rates207


explizit erwähnt worden wäre. Bemerkenswert ist insbesondere, dass der Verweisauf den Euratom-Vertrag in der Präambel im ersten Entwurf fehlte und erst im Verlaufder Regierungskonferenz aufgenommen worden ist. Der Vorschlag stammtenicht zufällig von dem Vorsitzenden der Regierungskonferenz-Gruppe der Rechtsexperten,dem aus Frankreich stammenden Rechtsberater des Rates, Piris.Die Frage, ob der Euratom-Vertrag in Zukunft als einer der drei europäischenGründungsverträge oder ein aus den Fünfziger Jahren stammendes Sonderregimezur Förderung der zivilen Nutzung der Atomkraft angesehen wird, stellt sich injedem Fall neu. Diese Frage dürfte einen Einfluss auf die politischen und finanziellenSchwerpunktsetzungen der zukünftigen europäischen Energiepolitik haben.IV. LandwirtschaftWichtigste Änderung im Bereich der Landwirtschaft ist der Übergang zum ordentlichenGesetzgebungsverfahren bei den Gemeinsamen Marktordnungen (Art 42 IIAUEV), es soll also in diesem Bereich eine gleichberechtigte Mitwirkung des EuropäischenParlaments geben. Bei der Festsetzung von Preisen, Beihilfen etc. entscheidetdas EP aber weiter nicht mit (Art 42 II AUEV). Da jedoch gleichzeitig imHaushaltsverfahren die für den Agrarbereich besonders relevante Unterscheidung inobligatorische und nicht-obligatorische Ausgaben aufgehoben wird (bisher Art. 272EGV, insbes. Abs. IV; jetzt entsprechend der EV neu gefasster Art. 313 A<strong>EU</strong>V),steigt letztendlich auch der Einfluss des EP auf die zukünftige Ausgabenpolitik imAgrarbereich. Durch das weiterhin bestehende Einstimmigkeitserfordernis im Ratbei den Eigenmitteln (Art. 311 A<strong>EU</strong>V, zudem ratifizierungsbedürftig und nur mitAnhörung des EP) und bei der finanziellen Vorausschau (in Zukunft „MehrjährigerFinanzrahmen“, neu im Vertrag als Art. 312 A<strong>EU</strong>V) bleibt aber letztendlich dochdie Prärogative für den Agrarhaushalt beim Rat.Der Vollständigkeit halber seien auch zwei weniger bedeutsame Änderungen genannt:Im Landwirtschaftstitel wird in Zukunft durchgehend der Aspekt der „Fischerei“ergänzt (wie bereits in der EV vorgesehen). Und das bisherige Tierschutzprotokollwird als neuer Art. 13 A<strong>EU</strong>V sichtbarer verankert (wie Art. III-121 EV).V. SchlussfolgerungenMit dem RV ist – trotz der sehr unterschiedlichen historischen Ausgangspunkte –eine deutliche Annährung der rechtlichen Grundlagen für die Umwelt-, Energie- undLandwirtschaftspolitik in der <strong>EU</strong> festzustellen. Nach der neuen Kategorisierungfallen alle drei Bereiche in die „geteilte Zuständigkeit“, für sie gilt zudem das normaleHaushaltsverfahren. In allen drei Bereichen gibt es zudem eine breite Anwendungdes Mitentscheidungsverfahrens bzw. des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrensund damit eine Ausdehnung der Rechte des Europäischen Parlaments. Insge-208


samt kann man daher im Bereich Umwelt, Energie und Landwirtschaft von einervertraglichen Konsolidierung auf hohem Niveau sprechen.Nach wie vor gibt es aber wichtige Ausnahmen, in denen der Rat einstimmig entscheidetund das Parlament nicht gleichberechtigt beteiligt ist. Große neue „Vergemeinschaftungen“(oder in Zukunft wohl „Unionisierungen“) gab es aber nicht.Angesichts der Herausforderungen im Bereich der Klima- und Energiepolitik (z.B.dem aktuellen Streit um die Aufteilung der Unionsziele für den Klimaschutz und dieerneuerbaren Energien auf die einzelnen Mitgliedstaaten) und der Sachzwänge zurRevision der finanziellen Grundlagen der <strong>EU</strong> ist zweifelhaft, ob der Reformvertrag(wie auch die EV) in diesen Bereichen mutig genug vorangeschritten ist. Zukünftigeweitere Integrationsschritte erscheinen notwendig oder zumindest wünschenswert.209


Perspektiven der RatifikationPolnische Erfahrungen und ErwartungenProf. Dr. Stanislaw Biernat ∗Am Anfang möchte ich einige Bemerkungen über den Charakter des Reformvertragesaus der Perspektive der polnischen Rechtsordnung und über die Ratifizierungsverfahrenmachen.Dieser Vertrag wird, genauso wie der Beitrittsvertrag, als besonderer völkerrechtlicherVertrag im Sinne des Art. 90 Abs. 1 der polnischen Verfassung anerkannt.Danach kann die Republik Polen auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertragseiner internationalen Organisation oder einem internationalen Organ Kompetenzender Staatsgewalt in einzelnen Angelegenheiten übertragen. Für solche Verträgewurde ein besonderes Ratifizierungsverfahren vorgesehen. Das in Art. 90 Abs. 2-4der Verfassung geregelte Verfahren kennt zwei Alternativlösungen: entweder durchRatifizierungsgesetz, oder durch eine landesweite Volksabstimmung. Beide