TRANSVERSALE WIRTSCHAFTSETHIK - Universität St.Gallen
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<strong>TRANSVERSALE</strong> <strong>WIRTSCHAFTSETHIK</strong><br />
Ökonomische Vernunft zwischen Lebens- und Arbeitswelt<br />
D I S S E R T A T I O N<br />
der <strong>Universität</strong> <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>,<br />
Hochschule für Wirtschafts-,<br />
Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG)<br />
zur Erlangung der Würde eines<br />
Doktors der Wirtschaftswissenschaften<br />
vorgelegt von<br />
Thies Boysen<br />
aus<br />
Deutschland<br />
Genehmigt auf Antrag der Herren<br />
Prof. Dr. Peter Ulrich<br />
und<br />
Prof. Dr. Emil Walter-Busch<br />
Dissertation Nr. 2644<br />
f. u. t. müllerbader GmbH<br />
<strong>St</strong>uttgart 2002
Die <strong>Universität</strong> <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und<br />
Sozialwissenschaften (HSG), gestattet hiermit die Drucklegung der<br />
vorliegenden Dissertation, ohne damit zu den darin angesprochenen<br />
Anschauungen <strong>St</strong>ellung zu nehmen.<br />
<strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, den 30. April 2002<br />
Der Rektor:<br />
Prof. Dr. Peter Gomez
Vorwort<br />
Nach Fertigstellung dieser Arbeit habe ich vielfältigen Grund, Dank zu sagen<br />
für Rat und Hilfe, Unterstützung und Beistand, die ich während der gesamten<br />
Zeit von unterschiedlichen Seiten erfahren durfte.<br />
Allen voran danke ich aufrichtig meinem Doktorvater Herrn Professor Dr.<br />
Peter Ulrich, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, der sich während, und schon vor der Erstellung dieser<br />
Arbeit für mich eingesetzt hat. Herrn Ulrich verdanke ich die Sensibilisierung<br />
für die Relevanz der Fragestellungen und für den differenzierten Umgang<br />
mit diesen. Durch seine wissenschaftliche Arbeit, seine zentralen Aussagen,<br />
hat er meinen Weg geprägt und wird ihn weiter prägen.<br />
Meinem Korreferenten, Herrn Professor Dr. Emil Walter-Busch, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>,<br />
danke ich ebenso aufrichtig für seine inspirierend-assoziative Offenheit, die<br />
mich während des Promotionsstudiums begleitet und gefördert hat.<br />
Geht man nach Maslow, so können die Wachstumsmotive - das Bedürfnis nach<br />
Wissen und Verstehen als Bestandteil der Selbstverwirklichung beispielsweise<br />
- erst dann wirksam befriedigt werden, wenn die Defizitmotive, also die<br />
Bedürfnisse nach Anerkennung, Liebe, Schutz, aber auch Hunger und<br />
Schlafen in ausreichendem Maße befriedigt sind. Ich möchte an dieser <strong>St</strong>elle<br />
meinen Dank aussprechen, dass diese „Defizitmotive“ zu keinem Zeitpunkt<br />
meiner Arbeit das Erfüllen der Wachstumsmotive behindert haben. Aus<br />
diesem Grund möchte ich allen danken, die mir <strong>St</strong>ärke und Mut, Anerkennung<br />
und Unterstützung gegeben haben. Allen voran danke ich meinen<br />
Eltern, Hella und Dr. Kurt Boysen, die auf allen diesen Ebenen nie Zweifel<br />
darüber haben aufkommen lassen, ob diese Defizitmotive befriedigt werden<br />
würden. Mit einschließen in diese Form des Dankes möchte ich meine Geschwister,<br />
Frank Boysen, Johannes Boysen und Anne-Beke Sontag, die liebevoll<br />
jeden einzelnen Schritt verfolgten. Tiefen Dank möchte ich auch meinem<br />
besten Freund Philipp Eder aussprechen, der mittlerweile wohl ebensoviel<br />
von Wirtschaftsethik versteht, wie ich. Er war in dieser Zeit nicht nur geduldiger<br />
Zuhörer, sondern auch moralischer Beistand.<br />
Schließlich sei all denjenigen gedankt, die die aufwendige und so wichtige<br />
Korrekturarbeit übernommen haben; dies sind neben der Familie insbesondere<br />
Frau Dr. Anja Haniel, München, Frau Annette Ott, Frankfurt, und Frau<br />
Dr. Barbara Hepp, Berlin. Herrn Markus Breuer, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, danke ich für<br />
seine geduldigen Auskünfte auf meine vielfältigen Anfragen.<br />
1
Ich blicke zurück auf eine Zeit der intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung<br />
und Herausforderung und blicke nach vorn auf eine Zeit, die von dieser<br />
Auseinandersetzung und ihren Inhalten geprägt sein wird - dafür bin ich<br />
dankbar. Ich bin glücklich, diese Zeit gelebt und erlebt zu haben und freue<br />
mich auf das, was danach kommt.<br />
Ich widme diese Arbeit meinen lieben Eltern.<br />
München, im Mai 2002 Thies Boysen<br />
2
Inhaltsverzeichnis<br />
EINLEITUNG....................................................................................................................... 7<br />
I ENTGRENZTE ÖKONOMIE, BEGRENZTE ÖKONOMISCHE<br />
RATIONALITÄT - SKIZZEN EINES SPANNUNGSFELDES............................ 10<br />
1 Die ökonomische Rationalität – eine <strong>St</strong>andortbestimmung ....................................................11<br />
1.1 Vom „Genug“ zum „Je mehr, desto besser“ - ein erster historischer Zugang...............11<br />
1.2 Formale Prinzipien ökonomischer Rationalität – eine kritische Reflexion.....................15<br />
1.3 Tauschhandel und Marktkoordination - methodische Bestimmungen ökonomischer<br />
Rationalität ..............................................................................................................................21<br />
1.3.1 Von der Selbstversorgung zum Tauschhandel ....................................................21<br />
1.3.2 Die Entstehung des Marktes...................................................................................26<br />
1.4 Zusammenfassung .................................................................................................................28<br />
2 Aktuelle Herausforderungen - Entgrenzung des Begrenzten..................................................29<br />
2.1 Globalisierung - eine systemische Rekonstruktion............................................................30<br />
2.1.1 Globale Pluralität - externe Herausforderung der Ökonomie ...........................31<br />
2.1.2 Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik - interne Herausforderung der<br />
Ökonomie ..................................................................................................................35<br />
2.2 Exkurs: Totale Flexibilisierung .............................................................................................43<br />
2.3 IuK-Technologien als Enabler ökonomischer Entgrenzung.............................................50<br />
2.4 Exkurs: Die Entgrenzung von Lebens- und Arbeitswelt ..................................................53<br />
3 Grenzen ökonomischer Rationalität – lebensweltliche Implikationen .................................60<br />
3.1 Quantifizierung – Positivismus............................................................................................61<br />
3.2 Rechnerisches Kalkül – Verdinglichung sinnlicher Erfahrung........................................62<br />
3.3 Raum, Zeit, Sprache – die Eskalation der Kolonialisierung .............................................65<br />
3.4 Ein tabellarisches Fazit ..........................................................................................................70<br />
4 Methodische Implikationen für das weitere Vorgehen ............................................................72<br />
4.1 System und Lebenswelt.........................................................................................................72<br />
4.2 Übersetzungsleistungen - eine wirtschaftsethische Grundsatzentscheidung................76<br />
3
II <strong>TRANSVERSALE</strong> VERNUNFT – VERNUNFT ZWISCHEN MODERNE UND<br />
4<br />
POSTMODERNE......................................................................................................... 82<br />
Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität im Lichte wirtschaftsethischer Ansätze<br />
- eine Vorbemerkung ...............................................................................................................................82<br />
5 Postmoderne Moderne - Skizzen des aktuellen Bezugsrahmens............................................85<br />
5.1 Moderne, Postmoderne oder postmoderne Moderne? .....................................................86<br />
5.2 Die konstitutive Rolle des Entdeckungs- und Verwendungszusammenhangs in der<br />
postmodernen Moderne........................................................................................................92<br />
5.2.1 Inkommensurabilität ...............................................................................................95<br />
5.2.2 Diskontinuitäten.......................................................................................................97<br />
5.2.3 Zusammenfassung ...................................................................................................98<br />
5.3 Der postmodern-moderne Begründungszusammenhang - Einheit und Vielheit vs.<br />
Heterogenität und Konnexion............................................................................................100<br />
5.4 Subjektive Vernunft vs. objektive Vernunft......................................................................103<br />
5.5 Zusammenfassung ...............................................................................................................109<br />
6 Vernunft im Übergang - das Konzept der transversalen Vernunft.......................................111<br />
6.1 Zentrale Gegenstandsbestimmungen................................................................................112<br />
6.1.1 Die Realverfassung von Rationalitäten ...............................................................114<br />
6.1.2 Die Pluralisierung von Paradigmen ....................................................................116<br />
6.2 Zentrale Verhältnisbestimmungen ....................................................................................120<br />
6.2.1 Vernunft und Rationalität .....................................................................................120<br />
6.2.2 Vernunft und Totalität...........................................................................................124<br />
7 Transversale Vernunft in der kritischen Reflexion .................................................................130<br />
7.1 Historisch-begriffliche Verhältnisbestimmungen............................................................131<br />
7.1.1 Paradigma-Begriff nach Kuhn..............................................................................132<br />
7.1.2 Exkurs: Die Überwindung des Trennungstheorems des Rationalismus........135<br />
7.1.3 Vernunft-Begriff nach Kant...................................................................................138<br />
7.2 Leere u. Positionsungebundenheit - zentrale Charakteristika transvers. Vernunft....143<br />
7.3 Aktuelle kritische Reflexion................................................................................................147<br />
7.3.1 Die Reinheit der Vernunft als Selbstpurifikationsdynamik – ..........................147<br />
vernünftige Grenzen..............................................................................................147<br />
7.3.2 Totalität, Vernunft, Rationalität - zentrale Verhältnisbestimmungen in der<br />
Kritik ........................................................................................................................153<br />
8 Fazit .................................................................................................................................................158
III BALANCE VON ARBEIT UND LEBEN - ÖKONOMISCHE VERNUNFT<br />
IN THEORETISCHER UND PRAKTISCHER REFLEXION....................... 160<br />
9 Vernunft in der postmodernen Moderne - Hinführung zu einer ökonomischen Vernunft ..<br />
.................................................................................................................................................160<br />
9.1 Rekapitulation der Notwendigkeit einer Weiterentwicklung ökonomischer<br />
Rationalität ............................................................................................................................161<br />
9.2 „Vernünftige“ Bausteine - eine Skizzierung der Verhältnisbestimmungen ................165<br />
9.2.1 Vernunft und Ökonomische Vernunft ................................................................165<br />
9.2.2 Vernunft und Ethik der Ökonomie......................................................................167<br />
9.2.3 Vernunft und Subjektorientierung - Vernunft als Vermögen ..........................168<br />
9.2.4 Vernunft als notwendige Bedingung des ethischen Vollzugs .........................172<br />
9.3 Verhältnisbestimmungen postmodern-moderner Vernunft - ein Fazit........................173<br />
10 Ökonomische Vernunft – der wirtschaftsethische Bezug.......................................................174<br />
10.1 Ökonomische Vernunft - Profilierung u. Positionierung in der akt. Diskussion ........175<br />
10.1.1 Ökonomische Vernunft vs. Ökonomische Vernunft .........................................179<br />
10.1.2 Ökonomische Vernunft und Pragmatismus.......................................................181<br />
10.1.3 Vernunft der Ökonomie vs. Ökonomische Vernunft ........................................185<br />
10.2 Impulse für eine Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität –<br />
Verknüpfungsvorbereitung ................................................................................................187<br />
10.2.1 Öffnungen ökonomischer Rationalität ................................................................187<br />
10.2.2 Legitimation nach innen und außen....................................................................189<br />
10.2.3 Nicht-Numerisches als alternative Form ............................................................193<br />
10.3 Zusammenfassung ...............................................................................................................195<br />
11 Postmoderne Ethik - der Übergang zum Anderen ...................................................................196<br />
11.1 Intersubjektive Verwiesenheit - ethische Grundbestimmung........................................199<br />
11.2 Übergang zum Selbst - zum Anderen ...............................................................................204<br />
11.3 Die andere Gemeinschaft – von der Einstellung zur Anerkennung des Anderen .......217<br />
11.4 Zusammenfassung ...............................................................................................................225<br />
12 Postmodern-moderne Ethik der Ökonomie und deren unternehmensethische<br />
Implikationen ..................................................................................................................................226<br />
12.1 Skizzen einer postmodern-modernen Ethik der Ökonomie...........................................227<br />
12.2 Identität und Entwicklung (in) der Unternehmung........................................................232<br />
12.2.1 Identität (in) der Unternehmung - zwischen Unternehmensidentität und<br />
Corporate Identity..................................................................................................234<br />
5
6<br />
12.2.2 Von der Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität zu der<br />
Weiterentwicklung der Unternehmung..............................................................242<br />
(Rekapitulation)......................................................................................................242<br />
(Geplante Evolution – Organisationsentwicklung) ...........................................243<br />
12.3 Implikationen aus ökonomischer Sicht .............................................................................247<br />
12.4 Ökonomische Vernunft als organisationale Fähigkeit ....................................................249<br />
IV FAZIT ..................................................................................................................... 255<br />
LITERATURVERZEICHNIS......................................................................................... 258<br />
LEBENSLAUF .................................................................................................................. 277
Einleitung<br />
Die anhaltende Liberalisierung der Märkte hat zu globalen Märkten, zu<br />
einem globalen Markt geführt und damit den Wettbewerbsdruck erhöht.<br />
Diese Marktsituation stellt <strong>St</strong>aat und Gesellschaft langfristig vor komplexe<br />
Herausforderungen, denen es von allen Seiten zu begegnen gilt - so auch von<br />
Seiten wirtschaftswissenschaftlicher Forschung. Diese konstatiert, dass der<br />
erhöhte Wettbewerbsdruck nicht nur zwischen international tätigen Unternehmen,<br />
sondern auch zwischen Nationen und ihren politischen und ökonomischen<br />
Systemen besteht. Ein Wettbewerb gesellschaftlicher <strong>St</strong>rukturen, der<br />
marktwirtschaftlichen Regeln folgt, trägt zur Spannung und Komplexität der<br />
Problemstellung bei. Eine wirtschaftsethische Analyse, so wie sie hier verstanden<br />
und „praktiziert“ wird, betrachtet die Verhältnisse von <strong>St</strong>aat, Gesellschaft<br />
und Individuum zur Ökonomie. Die Art der Betrachtung folgt einer<br />
grundlegenden Reflexion der Verhältnisse, die - jenseits einer moralisierenden<br />
Debatte - gesellschaftliche und individuelle Phänomene und Veränderungen<br />
in unserer Gesellschaft beschreibt.<br />
Die Omnipräsenz und Dominanz der Ökonomie führt zu einer Durchdringung<br />
aller Lebensbereiche mit Marktlogik in zunehmendem Maße. Kommerzialisierung,<br />
Kolonialisierung und Verdinglichung – die Lebenswirklichkeit<br />
eines jedes Einzelnen sieht sich mit einer ökonomischen Rationalität konfrontiert,<br />
die ausdifferenziert, professionalisiert und eigengesetzlich lebensweltliche<br />
Bezüge überlagert. Diese ökonomische Rationalität entfernt sich in<br />
ihrer Verfassung zunehmend von den lebensweltlichen Bezügen und transportiert<br />
eigengesetzlich ihre Gegenstände und Methoden. Hieraus ergibt sich<br />
die hier behandelte Problemstellung: Die Ökonomie entfernt sich in ihrer<br />
Rationalität zunehmend von den lebensweltlichen Bezügen, überlagert selbige<br />
aber in der Realität. Deswegen entsteht von außen der Eindruck, dass die<br />
Ökonomie sich immer stärker mit der Lebenswelt eines jeden Einzelnen<br />
verflechtet. Der Blick von innen jedoch offenbart, dass diese Verflechtung<br />
keine Verflechtung, sondern ein Aufeinanderprallen von unterschiedlichen<br />
Rationalitäten darstellt. Dieses Aufeinanderprallen wird in den westlichen<br />
Industrieländern zugunsten der Ökonomie entschieden – so die hier vertretene<br />
These. Aus diesem Grund kann in diesen Fällen von Überlagerung gesprochen<br />
werden.<br />
7
Eine solche Überlagerung führt langfristig dazu, dass sich unsere Lebensweltlichkeit<br />
verkürzt. Sie erfährt einen Reduktionismus, der alles Lebenswirkliche<br />
auf die ökonomischen Parameter bezieht. Um dieser einseitigen<br />
Reduzierung entgegenzuwirken ist eine Darlegung der Ursachen bzw. Auswirkungen<br />
dieses Reduktionismus und seiner Handhabung notwendig. Ziel<br />
dieses Vorhabens kann die Trennung von Ökonomie und Lebenswelt oder<br />
aber das reflektierte Zusammenleben dieser Bereiche sein. In der hier entwickelten<br />
Argumentation wird letzterer Weg beschritten. Wie sich ein solch<br />
„reflektiertes Zusammenleben“ vorstellen lässt, das versucht die folgende<br />
Argumentation darzustellen. Die zentrale Rolle wird dabei der ökonomischen<br />
Vernunft zugedacht. Sie hat in sich die Vorstellungen aller „Akteure“,<br />
also Bereiche zu vereinen und einen Ab- und Ausgleich der Ansprüche und<br />
Interessen zu vollziehen. Das Konzept der transversalen Vernunft scheint<br />
hierbei wertvolle und aktuelle Impulse liefern zu können.<br />
Ziel und Aufbau<br />
Ziel der Argumentation ist es, zu prüfen, inwieweit das Konzept der transversalen<br />
Vernunft in der Lage ist, Impulse für die Wirtschaftsethik-Debatte<br />
und dort speziell für die Diskussion um eine ökonomische Vernunft zu<br />
liefern. Das Konzept der transversalen Vernunft scheint geeignet, der Autonomisierung<br />
der Ökonomie entgegenzutreten und alternative Verknüpfungsszenarien<br />
zu entwerfen.<br />
Ausgangspunkt dieser Argumentation ist das Aufzeigen der durch die ökonomische<br />
Rationalität verursachten Verzerrungen in unserer Lebenswirklichkeit.<br />
Über die Darstellung des Konzepts der transversalen Vernunft gelangt<br />
die Argumentation zum Abgleich mit den in Kapitel I festgestellten<br />
Pathologien. Daraufhin können diejenigen Impulse identifiziert werden, die<br />
fähig sind, diese Pathologien zu handhaben. Dies führt zu einer Konzeption<br />
von ökonomischer Vernunft, die in sich die Impulse aus der kritisch reflektierten<br />
transversalen Vernunft aufnimmt. Die Schritte im Einzelnen:<br />
Zu Beginn wird die ökonomische Rationalität in ihren Inhalten, Methoden<br />
und Formen analysiert (Abschn. 1) und im Folgenden den Parametern der<br />
aktuellen Situation gegenübergestellt (Abschn. 2). Die Reflexion dieser Gegenüberstellung<br />
(Abschn. 3) zeigt die Überlagerung lebensweltlicher Bezüge<br />
durch systemische Parameter auf und macht auf diese Weise die Notwendig-<br />
8
keit einer Weiterentwicklung bzw. Öffnung ökonomischer Rationalität deutlich.<br />
Im folgenden Kapitel wird diese Möglichkeit der Weiterentwicklung bzw.<br />
Öffnung in einem theoretischen Rahmen reflektiert. Dieser Rahmen konstituiert<br />
sich durch die Moderne-Postmoderne-Debatte im Allgemeinen<br />
(Abschn. 5) und die Vernunft-Konzeption von Wolfgang Welsch im Speziellen<br />
(Abschn. 6). Beide Perspektiven knüpfen an die aktuell geführte<br />
Diskussion an. Hierbei wird deutlich, dass eine Weiterentwicklung/Öffnung<br />
von ökonomischer Rationalität ihre Grenzen dort erfährt, wo sie über ihre<br />
Grenzen geht und auf das Ganze, die Totalität ausgreift. Zugang zum<br />
Ganzen kann sie nur in und durch Vernunft erfahren, durch eine transversale<br />
Vernunft, die die heterogenen, ausdifferenzierten Rationalitäten zueinander<br />
in Beziehung setzt. Damit bedeutet eine Weiterentwicklung/Öffnung ökonomischer<br />
Rationalität im Wesentlichen, Anschlussfähigkeit zu erlangen. Aus<br />
sich selbst heraus kann die ökonomische Rationalität keine qualitative<br />
Progression hin zu einer ökonomischen Vernunft vollziehen – doch kann sie<br />
sich dieser öffnen. In diesem Sinne ist eine Weiterentwicklung zu verstehen.<br />
So wird die Rationalität Gegenstand des Vollzugs der Vernunft. In Abschnitt<br />
7 wird diese Konzeption einer kritischen Reflexion zugeführt.<br />
Wie dieser Vollzug der Vernunft sich im Spannungsfeld von Moderne und<br />
Postmoderne behauptet, soll zu Beginn des letzten Kapitels beschrieben<br />
werden (Abschn. 9). Die ökonomische Rationalität wird dadurch in den<br />
weiteren Bezugsrahmen gestellt; auf diese Weise kann spezifiziert werden,<br />
was eine Anschlussfähigkeit der ökonomischen Rationalität bedeutet. Die<br />
Belegung der vernünftigen Reflexion mit ethischer Norm-Setzung leitet über<br />
zu der wirtschaftsethischen Reflexion (Abschn. 10), an die eine explizite<br />
Auseinandersetzung von Postmoderne und Ethik der Ökonomie anschließt<br />
(Abschn. 11). Diese postmoderne Rekonstruktion von Ethik wird zum Abschluss<br />
im Kontext der Unternehmung reflektiert (Abschn. 12) und Implikationen<br />
aufgezeigt. Durch diesen Bezug auf die konkrete unternehmerische<br />
Situation wird ein Bogen geschlagen zu den Analysen der aktuellen Arbeitsbedingungen<br />
in Kapitel I. Die dort beschriebenen Verzerrungen können nun<br />
vor dem Hintergrund einer Analyse der Ursachen und Wirkungen, einer Begründung<br />
und Konzeptualisierung ökonomischer Vernunft und Ethik einer<br />
Handhabung zugeführt werden.<br />
9
I Entgrenzte Ökonomie, begrenzte ökonomische<br />
Rationalität - Skizzen eines Spannungsfeldes<br />
Zu Beginn der Diskussion um eine ökonomische Vernunft steht hier die<br />
Analyse der ökonomischen Rationalität. Sie bildet den kognitiven Kern ökonomischen<br />
Handelns, ökonomischer Methode und ökonomischer Kategorien<br />
und ist damit auch zentraler Gegenstand der Wirtschaftsethik. Auch Ulrich<br />
hebt die Analyse der ökonomischen Rationalität als Gegenstand der Wirtschaftsethik<br />
hervor:<br />
10<br />
„Wirtschaftsethik muss den „Kopf“ des Löwen, eben das ökonomische Rationalitätsverständnis,<br />
fokussieren, wenn sie sich nicht mit der ohnmächtigen<br />
Rolle des „sachfremden“ Anredens gegen dieses begnügen und die ökonomistischen<br />
Fehler, die aus dem Reflexionsabbruch vor ihm und vor der Logik des<br />
„freien“ Marktes methodisch unkrontrollierbar und daher fast unvermeidlich<br />
resultieren, in Kauf nehmen will.“ 1<br />
Angesichts der ökonomischen Globalisierung stellt sich aktuell die Frage, ob<br />
diese ökonomische Rationalität in ihren Methoden und Kategorien in der<br />
Lage ist, die von ihr zu erbringenden Aufgaben adäquat abbilden und handhaben<br />
zu können. Die Omnipräsenz der Ökonomie in den Bereichen unserer<br />
Lebenswirklichkeit führt zwangsläufig zu Fragen innerhalb der Ökonomie,<br />
die über genuin ökonomische Fragen hinausgehen. Dies sind Fragen der<br />
Kultur und Religion, Fragen aus dem Inneren der individuellen Lebensweltlichkeit,<br />
Fragen gesellschaftlicher Gestaltung. Diesem lebenswirklichen Verflechtungsbefund<br />
steht die rationale Entflechtung gegenüber: Auch wenn in<br />
der heutigen Erwerbsgesellschaft die Arbeit elementarer Bestandteil der Lebenspraxis<br />
darstellt, so war ihre innere Verfasstheit, ihre rationale Form und<br />
Methode, wohl selten rational so ausdifferenziert und different zur lebensweltlichen<br />
Rationalität, wie sie es heute in der kommerzialisierten Gesellschaft<br />
ist. Die scheinbare Harmonie aus Markt und Gesellschaft erweist sich<br />
im Inneren als materialer Konflikt.<br />
Im Folgenden soll skizziert werden, wie es zu diesem inneren Konflikt kam<br />
und wie er sich in der aktuellen Situation darstellt. Ausgangs- und Zielpunkt<br />
1 Ulrich, P. (2000b): Integrative Wirtschaftsethik im Rationalitätenkonflikt, in: EuS, Jg.<br />
11, H. 4, S. 631-642, hier S. 639; Hervorhebungen im Original.
ist hierbei die lebensweltliche Verankerung der Ökonomie, ihre lebensweltliche<br />
Rückbindung. 2 Dazu soll in einem ersten Schritt die ökonomische Rationalität<br />
in ihrer Entwicklung und ihren formalen und methodischen Bestimmungen<br />
skizziert werden, um in einem zweiten Schritt ihre aktuellen Bedingungen<br />
und damit auch Herausforderungen zu beschreiben. Aus dieser Gegenüberstellung<br />
folgt in einem dritten Schritt die zusammenfassende Darstellung<br />
des aktuellen Befundes, welcher die Diskrepanz zwischen entgrenztem<br />
Handeln und begrenztem Denken herausarbeitet und erläutert.<br />
Dieser Befund konstituiert die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung hin<br />
zu einer grenzüberschreitenden Öffnung der ökonomischen Rationalität.<br />
1 Die ökonomische Rationalität – eine <strong>St</strong>andortbestimmung<br />
Diese Darstellung kann nicht mit dem Anspruch auftreten, die ökonomische<br />
Rationalität zu bestimmen, noch kann sie für sich beanspruchen, dies vollständig<br />
zu tun. Die folgende Darstellung kann nur Momentaufnahme sein,<br />
die nach hinten (Historie) und nach vorn (Implikationen) schaut, um eine<br />
Sensibilisierung für die Veränderungen des ökonomischen Denkens und<br />
Handelns zu erreichen.<br />
1.1 Vom „Genug“ zum „Je mehr, desto besser“ - ein erster historischer<br />
Zugang<br />
Die ökonomische Rationalität, wie sie heute existiert und wirkt, kann nicht<br />
mit den Anfängen wirtschaftlichen Handelns und Denkens verglichen werden.<br />
Die Ausdifferenzierungsprozesse der Moderne haben durch ihre Rationalisierung<br />
zu signifikanten Veränderungen in der Lebenswirklichkeit geführt.<br />
Die hier im Mittelpunkt stehende, zentrale Veränderung in der<br />
Moderne stellt die Trennung, Verselbständigung und Ausdifferenzierung<br />
der Ökonomie von den ursprünglichen Bezügen dar. Erste Ansatzpunkte,<br />
2 Dieser Kerngedanke liegt dem integrativen wirtschaftsethischen Ansatz von Peter<br />
Ulrich zugrunde. Vergleiche zum integrativen Ansatz pars pro toto Ulrich, P. (1998):<br />
Integrative Wirtschaftsethik - Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 2.,<br />
durchgesehene Aufl., Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, hier S. 116ff. Zur „Wiederankoppelung<br />
der wissenschaftlichen Ökonomie an die Lebenswelt“ vgl. Ulrich, P. (1993): Transformation<br />
der ökonomischen Vernunft: Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft,<br />
3. rev. Aufl., Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 341ff.<br />
11
die zu dieser Verselbständigung der Ökonomie von soziokultureller Lebensform<br />
und Lebensordnung beitrugen, können in der Reformationszeit gefunden<br />
werden. Ulrich schildert die calvinistischen „Triebfedern“ 3, die vor allem<br />
in der <strong>St</strong>udie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ von<br />
Max Weber eindrücklich beschrieben werden. 4 Während frühere, vor-moderne<br />
Wirtschaftslehren, wie die von Adam Smith beispielsweise, ganz im<br />
Sinne dieser lebensweltlichen Einbettung allen Wirtschaftens Rechnung trugen<br />
und auf diese Weise „ihrem Wesen nach Wirtschaftsethik“ 5 waren, so<br />
entzog sich in der Moderne die Arbeit in ihrer religiösen Reinterpretation<br />
dem „diesseitigen“ Zugriff, welches auf die reformatorischen Zuordnungen<br />
zurückgeführt werden kann. 6 In dem <strong>St</strong>reben nach Einsicht in die eigene<br />
Prädestination (Gnadenwahl) vor Gott, die bereits auf Erden nach calvinistischer<br />
Lehre zugänglich ist, ist die Größe des „Erfolgs“ zunehmend in den<br />
Vordergrund getreten. Dies beschreibt auch Münch:<br />
12<br />
„Beispielsweise bedeutete die Deutung der religiösen Bewährung als Bewährung<br />
im weltlichen Beruf, die von Luther eingeleitet und vom Calvinismus<br />
noch radikaler gefaßt wurde (...), daß nun die wirtschaftliche Tätigkeit als religiöse<br />
Pflichterfüllung verstanden wurde und ihren Gesetzen zu gehorchen<br />
hatte, andererseits aber die religiöse Pflichterfüllung in die Bahnen der wirtschaftlichen<br />
Tätigkeit und ihrer Gesetzmäßigkeiten gelenkt wurde. Die Berufsaskese des<br />
Puritaners ist genau das Interpenetrationsprodukt von Religion und Wirtschaft,<br />
das durch die Entwicklung von der Lutherischen Reformation über<br />
Calvin bis zum Puritanismus Schritt für Schritt herausgebildet wurde.“ 7<br />
3 Ulrich (1998: 135, Fußnote 11) unterscheidet zwischen Wirkungsgeschichte des<br />
Calvinismus und Lehre des Calvin und verdeutlicht damit, dass das eine nicht mit<br />
dem anderen gleichgesetzt werden kann, wie es zuweilen kurzschlüssig geschieht.<br />
4 Vgl. hierzu Ulrich (1998: 133ff.) und die Referenzliteratur Weber, M. (1972): Wirtschaft<br />
und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen, Erstveröffentlichung<br />
1904/1905. Weber sieht in dem „Geist des Kapitalismus“ ein degeneriertes,<br />
säkularisiertes Produkt der innerweltlichen Askese der calvinistischen Ethik.<br />
5 Ulrich (1998: 132; Hervorhebungen im Original).<br />
6 Vgl. hierzu auch Borst, O. (1983): Alltagsleben im Mittelalter, Frankfurt. In der mittelalterlichen<br />
<strong>St</strong>ändegesellschaft wurde die Arbeit grundsätzlich als „Dienst“, als „Gottesdienst“,<br />
„Frondienst“ oder „Minnedienst“ interpretiert und gewertet. Zu der Entwicklung<br />
im Mittelalter vgl. Oexle, O.G. (2000): Arbeit, Armut, ><strong>St</strong>and< im Mittelalter,<br />
in: Kocka, J./Offe, C. (Hrsg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt,<br />
S. 67-79.<br />
7 Münch, R. (1998): Globale Dynamik, lokale Lebenswelten: Der schwierige Weg in die<br />
Weltgesellschaft, Frankfurt, S. 71; Hervorhebungen vom Verfasser.
Lebenserfolg wurde damals wie heute mit beruflichem Erfolg eng verbunden.<br />
Vergegenwärtigt man sich den <strong>St</strong>atus von Arbeit in der antiken Oikos-<br />
Gesellschaft, so sind hier starke Differenzen zu der industriellen Arbeitsgesellschaft<br />
der (Post-)Moderne zu erkennen. Es stehen sich die „Verachtung<br />
der Arbeit im Altertum“ und „ihre Verherrlichung in der Neuzeit“ 8 diametral<br />
gegenüber. Fortschritt in der Lebensqualität zu erreichen, bedeutete in<br />
der Antike die Emanzipation von Arbeit, die Befreiung des fleißigen und kalkulierenden<br />
Menschen von der Mühe körperlicher Arbeit, um das kulturelle<br />
und politische Leben außerhalb der Ökonomie, außerhalb des strengen Utilitarismus<br />
und der Instrumentalität zu er-leben. 9 Dagegen steht in der heutigen<br />
industriellen Arbeitsgesellschaft die Arbeit im Mittelpunkt des Lebens<br />
und seiner Verwirklichung. Die Industriegesellschaft überwindet die Klassen<br />
der Adelsgesellschaft und reproduziert sich durch die „asketische“ Arbeitsmoral.<br />
Das Wirtschaftssubjekt rekonstruiert individuellen Erfolg in dem<br />
Zirkel von Arbeit und Konsum. Die alternativen Bedürfnisse sind nur in und<br />
durch Arbeit realisierbar und für den Einzelnen vorstellbar.<br />
Das animal laborans verlernt die materialen Kräfte der Natur zu nutzen, die<br />
immateriellen, ästhetischen Kräfte zu genießen und überschätzt im gleichen<br />
Maß die Kräfte heutiger Formen der Arbeit. Vor diesem Hintergrund ist der<br />
bei Ulrich artikulierte Wunsch von einem „Wandel der Arbeitsethik vom<br />
undifferenzierten, abstrakten Laborismus zur lebensweltorientierten Tätigkeitsethik“<br />
10 zu verstehen. Das „Programm“ dieser Tätigkeitsethik skizziert<br />
Ulrich in Anlehnung an Hannah Arendt: 11<br />
„Die Tätigkeitsethik holt den konkreten Arbeitszweck und Arbeitsinhalt in<br />
die kritische Reflexion und Kommunikation der Arbeitstätigen zurück und<br />
vollzieht die im guten Sinne zeitgemässe Wiederankoppelung der Bewertung<br />
von Arbeit an lebenspraktische Kriterien.“ 12<br />
8 Arendt, H. (2001): Vita activa oder Vom tätigen Leben, 12. Aufl., München, S. 111.<br />
9 Zudem bestanden starke hierarchische Differenzierungen zwischen den unterschiedlichen<br />
Berufen und Tätigkeiten. Während die Landwirtschaft höchstes Ansehen genoss,<br />
so waren Handel und Geldgeschäfte auf den untersten <strong>St</strong>ufen bezüglich ihrer<br />
gesellschaftlichen Reputation zu finden. Sie galten als widernatürlich, als unwürdig.<br />
Vgl. zu einer weiterführenden Darstellung Nippel, W. (2000): Erwerbsarbeit in der<br />
Antike, in: Kocka/Offe (2000), S. 54-66.<br />
10 Ulrich (1993: 111).<br />
11 Ulrich entwickelt dies im Kontext der Diskussion um eine duale Lebensform, die sich in<br />
ihren strukturellen Grundlagen durch Systembegrenzung, Arbeitsumverteilung und<br />
Lebensweltentwicklung ausdrückt. Vgl. dazu näher Ulrich (1993: 460ff.).<br />
12 Ulrich (1993: 464).<br />
13
Wird die Arbeit in ihrer Rolle als zentraler „Hoffnungsträger“ für individuelle,<br />
soziale und religiöse Erwartungen und Bedürfnisse nicht relativiert, so<br />
führt dies notwendigerweise zu ihrer Überforderung und in der Folge zu<br />
einem chronischen menschlichen „Bedürfnisdefizit“, zu Leid:<br />
14<br />
„Diese laboristische Ethik, die den fehlenden Eigenwert industrialistischer<br />
Arbeit nicht zur Kenntnis nimmt bzw. durch religiöse Motive ersetzt, erfüllte<br />
gewollt oder ungewollt eine hervorragende ideologische Funktion zur Legitimation<br />
des alltäglichen Arbeitsleids.“ 13<br />
Gorz beschreibt die Notwendigkeit der Relativierung als „Wiedererringung<br />
der Macht jedes einzelnen über sein eigenes Leben“, indem es der „produktivistisch-kommerziellen<br />
Rationalität entzogen wird“. 14<br />
Dieser starke Wandel der Arbeitsinhalte und -bedingungen hat dem wirtschaftlichen<br />
Sektor zu einer bis dato andauernden Dynamik verholfen,<br />
welcher sich neben der metaphysisch-naturalistischen Aufladung durch die<br />
Klassik auf die reformatorischen Deutungen besinnt - jedoch in säkularer<br />
Weise. Die Unhintergehbarkeit der reformatorischen Deutung von Arbeit<br />
verliert in heutiger Zeit durch die Säkularisierung zwar überwiegend ihre<br />
religiös-transzendentale Charakteristik, wird aber erneut normativ aufgeladen<br />
durch eine positivistische Rekonstruktion der Ökonomie. Die Legitimierung<br />
von Arbeit verschiebt sich von der religiösen Rechtfertigung (Prädestination;<br />
Calvin) zu der Rechtfertigung durch die Zahlen und den Markt. 15 Auf<br />
diese Weise entzieht sich der Markt als solcher einer kritischen Reflexion und<br />
kann in seiner Rolle als Medium und Instrument des Erfolgsstrebens wirksam<br />
sein.<br />
Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie neben die erodierende inhaltliche<br />
Verabsolutierung eine formale und methodische Absolutierung tritt, die den<br />
<strong>St</strong>atus der Unhintergehbarkeit wiederherzustellen in der Lage scheint.<br />
13 Ulrich (1993: 111; Hervorhebungen im Original).<br />
14 Gorz, A. (1980): Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Frankfurt, S. 69,<br />
zitiert nach Ulrich (1993: 111). Vgl. auch die Darstellung der Alternativbewegungen<br />
bei Ulrich (1993: 443ff.).<br />
15 Die wird an späterer <strong>St</strong>elle näher begründet werden. Vgl. Abschn. 3.1.
1.2 Formale Prinzipien ökonomischer Rationalität – eine kritische<br />
Reflexion 16<br />
In einem ersten Zugang verbindet man mit ökonomischer Rationalität vor<br />
allem Größen wie Produktivität, Rentabilität, Effektivität oder Gewinnmaximierung.<br />
Diese Größen sind systeminterne technische Maßstäbe der<br />
ökonomischen Methode, der wirtschaftlichen Transaktion. Rationalität wird<br />
in der ökonomischen Rekonstruktion nicht wirklich von Vernunft getrennt.<br />
So beschreibt die Theorie wirtschaftliches Handeln wie folgt:<br />
„Das wirtschaftliche Handeln unterliegt wie jedes auf Zwecke gerichtete<br />
menschliche Handeln dem allgemeinen Vernunftprinzip (Rationalprinzip), das<br />
fordert, ein bestimmtes Ziel mit dem Einsatz möglichst geringer Mittel zu<br />
erreichen.“ 17<br />
In der Gleichsetzung von allgemeiner Vernunft und Rationalprinzip zeigt<br />
sich das volkswirtschaftlich-neoklassische Erbe der Betriebswirtschaftslehre,<br />
die den Allgemeingültigkeitsanspruch der Vernunft auch auf die ökonomische<br />
Rationalität überträgt. Freimann setzt diesen Anspruch mit Ideologie<br />
gleich:<br />
„Was aber - als Allgemeingültigkeit ausgegeben - in Wahrheit nur Ausdruck<br />
des Partialinteresses der herrschenden Klasse ist, muß sich gefallen lassen,<br />
beim Namen genannt zu werden: Ideologie, falsches gesellschaftliches Bewußtsein<br />
mit herrschaftssicherndem Charakter.“ 18<br />
16 Die folgende Darstellung stützt sich vornehmlich auf Freimann, J. (1977): Ökonomische<br />
Rationalität und gesellschaftliches System. Die historische Bedingtheit wirtschaftlicher<br />
Handlungsmuster und ihre Behandlung in der betriebswirtschaftlichen<br />
Literatur, Frankfurt.<br />
17 Wöhe, G. (1973): Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 11. Aufl.,<br />
München, S. 1; Hervorhebungen im Original.<br />
18 Freimann (1977: 12). So Freimann auch an anderer <strong>St</strong>elle: „Hier läßt sich bereits an<br />
dieser <strong>St</strong>elle aus der Analyse der Literatur die Vermutung äußern, daß das Rationalprinzip<br />
offenbar weniger operationales Muster privatwirtschaftlicher Realhandlung<br />
als vielmehr ideeller Ausdruck einer spezifisch kapitalistischen Rationalität ist,<br />
der Bewegung von Geld zu Mehr-Geld im Konkurrenzzusammenhang.“ (Freimann<br />
1977: 45). Und auch zum Ende seiner Argumentation: „Das rationalprinzipielle<br />
Handlungsmuster ist somit nicht einmal unter kapitalistischen Bedingungen Ausdruck<br />
eines allgültigen Vernunftgebots. Es ist Ausdruck der Akkumulationsgesetzlichkeit<br />
des Kapitals und als solcher Norm für die Wirtschaftssubjekte, die im Kapitalismus<br />
über die gesellschaftliche Produktion disponieren, Kapitalisten.“ (Freimann<br />
1977: 184).<br />
15
Mit positivistischen Interpretationen, die den Kapitalismus und dessen<br />
Methode als ein Instrument sehen, mit dessen Hilfe die Menschheit die Barbarei<br />
verlässt und in die Zivilisation eintritt19 und die den Markt wie ein<br />
Naturgesetz behandeln20, tritt die Betriebswirtschaftslehre hinter die Erkenntnisse<br />
in der Volkswirtschaftslehre zurück. Das Rationalprinzip der<br />
Ökonomie findet sich wohl erstmals konkret bei Quesnay, der formuliert:<br />
16<br />
„Den größtmöglichen Erfolg mit Hilfe des kleinstmöglichen Aufwands zu erreichen,<br />
das ist die Vollendung des ökonomischen Handelns.“ 21<br />
Abgesehen davon, dass die Formulierung von Quesnay logisch nicht haltbar<br />
ist, zeigen sich doch die zwei methodischen Seiten der ökonomischen Rekonstruktion<br />
von Rationalität: die Maximierung des Erfolgs und die Minimierung<br />
des Aufwands. In dieser methodischen Rekonstruktion ist das ökonomische<br />
Rationalprinzip scheinbar beliebig mit Inhalten belegbar. 22 Die allgemein<br />
praktizierte Gleichsetzung von Rationalität und ökonomischem Rationalprinzip<br />
kann auf ökonomischen Pragmatismus zurückgeführt werden,<br />
welcher die universal anwendbare numerische Form des Rationalprinzips (in<br />
Geldgrößen: Kosten, Erlös, Gewinn, Rentabilität) favorisiert. 23 Die Geldeinheit<br />
als der ökonomisch relevante Darstellungs- und Abbildungsparameter<br />
belegt das Rationalprinzip inhaltlich nach ökonomischer Methode der monetären<br />
Kalkulation. Bezieht man dieses Prinzip auf die reale Situation, so<br />
zeigt sich, dass das Prinzip einen bestimmten Handlungstypus voraussetzt<br />
und zwar denjenigen, „bei dem tatsächlich ein monetärer Einsatz um eines<br />
19 Vgl. hierzu Godelier, M. (1972): Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie,<br />
Frankfurt, S. 27.<br />
20 Vgl. bspw. Neuendorff, H. (1973): Der Begriff des Interesses - eine <strong>St</strong>udie zu den Gesellschaftstheorien<br />
von Hobbes, Smith und Marx, Frankfurt, S. 74ff., der bei Hobbes<br />
und Smith aufzeigt, wie der Typus des modernen Kaufmanns zur anthropologischen<br />
Figur wird. Zu der Verbindung von Naturrechtsphilosophie und moderner Wirtschaftstheorie<br />
vgl. Ulrich (1993: 186ff.).<br />
21 Quesnay, F. (1766): Sur les Travaux des Artisans, in: Oncken, A. (Hrsg.), Oeuvres economiques<br />
et philosophiques de F. Quesnay (1888), Frankfurt/Paris, S. 526-554, hier S.<br />
535, zitiert nach Freimann (1977: 28); Übersetzung: Freimann.<br />
22 Die inhaltliche Beliebigkeit ist dabei konstitutiv für die Allgemgültigkeit. So bspw.<br />
Pack: „Das Rationalprinzip (...) hat für alles zielstrebige Handeln schlechthin Gültigkeit.“<br />
(Pack, L. (1961): Rationalprinzip und Gewinnmaximierungsprinzip, in: Zeitschrift<br />
für Betriebswirtschaft, Jg. 31, S. 207-220 und 281-290, hier S. 210, zitiert nach<br />
Freimann 1977: 30).<br />
23 Auf den ökonomischen Pragmatismus wird an späterer <strong>St</strong>elle näher eingegangen.<br />
Vgl. Abschn. 3.2 und Abschn. 10.1.2.