Lösungensind verfassungsrechtlich gleichrangig, wobei der Sejm (das „Unterhaus“ desParlaments) ein Verfahren bestimmt.An das Ratifizierungsgesetz stellt die Verfassung höhere Anforderungen als ansonstige Gesetze. Im Sejm und im Senat sind jeweils eine Zwei-Drittel-Mehrheiterforderlich sowie die Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gesetzlichen Zahlder Abgeordneten bzw. Senatoren. Bei einem landesweiten Referendum ist wiederumdas Ergebnis (gem. Art. 125 Abs. 3 Verf.) bindend, wenn sich mehr als die Hälfteder Stimmberechtigten beteiligen. Solch rigorose Voraussetzungen für die Verbindlichkeitdes Referendums gibt es in keinem anderen Mitgliedstaat.In Polen ist die politische Entscheidung über das Ratifizierungsverfahren des Reformvertragesnoch nicht getroffen. Das war im Fall des Beitrittsvertrages 2003anders. Damals war die politische Entscheidung zum Modus der Ratifizierung desBeitrittsvertrags längst gefallen, als am Tage der Unterzeichnung des Vertrags inAthen der formelle Sejmbeschluss über die Durchführung der landesweiten Volksabstimmungerging. Sofern es aber um die Ratifizierung des Verfassungsvertrag in2005, nach den gescheiterten Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlandenund der anschließenden Entscheidung des Europäischen Rates, die Frist fürdie Ratifizierung des Vertrages zu verlängern, geht, so hat der Sejm im Juli 2005 dieEinstellung des Ratifizierungsverfahrens in Polen beschlossen. Diese Auffassung∗Der Verfasser ist Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der JagiellonischenUniversistät, Krakau.210


kann beim Abschluss eines internationalen Vertrages als fehlende Loyalität kritisiertwerden. Vielleicht war es jedoch damals die bessere Lösung, denn ein möglichesScheitern des Verfassungsvertrages in einer Volksabstimmung, hätte eine spätereRatifizierung des Reformvertrages erschwert.Es ist zu betonen, dass der Reformvertrag bis jetzt, ähnlich wie auch der Verfassungsvertrag,nicht zum Thema einer breiten öffentlichen Debatte wurde. Politikerkonzentrierten sich grundsätzlich auf eine Frage – die Beschlussfassung im Rat. DieVerteidigung der bisherigen Abstimmungsmethode wurde als Kampf um das nationaleInteresse dargestellt. Als klar wurde, dass das alte Abstimmungsverfahren nichtzu wahren war, verwendeten sowohl der polnische Präsident als auch die polnischeRegierung viel Energie darauf, die Ioannina-Klausel zu propagieren und zu verteidigen,also einen Mechanismus, der Beschlüsse im Rat blockieren kann.In der letzten Zeit wird in der politischen Diskussion auch die Charta der Grundrechtekritisiert. Hierzu soll bemerkt werden, dass die Kritik hauptsächlich auf einemfalschen Verständnis des Inhaltes und der Rechtsfolgen der Charta beruht. Inoffiziellist bekannt, dass die polnische Regierung befürchtet, homosexuelle Ehen, diein anderen Mitgliedstaaten geschlossen werden, respektieren zu müssen. Deswegenwurde dem Entwurf des Reformvertrages das Protokoll 7 beigefügt. Polen hat sichdem Protokoll, das ursprünglich für das Vereinigte Königsreich bestimmt war, angeschlossen.Gegenwärtig ist es noch schwer, die konkreten Auswirkungen diesesProtokolls zu bestimmen.Ich möchte, dass mein Bericht einen juristischen Charakter bewahrt. Es lohnt sichjedoch, die Perspektiven der Ratifizierung des Reformvertrages nach den letztenParlamentswahlen wenigstens kurz aufzuzeigen: Die bisherige Regierung war euroskeptisch.Sie vertraute den großen Mitgliedstaaten nicht und betonte der Dominanzder Staaten, die sie als eine Bedrohung für Polens Souveränität im traditionellenSinn betrachtete. Die Regierung kritisierte die Außenpolitik der früheren Regierungennach der Wende 1989 als unselbständig. Die neue Regierungspartei, die Bürgerplattform,ist zweifellos offener für die Europäische Union. Ich vermute, dass dieRegierungspartei die Ratifizierung des Reformvertrages unterstützen wird. FrühereÄußerungen von Politikern dieser Partei deuten darauf hin, dass sie die Ioannina-Klausel nicht für sehr bedeutsam halten. Ich nehme aber an, dass die neue Regierungauf diese Klausel nicht verzichten wird, da sie bereits im Rahmen der Regierungskonferenzausgehandelt wurde.Persönlich bin ich der Meinung, dass es wünschenswert wäre, wenn Polen sichaus dem britischen Protokoll mit der Grundrechtscharta zurückziehen würde. Ichvermute, dass auch die Wahlsieger dieser Überzeugung sind. Ich befürchte jedoch,dass dies die Ratifizierung des Reformvertrages erschweren könnte. Ich will versuchen,den Grund hierfür kurz zu erklären. Wie ich nämlich bereits erwähnte, gibt eszwei Alternativmethoden, einen solchen Vertrag zu ratifizieren. Wird das Ratifizierungsgesetzgewählt, ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit in den beiden Parlamentskammernerforderlich, was ohne die Zustimmung der Abgeordneten und Senatoren dervorherigen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit” nicht zu erreichen ist. Siewerden aber sicher nicht der Einführung der Grundrechtecharta in Polen zustimmen.211