monetären Erfolges willen getätigt wird“ 24. Die Person des Unternehmers<br />
und seine Handlungen werden methodologisch-individualistisch rekonstruiert,<br />
was sich durch die gesamte Betriebswirtschaftslehre zieht und in systematischem<br />
Gegensatz zumindest zu der gesamtgesellschaftlichen Perspektive<br />
steht. Dies zeigt sich in dem Rationalprinzip in der Minimierungs- und<br />
Maximierungsausprägung:<br />
„Das formale Rationalprinzip ist somit sowohl in seiner Minimierungsausprägung<br />
als auch in der Maximierungsausprägung nicht nur grundsätzlich<br />
analytisch durch Bewertung aller Handlungen bzw. Handlungsfolgen in<br />
Geldgrößen konkretisierbar als Kostenminimierungs- bzw. Gewinnmaximierungsprinzip,<br />
sondern genau in diesen Konkretisierungsformen spiegelt sich<br />
tatsächlich ein realer Handlungstyp, der sich an Geldgrößen orientiert.“ 25<br />
Dabei kommt dem Gewinnmaximierungsprinzip die dominante <strong>St</strong>ellung zu,<br />
da der monetäre Erfolg die privatwirtschaftliche Zielgröße darstellt. Neben<br />
vielen „systeminternen“, d. h. aus der rein betriebswirtschaftlichen Rechnung<br />
entspringenden Problemen bezüglich Zeit und Kausalität zwischen<br />
Aufwand und Ertrag26 spielt darüber hinaus vor allem die Vergleichbarkeit<br />
der Aufwands- und Ertragsgrößen eine entscheidende Rolle. Es zeigt sich<br />
hier, dass die Abstraktion durch die numerische (monetäre) Darstellung<br />
inhaltliche Unterschiede zu überdecken vermag. 27 Es zeigt sich zudem, dass<br />
bezüglich der komplementären Seiten des Rationalprinzips (Min - Max)<br />
unterschiedliche Bezüge zu Vernunft und Rationalität gewählt werden. Während<br />
die Minimierungsvariante als „allgemeines Vernunftgebot“ interpretiert<br />
wird, ist die Maximierungsvariante „übergeordnete Konkretisierungsform“ 28<br />
und zugleich Produkt der gesellschaftlichen Bedingungen, des Kapitalismus<br />
also. Es deutet sich auch hier die Differenz der effizienten Mittelverwendung<br />
24 Freimann (1977: 31).<br />
25 Freimann (1977: 32).<br />
26 Vgl. hierzu bspw. Freimann (1977: 33ff.).<br />
27 Das Problem der Vergleichbarkeit wird deutlicher, wenn man die Vorstufe der Abstraktion<br />
betrachtet, also die Ebene der unterschiedlichen „<strong>St</strong>offe“, also wenn „man<br />
Aussagen über die Wirtschaftlichkeit der Verwendung von Arbeitskraft oder <strong>St</strong>offen<br />
in verschiedenen Gegenstandsbereichen machen will.“ (Freimann 1977: 42; Hervorhebungen<br />
vom Verfasser). Dann stößt der Vorteil der Abstraktion, nämlich ihre Praktikabilität,<br />
an ihre Grenzen. An späterer <strong>St</strong>elle wird erläutert werden, wie durch den<br />
Bezug zur (Arbeits)Zeit ein universales Zuordnungsmedium von <strong>St</strong>offen zu abstrakten<br />
Geldeinheiten etabliert wurde. Vgl. dazu Abschn. 3.3.<br />
28 Freimann (1977: 64).<br />
17
und der damit verbundenen (relativen!) Ressourcenschonung und der individualistischen<br />
Gewinnmehrung an, die in der Spannung zwischen Privatwirtschaft<br />
und Gemeinwirtschaft auftauchen, zwischen dem Wohl des Einzelnen,<br />
den Eigeninteressen, und dem Wohl der Gemeinschaft, den gemeinschaftlichen<br />
Interessen. Vor diesem Hintergrund kann die Betriebswirtschaftslehre<br />
ihren Anspruch der Allgültigkeit durch die Vereinnahmung des<br />
„allgemeinen Vernunftgebots“ (s. o.) nicht aufrechterhalten.<br />
18<br />
„Den Nachweis der übergeschichtlichen Allgültigkeit des formalen Rationalprinzips,<br />
seines Charakters als Gebot der Vernunft menschlichen Handelns<br />
schlechthin ist die betriebswirtschaftliche Literatur mithin schuldig geblieben.<br />
Sie muß ihn schuldig bleiben, weil er in dieser Form gar nicht zu leisten ist.“ 29<br />
Auch wenn ihre Wirksamkeit sich faktisch über ihre Grenzen hinaus erstreckt<br />
und die Gesellschaft zunehmend kommerzialisiert wird, so sagt dies<br />
noch nichts über die Begründetheit des Allgemeingültigkeitsanspruchs aus.<br />
Denn die Betriebswirtschaftslehre ist zu kennzeichnen als eine Lehre,<br />
„(...) die in einem bestimmten und begrenzten Gegenstandsbereich dem dort<br />
vorherrschenden monetär ausgerichteten Handlungsmuster Anleitung und<br />
Hilfe gibt: unternehmerische Handlungswissenschaft, Profitlehre.“ 30<br />
Außerdem stellen sich dem Rationalprinzip zwei Antithesen aus a) der betriebswirtschaftlichen<br />
Zielforschung und b) der betriebswirtschaftlichen<br />
Organisationstheorie entgegen: Beide bezweifeln die Adäquanz des Unternehmensziels<br />
„Gewinn“ als umfassende Zielgröße.<br />
a) Die betriebswirtschaftliche Zielforschung legt ihr Augenmerk insbesondere<br />
auf die praktischen Zielvorstellungen der Unternehmung und hebt damit<br />
auf die inhaltliche Komplexität der Größe „Ziel“ ab. Weicht die Theorie<br />
von diesen empirisch gestützten Vorstellungen zu weit ab, verliert sie ihr<br />
Erklärungspotential. Dabei wird vor allem betont, dass sich die Zielvorstellung<br />
von einer derart pluralen Gesamtheit, nämlich der Mitarbeiterschaft<br />
ableitet, dass dies mit einem mono-disziplinären Ansatz nur unzureichend<br />
erfasst werden kann. Zielforschung in der Unternehmung muss somit inter-<br />
29 Freimann (1977: 44).<br />
30 Freimann (1977: 46).
disziplinär erfolgen; die Zielgröße „Gewinn“ kann dabei vom Zweck zum<br />
Mittel werden. 31<br />
b) Die Organisationstheorie fokussiert nur indirekt auf die inhaltliche<br />
Dimension der Zielvorstellung; eher thematisiert sie den Prozess der Zielentstehung.<br />
In der „neoklassischen“ Betriebswirtschaftslehre bleibt dieser<br />
Entstehungsprozess ausgeblendet. Das unternehmerische Ziel ist letztlich<br />
unabhängig von den individuellen Wirtschaftssubjekten, von den Mitarbeitern<br />
der Unternehmung. Es wird unabhängig davon (voraus)gesetzt. Die<br />
Organisationstheorie sieht entgegen dieser Setzung in der unternehmerischen<br />
Realität vielmehr eine Vielzahl komplexer Entscheidungsprozesse,<br />
aus denen eine Zieldefinition sukzessive entsteht und definiert wird. Dies<br />
wäre eine Zielvorstellung der Unternehmung, nicht für die Unternehmung. 32<br />
Aus der organisationstheoretischen Sicht treten dabei insbesondere die Entscheidungsprozesse<br />
der Unternehmung in den Vordergrund. Es lässt sich<br />
diesbezüglich aufzeigen, dass die Entscheidungstheorie in ihrem Abstraktionsgrad<br />
und der damit einhergehenden inhaltlichen Disposition anschlussfähig<br />
an das ökonomische Rationalprinzip ist, welches, wie angedeutet,<br />
einen ähnlichen Abstraktionsgrad aufweist. 33<br />
Beiden Antithesen ist ein übergeordneter Kritikpunkt gemeinsam, der sich<br />
auf den Befund der Pluralität gründet; Pluralität der Inhalte und Pluralität<br />
der Prozesse. Im Kontext der Unternehmung und der Notwendigkeit von<br />
Koordination zur gemeinsamen Erreichung einer Zielvorstellung wird aus<br />
31 Vgl. vor allem Bidlingmaier, J. (1964): Unternehmensziele und Unternehmensstrategien,<br />
Wiesbaden, S. 42ff., der die Unternehmensziele in ihren materialen und nominalen<br />
Bestimmungen unterscheidet und ihren monistischen und/oder pluralistischen<br />
Charakter deutlich macht. Diese Differenzierung geschieht dabei bei Bidlingmaier<br />
unter explizitem Verzicht auf die homo-oeconomicus-Prämissen.<br />
32 Um zu unterscheiden zwischen einer Zielvorstellung, die eher aus dem Unternehmen<br />
heraus entstanden ist (der) und einer Zielvorstellung, die eher aus der theoretischen<br />
Reflexion auf die Unternehmung angewendet wird (für), wird obige Formulierung<br />
gewählt. Dieser Perspektivenwechsel geht zurück auf Kirsch, W. (1992): Kommunikatives<br />
Handeln, Autopoiese, Rationalität, München, der dies im Zusammenhang mit<br />
der Definition seines betriebswirtschaftlichen Ansatzes verwendet. Es beschreibt seinen<br />
Ansatz als eine „Lehre für die Führung auf der Grundlage einer Lehre von der<br />
Führung“ (Kirsch 1992: 2). Der Ursprung und Zielpunkt von Prozessen sind zu differenzieren.<br />
Vgl. hierzu auch Ulrich, H. (1970): Die Unternehmung als produktives soziales<br />
System, 2. überarbeitete Aufl., Bern/<strong>St</strong>uttgart, S. 161f.<br />
33 Vgl. hierzu Freimann (1977: 58ff.). Zu einer Übersicht über die Unterschiede der organisationstheoretischen<br />
Ansätze bspw. Walter-Busch, E. (1996): Organisationstheorien<br />
von Weber bis Weick, Amsterdam.<br />
19
dieser Pluralität Komplexität. Diese Komplexität ist durch die Heterogenität<br />
der „Teile“, hier die Lebens- und Sprachformen der Mitarbeiter einer Unternehmung,<br />
gekennzeichnet. In einem lebensweltlichen Rekurs, der die „vieldimensionale<br />
menschliche Motivstruktur“ 34 zum Ausdruck bringt, wird<br />
zwingend die Frage der (unternehmerischen und individuellen) Zielpriorität<br />
aufgeworfen und damit der Geltungsanspruch der Ökonomie in lebensweltlichen<br />
Bezügen. Bidlingmaier vertritt die Auffassung, dass „der Mensch am<br />
Wirtschaften grundsätzlich nur ein mittelbares Interesse hat“ 35, was den<br />
unternehmerischen „Zielentscheidungsprozess“ nicht nur vor eine inhaltliche<br />
Vielfalt, sondern vor allem vor die Frage der Priorität, des Primats<br />
stellt. Der lebensweltlichen Pluralität steht die Ökonomie entgegen, die -<br />
wenn auch nur systemintern - ein ökonomisches Primat ihrer Rationalität<br />
einfordert, das sich gegen die Rolle als Mittel stemmt. Das lebensweltliche<br />
Apriori hingegen setzt die Ökonomie klar als Mittel zum lebensdienlichen<br />
Zweck.<br />
Aus dieser Gemengelage von ökonomischer Rationalität, Rationalität an sich<br />
und Vernunft an sich ist es schwer, klare <strong>St</strong>andpunkte abzuleiten. Auch<br />
wenn die ökonomische Rationalität Teile von Rationalität und Vernunft in<br />
sich trägt, so kann sie doch weder das eine noch das andere ganz erfassen -<br />
weder in ihrem Vollzug noch in ihrem Anspruch. Die Fragestellung der<br />
Legitimation ökonomischer Methoden und Ansätze lässt sich auf der Ebene<br />
des Entdeckungs- und Begründungszusammenhangs nur unvollständig<br />
beantworten; aus diesem Grund wird im Folgenden der Zugang zum Verwendungszusammenhang<br />
beschrieben. 36 Die Integration der Perspektive der<br />
Betroffenen geschieht durch die explizite Reflexion lebensweltlicher Bezüge.<br />
In dem phänomenologischen Zugang zeigt sich das lebensweltliche Apriori<br />
und es wird deutlich, wie die Menschen und der Einzelne am Beginn und<br />
Ende ökonomischer Transformationsprozesse stehen.<br />
34 Freimann (1977: 79).<br />
35 Bidlingmaier (1968: 75; Hervorhebungen im Original, zitiert nach Freimann 1977: 79).<br />
36 Vgl. zu der wissenschaftstheoretischen Systematisierung der unterschiedlichen Ebenen<br />
von Zusammenhängen Fußnote 30, Kapitel II.<br />
20
1.3 Tauschhandel und Marktkoordination - methodische Bestimmungen<br />
ökonomischer Rationalität<br />
Eine phänomenologische Rekonstruktion sieht die ökonomische Rationalität<br />
auf vielfältige Weise mit der Arbeit und dem arbeitenden Menschen verflochten.<br />
Diese Verflechtungen thematisiert auch Gorz. Gorz identifiziert<br />
insbesondere zwei zentrale Ursachen, welche der ökonomischen Rationalität<br />
zu ihrer heutigen Dominanz verholfen haben: Zum einen entfernte sich<br />
Arbeit von ihrer direkten Notwendigkeit zur Selbstversorgung und orientierte<br />
sich am Kriterium der Tauschbarkeit (Tauschhandel) und zum anderen<br />
entwickelte sich aus dem Tauschhandel eine Organisation der Tauschprozesse,<br />
der Markt. Dieser Markt legt die Bedingungen und Konditionen<br />
des Tausches fest und konstituiert das Innen (Inklusion) und das Außen<br />
(Exklusion). Im Folgenden wird deutlich werden, inwieweit die Dominanz<br />
der Ökonomie einhergeht mit ihrer sukzessiven Herauslösung aus dieser<br />
Verflechtung. 37<br />
1.3.1 Von der Selbstversorgung zum Tauschhandel38 Genuin dienten menschliche Tätigkeiten der Sicherung des menschlichen<br />
Überlebens. Sie deckten die Grundbedürfnisse des Menschen ab. Durch<br />
effektivere und effizientere Arbeitsmethoden konnte diese Sicherung<br />
schneller und einfacher erreicht werden, wodurch darüber hinaus andere<br />
Tätigkeiten ausgeübt werden konnten. In der fortschreitenden Zivilisierung<br />
und Kultivierung entstanden Bedürfnisse, welche über die Befriedigung der<br />
Grundbedürfnisse hinausgingen. Unter Grundbedürfnissen wurde nun neben<br />
den physiologischen Motiven auch die Sicherheitsmotive, die sozialen<br />
Motive und besonders auch die Ich-Motive verstanden. 39 Solange Arbeit<br />
37 Vgl. hierzu Gorz, A. (1998): Kritik der ökonomischen Vernunft: Sinnfragen am Ende<br />
der Arbeitsgesellschaft, 2. Aufl., Hamburg, S. 157ff.<br />
38 Im Folgenden wird nochmals der Wandel der Arbeit aufgenommen, diesmal jedoch<br />
aus psychologischer Perspektive. Diese Betrachtung des Einzelnen ergänzt die soziologische<br />
Analyse in Abschn. 1.1, die den Wandel vor allem auf der gesellschaftlichen<br />
Ebene reflektierte.<br />
39 Maslow zeigt in Maslow, A.H. (1943): A Theory of Human Motivation, in: Psychological<br />
Review 50, S. 370-396 und Maslow, A.H. (1954): Motivation and Personality,<br />
New York, eine Klassifizierung der Bedürfnisarten durch seine Motivpyramide auf,<br />
die die Bedürfnisse nach dem Grad ihrer Notwendig- und Dringlichkeit für das<br />
menschliche Dasein darstellt. Diese Differenzierung hilft bei der adäquaten Gewichtung<br />
individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse. Die basalen Grundbedürfnisse<br />
wie Hunger, Durst, Atmen, Schlafen sind hierbei physiologischer Natur. Das Erstreben<br />
und Befriedigen höhere Bedürfnisstufen ist nur auf der Bedingung der Erfüllung<br />
21
noch von der Form war, dass sie primär den physiologischen Motiven<br />
diente, solange wurde sie auch als Mühe empfunden. Das Individuum<br />
strebte den Zustand an, sich von dieser Art von Arbeit zu emanzipieren<br />
(Antike). Mit der Entwicklung von Berufsständen, von Zünften, Gilden und<br />
Handwerk begann die Arbeit auch jenseits der Befriedigung von Grundbedürfnissen<br />
zu existieren und als Instrument zur Erreichung von anderen<br />
Motiven zu dienen. Es war zum einen die „räumliche und zeitliche<br />
Beschränkung des Handels (Zunftordnung)“, die das vormoderne Wirtschaften<br />
im Kontext einer reinen „Subsistenzwirtschaft“ vollzog, also „auf die<br />
Befriedigung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse der lokalen Lebensgemeinschaft<br />
(Familie, Sippe, Dorf) ausgerichtet“ sah. 40 Zum anderen waren<br />
es der sich daraus ergebende soziale Kontakt in den verbesserten Arbeitsbedingungen,<br />
der <strong>St</strong>atus eines handwerklichen Berufs (Ich-Motiv), die gesamten<br />
Entwicklungen in diesem gesellschaftlichen Bereich, die zu einer<br />
Aufwertung von Arbeit im Sinne eines Berufs, einer Berufung führten und<br />
die sich durch Treu und Glauben legitimierten. Zuvor wurden diese „höheren“<br />
Bedürfnisse noch außerhalb von Arbeit artikuliert. Doch mit der Etablierung<br />
einer regelmäßigen Tätigkeit nicht nur für die untersten Schichten,<br />
sondern auch für die Mittelschicht, den Bürgerstand, verstärkte sich auch der<br />
gesellschaftliche Anspruch (Lobby) und der individuelle Anspruch (Sinngebung)<br />
an diese Tätigkeiten. 41 Arbeit und Beruf mussten nun zunehmend<br />
diejenigen Bedürfnisse befriedigen, die zuvor in anderen gesellschaftlichen<br />
und familiären Zusammenhängen virulent waren und dort befriedigt wurden.<br />
Arbeit rückte schon zu diesem Zeitpunkt in den Mittelpunkt des Lebens<br />
sämtlicher unterer <strong>St</strong>ufen sinnvoll. Diese prepotency besagt, dass „das jeweils hierarchisch<br />
niedrigste noch nicht befriedigte Motiv (...) das stärkste“ (Rosenstiel, L.v.<br />
(1992): Grundlagen der Organisationspsychologie: Basiswissen und Anwendungshinweise,<br />
3. überarb. und erg. Aufl., <strong>St</strong>uttgart, S. 369f.) ist. Hier sind insbesondere auf<br />
gesellschaftlicher Ebene äußerst relevante Fragestellungen aufgetaucht, die eine<br />
Wohlstandsgesellschaft mit einem nicht marginalen Armenanteil in Frage stellen. Vgl.<br />
für einen Überblick über den gegenwärtigen <strong>St</strong>and der Armutsforschung Leibfried,<br />
S./Voges, W. [Hrsg.] (1992): Armut im modernen Wohlfahrtsstaat (Sonderheft 32 der<br />
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), Opladen.<br />
40 Ulrich (1998: 133; Hervorhebungen im Original).<br />
41 Vgl. zum individuellen Anspruch Baethge, M. (1991): Arbeit, Vergesellschaftung,<br />
Identität – Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit, in: Soziale Welt<br />
42, H. 1, S. 6-19, dessen Beschreibung der „normativen Subjektivierung der Arbeit“ im<br />
ausklingenden 20. Jahrhundert die gleiche Thematik anspricht. Dies wird an späterer<br />
<strong>St</strong>elle nochmals explizit aufgenommen. Vgl. hierzu insbesondere Abschn. 12.<br />
22
und lebensweltlicher Bedürfnisse, blieb aber mit diesen innerlich und äußerlich<br />
verflochten. 42<br />
Bezüglich individueller Motivstruktur haben die Arbeiten von Maslow weitergehende<br />
Einblicke vermitteln können. Danach lassen sich zwei unterschiedliche<br />
Arten von Motiven unterscheiden: die Defizitmotive, die mittels<br />
eines homöostatischen Ansatzes danach streben, ausgeglichen und somit ins<br />
Gleichgewicht gebracht zu werden, und die Wachstumsmotive, die nicht<br />
homöostatisch gelöst werden können, sondern expansiver Natur sind. Die<br />
bisher in der Argumentation genannten Motive sind alle als Defizitmotive zu<br />
interpretieren; das Ziel von wachstumsmotiviertem Verhalten war für<br />
Maslow die Selbstverwirklichung. Dabei kann diese Differenzierung nicht<br />
als präzise trennscharf gelten. Eher muss davon ausgegangen werden, dass<br />
zwar Selbstverwirklichung prinzipiell in die Kategorie „Wachstumsmotive“<br />
gehört, jedoch auch in den unterschiedlichen Defizitmotiven wiedergefunden<br />
werden kann. Anerkennung, <strong>St</strong>atus und Prestige als Ich-Motive sind<br />
beispielsweise nicht eindeutig einer homöostatischen Defizit-Konzeption<br />
zuordenbar, da hier ein Gleichgewicht nicht unbedingt erreicht werden<br />
kann, sondern der Wunsch nach immer mehr besteht. 43<br />
Die Wachstumsmotive sind also als Prozess zu verstehen; sie unterscheiden<br />
sich hierin von den Defizitmotiven. Bei Letzteren wird aus einem identifizierten<br />
Defizit gehandelt mit dem Ziel, dieses Defizit zu beseitigen. Wenn<br />
42 Dieser Befund der Verflochtenheit entwickelt sich aufgrund der industrialistischen<br />
Ausdifferenzierungs- und Spezialisierungsprozesse zu einem Befund der Entflechtung.<br />
Die Entflechtung von Arbeit und Leben führt in Verbindung mit der Dominanz<br />
von Arbeit dazu, dass die komplexe lebensweltliche Anspruchs- und Bedürfnisstruktur<br />
keine adäquate Berücksichtigung mehr erfährt. Dies wird an späterer <strong>St</strong>elle<br />
aufgenommen. Vgl. Abschn. 2.2.<br />
43 Auch Herzberg, F. (1966): Work and the Nature of Man, Cleveland, geht in seiner<br />
Zweifaktorentheorie der Arbeitszufriedenheit von einer solchen „Grunddichotomie<br />
‚Defizit-Expansion‘ innerhalb der Motivation“ (Rosenstiel 1992: 75) aus. Charakteristisch<br />
dafür ist, dass die Context-Variablen (Arbeitsbedingungen) zwar Unzufriedenheit<br />
verhindern können, jedoch nicht zu Zufriedenheit führen können. Deswegen werden<br />
sie auch als Hygiene-Faktoren bezeichnet. Sie beeinflussen die extrinsische Arbeitsmotivation.<br />
Die intrinsische Arbeitsmotivation wird hingegen durch die Content-<br />
Variablen konstituiert. Dies betrifft die Arbeitsinhalte (Leistung, Verantwortung, Anerkennung);<br />
sie werden Motivatoren genannt, denn ihre erlebte Verbesserung führt zu<br />
Zufriedenheit, ihre Verschlechterung senkt die Zufriedenheit, kann aber nicht zur<br />
Unzufriedenheit führen. Im Vergleich mit dem ebenso inhaltlichen Ansatz von<br />
Maslow wird implizit die Verbindung von Lebenswelt (Maslow-Motive auch unabhängig<br />
von der Arbeit existent) und der Arbeitswelt (Herzberg-Motivation durch<br />
Arbeit definiert) deutlich. Vgl. auch die Darstellung der Kontroverse um die Theorie<br />
von Herzberg bei Walter-Busch (1977: 39ff.).<br />
23
eispielsweise die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe angestrebt<br />
wird, so wird im Zeitpunkt der Entscheidung, sich dieses Ziel der Zugehörigkeit<br />
zu setzen, eine Ausgeschlossenheit von dieser Gruppe verspürt. Diese<br />
Exklusion stellt das Defizit dar. Wachstumsmotive jedoch sind nicht in dem<br />
Maße mit einer Identifikation von Defizit gekoppelt, sondern haben einen<br />
gestalterischen, kreativen und expansiven Charakter, welcher sich erst nach<br />
der Beseitigung der Defizitmotive entfalten kann. Wie Rosenstiel deutlich<br />
macht, ist diese Maslowsche Konzeption lange Zeit ohne genauere empirische<br />
Untersuchungen in der scientific community übernommen worden. 44 Erst<br />
mit den Arbeiten von Huizinga, Rosenstiel und Campbell & Pritchard45 wurde der Diskrepanz zwischen Akzeptanz und empirischer Belegbarkeit<br />
größere Beachtung geschenkt und der Fokus auf die prozesstheoretischen<br />
Arbeiten gelenkt. 46 Letztere haben den Vorteil, dass sie unabhängiger von<br />
den zu beschreibenden Personen sind; sie beschreiben den Ablauf der<br />
psychologisch-empirisch belegbaren menschlichen Verhaltensweisen und<br />
sind nicht in dem Maße auf Wesensdefinitionen angewiesen. Durch ihren<br />
höheren Abstraktionsgrad (beispielsweise keine hierarchische Motiv-<strong>St</strong>ruk-<br />
44 Vgl. Rosenstiel (1992: 367ff.).<br />
45 Vgl. hierzu Huizinga, G. (1970): Maslow’s Need Hierarchy in the Work Situation,<br />
Groningen; Rosenstiel, L.v. (1975): Arbeitsleistung und Arbeitszufriedenheit, in: Zeitschrift<br />
für Arbeitswissenschaft, Jg. 29, S. 72-78; Campbell, J.P./Pritchard, R.D. (1976):<br />
Motivation Theory in Industrial and Organizational Psychology, in: Dunnette, M.D.<br />
(Hrsg.), Handbook of Industrial and Organizational Psychology, Chicago, S. 63-130.<br />
46 Hierunter fallen beispielsweise die Theorie von Alderfer (Alderfer, C.P. (1969): An<br />
Empirical Test of a New Theory of Human Needs, in: Organizational Behavior and<br />
Human Performance, 4, S. 142-175 und Alderfer, C.P. (1972): Existence, Relatedness,<br />
and Growth. Human Needs in Organizational Settings, New York), welcher auf Basis<br />
von drei Grundmotiven (Existence (Grundbedürfnisse), Relatedeness (soziale Bedürfnisse)<br />
und Growth (Entfaltungsbedürfnisse)), der ERG-Theorie, und vier verschiedenen<br />
Prinzipien sieben Grundaussagen ableitet. Diese Grundaussagen beschreiben die<br />
Prozesse und Konsequenzen der Befriedigung und Nichtbefriedigung unterschiedlicher<br />
Bedürfnisse. Vgl. hierzu im Überblick Rosenstiel (1992: 370ff.). Diese Theorie<br />
kann somit im Gegensatz zu der Maslowschen Theorie die Prozesse explizit berücksichtigen.<br />
Walter-Busch macht in Walter-Busch, E. (1977): Arbeitszufriedenheit in der<br />
Wohlstandsgesellschaft: Beitrag zur Diagnose der Theoriesprachenvielfalt betriebspsychologischer<br />
und industriesoziologischer Forschung, Bern/<strong>St</strong>uttgart, die Probleme<br />
und Verzerrungen deutlich, die in der Forschung um Arbeitszufriedenheit nur allzu<br />
schnell auftauchen und nicht gesehen werden. Die hier vorgenommene Skizzierung<br />
kann der bei Walter-Busch detaillierten Erörterung betriebspsychologischer und industriesoziologischer<br />
Ansätze nicht gerecht werden. Jedoch sei die Sensibilisierung<br />
im Umgang mit vermeintlich plausiblen Interpretationen betriebspsychologischer<br />
und industriesoziologischer Arbeits- und Lebenswirklichkeit in der folgenden Argumentation<br />
präsent.<br />
24
tur) ist ihnen auch eine gewisse kontextuelle und historische Unabhängigkeit<br />
zuzuschreiben, welches im Groben postmodernen Ansätzen folgt. Insbesondere<br />
in einer interkulturellen Betrachtung sind damit die Prozesse in unterschiedlichen<br />
Kulturen getrennt voneinander, jeweils individuell deutbar. 47<br />
In den westlichen Industrienationen geht der individuelle Anspruch an die<br />
Arbeit weit über die bloße Alimentierung der Grundbedürfnisse hinaus. 48<br />
Dieser Anspruch äußert sich in Reaktion auf die tayloristisch-minutiöse Zerlegung<br />
der Arbeitstätigkeit und der daraus entstehenden Sinnfraktale durch<br />
die Suche nach Sinn-Zusammenhängen, die die Investition in Form der eigenen<br />
Arbeitskraft nach innen sinnvoll erscheinen lässt und nach außen rechtfertigt.<br />
In der historischen Betrachtung können im Tauschhandel die abwägenden<br />
Überlegungen unterschieden werden, die ein hauptsächlich für die<br />
Selbstversorgung Arbeitender im Vergleich zu einem bereits in der Fremdversorgung<br />
Arbeitenden heutiger Zeit anstellt. Der „Selbstversorger“ wägt<br />
mehrere Variablen gegeneinander ab und zwar<br />
„(...) das Niveau der Bedürfnisbefriedigung und die zusätzliche Anstrengung,<br />
die eine Anhebung dieses Niveaus erfordert; die Annehmlichkeit von Zeitgewinn<br />
und die Unannehmlichkeit der dazu notwendigen Arbeitsintensivierung<br />
(usw.).“ 49<br />
Der bereits in der Fremdversorgung aufgewachsene Arbeiter dagegen ist<br />
vornehmlich bestimmt durch ökonomische Kalkulation, die die Leistung<br />
gegen den Zeitaufwand rechnet (wenn Leistung fix, dann Zeit minimieren;<br />
wenn Zeit fix, Leistung maximieren). Dies geschieht beispielsweise in der<br />
Eigenarbeit genuin nicht, sondern „erst in dem Maße, wie die Hausarbeit zur<br />
untergeordneten Tätigkeit geworden ist, die man in der Freizeit so schnell<br />
wie möglich hinter sich bringt, während die bezahlte Arbeit die Haupttätigkeit<br />
darstellt“ 50. Das Denken vom Markt her, von einer Größe „Tauschwert“<br />
her, macht gleichzeitig über das Maß ihrer objektiven Attraktivität (Geld)<br />
47 Vgl. hierzu bspw. Büscher, M. (1998): Weltwirtschaft und Weltethos - Gründe gegen<br />
die Liberalisierung und für die Regionalisierung einer lebensdienlichen Weltwirtschaft,<br />
in: Maak, Th./Lunau, Y. (Hrsg.), Weltwirtschaftsethik: Globalisierung auf dem<br />
Prüfstand der Lebensdienlichkeit, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 293-314, der die Frage der<br />
kulturellen Unterschiede vor dem Hintergrund einer globalen Wirtschaftstätigkeit reflektiert.<br />
48 Vgl. hierzu die Darstellung in Abschn. 12.<br />
49 Gorz (1998: 157f.).<br />
50 Gorz (1998: 158).<br />
25
hinaus nicht bezahlte Tätigkeit zur lästigen Pflicht. Der Wert von Tätigkeiten<br />
kann sich somit nur in Geldeinheiten ausdrücken.<br />
1.3.2 Die Entstehung des Marktes<br />
In der konsequenten Weiterführung der Fokussierung auf einen zu erreichenden<br />
Tauschwert der eigen hergestellten Güter rückt der Markt als Ort<br />
des Handels von Tauschwerten in den Mittelpunkt. Nahrungsmittel, Werkzeuge<br />
und Kleidung, früher noch notwendige Lebens-Mittel, werden zu Produkten,<br />
Gütern, zu Waren umgedeutet. Schon Aristoteles beobachtet diese<br />
Entwicklung und macht in den Erwerbskünsten eine Unterscheidung in die<br />
Kunst des Hausverwalters (Ökonomik) und die des Kaufmanns (Chremastik),<br />
wobei der Kaufmann „am meisten gegen die Natur“ 51 handelt. Dieser<br />
Unterscheidung entspringt sodann auch die Differenzierung des Wertes<br />
von Waren in Gebrauchs- und Tauschwert. Aristoteles stellt fest, dass es für<br />
„jedes Besitzstück eine doppelte Verwendung“ 52 gibt. In den Anfängen<br />
dieses Entwicklungsstadiums beschränkt sich der Handelspartner der Angebotsseite<br />
nun nicht mehr auf den Nachbarn, auf Freunde, Bekannte und<br />
Verwandte, sondern richtet sich an eine anonyme Masse von potentiellen<br />
Abnehmern. Dies bedeutet, dass der selbst produzierte Tauschwert nicht in<br />
der Gewissheit der direkten Tauschbarkeit mit bekannten Anderen hergestellt<br />
bzw. geerntet wird. 53 Aufgrund der stark wachsenden Teilnehmerzahl<br />
am Tauschprozess ist eine direkte und damit exakte Bestimmung der Nachfrage<br />
und des Angebots unmöglich.<br />
Anbieter-Produkt-Beziehung: Der Bezug des als Anbieter auf dem Markt<br />
agierenden Akteurs zu seinem Produkt ist nicht durch eine direkte Notwendigkeit,<br />
sondern durch eine abstraktere Form, eine indirekte Notwendigkeit<br />
gekennzeichnet. Nicht das Produkt selbst, Nahrungsmittel oder Werkzeuge<br />
beispielsweise, dienen dem eigenen Überleben, sondern sie dienen erst in<br />
ihrer Funktion als Produkte und Güter in der Tausch-Transaktion auf dem<br />
Markt. Die Güter werden auf ihre Funktion reduziert und damit versach-<br />
51 Aristoteles, Politik I, 10, 1258a, übers. v. O. Gigon, zitiert nach Brodbeck (1998: 194).<br />
52 Aristoteles, 1257a, zitiert nach Brodbeck (1998: 195).<br />
53 Beispiel: Bauer A baut mehr Kartoffeln an, da er weiß, dass Bauer B mehr Rüben<br />
pflanzt, so dass diese beiden nach der Ernte Rüben gegen Kartoffeln tauschen können,<br />
da beide Bauern die vom Nachbarn erzeugten Tauschwerte benötigen. Die<br />
Direktheit der Beziehung garantiert die Abnahme der über den Eigenbedarf gepflanzten<br />
und geernteten Feldfrüchte.<br />
26
licht54; ihr Inhalt besteht nicht mehr in ihrer originären Verwendungsart,<br />
sondern im Wert als Tauschobjekt auf dem Markt. Die Beziehung von Anbieter<br />
zum Gut wird damit abstrakter. An die <strong>St</strong>elle von sensualer Erfahrung<br />
und emotionaler Verbindung tritt eine reine Zweckbeziehung, die objektivierend<br />
und kalkulierend vorgeht. So auch Ulrich:<br />
„Dabei [bei der Sicherung des Lebensunterhalts durch Gütereinkauf; T.B.]<br />
zählt nicht oder nicht unmittelbar der lebenspraktische Gebrauchswert<br />
dessen, was der Einzelne am Markt anzubieten hat, sondern allein der<br />
Tauschwert seines Angebots, d. h. der am Markt erzielbare Preis. Nicht mehr<br />
subjektive oder intersubjektive Gesichtspunkte, sondern die objektiven<br />
„Marktsignale“ steuern die einzelwirtschaftlichen Dispositionen: Im freien<br />
Markt zählt nur, was sich auszahlt.“ 55<br />
Die organisierte Form des Tauschhandels, die der Markt ermöglicht, trägt zu<br />
einer systematischen Versachlichung bei. Durch die Institutionalisierung von<br />
organisiertem Tauschhandel nimmt der Markt eine konstitutive gesellschaftliche<br />
<strong>St</strong>ellung ein und damit auch der Prozess der Versachlichung in der<br />
Gesellschaft.<br />
Anbieter-Markt-Beziehung: Die Beziehung von Anbieter zum Markt ist<br />
durch die strukturierte Ermöglichung der Durchführung von Tauschaktionen<br />
gekennzeichnet und damit ein „natürlich“ entstandenes Produkt des Bedürfnisses<br />
nach einem geregelten Warenaustausch. 56<br />
Die Sinnhaftigkeit jeglicher Mühe, die für Güter aufgewendet wurde, lässt<br />
sich nur über den „Umweg“ erfassen, den die Abstraktion in Form des Tausches<br />
am Markt beschreitet. Die Mühe zahlt sich aus, wenn das von Anbieter<br />
A überschüssig produzierte Produkt X erfolgreich in ein solches Produkt Y<br />
von Anbieter B umgetauscht wird, welches Anbieter A einen zum eigenen<br />
Produkt X äquivalenten Nutzen stiftet. Kommt dieser Tausch nicht zustande,<br />
war die Mühe zum großen Teil umsonst, da aufgrund des abnehmenden<br />
54 „Ethische Bedenken“ werden in der Gesellschaft vor allem dort angemeldet, wo diese<br />
Güter Tiere sind. Hier wird die Verzerrung besonders deutlich (Tiertransporte). Dass<br />
die Versachlichung jedoch auch auf den Menschen zurückwirkt, wenn es um produzierte<br />
Güter geht, wird an späterer <strong>St</strong>elle wieder aufgenommen. Vgl. Abschn. 3.2.<br />
55 Ulrich (1998: 138; Hervorhebungen im Original).<br />
56 Der Begriff des „Natürlichen“ in diesem Zusammenhang spielt auf die positivistischen<br />
Analogien an, die moderne Wirtschaftstheorien zu Naturrechtsphilosophien<br />
aufstellen. Vgl. hierzu Ulrich (1993: 186ff.).<br />
27
Grenznutzens eines jeglichen Produkts Anbieter A die überschüssig produzierten,<br />
da nicht abgesetzten Einheiten von X nicht sinnvoll nutzen kann.<br />
Dies kommt dann vor, wenn eine der <strong>St</strong>ufen des Tauschprozesses Defizite<br />
aufweist: Sei es die aufgrund von Informationsintransparenz nicht korrekt<br />
eingeschätzte Höhe der Nachfrage, sei es die aufgrund von eingeschränkter<br />
Allokationsmöglichkeit der Güter fehlende Übereinstimmung von Zeit und<br />
Ort des Angebots und der Nachfrage oder sei es die aufgrund von geringer<br />
Marktreife des Produkts nicht erreichte Wettbewerbsfähigkeit. 57 Diese<br />
Intransparenz des Marktes führt zu einer latenten Entkoppelung des Angebots<br />
von der Nachfrage. Es deutet sich an, inwieweit auch Defizite der ökonomischen<br />
Instrumente selbst zu einer Entfernung von den eigentlichen Bedürfnissen<br />
führen kann. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass<br />
die Entstehung des Tauschwertes und des Marktes die ökonomische Rationalität<br />
zentral konstituieren. Sie führen über Abstraktion und Intransparenz<br />
zu ersten Formen von Eigengesetzlichkeit.<br />
1.4 Zusammenfassung<br />
Dieser erste Zugang zu ökonomischer Rationalität hat Folgendes aufzeigen<br />
können:<br />
� Der Ausdifferenzierungsprozess der Moderne führt im Allgemeinen zu<br />
einer Entkoppelung von System und Lebenswelt, im Speziellen zu der Entfernung<br />
des Systems der Ökonomie von dessen lebensweltlichen Bezügen.<br />
� Das ökonomische System begünstigt diese Entkoppelung vor allem durch<br />
die elementar-ökonomische Form des Numerischen und die strukturell-koordinative<br />
Form des Marktes.<br />
Es ist angedeutet worden, dass in Bezug auf die inhaltlich-lebensweltlichen<br />
Zusammenhänge<br />
� die numerische Form als Abstraktion interpretiert wird, welche zu „Sinn-<br />
Versperrung“ und, in der Folge, zu Verlust von Inhalten führen kann.<br />
� die koordinative Form des Marktes als systemische Eigengesetzlichkeit zu<br />
deuten ist, die tendenziell eine Resistenz gegenüber Ansprüchen aus der<br />
(lebensweltlichen) Umwelt aufweist.<br />
57 Vgl. zu den Defiziten des Marktes bspw. Samuelson, P.A./Nordhaus, W.D (1998):<br />
Volkswirtschaftslehre, Übersetzung der 15. Aufl., Wien, S. 189ff.<br />
28
<strong>St</strong>ellt man diese lebensweltlichen Implikationen von ökonomischer Rationalität<br />
der aktuellen Verfassung der Gesellschaft gegenüber, welche durch die<br />
Ökonomie und die Arbeit maßgeblich geprägt und besetzt ist, dann wird<br />
dadurch die Relevanz einer grundsätzlichen Reflexion der ökonomischen<br />
Rationalität deutlich. Das folgende Kapitel wird versuchen, die These der<br />
Überforderung der ökonomischen Rationalität zu verdeutlichen und zu belegen.<br />
2 Aktuelle Herausforderungen - Entgrenzung des Begrenzten<br />
Es soll an dieser <strong>St</strong>elle auf eine explizite Darstellung von Globalisierung verzichtet<br />
werden; dies ist bereits vielfach und in unterschiedlicher Weise geschehen.<br />
Was in dieser Argumentation relevanter und zielführender erscheint,<br />
ist die explizite Auseinandersetzung mit denjenigen Phänomenen in<br />
der Globalisierung, die die im vorherigen Kapitel skizzierten phänomenologischen<br />
Charakteristika der ökonomischen Rationalität (Systemcharakter,<br />
Abstraktionscharakter) in der Aktualität aufzeigen können. Auf diese Weise<br />
kann die Überforderung der ökonomischen Rationalität verdeutlicht werden.<br />
Grundlegende These wird sein, dass dem entgrenzten ökonomischen Handeln<br />
ein begrenztes ökonomisches Denken gegenübersteht, welches notwendigerweise<br />
zu inhaltlicher Reduktion und Verkürzung führen muss. Der<br />
Aufbau sieht wie folgt aus: In einem ersten Schritt wird die Globalisierung<br />
aus systemischer Sicht rekonstruiert. Dies wird vor allem aufzeigen können,<br />
inwieweit das Denken der Ökonomie, die ökonomische Rationalität, an<br />
systemische Grenzen stößt. Im Anschluss daran wird das diesem Denken<br />
gegenüberstehende entgrenzte Handeln beschrieben. Das entgrenzte Handeln<br />
wird in heutiger Zeit maßgeblich durch die neuartigen Informationsund<br />
Kommunikationstechnologien (IuK-Technologien) ermöglicht. Dabei<br />
wird deutlich, in welcher Weise die IuK-Technologien als Enabler einer ökonomischen<br />
Entgrenzung wirken. Ergänzt werden die Analysen durch zwei<br />
soziologische Untersuchungen, die die behandelten Themen im Kontext von<br />
Arbeit reflektieren und die These unterstützen.<br />
29
2.1 Globalisierung - eine systemische Rekonstruktion<br />
Im Folgenden wird die Globalisierung aus systemisch-ökonomischer Perspektive<br />
beschrieben. 58 Aus dieser systemischen Perspektive stellt sich die<br />
Globalisierung für das System Ökonomie als interne (inner-systemisch,<br />
System) und externe (außer-systemisch, Umwelt) Herausforderung dar.<br />
Allgemein wird die interne Herausforderung der Ökonomie ökonomisch rekonstruiert.<br />
Es stehen Fragen der Expansion globaler Netzwerke und globaler<br />
Wertschöpfungsaktivitäten im Vordergrund. Zunehmend aber werden<br />
auch Fragen thematisiert, die nicht genuin ökonomischen Inhalts sind; dies<br />
sind Fragen der Kultur, Gerechtigkeit und Solidarität. Die global player<br />
können sich diesen Fragen und damit den Aufgaben einer über die ökonomische<br />
Dimension hinausgehenden Gestaltung der globalen Gemeinschaft59 58 Auch Thielemann, U. (1996): Das Prinzip Markt: Kritik der ökonomischen Tauschlogik,<br />
Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, wählt den analytischen Zugang System-Lebenswelt in der<br />
Betrachtung des Marktes. Über die rein analytische Bedeutung geht dieser Zugang<br />
hinaus, wenn „die in Frage stehende soziale Ordnung nur noch unter dem Systemaspekt<br />
angemessen erklärt werden kann“ (Thielemann 1996: 21). Dann ist eine „nicht<br />
mehr nur analytische Anwendung der Systemanalyse“ (Habermas, J. (1986): Entgegnung,<br />
in: Honneth, A./Joas, H. (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen<br />
Habermas‘ „Theorie des kommunikativen Handelns“, Frankfurt, S. 327-405, hier S.<br />
386, zitiert nach Thielemann 1996: 21) notwendig. Diese Argumentation liegt auch<br />
dem hier getroffenen nicht nur analytischen, sondern auch „essentialistischen“<br />
(Thielemann 1996: 21) Zugang zugrunde. Vgl. dazu die methodischen Implikationen<br />
in Abschn. 4.<br />
59 Die allgemeine Verwendung des Terminus „global“ in den alltäglichen Debatten ist<br />
charakteristisch für die westliche Einstellung, die impliziert, wer zum Globus dazugehört<br />
(Inklusion) und wer nicht (Exklusion). Allein die Potentialität reicht nicht aus,<br />
von einem globalen Netzwerk zu sprechen. Die Möglichkeit hat sich einer konkreten<br />
Implementierung zu stellen. Der Begriff der Exklusion bezieht sich zum einen auf den<br />
nationalen Kontext, in dem der Einzelne ausschließlich durch Arbeit und Konsum<br />
zum Teil der Gesellschaft wird - ansonsten wird er ausgeschlossen. Und zum anderen<br />
bezieht sich der Begriff auf den internationalen Kontext, wo trotz aller Liberalisierung<br />
Grenzen, Beschränkungen und Barrieren aufgebaut werden, die ganzen Ländern den<br />
Zutritt zur global community verwehrt, dessen Aufnahmekriterien faktisch alleinig<br />
ökonomischer Natur zu sein scheinen; dies wird in der Diskussion um „Globalisierung“<br />
nochmals aufgenommen. So kommen auch Hasse/Wehner zu dem Schluss:<br />
„Das Angebot neuer Kommunikations- und Dokumentationstechniken wird allein<br />
wohl ebensowenig die Öffnung exklusiver Teilöffentlichkeiten bewirken wie die<br />
Beseitigung bestehender Ungleichheiten. Elektronische Netze dienen nicht allein der<br />
Überwindung von Grenzen und Hierarchien, sondern sie unterstützen zugleich den<br />
Aufbau und Erhalt von Eliten und exklusiven Gemeinschaften – was sie für die<br />
Erzeugung der Gesamtöffentlichkeit als denkbar ungeeignet erscheinen läßt.“ (Hasse,<br />
R./Wehner, J. (1997): Vernetzte Kommunikation. Zum Wandel strukturierter Öffentlichkeit,<br />
in: Becker, B./Paetau, M. [Hrsg.] (1997), Virtualisierung des Sozialen: Die<br />
30
als einer ihrer dominanten Akteure nicht entziehen. In der Thematisierung<br />
dieser Fragen zeigt sich die Verbindung von interner und externer Herausforderung:<br />
Die externe Pluralität trifft auf eine interne Geschlossenheit. Ist<br />
diese Pluralität aus irgendeinem Grund erhaltenswert, so entsteht hier ein<br />
Handhabungskonflikt. Dieser Konflikt wird im Folgenden skizziert.<br />
2.1.1 Globale Pluralität - externe Herausforderung der Ökonomie<br />
Der Blick auf den gesamten Globus spricht die Sprache der Pluralität. Diese<br />
Pluralität entsteht nicht durch die Globalisierung, wird aber in diesem Prozess<br />
umso deutlicher. Pluralität genuin als Vielheit verstanden, bringt zunächst<br />
einmal das Nebeneinander von heterogenen Existenzen zum Ausdruck.<br />
Über deren Beziehung zueinander ist bis zu diesem Erklärungsstand<br />
zunächst nichts ausgesagt, außer, dass die Heterogenität der Elemente durch<br />
nichts eliminierbar scheint. Gerät diese gesamte Pluralität in den Blick einer<br />
globalen Handhabung, so wie die ökonomische Globalisierung eine darstellt,<br />
so wird sie wegen ihrer aufwendigen Handhabbarkeit in Frage gestellt. Es ist<br />
somit die vorfindbare Pluralität von der Handhabung zu trennen. Diese<br />
Differenzierung ist elementar für eine Betrachtung der Globalisierung. Wird<br />
hier von der externen Herausforderung gesprochen, so drückt dies die<br />
Handhabungsperspektive der Ökonomie aus. Der Begriff der Globalisierung<br />
ist aus dieser Handhabungsperspektive zu verstehen. 60<br />
Die globale Pluralität wird insbesondere durch die Informations- und<br />
Kommunikationstechnologien und die durch sie erzeugte globale Informa-<br />
Informationsgesellschaft zwischen Fragmentierung und Globalisierung, Frankfurt/<br />
New York, S. 53-80, hier S. 76).<br />
60 Gegen eine solche Handhabungsperspektive und der damit einhergehenden Reduzierung<br />
auf eine handhabbare Komplexität richten sich vielfältige Ansprüche. Einer der<br />
zentralen Gegenbewegungen und Gegenprogramme stellt die Regionalisierung oder<br />
Glokalisierung dar, die für eine Rückbesinnung auf die lokalen Besonderheiten im vielfältigen<br />
Ganzen sensibilisiert. Bauman nimmt den Begriff der Glokalisierung von<br />
Robertson, R. (1992): Globalization: Social Theory and Global Culture, London, auf:<br />
„Integration und Fragmentierung, Globalisierung und Territorialisierung sind jeweils<br />
sich ergänzende Prozesse; oder genauer: zwei Seiten desselben Prozesses, und zwar<br />
der weltweiten Umverteilung von Souveränität, Macht und Handlungsfreiheit. Aus<br />
diesem Grund ist es - dem Vorschlag Roland Robertsons folgend - sinnvoll, von<br />
Glokalisierung statt von „Globalisierung“ zu sprechen, von einem Prozeß, innerhalb<br />
dessen die Gleichzeitigkeit und das Ineinander von Synthesis und Auflösung, Integration<br />
und Dekomposition alles andere als zufällig und erst recht nicht korrigierbar<br />
sind.“ (Bauman, Z. (1997): Schwache <strong>St</strong>aaten – Globalisierung und die Spaltung der<br />
Weltgesellschaft, in: Beck, U. (Hrsg.), Kinder der Freiheit, Frankfurt, S. 315-332, hier<br />
S. 323).<br />
31
tionstransparenz sichtbar. Wo Transparenz erhöht wird, da ist auch Vergleich<br />
möglich. Dieser Vergleich entwickelt sich durch die momentane<br />
Dominanz der ökonomischen Parameter auch in unserer Lebenswelt zum<br />
Wettbewerb. Die bipolare Gesellschaftsstruktur als Ausfluss nationaler<br />
Marktprozesse in Gewinner und Verlierer nimmt globale Dimensionen an.<br />
Sie spaltet den Globus trotz seiner ökonomischen Vernetzung. Die Kräfte des<br />
Wettbewerbs wirken durch die neoliberalistische Freiheit imperialistisch,<br />
kennen keine Grenzen, keine pragmatischen, keine geographischen und auch<br />
keine kulturellen. 61<br />
Auch innerhalb der Ökonomie stehen sich Einheitlichkeit und Vielfältigkeit<br />
gegenüber: Die Produktvielfalt sichert zum einen die Differenzierung vom<br />
Mitbewerber auf dem Markt, zum anderen fordern Markt und Unternehmen<br />
eine Einheitlichkeit und <strong>St</strong>andardisierung der Produkte, um den globalen<br />
Markt systematisch bedienen zu können. Während die Vielfalt eher die Frage<br />
nach der Sinnhaftigkeit aufwirft62, so führt die Vereinheitlichung zu<br />
Konflikten mit gesellschaftlichen und humanen Ansprüchen auf globaler<br />
Ebene. 63 Ökonomische Einheit und Vielheit treffen sich dort, wo es um ihre<br />
61 Die Literatur zu diesem Thema ist inzwischen so umfangreich, dass an dieser <strong>St</strong>elle<br />
nur skizziert werden kann, welche thematischen Facetten im Zusammenhang mit<br />
„Globalisierung“ erörtert werden. <strong>St</strong>ellvertretend sei hier auf den Sammelband<br />
Maak/Lunau (1998), verwiesen, welcher unterschiedliche Aspekte auch und vor<br />
allem aus wirtschaftsethischer Perspektive beleuchtet. Vor dem aktuellen Hintergrund<br />
sind insbesondere die Themen Kultur, Religion und Sozialstandards relevant.<br />
Zu der Frage der <strong>St</strong>andards vgl. bspw. Thielemann. Thielemann erörtert die Frage, ob<br />
„das Tal der Tränen niedriger Sozial- und Umweltstandards durchschritten“ (Thielemann,<br />
U. (1998): Globale Konkurrenz, Sozialstandards und der (Sach-)Zwang zum<br />
Unternehmertum, in: Maak/Lunau (1998), S. 203-244, hier S. 228) werden muss, um<br />
zu einer verantwortbaren globalen Wirtschaftsgestaltung zu gelangen. Die Frage der<br />
Kultur in der Globalisierung betrachtet bspw. Skelton, T. [Hrsg.] (1999): Culture and<br />
Global Change, London u. a., in einer Aufsatzsammlung und Beck, U. (1997): Was ist<br />
Globalisierung?, 3. Aufl., Frankfurt. Rosecrance, R. (2001): Das globale Dorf - New<br />
Economy und das Ende des Nationalstaates, Düsseldorf, hebt die Virtualität und<br />
Immaterialität heutiger Wirtschaft hervor und gelangt über die Re-Definition von<br />
Nationalstaaten und ihren Beziehungen untereinander zu der nicht unbedenklichen<br />
Differenzierung in „Kopfstaaten“ und „Körperstaaten“. Ethische Reflexion bezüglich<br />
Immaterialität nimmt Rosecrance dagegen nicht vor. Martin, H.-P./Schumann, H.<br />
(1997): Die Globalisierungsfalle - Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand, 9.<br />
Aufl., Reinbek bei Hamburg, illustrieren die unterschiedlichen Facetten der Globalisierung<br />
auf anschauliche Weise durch zahlreiche Beispiele aus ihrer praktischen<br />
journalistischen Erfahrung.<br />
62 Vgl. hierzu auch den folgenden Abschn. 2.1.2.<br />
63 Prahalad/Bettis bezeichnen die von den westlichen Industrieländern vertretenen<br />
ökonomischen Inhalte und Verhaltensweisen als „dominant logic“. Diese westliche<br />
32
Kompatibilität zum System Ökonomie geht; diese besitzen beide auf ihre<br />
Weise. Durch diese Kompatibilität ist die Vielfalt nicht eine emergierende<br />
Vielfalt, die sich bspw. in den unterschiedlichen Kulturen zeigt, sondern eine<br />
geplante und bewusst eingesetzte Vielfalt, die um ihretwillen Vielfalt schafft,<br />
nämlich die expansive Vielfalt der Bedürfnisse auf der Nachfrageseite. Ökonomische<br />
Vielfalt kann auf diese Weise nicht zu kultureller Vielfalt beitragen,<br />
da sie sich durch ihre Perspektive der Handhabung, des spezifischen<br />
Telos, nicht mit der kulturellen Emergenz trifft. Dies verhält sich ähnlich mit<br />
der ökonomischen Vereinheitlichung und der inneren Homogenität einer<br />
Kultur. Das eine stellt sich primär in den Dienst der Ökonomie, das andere<br />
stellt sich primär in den Dienst des Menschen. Auch wenn wirtschaftliche<br />
Einheit Teil einer kulturellen Einheit darstellen mag, so kann sie aufgrund<br />
ihres ökonomischen Endzwecks diese nie ersetzen - sie kann diese nur aushöhlen.<br />
Nicht erst im Absatz sondern bereits in der Erstellung der Produkte nutzt die<br />
Wirtschaft Möglichkeiten des globalen Handelns. Internationale Preisdifferenzen,<br />
sogenannte komparative Kostenvorteile, bei Ressourcenbeschaffung<br />
oder Löhnen, aber auch qualitative Differenzen in Bezug auf <strong>St</strong>andards und<br />
Gesetzgebung spielen eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Koordinierung<br />
globaler Aktivitäten. In Bezug auf den wirtschaftlich Schwächeren,<br />
„Dritte Welt“ und „Schwellenländer“, kann dies Legitimitätsfragen aufwerfen.<br />
64 Die internationale Splittung der Wertschöpfungskette ist für global<br />
Dominanz überdeckt nicht nur andere Weisen des Wirtschaftens, sondern auch andere<br />
Weisen des Lebens. Vgl. hierzu Prahalad, C.K./Bettis, R.A. (1986): The Dominant<br />
Logic. A New Linkage Between Diversity and Performance, in: <strong>St</strong>rategic Management<br />
Journal, Jg. 7, S. 485-501, zitiert nach Pless, N. (1998a): Globalisierung und der Umgang<br />
mit kultureller Diversität, in: Maak/Lunau (1998), S. 355-366.<br />
64 In den USA wird diese Debatte bereits länger und auch intensiver geführt. Die sog.<br />
„Sweatshops“ bezeichnen Fabriken, in denen Kinder und Erwachsene unter Bedingungen<br />
arbeiten, die bei weitem nicht den hiesigen <strong>St</strong>andards entsprechen. Darüber<br />
hinaus wird vermutet, dass Absprachen zwischen Konzernen und den jeweiligen ansässigen<br />
Regierungen bestehen, die den internationalen Konzernen einräumen, unter<br />
dem landesüblichen Mindestlohnsatz Arbeitnehmer zu beschäftigen. Vgl. hierzu<br />
Klein, N. (2001): No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht. Ein Spiel<br />
mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern, München, und Bales, K. (2001): Die<br />
neue Sklaverei, München. Narr/Schubert identifizieren eine Spaltung zwischen<br />
„arm“ und „reich“ im internationalen Vergleich, weisen jedoch auch auf diese<br />
Spaltung im intranationalen Kontext hin: „Konzentration des Weltreichtums im Norden<br />
schliesst die Bildung von Armutssegmenten ebensowenig aus, wie die allgemeine<br />
Armut im Süden eine Schranke für den Reichtum einer Minderheit darstellen kann.<br />
Die produktive Transnationalisierung wertet keine nationalen Ökonomien mehr als<br />
33
player in der Industrie alltägliches Erscheinungsbild. Aufgrund des intensiven<br />
Wettbewerbs ist man gezwungen, diese Kostenvorteile zu suchen und<br />
auszunutzen, so die Argumentation. Im Inland zu produzieren, würde heißen,<br />
die Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Allgemein kann festgestellt werden,<br />
dass die zunehmende Durchlässigkeit von Grenzen für den Warenhandel<br />
und die Wertschöpfungsaktivitäten, die Liberalisierung des globalen<br />
Marktes, zur Intensivierung des inländischen und internationalen Wettbewerbs<br />
beiträgt, jedoch: diese „Zwangssituation“ ist „hausgemacht“. 65<br />
Die Durchlässigkeit der Grenzen bzw. die ökonomische Überschreitung derselben<br />
auf der einen Seite und die erhöhten Möglichkeiten von Mobilität auf<br />
der anderen Seite führen auch zu erhöhter Migration von Arbeitnehmern. 66<br />
Unternehmensintern führt dies zu einer kulturellen Pluralisierung der Mitarbeiterschaft,<br />
die aus rein ökonomisch-organisatorischer Sicht ambivalent<br />
erscheint. Interne Vielfalt erhöht die Kreativität, die Prozesspromotion jedoch<br />
nimmt ab. Es entsteht erhöhter Koordinationsbedarf, der einen „sensiblen<br />
und intelligenten Umgang mit kultureller Vielfalt“ verlangt. 67 Die<br />
Unternehmen sehen sich - nicht nur im internationalen Kontext, sondern vor<br />
solche ‚auf‘. Sie heterogenisiert und segmentiert dieselben so stark, dass selbst in den<br />
Industrienationen inzwischen Armut und Arbeitslosigkeit grassieren.“ (Narr, W.-D./<br />
Schubert, A. (1994): Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt, S. 123, zitiert<br />
nach Gil, T. (1998): Ethische und kulturelle Aspekte der wirtschaftlichen Globalisierung,<br />
in: Maak/Lunau (1998), S. 45-57, hier S. 51). Es wird hier deutlich, dass die ökonomisierte<br />
Gesellschaft große soziale Differenzen auch auf engstem Raum legitimiert,<br />
indem sie diese auf eine ökonomische Gerechtigkeit zurückführt.<br />
65 Den Zwang zur Adaption wird in der wirtschaftsethischen Debatte mit dem Begriff<br />
des „Sachzwangs“ belegt. Vgl. hierzu Ulrich (1998: 131ff.). Das ökonomische System<br />
hat zwar - wie noch näher aufzuzeigen sein wird - eigendynamischen Charakter, dies<br />
kann jedoch nicht als Legitimation für den Sachzwang gelten, denn das System ist<br />
selbst erschaffen und nicht „natürlich passiert“. Eine aus dieser Meta-Position heraus<br />
geführte Sachzwangdiskussion verkommt automatisch zu einer Scheindiskussion, um<br />
Eigeninteressen zu überdecken. Es ist dies um so verwunderlicher, wenn den Zwang<br />
der homo faber artikuliert, der so ein „Macher“ ist. Dieser soll mit einem Mal zum<br />
bloßen Spielball fremder Interessen geworden sein? Eine detaillierte Analyse des<br />
Sachzwangproblems findet sich bei Weber, Th. (1999): Das Denken in Sachzwängen.<br />
Unternehmer im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Verantwortung und ökonomischen<br />
Notwendigkeiten, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien.<br />
66 Vgl. hierzu bspw. die Darstellung bei Körner, H. (1990): Internationale Mobilität der<br />
Arbeit: eine empirische und theoretische Analyse der internationalen Wirtschaftsimigration<br />
im 19. und 20. Jahrhundert, Darmstadt, der die Migrationsveränderungen in<br />
den letzten 200 Jahren beschreibt und empirisch belegt.<br />
67 Pless (1998a: 357). Vgl. hierzu ausführlicher auch Pless, N. (1998b): Corporate caretaking:<br />
neue Wege der Gestaltung organisationaler Mitweltbeziehungen, Marburg.<br />
34
allem innerhalb der Landesgrenzen - mit Fragen konfrontiert, die über den<br />
genuin ökonomischen Gegenstand hinausgehen.<br />
2.1.2 Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik - interne Herausforderung der<br />
Ökonomie<br />
Wie aufgezeigt, trägt ökonomische Form und Methode zu systemischer Verselbständigung<br />
bei. Intern führt dies zu ökonomischer Effektivität und Effizienz,<br />
in Bezug auf die externen Herausforderungen jedoch bedeutet diese<br />
systemische Schließung Ineffektivität sowie Ineffizienz. Die systemische<br />
Operation der Ökonomie ist ihre <strong>St</strong>ärke und Schwäche zugleich.<br />
<strong>St</strong>ellte die Pluralität die zentrale Bestimmung der System-Umwelt der Ökonomie<br />
dar, so kann die zentrale systeminterne Bestimmung in der operationalen<br />
Geschlossenheit, ihren Eigengesetzlichkeiten und den daraus entstehenden<br />
Eigendynamiken gesehen werden. Die unternehmerische Wirtschaft reagiert<br />
oftmals erst dann auf die Ansprüche der <strong>St</strong>akeholder, wenn diese sich<br />
negativ auf das eigene Unternehmensergebnis auswirken könnten. 68 Diese<br />
ökonomische Relevanz ist eine systemische, eine innere Relevanz. Solange<br />
diese Relevanz nicht erreicht wird, solange werden die Vorgänge beobachtet,<br />
geduldet, akzeptiert oder verdrängt. 69 Handlungsbedarf entsteht erst bei<br />
direkter wirtschaftlicher Betroffenheit, und das bedeutet in diesem Fall die<br />
Ergebnisbeeinflussung. Die Vorfälle, die im Zusammenhang mit Shell (Brent<br />
Spar; Nigeria-Engagement) oder Bayer (Lipobay-Skandal) beispielsweise die<br />
Gefährdung von Umwelt und menschlicher Gesundheit mit sich brachten,<br />
wurden erst dann ökonomisch handlungsrelevant, als dies an die Öffentlichkeit<br />
gelangte; Imageverlust wird zunehmend zum entscheidenden öko-<br />
68 Vgl. zum „Eigensinn“ innerhalb der Organisation bspw. Ringlstetter, M. (1995): Konzernentwicklung.<br />
Rahmenkonzepte zu <strong>St</strong>rategien, <strong>St</strong>rukturen und Systemen, München,<br />
S. 314ff.<br />
69 Ohne dies explizit zu behandeln, nimmt diese Analyse den Luhmannschen Begriff<br />
der Systemrationalität auf. Vgl. hierzu Luhmann, N. (1973): Zweckbegriff und Systemrationalität,<br />
Frankfurt. An anderer <strong>St</strong>elle zeigt Luhmann auf, dass „der Einzelbeitrag,<br />
die Einzelwirkung, die Zwecksetzung (...) für sich alleine keine Rationalität behaupten“<br />
kann; „sie können nur rational sein im Rahmen und nach Maßgabe von Systemreferenzen.“<br />
(Luhmann, N. (1974): Funktionale Methode und Systemtheorie, in: ders.<br />
(1974), Soziologische Aufklärung, Band I: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme,<br />
Opladen, S. 31-53, hier S. 47). Vgl. auch die Darstellung bei Dorschel, A./Kettner, M.<br />
(1996): Systemrationalität?, in: Apel, K.-O./Kettner, M. (Hrsg.), Die eine Vernunft und<br />
die vielen Rationalitäten, Frankfurt, S. 349-372, und Acham, K. (1984): Über einige<br />
Rationalitätskonzeptionen in den Sozialwissenschaften, in: Schnädelbach, H. (Hrsg.),<br />
Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt, S. 32-69.<br />
35
nomischen Erfolgsfaktor. Die Gesellschaft artikuliert darüber hinaus die<br />
Erwartung an die Ökonomie, ein antizipativ-risikoaverses Verhalten bezüglich<br />
direkter Folgen für Umwelt und Menschheit an den Tag zu legen, auch<br />
wenn dies zu wirtschaftlichen Einbußen führen sollte. 70 Wenn man die dieser<br />
Erwartung entgegenstehende ökonomische Prioritätensetzung verstehen<br />
möchte, muss man sich das Wesen des ökonomischen Systems näher<br />
anschauen. Dabei steht die Fragestellung im Vordergrund, ob und wenn: wie<br />
eine Einflussnahme auf das System Ökonomie jenseits systemischer Parameter<br />
möglich ist.<br />
In der Systemtheorie können Einflüsse von „außen“, also aus der Systemumwelt,<br />
das System selbst nicht wirklich pertubieren, sondern nur peripher<br />
tangieren. Initiatoren können zwar das System anstoßen, dieses aber nicht<br />
nachhaltig verändern. Eine nachhaltige Veränderung kann erst dann entstehen,<br />
wenn diese Initiierung zu einer Transzendenz der Systemgrenzen führt.<br />
Ansonsten werden Impulse aus der Umwelt systemintern verarbeitet und<br />
systemeigene Reaktionsketten generiert, die sich innerhalb der Systemgrenzen<br />
selbstorganisiert ausbreiten. Anzeichen hierfür sehen auch Manager<br />
in der Praxis:<br />
36<br />
„Wir donnern mit 150 Meilen Tempo die <strong>St</strong>rasse hinunter und wissen genau,<br />
dass da irgendwo eine Mauer steht. Aber das Schlimmste, was wir tun könnten,<br />
wäre, uns überholen zu lassen.“ 71<br />
Nicht im System generierte Inhalte müssen für die systeminterne Verarbeitung<br />
übersetzt werden, wenn diese Inhalte im System wirksam werden<br />
wollen.<br />
70 Vgl. zu Brent Spar bspw. Ulrich, P. (1996): Brent Spar und der „moral point of view“.<br />
Reinterpretation eines unternehmensethischen Realfalls, in: Die Unternehmung, Jg.<br />
50, S. 27-46, und Osterloh, M./Tiemann, R. (1995): Konzepte der Wirtschafts- und<br />
Unternehmensethik. Das Beispiel der Brent Spar, in: Die Unternehmung Jg. 49, S. 321-<br />
338, zum Nigeria-Engagement bspw. Pless, N. (1997): Interkulturelles Management:<br />
Konfliktpotentiale eines entitativen Menschenbildes und Beziehungsverhältnisses am<br />
Beispiel des Falles Shell Nigeria und dem Volk der Ogoni, in: Seminar – Lehrerbildung<br />
und Schule, Jg. 2, S. 44-52. Bezeichnenderweise nennt die Ökonomie diese<br />
Effekte „externe Effekte“, also außerhalb des Systems Ökonomie. Vgl. zu einer fundierten<br />
Analyse des ökonomischen Terminus „externe Effekte“ Thielemann (1996:<br />
45ff.).<br />
71 Craig Barnett, Präsident von Intel, zitiert nach Müller-<strong>St</strong>ewens, G. (2001): Risk-<br />
Awareness und Reaktionsfähigkeit, in: <strong>St</strong>udent Business Review 6, Mai 2001, S. 12-13,<br />
hier S. 12.
Aus volkswirtschaftlicher Perspektive kommt dieser positivistisch und<br />
operationell-geschlossene <strong>St</strong>atus der Ökonomie in der Abkoppelung des<br />
Angebots von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zum Ausdruck. Diese<br />
Abkoppelung geschieht nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ.<br />
Während die quantitative Abkoppelung die Frage nach der Bedürfnisgenerierung<br />
aufwirft, so macht die qualitative Abkoppelung zweierlei deutlich:<br />
� Im wortwörtlichen Sinne kann hierunter die Produktqualität verstanden<br />
werden; diese stellt aus rein ökonomischer Perspektive zumindest bei<br />
Gebrauchsgütern ein zweischneidiges Schwert dar. Einerseits schafft<br />
Produktqualität Kundenbindung, andererseits erhöht sie aber auch die<br />
Verweildauer der Produkte im Markt, was den Umlauf und damit den<br />
Umsatz senkt. Der längeren Verweildauer steht zudem die Beschleunigung<br />
der technologischen Entwicklung gegenüber. Elektronische Gebrauchsgüter<br />
hemmen das Wirtschaftswachstum, wenn sie dann noch funktionsfähig<br />
sind, obwohl bereits ein technologisch weiterentwickeltes Produkt auf seine<br />
Kunden wartet. So ist häufig die Reparatur elektronischer Geräte gar nicht<br />
möglich bzw. nicht sinnvoll, da der Neukauf günstiger ist. Dies ist vornehmlich<br />
auf eine bestimmte Produkt- und Wirtschaftspolitik zurückzuführen.<br />
Dem entgegengesetzt ist ein weiteres Verständnis von Produktqualität notwendig,<br />
um die gesamten Kosten abbilden zu können. Dieses Verständnis<br />
bezieht sich - neben den rein materiellen Bestimmungen des Produkts - auf<br />
die personalen und nicht-personalen (Ökologie) <strong>St</strong>akeholder, die indirekt<br />
von dem Kauf eines Produkts und dessen Nutzung (und dazu gehört auch<br />
die Entsorgung!) betroffen sind. 72 Gebrauchsgüter erodieren so zu Konsumgütern:<br />
Benutzen und Entsorgen. 73<br />
72 Vgl. hierzu Sietz, M. [Hrsg.] (1998): Umweltschutz, Produktqualität und Unternehmenserfolg:<br />
vom Öko-Audit zur Ökobilanz, Berlin u. a. Zu diesem erweiterten Verständnis<br />
gehört jedoch auch die explizite Integration der Nachfrageseite in ihrem<br />
Verhalten; nur eine gemeinsame Anstrengung von beiden Seiten trägt zu einer nachhaltigen<br />
Gestaltung von Produktqualität bei. In diesem Sinne ließe sich auf der Nachfrageseite<br />
von einer „Konsumentenethik“ sprechen, die entsprechende Anreize und<br />
Sanktionen für die Angebotsseite schafft. Vgl. zu einer detaillierteren Ausarbeitung<br />
auch Knobloch, U. (1994): Theorie und Ethik des Konsums. Reflexion auf die normativen<br />
Grundlagen sozialökonomischer Konsumtheorien, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, und<br />
Hansen, U./Schrader, U. (1999): Zukunftsfähiger Konsum als Ziel der Wirtschaftstätigkeit,<br />
in: Korff, W. et al. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bände I-IV, Gütersloh,<br />
S. 463-486.<br />
73 Arendt (2001) beschreibt den Charakter von Konsumgütern und deren Differenz sehr<br />
eindrücklich schon im Jahre 1958: „Unter allen Gegenständen, die wir in der Welt vor-<br />
37
� Eine qualitative Abkoppelung kann jedoch auch bedeuten, dass eine Diskrepanz<br />
entsteht zwischen dem, was nachgefragt wird und dem, was angeboten<br />
wird. Die betrifft nicht das Wie von Produkten, sondern stellt Produkte<br />
als Ganzes, in ihrer Sinnhaftigkeit in Frage, was in der öffentlichen<br />
Diskussion weitgehend verlorengegangen zusein scheint. Dabei entsteht die<br />
Legitimation von technologischer Forschung aus ihr selbst heraus, wird aber<br />
auch zu großen Teilen von außen durch die marktwirtschaftliche Nachfrage<br />
legitimiert; seien es die unzähligen Unterhaltungsprodukte für die Jugend<br />
oder bewegte Bilder über das Handy, die durch den neuen Universal Mobile<br />
Technology <strong>St</strong>andard (UMTS) bzw. durch das wireless application protocol<br />
(WAP) möglich werden. Oftmals werden Produkte aus diesem Grund gegenüber<br />
Anfragen bezüglich ihrer Sinnhaftigkeit „abgesichert“, indem sie<br />
vorgeben, für die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen notwendig zu<br />
sein. Auf diese Weise gelangen sie in den (marktwirtschaftlichen) Sozialisationsprozess<br />
der Gesellschaft. Ein Produkt, eine Marke wird zum <strong>St</strong>atussymbol<br />
und notwendiger Teil der Identität. Diese Kommerzialisierung übt<br />
Druck auf die Nicht-Besitzenden aus und schafft auf diese Weise erneute<br />
Nachfrage auch bei dem, der es sich nicht leisten kann. 74<br />
finden und die uns umgeben, besitzen die Konsumgüter den geringsten Grad an Beständigkeit,<br />
sie überdauern kaum den Augenblick ihrer Fertigstellung.“ (Arendt 2001:<br />
114). Und an späterer <strong>St</strong>elle stellt sie fest, „daß Gebrauchen sich von Verbrauchen nur<br />
durch eine Verlangsamung des Tempos unterscheidet.“ (Arendt 2001: 163). Vgl. auch<br />
die Darstellung bei Braun, M. (1994): Hannah Arendts transzendentaler Tätigkeitsbegriff:<br />
Systematische Rekonstruktion ihrer politischen Philosophie im Blick auf Jaspers<br />
und Heidegger, Frankfurt u. a., S. 48ff.<br />
74 Vgl. hierzu beispielsweise Klein (2001). Diese relative Sinnhaftigkeit überdeckt zunehmend<br />
die absolute Sinnhaftigkeit/Nützlichkeit eines Produkts. In unzähligen anderen<br />
Bereichen der westlichen Industriegesellschaften ist ein Wertewandel hin zu einer<br />
Legitimität durch den Markt zu beobachten; besonders stark ist dies in der Medienbranche.<br />
Die „Quoten“ im Fernsehen bestimmen das Programm. Der Bildungsauftrag,<br />
an den sich zumindest die Öffentlichen Sender binden, wird zunehmend durch<br />
den Markt ausgehöhlt. Der visionäre und oftmals auch gegen die „Masse“ ankämpfende<br />
Auftrag, Bildung und Kultur zu vermitteln, wird zugunsten einer Reproduktion<br />
und Verstärkung des Bestehenden aufgegeben. Auch bei Sportveranstaltungen,<br />
die im TV übertragen werden, wird diese Kommerzialisierung deutlich. So werden<br />
bspw. in der National Basketball League (NBA) in den USA die Spiele für TV-<br />
Werbung unterbrochen. Oder: Zur Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2001 in Edmonton<br />
wurden die Normen (Mindestleistung) für Werfer und Springer drastisch verschärft.<br />
Die Techniker (Werfer, Springer) sind nicht so attraktiv anzuschauen wie die<br />
Läufer, so die Aussage der Verbände. „Gefragt sind nicht mehr nur die Fachleute,<br />
hofiert werden muss heutzutage vor allem das Publikum an den Bildschirmen, an<br />
dessen erster Forderung niemand mehr vorbei kommt, nämlich kurzweilig unterhalten<br />
zu werden.“ (Hartmann, R. (2001): Leichtathleten zweiter Klasse, in: Süddeutsche<br />
38
Aus historischer Sicht ist der durch die protestantische Arbeitsethik genährte<br />
Laborismus ursächlich für den Konsumismus; diese Ursächlichkeit stellt das<br />
zentrale Bindeglied zwischen Arbeitswelt und Lebenswelt dar. Der Konsum<br />
ist eine lebensweltliche und ökonomische Größe zugleich. Damit unterscheidet<br />
sich Konsum von volkswirtschaftlichen <strong>St</strong>ellgrößen wie Leitzins oder<br />
Nominallöhne. Der Konsum entsteht aus der lebensweltlichen Sphäre heraus,<br />
kann durch die Angebotsseite auch initiiert bzw. manipuliert werden,<br />
bleibt jedoch auch außerhalb des Kontextes Arbeit ursächlich und ursprünglich<br />
dem lebensweltlichen Rahmen verhaftet.<br />
Produktion tritt an dem Punkt aus der Ursächlichkeit heraus, wo sie nicht<br />
auf eine Nachfrage reagiert, sei sie auch extrapoliert oder antizipiert. Diese<br />
Antizipation richtet sich nämlich eher an einer volkswirtschaftlichen Erwünschtheit<br />
einer stetig wachsenden Wirtschaft aus, als an dem wirklichen<br />
individuellen Bedarf. <strong>St</strong>ellt sich dieser nicht ein, ist er durch Werbung und<br />
Promotion zu erzeugen. 75 Ein produktionsinduzierter Angebotsüberhang<br />
stellt eines der zentralen Phänomene des Abstraktionsgrades von ökonomischer<br />
Rationalität dar. Sinnhaftigkeit wird vornehmlich innerhalb des ökonomischen<br />
Systems gesucht und gefunden. Der Kreis schließt sich – und<br />
damit erfüllt sich der Sachverhalt der Existenz einer Eigendynamik –, wenn<br />
daraufhin Arten des Konsums entstehen, welche jeglicher rationaler Grund-<br />
Zeitung, 24.01.01, Nr. 19, S. 37). Neil Postman sieht in der Sportberichterstattung im<br />
Wesentlichen ein „Showbusiness“ und deutet damit die enge Verbindung von Sport<br />
und Kommerz (durch Medienberichterstattung) an und zugleich auch die Dominanz<br />
des Kommerz über den Sport. Vgl. Postman, N. (1988): Wir amüsieren uns zu Tode.<br />
Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt, S. 154. Vgl. auch<br />
Schmidt, S.J./Spieß, B. (1997): Die Kommerzialisierung der Kommunikation. Fernsehwerbung<br />
und sozialer Wandel 1956-1989, Frankfurt.<br />
75 Vgl. hierzu Ven, B.v.d. (2000): Postmodernism and the Advertised Life. In Search for<br />
an Ethical Perspective on Advertising, in: zfwu, Jg. 1, H. 2, S. 155-170, der die Funktion,<br />
Rolle und Wesen der Werbung ethisch reflektiert.<br />
Pohl identifiziert einen doppelten Reduktionismus in der Denkhaltung des Marketing:<br />
Zum einen wird der Mensch nur in seiner Rolle als Konsument rekonstruiert,<br />
zum anderen wird „aufgrund einer behavioristischen Grundtendenz seine Vernunftbegabung<br />
und sein freier Wille, vorsichtig formuliert, nicht ausreichend ernst genommen.“<br />
(Pohl, T. (2001): Marketing in der Sozialen Marktwirtschaft: Eine <strong>St</strong>reitschrift<br />
für die Erneuerung des Marketing-Ethos, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 146). Pohl<br />
kann in seiner weiteren Analyse die Verflechtungen von Marketing und sozialer<br />
Marktwirtschaft aufzeigen und reflektiert das Marketing auch im Rahmen einer Ökonomismuskritik.<br />
Hier wird die - kritisch zu reflektierende - Rolle und Funktion des<br />
Marketing im System Ökonomie transparent. Vgl. hierzu Pohl (2001: 68ff.).<br />
39
lage entbehren. So spricht Ulrich unter Bezug auf Bahros Werk „Die Alternative“<br />
von „kompensatorischem Konsum“, welcher auf eine psychologische<br />
Zwanghaftigkeit zurückgeführt werden kann. 76 Die Zwänge können dabei<br />
materieller Natur (beispielsweise die Kommerzialisierung der <strong>St</strong>adt durch<br />
bauliche Maßnahmen) oder immaterieller Natur sein im Sinne einer erhöhten<br />
Abhängigkeit des Einzelnen von Konsum durch strukturelle marktwirtschaftliche<br />
Maßnahmen, „existenznotwendige Kaufkraft“ 77.<br />
40<br />
„Der steigende Konsum spiegelt mehr ihre [der Menschen; T.B.] wachsende<br />
Unselbständigkeit und „Bedürftigkeit“ als steigende Lebensqualität.“ 78<br />
Die Autonomie des Einzelnen und die Autonomie, die Subsistenz der Gemeinschaften,<br />
sehen sich hierbei mit systematischen Barrieren konfrontiert.<br />
Die hier verfolgte phänomenologische Systembetrachtung umfasst neben der<br />
(statischen) Differenzierung von System-Umwelt auch immer die dynamische<br />
Perspektive des Systems, welche die spezifischen, nach Eigengesetzlichkeiten<br />
verlaufenden, systemischen Prozesse betrachtet. Hier können die<br />
zahlreichen naturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten der letzten Jahrzehnte<br />
zusätzliche Aufschlüsse für eine Analyse des Systems Ökonomie<br />
liefern, die sich mit Phänomenen wie Eigendynamik, Selbstorganisation und<br />
Eigengesetzlichkeiten in organischen Systemen auf Mikro- (intra-systemisch,<br />
zellulär) und Makroebene (inter-systemisch) befassen. Eine entscheidende<br />
Rolle spielen dabei u. a. Rückkoppelungsprozesse, Fluktuationen, Bifurkationen<br />
und (zirkuläre) Kreisprozesse. In ihnen finden sich Phänomene der<br />
Selbsterzeugung bzw. –erhaltung (Autopoiese), der Entstehung von Ordnung<br />
(Selbstorganisation), des Selbstbezugs (Selbstreferentialität) und Formen<br />
von Autonomiegraden (operationale Geschlossenheit). Um die naturwissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse auf das System Ökonomie übertragen zu<br />
können, ist eine interdisziplinäre Betrachtung notwendig, die Analogien<br />
zwischen organischen und anorganischen Systemen zu identifizieren sucht. 79<br />
76 Vgl. Bahro, R. (1990): Die Alternative: Zur Kritik des real existierenden Sozialismus,<br />
Frankfurt, zitiert nach Ulrich (1993: 112ff.).<br />
77 Ulrich (1993: 455).<br />
78 Ebenda.<br />
79 Diese Analogien zwischen Natur und Ökonomie seien nur in der Weise gemeint und<br />
verstanden, dass auf dessen Grundlage keine Begründung und Rechtfertigung der<br />
Ökonomie als „Natürliches“ möglich ist. Zu dieser Diskussion sei beispielsweise auf
So schlägt bspw. Luhmann eine Brücke dieser Phänomene zu den Mechanismen<br />
sozialer Systeme. 80 Auch die betriebswirtschaftliche Forschung beobachtete<br />
derartige Phänomene im unternehmerischen Kontext und zeigt<br />
Parallelen auf. 81 Da diese Parallelen nicht den Charakter von Analogieschlüssen<br />
annehmen und wohl auch nicht annehmen können, so bleiben die<br />
naturwissenschaftlichen Phänomene immer nur Impulse für den ökonomischen<br />
Kontext, niemals aber konsequente breite Übertragung. 82<br />
Prigogine weist nach, dass sich Entropie (Unordnung) ab einem kritischen<br />
Punkt, welcher eben durch die dissipativen <strong>St</strong>rukturen bestimmt ist, irreversibel<br />
umkehrt und zu einem Zustand höherer Ordnung und größerer Komplexität<br />
gelangt. 83 Dieser Punkt kann als Bifurkationspunkt bezeichnet werden,<br />
die detaillierten Ausführungen bei Ulrich (1993: 184ff.) verwiesen. Vielmehr gelten<br />
hier die Analogien als Versuch, Aufschlüsse über die Geschlossenheit und - im Weiteren<br />
- über die Entwicklungsfähigkeit des ökonomischen Systems zu erlangen, welches<br />
in der aktuellen Forschung auch mit Hilfe biologisch-systemischer Forschung geschieht.<br />
80 Vgl. Luhmann, N. (1982): Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung,<br />
in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 11, S. 366-379. Zur allgemeinen Konzeption vgl.<br />
Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt.<br />
81 So zum Beispiel Haken, H. (1984): Can Synergetics be of Use to Management Theory?,<br />
in: Ulrich, H./Probst, G.J.B. (Hrsg.), Self-Organization and Management of Social<br />
Systems: Insights, Promises, Doubts and Questions, Berlin u. a., S. 45-56; Kirsch<br />
(1992); Klimecki, R./Probst, G.J.B./Eberl, P. (1994): Entwicklungsorientiertes Management,<br />
<strong>St</strong>uttgart; Knyphausen, D. zu (1988): Unternehmungen als evolutionsfähige<br />
Systeme. Überlegungen zu einem evolutionären Konzept für die Organisationstheorie,<br />
München; insbesondere Probst, G.J.B. (1987): Selbstorganisation. Ordnungsprozesse<br />
in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht, Berlin u. a.; Richter, F.-J. (1995):<br />
Die Selbstorganisation von Unternehmen in strategischen Netzwerken: Bausteine zu<br />
einer Theorie des evolutionären Managements, Frankfurt.<br />
82 Witt kann in seiner Erörterung aufzeigen, inwieweit und an welchen Punkten Analogien<br />
sinnvoll sind. Sein Fazit lautet, dass es zwar nur einige wenige Bereiche gibt, bei<br />
denen Parallelen aufgezeigt werden können (bspw. Innovationen im Markt), jedoch<br />
die dadurch gewonnenen Erkenntnisse eine genauere Analyse lohnenswert erscheinen<br />
lassen. Vgl. Witt, U. (1997): Warum sollen sich Ökonomen mit Selbstorganisation<br />
beschäftigen?, in: Gleich, A. et al. (Hrsg.), Surfen auf der Modernisierungswelle, Marburg,<br />
S. 47-70.<br />
83 Vgl. Prigogine, I. (1979): Vom Sein zum Werden, München. Ähnliche Forschungsansätze<br />
gab es zur gleichen Zeit auch in der Theoretischen Physik: H. Haken: Synergetik,<br />
der Chemie: M. Eigen/P. Schuster: Hyperzyklus-Theorie und vor allem in der<br />
(Kognitions-)Biologie: H. R. Maturana/F. J. Varela: Autopoiese. Vgl. hierzu Haken, H.<br />
(1977): Synergetics: Nonequilibrium Phase Transitions and Self-Organization in Physics,<br />
Chemistry and Biology, Berlin u. a., Eigen, M./Schuster, P. (1979): The Hypercycle,<br />
Heidelberg u. a., und Maturana, H.R./Varela, F.J. (1980): Autopoiesis and Cognition,<br />
Boston. Diese Ansätze können an dieser <strong>St</strong>elle nicht näher diskutiert werden.<br />
Vgl. zu einem Überblick bspw. Krohn, W./Küppers, G. [Hrsg.] (1990): Selbstorganisation:<br />
Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig u. a.<br />
41
an dem sich das System paradigmatisch verändert. Das Vorher und Nachher<br />
stehen nicht länger mehr in einem systemischen Kontinuum. Die Bifurkation<br />
geht über das System hinaus, relativiert es und setzt es in einen neuen<br />
Bezugsrahmen.<br />
Die in dieser Argumentation um eine Weiterentwicklung der ökonomischen<br />
Rationalität angestrebte Grundlagenreflexion des Systems Ökonomik weist<br />
ähnliche Charakteristika auf. Die Reflexion führt zwar „nur“ zu einer Rückbindung<br />
der Ökonomie an ihre ursprüngliche Verwiesenheit, doch stellt<br />
diese Rückbindung im Vergleich zu der jetzigen Abkoppelung der Ökonomie,<br />
dem jetzigen systemischen <strong>St</strong>atus der Geschlossenheit, eine Form von<br />
paradigmatischer Veränderung des Systems Ökonomie dar. In diesem Sinne<br />
ließe sich - in Rekurs auf die systemische Verfasstheit der Ökonomie - von<br />
einer Bifurkation sprechen.<br />
Es wurde angedeutet, dass Impulse von außen nur im Rahmen der systeminternen<br />
Logik verarbeitet werden, was ihnen zwangsläufig den innovativen<br />
Charakter im starken Sinne nimmt. 84 Eine Form von Innovation im System<br />
Ökonomie, eine Bifurkation, muss die Grenzen des Systems thematisieren.<br />
Die „Fundierung der ökonomischen Sachlogik auf ethisch legitimen Grundlagen“<br />
85 zielt letztlich - insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen<br />
Verfassung der Ökonomie - auf eine solche Bifurkation ab. Die Reflexion des<br />
Systems Ökonomik kann nicht nur aus der Binnenperspektive gelöst werden,<br />
sondern muss durch die Außenperspektive fundamental-integrativ komplettiert<br />
werden. Für eine damit zu erörternde Weiterentwicklung/Öffnung<br />
der ökonomischen Rationalität bedeutet dies die Inkaufnahme einer systemischen<br />
Bifurkation, die die Rationalität über ihr Bezugssystem derart hinaus<br />
entwickelt, so dass die systemische Geschlossenheit durchbrochen wird und<br />
Anknüpfungspunkte für die „Umwelt“ entstehen. Nur eine bifurkative Entwicklung<br />
kann eine auch aus der Außenperspektive wahrnehmbare und<br />
84 Innovation im starken Sinne zielt insbesondere auf diejenige Veränderung ab, die nicht<br />
unbedingt an das Vorherige anknüpfen muss, sondern von einer hypothetisch parallelen<br />
Alternative ausgeht und von dieser auf zukünftige Handhabungen schließt<br />
(„Was wäre gewesen, wenn wir damals nicht so, sondern anders entschieden hätten?<br />
Dann stünden wir heute vor anderen Alternativen. Ist eine davon mit unserer jetzigen<br />
Situation kompatibel, d. h., stellt sie eine praktikable Handhabung auch noch in der<br />
jetzigen Konstellation dar und könnte sie auf diese Weise eine frühere, vielleicht falsche<br />
Entscheidung kompensieren?“). Indem Wege generiert werden, die ohne die retrospektive<br />
Reflexion nicht denkbar gewesen wären, lässt sich der aktuelle Entscheidungshorizont<br />
in gewisser Weise transzendieren.<br />
85 Ulrich (1998: 126).<br />
42
damit wirksame Veränderung darstellen. Diese wirksame Veränderung ließe<br />
sich - analog zu der Innovation - als eine Entwicklung im starken Sinne interpretieren.<br />
Die sich im System entwickelnde Eigendynamik hat schon längst nichts<br />
mehr mit dem „Natürlichen“ menschlicher Lebensdynamik zu tun. Der<br />
Mensch ist zur (systemischen) Flexibilität gezwungen, um sich in der ökonomisierten<br />
Welt behaupten zu können; diese Flexibilisierung geht über die<br />
reine materielle Mobilität hinaus. Zur Reaktion verdammt gibt der Einzelne<br />
sukzessive seine gestalterischen Kompetenzen an sich verselbständigende<br />
Mechanismen ab. Der hier verfolgte Ansatz bezieht sich in seiner lebensweltlichen<br />
Rückbindung auf die innere Verfasstheit der Systeme und versucht,<br />
systemische Eigendynamik durch lebensweltlich-konstruktive Dynamik<br />
abzulösen.<br />
2.2 Exkurs: Totale Flexibilisierung 86<br />
In der sich dynamisch verändernden globalen Wirtschaft sind vor allem die<br />
Arbeit und ihre Bedingungen einem starken Wandel unterworfen. Dieser<br />
Wandel fordert vom Einzelnen eine Flexibilität, die nicht nur eine zeitliche<br />
ist, sondern auch räumlich besetzt wird. Mag auch der Einzelne zum Teil<br />
einen höheren Grad an individueller Freiheit erlangen, so steht oftmals diese<br />
sogenannte Freiheit zunehmend im Zeichen des Konsumzwangs, der Güterproduktion<br />
und Eigentumsmehrung. Was flexibel bedeutet, sagt uns die<br />
kommerzialisierte Gesellschaft, das bestimmt der Arbeitgeber.<br />
Richard Sennett sieht in dieser fremd- bzw. ökonomie-induzierten Flexibilisierung<br />
eine besondere Herausforderung für den Einzelnen. Dazu betrachtet<br />
Sennett den Lebensbereich, der wohl am stärksten von den globalen Prozessen<br />
betroffen ist und zugleich auch im Mittelpunkt individueller Lebensgestaltung<br />
steht; es ist dies der Kontext „Arbeit“. Fasst man die Veränderungen<br />
in gesellschaftlicher Lebens- und Arbeitswelt mit der Feststellung eines<br />
„modernen Kapitalismus“ 87 zusammen, so lassen sich ähnliche Veränderungen<br />
auf der Makroebene (Globalisierung) wie auf Mesoebene (Arbeit im<br />
86 Dies folgende Kapitel stützt sich vornehmlich auf Sennett, R. (1998): Der flexible<br />
Mensch - Die Kultur des neuen Kapitalismus, 6. Aufl., Berlin.<br />
87 Sennett, R. (2000): Der flexibilisierte Mensch – Zeit und Raum im modernen Kapitalismus,<br />
in: Ulrich, P./Maak, Th. (Hrsg.), Die Wirtschaft in der Gesellschaft: Perspektiven<br />
an der Schwelle zum 3. Jahrtausend, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 87-104, hier S. 91ff.<br />
43
nationalen Kontext) beobachten. Gemeinsam ist ihnen ein neuartiger ökonomischer<br />
Bezugsrahmen. Die <strong>St</strong>rukturen, Methoden und Regeln dieses<br />
Rahmens werden durch die ökonomische Rationalität konstruiert und konstituiert.<br />
Die Flexibilisierung in der aktuellen Arbeitswelt geht einher mit einer Entgrenzung,<br />
einer Erosion inhaltlicher Grenzen und Orientierungen. Sennett<br />
beobachtet vor allem die formalen Veränderungen der Arbeitsbedingungen<br />
und wirft die Frage auf, inwieweit diese formalen, strukturellen Veränderungen<br />
auch inhaltliche Veränderungen von Arbeit darstellen und, wenn<br />
dies der Fall ist, vor welche inhaltlichen Herausforderungen der Einzelne<br />
dann gestellt ist.<br />
Die im Zentrum seiner Ausführungen stehende Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen<br />
verrät sich quasi in ihrer Terminologie selbst:<br />
44<br />
„Die Betonung der Flexibilität ist dabei, die Bedeutung der Arbeit selbst zu<br />
verändern und damit auch die Begriffe, die wir für sie verwenden. „Karriere“<br />
zum Beispiel bedeutet ursprünglich eine <strong>St</strong>raße für Kutschen, und als das<br />
Wort schließlich auf die Arbeit angewandt wurde, meinte es eine lebenslange<br />
Kanalisierung für die ökonomischen Anstrengungen des einzelnen. Der flexible<br />
Kapitalismus hat die gerade <strong>St</strong>raße der Karriere verlegt, er verschiebt Angestellte<br />
immer wieder abrupt von einem Arbeitsbereich in den anderen. Das<br />
Wort „job“ bedeutet im Englischen des 14. Jahrhunderts einen Klumpen oder<br />
eine Ladung, die man herumschieben konnte. Die Flexibilität bringt diese<br />
vergessene Bedeutung zu neuen Ehren. Die Menschen verrichten ihre Arbeit<br />
wie Klumpen, mal hier, mal da.“ 88<br />
Mit der Flexibilität verbindet sich insbesondere in der Arbeitswelt eine<br />
<strong>St</strong>ruktur, die Brüche aufweist und keine Kontinuität mehr leisten kann. Der<br />
Charakter eines Menschen „konzentriert sich insbesondere auf den langfristigen<br />
Aspekt unserer emotionalen Erfahrung“ 89, und es entsteht Angst,<br />
wenn diese langfristige Erfahrung zunehmend unmöglich wird. Die sich verselbständigende<br />
Dynamik des ökonomischen Systems lässt hingegen keine<br />
Langfristigkeit mehr zu. Flexibilität scheint nur durch Kurzfristigkeit erreichbar<br />
zu sein. 90 Die Erfahrung von Kurzfristigkeit dringt in das Zentrum<br />
lebensweltlicher Selbstbestimmung vor:<br />
88 Sennett (1998: 10).<br />
89 Sennett (1998: 11).<br />
90 Dass für das Unternehmen durch die Kurzfristigkeit hohe Kosten und Umstellungen<br />
entstehen, wird erst in jüngster Zeit auch von Unternehmensseite registriert. So ver-
„Es ist die Zeitdimension des neuen Kapitalismus, mehr als High-Tech-Daten<br />
oder der globale Markt, die das Gefühlsleben der Menschen, außerhalb des<br />
Arbeitsplatzes am tiefsten berührt.“ 91<br />
Diese zeitliche Selbstbestimmung ist aber konstitutiv für eine gelingende<br />
Identitätserfahrung. Das Gefühl der schwindenden Kontrolle über sein eigenes<br />
Leben bezeichnet Sennett als drift, die den Menschen in die Rolle des<br />
Reagierers drängt. In Bezug auf die Möglichkeit der Persönlichkeits- und<br />
Identitätsbildung stellt Sennett fest:<br />
„Die Erfahrung einer zusammenhangslosen Zeit bedroht die Fähigkeit der<br />
Menschen, ihre Charaktere zu durchhaltbaren Erzählungen zu formen.“ 92<br />
Die flexible Ordnung stellt sich für Sennett in den folgenden Merkmalen<br />
dar: 93<br />
� Diskontinuierlicher Umbau von Institutionen: Dies beschreibt die Differenzierung<br />
zwischen einem Wandel, welcher an die alten <strong>St</strong>rukturen anschließt<br />
und einem Wandel, welcher ohne Anschluss einen Neuanfang, einen neuartigen<br />
Ansatz vertritt. Dabei kann grundsätzlich die zweite Form wegen ihrer<br />
Unvergleichbarkeit der beiden Zustände im Sinne eines Fortschritts nur<br />
schwer bewertet werden. Der Bruch zwischen Vorher und Nachher birgt die<br />
Gefahr der Fragmentierung der arbeitsweltlichen Erfahrung und damit den<br />
Verlust einer kontinuierlichen Bindung an und die Identifikation mit<br />
dieser. 94<br />
lassen Mitarbeiter häufig gerade dann die Unternehmung, wenn sie aus der Einarbeitungsphase<br />
heraus sind, wechselnde Führungskräfte kommen mit immer neuen<br />
Management-Ansätzen, hohe Kosten der Rekrutierung rechnen sich nicht, hohe<br />
Fluktuation senkt ab einem gewissen Grad die Produktivität etc. Generell stellen diese<br />
erhöhten Transaktionskosten zunehmend eine hohe Belastung für die Unternehmen<br />
dar, insbesondere dann, wenn die Personalkosten den größten Posten auf der Ausgabenseite<br />
ausmachen, was in vielen Konkursfällen in der New Economy der Fall war.<br />
Insofern ist von dieser Seite her mit einer Entspannung in dieser auf kürzere Phasen<br />
strebenden Ökonomie zu rechnen. Der entscheidende Impuls ist dabei jedoch wieder<br />
ein ökonomischer.<br />
91 Sennett (1998: 29).<br />
92 Sennett (1998: 37).<br />
93 Vgl. zum Folgenden Sennett (1998: 59ff.).<br />
94 Edmund Leach (1968) hat diese Unterscheidung aus seinen <strong>St</strong>udien über die Erfahrung<br />
mit der Zeit gewonnen. Es wird insbesondere im Abschn. 12.2.2 darauf zurück-<br />
45
� Flexible Spezialisierung: In der Abkehr von der automatisierten fordistischen<br />
Produktion werden neue Formen der <strong>St</strong>ruktur angestrebt, die möglichst<br />
flexibel auf die sich verändernde Nachfrage reagieren können. Diese<br />
Flexibilität des Angebots betrifft inhaltlich die Produktpalette ebenso wie<br />
den formalen Aspekt der (Reaktions)Geschwindigkeit. Routine wird hier als<br />
<strong>St</strong>arrheit zugunsten eines „entschiedenen, abrupten, irreversiblen Wandels“<br />
verworfen. 95<br />
� Konzentration ohne Zentralisierung96: Ähnlich den Ressentiments, welche<br />
gegenüber der Routine aufgebaut wurden, ist auch eine Abkehr von der<br />
Zentralisierung in politischen, aber auch in wirtschaftlichen Systemen zu<br />
beobachten. Netzwerkarchitekturen entstehen und verknüpfen die Unternehmenseinheiten<br />
nach Bedarf miteinander. Entgegen der Annahme, es<br />
würde in Netzwerk-Organisationen weniger Macht ausgeübt werden, da<br />
diese Macht nicht zentral verwaltet wird, scheint es in der organisatorischen<br />
Realität eher mehr Druck auf den Einzelnen zu geben. Im Netzwerk steht<br />
zum einen jeder Einzelne mit seinem Team im Wettbewerb zu anderen<br />
Teams und zum anderen sind die Weisungswege kürzer; Kontrolle kann<br />
direkter wirken.<br />
Der vermeintliche Gegenpart der Flexibilität, die Routine, ist ihrerseits - zumindest<br />
in der wissenschaftlichen Diskussion - eine ambivalente Größe. 97<br />
Während Adam Smith zu Beginn des industriellen Kapitalismus Bedenken<br />
zukommen sein, dass der von außen initiierte (künstliche) Wandel, den bspw. Unternehmensberater<br />
an eine Unternehmung herantragen, oftmals den Charakter eines<br />
Bruchs annimmt, aber nicht aus Absicht, sondern aus Unvermögen, das Bestehende<br />
zu identifizieren, zu lesen. Vgl. zum Begriff des Lesens auch Sennett (1998: 81), der von<br />
der „Unlesbarkeit“ moderner Arbeitsstrukturen spricht. Dies deutet an, dass die Defizite<br />
bzw. Komplexitäten nicht nur auf der Seite der Identifizierenden, sondern auch<br />
auf der Seite des Identifizierten liegen. Vgl. hierzu Leach, E. (1968): Two Essays Concerning<br />
the Symbolic Representation of Time, in: ders. (1968), Rethinking Anthropology,<br />
London, S. 124-136.<br />
95 Sennett (1998: 65). Eine Unternehmung, die sich in ihrer Binnenstruktur möglichst<br />
dem Wandel der Außenwelt anzupassen versucht, wird an späterer <strong>St</strong>elle in Verbindung<br />
mit der „Ko-Evolution“ der Unternehmung mit der Umwelt wieder aufgenommen<br />
- dann jedoch in einer Verbindung von Evolution und Gestaltung. Vgl.<br />
hierzu Kirsch, W. (1997): <strong>St</strong>rategisches Management: Die geplante Evolution von Unternehmen,<br />
München, und Abschn. 12.2.2.<br />
96 Dieser Terminus geht auf Harrison zurück. Vgl. hierzu Harrison, B. (1994): Lean and<br />
Mean: The Changing Landscape of Corporate Power in an Age of Flexibility, New<br />
York, S. 47.<br />
97 Vgl. hierzu Sennett (1998: 39ff.).<br />
46
ezüglich der Routine äußerte, da diese den Menschen abstumpfe, so trat<br />
Diderot für die positiven Effekte ein, die Routine auf den Menschen habe. 98<br />
In der Wiederaufnahme von Adam Smith durch Karl Marx gewann insbesondere<br />
in der sozialwissenschaftlichen Diskussion die negative Interpretation<br />
von Routine an Popularität, was aus der historischen Perspektive als Reaktion<br />
auf Taylorismus und Fordismus zu erklären ist. Die vielleicht einseitige<br />
Ablehnung jeglicher Automatisierung ist demnach eher in ihrer programmatischen<br />
Funktion der damaligen Auseinandersetzung zu erklären.<br />
Die Thematisierung dieser Antithese zur Routine hat sich bis zur Mitte des<br />
letzten Jahrhunderts fortgesetzt und ist dort unter anderem in die „Humanisierungs-Welle“<br />
(Hawthorne-Experimente) und die <strong>St</strong>udien von Daniel Bell<br />
eingeflossen. 99 In der aktuellen Bestandsaufnahme jedoch zeigt sich ein gegensätzlicher<br />
Befund, nämlich die Hinwendung zur Routine als dialektisches<br />
Pendant zur Flexibilität. So sind Diderots Analysen zu den positiven Seiten<br />
der Routine, vor allem auch in der Aufnahme durch Giddens, von verstärktem<br />
Interesse für die aktuellen Diskussionen um eine Handhabung arbeitsweltlicher<br />
Diskontinuität. 100<br />
Flexibilisierung bedeutet für den Arbeitnehmer, dass sein Arbeitsplatz und<br />
damit sein Medium zur Sozialität in der heutigen Erwerbsgesellschaft zunehmend<br />
zur Disposition steht, es sei denn, dass er sich „mitflexibilisiert“.<br />
Jedoch hat in den letzten Jahren die Bereitschaft zur Auflösung der Arbeitsverhältnisse<br />
auch auf Seiten der Arbeitnehmerschaft zugenommen. Die<br />
hire&fire-Mentalität der frühen 90er Jahre, die einer einseitigen Aufkündigung<br />
der Loyalität von Arbeitgeberseite gleichkam, scheint nun auch zu<br />
einem Umdenken auf Arbeitnehmerseite geführt zu haben. Als realisiert<br />
wurde, dass auch eine lebenslange Firmenzugehörigkeit nicht mehr davor<br />
schützt, im Alter von 50 Jahren in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden,<br />
98 Vgl. die grundlegenden Werke von Smith, A. (1776): Der Wohlstand der Nationen,<br />
München, und d‘Alembert, J. le R./Diderot, D. et al. (1989): Enzyklopädie. Eine Auswahl,<br />
hrsg. und eingeleitet von G. Berger, Frankfurt, zitiert nach Sennett (1998: 39).<br />
99 Vgl. hierzu zu die Darstellung der Hawthorne-Experimente bei Walter-Busch, E.<br />
(1989): Das Auge der Firma: Mayos Hawthorne-Experimente und die Harvard Business<br />
School 1900-1960, <strong>St</strong>uttgart, S. 27ff. und 172ff., und die Darstellungen bei Bell, D.<br />
(1956): The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, Cambridge/Mass.;<br />
zur Human-Relations-Bewegung vgl. Neuberger, O. (1977): Organisation<br />
und Führung, <strong>St</strong>uttgart, und auch die Übersicht über die historischen Positionen<br />
bei Ulich, E. (1994): Arbeitspsychologie, 3., überarb. und erw. Aufl., <strong>St</strong>uttgart, S. 5ff.<br />
100 Vgl. hierzu Giddens, A. (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer<br />
Theorie der <strong>St</strong>rukturierung, Frankfurt/New York.<br />
47
da begann der einzelne Arbeitnehmer, sich besser gegen diesen Fall abzusichern.<br />
Ein Weg der Absicherung stellt das häufige Wechseln des Arbeitsplatzes<br />
dar, wodurch unterschiedliche Kenntnisse erworben und Verbindungen<br />
geknüpft werden. Der Arbeitnehmer sieht seine berufliche Identität<br />
vor allem in dieser Variabilität begründet; diese kann helfen, Brüche zu<br />
kompensieren, Kontinuität im Wandel zu finden und sich allgemein eine<br />
Form von Autonomie und Unabhängigkeit zu erarbeiten. So stellt auch Kocka<br />
(2000) aus sozialhistorischer Perspektive die Frage, ob nicht „das „Normalarbeitsverhältnis“,<br />
dessen Erosion derzeit so heftig diagnostiziert wird,<br />
vielleicht immer mehr die Norm als die Normalität gewesen ist“, denn die<br />
„lebenslange Zugehörigkeit zu einem Beruf“ war<br />
48<br />
„(...) auch früher - jedenfalls im 19. und 20. Jahrhundert, von vorindustriellen<br />
Zeiten ganz zu schweigen - immer nur für eine (männliche) Minderheit der<br />
Erwerbstätigen Realität gewesen (...) Für die meisten der mehr oder weniger<br />
erwerbstätigen Menschen, vor allem für die im breiten und massiven Sockel<br />
der Erwerbspyramide, scheinen dagegen auch im Zeitalter der Industrialisierung<br />
der oft erzwungene Wechsel von Arbeitsplatz, Tätigkeit und Beruf,<br />
das Verknüpfen unterschiedlicher Einkommensquellen zum (selten vom<br />
männlichen Ernährer allein gewährleisteten) Familieneinkommen und<br />
Patchwork-Biographien eher die Regel als die Ausnahme gewesen zu sein.“ 101<br />
Jedoch bemerkt Kocka bezüglich der inhaltlichen Implikationen später auch:<br />
„In der Tat scheint die Bindungskraft, die sozial strukturierende, kulturell<br />
verbindende und vergesellschaftende Kraft der Arbeit im Zuge des Übergangs<br />
von der industriellen zur Dienstleistungsgesellschaft - mit der weitgehenden<br />
Ersetzung der manuellen durch nicht-manuelle Arbeit, mit dem<br />
säkularen Rückgang der Erwerbsarbeitszeit und der wachstumsbedingten<br />
Zunahme von Individualisierungschancen - in den letzten Jahrzehnten stark<br />
abgenommen zu haben.“ 102<br />
Auch Schmiede sieht die identitätsstiftende Funktion der „Normalarbeitsverhältnisse“<br />