Wird dagegen die Form des Volksabstimmung gewählt, treten wieder Problemeauf, die bereits vor dem Beitritt diskutiert wurden. Die Verfassung enthält nämlichkeine Bestimmung für den Fall, dass das Ergebnis der Volksabstimmung nicht bindendist, weil sich weniger als die Hälfte der Stimmberechtigten beteiligt hat. Einesolche Situation ist bei den polnischen Verhältnissen sehr wahrscheinlich. Das 2003verabschiedete Referendumsgesetz hat diese Rechtslücke gefüllt. Nach diesem Gesetzkann der Sejm erneut über das Ratifizierungsverfahren eines völkerrechtlichenVertrags beschließen, falls das Ergebnis der Volksabstimmung nicht verbindlich ist.Aus praktischen Gründen wäre in einem solchen Fall die Verabschiedung einesRatifizierungsgesetzes zu befürworten. Die Verabschiedung solches Gesetzes bezüglichdes Reformvertrags mit der Grundrechtecharta ist aber aus den oben genanntenGründen meines Erachtens nicht möglich. Eine weitere Volksabstimmung würde dieRatifizierung weiter verschieben und auch keinen Erfolg garantieren. Aus den obengenannten Gründen scheint die Ratifizierung des Reformvertrages einfacher zu sein,wenn die neue Regierung die vergangene Woche in Lissabon akzeptierte Stellungnahmewahrt. Schade, dass dies auf Kosten der Bedeutung der Grundrechtecharta inPolen und Polens Image in Europa geschieht.Zum Schluss möchte ich noch ein Problem erwähnen, das nicht direkt mit der Ratifizierungdes Reformvertrages, sondern mit den Beziehungen Polens mit der EuropäischenUnion und den anderen Mitgliedstaaten verbunden ist. Gemäß der Verfassung(Art. 146) leitet der Ministerrat die Innen- und Außenpolitik der RepublikPolen. Darüber hinaus übt er die allgemeine Kompetenz bezüglich der Beziehungenzu anderen Staaten und völkerrechtlichen Organisationen aus. In den letzten zweiJahren hat nicht der Ministerpräsident, sondern der Präsident der Republik Polen imEuropäischen Rat vertreten. Dieser Personentausch war für Beobachter schwer zurealisieren. Außerdem hatte er keine größere Bedeutung, da es keine politischenUnterschiede zwischen der Regierung und dem Präsidenten gab. Jetzt können solcheUnterschiede jedoch auftreten und somit kann die Frage der Vertretung potentiellzum Verfassungskonflikt führen.Generell beurteile ich jedoch die Wahlergebnisse als eindeutig vorteilhaft für PolensStellung in der Europäischen Union.212


A British Referendum on the Treaty?Brendan Donnelly *It is sometimes said that the British Constitution, which is a largely unwritten one,prescribes whatever the government of the day can use its parliamentary majority tomake the Constitution prescribe. It is certainly true that in many of its decisions,which in other European countries would need to be taken within the framework ofwritten constitutional texts, the British government enjoys an enviable freedom ofmanoeuvre. This freedom is nowhere more evident than in the matter of referendums.Except in the unlikely event of a successful parliamentary revolt against itsdecision, it is exclusively for the government of the day to decide whether or not itwishes to hold a referendum on any particular issue. Because the holding of referendumshas not historically formed any significant part of the constitutional traditionof the United Kingdom, there is not even any substantial body of specific precedentsrelating to governmental decisions in this matter. The context in which the currentBritish government will opt, or not, to hold a referendum on the ratification of theEuropean Reform Treaty signed in Lisbon in December, 2007 is a purely political,not legal one. Mr. Brown’s government has said that it intends to defy calls from theConservative Opposition to hold a referendum on the Treaty. It would now be asubstantial reverse for Mr. Brown and his colleagues if political circumstancesforced them to change their present intention of ratifying the Reform Treaty by apurely parliamentary procedure in the first half of 2008. Such a reverse is not inconceivable,but seems at the time of writing highly unlikely.The primarily political nature of the British debate about the appropriateness ofthere being a referendum on the Reform Treaty is well illustrated by the argumentmost often and vigorously deployed by the Conservative Party and its allies in favourof a referendum. It is a political and rhetorical argument based on the undoubtedfact that Mr. Brown’s predecessor, Mr. Blair, promised in 2004 to hold areferendum on the European Constitutional Treaty and repeated this undertaking inthe Labour Party’s political manifesto for the General Election of 2005, an electionwon by the Labour Party. From the undeniable similarities of content between theConstitutional Treaty and the Reform Treaty, Mr. Brown’s critics argue that theLabour Party’s commitment to hold a referendum on the former should logicallylead to a referendum on the latter. Mr. Brown prefers for his part to stress the differencesof both substance and more particularly form between the two documents,arguing repeatedly that the “abandonment of the constitutional concept” for theEuropean Union destroys any persuasive argument there might have been for a ref-* Der Verfasser ist seit 2003 Direktor des Think Tanks „Federal Trust“ und war von 1994-1999Abgeordneter des Europäischen Parlaments.213


erendum on the Reform Treaty. He further argues that any apparent constitutionalimpact for the United Kingdom of the new Reform Treaty is de facto reduced tonothingness by the range of “opt-outs,” clarificatory protocols and “red lines” defendedwhich accompanied the United Kingdom’s signature of the Treaty. The laterdeployment of the these “opt-outs,” protocols and “red lines” was of course much inthe mind of British participants in the discussions which preceded the EuropeanCouncil of June, 2007 and the following implementation of the negotiating mandateagreed by that Council.The New Labour government which has been in power since 1997 has regularlybeen accused by its opponents of an obsessive concern with the presentation of itpolicies, even at the expense of the long-term implementation of these policies.Whatever the general merit of this accusation, it is certainly one with some applicabilityto the European policy of Mr. Blair and Mr. Brown. The former Foreign Secretary,Mr. Straw, recently admitted that for instance the decision of 2004 to hold areferendum on the European Constitutional Treaty was not one based on the “meritsof the case,” but rather a response to popular “clamour”. Whatever embarrassmentMr. Brown and his colleagues are now suffering as a result of calls for a referendumon the Reform Treaty is a direct result of the tactically astute decision of 2004,which now shows itself to have politically uncomfortable consequences in 2007. Itmust be a question at least for discussion whether the tactics which Mr. Brown andhis colleagues are today pursuing in regard to the ratification of the Lisbon Treatyare similarly creating difficulties in the medium term for future British governments,which may or may not be Labour governments. These difficulties can be consideredunder two headings, the technical and the more broadly political.Technically, two areas of the Reform Treaty seem particularly likely to cause difficultyto future British administrations, the Charter of Fundamental Rights and thefield of Justice and Home Affairs. In 2003, the British government had proclaimeditself satisfied with the provisions on the Charter contained in the European ConstitutionalTreaty. Under pressure from the British employers’ organisations, it claimedin 2007 to discern in this Charter a substantial threat to the liberalized and efficientworkings of the British economy. Many observers believe that the British governmentregards as exaggerated the fears of the employers’ organisations, but does notwish to be deprived of their support for the Reform Treaty. The complicated andlegally controversial settlement regarding the application to the United Kingdom ofthe Charter in the Reform Treaty is the result of the British government’s ceding tothis pressure from the employers, a settlement which the British government presentsas insulating the United Kingdom completely from the supposedly damagingeffects of the Charter’s operation.Given that the United Kingdom is under the Reform Treaty a signatory of theCharter of Fundamental Rights, it would be a brave man indeed who asserted thatthere will never be a specific case in which the European Court of Justice, referringto if not necessarily relying upon the provisions of the Charter, makes a findingunwelcome to the British government of the day, thus apparently contradicting theclaims of unqualified protection from the Charter made by the current British gov-214