erodieren, die in doppelter Weise besteht: Zum einen „war es<br />
Basis persönlicher Identität (Unverwechselbarkeit)“, zum anderen<br />
101 Kocka, J. (2000): Arbeit früher, heute, morgen: Zur Neuartigkeit der Gegenwart, in:<br />
Kocka/Offe (2000), S. 476-492, hier S. 489; Hervorhebungen im Original.<br />
102 Kocka (2000: 490f.).
„(...) stiftete es kollektive Identitäten dadurch, daß die gemeinsame Arbeitserfahrung<br />
und Arbeitswelt milieu- und organisationsbegründende Wirkungen<br />
hatte: Betriebskollektive, Gewerkschaften sowie Arbeiterwohnviertel und<br />
Arbeitermilieus sind auf dieser Grundlage entstanden.“ 103<br />
In diesem Sinne scheint das hohe Niveau der Flexibilisierung des Arbeitnehmers<br />
zwar auf der einen Seite Sicherheit, auf der anderen Seite aber auch<br />
„Identitätsfraktale“ mit sich zu bringen. In Zeiten eines starken technologischen<br />
Wandels bedeutet dies für den Arbeitnehmer zudem lebenslanges<br />
Lernen. Die Weiter- und Fortbildung ist nicht nur für die momentane<br />
Arbeitsstelle von Bedeutung, sondern kann darüber hinaus beim Erwerb von<br />
Zusatzqualifikationen entscheidendes Kriterium bei eventuellen zukünftigen<br />
Bewerbungen darstellen.<br />
Es wird deutlich, dass es bei der Identifikation des Einzelnen mit der Arbeit<br />
zunehmend weniger darum geht und gehen kann, was bzw. auch wie<br />
(Arbeitsplatzwechsel) man arbeitet, als dass man arbeitet. Diese Entfremdung<br />
des Einzelnen stellt Selbstschutz des Einzelnen dar, der von der Marktseite<br />
provoziert wird. 104 Dieser Selbstschutz hat zum Ziel, den eigenen Identitätsaufbau<br />
von dem Inhalt der Arbeit loszulösen. Dies mindert zumindest<br />
das Risiko, in eine Identitätskrise durch den Verlust des Arbeitsplatzes zu<br />
geraten - von der sozialen Frage abgesehen. 105 Eine Überwindung dieser zir-<br />
103 Schmiede, R. (1996b): Informatisierung und gesellschaftliche Arbeit: <strong>St</strong>rukturveränderungen<br />
von Arbeit und Gesellschaft, in ders. (1996a), S. 107-128, hier S. 127f.<br />
104 Einen ähnlichen Effekt erzeugt die Technologisierung der Arbeit. So bspw. Wenzel:<br />
„Die Menschen werden zu Systembedienern, die Subjekte selbst dem technischen<br />
Verfahren unterzogen. Mensch und System gleichen sich immer stärker an. Das Denken<br />
vollzieht die endgültige Mimesis an die selbst hervorgebrachte Form, und der<br />
Verstand droht die Vernunft, die ihm erst seine Macht gab, endgültig zu besiegen. Die<br />
Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins wird sinnlos.“ (Wenzel, H. (1996): Die<br />
Technisierung des Subjekts im Zeitalter der Information: Zum Verhältnis von Individuum,<br />
Arbeit und Gesellschaft heute, in: Schmiede, R. (Hrsg.), Virtuelle Arbeitswelten:<br />
Arbeit, Produktion und Subjekt in der „Informationsgesellschaft“, Berlin, S. 179-<br />
200, hier S. 197).<br />
105 Die Erosion der kollektiven Identität wird insbesondere in der Betrachtung der New<br />
Economy evident: es wird individualisiert gearbeitet, was individuelle Freiheit, aber<br />
auch individuelle Machtlosigkeit bedeutet; Freiheit und Machtlosigkeit/Abhängigkeit<br />
sind in diesem Kontext nicht getrennt voneinander denkbar. Die Euphorie über das<br />
Feststellen von paradigmatischem Wandel ist trotz alledem zu dämpfen und einer<br />
differenzierten und differenzierenden Reflexion zuzuführen. Auch die Ausführungen<br />
von Sennett, so plausibel sie erscheinen mögen, sind vor diesem Hintergrund nicht in<br />
Frage zu stellen, so doch differenziert wahrzunehmen. In der hier entwickelten<br />
Argumentation wird aus diesem Grund der inhaltliche Erosionsbefund nicht im Mittelpunkt<br />
stehen. Er bleibt ein Befund unter vielen.<br />
49
kulären Loyalitätsverlustprozesse kann nur in der Unterbreitung eines<br />
glaubwürdigen Loyalitätsangebots von Seiten der Unternehmung an den<br />
einzelnen Mitarbeiter bestehen, um dessen Bindung an und Identifikation<br />
mit der Unternehmung im eigentlichen Sinne wiederzuerlangen. 106<br />
Im Folgenden wird aufgezeigt, dass nicht nur die globalen Bedingungen von<br />
Arbeit den Einzelnen mit ökonomischer Rationalität konfrontieren, sondern<br />
auch die Arbeit im lokalen, in jedem einzelnen individuellen Kontext dem<br />
entgrenzten ökonomischen Handeln zunehmend ausgesetzt ist. Diese Entgrenzung<br />
wird durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien<br />
begünstigt.<br />
2.3 IuK-Technologien als Enabler ökonomischer Entgrenzung<br />
Der technologische Fortschritt verändert die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf paradigmatische Weise. Dieser<br />
Fortschritt ist in seiner Initiierung nicht allein auf die Ökonomie rückführbar.<br />
Münch (1998) benennt neben dem Fortschrittsglauben zwei andere expansive<br />
gesellschaftliche Kräfte: die Gleichheitsidee und das wirtschaftliche<br />
Wachstum. Zusammen mit dem Fortschrittsglauben gehen alle drei in dem<br />
Prinzip des „wachsenden Kuchens“ auf. 107 In dieser Diskussion ist unter<br />
„Fortschritt“ diese „Triade“ zu verstehen. Münch kann auf diese Weise die<br />
kurzschlüssige Behauptung der ökonomischen Allein-Verursachung jeglichen<br />
Fortschrittswahns entkräften.<br />
50<br />
„Die auf Wachstum programmierte Wirtschaft folgt keineswegs allein einer<br />
von der privatkapitalistischen Konkurrenz aufgeherrschten „Kapitalverwertungslogik“,<br />
sondern auch einer damit übereinstimmenden kulturellen<br />
Legitimationsidee (Fortschritt) und einer politischen Inklusionsbewegung (der<br />
Kampf um Teilhaberechte).“ 108<br />
Fortschritt und Gleichheitsidee entstehen aus außerökonomischen Bereichen.<br />
Jedoch, und dies relativiert die Differenzierung von Münch zu einem nicht<br />
unerheblichen Teil, tritt die Ökonomie nicht zuletzt im Kontext der Globalisierung<br />
als alleinig legitimes Medium für Fortschritt und Gleichheit auch<br />
106 Vgl. zu der konkreten Wiederaufnahme dieser Gedanken Abschn. 12.<br />
107 Vgl. hierzu Münch (1998: 169ff.).<br />
108 Münch (1998: 170; Hervorhebung im Original).
außerhalb der Ökonomie auf. In dieser Promotoren-Rolle überlagert und<br />
instrumentalisiert sie die lebensweltlichen Bedürfnisse. Diese drei Teile der<br />
gesellschaftlichen Dynamik beeinflussen sich gegenseitig, werden jedoch<br />
zunehmend durch die ökonomische Wachstumsdynamik vereinnahmt. 109 In<br />
der Folge wirken diese Veränderungen nicht nur auf die Gesellschaftsstruktur<br />
als Ganzes, sondern wirken zudem in die lebensweltlichen Bezüge<br />
eines jeden Einzelnen hinein. Technologischer Fortschritt bedeutet grundsätzlich,<br />
dass sich der Mensch professionalisierter Werkzeuge bedient, die<br />
seine Handlungsmöglichkeiten erweitern und damit zu einer <strong>St</strong>eigerung der<br />
Lebensqualität führen können. Diese erhöhte „Wirkmächtigkeit“ des Individuums<br />
bezieht sich vor allem auf die Verursachung, die Folgen können aufgrund<br />
der komplexen und zum Teil irreversiblen Reaktionsprozesse nicht in<br />
demselben Grad gehandhabt werden. 110 Es entsteht ein Schere zwischen<br />
Verursachung und Handhabung, die nicht nur zeitlich besteht111, sondern<br />
109 Illich bezeichnet diese zunehmende Abhängigkeit vom Markt als Ohnmacht. Die<br />
Argumentation und Interpretation bei Illich decken sich in weiten Teilen mit der hier<br />
entwickelten Argumentation. Vgl. Illich, I. (1978): Fortschrittsmythen. Schöpferische<br />
Arbeitslosigkeit oder Die Grenzen der Vermarktung; Energie und Gerechtigkeit; Wider<br />
die Verschulung, Reinbek bei Hamburg.<br />
110 Erschreckend deutlich wird die Ohnmacht gegenüber der Eigendynamik unserer<br />
eigenen Entwicklungen vor allem bei der Entwicklung der Atombombe, die ursprünglich<br />
als „Nebenprodukt“ in der physikalisch-chemischen Forschung entstand<br />
und nicht das Produkt gezielter Waffenentwicklung darstellt. Aber auch positive<br />
„Nebenprodukte“ fielen nach diesem „Gesetz der unbeabsichtigten Folgen“ an. So<br />
entstand zum Beispiel der Personal Computer (PC) eher beiläufig, als Bastler sich in<br />
den 70er Jahren aus Mikroprozessoren die ersten simplen Computer zusammenschraubten<br />
- aus Ermangelung an kommerziellen Angeboten. Zu dem Zeitpunkt<br />
konnte man sich nicht vorstellen, dass alles, was über einen Taschenrechner hinausgeht,<br />
für den privaten Gebrauch interessant wäre. In ähnlicher Weise sah niemand<br />
voraus, dass das Patent zur Vulkanisierung, von Charles Goodyear eingereicht, auch<br />
außerhalb des Anwendungsbereichs in der Fabrik als Gummi zum Einsatz kommen<br />
sollte. Auch der schottische Taubstummenlehrer Alexander Graham Bell, der für<br />
seine Schüler im Jahre 1876 eine Hörhilfe erfand, die „electrical speech machine“,<br />
ahnte wohl nicht, dass sich 100 Jahre später die Menschen die Welt ohne Telefon gar<br />
nicht mehr vorstellen können. Vgl. hierzu Campbell-Kelly, M./Aspray, W. (1996):<br />
Computer: A History of the Information Machine, New York; Levinson, P. (1997): The<br />
Soft Edge: A Natural History and Future of the Information Revolution, London u. a.;<br />
Johnson, S. (1997): Interface Culture: How New Technology Transforms the Way We<br />
Create and Communicate, San Francisco.<br />
111 Die Rolle der Technikfolgenabschätzung besteht darin, vor allem diese zeitliche Lücke<br />
(„gap“) weitestgehend durch Antizipation zu schließen; ganz wird dies aufgrund der<br />
Unvorhersagbarkeit der unterschiedlichsten Reaktionsprozesse wohl nie möglich<br />
sein. Vgl. hierzu im Überblick bspw. Kornwachs, K. [Hrsg.] (1991): Reichweite und<br />
Potential der Technikfolgenabschätzung, <strong>St</strong>uttgart; zur Rolle im gesellschaftlichen<br />
51
vor allem systematischer Natur ist; insbesondere dann gelingt eine Schließung<br />
systematisch nicht. Bauman sieht hierin die Ursache für die „moralische Unsicherheit“,<br />
die sich in der Postmoderne zeigt:<br />
52<br />
„Unsere Zeit ist eine der tiefempfundenen moralischen Ambiguität: sie offeriert<br />
eine nie zuvor gekannte Entscheidungsfreiheit und befängt uns gleichzeitig in<br />
einem nie quälenderen Zustand der Unsicherheit.“ 112<br />
Diese Unsicherheit ist auch im Umgang mit den neuen Informations- und<br />
Kommunikationstechnologien zu beobachten. Dabei liegen die Gründe vor<br />
allem in den Charakteristika der Kommunikationstechnologien selbst begründet.<br />
Virtualität und Immaterialität, Anonymität und Intransparenz (in<br />
Bezug auf die Handlungen und ihre Folgen) verändern das Verständnis von<br />
Sozialität, sozialen Räumen, Kommunikation und Verantwortung. 113 Dies<br />
stellen Herausforderungen (und Überforderungen) für den Einzelnen, aber<br />
auch für die ganze Netsociety dar. 114<br />
Diskurs bspw. Zweck, A. (1993): Die Entwicklung der Technikfolgenabschätzung<br />
zum gesellschaftlichen Vermittlungsinstrument, Opladen.<br />
112 Bauman, Z. (1995): Postmoderne Ethik, Hamburg, S. 38.<br />
113 Eine ausführlichere Darstellung der Implikationen von IuK-Technologien für Gesellschaft<br />
und Individuum kann an dieser <strong>St</strong>elle (leider) nicht geschehen. Zentrale Fragen<br />
wären hier: Wie verändert sich die Sozialität der Menschen, wenn die face-to-face<br />
Kommunikation zunehmend durch die Beschäftigung mit anderen Kommunikationsmitteln<br />
ersetzt werden sollte? Wie verhält es sich mit der Erfahrung von zunehmender<br />
Virtualität? Was bedeutet Endgültigkeit in Zeiten der Digitalisierung, in denen<br />
Endgültigkeit an Bedeutung verliert und Vorläufigkeit, also die Reversibilität von<br />
Handlungen zum <strong>St</strong>atus Quo wird? Wie verhält sich der Einzelne zu der Erfahrung<br />
von Fraktale (die neuen IuK-Technologien führen zu einer Zersplitterung von Handlungsketten,<br />
führen zu einer neuen Form von Unübersichtlichkeit)? Insbesondere der<br />
Befund der „Fraktale“, der zum Ausdruck bringt, dass die mediale Kommunikation<br />
für den Einzelnen und letztlich auch für die Gemeinschaft unsichtbar und intransparent<br />
ist, birgt materiale ethische Implikationen in sich. In der Literatur werden diese<br />
Fragen zwar angesprochen, bleiben aber in ihren ethischen Implikationen unterbestimmt.<br />
Literatur, die sich direkt oder indirekt mit diesen Fragen beschäftigt, ist u. a.<br />
<strong>St</strong>einmüller, W. (1993): Informationstechnologie und Gesellschaft, Darmstadt; Wenzel<br />
(1997); Paetau, M. (1997): Sozialität in virtuellen Räumen?, in: Becker/Paetau (1997), S.<br />
103-134; Johnson (1997); Sandbothe, M. (1998): Transversale Medienwelten. Philosophische<br />
Überlegungen zum Internet, in: Vattimo, G./Welsch, W. (Hrsg.), Medien –<br />
Welten Wirklichkeiten, München, S. 59-83; Lyon, D. (1998): Cyberspace-Sozialität:<br />
Kontroversen über computervermittelte Beziehungen, in: Vattimo/Welsch (1998), S.<br />
87-105. Zu den ethischen Implikationen siehe bspw. Bauman (1995: 217ff.), der die sozialen<br />
Räume in ihrer neuen kognitiven, ästhetischen und moralischen Bedeutung reflektiert.<br />
114 Vgl. zu den Aspekten der Netsociety Ulrich, P. (2001): Die Netsociety - technokrati-
In diesem Argumentationskontext kann diese Charakteristik der IuK-Technologien<br />
nicht explizit behandelt werden; sie weist keinen direkten Bezug zu<br />
der ökonomischen Rationalität auf. Auch wenn die Technologie und die<br />
Ökonomie in vielfältiger Weise miteinander verflochten sind115, z. B. durch<br />
die Doppelrolle der Wirtschaft als zentraler Anbieter und Nachfrager der<br />
Technologie, so erscheinen die Bezüge aus der hier entwickelten Perspektive<br />
zu ungenau bzw. zu komplex. Ein direkter Bezug besteht jedoch dort, wo die<br />
IuK-Technologien quasi als „Medium“ ökonomischer Rationalität fungieren.<br />
Diese Rolle der IuK-Technologien wird vor allem zwischen Lebens- und<br />
Arbeitswelt deutlich. Hier stellt sich die Frage nach dem Einfluss der Ökonomie<br />
auf die lebensweltlichen Bezüge durch die neuartigen Möglichkeiten<br />
auf völlig neuartige Weise. Dies sei im Folgenden durch die Darstellung der<br />
Analyse von Voß verdeutlicht. 116<br />
2.4 Exkurs: Die Entgrenzung von Lebens- und Arbeitswelt<br />
Die Untersuchung von Günther Voß stellt die konkrete Arbeitssituation vornehmlich<br />
in den Kontext der technologischen Veränderungen. Ähnlich wie<br />
die bereits skizzierte Analyse von Richard Sennett stellt Voß eine Erosion der<br />
Grenzen fest, die insbesondere durch die neuen IuK-Technologien hervorgerufen<br />
wird. Raum und Zeit scheinen relativiert zu sein, Lebensbereiche<br />
werden in ihren Konturen verwischt. Im Vergleich zu Sennetts Analysen<br />
geht es hier vorerst jedoch um die materiellen Grenzen, um die materiellen<br />
Bedingungen der Arbeit. Zum Teil ergeben sich die immateriellen Grenz-<br />
sche Utopie oder Chance für eine demokratische Gesellschaft mündiger Bürger? Beiträge<br />
und Berichte des Instituts für Wirtschaftsethik, Nr. 93, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>. Vgl. auch die<br />
Beiträge bei Jones, S.G. [Hrsg.] (1995): CyberSociety: Computer-Mediated Communication<br />
and Community, Thousand Oaks CA/London.<br />
115 Bauman attestiert der Technologie, wie hier der Ökonomie, systemische Geschlossenheit:<br />
„Die einzige Totalität, die Technologie systematisch konstruiert, reproduziert<br />
und unverwundbar macht, ist die Totalität der Technologie selbst – Technologie als<br />
ein geschlossenes System, das keine Fremdkörper in seinem Inneren duldet und alles<br />
eifrig verschlingt und assimiliert, das sich auf sein Territorium verirrt. Technologie ist<br />
das einzig wahre Un-teilbare (Individuum). Ihre Herrschaft kann nur ungeteilt und<br />
ausnahmslos sein. Menschen sind da ganz gewiß nicht ausgenommen.“ (Bauman<br />
1995: 292). Es zeigt sich hier eine rationale, formal-methodische Ähnlichkeit zwischen<br />
der Technologie und der Ökonomie.<br />
116 Vgl. Voß, G.G. (1998): Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft – Eine subjektorientierte<br />
Interpretation des Wandels der Arbeit, Sonderdruck aus: Mitteilungen aus<br />
der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 31. Jg., S. 473-487.<br />
53
auflösungen aus den hier zu beschreibenden materiellen Überschreitungen,<br />
zum Teil hatte diese Sennett jedoch auch als Konsequenzen des ökonomischen<br />
Vollzuges interpretiert.<br />
Voß fasst diese durch die Technologien induzierten Relativierungen von<br />
Raum und Zeit als Phänomene der „Entgrenzung“ zusammen und interpretiert<br />
sie als charakteristisches Merkmal aktueller Arbeitsbedingungen. In<br />
seiner Analyse differenziert er die Charakteristika auf verschiedenen Ebenen<br />
und unterscheidet zwischen den Entwicklungen in der Erwerbsarbeit und<br />
der Beziehung zwischen „Arbeit und Leben“. Dabei wird deutlich, dass die<br />
Nutzung des technologischen Fortschritts durch die Ökonomie die Bedingungen<br />
der Arbeit unternehmensintern grundlegend verändert und dies vor<br />
allem über den Unternehmenskontext hinaus die lebensweltlichen Bedingungen<br />
eines jeden Arbeitnehmers berührt. 117<br />
Voß nähert sich dem Befund der Entgrenzung auf verschiedenen Ebenen an,<br />
welche in der folgenden Abbildung zusammenfassend dargestellt werden: 118<br />
117 Es muss bemerkt werden, dass nicht nur die lebensweltlichen Bedingungen der<br />
Arbeitnehmer betroffen sind, sondern auch die lebensweltlichen Bedingungen der<br />
Nicht-Erwerbstätigen. Man denke nur an die nicht oder nur halbtags erwerbstätigen<br />
Ehepartner im Kontext von Familie oder auch an das klingelnde Handy am Abend im<br />
Restaurant, welches letzte geschäftliche Absprachen für die am nächsten Morgen<br />
stattfindende Präsentation ermöglicht. Die hier im Text vorgenommene Verkürzung<br />
auf die Arbeitnehmer beschränkt sich auf den direkten Betroffenheitsgrad, was aber<br />
die indirekte Betroffenheit als „<strong>St</strong>akeholder“ mitdenkt.<br />
118 Im Hinblick auf die Identität und die Identifikationsfähigkeit einer Tätigkeit soll insbesondere<br />
die Kategorie Sinn/Motivation interessieren, da bei dieser ein stärkerer Bezug<br />
vermutet wird als bei den anderen Kategorien. Sekundär werden die Kategorien<br />
Sozialorganisation und Arbeitsinhalt/Qualifikation behandelt.<br />
54
Sozialdimension Entgrenzungen in der Erwerbsarbeit Entgrenzungen von „Arbeit und Leben“<br />
Zeit<br />
Raum<br />
Hilfsmittel/<br />
Technik<br />
Arbeitsinhalt/<br />
Qualifikation<br />
Sozialorganisation<br />
Sinn/ Motivation<br />
Weitreichende Flexibilisierung und<br />
Individualisierung von Arbeitszeiten<br />
in Dauer, Lage und Regulierungsform<br />
Abbau der Bindung von Arbeit an Orte<br />
- innerbetrieblich und betriebsübergreifend<br />
Entstandardisierung von Arbeitsmitteln und<br />
wachsende Selbstorganisation und<br />
Individualisierung der Auswahl und der<br />
konkreten Nutzung von Hilfsmitteln<br />
Selbstorganisation der Arbeitsausführung,<br />
Rücknahme von Detailkontrolle und<br />
Zunahme von Rahmensteuerung;<br />
Dynamisierung von Qualififkationsanforderungen<br />
und Qualifizierung;<br />
„employability“ und fachliche Flexibilität<br />
statt Lebens-Beruf; neue überfachliche<br />
Anforderungen<br />
Selbstorganisation der Kooperationsformen<br />
und Sozialnormen in der Arbeit<br />
- horizontal und vertikal<br />
Verstärkte Anforderungen an<br />
Selbstmotivierung, individuelle<br />
Sinnsetzung, Selbstbegeisterung und<br />
Disziplinierung - individuell und<br />
kooperativ<br />
Durchmischung bzw. individualisierte<br />
Koordination von Arbeits- und Privatzeiten<br />
- als Folge flex. Arbeitszeiten und<br />
individualisierter Zeitwünsche und -strategien<br />
Abbau fester Grenzen zwischen Arbeits-<br />
und privaten Lebensorten - als Folge neuer<br />
Arbeitsformen und eines individualisierten<br />
Verhaltens<br />
Durchmischung des privaten und<br />
betrieblichen Besitzes von Arbeitsmitteln<br />
und ihrer Nutzung<br />
Zunehmende Bedeutung unklarer<br />
Tätigkeiten und Kompetenzen<br />
zwischen Privatheit und Arbeit<br />
Wachsende Rolle diffuser Sozialformen<br />
und -normen zwischen<br />
Arbeit und Privatleben<br />
Durchmischung von Arbeits- und<br />
Lebensmotivationen. Arbeit als aufgewertete<br />
Lebenssphäre, Privatheit als verstärkt<br />
beruflich zu nutzender Bereich und „Arbeit“<br />
Abb. 1: Beispiele für Entgrenzungserscheinungen in der Erwerbsarbeit und im Verhältnis von „Arbeit und Leben“<br />
in verschiedenen Sozialdimensionen, leicht verkürzt nach Voß (1998: 480).<br />
In dieser tabellarischen Darstellung wird die Rolle der IuK-Technologien als<br />
Enabler von Entgrenzung deutlich. In den Dimensionen „Zeit“ und „Raum“<br />
ist der Grad der Veränderungen durch die neuartigen IuK-Technologien besonders<br />
hoch. Das mobile Telefon ermöglicht die Erreichbarkeit unabhängig von<br />
Zeit und Raum, heißt es. Diese Ermöglichung kann eine wesentliche Erleichterung<br />
darstellen, wenn sie zur Verbesserung der Lebensqualität genutzt<br />
wird. Jedoch kann sie auch einseitig für Zwecke ausgenutzt werden, die nur<br />
eine von vielen Möglichkeiten darstellen, so bspw. für die Ausweitung der<br />
55
Arbeitswelt in die Lebenswelt hinein. Nicht nur der Vorgesetzte, der den<br />
Arbeitsdruck in die Urlaubszeit hineinträgt und während des Urlaubs anruft<br />
bzw. aus dem Urlaub den Mitarbeiter abruft, die Zeiten vor oder nach der<br />
Arbeit mit Anrufen penetriert, verdeutlicht in seinem Verhalten und den<br />
daraus entstehenden Folgen für seine Mitarbeiter die „Kehrseite“ der multiplen<br />
Ermöglichung; auch in der Privatsphäre eines jeden Einzelnen werden<br />
diese Grenzüberschreitungen deutlich, wenn Freunde und Bekannte jede<br />
halbe <strong>St</strong>unde „sinnvoll“ nutzen wollen und sich mit privaten Terminen<br />
zudecken. Dies kann gerade dazu führen, dass sie ihre Zeit verlieren, weil sie<br />
fragmentiert, wie sie ist, nicht mehr als solche wahrgenommen werden kann.<br />
Es fühlt sich der erreichbare Einzelne getrieben und wird das Gefühl nicht<br />
los, dass ihm die Zeit davonrennt. 119<br />
Es steht außer Frage, dass der Mensch auf Sozialität angewiesen ist, diese<br />
sich hauptsächlich in der Kommunikation verwirklicht und diese wiederum<br />
in der heutigen Arbeitsgesellschaft zum großen Teil Telekommunikation<br />
bedeutet. Aus der Perspektive des Bedürfnisses nach Sozialität aber wirkt die<br />
wirtschaftliche Nutzung dieser Technologie als latente Zweckentfremdung<br />
und Vereinnahmung des Einzelnen. Diese zusätzliche Nutzung, sei es<br />
kommerziell oder informationell, ist nicht per se zu kritisieren. Ab dem Zeitpunkt<br />
jedoch, wo erkannt wird, dass sich die versachlichten Zusammenhänge<br />
auf Kosten sozialer Zusammenhänge ausbreiten und diese nicht komplementieren,<br />
also sich in den Dienst des Menschen stellen, ist bei fehlender<br />
Sensibilisierung und ausbleibender Kompensation mit nicht befriedigten<br />
sozialen Bedürfnissen zu rechnen. Dabei ist dieser Befund nicht nur auf die<br />
direkte Konkurrenzsituation in den Ressourcen Zeit und Raum zu beschränken,<br />
sondern besteht vor allem auch dort, wo diese Konkurrenzsituation<br />
nicht bewusst empfunden bzw. zum Gutteil auch akzeptiert wird, wie es -<br />
wie bereits angedeutet - im Arbeitskontext der Fall ist. 120<br />
Voß trägt diesen Formen der Überlagerung von „Arbeit und Leben“ in der<br />
zweiten Spalte seiner Tabelle Rechnung und beschreibt skizzierend die Kon-<br />
119 Es mag zutreffen, dass es letztlich doch immer im Ermessen des Handybesitzers liegt,<br />
gegebenenfalls die Situation vor Anrufen und Unterbrechungen zu schützen, indem<br />
er selbiges ausschaltet. Der soziale Druck jedoch, der auf denjenigen ausgeübt wird,<br />
der diese potentielle Erreichbarkeit unterbindet - sei es durch Anrufannahmeverweigerung<br />
oder Nicht-Besitz -, wird gestützt vom Fortschrittsglauben der Gesellschaft.<br />
Überhaupt kein Telefon zu besitzen, scheint in heutiger Zeit undenkbar. Bei Mobiltelefonen<br />
ist es bereits ähnlich. Fortschritt verpflichtet - auch zur Erreichbarkeit.<br />
120 Vgl. hierzu Abschn. 2.2.<br />
56
sequenzen. Zunehmend scheinen Arbeit und Leben nicht mehr eindeutig<br />
voneinander trennbar zu sein. Die Arbeit geschieht auch von daheim<br />
(Raum), sie geschieht auch am Wochenende (Zeit), sie geschieht mit Mitteln,<br />
die privat und geschäftlich genutzt werden (Hilfsmittel/Technik), sie geschieht<br />
auch unter Zuhilfenahme von privaten Kontakten, von privater<br />
Unterstützung (Arbeitsinhalt/Qualifikation/Sozialorganisation) und schließlich<br />
geschieht Arbeit in der <strong>St</strong>ringenz der Erreichung von allgemeinen<br />
Lebenszielen (Sinn/Motivation). Auf die Frage: „Wie geht’s?“ wird allgemein<br />
„...in der Arbeit läuft’s ok...“ oder „...ziemlich busy...“ geantwortet. Insbesondere<br />
letztere Kurzform des englischen Begriffs business unterstützt und<br />
wahrt den Schein des Gebraucht-Seins, des Sich-Nützlich-Machens, des<br />
sinnvollen Handelns, des Partizipierens an der (Solidar-)Gemeinschaft und<br />
der Gesellschaft durch Arbeit.<br />
Aus der Perspektive vorindustrieller Arbeitsformen mag diese Diskussion<br />
skurril anmuten, denn diese Befunde gehörten damals zum Alltag. Da wurde<br />
schon mal nach der Abendmahlzeit die Werkstatt im Erdgeschoss des<br />
Wohnhauses aufgesperrt, um die Schuhe des Herrn Nachbarn zu reparieren.<br />
Trennung von Arbeit und Leben war in dieser Zeit weder ein Bedürfnis noch<br />
ein Befund. 121 Jedoch ist die Ökonomie in ihrer Charakteristik von damals<br />
und heute nicht vergleichbar. So differieren nicht nur die äußeren Bedingungen,<br />
sondern es differieren vor allem das inhaltliche „Leistungsprofil“ der<br />
Arbeit für den Einzelnen und die Distinktion und Proliferation ökonomischer<br />
Rationalität in derselben: Zwischen ihnen liegt die Entkoppelung des<br />
Systems Ökonomie und die damit verbundene Ausdifferenzierung und Professionalisierung<br />
der ökonomischen Rationalität. Aus diesem Grund steht<br />
diese „Wiedervereinigung“ von Arbeits- und Lebenswelt heute unter anderen<br />
Vorzeichen. Auch ist die soziale Interaktion in Qualität (Loyalität, Authentizität,<br />
Solidarität) und Intensität (Feedback, Führung) heutiger Arbeitsbedingungen<br />
schwerlich mit den damaligen Verhältnissen zu vergleichen. Es<br />
121 Vgl. hierzu auch Ulrich (1993). Ulrich zeigt, dass Teile postindustrieller bzw. postmoderner<br />
Bewegungen sich inhaltlich eher im „Rückschritt auf vorindustrielle und<br />
teilweise sogar vormoderne <strong>St</strong>ufen der gesellschaftlichen Entwicklung“ (Ulrich 1993:<br />
449; Hervorhebungen weggelassen) befinden. Diesbezüglich zitiert Ulrich (1993: 448f.)<br />
u. a. Robertson, der davon spricht, dass sich die Ökonomie „auf eine Rückkehr nach<br />
Hause“ vorbereitet, was einer Entkolonialisierung der Lebenswelt gleichkommt. Vgl.<br />
Robertson, J. (1979): Die lebenswerte Alternative: Wegweiser für eine andere Zukunft,<br />
Frankfurt, S. 8 und S. 99f.<br />
57
wird zwar durch die Verkleinerung von Arbeitsgruppen, Institutionalisierung<br />
von Kommunikation (Regelkommunikation), Ethikkommissionen<br />
und Human-Resource-Manager versucht, diese Qualitätsdefizite zu kompensieren.<br />
Doch dies ist im Rahmen ökonomischer Rationalität, die nach Effizienz<br />
strebt, jeglichen Aufwand mit direkten Erlösen verbunden sehen will<br />
und sich langfristige Gestaltung nicht leisten kann, nur schwer durchsetzbar.<br />
Es bleibt somit festzuhalten, dass neben Chancen und Freiheiten des Arbeitnehmers<br />
zur flexiblen Arbeitsgestaltung auch Risiken in Form von Druck<br />
und Zwang durch „ökonomische Übergriffe“ treten. Durch diese erhöhten<br />
„Kontrollmöglichkeiten“ wird der Schutz der Privatsphäre des Einzelnen im<br />
Kreise von Familie und Freunden erschwert.<br />
58<br />
„Es ist nur so, daß jeder sich von Zeit zu Zeit der Kontrolle entzieht, um in<br />
Freiheit und im Geheimnis zu leben, allein oder mit anderen Menschen, eine<br />
<strong>St</strong>unde am Tag, einen Abend in der Woche oder einen Tag im Monat. Und<br />
diese heimliche und freie Existenz setzt sich von einem Abend oder Tag zum<br />
anderen fort, und die <strong>St</strong>unden folgen aufeinander, eine auf die andere.“ 122<br />
Berberova schreibt davon, dass diese andere Seite des Lebens, diese Reflexion,<br />
diese Kontemplation, das zwanglose Dahintreiben als Entschleunigung<br />
helfen kann, „eine allgemeine Linie einzuhalten“ 123 . Diese aristotelischen Erkenntnisse<br />
erfahren neue Sinn-Räume, wenn sie vor dem aktuellen lebensweltlichen<br />
Hintergrund reflektiert werden. Es bleibt dieses Gegenstück zum<br />
Getriebensein nicht nur treffend, sondern auch aktuell - aktueller denn je. 124<br />
Ob sich der Einzelne dieses Gegenstück bewahrt und beschützt, ist letztlich<br />
jedem selbst überlassen. Doch dort, wo der Einzelne gar keine Möglichkeit<br />
hat, dieses zu bewahren - sei es aufgrund persönlicher Kompetenz oder aufgrund<br />
äußerer Bedingung -, kommt es zur individuellen Überforderung und<br />
damit zu einem Konflikt. Sofern dieser auf die äußeren Bedingungen<br />
122 Berberova, N.N. (1993): Das rauschende Schilfrohr, in: dies. (1993): Der Traum von<br />
Liebe, die bleibt. Drei Novellen, Hildesheim, S. 78, zitiert nach Lyotard, J.-F. (1989):<br />
<strong>St</strong>reifzüge, Wien, S. 107.<br />
123 Berberova (1993: 79; Hervorhebungen im Original).<br />
124 An späterer <strong>St</strong>elle wird dies im Kontext einer ethischen Implikation explizit behandelt<br />
werden und mit ähnlichen Befunden und Implikationen zusammengebracht werden.<br />
Vgl. hierzu Abschn. 11.3.