ernment. It may well be the hope of the British government that if and when such acase occurs the British employers’ organisations may anyway have come to realizethe exaggerated nature of their fears in relation to the Charter. The purely politicalstance which the British government has adopted to this issue is evident from anycloser study of the Charter. The Charter is extremely generally phrased and often nomore than a recitation of rights which are elsewhere recognized and protected byother European legislation. If there is any genuine threat from European legislationto the relatively liberal economic culture of the United Kingdom (a propositionwhich is itself highly debatable,) its locus is highly unlikely to be that of the Charterof Fundamental Rights.A similar, but not identical range of difficulties will undoubtedly present themselvesfor future British governments in the operation of the now wholly “communitarized”field of Justice and Home Affairs (JHA.) In addition to now having to decide,earlier in the legislative process than before, whether it wishes to participate inthe negotiation on any particular new piece of legislation and be bound by the resultsof that negotiation, the United Kingdom will also be confronted five years after theratification of the Treaty by an unwelcome decision, as to whether it will then acceptthe jurisdiction of the European Court of Justice on European legislation whichcame into being before the adoption of the Reform Treaty. An attempt to limit thecompetences of the Court in all matters relating to Justice and Home Affairs hasbeen a recurrent element of British policy since the Treaty of Maastricht. The pendingdeadline of 2014 (probably) for the resolution of this matter, combined withalmost inevitable controversy between the United Kingdom and the “Schengengroup” on the right of the UK to opt into JHA measures related to the Schengengroup, will ensure that the Reform Treaty will not mark an end to British discomfortin regard to this political field of legislation. It was the hope of the British governmentin 1992 that the two intergovernmental “pillars” of the Maastricht Treaty, JHAand the Common Foreign and Security Policy, would indefinitely resist the encroachmentsof the “Community method”. The provisions of the Reform Treaty onthe Common Foreign and Security Policy will in this regard be congenial to theBritish government. Those on JHA will not and the British opt ins/opt outs in thisarea are a largely temporary palliative for the failure of the British government since1992 to persuade its partners of the merits of intergovernmentalism in the JHA field.But perhaps the most profound danger being run by the present British governmentin its presentation and analysis of the Reform Treaty is a more general, politicalone. It is that without a conscious decision to do so, the United Kingdom shouldcome to think of itself and be seen by others as being a “semi-detached” member ofthe European Union. Both Mr. Blair and Mr. Brown have been at great pains tostress and even exaggerate the difference between the impact of the Reform Treatyon the United Kingdom and that “suffered” by others. Mr. Brown in particular haspaid little more than lip service to the benefits of the Treaty. His advocacy of theTreaty has revolved much more around the claimed success of the United Kingdomin isolating itself from the Treaty’s impact. In 1997, the New Labour governmentcame to power claiming that it would never be “isolated in Europe.” The last days of215


Mr. Blair’s premiership were devoted to precisely the opposite claim. To those whohad followed closely the European policy of the British government since 1997, thisreversal will not have come as an entire surprise.In the ten years since 1997, the Labour government has pursued a Janus-like policytowards the European Union. It has been eager to reject the rancorous Euroscepticismof its Conservative opponents, but it has equally taken care to present domesticallyits European policy in measured, pragmatic terms, stressing the supposedneed for radical reform of the European Union, particularly in its economic policies.Since 1997, it has placed itself firmly in the British tradition of favouring intergovernmentalco-operation rather than institution-based integration as its model for thefuture development of the European Union. If anything, this tendency has becomemore pronounced with time. The Reform Treaty signed by the British government in2007 reflects an even more sceptical view of the “Community method” of Europeanintegration on the part of the British authorities than had been evident at the time ofthe signing of the Constitutional Treaty. It was no coincidence that in regard to theCharter of Fundamental Rights, Justice and Home Affairs