zurückzuführen ist, sind die Möglichkeiten und moralischen Ansprüche zu<br />
klären. 125<br />
„Dieser Bereich ist geheim, weil er abgetrennt ist. Das Recht auf die zweite<br />
Existenz ist das Recht, abgetrennt zu bleiben, nicht exponiert zu werden, nicht<br />
auf andere antworten zu müssen. Früher hat man gesagt: sein Für-sich-sein zu<br />
bewahren. (Aber dieses sich, man weiß nicht so recht was das ist. Sein Füretwas-sein.)<br />
Dieses Recht muß jedem zuerkannt und von jedem respektiert<br />
werden.“ 126<br />
Es wird auch bei Lyotard deutlich, dass für ihn dieses Getrennt-sein ein<br />
Recht darstellt, welches auch von anderen zu respektieren ist, jedoch auch,<br />
dass es verwirkt, wenn sich der Einzelne darum nicht bemüht.<br />
Die Entgrenzung im Sinne des Menschen und damit im Sinne einer Lebensdienlichkeit<br />
zu gestalten, fordert Verantwortungsübernahme auf beiden Seiten<br />
der Grenze. 127 Ab dem Zeitpunkt, wo sich die versachlichten Zusammen-<br />
125 Die Diskussion um das persönliche Vermögen, um die Kompetenz, wird an dieser<br />
<strong>St</strong>elle nicht explizit geführt, denn sie liegt der gesamten Argumentation zugrunde.<br />
Aufgrund der fortgeschrittenen Kolonialisierung der Lebenswelt ist die „Kultur“ für<br />
die Einsicht in die Notwendigkeit zu Entschleunigung verlorengegangen. Diese Einsicht<br />
wiederzuerlangen, kann nicht allein durch die Veränderungen der Bedingungen<br />
erreicht werden, sondern auch der Einzelne ist aufgefordert, sich zu sensibilisieren.<br />
Lyotard drückt dies so aus: „Wenn der Mensch nicht den unmenschlichen Bereich<br />
schützt, in dem er sich mit diesem oder jenem trifft, das sich der Ausübung der<br />
Rechte völlig entzieht, verdient er die Rechte nicht, die man ihm zuerkennt. (...) Man<br />
muß der „zweiten Existenz“ ihr absolutes Recht zubilligen, da sie den Rechten das<br />
Recht gibt. Und so wie sie sich den Rechten entzieht, muß sie sich immer mit einer<br />
Amnestie zufriedengeben.“ (Lyotard 1998: 112).<br />
126 Lyotard (1998: 108; Hervorhebungen im Original).<br />
127 Der Begriff der „Lebensdienlichkeit“ wird von Peter Ulrich in umfassender Weise<br />
aufgenommen. Der Begriff geht auf Rich zurück, welcher ihn von Brunner übernommen<br />
hat. Die „Idee“ der Lebensdienlichkeit stellt die Sinn- und die Legitimationsfrage.<br />
Der Sinn des Wirtschaftens differenziert sich in Fragen wie „Was für Werte sind<br />
zu schaffen?“, „Wie wollen wir in Zukunft leben?“ und „Ist unser Wirtschaften uns<br />
selbst zuträglich?“; die Legitimationsfrage spaltet sich auf in Fragen wie „Für wen<br />
sind Werte zu schaffen?“, „Wie sollen wir gerecht zusammenleben“ und „Ist die<br />
soziale Organisation unserer Wirtschaft allen zumutbar?“ (Ulrich, P./Maak, Th.<br />
(2000b): Lebensdienliches Wirtschaften in einer Gesellschaft freier Bürger – Eine Perspektive<br />
für das 21. Jahrhundert, in: dies. (2000a), S. 11-34, hier S. 12; Hervorhebungen<br />
weggelassen). Siehe auch ausführlicher Ulrich (1998: 203ff.). Diese „Idee“ der Lebensdienlichkeit<br />
wird in der gesamten Argumentation als orientierender Bezugsrahmen<br />
implizit thematisiert und diskutiert werden. Vgl. Rich, A. (1990): Wirtschaftsethik, Bd.<br />
II: Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht, Gütersloh;<br />
Brunner, E. (1978): Das Gebot und die Ordnungen. Entwurf einer protestantischtheologischen<br />
Ethik (1932), 4. Aufl., Zürich.<br />
59
hänge auf Kosten sozialer Zusammenhänge ausbreiten und diese nicht komplementieren<br />
sondern überlagern, werden bei fehlender Sensibilisierung und<br />
ausbleibender Kompensation dieser Überlagerung nicht befriedigte lebensweltliche<br />
Bedürfnisse die systematische Folge sein.<br />
3 Grenzen ökonomischer Rationalität – lebensweltliche<br />
60<br />
Implikationen<br />
Es lässt sich somit das Denken wie auch das Handeln der Ökonomie gleichfalls<br />
mit dem Term der Entgrenzung erfassen und gegenüberstellen. Dieser<br />
Term beschreibt das grenzenlose wirtschaftliche Handeln ebenso wie das<br />
begrenzte, weil disziplinäre Denken. Das Auseinanderdriften von Ausmaß im<br />
Denken und Handeln kann als defizitäre Adäquanz der Entgrenzungsgrade<br />
bezeichnet werden. 128<br />
„Das Paradigma der Ökonomie, so vielfältig und in sich verflochten es in sich wiederum<br />
bis in die kleinsten Verästelungen hinein ist, besitzt insgesamt die Haltung,<br />
ihre Gegenstände unter Kosten- und Nutzenaspekten zu beobachten: <strong>St</strong>ets hat sie<br />
Effizienz und Effektivität im Auge. Zugleich weitet sie permanent ihre Gegenstandsbereiche<br />
aus, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. War früher Erziehung<br />
eine Frage der Pädagogik, so ist sie heute auch eine der Ökonomie; war häusliche<br />
Pflege früher eine Frage von Familie und Freiwilligen, so ist es heute zum großen Teil<br />
eine von professionellen Diensten. Die Rationalität der Ökonomie weitet sich konsequent<br />
in andere Bereiche aus, weniger auf sich wertfrei verflechtende Weise, sondern<br />
auf besetzende Weise. Und will dies auch, aus ihrer Sicht nur folgerichtig.“ 129<br />
Dabei bedeutet die Erosion der Grenzen zwischen Lebens- und Arbeitswelt<br />
unter den aktuellen Bedingungen für den Einzelnen eine Herausforderung,<br />
128 In Anlehnung an das law of requisite variety bei Ashby (1957) kann von der Forderung<br />
nach einer „Isomorphie des Entgrenzungsgrades“ gesprochen. So zumindest haben<br />
Mirow et al. den Terminus der „Komplexitätsisomorphie“ entwickelt, welcher vorher<br />
auch schon in ähnlicher Weise bei Kirsch, W. (1994): Die Handhabung von Entscheidungsproblemen:<br />
Einführung in die Theorie der Entscheidungsprozesse, 4., völlig<br />
überarbeitete und erweiterte Aufl., München, vorbereitet wurde. Vgl. hierzu Ashby,<br />
W.R. (1970): An Introduction to Cybernetics, 5. Aufl., London; Mirow, M./Aschenbach,<br />
M./Liebig, O. (1995): Produktion und/oder Reduktion von Komplexität: Ein<br />
systemtheoretischer Beitrag zur Frage der Konzernentwicklung, unveröffentl. Aufsatz,<br />
München.<br />
129 Leoprechting, G.v. (2000): Vernunft zu Ende - am Anfang, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 119-<br />
121, hier S. 120.
der zu begegnen einen Einblick in die Zusammenhänge und eine Fähigkeit<br />
zur Handhabung verlangt. Die Befunde in diesem Kapitel lassen sich auf den<br />
Verflechtungsbefund und den systemischen Befund verdichten.<br />
� In den hier diskutierten Bereichen aktueller Lebenswirklichkeit, Globalisierung<br />
und IuK-Technologien, hat sich gezeigt, dass die Möglichkeiten<br />
wirtschaftlicher Tätigkeit zugenommen haben. Nicht nur im globalen Kontext<br />
liberalisiert sich die Wirtschaft selbst, auch im individuell-lebensweltlichen<br />
Kontext zeigt sich eine zunehmende Verflechtung von Lebenswelt und<br />
Arbeitswelt.<br />
� Die globale Ebene machte zudem deutlich, dass die plural-globale Wirklichkeit<br />
einem geschlossenen ökonomischen System gegenübersteht. Ansprüche<br />
aus der (systemischen) Umwelt werden innerhalb des ökonomischen<br />
Systems systemintern verarbeitet, d. h. übersetzt und ausschließlich in<br />
ihrer systeminternen Relevanz bewertet.<br />
Dieses Aufeinandertreffen von Lebenswelt und (ökonomischem) System<br />
wird im Folgenden durch die Darstellung der formalen (und systemischen)<br />
Hauptbestimmungen der ökonomischen Rationalität, der Quantifizierung<br />
und dem Rechnerischen Kalkül, in ihren lebensweltlichen Implikationen<br />
verdeutlicht. Die konkreten Analysen von Sennett und Voß haben bereits<br />
angedeutet, in welcher Weise diese Diskrepanz zu einer Überforderung des<br />
Einzelnen führen kann. Der allgemeine lebensweltliche Befund lautet hierbei<br />
die Ökonomisierung der Lebenswelt. Aus diesem Befund leiten sich zum<br />
Abschluss zwei methodische Bestimmungen für die weitere Argumentation<br />
ab.<br />
3.1 Quantifizierung – Positivismus<br />
Die Darstellung der formalen Bestimmungen hat aufzeigen können, in welcher<br />
Weise sich ein Primat der Quantifizierung im Bereich der Ökonomie<br />
durchgesetzt hat. Als zentrale organisatorisch-koordinative Bestimmung des<br />
Marktes hat das „Pekuniäre“ als omni-kompatibles Tauschmittel den traditionellen<br />
Tauschhandel endgültig abgelöst. 130 Das Geld ist aufgrund seines<br />
hohen Abstraktionsgrades fähig, als „Meta-Tauschmittel“ zu fungieren. Es<br />
130 Vgl. zu der Rolle des „Pekuniären“ ausführlicher Thielemann (1996: 280ff.).<br />
61
stellt selbst keinen Wert dar, nur im Bezug auf das System; so sind es nur<br />
Zahlen, die zuerst einmal unabhängig ihrer inhaltlichen Bestimmung existieren<br />
können - und existieren. Dieser immanente Verbund von ökonomischem<br />
Meta-Mittel und Zahl ist in dem hier entwickelten Fokus Schlüssel für<br />
den positivistischen Charakter der Ökonomie. 131<br />
In der lebensweltlichen Reflexion bedeutet dieser positivistische Charakter<br />
der Ökonomie eine tendenzielle Unhintergehbarkeit der ökonomischen Tatsachen.<br />
Die durch Zahlen erbrachten Beweise brauchen „durch keine Autorität<br />
mehr verbürgt zu werden“ 132. Dies sichert dem ökonomischen System<br />
eine Form von Autonomie und Unabhängigkeit in seiner Umwelt, die auf<br />
zweifache Weise erzeugt und reproduziert wird: Von außen durch die Umwelt,<br />
die durch die numerische Abstraktion einer „Sinn-Versperrung“ erlegen<br />
ist, und von innen durch das System, welches in seiner operationalen<br />
Geschlossenheit „sinn-resistent“ ist, da es externe Ansprüche systemintern<br />
umdeutet. Es geschieht somit innerhalb und außerhalb des Systems ein<br />
Reflexionsstopp. 133 Die Logik und Methodik der Ökonomie präsentieren sich<br />
als prinzipiell inhaltsleere Handhabungsstrukturen.<br />
3.2 Rechnerisches Kalkül – Verdinglichung sinnlicher Erfahrung<br />
Das rechnerische Kalkül stellt die zentrale ökonomische Methode dar. Sie ist<br />
Ursache ihrer Darstellungsform (Numerisch) und ihrer koordinativen Form<br />
(Markt) und deren Folge zugleich, denn sie schafft sich ihre eigenen Vehikel,<br />
die sie reproduzieren - effektiv und effizient. Neben der zuvor geschilderten<br />
Quantifizierung und ihrer positivistischen Konsequenz kann eine andere,<br />
ebenso relevante lebensweltliche Implikation festgestellt werden: Es ist die<br />
131 Der Positivismus in der Ökonomie kann hier nur angerissen werden. Ein wesentlicher<br />
und auch in der Argumentation auftauchender positivistischer Befund findet sich in<br />
der gesamten Neoklassik. Hier werden Markt und Natur in ihrem „Wesen“ gleichgestellt.<br />
Diese Analogisierungen bringen die Ökonomik in die Nähe naturwissenschaftlicher<br />
Disziplinen und deren Wahrheitsansprüchen. Vgl. hierzu im Allgemeinen<br />
Ulrich (1998: 184ff.), Ulrich (1993: 173ff.), Maak, Th. (1999): Die Wirtschaft der Bürgergesellschaft:<br />
Ethisch politische Grundlagen einer Wirtschaftspraxis selbstbestimmter<br />
Bürger, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 21ff.; Brodbeck, K.-H. (1998): Die fragwürdigen<br />
Grundlagen der Ökonomie - Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften,<br />
Darmstadt, S. 188ff. Zu der Positivismusdebatte vergleiche auch die<br />
Darstellung und Erörterung bei Adorno, Th.W. [Hrsg.] (1968): Der Positivismusstreit<br />
in der deutschen Soziologie, Darmstadt u. a.<br />
132 Gorz (1998: 161).<br />
133 Vgl. hierzu Ulrich (1998: 100).<br />
62
durch die Verdinglichung erzeugte Verkürzung von sinnlicher Erfahrung. 134<br />
Gorz beschreibt das Rechnerische Kalkül als „Prototyp der verdinglichenden<br />
Rationalisierung“ 135 und führt dessen Ursachen zurück auf den der Quantifizierung<br />
anhängenden Selbstzweck:<br />
„Seine Rechengröße ist die Arbeitsmenge pro Produkteinheit an sich, unter<br />
Abstraktion vom (Er)Leben der Arbeit: vom Vergnügen oder Mißbehagen,<br />
das mir diese Arbeit verschafft; von der Art der Anstrengung, die sie von mir<br />
verlangt; von meiner affektiven und ästhetischen Beziehung zum produzierten<br />
Gegenstand.“ 136<br />
In der Abstraktion entfremdet sich das Individuum von den Inhalten der<br />
Arbeit. Dieser Arbeitsinhalt setzt sich aus dem Inhalt des Produkts, dem<br />
Inhalt der Tätigkeit und dem Inhalt des gesamten Erlebnisses zusammen.<br />
Dabei sind diese unterschiedlichen Inhalte weder unabhängig voneinander<br />
noch überschneidungsfrei und damit trennscharf fassbar. Diese Inhaltsdimensionen<br />
werden nur dann ökonomisch relevant, wenn ihnen ein direkter<br />
ökonomischer Bezug zum ökonomischen System nachgewiesen werden<br />
kann. Den Nachweis erbringt die Ökonomie selbst. Wird bspw. festgestellt,<br />
dass Gruppenerlebnisse zu einer höheren Produktivität führen, so besitzen<br />
diese Gruppenerlebnisse direkte ökonomische Relevanz, werden übersetzt,<br />
also mit Zahlen besetzt, und damit handhabbar für das Rechnerische Kalkül.<br />
Im ökonomischen System werden auf diese Weise Sachverhalte, Bezüge und<br />
auch Menschen inhaltlich rekonstruiert, was dazu führt, dass diese „Gegenstände“<br />
auf ihre ökonomische Relevanz verkürzt werden und, solange diese<br />
Relevanz die maßgebliche Bewertungsreferenz ist, verkürzt bleiben. 137 Horkheimer<br />
stellt diese Dominanz bereits im Jahre 1947 fest:<br />
134 Vgl. hierzu Horkheimer, M. (1967): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den<br />
Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende. Herausgegeben von Alfred Schmidt,<br />
Frankfurt, S. 47ff.<br />
135 Gorz (1998: 157).<br />
136 Ebenda.<br />
137 Dass die ökonomische Rekonstruktion den relevanten Bewertungsmaßstab in unserer<br />
heutigen Gesellschaft darstellt, lässt keine Aussage über die Begründetheit und<br />
Nachhaltigkeit dieser Rekonstruktion zu. Dies käme einem naturalistischem Fehlschluss<br />
gleich. Der Begriff der „schöpferischen Zerstörung“, der den innovativen Geist<br />
der Ökonomie zu charakterisieren versuchte, erscheint vor dem Hintergrund dieser<br />
inhaltlichen Aushöhlung in neuem Licht. Vgl. hierzu Schumpeter, J.A. (1950): Kapitalismus,<br />
Sozialismus und Demokratie, 2. erw. Aufl., München, S. 134ff.<br />
63
64<br />
„Die einmal durch die objektive Vernunft, durch die autoritäre Religion oder<br />
die Metaphysik ausgeübten Funktionen sind durch die verdinglichenden Mechanismen<br />
des anonymen ökonomischen Apparats übernommen worden.“ 138<br />
Der Markt entscheidet über die Inhalte, ohne selbst Inhalte liefern zu können.<br />
Dies kommt einer Aushöhlung gleich. Diese aushöhlende Verdinglichung<br />
„(...) überführt Kunstwerke in kulturelle Waren und ihren Konsum in eine<br />
Reihe von zufälligen Gefühlen, die von unseren wirklichen Intentionen und<br />
Bestrebungen getrennt sind. Kunst ist ebenso von der Wahrheit abgelöst wie<br />
Politik oder Religion.“ 139<br />
Verdinglichung und Positivismus sind durch ihre verzerrende Übersetzung<br />
ursprünglicher Inhalte sehr ähnlich, wirken aber auf unterschiedlichen Ebenen.<br />
Während die Verdinglichung auf Ebene des Entdeckungszusammenhangs<br />
verkürzt wahrnimmt und damit auf Ebene des Verwendungszusammenhangs<br />
verkürzt handhabt, bewegt sich der Positivismus auf Ebene des<br />
Begründungszusammenhangs und wirkt dort in Richtung einer Verkürzung<br />
der Reflexion. Diese Verkürzung jedoch ist beiden gemein.<br />
In diesem Sinne beugt sich die ökonomische Rationalität als Gegenstand<br />
wissenschaftlicher Methode dem Pragmatismus einer systemischen Verselbständigung<br />
und wagt nicht deren Infragestellung. Horkheimer betrachtet<br />
einen solchen Pragmatismus als „Ausdruck des positivistischen Ansatzes“ 140<br />
und stellt fest:<br />
„(...) eine Lehre [hier: der Pragmatismus; T.B.], die es ernsthaft unternimmt,<br />
die geistigen Kategorien - wie Wahrheit, Sinn oder Konzeptionen - in praktische<br />
Verhaltensweisen aufzulösen, kann selbst nicht erwarten, im geistigen<br />
Sinne des Wortes begriffen zu werden; sie kann nur versuchen, als ein<br />
Mechanismus zu funktionieren, der bestimmte Ereignisreihen in Gang<br />
setzt.“ 141<br />
Als ein solcher Mechanismus funktioniert die Ökonomie, reproduziert ihre<br />
eigenen Verkürzungen und sichert sich damit ihren Erhalt - jedoch nur solange,<br />
wie der von ihr promovierte Reflexionsstopp auf lebensweltlicher<br />
Seite wirksam ist.<br />
138 Horkheimer (1967: 47f.).<br />
139 Horkheimer (1967: 47).<br />
140 Horkheimer (1967: 51).<br />
141 Horkheimer (1967: 54f.).
3.3 Raum, Zeit, Sprache – die Eskalation der Kolonialisierung<br />
Im Folgenden soll abschließend versucht werden, die konkreten lebensweltlichen<br />
Veränderungen in einen Zusammenhang zu stellen. Dieses einleitende<br />
Kapitel konnte, auch aus der historischen Betrachtung, die unterschiedlichen<br />
<strong>St</strong>ufen der Kolonialisierung nachzeichnen. Diese <strong>St</strong>ufen stehen in einem Zusammenhang,<br />
der sich als Eskalationszusammenhang interpretieren und rekonstruieren<br />
lässt.<br />
Lyotard beschreibt die zunehmende Vereinnahmung der Lebenswelt durch<br />
das ökonomische System - auch wenn er sich dieser Terminologie in dem<br />
Sinne nicht bedient - indem er Raum, Zeit und Sprache in eine „Kolonialisierungs-Sukzession“<br />
stellt. 142 Er stellt die Hypothese auf, dass „Kapital eine<br />
Hegemonialmacht über die Zeit ist“ 143. In Anlehnung an Marx, der das<br />
Kapital als Hegemonialmacht über die Kraft (Arbeitskraft bzw. Produktivkraft<br />
allgemein) beschrieb, leitet Lyotard aus den Charakteristika des<br />
Tausches die ökonomische Relevanz der Zeit ab. Es liegt in der „Natur“ der<br />
Sache, dass zwischen Tauschaktionen am Markt „Zeit“ vergeht. Diese Zeit<br />
lässt sich das Wirtschaftssubjekt (A) für sein Produkt (x) von demjenigen<br />
erstatten, der schließlich als nächster Tauschpartner (B) mit dem (Tausch-)<br />
Produkt (y) im Markt auftritt.<br />
„Der Kapitalismus führt nun ein großes Prinzip ein: das Intervall, das Abtretung<br />
und Gegenabtretung trennt, ist für A verlorene Zeit. B muß ihm diese<br />
vorgeschossene Zeit zusätzlich zum Wert von y zurückerstatten. Die Quelle<br />
des zusätzlichen Werts, den A aus dem Tausch zieht, liegt nicht im Objekt y,<br />
sondern in der Zeit, die B verliert, bis er A y überläßt. (...) Damit komme ich<br />
zum Gedanken, daß Geld zu haben heißt, Zeit zur Verfügung zu haben.“ 144<br />
Lyotard überträgt dies auf die Arbeitssituation.<br />
„Ein Lohnarbeiter ist jemand, der einen wichtigen Teil seiner realen Zeit abtreten<br />
muß, um die Geldmenge (den Lohn) zu erwerben, mit der er seinerseits<br />
erst in den Tauschverkehr eintreten kann (während der andere bereits durch<br />
Kreditgeld darin eintritt). Auf diese Weise begreift man wohl recht gut,<br />
warum es im Kapitalismus allein darum geht, Zeit zu gewinnen („gagner du<br />
142 Die Dimension „Raum“ sei im Folgenden nicht explizit aufgenommen, da sie auch in<br />
der Argumentation nicht erörtert wurde. Die ökonomische Überlagerung, eine Art<br />
von „Versiegelung“, ist nicht nur in Bezug auf den ökologischen Raum, sondern auch<br />
auf den sozialen Raum allenthalben offensichtlich.<br />
143 Lyotard, J.-F. (1985): Immaterialität und Postmoderne, Berlin, S. 49.<br />
144 Lyotard (1985: 50).<br />
65
66<br />
temps“). Man begreift, was es heißt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen<br />
(„gagner sa vie“), nämlich seine reale gegen potentielle Zeit zu tauschen. Man<br />
begreift die allgemeine Beschleunigung der Rhythmen, nicht nur bei der<br />
Arbeit, sondern auch beim Transport, beim Informationsfluß und im Alltagsleben.“<br />
145<br />
Hier wird deutlich, in welcher Weise die Zeit nicht nur „natürlich“ mit unserem<br />
Leben und unserer Lebenszeit zusammenhängt, sondern wie die Zeit<br />
vor dem Hintergrund des kapitalistischen Profitstrebens bzw. - neutral formuliert<br />
- vor dem Hintergrund der ökonomischen Umdeutung und Besetzung<br />
auch dieser Dimension aufgeladen wird. Die ökonomische Besetzung<br />
der Zeit lässt selbige nicht fortlaufend laufen, sondern rennen, rasen und<br />
nicht rasten. Nicht die „traditionelle“ physische Entgrenzung des Wirtschaftens,<br />
sondern die Grenzenlosigkeit der individuellen Eigentumsvermehrung,<br />
die Entgrenzung des „genug“ zum „je mehr, desto besser“ führt<br />
den Einzelnen unweigerlich dazu, die eigene zeitliche Kontingenz nicht zu<br />
akzeptieren und lebens-lang (!) dagegen anzukämpfen. Wulf bezeichnet dies<br />
als die „Konzentration auf den Gewinn an Zeit“. 146 Dieses Ankämpfen kann<br />
kompensiert werden, wenn die eigene zeitliche Kontingenz beherrscht wird.<br />
Dies führt nicht zu ihrer Auflösung, doch ist sie unter Kontrolle, so die<br />
postmoderne Interpretation.<br />
„(...) eine Moderne, die sich um die Beherrschung des Raumes drehte, geht<br />
damit allmählich über in eine Postmoderne, die von der Beherrschung der<br />
Zeit besessen ist.“ 147<br />
145 Lyotard (1985: 51).<br />
146 Wulf, C. (1987): Lebenszeit – Zeit zu leben? Chronokratie versus Pluralität der Zeiten,<br />
in: Kamper, D./Wulf, C. (Hrsg.), Die sterbende Zeit: 20 Diagnosen, Darmstadt/Neuwied,<br />
S. 266-275, hier S. 268. Ein breites Spektrum an Zeitdiagnosen, die sich unter<br />
anderem auch mit der Lebenszeit, mit dem Verhältnis des Einzelnen zu der ihm zur<br />
Verfügung stehenden Zeit beschäftigen, haben Kamper/Wulf (1987) zusammengetragen.<br />
„Bereits in der neuzeitlichen Leitidee des Fortschritts soll mit Hilfe des Fortschreitens<br />
der Mangel an Zeit kompensiert werden. Je schneller sich die Menschheit<br />
voranbewegt, desto mehr hofft sie, mit dem stark gewachsenen Zeitbedarf fertig zu<br />
werden. Während der Aufklärung gewinnt das Bewußtsein Raum, verspätet in die<br />
Welt einzutreten und daher sich eilen zu müssen, um die verlorene Zeit wieder gutzumachen.<br />
Die Beschleunigung der Zeit wird an die Verspätung der Vernunft und an<br />
ihren historischen Auftrag gebunden, den Menschen in eine bessere Welt zu führen.<br />
Der Zivilisationsprozeß erscheint als Mittel zu diesem Zweck, in dem die Zeit die entscheidende<br />
Rolle spielt. Konzentration auf den Gewinn an Zeit.“ (Wulf 1987: 268).<br />
147 Lyotard (1985: 51).
Wie bereits in der Analyse der ökonomischen Rationalität aufgezeigt wurde,<br />
ist die Verbindung von Arbeit und Zeit immanent, vor allem, da Zeit die<br />
Maßeinheit ist, in der die Arbeit entlohnt wird. 148<br />
Nach Gorz ist die Autonomie des Subjekts auf dieser Eskalationsstufe dadurch<br />
zu erreichen, dass „Einsparungen an Arbeitszeit als Freisetzung von<br />
Zeit“ angesehen wird, „dank derer sich die sozialen Individuen von den im<br />
Kapital verkörperten Zwängen der ökonomischen Rationalität (...) emanzipieren<br />
sollten“. 149 Dies bedeutet nach Gorz, die Erwerbsarbeit nicht abzuschaffen,<br />
sondern ihr „eine begrenzte und subalterne Funktion in der Entwicklung<br />
der Gesellschaft“ 150 zuzuweisen.<br />
„Der ökonomische Apparat läßt wachsende Zeitflächen im Leben jedes Individuums<br />
und vor allem der Gesamtheit der Individuen vakant. Aber damit<br />
diese Zeit nicht als befreite, jeder Herrschaft entzogene Zeit erscheint, setzt<br />
der Apparat alles ins Werk, um sie zu rekolonialisieren, zu monetarisieren, sie<br />
zu kommodifizieren, sie in warenförmige Freizeit, d. h. in Warenkonsumtion<br />
ohne ökonomische Rationalität und ohne Autonomie, umzuwandeln.“ 151<br />
Gorz plädiert hier für einen Prozess, der zu initiieren ist, von jedem Einzelnen<br />
und vom Gesamten, und den er als „Wiederaneignung der Zeit“ be-<br />
schreibt. 152<br />
Lyotard geht noch einen Schritt weiter. Er kann durch die Verbindung von<br />
Informationen und Wissen mit Sprache aufzeigen, dass sich die kapitalistische<br />
Besitznahme von ehemals Raum und Zeit nun auch auf die Sprache<br />
148 „Alle Ökonomie – so hat Karl Marx prophezeit – werde schließlich Ökonomie der<br />
Zeit. Dies war nicht nur in dem Sinne gemeint, daß es um die Verkürzung der<br />
Arbeitszeit gehen soll, sondern um eine ökonomische Zeitregie, um eine „Ordnung“<br />
der Zeiten, deren Gesetzmäßigkeiten als rationale rekonstruierbar sein müßten.“<br />
(Kamper, D. (1987): Zeitopfer: Vom ewigen Kalender zum Alltag der Termine, in:<br />
Kamper/Wulf (1987), S. 259-265, hier S. 259).<br />
149 Gorz (1998: VIII; Hervorhebungen im Original). So auch Teriet, der die persönliche<br />
Autonomie, die „flexible Lebensplanung“ mit dem Begriff der Zeitsouveränität in Verbindung<br />
bringt. Vgl. Teriet, B. (1979): Zeitsouveränität für eine flexible Lebensplanung,<br />
in: Huber, J. (Hrsg.), Anders arbeiten - anders wirtschaften, Frankfurt,<br />
S. 150-157, zitiert nach Ulrich (1993: 462).<br />
150 Gorz (1998: IX).<br />
151 Gorz (1998: X; Hervorhebungen im Original).<br />
152 Gorz (1998: X). In dieser durch die Ökonomie rationalisierten Lebenswelt wird auch<br />
das Ende des irdischen Lebens, der Tod, in gewissem Grade zum Selbstmord, welcher<br />
zu verhindern gewesen wäre, „(...) wenn man mehr Ressourcen in die Lebensverlängerung<br />
investiert hätte.“ (Becker, G.S. (1982): Der ökonomische Ansatz zur Erklärung<br />
menschlichen Verhaltens, Tübingen, S. 9).<br />
67
wirksam ausdehnt. Dies stellt eine signifikante Eskalation dar: Während die<br />
vorherigen <strong>St</strong>ufen über die äußeren Bedingungen auch die inneren Bedingungen<br />
des Menschen bestimmt hatten, so greift die <strong>St</strong>ufe der Sprachbesetzung<br />
die inneren Bedingungen, die menschlichen Bestimmungen direkt an.<br />
Sprache ist elementarer Bestandteil des Menschen und seiner Sozialität. 153<br />
Sprache, und das bedeutet Denken, Konstruieren, Kombinieren und Reproduzieren,<br />
wird zum „Objekt kapitalistischer Investition“ 154.<br />
Auf die Frage, was die ökonomische Aneignung der Sprache bedeutet und<br />
wie sich dies von der kapitalistischen Aneignung der Arbeit unterscheidet,<br />
antwortet Lyotard u. a.:<br />
68<br />
„Bislang ist die Sprache ausserhalb der Warenzirkulation geblieben, als<br />
„natürliche Sprache“ des Alltags und als Sprache der Bildung, die in Lehrund<br />
Kultureinrichtungen erlernt wurde. Diese gebildete Sprache diente zur<br />
Professionalisierung des Wissens, aber auch zur Formierung politischer<br />
Macht (das Redenhalten bei Versammlungen z. B.). Die Vermarktung der<br />
Sprache ändert diese Situation grundlegend. Die „Bildungskrise“ auf allen<br />
Ebenen und in allen „industrialisierten“ Ländern beispielsweise, die Entprofessionalisierung<br />
der Lehre und die sichtlichen Veränderungen in den natürlichen<br />
Sprachen („basic Englisch“, Idiome der Medien etc.) – all das sind<br />
Symptome für diese Veränderung.“ 155<br />
Dabei wird, insbesondere im ökonomischen Fokus auf die Nutzung der<br />
Sprache, leicht die Heterogenität der Satzordnungen übersehen.<br />
„(...) die Sprache ist nicht einheitlich und homogen; es gibt Satzordnungen<br />
und –arten, die gerade nicht ineinander übersetzbar sind; und der <strong>St</strong>reit, der<br />
aus dieser Heterogenität entsteht, muß respektiert und angehört, erwartet und<br />
ausgebildet werden. Er bildet die Basis des Widerstands gegen eine „kommunikative“<br />
Verflachung und Vereinheitlichung.“ 156<br />
Wenn also die Ökonomie in ihrem Pragmatismus mit Sprache „arbeiten“<br />
möchte, so ist auch diese zur Ware umzudeuten; nur dies sichert eine ökonomische<br />
Handhabbarkeit. 157<br />
153 Der Mensch ist wesentlich ein „Sprachtier“ (Ulrich 1998: 78). Vgl. zu dem kulturanthropologischen<br />
Bedeutungsrahmen Ulrich (1993: 31ff.).<br />
154 Lyotard (1985: 48).<br />
155 Ebenda.<br />
156 Lyotard (1985: 49).<br />
157 Vgl. zu den Folgen einer „Invasion von Tauschbeziehungen und bürokratischen Regelungen<br />
in die kommunikativen Kernbereiche der privaten und öffentlichen Sphären
Dieser Prozess zu einer Marktkompatibilität zieht jedoch auch konkrete<br />
Auswirkungen für die Sprache selbst, nun als Gegenstand der Ökonomie,<br />
nach sich. Mit der Umdeutung der Sprache als Ware geht eine „pragmatische“<br />
sprachliche <strong>St</strong>andardisierung einher; Sprache an sich ist zu heterogen<br />
für den Markt, vielleicht sogar in ihren (Sprach-)Formen inkommensurabel.<br />
Wenn sie sich jedoch vereinheitlichen ließe, so „taugt“ sie auch als Massenprodukt,<br />
als Massenware und kann die erforderlichen „<strong>St</strong>ückzahlen“ aufweisen,<br />
die das Geschäft mit ihr rentabel machen. Eine ihr, aus dem Heterogenitätsbefund<br />
resultierende und in der Wissenschaft zugesprochene Pluralität<br />
und damit auch Komplexität, wirkt aus Sicht der Ökonomie, wenn auch<br />
nicht zwingend kontraproduktiv, so zumindest doch sehr kostenintensiv.<br />
„Verflachung und Vereinheitlichung“ ist ökonomisch geboten und global<br />
bereits reality ...<br />
Die Ware Sprache als „Information und Wissen“ tritt von Beginn an „mit der<br />
idealen Aussicht auf die größtmögliche Geschwindigkeit, diejenige der Photonen,<br />
der Lichtquanten“ auf und hat damit in einer Zeit der rastlosen Zeit<br />
beste Erfolgschancen. 158<br />
Horkheimer äußert sich im Hinblick auf die Ökonomisierung der Sprache<br />
wie folgt:<br />
„Die Sprache ist im gigantischen Produktionsapparat der modernen Gesellschaft<br />
zu einem Werkzeug unter anderen reduziert. Jeder Satz, der kein Äquivalent<br />
einer Operation in diesem Apparat ist, erscheint dem Laien als ebenso<br />
bedeutungslos, wie er den heutigen Semantikern zufolge sein soll, nach denen<br />
der rein symbolische und operationelle, das heißt völlig sinnlose Satz einen<br />
Sinn ergibt. Bedeutung wird verdrängt durch Funktion oder Effekt in der<br />
Welt der Dinge und Ereignisse.“ 159<br />
In Horkheimers Ausführungen wird deutlich, dass dieser Vorwurf der völligen<br />
Instrumentalisierung der Sprache mehr noch die Relativisten, also die<br />
beginnende (radikale) Postmoderne trifft, als nur die Ökonomie, wie dies<br />
tendenziell bei Lyotard geschieht. Gleich ist beiden Deutungen die Charakterisierung<br />
des Befunds und der implizite Verweis auf die Bedeutung von<br />
Sprache, die über Zeit und Raum hinausgeht. Bei Horkheimer ist die Be-<br />
der Lebenswelt“ (Habermas 1998: 228) auch Honneth, A./Archard, D. [Hrsg.] (1994):<br />
Pathologien des Sozialen: Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt. Vgl.<br />
Habermas, J. (1998): Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt.<br />
158 Vgl. hierzu Lyotard (1985: 49ff.).<br />
159 Horkheimer (1967: 31).<br />
69
mächtigung der Sprache im Rahmen seiner Kritik der instrumentellen Vernunft<br />
eine neben vielen anderen Instrumentalisierungen. 160 Die instrumentelle<br />
Vernunft erkennt keine Wahrheit an sich an, „Wahrheit ist kein Selbstzweck“<br />
161 und so wird auch Sprache als Vollzugsmedium der praktischen<br />
Vernunft vereinnahmt für die individuellen Zwecke der Menschen. 162<br />
3.4 Ein tabellarisches Fazit<br />
Ziel der einleitenden Kapitels war es, aufzuzeigen<br />
� was ökonomische Rationalität ist,<br />
� wie ökonomische Rationalität sich in der und zu der Aktualität verhält<br />
und<br />
� welche Wirkungen ökonomische Rationalität in der Lebenswelt hat.<br />
Festgestellt worden ist, dass<br />
� die ökonomische Rationalität in Form und Methode spezifische Bestimmungen<br />
(Rechnerisches Kalkül, Quantifizierung) und Charakteristika (entgrenztes<br />
Handeln) aufweist,<br />
160 Zur gleichen Zeit legt auch Marcuse seine „<strong>St</strong>udien zur Ideologie der fortgeschrittenen<br />
Industriegesellschaft“ vor. Auch er beschreibt die Vereinnahmung der Sprache:<br />
„Dieser <strong>St</strong>il [Abkürzungen und Bindestrich-Begriffe; T.B.] ist von einer überwältigenden<br />
Konkretheit. Das „mit seiner Funktion identifizierte Ding“ ist realer als das von<br />
seiner Funktion unterschiedene, und der sprachliche Ausdruck dieser Identifikation<br />
(im funktionalen Substantiv und in den vielen Formen syntaktischer Abkürzung)<br />
schafft ein grundlegendes Vokabular und eine Syntax, die eine Differenzierung,<br />
Trennung und Unterscheidung im Wege stehen. Diese Sprache, die den Menschen<br />
unausgesetzt Bilder aufnötigt, widersetzt sich der Entwicklung und dem Ausdruck<br />
von Begriffen. In ihrer Unmittelbarkeit und Direktheit behindert sie begriffliches<br />
Denken und damit das Denken selbst.“ (Marcuse, H. (1967): Der eindimensionale<br />
Mensch. <strong>St</strong>udien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied/<br />
Berlin, S. 114; Hervorhebungen im Original).<br />
161 Horkheimer (1967: 31).<br />
162 Dieser Bezug kann an dieser <strong>St</strong>elle nicht vertieft werden. Eine Ahnung, von welcher<br />
lebensweltlichen Tragweite die ökonomische Aneignung der Sprache sein kann, vermittelt<br />
der Vergleich, den Horkheimer zwischen Philosophie und Faschismus in Bezug<br />
auf den Umgang mit Sprache anstellt: „Darin besteht der fundamentale und wesentliche<br />
Antagonismus zwischen Philosophie und Faschismus. Der Faschismus behandelte<br />
die Sprache als Machtinstrument, als Mittel, Kenntnisse aufzustapeln zum<br />
Gebrauch für Produktion und Destruktion, im Kriege wie im Frieden. (...) Die Philosophie<br />
ist mit der Kunst darin einig, daß sie vermittels der Sprache das Leiden reflektiert<br />
und es damit in die Sphäre der Erfahrung und Erinnerung überführt.“ (Horkheimer<br />
1967: 167).<br />
70
� in der Aktualität diesen Bestimmungen und Charakteristika Vorschub<br />
geleistet wird, welches zu intensiveren Verflechtungen zwischen Lebensund<br />
Arbeitswelt führt und<br />
� diese Verflechtungen aufgrund der Dominanz der ökonomischen Rationalität<br />
zu materialen Konsequenzen in der Lebenswelt führen.<br />
Dieser Befund stellt die wissenschaftliche Reflexion im weiteren Vorgehen<br />
vor unterschiedliche Alternativen der Handhabung. Es könnten Überlegungen<br />
angestellt werden, inwieweit die Möglichkeit besteht, dass<br />
� Lebens- und Arbeitswelt wieder stufenweise entflochten werden (Doch:<br />
Ist dies umsetzbar, würde dies die negativen Implikationen zu kompensieren<br />
helfen, würde dies die Ursache der Konflikte betreffen bzw. ist dies<br />
überhaupt wünschenswert?),<br />
� das einzelne Individuum sensibilisiert und befähigt wird, mit den ökonomischen<br />
Verkürzungen umzugehen. (Doch: Ist damit der Einzelne nicht<br />
systematisch überfordert, sind nicht eher Lösungen auf Ebene der Rahmenbedingungen<br />
notwendig bzw. komplementär zu initiieren?) und<br />
� die ökonomische Rationalität sich weiterentwickelt bzw. weiterentwickelt<br />
wird, die in Richtung einer Öffnung des Systems Ökonomie wirkt und damit<br />
Anschlussfähigkeit generiert. 163<br />
Im Kern stellt diese dritte Alternative den Ansatz der hier entwickelten<br />
Argumentation dar. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit die anderen<br />
beiden Alternativen in ihrer Relevanz oder ihrem Potential abgewertet seien;<br />
sie werden in die folgende Argumentation mit einfließen. Die hier entwikkelte<br />
wirtschaftsethische Perspektive wird aufzeigen, inwieweit und auf welche<br />
Weise es möglich ist, diese dritte Alternative zu verfolgen.<br />
Die Kompensation der aus dieser Gegenüberstellung auftretenden Defizite<br />
kann, nach der hier vertretenen Meinung, nicht innerhalb der ökonomischen<br />
Rationalität gelöst werden, sondern setzt eine Transzendierung ihrer Grenzen<br />
bzw. eine Transzendierung ihrer Fähigkeiten voraus. Diese Fähigkeiten<br />
bestehen im Kern in der Entwicklung einer strukturellen und inhaltlichen<br />
Anschlussfähigkeit zu genuin außerhalb der Ökonomie angelegten Inhalten;<br />
163 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, dass diese Alternativenaufzählung<br />
keine Vollständigkeit beansprucht, sondern lediglich dazu dienen soll, die<br />
hier verfolgte inhaltliche Intention zu verdeutlichen.<br />
71
diese Fähigkeiten sind Voraussetzung einer transversalen <strong>St</strong>ruktur, welche<br />
wiederum Zugang zum Gesamtzusammenhang hat.<br />
4 Methodische Implikationen für das weitere Vorgehen<br />
In diesem ersten Kapitel ist eine zentrale inhaltliche, aber auch methodische<br />
Bestimmung zum Tragen gekommen, die in der Differenzierung von System<br />
und Lebenswelt besteht. Diese Differenzierung ergibt sich aus den Befunden<br />
bezüglich der ökonomischen Rationalität und ihrer Verselbständigung im<br />
Laufe der Ausdifferenzierung in der Moderne. Aus dieser Differenzierung<br />
ergibt sich vor dem Hintergrund einer Vernunft-Konzeption und ihrem Bezug<br />
zum Gesamten zudem eine Notwendigkeit, die durch den Begriff der<br />
„Übersetzung“ beschrieben werden kann. Dieser Übersetzung zwischen den<br />
ausdifferenzierten Teilen wird hier der Charakter des Transversalen anhand<br />
der Welsch’schen Vernunft-Konzeption gegenübergestellt. Diese beiden<br />
methodischen Bestimmungen werden im Folgenden nochmals explizit aufgenommen<br />
und zusammenfassend erläutert, da sie den methodischen Kern<br />
der Argumentation darstellen.<br />
4.1 System und Lebenswelt<br />
In der hier dargestellten und phänomenologisch rekonstruierten ökonomischen<br />
Rationalität stellt die Differenz zwischen System und Lebenswelt eine<br />
methodisch-analytische und phänomenologische („essentialistische“) Hauptbestimmung<br />
dar. 164 Sie wird hier als theoretische Differenz verstanden; die<br />
164 Es soll an dieser <strong>St</strong>elle die System-Lebenswelt-Debatte nicht ausführlicher dargelegt<br />
werden. Die hier vertretene Auffassung von der Entkoppelung von System und<br />
Lebenswelt geht im Wesentlichen zurück auf Habermas, J. (1981b): Theorie des<br />
kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft,<br />
Frankfurt, S. 192ff. und S. 229ff. Einen Überblick verschaffen die Darstellungen bei<br />
Ulrich (1993: 68ff.) und die tabellarische Gegenüberstellung von Lebenswelt und ökonomischem<br />
System bei Ulrich (1998: 146). Zu der phänomenologischen Rekonstruktion<br />
von Lebenswelt vgl. Schütz, A./Luckmann, Th. (1975): <strong>St</strong>rukturen der Lebenswelt,<br />
Neuwied/Darmstadt, aber auch Waldenfels, B. (1985): In den Netzen der<br />
Lebenswelt, Frankfurt. Waldenfels tritt der verschwindenden Metaphysik mit einer<br />
„Genealogie der Normen“ entgegen, „die sich nicht nur als „Genealogie der Logik“ darstellt,<br />
sondern ebenso als „Genealogie der Moral“ auftritt, wie immer diese auch aussehen<br />
mag.“ (Waldenfels 1985: 131; Hervorhebungen im Original). Methodisch bewegt<br />
sich Waldenfels damit „auf den Spuren einer genetischen Phänomenologie“<br />
72
tatsächliche, praktische Beschaffenheit der Lebenswirklichkeit ist durch den<br />
Befund der Verflechtung von System und Lebenswelt geprägt. In der<br />
gleichzeitigen Differenz und Verflechtung von System und Lebenswelt<br />
kommt das den hier rekonstruierten Bezugsrahmen bestimmende Spannungsfeld<br />
zum Ausdruck. Dabei können sich Differenz und Verflechtung auf<br />
ihre Weise legitimieren. Der Differenz, als Produkt des Rationalisierungsprozesses<br />
der Moderne verstanden, liegt die Intentionalität des Fortschrittsgedankens<br />
zugrunde, während die phänomenologische Verflechtung einen<br />
„passierten“ Zustand beschreibt. 165<br />
Das aktuelle Spannungsfeld ergibt sich aus einer spezifischen Form der Differenz<br />
und aus der daraus resultierenden Verzerrung der Verflechtung.<br />
Die spezifische Form der Differenz bedeutet in diesem Zusammenhang das<br />
Überziehen der Differenz hin zu einer Entkoppelung der vormals auch<br />
lebenswirklich komplementären Teile. Diese Abspaltung und Autonomisierung<br />
eliminiert die Differenzierung selbst, da die Grundlage der Vergleichbarkeit<br />
erodiert. Hier ist es das System, welches eigendynamisch und<br />
eigengesetzlich sich seine eigenen Bedingungen schafft, den ihr immanenten<br />
Verweis auf Lebensweltlichkeit abzustreifen sucht.<br />
Die Rationalisierungsprozesse kommen im System in der funktionalen Komplexitätssteigerung<br />
zum Ausdruck. In der Lebenswelt dagegen drückt sich<br />
eine Rationalisierung in der Entwicklung der kommunikativen Fähigkeiten<br />
aus, in der Entfaltung der rationalen Potentiale kommunikativen Handelns.<br />
(Waldenfels 1985: 131), die sich auch von der Habermasschen Position abhebt:<br />
„Habermas sucht also eine Rettung des „Projekts der Moderne“ in einer ausdifferenzierten,<br />
formalisierten, posttraditionalen Vernunft, die „formale Bedingungen eines<br />
vernünftigen Lebens“ bereitstellt, und darüber hinaus den materialen Entwürfen<br />
eines „guten Lebens“ freien Lauf läßt. Die Vernunft zieht sich zurück auf ein Minimalprogramm;<br />
durch diesen Selbstverzicht hält sie sich Positivität, Kontingenz und<br />
Machtkonflikte vom Leibe.“ (Waldenfels 1985: 121). In der Diskussion um die Konzeption<br />
von Welsch und deren Hauptbestimmungen wird deutlich werden, dass<br />
diese Habermassche Vorsicht der Welsch’schen postmodernen Vorsicht zu gleichen<br />
scheint. In der hier entwickelten Diskussion werden die genealogischen Ansätze mit<br />
den „vorsichtigen“ Ansätzen verbunden. Auch wenn der Inhalt einer Vernunft stark<br />
reduziert sein mag, so heißt dies noch lange nicht, dass sich auch deren inhaltliche<br />
Begründung ändert - sie wirkt nur anders auf ihre Methoden und Gegenstände. Vgl.<br />
zu den Bestimmungen bei Welsch Abschn. 7.2.<br />
165 In gewisser Weise ist bereits in diesem Bezug eine qualitative Differenz zwischen den<br />
Befunden zu identifizieren. Reale Lebenswirklichkeit ist immer schon verflochten,<br />
unabhängig von ihren Elementen. Eine Differenz kann sich nur innerhalb dieser Verflochtenheit<br />
entwickeln. Die lebenswirklich wirksame Differenz bedarf der permanenten<br />
systemischen Reproduktion.<br />
73
Hierbei werden die lebensweltlichen Bezüge, der nicht vollständig hintergehbare<br />
Hintergrund lebensweltlichen Handelns166, soweit wie möglich in<br />
eine kritische Selbstreflexion einbezogen. Der Einzug von Rationalisierungsprozessen<br />
in die lebensweltlichen Bezüge geht einher mit der Disposition<br />
überwiegend unreflektierter Sinnbezüge.<br />
74<br />
„Die kommunikative Rationalisierung der Lebenswelt entlässt die Individuen<br />
zwar aus konventionellen (zugeschriebenen) Konsensverpflichtungen, nimmt<br />
sie aber sozusagen erneut in die Pflicht der kollektiven Anstrengung der praktischen,<br />
kommunikativen Vernunft, wenn die Sozialintegration soweit erhalten<br />
werden soll, dass ein friedliches, gutes Zusammenleben möglich ist.“ 167<br />
Die lebensweltliche Rationalisierung konstituiert eine sozial integrative Wirkung.<br />
Eine kollektive Öffnung gegenüber einer kritischen diskursiven Auseinandersetzung<br />
über konventionell tradierte Lebensinhalte sichert die<br />
„kommunikative Überlebensfähigkeit“ dieser Inhalte. Konstitutive Parameter<br />
der Lebensweltlichkeit, welche nicht zur Diskussion gestellt werden<br />
können, laufen im Zuge der Rationalisierung der Lebenswelt Gefahr, ihre<br />
gemeinschaftliche Unterstützung zu verlieren. Sie verlieren latent ihr<br />
„Konsens-Potential“. Annahme dieser Überlegungen bleibt, dass zu einer<br />
nachhaltig gelingenden Tradierung lebensweltlicher Bezüge eine prinzipielle<br />
Öffnung gegenüber Rationalisierungsprozessen notwendig ist. Die Forderung<br />
einer totalen Infragestellung durch die lebensweltlichen Akteure kommt<br />
hierbei dem Wesen der Lebensweltlichkeit nicht nahe: „Im Ganzen steht uns<br />
dieser Traditionshintergrund niemals zur Disposition“. 168 Die grundsätzliche<br />
Nicht-Reflektierbarkeit erweist sich damit als graduelle Konzeption, welche<br />
jedoch von den Akteuren nie vollständig beschritten werden kann. Die<br />
grundsätzliche Offenheit gegenüber Reflexion ist Überlebensvoraussetzung<br />
einer Gesellschaftsordnung, die totale Offenheit im Sinne einer totalen<br />
Umkehrung hingegen ist überlebensverhindernd. Die Frage nach dem<br />
adäquaten Reflexionsgrad des Traditionshintergrundes scheint im Ermessen<br />
der Akteure zu liegen und wird zwischen den Generationen immer wieder<br />
166 Habermas spricht in diesem Zusammenhang von implizitem Wissen, Waldenfels (1985:<br />
194ff.) verbindet dies mit dem Begriff der „Heimat“. Zu einer Übersicht vergleiche<br />
auch Kirsch (1992: 60ff.). Vgl. Habermas, J. (1984): Vorstudien und Ergänzungen zur<br />
Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt, S. 584.<br />
167 Ulrich (1993: 72).<br />
168 Ulrich (1993: 73; Hervorhebungen im Original).
neu ausgehandelt. Die tatsächliche Gestalt des Aushandlungsprozesses ist<br />
dabei im bedeutenden Maße von dem historischen Kontext abhängig.<br />
Die phänomenologische Verflochtenheit von System und Lebenswelt ermöglicht<br />
darüber hinausgehende „Verbindungen“, die Habermas als „Kolonialisierung<br />
der Lebenswelt“ 169 bezeichnet hat. Das Systemische breitet sich<br />
in der Lebenswelt aus und überlagert diese, so dass Funktionen in der<br />
Lebenswelt verloren gehen. 170 Das nach der Entkoppelung „passierende“<br />
Aufeinandertreffen von System und Lebenswelt scheint sich einer gemeinsamen<br />
und gleichberechtigten Gestaltung zu entziehen. Der kooperative<br />
phänomenologisch-passierende Verflechtungsbefund von System und Lebenswelt<br />
erodiert zum Wettbewerb und läuft auf eine entweder-oder Entscheidung<br />
hinaus, da die Entkoppelung zu einer derartigen Differenz in den<br />
Tiefenstrukturen geführt hat.<br />
Es ist deutlich geworden, dass die ökonomische Rationalität als Systemrationalität<br />
immer schon der Lebenswelt in einem idealisierten systemtheoretischen<br />
Differenzierungsmuster als Gegenüber positioniert gesehen wird. Aus<br />
ihr heraus entwickelt, behauptet sich die systemische Rationalität als eigenständiger<br />
Methodenraum. Die eine Trennung provozierende, systemische<br />
Eigenständigkeit erscheint wie eine Emanzipation von dem, was die eigentliche<br />
Grundlage auch der Ökonomie darstellt. Emanzipation von der Lebenswelt<br />
nicht nur methodisch, sondern vor allem auch normativ, erscheint,<br />
als entzöge sich das System seiner eigenen Grundlage. Diese Abkoppelung<br />
kann nur auf Grundlage lebensweltlicher Unterstützung passieren, denn sie<br />
stellt die phänomenologische Referenz dar. Die Lebenswelt stellt den umfassenderen<br />
Rahmen im Vergleich zum System dar. Das System kann nur als<br />
„derivative Lebenswelt“, als Ableitung der Lebenswelt verstanden werden –<br />
zumindest in der Entstehung. Eine Entkoppelung kann zwar angestrebt und<br />
sogar auch gelebt werden, doch sie blendet die lebenspraktische Begründung<br />
einer jeden menschlichen Tätigkeit aus, reduktioniert. 171 Das System erhebt<br />
seinen funktionalen Fortschritt zum Selbstzweck. Der Selbstzweck der öko-<br />
169 Habermas (1981b: 293).<br />
170 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Ulrich (1993: 84ff.).<br />
171 So äußert sich auch Hinder in Bezug auf die Unternehmung. Die „Lebenswelt“ der<br />
Unternehmung ist „immer noch auf eine komplementäre Alimentierung durch eine<br />
originäre Lebenswelt angewiesen (...), die in die alltäglichen Lebensformen der privaten<br />
Lebenswelt eingebettet ist.“ (Hinder, W. (1986): <strong>St</strong>rategische Unternehmensführung<br />
in der <strong>St</strong>agnation: <strong>St</strong>rategische Programme, unternehmenspolitischer Rahmen<br />
und kulturelle Transformation, München, S. 307).<br />
75
nomischen Rationalität erschöpft sich in der Effektivität und Effizienz ihrer<br />
Methoden. Sie verliert den Bezug ihrer lebensweltlichen Zwecksetzung und<br />
damit auch die Sensibilisierung für die Notwendigkeit einer Übersetzung<br />
überhaupt. Die Motivation einer Rückbindung kann anscheinend von der<br />
Ökonomie nicht mehr erwartet werden, da sie die Motivationsgrundlage<br />
„wegrationalisiert“ hat. Der Übersetzungsimpuls ist von anderer <strong>St</strong>elle zu<br />
generieren.<br />
4.2 Übersetzungsleistungen - eine wirtschaftsethische Grundsatzentscheidung<br />
Es ist deutlich geworden, dass eine Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität<br />
Übersetzungsleistungen zwischen System und Lebenswelt erfordert.<br />
Die ökonomische Rationalität scheint hierbei einen reduzierten Abbildungsraum<br />
aufzuweisen. Zum Ausdruck kommt dies, wenn man sich den<br />
Umstand vergegenwärtigt, dass die Ökonomie auf die Quantifizierung von<br />
Inhalten angewiesen ist. Wirtschaftliche Transaktionen bedürfen eines<br />
gewissen Abstraktionsgrades, um ihre Verfahren umsetzen zu können.<br />
Müller macht diese sprachliche Transformation in ihren Dimensionen<br />
deutlich:<br />
76<br />
„Im Netzwerk industrialer Technizität begegnet in gleichermaßen markantem<br />
wie vielfach differentem Sinne, was generell als „Transformations“-, „Übertragungs“-<br />
und „Übersetzungsleistung“ bezeichnet werden kann. Dies gilt<br />
vorab für distinkt sprachliche Übersetzungsvorgänge - die technisch industrielle<br />
Realität fordert in ihrer Kommunikations- wie Funktionsfähigkeit die<br />
ständige Übertragung in sogenannte „Weltsprachen“ als selbstverständliche<br />
Alltagspraxis. Neben dem Transfer in die geltenden Welt- und Einheitssprachen,<br />
deren Artikulations-, Mitteilungs-, Verstehens- und Verständigungsmöglichkeiten,<br />
ihre Bezeichnungs-, Bedeutungs- und Sinnmöglichkeiten<br />
erfolgt „Übersetzung“ auch als „Übertragung“ in die sogenannte „Sprache“<br />
von Datenverarbeitungssystemen, also in Codes und Codierungsformen der<br />
Informationselektronik. Die Typik solcher Übertragung scheint sich als Leitmodell<br />
für „Übersetzung“ unter Bedingungen industrial-technischer Einheit<br />
zu installieren.“ 172<br />
172 Müller, S. (1994): Einheit des Menschen und Pluralität der Kulturen. Oder: Humane<br />
Identität als Übersetzung, in: Honnefelder, L. (Hrsg.), Die Einheit des Menschen: Zur<br />
Grundlage der philosophischen Anthropologie, Paderborn u. a., S. 121-140, hier<br />
S. 125f.
Bei Müller wird insbesondere deutlich, dass die „technologische Sprache“<br />
globale Dimensionen durch ihre Allgemeinverständlichkeit erreicht. Diese<br />
Universalität geht jedoch mit einer Reduktion einher, die hier einer kritischen<br />
Reflexion zugeführt sei. Wenn nämlich die ökonomisch-technische<br />
Methode eine (sprachliche) Abstraktion verlangt, die nach Anwendung der<br />
Methode inhaltlich nicht wieder rückgebunden wird an ihren ursprünglichen<br />
Ausgangspunkt, dann hat die Methode inhaltliche Auswirkungen auf<br />
ihren behandelten Gegenstand. So äußert sich auch Müller:<br />
„Zugleich scheint unübersehbar, daß die Einheitsform industrialer Technizität<br />
in jenen Umsetzungsprozessen auch anthropologische Rückwirkungen bedingt,<br />
also von sich her das Verständnis der genuin humanen Einheit<br />
prägt.“ 173<br />
Die Kernthese der folgenden Ausführungen lautet somit: Die Methode führt zu<br />
einer Überführung des Inhalts in eine Form, kann jedoch die Form nicht wieder<br />
adäquat in ihren genuinen Inhalt zurückführen. 174<br />
Die numerische Form stellt das „ökonomisch-formalistische Nadelöhr“ dar,<br />
durch das all diejenigen Inhalte hindurch müssen, die ökonomische Relevanz<br />
erlangen wollen. Dies kann zum einen zur Folge haben, dass spezifische<br />
Inhalte keine Berücksichtigung in der ökonomischen Kalkulation finden, da<br />
sie sich nicht oder nur schlecht in die numerische Form überführen und in<br />
dieser darstellen lassen. Zum anderen kann es aber auch dazu führen, dass<br />
komplexe Inhalte den Einzug in die numerische Form der Ökonomie durch<br />
starke inhaltliche Reduktion erkaufen müssen.<br />
Diese beiden möglichen Folgen ökonomisch-formaler Abstraktion lassen sich<br />
in Beziehung setzen zu der wirtschaftsethischen Fragestellung, wann, auf<br />
welche Weise und ob überhaupt eine Übersetzungsleistung zu vollziehen notwendig<br />
ist. Bezüglich der Frage des Zeitpunktes wäre im Blick auf die<br />
Komplexitätshandhabung denkbar, dass systemexterne Inhalte erst am Ende<br />
des Wirtschaftsprozesses in den ökonomischen Kontext „importiert“ werden.<br />
Diese Form findet jedoch aus unterschiedlichen Gründen von beiden<br />
173 Müller (1994: 126).<br />
174 Vor allem bei Arendt (2001) und Horkheimer (1967) zeigen sich deutliche Interpretationen,<br />
die in die gleiche Richtung weisen. Ob es die Sinnentleerung durch die<br />
Ökonomie ist oder die Instrumentalisierung der Vernunft, die der Formalisierung vor<br />
den Inhalten das Primat einräumt, die Resultate und Konsequenzen für die Gesellschaft<br />
und den Einzelnen sind dieselben.<br />
77
Seiten (Ökonomie und Wissenschaft) keine Zustimmung. 175 Auch kann der<br />
Ansatz verfolgt werden, die „systemische Sprache“ um die lebensweltliche<br />
Semantik zu erweitern, was jedoch die Leistung der Abstraktion (ihre Vorteile<br />
bezüglich der Praktikabilität) ad absurdum führen könnte. Ein dritter<br />
Weg wäre die Übersetzung „systemexterner“ Inhalte soweit wie möglich<br />
und zu Beginn des Prozesses, auch auf die Gefahr hin, dass man sich dem<br />
Vorwurf des Reduktionismus aussetzt.<br />
In der wirtschaftsethischen Debatte lassen sich - stark verkürzt – zwei Ansätze<br />
unterscheiden, die hier als pragmatischer und theoretischer Ansatz bezeichnet<br />
werden. Während die eine Seite die Rolle der Praktikabilität, die<br />
Besonderheiten der Funktionsweise des ökonomischen Systems und die<br />
Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung hervorhebt und für eine interdisziplinäre<br />
Pragmatik plädiert, so betreibt die andere Seite eine grundsätzliche<br />
Reflexion des ökonomischen Systems bezüglich seiner eigenen Be-Gründung<br />
im Gesamtkontext. Letztere ist im Bezug auf den <strong>St</strong>atus der Ökonomie ergebnisoffen<br />
und hat ihren Fokus eher auf der theoretischen Durchleuchtung<br />
der Tiefenstruktur, als auf der pragmatischen Implementierungsfrage. 176<br />
175 Diese explizite inhaltliche Rückbindung lässt sich in der unternehmerischen Prozessstruktur<br />
nur schwer umsetzen und würde aufgrund ihrer Komplexität im Tagesgeschäft<br />
wohl eher untergehen. Jedoch sprechen nicht nur ökonomische Praktikabilitätserwägungen<br />
dagegen: Werden in einem nach ökonomischer Methode ablaufenden<br />
Prozess spezifische Inhalte nicht „mittransportiert“, so scheint es zum Ende des<br />
Prozesses eher unwahrscheinlich, dass diese Inhalte in die rein ökonomischen<br />
Schlussfolgerungen integrierbar sind. Zum einen bleibt dabei der Einfluss des Inhalts<br />
auf die Methode unberücksichtigt (Hätte ein die systemexternen Inhalte mittransportierender<br />
(ökonomischer) Prozess nicht ganz anders ausgesehen?), zum anderen lassen<br />
sich schwerlich Inhalte „re-importieren“, die im Verlauf des Prozesses keine Berücksichtigung<br />
fanden. Sie sind in diesem Fall im Prozess selbst nicht „angelegt“, sie<br />
finden keine Anknüpfungspunkte. Ihr tatsächlicher Import könnte zu einer vollständigen<br />
Neuabwicklung des Prozesses führen - vorausgesetzt, hinter diesen systemexternen<br />
Inhalten stehen ausreichend Machtpromotoren (angelehnt an das Promotorenkonzept<br />
von Kirsch, und vorausgesetzt, dass erkannt wird, dass wesentliche Bestimmungen<br />
mit ökonomischer Relevanz nicht berücksichtigt wurden - von den Inhalten<br />
ohne direkte ökonomische Relevanz einmal abgesehen. Es zeigt sich, dass die Positionen<br />
sich nicht nur methodisch, sondern vor allem in ihrer qualitativen Differenz gegenüberstehen.<br />
Vgl. zum Promotorenkonzept Kirsch (1994: 233ff.).<br />
176 Die „pragmatische“ Position ist hier exemplarisch mit Karl Homann und Josef Wieland<br />
belegt. Der Terminus „pragmatisch“ mag insbesondere der philosophischen Position<br />
von Homann nicht gerecht werden. Jedoch sind beide Positionen insofern unter<br />
einen Begriff subsumierbar, als dass sie eine gemeinsame Zielsetzung (Wirtschafts-,<br />
Governance- bzw. philosophische Ethik mit ökonomischer Methode) aufweisen. Die<br />
Gegenposition, die „theoretische Position“, wird exemplarisch mit Peter Ulrich zitiert.<br />
Dies bedeutet nicht, dass die theoretische Position keine pragmatische Orientierung<br />
78
Beiden Seiten ist und bleibt die grundsätzliche Beschäftigung mit Übersetzungsleistungen<br />
gemeinsam, allein die Art und Weise der methodischen<br />
Umsetzung und damit auch deren theoretische Voraussetzungen und Konsequenzen<br />
differieren. Dabei versucht die theoretische Position die Übersetzung<br />
von innen heraus zu leisten, d. h. die ethischen Bestimmungen innerhalb<br />
der Ökonomie transparent zu machen, diese Bestimmungen von innen<br />
heraus aufzudecken und in den ökonomischen Prozessen stark zu machen.<br />
Die moralischen Bestimmungen sind, gemäß dieser Position, nie wirklich<br />
außerhalb des Systems gewesen. Die pragmatische Position hingegen sieht<br />
die moralischen Bestimmungen vornehmlich außerhalb des ökonomischen<br />
Systems. Die moralischen Bestimmungen werden von außen an das stark<br />
ausdifferenzierte, ökonomische System in Form moralischer Ansprüche herangetragen<br />
und innerhalb des Systems systemintern verarbeitet. Die Transformation<br />
in systemintern geltende Parameter stellt hierbei die Übersetzung<br />
dar. Das bedeutet, dass ethische Bestimmungen eine Umdeutung erfahren<br />
und in ökonomischer Form dargestellt werden. Auf diese Weise, so ihre<br />
Vertreter, kann sichergestellt werden, dass sich die Ethik überhaupt in<br />
irgendeiner Form - und nicht nur mittel- bis langfristig innerhalb der Ökonomie<br />
zeigt, anstatt in theoretischen Differenzierungen zu verharren.<br />
Der Fokus der „pragmatischen Position“ auf (ökonomische) Wirksamkeit<br />
„um jeden Preis“ scheint dabei selbst Ausfluss der im ökonomischen System<br />
etablierten Reduktion auf kurzfristigen Erfolg zu sein. Es scheint, als beuge<br />
sich hier die wissenschaftliche Methode dem ökonomischen Pragmatismus<br />
und wagt nicht seine Infragestellung. Homann bezeichnet dies in Anlehnung<br />
an Suchanek als pragmatische Reduktion, welche den Vorwurf des Reduktionismus<br />
von sich weist:<br />
„Wenn in diesem Forschungsprogramm Moral in terms of economics rekonstruiert<br />
wird („Übersetzung“), dann handelt es sich nicht um einen „Reduk-<br />
aufweise, auch nicht, dass die pragmatische Position nicht theoretisch wäre. Es soll<br />
lediglich den maßgeblichen Akzent dieser Ansätze zum Ausdruck bringen; dieser<br />
Akzent bestimmt das Profil des Ansatzes. Dies wird im Folgenden näher erläutert<br />
werden. Vgl. zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Karl Homann und<br />
Josef Wieland die in der gleichen Zeitschrift erschienenen Ausführungen: Homann, K.<br />
(2001): Governanceethik und philosophische Ethik mit ökonomischer Methode - Versuch<br />
einer Verhältnisbestimmung, in: zfwu, Jg. 2, H. 1, S. 34-47; Wieland, J. (2001):<br />
Eine Theorie der Governanceethik, in: zfwu, Jg. 2, H. 1, S. 8-33. Vgl. allgemein zu den<br />
Positionen bspw. Palazzo, B. (2000): Interkulturelle Unternehmensethik – Deutsche<br />
und amerikanische Modelle im Vergleich, Gütersloh, S. 25ff.<br />
79
80<br />
tionismus“, sondern um eine strikt problemabhängige, nämlich auf das Implementierungsproblem<br />
zugeschnittene „pragmatische Reduktion“. In einer<br />
als konstruktivistisch ausgewiesenen Methodologie ist diese Reduktion legitim,<br />
weil und sofern sie um ihren Sinn und ihre Grenzen weiß. In diesem Verständnis<br />
wird Moral zu einer Kurzformel langer ökonomischer Kalkulationen,<br />
gewissermaßen zu einer Art Zweitcodierung, mit der man sich begnügen<br />
kann, solange sie wirksam ist.“ 177<br />
Auch Wieland äußert sich bezüglich einer Leitcodierung ähnlich:<br />
„Leitcodierung besagt vielmehr, dass alle in einer Unternehmung existierenden<br />
und relevanten Entscheidungslogiken sich an ihren ökonomischen Folgen<br />
bewerten lassen müssen.“ 178<br />
Auch wenn Wieland hier auf die Folgen anstatt auf die Darstellungsform abzielt,<br />
kann die Betonung der ökonomischen Ergebnisorientierung als Indiz<br />
dafür gewertet werden, dass unrentable Aktivitäten als unbequeme abgelehnt<br />
werden. Diese Diskussion wird zu Beginn des folgenden Kapitels bezüglich<br />
einer Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität nochmals<br />
aufgenommen.<br />
Es bleibt als methodische Implikation bezüglich einer zu leistenden Übersetzung<br />
festzuhalten: Die skizzierte pragmatische Position nimmt Übersetzung<br />
vor, ist sich dabei aber auch der Reduktion bewusst. Die theoretische Position<br />
verfolgt in diesem Sinne keine „klassische“ Übersetzung, sondern vollzieht<br />
eine Sichtbarmachung der in der Ökonomie selbst angelegten moralischen<br />
Ansprüche. Diese moralischen Ansprüche sind der Ökonomie immanent<br />
und werden im Vollzug dieses Ansatzes expliziert. Im Blick auf diese<br />
beiden (idealisierten) Positionen ist die hier vertretene Auffassung, dass die<br />
klassische Übersetzung (Kommunikation zwischen zwei unterschiedlichen<br />
Bereichen) durch ihren Reduktionismus zu Defiziten führt, die später nicht<br />
mehr kompensierbar sind.<br />
Aus diesem Grund soll der zweiten, der theoretischen Position gefolgt<br />
werden, jedoch nur soweit, als dass es um die Explizierung der der Ökonomie<br />
immanenten moralischen Ansprüche geht. Diese Ansprüche sind der<br />
Ökonomie immanent, weil – wie bereits angedeutet – sich die Ökonomie<br />
aufgrund ihres derivaten Charakters (als ein Produkt der Lebenswelt) sich<br />
177 Homann (2001: 38; Fußnoten weggelassen). Zu Suchanek vergleiche Suchanek, A.<br />
(1994): Ökonomischer Ansatz und theoretische Integration, Tübingen.<br />
178 Wieland (2001: 32; Hervorhebungen vom Verfasser).
dieser Ansprüche nicht entledigen kann – und nicht deswegen, weil sich<br />
diese Ansprüche aus dem Charakter ihrer Methode und Form aufdrängen<br />
würden.<br />
Darüberhinaus thematisiert die hier entwickelte Argumentation explizit die<br />
Notwendigkeit der Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität. Es<br />
geht dabei primär darum, die Akteure der Kommunikation, die Bereiche, zu<br />
mobilisieren und weiterzuentwickeln, so dass eine wirkliche Übersetzung,<br />
die ja letztlich immer defizitär bleiben muss, (nahezu) überflüssig werden<br />
würde. In diesem Sinne wird die methodische Implikation „Übersetzung“<br />
transformiert in eine methodische Implikation der „Öffnung“. Eine strukturell-inhaltliche<br />
Öffnung der Rationalitätsbereiche stellt dabei das Kriterium<br />
dar, welches auf einen weiterentwickelten <strong>St</strong>atus des Bereichs rückschließen<br />
lässt. In diesem weiterentwickelten <strong>St</strong>atus kann der Rationalitätsbereich<br />
adäquat den Verknüpfungstendenzen der transversalen Vernunft nachkommen,<br />
da deren – vormals externen – Ansprüche nun auf Entsprechungen<br />
im eigenen Bereich treffen. Wie dies aussehen kann, wird in Kapitel II und III<br />
deutlicher werden.<br />
81
II Transversale Vernunft – Vernunft zwischen<br />
Moderne und Postmoderne<br />
Die ökonomische Rationalität ist der lebensweltlichen Herausforderung nicht<br />
gewachsen, so das Fazit der einleitenden Analyse. Die weiterführende Aufgabe<br />
besteht nun darin, Möglichkeiten aufzuzeigen, ob und, wenn ja, wie sich<br />
diese ökonomische Rationalität in ihrer jetzigen inneren Verfassung weiterentwickeln<br />
kann. Dabei bedeutet eine Weiterentwicklung die Weiterentwicklung<br />
im starken Sinne; dies impliziert, dass die eigene paradigmatische Veränderung<br />
grundsätzlich gedacht werden kann. Das heißt nicht, dass sich die<br />
ökonomische Rationalität grundsätzlich umkehrt, sondern dass die Möglichkeit<br />
gedacht werden kann. Dies öffnet die eigene <strong>St</strong>ruktur systematisch<br />
gegenüber systemexternen Bestimmungen.<br />
Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität im Lichte<br />
wirtschaftsethischer Ansätze - eine Vorbemerkung<br />
Die Weiterentwicklung im starken Sinne deckt sich nach Ansicht des Autors<br />
überwiegend mit der Position von Peter Ulrich. 1 Eine Weiterentwicklung im<br />
schwachen Sinne wird hier in der Position von Wieland gesehen. 2 Diese zeigt<br />
eine Öffnung ökonomischer Rationalität, die jedoch nur innerhalb der Ökonomie<br />
kritisch selbstreflexiv ist; über die eigenen Grenzen im Sinne einer<br />
grundlegenden Disposition geht dieser Ansatz nicht hinaus. Die dritte Position,<br />
für die der Ansatz von Karl Homann stehen soll, geht der Frage nach<br />
dem Ort bzw. den Orten der Moral im dialektischen Spannungsfeld von<br />
Individuum und Rahmenordnung nach. Die Frage nach einer Weiterentwicklung<br />
ökonomischer Rationalität stellt sich hier nicht wirklich.<br />
In einer verkürzten Interpretation lässt sich die wirtschaftsethische Landschaft<br />
zwischen den Polen Individual- und Institutionenethik lokalisieren. 3<br />
1 Vgl. zu der Position Ulrichs im Wesentlichen Ulrich (1993) und Ulrich (1998).<br />
2 Dabei wird vor allem Wieland (2001) herangezogen.<br />
3 Für diese Alternativen in der wirtschaftsethischen Debatte sei auf der individualethischen<br />
Seite stellvertretend Ulrich (1993, 1998), auf der institutionenethischen Seite<br />
Homann, K./Blome-Drees, F. (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen,<br />
genannt. An dieser <strong>St</strong>elle können diese sich gegenüberstehenden Ansätze nicht in ad-<br />
82
Hierdurch wird die ökonomische Rationalität als solche vielleicht etwas vorschnell<br />
einerseits in die Hände der individuellen Akteure gelegt, andererseits<br />
in die Rahmenordnung „ausgelagert“. In der mittleren Position zwischen<br />
Rahmen und Individuum sieht sich der hier vertretene Ansatz: Das Individuum<br />
steht in seiner Auslegung und Reproduktion von wirtschaftlichem<br />
Denken immer auch in reziproker Beziehung zu den – hier insbesondere<br />
ökonomischen – Rahmenbedingungen, zum System. Hieraus ergibt sich ein<br />
latentes „ausgeliefert sein“ des Individuums; der Einzelne ist immer auch<br />
Produkt seines Rahmens. Doch ist er immer auch Produzent bzw. zumindest<br />
„Reproduzent“ dieses Rahmens und somit in einer konstitutiven und damit<br />
aktiven Rolle. Wird diese Rolle negiert, wird im Umkehrschluss dem Rahmen<br />
eine subjektunabhängige Bedeutung beigemessen, die sich logisch<br />
jedoch nicht aufrechterhalten lässt. Aus real-soziologischer Perspektive mag<br />
es hingegen plausibel sein, wenn das Individuum als Produkt der Gesellschaft<br />
rekonstruiert wird. Doch diese Einsicht kann nur in der Dialektik zum<br />
Menschen als schaffendes Wesen bzw. zum schaffenden Wesen in seinem<br />
„vita activa“ gewonnen werden, nicht unabhängig von dieser Dialektik. Es<br />
käme einer einseitigen Überbetonung gleich, würde man den Menschen als<br />
allein produziertes Wesen interpretieren, auch wenn es um die soziale Faktizität<br />
geht, so beispielsweise Homann:<br />
Auch wenn dieser die Rolle der Individualmoral anspricht, so kann dies<br />
nichts daran ändern, dass sie bei ihm nicht gleichrangig und schon gar nicht<br />
vorrangig, sondern nachrangig zu den institutionellen Konstitutionen<br />
fungiert. 4 Sie greifen dort, wo evident wird, dass die über Verträge zustande<br />
gekommenen Rahmenordnungen systematisch unvollständig bleiben und<br />
bleiben müssen. Diese „systemischen Löcher“ hat das Individuum zu stopfen,<br />
ansonsten sich aber reaktiv zu verhalten, so würde die polemische Interpretation<br />
dieser Position lauten. Homann stellt seinem Ansatz ähnliche Befunde<br />
voraus wie in der hier entwickelten Argumentation, zieht jedoch andere<br />
Konsequenzen. Die funktionale Ausdifferenzierung in der Moderne – und<br />
damit auch die Abkopplung der ökonomischen Rationalität von gesellschaftlichen<br />
Bereichen – würde in ihrer Leistungsfähigkeit bedroht, hätte sie<br />
sich einer „externen“ Norm zu beugen; ihre funktionalen, systemischen<br />
äquater Weise expliziert werden. Da der Ulrichsche Ansatz in die hier vorgestellte<br />
Konzeption vielfältig einfließt, beziehen sich die im Text gemachten Bemerkungen<br />
eher in differenzierender Weise auf den Homannschen Ansatz.<br />
4 Vgl. hierzu Homann/Blome-Drees (1992: 135ff.).<br />
83
Errungenschaften könnten nicht mehr in vollem Umfang wirksam sein. 5 Es<br />
wird auch hier offensichtlich, dass die gesellschaftlichen Errungenschaften<br />
und der Beitrag der Ökonomie hierzu stark unterschiedlich zu der hier entwickelten<br />
Reflexion interpretiert werden. 6<br />
Somit kann festgehalten werden: Die wirtschaftsethischen Ansätze, die den<br />
systematischen Ort der Moral in der Rahmenordnung lokalisieren, müssen<br />
sich nach Meinung des Verfassers den Vorwurf gefallen lassen, den Rahmen<br />
auf der einen Seite zu überfordern und das Individuum auf der anderen<br />
Seite zu unterfordern, nämlich als „potentiellen Defektierer“. Eine wirkliche<br />
Anwendungsorientierung der Wirtschaftsethik kommt nicht umhin, beide<br />
Seiten in ihren produktiven Dimensionen zu erkennen und zu unterstützen.<br />
Während die „individualorientierte“ Wirtschaftsethik den Rahmen in die<br />
Betrachtung zu integrieren sucht, tut sie dies jedoch vornehmlich als zusätzliches<br />
Mittel, die diejenigen Kriterien institutionell zu verankern sucht, die<br />
durch den Einzelnen diskursiv mitentwickelt wurden. Der Rahmen ist Mittel<br />
zum Zweck im Sinne des und der Menschen. Dagegen scheint die<br />
„rahmenorientierte“ Wirtschaftsethik diesen Zweck aus dem Blick zu verlieren<br />
und den Rahmen als Selbstzweck etablieren zu wollen, aus dessen Perspektive<br />
der Einzelne als „Mängelwesen“ erscheint. Zumindest verliert dieser<br />
überwiegend seine produktive, aktive Rolle, wenn es um moralische<br />
Handlungen geht.<br />
Bezieht man dies auf die Frage der Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität,<br />
so ergibt sich folgendes Bild: In dieser Sicht des Einzelnen und des<br />
5 Vgl. Homann/Blome-Drees (1992: 13).<br />
6 Die jüngsten Veröffentlichungen bzw. Äußerungen Homanns verstärken den Ansatz<br />
dahingehend, dass die Ethik und das Paradigma der Ökonomik immanent miteinander<br />
verbunden werden. Dieses Paradigma ist methodisch im Wesentlichen durch das<br />
„Gefangenen-Dilemma“ bestimmt. In dieser ökonomistischen Methode sieht Homann<br />
nicht in der ökonomischen Sache, so doch in der ökonomischen Methode die Ethik als<br />
der Ökonomik immanent; in diesem Sinne kann der weitere ökonomische Vollzug,<br />
die positive Ökonomik, frei sein von Werten und Normen, denn die sind bereits im<br />
Paradigma der Ökonomik abgebildet und liegen jeglicher Wirtschaftstätigkeit zugrunde.<br />
Dies könnte man als „integrativ“ bezeichnen, steht aber in seiner Begründungsargumentation<br />
der Ulrichschen Integration diametral und kategorial entgegen.<br />
Vgl. hierzu Homann, K. (1997): Sinn und Grenze der ökonomischen Methode in der<br />
Wirtschaftsethik, in: Aufderheide, D./Dabrowski, M. (Hrsg.), Wirtschaftsethik und<br />
Moralökonomik. Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik, Berlin, S.<br />
11-42 und Abschn. 10.2.2. Außerdem bezieht sich dieser letzte Abschnitt auf einen<br />
unveröffentlichten Vortrag „Ökonomik: Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln“,<br />
gehalten in Freiburg am 21. Juni 2001.<br />
84
Systems ist ökonomische Rationalität Inhalt des Rahmens, sozusagen außer<br />
Reichweite des Individuums. Hier soll dagegen die Meinung vertreten werden,<br />
dass ökonomische Rationalität vorwiegend von der individuellen<br />
Reproduktion abhängt. Die Weiterentwicklung im starken Sinne verlangt<br />
eine Reflexion nicht nur vor ihrem systemischen Rahmen, sondern vor den<br />
lebensweltlichen Bedürfnissen. 7 Hieraus konstituiert sich ihre moralische Legitimität.<br />
Um eine solche Weiterentwicklung vorzubereiten, erscheint es sinnvoll, die<br />
ökonomische Rationalität in ihren weiteren theoretischen Bezugsrahmen zu<br />
stellen. Die tatsächliche Öffnung kann, wie aufgezeigt werden wird, in Form<br />
einer Anbindung an (ökonomische) Vernunft geschehen. Für diese Erweiterung<br />
bzw. Ergänzung wird der Welsch‘sche Vernunft-Ansatz wiedergegeben<br />
und kritisch reflektiert. Dieser Ansatz gibt zum einen den <strong>St</strong>atus Quo<br />
zeitgenössischer Vernunftkritik wieder, zum anderen erweist sich seine zentrale<br />
Thematik, die Transversalität, für den interdisziplinären Anspruch der<br />
Wirtschaftsethik im Allgemeinen und die Weiterentwicklung der ökonomischen<br />
Rationalität im Besonderen als hilfreich und weiterführend. Einführen<br />
in die Welsch‘sche Konzeption wird im folgenden Kapitel die Darstellung<br />
des aktuellen theoretischen Rahmens. Den Abschluss bilden kritische Reflexionen<br />
bezüglich der Bestimmungen und Verhältnisse transversaler Vernunft<br />
- insbesondere in ihrem Bezug auf die hier verfolgte Absicht.<br />
5 Postmoderne Moderne - Skizzen des aktuellen<br />
Bezugsrahmens<br />
Die Gesellschaft und die Lebensgestaltung des Einzelnen sind spätestens seit<br />
dem Beginn der Industrialisierung vor grundlegend neuartige Herausforderungen<br />
gestellt. Nicht nur die gesellschaftlichen <strong>St</strong>rukturen haben sich er-<br />
7 Wenn es vorwiegend um die alltägliche Anwendung gehen würde, dann ließe sich<br />
die Ebene der institutionalisierten Bestimmungen ökonomischer Rationalität als<br />
Fokus argumentativ rechtfertigen. Alltägliche Anwendung kann nämlich nicht bedeuten,<br />
dass Tag um Tag die ökonomische Rationalität neu geschaffen, reflektiert und<br />
implementiert wird. In diesem Sinne stellt diese Analyse eine grundsätzliche, keine<br />
alltägliche Reflexion dar, deren Notwendigkeit sich aus signifikanten Veränderungen<br />
in der Umwelt des Einzelnen ergeben. Die „Signifikanz“ wurde in Kapitel I deutlich<br />
zu machen versucht.<br />
85
heblich gewandelt, auch die inhaltlichen Bestimmungen sind in lebensweltlichen<br />
und systemischen Kontexten Rationalisierungs- und Ausdifferenzierungsprozessen<br />
unterworfen. Im dialektischen Feld von Gesellschaft und<br />
Individuum, von System und Lebenswelt entstehen Wertewandel, Kolonialisierung<br />
und Individualisierung. Historische, politische und vor allem zunehmend<br />
ökonomische Bedingungen führen zu Brüchen und tiefgreifenden<br />
Eingriffen in die rationale Verfasstheit der Menschen. In der wissenschaftlichen<br />
Debatte werden je nach Perspektive unterschiedliche Phänomene in<br />
den Vordergrund gerückt und thematische Akzentuierungen beschreiben<br />
partielle Spannungsfelder. Aufgrund der Vielfalt der Beobachtungen scheint<br />
es nicht möglich, einen thematischen Schwerpunkt auszumachen, welcher<br />
querliegend die meisten Beobachtungen tangiert und somit in gewisser<br />
Weise integriert. Dies hat zur Folge, dass auch die Bezeichnung dieser Periode<br />
nicht einheitlich geschieht. Vornehmlich ist dies darauf zurückzuführen,<br />
dass in Verbindung mit den thematischen Akzentuierungen das Verhältnis<br />
von Altem zu Neuem unterschiedlich konstruiert und interpretiert wird. Ob<br />
die Postmoderne etwas Neuartiges darstellt oder letztlich nur eine modifizierte<br />
Moderne darstellt, dies soll zu Beginn geklärt werden. Danach sollen<br />
Charakteristika einer postmodernen Moderne vorgestellt werden. Dies sind<br />
vor allem die charakteristischen Prozesse zwischen den wissenschaftstheoretisch-methodischen<br />
Zusammenhangsebenen, die im Umgang mit Pluralität,<br />
Relativität und Einheit und Vielheit zum Tragen kommen. Zum Abschluss<br />
dieses Kapitels werden diese Charakteristika mit der parallel verlaufenden<br />
Vernunft-Diskussion verknüpft.<br />
5.1 Moderne, Postmoderne oder postmoderne Moderne?<br />
Aus der geschichtswissenschaftlichen Perspektive, so Schulze, beraubt sich<br />
eine Abspaltung der Postmoderne von der Moderne zumindest zweier, nicht<br />
unerheblicher Vorteile, die ein Diskurs über Vergangenheit und Zukunft zu<br />
leisten im <strong>St</strong>ande ist: 8<br />
86<br />
„Die Vergangenheit hätte eine Chance, in ihrer Komplexität und prinzipiellen<br />
Offenheit wahrgenommen zu werden, sie wäre mehr als die Vorgeschichte<br />
der industriellen Gesellschaft, der Französischen Revolution, des Dritten<br />
8 Vgl. auch zum Folgenden Schulze, W. (1990): Ende der Moderne? Zur Korrektur<br />
unseres Begriffs der Moderne aus historischer Sicht, in: Meier (1990), S. 69-97.