and the Common Foreignand Security Policy, the British government devoted so much political capital torestricting the role of the European Court of Justice. The Court, representing in itsindependence the autonomous legal order of the Union, has always been for Euroscepticopinion in the United Kingdom a particularly disagreeable manifestation ofEuropean institutional meddlesomeness.The workings of this carefully calibrated European policy of the New Labourgovernment over the past decade were particularly clear in the case of British policytowards the single currency. Mr. Blair’s government left open on the one hand thepossibility of Britain’s joining the euro in appropriate economic conditions, thusallowing itself to criticize the Conservative Party for its apparent unwillingness forthe United Kingdom to join the Eurozone in any circumstances. But on the otherhand Mr. Blair and his colleagues were wholly unwilling to pursue domestic policiesto make more likely the appropriate economic circumstances for British membershipof the European single currency; and they were certainly unwilling publicly to makean active political and economic case for this membership. This tepid approach ofthe British government left the opinion-forming field open to those who held andvigorously publicized the view that the United Kingdom should never join the euro,with the wholly foreseeable result that in the past five years the possibility of Britain’sjoining the euro has disappeared, at least temporarily, from the agenda of publicdebate in the United Kingdom. The sense arising as a result of this governmentalreticence among many British electors that Britain’s national interest is not alwaysbest served by participation in major European projects such as the single currencywould undoubtedly have been a contributory factor to the probably insuperabledifficulties the British government would have had in the event of a British referendumon the European Constitutional Treaty. When the French and Dutch electoratesrejected the Treaty in 2005, it was a great relief to the British government, alreadyuncomfortably aware of the mountainous task it would face in trying to win a Britishreferendum on the text. It is difficult to believe that its prospects of winning a refer-216


endum on the Reform Treaty signed in December 2007 would be, or would havebeen any more favourable.There is within current British public opinion no significant element of opinionwishing Britain to leave the European Union. It is arguably an achievement of Mr.Blair’s term in office that it laid to rest for ever the possibility of British withdrawalfrom the Union. But there is another side to this coin, namely the growing distrust inthe last decade among British popular and political opinion of the European integrativeprocess in general, of the European institutions, of the economic competencewith which Europe as a whole functions and of the overall appropriateness of theEuropean integrative model pursued since 1957. If the United Kingdom feels noparticular desire to leave the Union, it feels little desire to participate more fully inits workings than it does at present. It has a markedly cool attitude towards the Union’spresent workings and an even cooler approach towards its likely future development.This contradiction of attitudes is one well reflected in the opt ins/opt outsfor the United Kingdom in the Reform Treaty and in the rhetoric of British “redlines” protected, with which Mr. Brown and his colleagues seek to recommend theTreaty. Until now, the Labour government has been able to accept and manage thiscontradiction in British attitudes towards the European Union. Whether it will beable indefinitely to do so, and whether a future Conservative government would everbe able to do so are troubling questions to which only the future course of events islikely to provide an answer.One way in which Mr. Blair’s government in particular attempted to square thecircle of continuing British membership in the European Union combined with deephostility to its integrative institutional structure was regularly to claim that the EuropeanUnion was coming more to reflect British aspirations and analyses. Mr. Barrosoand his colleagues in the present Commission were presented, not wholly inaccurately,as markedly more economically liberal than their recent predecessors. TheUnited Kingdom, on this analysis, was “winning the European argument,” and finallypersuading its neighbours that the politically integrative aspects of the EuropeanUnion were at best an irrelevance, and more probably actively harmful to therealisation of