Reiches, der sozialen Marktwirtschaft, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung,<br />
oder anderer jeweils erreichter Zwischenstadien der Geschichte.<br />
Von einer solchen Vergangenheit könnt eine Zukunft nur profitieren. Denn sie<br />
wäre mehr als die unendliche Fortschreibung gegenwärtiger Mängel, und sie<br />
wäre weniger als die bedrohliche Extrapolation gegenwärtigen Unheils.“ 9<br />
Geschichtswissenschaftlich ist somit diese Abkehr ein notwendig mit dem<br />
Vorangegangenen verbundener Reflexionsprozess. Das Scheitern der Moderne<br />
ändert hieran nichts.<br />
„Die Geschichte der Moderne selbst in ihrer glücklichsten Phase ist auch immer<br />
die implizite Geschichte ihres Scheiterns, ja die Möglichkeit des Scheiterns<br />
ist der Kern der Moderne selbst.“ 10<br />
Jedoch wird ein Fortschreiben schwer, wenn selbst das „Ende der Geschichte“<br />
bevorzustehen scheint. 11 Dieses Ende ergibt sich aus der Gesellschaftsanalyse<br />
nach Gehlen, die beschreibt, wie die Gesellschaft<br />
„(...) nur mehr als funktionierendes System verstanden wird, als reibungslos<br />
ihren Dienst verrichtende Großmaschine, die Wirtschaft, Bürokratie und politische<br />
Entscheidungsmechanismen in sich aufnimmt und egalisiert.“ 12<br />
Dieser sich auf globale Dimensionen ausweitende „Zustand stationärer<br />
Dauer“ lässt die Geschichte und ihre Wissenschaften zu <strong>St</strong>atisten werden. 13<br />
9 Schulze (1990: 96f.).<br />
10 Schulze (1990: 96).<br />
11 So behauptet zumindest Arnold Gehlen bereits 1952 in „Über die Geburt der Freiheit<br />
aus der Entfremdung“. Das Ende der Geschichte ergibt sich deshalb, weil der Einzelne<br />
nach Sicherheit strebt und die höchste Sicherheit ist die, wenn man es schafft,<br />
„die Welt zukunftslos zu machen“ (Gehlen, A. (1963b): Über die Geburt der Freiheit<br />
aus der Entfremdung, in: ders. (1963a), <strong>St</strong>udien zur Anthropologie und Soziologie,<br />
Neuwied/Berlin, S. 232-246, hier S. 246). Dieses Sicherheitsbedürfnis des Menschen<br />
entwickelt Gehlen in Bezug auf Marx und Fichte. In der Entfremdung des Menschen<br />
von seinen Produkten, der „Überwältigung durch die eigene Tat“ und „dem Befreiungsakt,<br />
sie wieder in die Verfügung zu holen - in dieser Formel steckt etwas Mißtrauisches<br />
und Angstvolles.“ (Gehlen 1963b: 246). Dieses Misstrauen ruft das Sicherheitsbedürfnis<br />
hervor.<br />
12 Schulze (1990: 77).<br />
13 Vgl. Gehlen, A. (1974): Ende der Geschichte? Zur Lage des Menschen im Posthistoire,<br />
in: Schatz, O. (Hrsg.), Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter<br />
Denker, Graz/Wien/Köln, S. 61-76, hier S. 69ff. Wie jedoch bekannt, bestehen<br />
in diesem Punkt fundamentale Differenzen zu der Frankfurter Schule beispiels-<br />
87
Anders dagegen die historische Analyse Blumenbergs, der angesichts der<br />
Pluralität der unterschiedlichen historischen Prozesse nicht das Ende der<br />
Geschichte sieht und darüber hinaus für eine Fortführung der Moderne plädiert.<br />
14 Geschichte ist „im Modell eines aus vielen Adern gebündelten<br />
<strong>St</strong>ranges, eines Plurals von Zusammenhängen, Traditionen, Sach- und<br />
Schulgeschichten, Rezeptionen und Reaktionen“ 15 zu interpretieren. Diese so<br />
interpretierte, plurale Geschichte sieht damit keine Notwendigkeit, weder ihr<br />
Ende einzuläuten, noch einen Bruch mit der Vergangenheit durchzuführen.<br />
Die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Umdenkens bleibt hiervon jedoch<br />
unberührt und wird in der Geschichtswissenschaft analog zu anderen Disziplinen<br />
hinreichend erkannt.<br />
So sehen die einen in den jüngsten Veränderungen etwas paradigmatisch<br />
Neues, die anderen dagegen eine konsequente Fortführung vorangegangener<br />
Entwicklungen. Auch Meier bspw. bezweifelt die Neuartigkeit der<br />
Postmoderne:<br />
88<br />
„Die sogenannte Postmoderne war zu keinem Zeitpunkt ein ernsthafter Anwärter<br />
auf die Nachfolge. Wenn sie überhaupt in einem Gegensatz zur<br />
Moderne stand – und ihre Protagonisten sind sich keineswegs einig gewesen,<br />
ob sie in einem Gegensatz zu ihr stehen wollten -, so zählte sie zu den am<br />
wenigsten bedrohlichen Gegnern, auf die die Moderne bisher traf. (...) Wenn<br />
wir in den diffusen postmodernen Theorien und Erzählungen nach verbindlichen<br />
oder wenigstens verbindenden Orientierungspunkten Ausschau halten,<br />
begegnet uns allenthalben die moderne Hochschätzung für Kreativität, Subjektivität<br />
und Relativität wieder. Mit dem Unterschied, daß die modernen<br />
Prinzipien und „Wertsetzungen“ nach ihrer postmodernen „Verwandlung“<br />
einen nunmehr derivativen Charakter haben.“ 16<br />
Nicht in gleicher, so doch in ähnlicher Weise sehen auch Klotz (1994; Zweite<br />
Moderne), Habermas (1994; Vollendung des Projekts der Moderne), Heinrichs<br />
(1984; Die katastrophale Moderne), Giddens (1999; radikalisierte Moderne) und<br />
Beck (1986; reflexive Modernisierung) keinen wirklichen Bruch, der sich ein-<br />
weise. Auch wenn es grundsätzlich um die Reflexion der Vergangenheit geht, so<br />
könnten die daraus gezogenen Schlüsse Gehlens und „eines so flachen Schriftstellers<br />
wie Herbert Marcuse“ (Gehlen 1974: 74) unterschiedlicher nicht sein.<br />
14 Vgl. Blumenberg, H. (1966): Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt.<br />
15 Blumenberg (1966: 440, zitiert nach Schulze 1990: 82).<br />
16 Meier, H. (1990b): Die Moderne begreifen – die Moderne vollenden?, in: ders. (Hrsg.),<br />
Zur Diagnose der Moderne, München, S. 7-20, hier S. 8f.
deutig identifizieren lassen und somit die Rede von einer Postmoderne rechtfertigen<br />
würde. 17 Gleichwohl, ein „geschichtlicher Zäsurbedarf des modernen<br />
Menschen“, wie ihn Odo Marquard konstatiert, bleibt allgemeiner<br />
Befund - auch bei denjenigen, die die Postmoderne als Begriff, Projekt oder<br />
Programm als nicht gerechtfertigt ansehen. 18<br />
Bei Lyotard, der sich für die Postmoderne explizit und exklusiv einsetzt,<br />
scheint dieser Zäsurbedarf zur Trennung von Moderne und Postmoderne zu<br />
führen, doch auch er sieht diese Epochen als verbunden miteinander:<br />
„Die Postmoderne situiert sich weder nach der Moderne noch gegen sie. Sie<br />
war in ihr schon eingeschlossen, nur verborgen.“ 19<br />
Dieser Sichtweise von Lyotard schließt sich auch Welsch an. Letzterer weist<br />
zudem darauf hin, dass die Postmoderne nicht für sich beanspruchen kann,<br />
etwas völlig Neues geschaffen zu haben; er deutet an, wie sich bereits bei<br />
17 Vgl. Klotz, H. (1994): Kunst im 20. Jahrhundert: Moderne - Postmoderne - zweite<br />
Moderne, München; Habermas, J. (1994): Die Moderne, ein unvollendetes Projekt:<br />
Philosophisch-politische Aufsätze, 3. Aufl., Leipzig; Heinrichs, J. (1984): Die katastrophale<br />
Moderne, Frankfurt; Giddens, A. (1999): Konsequenzen der Moderne, 3. Aufl.,<br />
Frankfurt; Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,<br />
Frankfurt. Insbesondere die „radikalisierte Moderne“ bei Giddens (1999) zeigt viele<br />
Ähnlichkeiten zu der hier vertretenen und entwickelten Auffassung einer postmodernen<br />
Moderne. Vgl. insbesondere der Überblick bei Giddens (1999: 186), der die<br />
Postmoderne und die radikalisierte Moderne gegenüberstellt und Gemeinsamkeiten<br />
und Unterschiede aufzeigt. Die radikalisierte Moderne scheint dabei, ähnlich der<br />
postmoderne Moderne, postmoderne Elemente in den modernen Rahmen zu integrieren<br />
- nicht vereinheitlichend, sondern konstruktiv-kritisch. Vgl. hierzu auch die Äußerungen<br />
Giddens in Giddens, A./Pierson, C. (1998): Conversations with Anthony<br />
Giddens – Making Sense of Modernity, <strong>St</strong>anford.<br />
18 Vgl. Marquard, O. (1987): Temporale Positionalität. Zum geschichtlichen Zäsurbedarf<br />
des modernen Menschen, in: Herzog, R./Koselleck, R. (Hrsg.), Epochenschwelle und<br />
Epochenbewusstsein, Poetik und Hermeneutik XII, München, S. 343-352. Vgl. auch<br />
die Überlegungen bei Kirsch (1992: 470ff.), welcher sich auf Jameson beziehend die<br />
unterschiedlichen Haltungen in diesem Spannungsfeld beschreibt. Jameson stellt<br />
dazu eine Vier-Felder-Matrix auf, deren Achsen in „anti-modernistisch und promodernistisch“<br />
und in „pro-postmodernistisch und anti-postmodernistisch“ aufgeteilt<br />
sind. Damit kann er die Differenzierung leisten, dass anti-postmodernistisch<br />
nicht gleich pro-modernistisch bedeuten muss und vice versa. Die Position von<br />
Habermas ließe sich danach als anti-postmodern und pro-modern rekonstruieren;<br />
Lyotard dagegen setzt Jameson in die Pro-Position bezüglich Moderne und Postmoderne.<br />
Vgl. zum Letzteren Jameson, F. (1986a): Ideologische Positionen in der Postmodernismus-Debatte,<br />
in: Das Argument 155 (1986), S. 18-28, hier S. 24.<br />
19 Lyotard, J.-F. (1986): Le Postmoderne expliqué aux enfants, Paris, Umschlagrücken,<br />
zitiert nach Welsch, W. (1993): Unsere postmoderne Moderne, 4. Aufl., Berlin, S. 82.<br />
89
Aristoteles „postmodernes“ Gedankengut finden lässt. 20 Aufgrund dieser<br />
Feststellung konstatiert Welsch:<br />
90<br />
„Paradox wäre dies nur, wenn man – wie ignorante Kritiker dies zu tun pflegen<br />
– die Postmoderne als den neuesten Ismus verstünde, der folglich nur<br />
Allerneustes propagieren dürfte, wenn man sie also genau im <strong>St</strong>il derjenigen<br />
modernistischen Ideologie mißverstünde, der sie in Wahrheit den Abschied<br />
gibt.“ 21<br />
Postmoderne stellt sich hier als pragmatische Rekonstruktion der späten<br />
Moderne dar. Diese „Moderne des 20. Jahrhunderts (...) bedeutete ihrerseits<br />
einen Bruch mit der Moderne im Sinn der Neuzeit“ und stellt nach Welsch<br />
eine „Radikalmoderne“ dar. 22 Somit schafft Welsch eine Differenzierung der<br />
Moderne innerhalb ihrer selbst und lässt den Postmoderne-Begriff an die<br />
„zweite Version“ anknüpfen. Diese späte Moderne bereitet die Postmoderne<br />
durch ihre „Gegenmotive“ vor, differenziert sich aber von ihr in den zentralen<br />
neuzeitlichen Punkten: dem „Einheitszwang“ und dem „Ausschließlich-<br />
keitspathos“. 23<br />
Hinter dieser begrifflichen Diskussion stehen die Inhalte von Moderne und<br />
Postmoderne. 24 Um einen Überblick über die inhaltlichen Unterschiede zwischen<br />
Moderne und Postmoderne zu erlangen, wird hier die Darstellung bei<br />
Bretz wiedergegeben, die die Differenzen kategorisiert: 25<br />
20 Welsch sieht in der aristotelischen phronesis und auch in der These der Mannigfaltigkeit<br />
des Seins Parallelen zu Charakteristika in der Postmoderne-Debatte. Vgl. hierzu<br />
Welsch (1993: 82).<br />
21 Welsch (1993: 82f.).<br />
22 Welsch (1993: 84).<br />
23 Ebenda.<br />
24 Bernstein schlägt vor, in der Diskussion von den Begriffen zu den Inhalten zu gehen,<br />
wenn diese, die Begriffe nämlich, mehr verschleiern als klären können, wenn sie mehr<br />
Fronten als Austausch schaffen: „My own conviction is that we have reached a stage<br />
of discussion where these labels [„modern“ and „postmodern“; T.B.] (and their<br />
cognates) obscure more than they clarify - that it is better to drop these terms from<br />
our „vocabularies“, and to try to sort out the relevant issues without reifying these<br />
labels.“ (Bernstein, R.J. (1991): The New Constellation. The Ethical-Political Horizons<br />
of Modernity/Postmodernity, Cambridge, S. 200).<br />
25 Vgl. zur Abbildung Bretz, H. (1988): Unternehmertum und Fortschrittsfähige Organisation.<br />
Wege zu einer betriebswirtschaftlichen Avantgarde, München, S. 153.
Telos der<br />
Evolution<br />
Komplexitätshandhabungsstrategie<br />
Weltzugang<br />
Telos der<br />
Sprache<br />
Gesellschaftliche<br />
Konsequenzen<br />
MODERNE<br />
KONVERGENZ<br />
• Einheitlichkeit: Synthese unter das Allgemeine<br />
• Universalismus: globale Wahrheiten<br />
• Kontinuität: Sicherheit und Weltbeherrschung<br />
DICHOTOMIE<br />
• Zweiteilige Logik: Entweder - Oder<br />
• Festlegen: Kategorisierung von Informationen<br />
• Bändigung der Komplexität<br />
VORHERRSCHAFT DER WISSENSCHAFT<br />
• Rationalität als absolutes Maß aller Dinge<br />
• Unterordnung unter Gesetze und Logizismen<br />
• Legitimation durch übergeordnete Utopien<br />
KONSENS UND INTERSUBJEKTIVITÄT<br />
• Universale Sprachkompetenz<br />
• Grammatik: allgemein akzeptierte Regeln<br />
• Konformität: Einhaltung von Regeln<br />
ELITEKULTUR<br />
• Ausdifferenzierung von spezialisierten<br />
Subsystemen<br />
• Esoterik: Intellektuellenhegemonie<br />
Abb.2: Modernismus und Postmodernismus (aus Bretz 1988, S. 153)<br />
POSTMODERNE<br />
PROLIFERATION<br />
• Einzigartigkeit: Pluralität von Lebensformen<br />
• Relativismus: lokale Wahrheiten<br />
• Diskontinuität: Eröffnung neuer Welten<br />
PARADOXIE<br />
• Mehrwertige Logik: Sowohl als Auch<br />
• Offenlassen: Aufspannen unendlicher Informationen<br />
• Entfesselung der Komplexität<br />
REHABILITIERUNG DES MYTHOS<br />
• Vielfältige Weisen der Welterzeugung<br />
• Eigenwert von Ästhetik und Imagination<br />
• Narratives Wissen legitimiert sich selbst<br />
PARALOGIE: AGNOSTIK DER SPRECHAKTE<br />
• Inkommensurabilität der Sprachspiele<br />
• Heteronomie: Regeln entstehen aus dem Spiel<br />
• Verfremdung: Suche nach neuen Spielzügen<br />
MASSENKULTUR<br />
• Öffnung und Interpenetration von Subsystemen<br />
• Esoterik: Demokratisierung von Wissenschaft/ Kultur<br />
Das Schaubild von Bretz kann verdeutlichen, inwieweit Moderne und Postmoderne<br />
durchgängig different sind, in ihrer Dialektik aber verbunden bleiben.<br />
Wenn Bretz, sich auf Lyotard beziehend, ausführt, dass der postmoderne<br />
<strong>St</strong>immungswandel als ein Bewusstseinswandel zu fassen sei,<br />
„(...) der an die moderne Bestimmung des Gerechten, Wahren und Wirklichen<br />
nicht mehr glaubt und sich auf der Suche nach neuen Legitimationsgrundlagen<br />
in Wittgensteins später Sprachphilosophie und Kants Ästhetik des Erhabenen<br />
wiederfindet“ 26 ,<br />
dann ist dies nur eine Seite des postmodernen Programms. 27 Mittlerweile hat<br />
sich die Postmoderne weiterentwickelt: Es werden im Folgenden, jenseits<br />
von Sprachphilosophie28 und Ästhetik, Dimensionen des postmodernen Pro-<br />
26 Bretz (1988: 149).<br />
27 Vgl. Lyotard, J.-F. (1987): Der Widerstreit, München, S. 12 und Dubost, J.-P. (1987):<br />
L’àme, or ... Montaigne, Marx, Proust, in: Kamper, D./Reijen, W.v. (Hrsg.), Die unvollendete<br />
Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt, S. 514-535, hier S. 514f.<br />
28 Da sich die Postmoderne zu einem großen Teil aus der sprachphilosophischen Deutung<br />
nährt, sei an dieser <strong>St</strong>elle nochmals darauf hingewiesen, dass diese Dimension<br />
der Postmoderne, die sich beispielsweise in der Narration ausdrückt, in dieser Argumentation<br />
keine explizite Auseinandersetzung erfahren wird. Dies lässt sich auf die<br />
methodologische Grundentscheidung zurückführen, die dieser ganzen Arbeit zu-<br />
91
gramms beleuchtet werden, die ihrerseits, jenseits von Programm, in konstruktive<br />
Weiterentwicklungsprozesse treten und sich mit der Redefinition<br />
moderner Bestimmungen beschäftigen. Wie aufgezeigt, entscheidet sich auch<br />
Wolfgang Welsch dafür, Moderne und Postmoderne miteinander statt gegeneinander<br />
zu denken. Dabei ist die Moderne der Postmoderne immanent.<br />
Der Begriff der postmodernen Moderne macht dies deutlich. 29 Hinsichtlich der<br />
inhaltlichen Vielfalt, die auch der Interpretationsansatz von Welsch aufzeigt,<br />
werden im Folgenden charakteristische Merkmale herausgearbeitet. Es wird<br />
deutlich, dass hier der Welsch’schen Interpretation gefolgt wird.<br />
5.2 Die konstitutive Rolle des Entdeckungs- und Verwendungszusammenhangs<br />
in der postmodernen Moderne30 Im Folgenden soll es um die Frage gehen, ob die Postmoderne ihr Differenzierungspotential<br />
zur Moderne durch ihren spezifischen Bezug zum Entdeckungs-<br />
und Verwendungszusammenhang gewinnt. Dies lässt sich an den<br />
wesentlichen postmodernen Bestimmungen Pluralität und Relativität beschreiben<br />
und darstellen. Dabei wird deutlich werden, dass Pluralität und<br />
Relativität komplementär den postmodern-modernen Charakter prägen.<br />
In der naturwissenschaftlichen Forschung war spätestens mit Einsteins Relativitätstheorie<br />
(1905), Heisenbergs Unschärferelation (1927) und Gödels Unvollständigkeitssatz<br />
(1931) die mathesis universalis, die seit Descartes „Hoff-<br />
grundeliegt. Der hier verfolgte Fokus auf die rationalen Bedingungen jeglichen „Verhaltens“<br />
bleibt quasi auf der Vorstufe der konkreten Umsetzung (bspw. Diskurs) stehen.<br />
Die sprachphilosophische Deutung der Postmoderne bleibt jedoch konstitutiv<br />
für diesen Kontext, jedoch eher in dem Sinne, als dass die inhaltlichen Konsequenzen<br />
in die Gesamtanalyse einfließen.<br />
29 Vgl. Welsch (1993; 1. Aufl. 1987). Welsch beschreibt das Verhältnis wie folgt: „Unsere<br />
postmoderne Moderne besagt nicht nur, daß die Postmoderne die heutige Form der<br />
Moderne ist, sondern kann dies nur behaupten, weil Postmodernes als Einlösungsform<br />
von Modernem zu begreifen ist.“ (Welsch 1993: 185; Hervorhebungen im Original).<br />
Diese Position wird im Folgenden in ihrer Argumentation nachzuzeichnen sein.<br />
30 Die „Zusammenhänge“ bestehen in diesem Argumentationskontext aus dem wissenschaftstheoretischen<br />
Entdeckungs-, Begründungs- und Verwendungszusammenhang.<br />
Vgl. hierzu grundlegend Popper, K.R. (1973): Logik der Forschung (1934), 5. Aufl.,<br />
Tübingen; Reichenbach, H. (1983): Erfahrung und Prognose. Eine Analyse der Grundlagen<br />
und der <strong>St</strong>ruktur der Erkenntnis (1938), in: ders. (1983), Gesammelte Werke in 9<br />
Bänden, Bd. 4, Braunschweig/Wiesbaden. Es wird in der hier entwickelten Argumentation<br />
deutlich werden, inwieweit von den traditionellen Positionen abgewichen<br />
wird.<br />
92
nungsträger“ für des Menschen Zugang zu Wahrheit, zum Ganzen war,<br />
grundlegend erschüttert worden, was sich auch auf die Geisteswissenschaften<br />
übertrug. 31 Absolutheit ist nicht länger mehr ein von den Menschen Erfahrbares<br />
und damit auch Beweisbares, sondern erodiert zu einer Ahnung,<br />
ist „nur noch eine Idee“ 32. Unterstützt durch diese grundsätzliche Wende in<br />
der szientifischen Rationalität, gewinnen Relativität und Pluralität nicht nur<br />
im Inneren, in der wissenschaftlichen Überzeugung, sondern auch in der<br />
Methode, in der wissenschaftlichen Vorgehensweise an Boden. Dieser<br />
„Reputationsgewinn“ lässt sich nach Welsch in unterschiedliche Phasen einteilen:<br />
„Die Postmoderne konvergiert mit Basistheoremen der wissenschaftlichen<br />
Moderne dieses Jahrhunderts. Wie Pluralität, Diskontinuität, Antagonismus<br />
und Partikularität in den Kern des Wissenschaftsbewußtseins eingedrungen<br />
sind, so bilden sie heute Grundkategorien der postmodernen Weltsicht. Der<br />
Abschied von Monopolismus, Totalität, Ausschließlichkeit prägte die erste<br />
Phase, der Übergang zu den „paradoxen“ Kehrseiten und neuen Phänomenen<br />
die zweite, eine dritte kann man durch die neuere Wissenschaftstheorie markiert<br />
sehen.“ 33<br />
In der für Erkenntnisse auf der Begründungsebene konstitutiven Rolle des<br />
Entdeckungsammenhangs kommt ein postmodernes Spezifikum zum Vorschein,<br />
insbesondere dann, wenn man sich die spätmoderne Einsicht vor<br />
Augen hält: „alle Erkenntnis ist limitativ“ 34. Aus dieser Einsicht heraus präsentiert<br />
sich die Postmoderne auf Ebene des Entdeckungszusammenhangs in<br />
der Tendenz offen, unbedingt und voraussetzungsfrei - theoretisch bis zum<br />
Punkt der Selbstauflösung. 35 Sie hat, nicht zuletzt durch die Erkenntnisse in<br />
der Physik, erkannt, dass spezifische Erwartungen in Form von Wahrnehmungsbedingungen<br />
zu Verzerrungen auf Ebene des Entdeckungszusammenhangs<br />
führen. Der Satz der Moderne: Es ist nicht, was nicht sein kann!<br />
wird diametral abgelöst durch: Es kann sein, was (eigentlich) nicht sein kann!<br />
31 Vgl. hierzu Welsch (1993: 185ff.). Zur mathesis universalis und der Interpretation der<br />
Rolle von Descartes vgl. Welsch (1993: 66ff.).<br />
32 Welsch (1993: 187).<br />
33 Welsch (1993: 188).<br />
34 Welsch (1993: 186).<br />
35 Die „Tendenz“ meint die Dynamik hin auf eine Offenheit, die permanent präsent ist<br />
und vorangetrieben wird. Offenheit kann nie absolut als gegeben vorausgesetzt werden,<br />
nur ihre asymptotische Annäherung.<br />
93
Dieses „Risiko“ der Postmoderne, sich einzulassen auf das, was „wirklich“<br />
(die vom Menschen und seiner Betrachtung unabhängige Realität) ist,<br />
charakterisiert die spezifisch postmoderne Herangehensweise, die offen ist<br />
für neue, eben auch paradoxe Phänomene,, die sie nicht ignoriert, sondern<br />
sich auf sie einlässt.<br />
Dies setzt sich auf den anderen Ebenen fort; sie führen zu materialen Veränderungen<br />
im Kern des Begründungszusammenhangs. Diese beispielsweise<br />
paradoxen Phänomene auf Ebene des Entdeckungszusammenhangs tragen<br />
die Codierung der Limitation in sich - sie sind immer nur vorläufig und nicht<br />
absolut. Diese „Meta-Codierung Limitation“ würde bei einem modernen<br />
Kern dazu führen, dass den Erkenntnissen kein Begründungsstatus zuerkannt<br />
wird, sie somit keine konstitutive Rolle spielen (können). Die Postmoderne<br />
hingegen lässt zu, dass diese „Meta-Codierung“ der Limitation im<br />
Kern aufgenommen wird und damit zu paradigmatischen Veränderungen<br />
auf der Begründungsebene führt. Die Begründungsebene entwickelt sich<br />
nicht nur dergestalt, dass sie diese Inhalte, Gegenstände und Phänomene,<br />
abzubilden in der Lage ist, sondern sie legitimiert sie und unterstützt deren<br />
Umsetzung auf Ebene des Verwendungszusammenhangs. Relativität wird<br />
zum konstitutiven Merkmal der Begründung, Pluralität zum konstitutiven<br />
Befund der Wirklichkeit.<br />
Diese Integration des Relativitätsgedankens auf Ebene der Begründung bedeutet<br />
in einem weiteren Schritt, dass sich die Postmoderne selbst in diese<br />
Relativität mit einschließen muss. Wenn also nun beispielsweise die postmoderne<br />
Moderne gegen die Postmoderne antritt, so ist ein Nebeneinander<br />
theoretisch möglich und vorstellbar. So erzeugt auch hier die Relativität auf<br />
Ebene der Verwendung eine Pluralität, die unterschiedliche Geltungsansprüche<br />
komplementär zueinander rekonstruiert. Pluralität ist damit logische<br />
Konsequenz einer aus dem Entdeckungszusammenhang entstehenden<br />
Relativität.<br />
Durch die hier angedeutete Verbindung von Relativität und Pluralität kann<br />
aufgezeigt werden, inwieweit zusätzlich zum Entdeckungszusammenhang<br />
die „andere“ Seite, der Verwendungszusammenhang in die Interaktion der<br />
Zusammenhänge tritt. Die „Erfahrung“, die mit den Inhalten auf Ebene des<br />
Verwendungszusammenhangs gemacht wird, führt zu erneuter kritischer<br />
Reflexion der Begründungsebene und in einem weiteren Schritt zur Reflexion<br />
der Annahmen und Methoden auf Ebene des Entdeckungszusammen-<br />
94
hangs. Die postmoderne Moderne, indem sie den Entdeckungs- und Verwendungszusammenhang<br />
in die Konstruktion der inneren Konstitution aufnimmt,<br />
erarbeitet sich eine „doppelte praktische Absicherung“, eine doppelte<br />
Evaluierung der Theorie. In dieser Durchlässigkeit der verschiedenen<br />
Zusammenhänge, der unterschiedlichen Ebenen der wissenschaftlichen Reflexion<br />
und Konstruktion, ist eine interne Reziprozität etabliert, die den wissenschaftlichen<br />
Vollzug der postmodernen Moderne treffend charakterisiert.<br />
Parallel dazu zeichnet sich eine Verschiebung von den klassischen Inhalten<br />
und deren Charakter zu Inhalten ab, die einen direkten Bezug zum Vollzug<br />
aufweisen und in diesen eingebunden sind. In diesem Sinne lässt sich auch<br />
eine Differenz der Inhalte von Moderne und Postmoderne identifizieren, die<br />
in dem postmodernen Reziprozitätscharakter zum Ausdruck kommt.<br />
Dies lässt sich auch beispielhaft verdeutlichen an den Befunden der Inkommensurabilität<br />
und Diskontinuität.<br />
5.2.1 Inkommensurabilität<br />
Bernstein hebt in seiner Diskussion zur Postmoderne die Inkommensurabilität<br />
und die Andersartigkeit (des Anderen) hervor. Bei ihm wird deutlich,<br />
dass eine Differenz zwischen dem „rein“ pluralen Befund und dem sprachphilosophischen<br />
Befund besteht. Inkommensurabilität diskutiert Bernstein<br />
am Gegenstand des sprachlichen Vollzuges. In dieser „Vollzugsorientierung“<br />
kommt er zu einer Sicht von Inkommensurabilität, die nicht, wie oft<br />
fehlinterpretiert, Unvergleichbarkeit meint: 36<br />
36 Auch Lueken stellt heraus, dass Inkommensurabilität in Bezug auf Kuhn (insbesondere<br />
1979) und Feyerabend (insbesondere 1976 und 1978) nicht Unvergleichbarkeit,<br />
sondern eher „radikale Verschiedenheit konkurrierender Orientierungssysteme“ (Lueken<br />
1992: 29; Hervorhebungen im Original) meint. Kuhn weist dieses Missverständnis<br />
zurück (Kuhn 1976: 191) und auch Feyerabends „deduktives Getrenntsein“ (Lueken<br />
1992: 27; Hervorhebungen im Original) bezieht sich nicht auf die Unvergleichbarkeit,<br />
sondern eher auf die Unmöglichkeit der gleichzeitigen Verwendung unterschiedlicher<br />
Theorien. „Unter Inkommensurabilität ist also nicht bloße Verschiedenheit in<br />
irgendwelchen Hinsichten zu verstehen, sondern eine grundlegende Verschiedenheit,<br />
die zur Unmöglichkeit führt, die Theorien oder Paradigmata in eine Beziehung zu<br />
setzen, die einen kontinuierlichen Übergang oder eine neutrale, unparteiische Entscheidung<br />
zwischen ihnen erlaubt.“ (Lueken 1992: 30). Vgl. Lueken, G.-L. (1992):<br />
Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens, <strong>St</strong>uttgart; Kuhn, Th.S.<br />
(1976): Theory-change as <strong>St</strong>ructure-change: Comments on the Sneed Formalism, in:<br />
Erkenntnis 10, S. 179-199; Kuhn, Th.S. (1979): Die <strong>St</strong>ruktur wissenschaftlicher Revolutionen,<br />
2., revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Aufl., Frankfurt;<br />
Feyerabend, P.K. (1976): Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchischen<br />
Erkenntnistheorie, Frankfurt; Feyerabend, P.K. (1978): Der wissenschaftstheoretische<br />
95
96<br />
„The concept of incomennsurability is not to be confused with, or reduced to<br />
logical incompatibility or incomparability. Incommensurable languages can be<br />
compared and rationally evaluated in multiple ways. Practically, such comparison<br />
and evaluation requires the cultivation of hermeneutical sensitivity and<br />
imagination.“ 37<br />
Während also der rein plurale Befund sich streng auf deskriptiver Ebene bewegt,<br />
ist der Inkommensurabilitätsbefund bereits zumindest ausgerichtet auf<br />
die Handhabung, ausgerichtet auf jeglichen Vollzug in diesem pluralen Feld.<br />
Die Deskription lässt in gewissem Maße einen höheren Grad an Radikalität<br />
zu, die Ausgerichtetheit auf den Vollzug fordert einen gemäßigten Voluntarismus.<br />
Diese Akzentverschiebung von pluralem Nebeneinander zu einer<br />
wie auch immer gehandhabten heterogenen <strong>St</strong>ruktur stellt eine methodische<br />
Konsequenz dar, von der bereits oben gesprochen wurde. Diese Konsequenz<br />
ergibt sich aus den Reflexionsprozessen, die zwischen Entdeckungs-,<br />
Begründungs- und Verwendungszusammenhang stattfinden. Pluralität als<br />
solche zu erkennen (Entdeckungszusammenhang) und zu begründen (Begründungszusammenhang)<br />
ist zunächst einmal nicht schwer. Doch diese<br />
Pluralität auch auf Ebene des Verwendungszusammenhangs zu etablieren,<br />
das stellt sich als außerordentliche Herausforderung dar, da eine inkommensurable<br />
fraktale <strong>St</strong>ruktur keinen Raum für Koordination, Kooperation oder<br />
Integration lässt. Operationalisierung und konstruktive Konzeptionen sind<br />
zum Scheitern verurteilt. In dieser Situation wird ein Rückkoppelungsprozess<br />
angestoßen, der auf Ebene der Begründung kritische Reflexionsprozesse<br />
um alternative Wege der Interpretation und Rekonstruktion der Inhalte und<br />
Gegenstände initiiert.<br />
Dieser Umgang mit Inkommensurabilität zeigt die Durchlässigkeit der Zusammenhänge<br />
und damit das zentrale Charakteristikum der postmodernen<br />
Moderne deutlich. Auch in der Betrachtung der (post)strukturalistischen<br />
<strong>St</strong>römungen der Postmoderne lassen sich bezüglich des Befundes „Diskontinuität“<br />
Aussagen ableiten, die geeignet sind, die Verbindung zwischen den<br />
Zusammenhängen zu belegen.<br />
Realismus und die Autorität der Wissenschaften. Ausgewählte Schriften, Band 1,<br />
Braunschweig.<br />
37 Bernstein (1991: 65; Hervorhebung im Original).
5.2.2 Diskontinuitäten<br />
Michael Foucault hat in seinem 1966 erschienenen Buch „Les mots et les choses“<br />
(der deutsche Titel ist eher Interpretation als Übersetzung: „Die Ordnung<br />
der Dinge. 38 Eine Archäologie der Humanwissenschaften“) über die<br />
Typik des Wissens und dessen Wandel geschrieben. Er kann aufzeigen, dass<br />
sich die Typik seit dem 16. Jahrhundert (mindestens) zweimal gewandelt hat,<br />
„(...) und zwar so, daß die neue nicht aus der vorausgegangenen ableitbar ist.<br />
Man hat es mit radikaler Diskontinuität zu tun.“ 39<br />
Diskontinuität wurde somit zur Grundthese der Wissenschaftsentwicklung.<br />
Es hat sich in der folgenden Forschung vor allem in Frankreich gezeigt, dass<br />
diese These vielfach und unterschiedlich aufgenommen wurde. 40 Das methodische<br />
Vorgehen Foucaults in seinem oben genannten Werk zeigt darüber<br />
hinaus auf, wie die radikale Diskontinuität in der Postmoderne bzw. postmodernen<br />
Moderne zu einer Dialektik und damit nicht zu völliger Trennung<br />
mutiert. Das bedeutet für den Kontext der unterschiedlichen Zusammenhänge:<br />
Die Identifikation von radikaler Diskontinuität war zum einen nur in<br />
der Postmoderne möglich, da ihr Abbildungsraum dieses darzustellen in der<br />
Lage war, zum anderen zeigt die Rekonstruktion dieser Diskontinuität zu<br />
Dialektik auf, inwieweit diese ursprünglich postmoderne Identifikation im<br />
Laufe der Reflexionsprozesse in der postmodernen Moderne aus der Fraktale<br />
in eine Verknüpfung transformiert wird.<br />
Foucault weist nämlich zu Beginn in streng strukturalistischer Weise nach,<br />
dass „die verschiedenen Wissensgebiete und Wissensarten einer Epoche nur<br />
oberflächlich different erscheinen“ 41, um darauf diese These zu widerlegen<br />
38 Welsch verweist darauf, dass Foucault durch Gaston Bachelard inspiriert war, der<br />
bereits 1934 in seinem Werk „Le Nouvel Esprit scientifique“ die Diskontinuität in der<br />
Wissenschaftsentwicklung identifizierte. Vgl. Welsch (1993: 140; Fußnote 15).<br />
39 Welsch (1993: 139).<br />
40 Vgl. insbesondere die Arbeiten von Gilles Deleuze (1968), Jacques Derrida (1972),<br />
Jean-Francois Lyotard (1984), die alle maßgeblich die strukturelle Bestimmung der<br />
Diskontinuität aufnahmen, was jedoch an dieser <strong>St</strong>elle nicht weiter ausgeführt werden<br />
kann. Nur die Arbeiten von Deleuze werden im Folgenden nochmals explizit<br />
aufgenommen, da sie die Grundtendenz einer postmodernen Moderne - nach hier<br />
vertretener Meinung - am ehesten abbilden können und damit zu verdeutlichen helfen.<br />
Vgl. Deleuze, G. (1968): Différence et répétition, Paris; Derrida, J. (1972): Marges<br />
de la philosophie, Paris; Lyotard, J.-F. (1984): Tombeau de L’intellectuel et autres<br />
papiers, Paris.<br />
41 Welsch (1993: 140).<br />
97
und vielfältig zu konterkarieren und die „archäologische Diskontinuität und<br />
Heterogenität der episteme-Blöcke“ 42 festzustellen. Der Poststrukturalismus<br />
wird aus dem <strong>St</strong>rukturalismus gewonnen, aus der Dialektik zu ihm. Ohne<br />
diese Gegenüberstellung kann sich der Poststrukturalismus nur ungenügend<br />
profilieren. Totale Differenz und Abhängigkeit bedingen einander im Prozess der<br />
Konstituierung. So ist auch die Postmoderne nur in, durch und mit der<br />
Moderne zu denken, dies auch bzw. gerade dann, wenn sie sich ihr diametral<br />
gegenüberstellt. Welsch scheint dies, wenn auch nur indirekt, anzudeuten:<br />
98<br />
„Denn der Poststrukturalismus ist eben diejenige <strong>St</strong>römung, die durch den<br />
Gedanken unaufhebbarer Differenz vom <strong>St</strong>rukturalismus – der jede Differenz<br />
auf Einheit hin überschreiten zu können glaubt – sich absetzt. (...) Daher ist<br />
dieser Punkt der Differenz so eminent sensibel, daher war in Foucaults Buch<br />
eine gewaltige Spannung angelegt.“ 43<br />
5.2.3 Zusammenfassung<br />
Damit lässt sich zusammenfassen: Pluralität und Relativität setzen auf den<br />
verschiedenen Ebenen der Zusammenhänge ihre Akzente. Während die Pluralität<br />
ihren Schwerpunkt im Entdeckungszusammenhang findet und von<br />
dort aus auch den Verwendungszusammenhang in seinen Methoden mitbestimmt,<br />
so setzt die Relativität am Begründungszusammenhang an und<br />
wirkt von dort aus auch auf den Verwendungszusammenhang, indem sie<br />
die dort vermittelten und operationalisierten Inhalte immer unter dem Relativitätsvorbehalt<br />
stellt, damit keinen Absolutheitsanspruch artikuliert.<br />
Insbesondere interessieren die methodischen Konsequenzen, welche sich<br />
durch den Fokus Pluralität, Pluralitätsbejahung und Relativität nachhaltig<br />
etablieren. Wenn hier von einem spezifischen Bezug zum Verwendungszusammenhang<br />
gesprochen wird, dann ist damit der Umgang mit den aus dem<br />
Entdeckungszusammenhang gewonnenen und im Begründungszusammenhang<br />
reflektierten Inhalten gemeint. Die Postmoderne, so das hier vertretene<br />
Verständnis, fokussiert im Besonderen auf die Art und Weise, wie mit Pluralität<br />
oder Relativität in der Praxis umgegangen wird. Es ließe sich somit sagen,<br />
dass die Inhalte der Postmoderne einen immanenten Bezug zum Prozessualen<br />
aufweisen, zum Prozessualen dieses Umgangs. Diese Verbindung<br />
42 Welsch (1993: 141).<br />
43 Ebenda.
von Inhalt und Vollzugsweise ist gegenüber der Moderne – neben der Relativierung<br />
- nach Ansicht des Autors das Neuartige der Postmoderne. 44<br />
Welsch scheint gerade auf diesen Sachverhalt hinzudeuten:<br />
„Die Postmoderne realisiert in der Breite der Wirklichkeit (exoterisch), was<br />
modern zunächst nur spezialistisch (esoterisch) erprobt wurde. Sie ist die<br />
exoterische Alltagsform der einst esoterischen Moderne. Die einschneidende<br />
Pluralität, wie die Postmoderne sie erkennt und vertritt, war als Möglichkeit<br />
sogar schon vor der Moderne entdeckt, kam aber nicht zum Tragen. Es ist bezeichnend,<br />
daß auf einen Kant, der inmitten der Neuzeit die Differenzierung<br />
von Rationalitätstypen schon sehr weit vorangetrieben hatte, die Einheitsprogramme<br />
des Idealismus folgten. Die Moderne des 20. Jahrhunderts hat dann<br />
Finitismus, Heterogenität und Pluralität zunehmend erkannt, aber doch nur<br />
sporadisch zu realisieren vermocht. Erst die Postmoderne macht sich an die<br />
breite Verwirklichung dieses neuen Sinnkonzepts.“ 45<br />
Diese Verbindung führt auf der einen Seite dazu, dass die behandelten<br />
Inhalte (bspw. Pluralität) auf Ebene des Verwendungszusammenhangs die<br />
Art und Weise der Vermittlung, der Umsetzung, mitprägen (bspw. herrschaftsfreier<br />
Diskurs) und führt auf der anderen Seite dazu, dass die Parameter<br />
der Umsetzung, die hier gemachten Erfahrungen und Praktiken, wiederum<br />
die Inhalte modifizieren (Wie ist Pluralität und Handhabung gleichzeitig<br />
zu denken? Heterogenität und Konnexion?). Das bedeutet, dass Inhalt<br />
zum Programm wird, Prozess dagegen zu konstitutivem Inhalt. 46 Die Grenzen<br />
traditioneller Konstitution erodieren.<br />
44 Es würde jedoch zu kurz greifen, Postmoderne stellvertretend für „Umsetzung von<br />
Inhalten“ an sich zu setzen und die Moderne im Gegenzug als frei von der Reflexion<br />
über ihre (moderne) Umsetzung, den modernen Vollzug zu rekonstruieren. Obwohl<br />
sich diese Sichtweise aufdrängen mag, so ist dabei die Gefahr einer vorschnellen<br />
„methodischen Sezierung“ groß. Postmoderne steht nicht ausschließlich für Umsetzung,<br />
so wenig wie Moderne alleinig für substantialistische Inhalte steht. Das würde<br />
der Moderne nicht gerecht, ebensowenig wie der Postmoderne. Letztere wäre festgelegt<br />
auf eine Betrachtung alleinig von Prozessen und damit von Substanz distanziert,<br />
doch stellt sie gerade mit Pluralität und Relativität auch die Substanz der Moderne in<br />
Frage. Damit lässt sich keine qualitative Differenz zwischen Moderne und Postmoderne<br />
ableiten. Dies würde nämlich eine latente Inkommensurabilität implizieren,<br />
welcher hier nicht gefolgt werden soll.<br />
45 Welsch (1993: 83; Fußnoten weggelassen).<br />
46 Diese Auffassung drückt sich in der Verwendung des Begriffs „Programm“ in Bezug<br />
auf die Postmoderne aus. Wie gezeigt, verwendet Habermas den Begriff „Projekt“ in<br />
Bezug auf die Moderne. Ein Austausch dieser Begriffspaare würde sich gegen deren<br />
inhaltliches Selbstverständnis stellen.<br />
99
Im Vergleich mit der Postmoderne konstituiert sich die postmoderne<br />
Moderne also eher als „Reflexionsgebot“, welches in der Aufnahme und<br />
Akzeptanz von pluraler Vielfalt konstruktive Ansätze konzipiert, ohne aber<br />
eine Art „Auflösungslizenz“ zu artikulieren. 47<br />
Weiterführende Frage bleibt, wie der postmodern-moderne Begründungszusammenhang<br />
in seiner inneren <strong>St</strong>urktur, seiner „Kernstruktur“ aussehen<br />
kann, um auf der einen Seite die Parameter Pluralität und Relativität aufzunehmen<br />
und auf der anderen Seite den spezifisch-konstitutiven Rollen der<br />
Zusammenhänge Rechnung zu tragen.<br />
5.3 Der postmodern-moderne Begründungszusammenhang - Einheit<br />
und Vielheit vs. Heterogenität und Konnexion<br />
Im Folgenden wird es nun darum gehen, eine Darstellung der <strong>St</strong>ruktur des<br />
postmodern-modernen Begründungszusammenhangs zu skizzieren.<br />
Ein struktureller Ansatz, der es vermag, Differenz und Diskontinuität schlüssig<br />
darzustellen ist der Ansatz Heterogenität und Konnexion von Deleuze und<br />
Guattari, welcher als Nachfolger der (post)modernen Leitdifferenz Einheit/<br />
Vielheit gelten kann. 48 Was bei Lyotard zu einem unauflösbaren „Widerstreit“<br />
führt49, kann bei Deleuze und Guattari durch die Generierung von Übergängen<br />
zwischen Heterogenitäten aufgelöst werden. Diese Neustrukturierung<br />
moderner Bestimmungen stellt die postmodern-moderne Kernstruktur<br />
dar und liegt der hier entwickelten Argumentation als neuartiges <strong>St</strong>rukturparadigma<br />
zu Grunde. 50 In der postmodernen Moderne stellt sich eine<br />
Situation dar, welche durch viele partielle Teil-Einheiten gekennzeichnet ist,<br />
deren Zusammenfassung die Existenz einer wie auch immer gearteten<br />
Vielheit darstellt. Im Gegensatz zur metaphysischen Metaphorik der Pfahlwurzel,<br />
die die Vielheit im Schoße einer Einheit definiert, und der Metaphorik<br />
der Moderne, die in der büscheligen Wurzel viele autonome<br />
Ursprünge sieht, aber trotz objektiver Pluralisierung eine subjektive Vereinheitlichung<br />
vollzieht, konstruiert die Aktualität die Einheit als Teil der Viel-<br />
47 Welsch (1993: 81).<br />
48 Vgl. Deleuze, G./Guattari, F. (1977): Rhizom, Berlin. Vgl. auch die Rezeption bei<br />
Kirsch (1992: 433ff.).<br />
49 Vgl. Lyotard, J.-F. (1983): Le Différend, Paris; Lyotard (1989).<br />
50 Die Ausführungen in diesem Kapitel stützen sich im Wesentlichen auf Welsch, W.<br />
(1996): Vernunft – die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen<br />
Vernunft, Frankfurt, S. 355ff.<br />
100
heit und beschreibt ihr Konstrukt mit der Metapher des Rhizoms. Dieses<br />
kann in seiner strukturellen Ausprägung am ehesten mit einer Netzstruktur<br />
verglichen werden: Jeder beliebige Punkt kann mit jedem anderen verbunden<br />
werden. Diese allumfassende, aber nicht vereinheitlichende Konnexion<br />
tritt mit dem Begriff der Heterogenität an die <strong>St</strong>elle des Begriffspaares Einheit<br />
- Vielheit.<br />
Deleuze und Guattari haben diese Transformation der Begrifflichkeiten<br />
initiiert und lösen damit die Perspektive der Moderne, die auf absolute<br />
Differenz zielte, ab. Sie vertreten die Konstruktion der ausdifferenzierten<br />
Linien der Entwicklung, die in Koexistenz zu transversalen Verknüpfungen<br />
stehen. Einheit wird als Element der Vielheit rekonstruiert, weil eine alles<br />
umfassende Einheit die Vielheit in ihrem pluralen Charakter ignoriert. Vielheit<br />
kann nicht durch Einheit eliminiert werden; sie ist unabhängig davon<br />
existent. Jede diesem Sachverhalt gegenüber hervorgebrachte Ignoranz führt<br />
unweigerlich zu einer den Anforderungen gegenüber inadäquaten Handhabungskonfiguration,<br />
so die Kritik der Postmoderne an der Moderne. Die<br />
Moderne promovierte die Einheitsidee, die in ihrer <strong>St</strong>ruktur nicht nur einheitlich<br />
war, sondern auch vereinheitlichend wirkte. Das bedeutet, auch wenn<br />
der Entdeckungszusammenhang eine „plurale Sprache“ sprach, so war die<br />
moderne Idee in ihrer Wirkung manipulativ und verband alles zu einem<br />
einheitlichen Ganzen.<br />
Dieses Ganze war beherrscht durch eine scheinbare Homogenität, hatte jedoch<br />
in ihrer Tiefenstruktur nichts von ihrer Pluralität verloren. Hätte sich die<br />
Moderne in ihrer Homogenisierung auf Prozessparameter beschränkt, die<br />
bspw. eine Koordinierung der Pluralität ermöglichen und nicht, wie geschehen,<br />
durch die Homogenisierung an der Oberfläche auch auf die Homogenisierung<br />
in der Tiefe geschlossen, dann wäre es nicht zu diesem Spannungsfeld<br />
gekommen. Die Postmoderne bricht diesen Zirkel auf – wenn man die<br />
Kritische Theorie der Frankfurter Schule mit an den Beginn der Postmoderne<br />
stellt, dann geschieht der Bruch auf Ebene des Verwendungszusammenhangs51<br />
- und hinterfragt in der Folge die „Infrastruktur“ des internen Abbildungsapparates.<br />
51 So äußert sich Maurer, der in der Kritischen Theorie, also genauer in der Dialektik der<br />
Aufklärung durch Horkheimer und Adorno, „die erste deutlichere Gestalt postmoderner<br />
Philosophie“ zu erkennen glaubt. Vgl. Maurer, R. (1986): Moderne oder<br />
Post-Moderne? Ein Resümee, in: Koslowski, P./Spaemann, R./Löw, R. (Hrsg.),<br />
101
Auch Ludwig Wittgenstein und Nelson Goodman nehmen die hier erörterte<br />
Entwicklung einer „neuen Infrastruktur“ des strukturellen Kerns der Bestimmungen<br />
auf. 52 Wittgenstein operiert mit einer Vielheit,<br />
102<br />
„(...) die man nicht zu reiner Heterogenität stilisieren darf, sondern mit Momenten<br />
von Gemeinsamkeit zusammendenken muss - nur dass dabei nicht an<br />
ein einheitliches Wesen, sondern an Überschneidungen zu denken ist, wie<br />
Wittgenstein sie eben durch den Terminus ‘Familienähnlichkeit’ bezeichnet.“<br />
53<br />
In seinem Konzept der Sprachspiele sind solche Gegensätze strukturell miteinander<br />
verbunden und wenn „Wittgenstein dabei von einem „komplizierten<br />
Netz von Ähnlichkeiten“ spricht, „die einander übergreifen und kreuzen“,<br />
so erinnert das nicht von ungefähr an die <strong>St</strong>ruktur des Rhizoms“. 54<br />
Diese Komplementarität kann durch Goodman noch näher spezifiziert werden.<br />
55 Bei ihm emergiert die Vielheit durch die konstruktivistisch-mittelbare<br />
Wirklichkeit und der für Lebewesen unmögliche Zugriff auf selbige. Der<br />
analytischen Philosophie folgend gibt es demnach keine Wirklichkeit außerhalb<br />
von Deutungen; sie bildet die Kontingenz aller angestellten Wirklichkeitsrekurse.<br />
Diese konstruktivistischen Ansätze sollen an dieser <strong>St</strong>elle<br />
zusammenfassend als Ablehnung des Realismus und Annahme des Interpretationismus<br />
wiedergegeben werden. Entscheidend aber, und darin liegt<br />
die Spezifizierung Wittgensteins, ist Goodmans Aussage über die Charakterisierung<br />
der Einheit, welche Welsch wie folgt wiedergibt:<br />
„Die Einheit der vielen Welten bzw. Welt-Versionen ist nicht in einer sie fundierenden<br />
Ordnung begründet oder in einer sie alle übergreifenden inhaltlichen<br />
Synthese zu finden, sondern sie liegt in dem gemeinsamen Charakter<br />
aller Welt-Versionen, Symbolsysteme zu sein. Die Einheit besteht nicht vertikal,<br />
sondern horizontal, nicht material, sondern formal, nicht synthetisch, sondern<br />
konstruktiv bzw. operational. Die vielen Versionen sind zwar inhaltlich nicht<br />
Moderne oder Post-Moderne? Zur Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Weinheim,<br />
S. 277-282, hier S. 282.<br />
52 Wittgenstein, L. (1953): Philosophische Untersuchungen, Oxford; Goodman, N.<br />
(1984): Weisen der Welterzeugung, Frankfurt. Vgl. zur Darstellung der <strong>St</strong>andpunkte<br />
von Wittgenstein und Goodman Welsch (1996: 372ff.).<br />
53 Welsch (1996: 407).<br />
54 Ebenda.<br />
55 Goodman (1984).
auf eine einzige Reihe oder einen gemeinsamen Nenner zu bringen, aber<br />
formal tun sie alle das Gleiche.“ 56<br />
Diese auf den ersten Blick vielleicht wenig befriedigende Einheits-Charakteristik<br />
der Vielfalt stellt letztendlich die ursprünglichste Gemeinsamkeit dar,<br />
den „kleinsten gemeinsamen Nenner“. Im Kontext einer Diskussion um eine<br />
ökonomische Vernunft wird dieser kleinste gemeinsame Nenner wieder aufgenommen<br />
wenn es um die Anschlussfähigkeit von ökonomischer Rationalität<br />
geht. Diese Anschlussfähigkeit stellt eine Weiterentwicklung der Rationalität<br />
dar, die sich einem vernünftigen Gegenüber öffnet. Der vernünftige<br />
Vollzug kann seinerseits die Rationalitäten aufgrund dieses kleinsten gemeinsamen<br />
Nenners miteinander verbinden. Danach sind Rationalitäten,<br />
verkürzt gesagt, Gegenstandsbestimmungen, die rational vollzogen werden<br />
und sich in den unterschiedlichen Rationalitäten auf ihre unterschiedlichen<br />
Gegenstände beziehen. In diesem Vollzug sind sie ähnlich und können, nach<br />
Goodman, somit eine Einheit bilden. Der Vollzug der Vernunft hingegen ist<br />
von grundsätzlich anderer Qualität. Zwar könnte man auch ihn als Gegenstandsbeschreibung<br />
bezeichnen, jedoch sind diese „Gegenstände“ die Rationalitäten<br />
selbst und ihr Verhältnis zueinander. Damit stellt der Vollzug eher<br />
Reflexion dar, die keine eigen formulierten Interessen verfolgt. Ihrer Rolle als<br />
Medium ist hingegen ein Zielpunkt immanent, welcher im Zugang und in<br />
der Vermittlung des Ganzen liegt. Die Konnexion von Heterogenitäten stellt<br />
die notwendige Konsequenz dar, in welcher Weise die Charakteristik der<br />
<strong>St</strong>ruktur zu denken ist. Die Konnexion erhält den Zugang zum Ganzen, die<br />
Heterogenität verdeutlicht die Verfassung des Ganzen. Aus dieser Verfassung<br />
heraus kann Konnexion nur Konnexion sein und keine stärkere Verbindungsform.<br />
Dies wird in der späteren Diskussion wieder aufgenommen. 57<br />
5.4 Subjektive Vernunft vs. objektive Vernunft<br />
Lyotard stellt fest, dass die Moderne gekennzeichnet ist durch „die Zuordnung<br />
des Willens zur Vernunft“ 58. Diese Kennzeichnung zeigt Lyotard bereits<br />
bei Descartes auf, der den Willen als unendliches Vermögen bezeich-<br />
56 Welsch (1996: 380; Hervorhebung im Original).<br />
57 Vgl. hierzu insbesondere Abschn. 6.2.2.<br />
58 Lyotard (1987: 45).<br />
103
net. 59 Die Position bei Lyotard ergibt sich vor allem in der Reflexion des<br />
Kapitalismus, in dem „Waren, Ideologien und Geschichte unendlich weiterentwickelt<br />
und akkumuliert werden“ 60. In dieser Deutung ist der Kapitalismus<br />
eine „Metaphysik des Willens“ 61 und der <strong>St</strong>aat ist Mittler zwischen<br />
Kapital und Gesellschaft.<br />
Auch wenn dies eine sehr pointierte postmoderne <strong>St</strong>ellungnahme ist, so<br />
bleibt doch die Feststellung der Zuordnung von Willen zur Vernunft auch im<br />
Folgenden von Relevanz. Die postmoderne Herausforderung müsste in diesem<br />
Sinne lauten, der durch den subjektiven Willen instrumentalisierten<br />
Vernunft entgegenzutreten und die subjektivistischen Verzerrungen aufzulösen.<br />
Dieses Entgegentreten nimmt in der postmodernen Position relativistische<br />
Züge an. 62 Schon früher hatte Max Horkheimer aufgezeigt, wie eine<br />
Relativierung der subjektivistischen Verzerrung ohne relativistische Zugeständnisse<br />
möglich ist. Dazu trennt Horkheimer Vernunft in subjektive und<br />
objektive Vernunft. 63 Die subjektive Vernunft<br />
104<br />
„(...) hat wesentlich mit Mitteln und Zwecken zu tun, mit der Angemessenheit<br />
von Verfahrensweisen an Ziele, die mehr oder minder hingenommen werden<br />
und sich vermeintlich von selbst verstehen. Sie legt der Frage wenig Bedeutung<br />
bei, ob die Ziele als solche vernünftig sind.“ 64<br />
Die objektive Vernunft hingegen<br />
„(...) zielte darauf ab, ein umfassendes System oder eine Hierarchie alles Seienden<br />
einschließlich des Menschen und seiner Zwecke zu entfalten. Der Grad<br />
der Vernünftigkeit des Lebens eines Menschen konnte nach seiner Harmonie<br />
mit dieser Totalität bestimmt werden.“ 65<br />
Horkheimer fasst das Verhältnis von subjektiver zu objektiver Vernunft wie<br />
folgt:<br />
59 Vgl. hierzu Lyotard (1985: 45f.). Die Bemerkungen zu diesem Thema fallen in einem<br />
Gespräch mit Giairo Daghini, welches mit dem Titel überschrieben ist: „Sprache, Zeit,<br />
Arbeit“.<br />
60 Lyotard (1985: 45).<br />
61 Ebenda.<br />
62 Vgl. hierzu nochmals Abschn. 5.3.<br />
63 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Horkheimer (1967: 15-174).<br />