the Union’s only important goal, namely that of promoting economicreform throughout Europe along the British model. This description of current Europeanreality, although regularly offered by Mr. Blair with his familiar charm andeloquence, has made little headway with a sceptical British public. Ironically, theimage of a European Union fundamentally changed in its nature by successful Britishhostility to its institutions and the economic neo-liberalism of the Barroso Commissioncarried much more conviction in France during the debate preceding thereferendum on the European Constitutional Treaty than it ever did in Britain. If therehad been a British referendum on the Constitutional Treaty, one reason why it wouldprobably have been lost is the still unshaken belief of many British voters that thetext was an encyclopaedia of unreconstructed corporatism, resolutely blind to theneed for economic reform to meet the new challenges of globalisation. An importantreason why it was lost in the France was the widespread belief, particularly on theleft of the French political spectrum, that the Treaty was a text replete with the most217


utal concepts of unregulated capitalism, which Tony Blair had managed to imposeupon the European Union. The symmetry of French and British misconceptionsabout the Constitutional Treaty could not have been more pleasingly complete.If there were contrasts, however, between French and British perceptions of theEuropean Constitutional Treaty, one point of common ground was unease on bothsides of the Channel about the central aspiration of the Treaty, that of instituting aEuropean Constitution. To both French and British ears, this conjured up unwelcomeimages of an incipient, even a realised European state, deeply unwelcome toboth electorates. It seems probable that those who participated in the Convention onthe future of Europe and who took it upon themselves to draw up a “Constitution”,did not ponder all the political implications of their project and in particular of thevocabulary they used to describe it. It should have been evident that a text proclaimingitself a “constitution” was very likely to be the subject of ratification by referendumin a number of the Union’s member states, and the question thoroughly consideredwhether the document produced by the Convention was one suitable for theboldly simplifying analyses which inevitably (and properly) surround popular politics.The artful and carefully-crafted compromises of the European ConstitutionalTreaty were consciously designed to bridge the probably incompatible differenceswhich still exist within the European Union about its underlying nature and futureevolution. The Treaty’s text was a remarkable technical achievement in bringingtogether such disparate approaches, in a way which brought joy to experts, academicsand sympathetic observers alike. To those less expert or less sympathetic to thewhole integrative and institutional project of the European Union, the ConstitutionalTreaty lacked in definition or any coherent political message on the basis of which itcould be defended and recommended to the electorate. In the final analysis, it mustbe recognised that the European Union is still engaged on a process of evolution,and that it is premature to regard this process as sufficiently far advanced to justifywide-ranging constitutional codification along the lines attempted by the ConstitutionalTreaty. The Treaty’s advocates and supporters have sometimes taken comfortfrom studies showing that the great majority of those who voted against the Treatyin the referendums of France and the Netherlands did so in ignorance of, or withindifference to the precise provisions of the Treaty. A harsher conclusion might bethat a “constitutional” text which was not clear and attractive enough to provoke apublic debate on its real provisions during two national referendum campaigns was astrange and unsuitable basis for the processes of consensus-building and popularacceptance vital for the legitimacy of any “constitutional” settlement. By an obliqueroute, the confused and ill-directed debates in France and the Netherlands during thereferendum campaigns of 2005 were eloquent testimony to the excellence of theConstitutional Treaty as a text for experts and its inappropriateness as a constitutionalsettlement for the European Union. The abandonment of the “constitutionalconcept” by the European Council in June 2007 was a rational and inevitable choiceby Europe’s leaders, after they had spent much time exploring the unattractive alternative.218

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