64 Horkheimer (1967: 15).<br />
65 Horkheimer (1967: 16).
„Was im ersten Teil als subjektive Vernunft bezeichnet wurde, ist jene Einstellung<br />
des Bewußtseins, die sich ohne Vorbehalt der Entfremdung von Subjekt<br />
und Objekt, dem gesellschaftlichen Prozeß der Verdinglichung anpaßt,<br />
aus Furcht, sie verfiele sonst der Unverantwortlichkeit, der Willkür, und<br />
werde zu einem bloßen Gedankenspiel. Die gegenwärtigen Systeme der objektiven<br />
Vernunft stellen auf der anderen Seite Versuche dar, die Auslieferung<br />
des Daseins an Zufall und Ungefähr zu vermeiden.“ 66<br />
Nach Horkheimer schließt dabei die objektive die subjektive Vernunft mit<br />
ein, jedoch nicht notwendigerweise umgekehrt. Beide Formen der Vernunft<br />
haben ihre potentiellen Konflikte: die subjektive Vernunft tendiert zum<br />
„vulgären Materialismus“, die objektive Vernunft hingegen hat eine „Neigung<br />
zur Romantik“. 67 Dabei zieht sich die objektive Konzeption der Vernunft<br />
seit jeher durch die verschiedenen Epochen der Geschichte: von der<br />
Antike bei Platon und Aristoteles, durch die Scholastik bis hin zum deutschen<br />
Idealismus. Dadurch, dass nun seit jüngster Zeit das Subjekt sich der<br />
Vernunft – so Horkheimer im Jahre 1946 - bemächtigt (nicht bedient!), wird<br />
Vernunft subjektivistisch relativiert und individuellen Belegungen preisgegeben.<br />
68 Dass jedoch auf der anderen Seite eine stärkere Betonung der<br />
Vernunft als subjektives Vermögen notwendig ist, scheint vor allem in der<br />
Postmoderne-Debatte ebenso unstrittig. Die Frage bleibt, auf welche Weise<br />
dies geschehen soll, so dass die Vernunft selbst nicht ihre Basis verliert.<br />
Horkheimer kritisiert, dass durch die Subjektivierung der Vernunft diese<br />
nicht länger mehr „ein der Wirklichkeit innewohnendes Prinzip“ 69 ist, sondern<br />
eher ein rein subjektives Vermögen. Nach Horkheimer besteht hierin ein<br />
grundlegender Unterschied. Aus diesem Grunde, aufgrund der Betonung<br />
66 Horkheimer (1967: 162).<br />
67 Ebenda.<br />
68 Die Subjektivierung der Vernunft, Horkheimer sieht diese als Krankheit, entsteht nach<br />
seiner Meinung durch das Verlangen des Menschen, die Natur zu beherrschen und<br />
seine Genesung, die des Menschen, hängt von der Einsicht ab, dass „Geist“ und<br />
„Natur“ zwar nicht eins sind, jedoch „unauflöslich miteinander verbunden sind.“<br />
(Horkheimer 1967: 158). So ist ihre Differenz notwendig, denn Geist ist nicht gleich<br />
Natur, jedoch entsteht diese Differenz in der vernünftigen Reflexion immer in Bezug<br />
auf ihre Komplementarität. „Auf der Einheit von Natur und Geist bestehen, heißt mit<br />
einem ohnmächtigen coup de force aus der gegenwärtigen Situation ausbrechen,<br />
anstatt geistig über sie hinauszugehen in Übereinstimmung mit den Möglichkeiten<br />
und Tendenzen, die ihr innewohnen.“ (Horkheimer 1967: 158). Die Vernunft zeigt<br />
sich in der Abwesenheit von Hierarchie insofern, als dass die Beherrschung nicht eindeutig<br />
von einer Seite über die andere besteht. Dies würde einen Dualismus implizieren<br />
und damit der Komplementarität entgegenstehen.<br />
69 Horkheimer (1967: 16).<br />
105
des subjektiven Vermögens, erscheint es notwendig, den objektiven Bezug<br />
nicht ganz zu verlieren und darauf vornehmlich hinzuweisen. 70<br />
106<br />
„Da die isolierte subjektive Vernunft in unserer Zeit überall triumphiert, mit<br />
fatalen Ergebnissen, muß die Kritik notwendigerweise mehr mit Nachdruck<br />
auf der objektiven Vernunft geführt werden als mit dem auf Überbleibseln<br />
subjektivistischer Philosophie, deren genuine Traditionen im Licht der fortgeschrittenen<br />
Subjektivierung jetzt selbst als objektivistisch und romantisch erscheinen.“<br />
71<br />
Wenn diese Subjektivierung konfliktäre Konstellationen verursacht, dann ist<br />
es an der Vernünftigkeit der Vernunft selbst, diese Konstellationen durch<br />
Reflexion in das Bewusstsein der Menschen zu bringen.<br />
„(...) in solcher Selbstkritik wird Vernunft zugleich sich selbst treu bleiben, indem<br />
sie am Prinzip der Wahrheit festhält, das wir allein der Vernunft verdanken,<br />
und sich an kein sonstiges Motiv wendet.“ 72<br />
Es wird der Unterschied zwischen Postmoderne und der Position von Horkheimer<br />
deutlich: Während Horkheimer die subjektivistischen Pathologien<br />
durch die geläuterte objektive Vernunft zu kompensieren sucht, setzt die<br />
Postmoderne auf eine Relativierung ohne sich dabei einer „vernünftigen“<br />
Größe zu bedienen. Die Postmoderne relativiert die moderne Vernunft und<br />
deren subjektivistische Vereinnahmung ohne substantialistische Kompensation;<br />
Relativismus als Programm. Horkheimer ist von dieser Einstellung<br />
entfernt; er sieht in der reflektierten objektiven und durch die subjektive<br />
Vernunft komplementär ergänzten Vernunft den Ausweg.<br />
Doch lässt er auch keinen Zweifel daran, dass „der Übergang von der objektiven<br />
zur subjektiven Vernunft“ ein „notwendiger historischer Prozeß“ ist -<br />
bei allen Gefahren, die diese Verschiebung mit sich bringt. 73<br />
70 Dass die subjektive Dimension der Vernunft diese Relevanz bekommen hat, liegt nach<br />
Horkheimer an der Schwäche der objektiven Konzeptionen: „Wenn die subjektive<br />
Vernunft in Gestalt der Aufklärung die philosophische Basis von Glaubensüberzeugungen<br />
aufgelöst hat (...), so war sie dazu imstande, weil diese Basis sich als zu<br />
schwach erwiesen hat.“ (Horkheimer 1967: 66).<br />
71 Horkheimer (1967: 163).<br />
72 Horkheimer (1967: 165).<br />
73 Vgl. Horkheimer (1967: 128). Die Rolle der Philosophie beschreibt diesbezüglich<br />
Horkheimer wie folgt: „Erstens: Sie [die Philosophie; T.B.] sollte ihren Anspruch verneinen,<br />
als höchste und unendliche Wahrheit betrachtet zu werden. Immer, wenn ein<br />
metaphysisches System jene Zeugnisse als absolute oder ewige Prinzipien darstellt,
Aus dieser Spannung - der (subjektiven) Bemächtigung der Vernunft vs. der<br />
Vernunft mächtig sein - ist der Ansatz von Horkheimer auch historisch zu<br />
verstehen, der die subjektive Vernunft als notwendig erachtet, sie jedoch<br />
auch als ihre größte Gefahr interpretiert. Ist die Vernunft alleinig bzw. maßgeblich<br />
vom Subjekt abhängig, so ist sie auch maßgeblich seinen Schwächen<br />
ausgeliefert. Die Vernunft „menschelt“. 74<br />
Die spannungsvollen Gegensätze von subjektiver und objektiver Vernunft<br />
sowie Geist und Natur löst Horkheimer jeweils mit der gleichen <strong>St</strong>ruktur auf,<br />
die der Komplementarität. Es ist das eine nicht ohne das andere zu denken<br />
und vice versa. Dabei, und dies betont er mehrmals in seiner Kritik, kann es<br />
nicht darum gehen, diese Komplementarität als Dualismus zu rekonstruieren,<br />
der antagonistisch-substitutiv darauf drängt, die jeweilig gegenüberliegende<br />
Seite zu ersetzen. Dieser Dualismus ist vielmehr notwendiger Schein:<br />
„Denn ganz wie der absolute Dualismus von Geist und Natur ist der von<br />
subjektiver und objektiver Vernunft bloß ein Schein, obgleich ein notwendiger.<br />
Die beiden Begriffe sind in dem Sinn ineinander verflochten, daß die<br />
Konsequenz eines jeden nicht nur den anderen auflöst, sondern auch zu ihm<br />
zurückführt.“ 75<br />
enthüllt es ihre historische Relativität. (...) Zweitens: Es sollte zugestanden werden,<br />
daß die grundlegenden kulturellen Ideen einen Wahrheitsgehalt haben, und Philosophie<br />
sollte sie an dem gesellschaftlichen Hintergrund messen, dem sie entstammen.<br />
Sie bekämpft den Bruch zwischen Ideen und Wirklichkeit.“ (Horkheimer 1967: 169f.).<br />
74 Landmann stellt die Frage: „Ist Vernunft noch das Humanum?“ (Landmann, M.<br />
(1974): Teuer bezahlte Vernunft: Ist Vernunft noch das Humanum?, in: Schatz, O.<br />
(Hrsg.), Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter Denker,<br />
Graz/Wien/Köln, S. 77-107, hier S. 77) und kommt zu dem Schluss, dass die Vernunft<br />
nicht mehr human ist und wir in „ein Zeitalter der transhumanen Vernunft“<br />
(Landmann 1974: 83) treten. Landmann verwendet hier das Präfix „trans“ im Sinne<br />
eines „jenseits“ bzw. eines wortwörtlichen „Übergehens“ des Menschen und seiner<br />
Bestimmungen. Er betont die „Entmachtung“ und „Überspringung“ der Subjektivität<br />
durch die Vernunft, stellt die eine, „gleiche Wahrheit für alle“ der sich „unterscheidenden<br />
Individualität“ entgegen, was dazu führt, dass der „einzelne nur Fall eines<br />
Allgemeinen“ ist. Die „transhumane Vernunft [erstickt] die Spontaneität und nivelliert<br />
die Individualität“. Vgl. hierzu Landmann (1974: 89ff.). Landmann zeigt damit<br />
die Spannung zwischen Teil und Ganzem auf, was auch in dieser Argumentation im<br />
Mittelpunkt steht und in der Diskussion um eine transversale Vernunft noch vielfältig<br />
aufgenommen und erörtert werden wird. Da wird deutlich werden, dass die transhumane<br />
Vernunft der transversalen Vernunft nicht ähnlich ist. Die transversale Vernunft<br />
hat gerade das Verhältnis von Teil und Ganzem im Auge, stellt das Subjekt in<br />
den Mittelpunkt ohne jedoch ins Willkürliche abzudriften. Vgl. hierzu Abschn. 9.2.3.<br />
75 Horkheimer (1967: 163).<br />
107
Auch wenn die Einseitigkeiten zu erklären sind76, so führen sie doch nicht zu<br />
<strong>St</strong>rukturen, die fähig sind, die Realität adäquat abzubilden und damit auch<br />
nicht, sie zu handhaben. 77<br />
In der Betonung objektiver Vernunft findet sich auch die hier entwickelte<br />
Konzeption ökonomischer Vernunft wieder. Dieser Rückbezug ist in der hier<br />
entwickelten Diskussion als das spezifisch postmodern-moderne Element<br />
bezeichnet worden. Dabei muss unterschieden werden zwischen subjektiver<br />
Vernunft und Vernunft als „subjektivem Vermögen“. Letzteres ist konstitutiv<br />
für eine Rückbindung der Postmoderne an die Moderne, erstere beschreibt<br />
eine Reflexionsreferenz von Vernunft. Dieses subjektive Vermögen<br />
hinterfragt die Objektivität und ihre Umsetzung. Sie löst die Objektivität<br />
nicht ab, wie dies in der subjektiven Vernunft angelegt zu sein scheint, sondern<br />
reflektiert sie kritisch. Die Objektivität erfährt in einem solchen subjektiven<br />
Vollzug Veränderungen und kann nicht mehr mit ihrer früheren Verfassung<br />
verglichen werden. Die basalen Inhalte, also der Bezug auf die<br />
Wahrheit bleibt zwar bestehen, doch führen die inhaltlichen Akzentverschiebungen<br />
zu einer Veränderung des <strong>St</strong>atus der subjektiven Vernunft.<br />
Auch Welsch spricht von der Vernunft als einem subjektiven Vermögen. Dem<br />
damit provozierten Relativismus tritt Welsch aber entgegen. Das Scheitern<br />
der Moderne und damit auch der objektiven Vernunft, in der der Einzelne<br />
praktisch nicht eingebunden war, stellt aus Sicht der Postmoderne einen<br />
ebenso weitreichenden Relativismus dar, der sich durch die fehlende Relevanz<br />
subjektiver Reflexion ergab und sich somit absolutistisch von der<br />
Wirklichkeit entfernte. In diesem Sinne spricht sich Welsch für das subjektive<br />
76 Horkheimer beschreibt den Ursprung dieser Einseitigkeit wie folgt: „Solche Hypostasierung<br />
[des einen (Geist) gegen den anderen (Natur); T.B.] geht aus dem grundlegenden<br />
Widerspruch in der Verfassung des Menschen hervor. Auf der einen Seite hat<br />
das gesellschaftliche Bedürfnis, die Natur zu kontrollieren, stets die <strong>St</strong>ruktur und die<br />
Formen des menschlichen Denkens bedingt und so der subjektiven Vernunft den<br />
Primat verliehen. Auf der anderen Seite konnte die Gesellschaft nicht gänzlich den<br />
Gedanken an etwas unterdrücken, das über die Subjektivität des Selbstinteresses hinausgeht,<br />
dem nachzustreben das Selbst nicht umhinkonnte.“ (Horkheimer 1967: 163).<br />
77 „Adäquates Handhaben“ kann nicht bedeuten, dass die Realität vollständig erfasst<br />
wird. Die Adäquanz richtet sich nach dem im aktuellen Zustand bereits Möglichen,<br />
sprich: nach dem aktuellen Erkenntnisstand. Eine Vorgehensweise, die hinter diese<br />
Erkenntnisse zurückfällt, wird hier als nicht adäquat angesehen. Diese Definition von<br />
Adäquanz richtet sich somit nach dem vorliegenden Erkenntnisstand, nicht nach dem<br />
Absoluten, Wahren und ist damit eine relative. In dieser Relativität ist die Wahrnehmung<br />
von Pluralität möglich und damit die Erörterung von Komplementarität und<br />
Substitution.<br />
108
Vermögen der Reflexion als zentralen Vollzug der Vernunft aus. Er versucht<br />
damit die objektive Vernunft durch den „Filter“ der individuellen Reflexion<br />
in seiner Konzeption zu konstituieren. Vernunft ist primär subjektives Vermögen,<br />
doch immer in Bezug auf die objektive Vernunft, über die nicht zu<br />
entscheiden ist. Damit ist der objektiven Vernunft die subjektive Vernunft<br />
zumindest im Vollzug gleichberechtigt an die Seite gestellt. Die Vernunft erfährt<br />
eine „Aufwertung“ durch die reflektierte <strong>St</strong>ärkung der subjektiven<br />
Vernunft und damit des Vollzugs, wenn sich die postmodern-moderne Position<br />
so zusammenfassen lässt. 78<br />
5.5 Zusammenfassung<br />
Es soll im Folgenden versucht werden, die zu der Moderne-Postmoderne-<br />
Debatte skizzierten Überlegungen teils resümierend, teils konkretisierend in<br />
einzelnen Punkten zusammenzufassen:<br />
� Postmoderne kann nur in, mit, wegen und durch Moderne gedacht und<br />
entwickelt werden.<br />
� Moderne und Postmoderne sind weder substitutiv noch komplementär<br />
zueinander. Postmoderne stellt lediglich den Versuch dar, die Moderne<br />
weiterzuentwickeln.<br />
� Die postmoderne Moderne bezieht sich selbst selbstreferentiell in ihren<br />
Gegenstandsbereich mit ein. Postmoderner Anspruch kann nur relativ zum<br />
bereits Bestehenden, der späten Moderne, verstanden werden. Die postmoderne<br />
Moderne stellt damit die logische Konsequenz einer zu Ende gedachten<br />
Postmoderne dar, die auch selbstbezüglich über jeglichen Ausschließlichkeitsanspruch<br />
erhaben ist. 79<br />
78 Die postmoderne Subjektorientierung darf nicht mit einer methodologischen Entscheidung<br />
verwechselt werden, wie sie im Kontext der wirtschaftswissenschaftlichen<br />
Debatte im Methodologischen Individualismus transportiert wurde und wird. Durch<br />
die einseitige Rezeption des Individuums in einer naturalistisch-darwinistischen<br />
Rekonstruktion und ihrer linearen positivistischen Fortschreibung gibt sich die Ökonomie,<br />
als wäre sie natürliche und damit logische Konsequenz menschlichen Verhaltens.<br />
Auf diese Weise versuchte sich die Wirtschaftswissenschaft einer ethischen Reflexion<br />
zu entziehen; sie proklamierte Wertfreiheit. Doch ist diese anthropologische<br />
Interpretation reduktionistisch, welche den Menschen als kulturelles Wesen ignoriert<br />
und nur als rein reaktives Lebewesen deutet. Vgl. zur Kritik des Methodologischen<br />
Individualismus Ulrich (1998: 184ff.).<br />
79 Siehe das bereits angeführte Zitat bei Welsch (1993: 82f.).<br />
109
� Die Postmoderne weist in ihrem Vollzug eine doppelte Reziprozität der<br />
Reflexion ihrer Inhalte auf. Die konstitutiv-epistemische Rolle des Verwendungszusammenhangs<br />
für die Begründungsebene zeigt dies exemplarisch<br />
auf. Bezüglich der Konstituierung der postmodernen Bestimmungen auf Begründungsebene<br />
tritt sie gleichberechtigt neben den Entdeckungszusammenhang.<br />
� Die doppelte Reziprozität der Postmoderne, und damit insbesondere die<br />
Berücksichtigung des Verwendungszusammenhangs, verändert die inhaltlichen<br />
Bestimmungen auf charakteristische Weise: Das Charakteristische des<br />
postmodernen Vollzugs kann nur dann konstitutiv wirken, wenn die Kernstruktur<br />
in der Lage ist, die inhaltliche Impulse von Entdeckungs- und Verwendungszusammenhang<br />
abzubilden, d. h., wenn sie die Fähigkeit und damit<br />
auch Offenheit besitzt, bisher Unbekanntes darzustellen. Dies erfordert<br />
auch eine strukturelle Neuausrichtung, die sich auf Diskontinuität und Differenz<br />
nachhaltig einstellt, damit material-strukturelle Konsequenzen zeitigt.<br />
� Die Postmoderne entwickelt sich sukzessive von ihrer programmatischen<br />
Rolle hin zu einer konstruktiven, jedoch nicht minder kritischen und die<br />
Grundlagen reflektierenden und in Frage stellenden Rolle. Diese neue Rolle<br />
stellt ihre eigene Diskontinuität zur Moderne in den eigenen poststrukturalistischen<br />
Rahmen, in dem die Diskontinuität in ihrem destruierenden Charakter<br />
eine Relativierung erfährt und quasi-kontinuierlich abgebildet werden<br />
kann. Agonistische Dialektik und diametraler Gegensatz wird zur<br />
Konnexion von Heterogenitäten.<br />
� Im Spannungsfeld von Teil und Ganzem, von Einheit und Vielheit wird<br />
die Postmoderne hier als Einlösung der „holistischen Intention“ eben durch<br />
die „plurale Option“ 80 verstanden. Die Vielheit der Einheit als Befund abbilden<br />
zu können, emergiert zur Notwendigkeit und Bedingung einer authentischen<br />
und ganzheitlichen Perspektive nachhaltiger Handhabungskonzeptionen<br />
aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen.<br />
� Die subjektive Vernunft wird hier als der Vernunft immanente Größe<br />
interpretiert. Sie wird der Vernunft nicht hinzugefügt, noch ist sie etwas<br />
anderes als Vernunft. In der neuartigen Etablierung und Betonung der konstitutiven<br />
Rolle subjektiver Vernunft durch Vernunft als subjektives Vermögen<br />
wird, in der hier entwickelten Position, einer überfälligen Sensibilisierung<br />
80 Welsch (1993: 63).<br />
110
dieser in der Geschichte der Vernunft tendenziell eher unberücksichtigten<br />
Dimension der Vernunft das Wort geredet. Jedoch: Die postmodernprogrammatische<br />
Überzeichnung ihrer Bedeutung wird zum einen der<br />
Selbstrelativierung der Postmoderne gegenüber der Moderne nicht gerecht,<br />
zum anderen läuft diese Überzeichnung Gefahr, zu einer Verselbständigung<br />
der subjektiven Vernunft beizutragen und damit die Vernunft als solche<br />
inhaltlich zur Disposition zu stellen, von innen auszuhöhlen. Die subjektive<br />
Vernunft steht in komplementärem Bezug zum Objektiven der Vernunft. Sie<br />
kann nur in diesem Bezug verstanden werden. Damit ist sie in der Lage, den<br />
Einzelnen, das Subjekt, in die „sekundäre“ Konstitution – die primäre ist<br />
von der objektiven Seite immer schon geleistet – einzubeziehen und dadurch<br />
einen Vollzug zu erreichen, welcher objektiv durchwirkt und subjektiv<br />
kritisch reflektiert ist. Es kann auf diese Weise eine inhaltliche Relativierung<br />
erreicht, ein vollständiger Relativismus dagegen aber vermieden werden.<br />
6 Vernunft im Übergang - das Konzept der transversalen<br />
Vernunft<br />
Der folgenden Abhandlung liegt die Intention zugrunde, einen Einblick in<br />
das Konzept der transversalen Vernunft zu geben, wie es Welsch in seinem<br />
Werk „Vernunft – Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der<br />
transversalen Vernunft“ vorstellt. 81 Der Ansatz stellt dabei selbst einen<br />
‚Übergang’ zwischen den heterogenen Ansätzen von Habermas und Lyotard<br />
dar. 82 Welsch weiß die ablehnende Haltung gegenüber Relativismus<br />
(Habermas) und die Bejahung der Differenz (Lyotard) als heterogene<br />
Elemente der Theorien-Vielfalt zu verknüpfen - „so aber, daß diese Übergänge<br />
die Heterogenität nicht tilgen, sondern allererst in der rechten Weise<br />
zur Darstellung bringen“ 83.<br />
81 Vgl. Welsch (1996).<br />
82 Vgl. hierzu Habermas, J. (1983): Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm,<br />
in: ders. (Hrsg.), Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt,<br />
S. 53-126; Lyotard, J.-F. (1982): Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in:<br />
Tumult 4, (1982), S. 131-142.<br />
83 Welsch (1996: 752). Vgl. auch die komprimierte Gegenüberstellung der drei Autoren<br />
bei Kirsch (1992: 448ff.). Das Konzept der Transversalität als die ‚Lehre von den Übergängen’<br />
weist eindeutige Parallelen zu der bereits vorgestellten Konzeption der „Heterogenität<br />
und Konnexion“ nach Deleuze und Guattari (1977) auf. Auch hier geht es<br />
111
Ähnlich zu Welsch, der sich zwischen Postmoderne und Moderne verortet,<br />
stellt die hier skizzierte Position eine Extension dieser mittleren Position<br />
dar. 84 Ob auch die von Welsch ausführlich entwickelte Konzeption der transversalen<br />
Vernunft einen Übergang von Moderne zu Postmoderne bzw. von<br />
der Postmoderne zurück zu der Moderne darstellen kann, wird zu untersuchen<br />
sein. Dieser letzte Schritt von der Postmoderne zu der postmodernen<br />
Moderne ließe sich als Übergang von einer dichotomen Pluralität zu einer<br />
konnektierten Pluralität beschreiben. Netzwerke, Nachhaltigkeit und Globalisierung<br />
- das terminologische Spektrum der Gegenwart deutet auf Übergänge<br />
in jedweder Form hin. Die vernünftige Gestaltung dieser Übergänge<br />
ist gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Eine transversale Vernunft kann hierfür<br />
eine „vernünftige“ Reflexion leisten. Ob sie dieses zu leisten in der Lage ist,<br />
wird in der umfassenden Argumentation geprüft.<br />
Dazu soll eine möglichst übersichtliche und knappe Skizzierung des<br />
Welsch‘schen Ansatzes vorgenommen werden. Hierzu werden drei unterschiedliche<br />
Zugänge gewählt, die jeweils ihre eigene Perspektive und Sichtweise<br />
erzeugen und den Ansatz von verschiedenen Seiten zu beleuchten<br />
helfen. Diese drei Perspektiven umfassen Gegenstandsbestimmungen (Rationalität;<br />
Paradigmen), inhaltliche Verhältnisbestimmungen (Vernunft und Rationalität;<br />
Vernunft und Totalität) und die historisch-begrifflichen Verhältnisbestimmungen<br />
(Paradigma-Begriff nach Kuhn; Vernunft-Begriff nach Kant).<br />
6.1 Zentrale Gegenstandsbestimmungen<br />
Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, wird zu Beginn der Ausgangspunkt<br />
und die Intention von Welsch zitiert. Welsch schreibt dies als<br />
Reaktion auf die Kritik an seinem Ansatz, welche an späterer <strong>St</strong>elle aufgenommen<br />
werden wird. 85<br />
112<br />
„Als ich in den achtziger Jahren die Vernunftabsagen mancher ‚postmodern‘<br />
genannter Autoren und bald auch etlicher Rationalitätsexklusivisten las, hatte<br />
ich den starken Eindruck, daß sie inmitten aller Polemik gegen Vernunft doch<br />
selbst von so etwas wie Vernunft Gebrauch machten und Gebrauch machen<br />
mußten. Oder daß sie sich immer nur (und oft mit guten Gründen) gegen ein<br />
um die, keineswegs irreversiblen Verknüpfungen von Unterschiedlichem, ohne dabei<br />
eine Synthese zu implizieren bzw. eine Vielheit zu vereinheitlichen.<br />
84 Vgl. hierzu Welsch (1993).<br />
85 Vgl. hierzu Abschn. 7.3.
estimmtes Verständnis von Vernunft wandten, daraus dann aber, das Kind<br />
mit dem Bade ausschüttend, eine Pauschalabsage an Vernunft machten.<br />
Beides ist sachlich unbefriedigend wie logisch falsch. Daher stellte ich mir die<br />
Aufgabe, die Konturen jener Vernünftigkeit herauszuarbeiten, die auch in<br />
solchen Vernunftabsagen wirksam ist. Zugleich sollte es um eine Vernünftigkeit<br />
gehen, die gerade angesichts der Bedingungen, im Blick auf welche diese<br />
Autoren argumentierten, probat sein würde. Diese Bedingungen waren (bei<br />
allen Unterschieden im einzelnen) für die postmodern wie für die rationalitätstheoretisch<br />
orientierten Vernunftkritiker weitgehend die gleichen: es ging<br />
um den Befund einer Vielfalt von Rationalitäten, einer Pluralität von Rationalitätstypen.“<br />
86<br />
Diese Darstellung von Welsch macht deutlich, wo seine Konzeption ansetzt<br />
und wo sie hingeht. Als „Vorwissen“ trägt Welsch folgende Erkenntnisse in<br />
die Diskussion um eine transversale Vernunft. 87<br />
� Jegliche Art von Vernunftkritik muss ihrerseits Anspruch auf Vernünftigkeit<br />
erheben.<br />
� Der Begriff der Vernunft erschöpft sich nicht in der Zweckrationalität von<br />
Systemen (instrumentelle Rationalität).<br />
� Vernunft muss sich begreifen als Handhabung von Pluralität, ohne sie<br />
aufheben zu wollen.<br />
� Atomisierung und Verflechtung sind als logische Sukzession eines durch<br />
die Pluralisierung initiierten Prozesses zu verstehen.<br />
� Die durch die Verflechtung entstehende Unordnung ist durch die Vernunft<br />
nicht zu beseitigen, man hat sich auf sie einzulassen.<br />
� Vernunft hat den Gesamtbereich und das konkrete Verhältnis der Rationalitäten<br />
zueinander zum Thema. Somit stellt eine genaue Analyse der<br />
Realverfassung von Rationalitäten die notwendige Vorbedingung dar, will<br />
man ein adäquates Konzept von Vernunft generieren.<br />
Es wird im Folgenden deutlich werden, dass es in dieser Konzeption vornehmlich<br />
um die strukturelle Verfasstheit von Paradigmen, Rationalität und<br />
Vernunft geht. In dieser <strong>St</strong>rukturanalyse kommen implizit die Verhältnisse<br />
der Gegenstände zueinander zum Ausdruck. Aus Gründen der Übersicht-<br />
86 Welsch, W. (2000b): Unverkürzte Rationalität: mit Vernunft. Über einige Spezifika<br />
vernünftiger Reflexion, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 167-188, hier S. 168.<br />
87 Vgl. zu diesem „Vorwissen“ Welsch (1996), die Seiten 427-438, in denen er auf die<br />
vorherigen Kapitel seines Buches Bezug nimmt. In diesen stellt er die Vernunftkritiken,<br />
seien sie explizit oder implizit, von 11 Philosophen vor und gewinnt dadurch<br />
eine Art <strong>St</strong>atus Quo aktueller Vernunftkritik. Dieser <strong>St</strong>atus Quo fließt in die Überlegungen<br />
zur transversalen Vernunft mit ein.<br />
113
lichkeit wird sich diese Darstellung auf die abstrakte strukturelle Ebene<br />
beschränken; Welsch selbst verlässt nur selten diese Ebene. Es wird sich zeigen,<br />
dass gerade auf dieser abstrakten Ebene die Möglichkeiten der Vergleichbarkeit<br />
gegeben sind; nicht nur zu ähnlichen Konzeptionen, sondern<br />
vor allem auch zu den in Kapitel I beschriebenen aktuellen Herausforderungen.<br />
6.1.1 Die Realverfassung von Rationalitäten<br />
Welsch teilt die Beschreibung der Realverfassung von Rationalitäten in vier<br />
Kapitel, wobei die ersten beiden die <strong>St</strong>ruktur von Rationalitätstypen beschreiben<br />
und die letzten beiden die <strong>St</strong>ruktur von Paradigmen. Diese Zweiteilung<br />
lässt sich am besten nachvollziehen, führt man sich die dahinter stehende<br />
Systematik der Ausdifferenzierung bzw. Pluralisierung von Vernunft<br />
vor Augen, so wie sie von Welsch vertreten wird. Dieser geht davon aus,<br />
dass das moderne Verständnis von Vernunft eine Vielzahl von Rationalitäten<br />
unter dem einen Begriff der Vernunft zu subsumieren vermag. Dies impliziert<br />
keine Vereinheitlichung, sondern eine bloße Zusammenfassung, eine<br />
Verflechtung. 88 Welsch möchte diesen Schritt als Ausdifferenzierung bezeichnen<br />
und so verstanden wissen. Daraufhin folgt die Identifizierung von<br />
mehreren unterschiedlichen Paradigmen auf einem „Rationalitätsterrain“,<br />
welche zu einer „Simultankonkurrenz“ 89 innerhalb der Rationalitätsbereiche<br />
führt. Dies bezeichnet Welsch als zweiten Schritt und als „Pluralisierung im<br />
eigentlichen und terminologischen Sinne“ 90. Dies sei in folgender Abbildung<br />
zusammenfassend dargestellt: 91<br />
88 Bei der Frage, wie diese Vernunft pluraler Rationalitäten zu denken und zu verstehen<br />
ist, verweist Welsch auf die ausführlichere Darstellung bei Wellmer, A. (1985): Zur<br />
Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt,<br />
S. 108f.<br />
89 Welsch (1996: 441).<br />
90 Ebenda.<br />
91 Bevor diese Abbildung den Unmut des Lesers auf sich zieht, sei folgendes angemerkt:<br />
Es gibt sicherlich triftige Gründe des Philosophen Welsch, diese Sachverhalte nicht<br />
graphisch darzustellen. Trotz problematischer Vereinfachungen verspricht sich der<br />
Autor dieser Abhandlung davon einen höheren Grad an Transparenz des Referierten.<br />
Es sei aber darauf hingewiesen, dass diese Abbildung nicht den Anspruch einer<br />
detailgenauen Transformation der Inhalte formuliert, sondern lediglich der unterstützenden<br />
Veranschaulichung dient. Somit mag es nämlich problematisch sein, die Pfeile<br />
der Ausdifferenzierung und Pluralisierung von ein und demselben Ausgangspunkt<br />
starten zu lassen. Auch soll die Pfeilrichtung keine Wertung der zeitlichen Rangordnung<br />
von Vernunft, Rationalitäten und Paradigmen suggerieren.<br />
114
Vernunft<br />
Die zwei Schritte der Pluralisierung<br />
Abb. 3: frei nach Welsch (1996: 441ff.)<br />
Rationalität X<br />
Rationalität Y<br />
Rationalität Z<br />
...<br />
Paradigma Y 1<br />
Paradigma Y 2<br />
Paradigma Y 3<br />
Pluralisierung 1. Schritt 2. Schritt<br />
Ausdifferenzierung Pluralisierung im eigentlichen<br />
und terminologischen Sinne<br />
Diese Darstellung gilt als heuristischer Ausgangspunkt der Überlegungen.<br />
Es wird an späterer <strong>St</strong>elle deutlich werden, dass sie einer Überarbeitung bedürfte,<br />
wollte sie die gesamte Komplexität der Prozesse - insbesondere in<br />
Bezug auf die Rationalitäten bzw. Rationalitätstypen - darstellen.<br />
Um die verschiedenen Rationalitätstypen voneinander zu unterscheiden,<br />
folgt Welsch der Einteilung, welche schon Kant in seiner Dreiheit der Kritiken<br />
andeutete und Habermas in heutiger Zeit aufnimmt und vertritt. Dabei<br />
handelt es sich um die Unterscheidung in kognitive, moralisch-praktische und<br />
ästhetische Rationalität. Diese Einteilung ist vor dem Hintergrund einer jahrhundertelangen<br />
Konfrontation mit einem einheitlichen Vernunftbegriff zu<br />
verstehen und den Bemühungen, diese Einheit zu erfassen. Dazu ist eine<br />
Einteilung als in voneinander zu differenzierende Rationalitätsbereiche als<br />
Schritt der Handhabung von Komplexität zu verstehen; so scheinen „Gegenstandsbereiche“<br />
geschaffen, welche in sich eine Art von Geschlossenheit darstellen<br />
und nach innen homogen wirken, im Außenverhältnis aber abgrenzbar<br />
sind, eine Heterogenität darstellen. Dieser Prozess der Ausdifferenzierung<br />
bedeutete bis dato kurzschlüssig eine „Autonomisierung und Separie-<br />
...<br />
115
ung“ 92, welche aber nach Welsch völlig unbegründet und letztlich nicht<br />
haltbar erscheint. Die Ablösung des Mythos der Wohlordnung durch die<br />
Einteilung in voneinander zu trennende Rationalitäten ist zugunsten einer<br />
Hypothese der rationalen Unordnung (s. u.) längst überfällig. So bedingt nach<br />
Welsch der Ausdifferenzierungsprozess einen Abgleich mit demjenigen, von<br />
dem sich differenziert wird und ein Abgleich impliziert immer eine Art von<br />
(komplementärem) Bezug zueinander. Die so sich differenzierenden Rationalitäten<br />
sind somit nicht derart getrennt, wie das Hyperdifferenz-Theorem<br />
dies impliziert.<br />
116<br />
„Vielmehr bilden sich die Formen der Rationalität von Anfang an gegeneinander<br />
und sind für ihre Eigendefinition auf ihre Kontrahenten angewiesen.<br />
Daher tragen sie von vornherein Bestimmungen des Anderen in sich.“ 93<br />
Aus der Perspektive der entstehenden <strong>St</strong>ruktur lässt sich dies also eher als<br />
Netzwerk verstehen denn als Rationalitäten-Insel (Lyotard) oder -Sektor<br />
(Habermas). 94<br />
6.1.2 Die Pluralisierung von Paradigmen95 Dem ersten Schritt der Pluralisierung (Ausdifferenzierung) folgt der zweite<br />
Schritt, die „Pluralisierung im terminologischen Sinne“, was bedeutet, dass<br />
die Rationalitäten unterschiedliche Paradigmen beherbergen, die sich ihrerseits<br />
- weder in ihrer charakteristischen Ausprägung noch in ihrer spezifischen<br />
Dynamik - mit den gegebenen Bedingungen der ‚Herberge‘ zufrieden<br />
zeigen, sondern die eigenen Bedingungen in Frage stellen, reflektieren und<br />
verändern. Die verschiedenen Paradigmen finden sich in einem Rationalitätstyp<br />
nicht vollständig wieder, sondern sie gehen über die Rationalitätsgrenzen<br />
hinaus, gehen Verbindungen mit anderen Rationalitätstypen und<br />
dort mit anderen Paradigmen ein und erweitern, transzendieren die Grenzen<br />
der eigenen Daseinsbedingung, des spezifischen Rationalitätstyps.<br />
92 Welsch (1996: 442).<br />
93 Welsch (1996: 434).<br />
94 Vgl. zum Netzwerk-Gedanken bezüglich der <strong>St</strong>ruktur der Vernunft Wellmer, A.<br />
(1986): Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik,<br />
Frankfurt, S. 171f., wo Wellmer die Vernunft als „Zusammenspiel partialer<br />
Vernunftmomente“ bezeichnet.<br />
95 Vgl. zu diesem Abschnitt Welsch (1996: 444ff.) im Besonderen und ausführlicher<br />
Welsch (1996: 541ff.).
Es ließe sich einwenden, dass eine Neubestimmung der Extension der Rationalität<br />
noch nicht an deren Grundfesten rüttelt, selbige also nicht grundlegend<br />
in Frage stellt; ganz im Gegenteil: eine Ausweitung könnte eher mit<br />
einer <strong>St</strong>ärkung des jeweiligen Rationalitätstyps in Verbindung gebracht werden,<br />
als mit Schwächung durch Infragestellung. Doch Welsch geht auch in<br />
diesem Punkt weiter. So beschränkt sich bei ihm der Einfluss der Paradigmen<br />
auf die Rationalität nicht auf die Extension derselben, sondern setzt<br />
sich auch mit der inneren Verfassung und Methodik der Rationalität auseinander.<br />
So wie Paradigmen auch nicht nur Extension, nur Grenzziehung bedeuten,<br />
sondern Kriterien und Methodiken generieren, prüfen und vertreten,<br />
so ist deren Interaktion mit der Bedingung der Rationalität nicht nur äußerlicher,<br />
sondern auch und vor allem innerlicher Natur. Es entsteht eine Dialektik<br />
zwischen Paradigma und Rationalität, deren Charakteristik die formale<br />
und innere Verfasstheit beider Seiten evolviert.<br />
Durch die Verflechtung zwischen Paradigmen unterschiedlicher Rationalitätstypen<br />
entsteht zudem nicht nur innerhalb einer Rationalität die prozessuale<br />
<strong>St</strong>ruktur einer Methoden- und Theorien-Dialektik seiner Teile; es<br />
kommen auch die Beziehungen der Rationalitäten zueinander durcheinander.<br />
Diese „Unordentlichkeitswirkungen“ 96 sind aber keineswegs zu verwechseln<br />
mit Bereichen irrationaler Prozesse, sondern sind ganz im<br />
Gegenteil aus der Entwicklung der Rationalitäten selbst zu erklären. So ist<br />
die Auflösung der eigenen Grenzen aus Sicht der Rationalität rational<br />
rekonstruierbar; es handelt sich somit um „rationale Unordentlichkeit“ 97 und<br />
ist aus diesem Grund auch zentral relevant aus der Perspektive eines<br />
vernunftkritischen Ansatzes.<br />
Darüber hinaus kann es nach Welsch im Zuge der Verflechtungen zu gefestigten<br />
Verbindungen zwischen Paradigmen kommen, welche in ihrer<br />
<strong>St</strong>ruktur quer zu den Rationalitätsbereichen liegen und lateral sich ins Ganze<br />
der Rationalität erstrecken. Durch eine Bewährung im Ganzen kann es zu<br />
einer Etablierung dieser Paradigmenverbände kommen, so dass unterschiedliche<br />
Versionen des Ganzen entstehen. Das Ganze der Rationalität<br />
wird auf diese Weise perspektivisch unterschiedlich konstruiert und rekonstruiert<br />
und erscheint zudem plural konstituiert. Diese plurale Konstitution<br />
ist schon im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung der Vernunft in<br />
96 Welsch (1996: 445).<br />
97 Welsch (1996: 447; Hervorhebung im Original).<br />
117
Rationalitäten angeklungen, erfährt aber durch diese Paradigmenbetrachtung<br />
eine neue Qualität. Es ist nun nicht mehr die Methodik der Komplexitätshandhabung,<br />
welche Pluralität identifiziert und durch eine Teilung gerecht<br />
zu werden versucht, sondern jetzt ist es eine eigen initiierte Dynamik,<br />
welche von innen Pluralität selbstorganisatorisch und eigensinnig erzeugt.<br />
Diese eigengesetzliche Dynamik fordert einen phänomenologischen <strong>St</strong>atus<br />
der Autonomie und operationale Geschlossenheit ein. 98<br />
Zusammenfassend besteht die Pluralisierung der Paradigmen aus drei<br />
Aspekten:<br />
� Die Konfliktlage konkurrierender Paradigmen<br />
� Die Verflechtungen zwischen Rationalitätsbereichen<br />
� Unterschiedliche Konstruktionen des Ganzen<br />
Sie stellen die charakteristischen Parameter der rationalen Unordentlichkeit der<br />
Rationalität dar. Diese rationale Unordentlichkeit gilt es, nach Welsch, „als<br />
Realverfassung der Rationalität zu erkennen“ 99.<br />
Es zieht sich diese Bestandsaufnahme struktureller Verflechtungen auch<br />
durch die einzelnen diskursiven Konstitutionsprozesse der Rationalitätstypen<br />
hindurch. So muss man sich gleichsam in der Frage nach Grenzen von<br />
Rationalitätstypen mit der Frage der Unterscheidung bzw. eindeutiger<br />
Zuordnung von Diskursen auseinandersetzen. Um nicht den gesamten<br />
Argumentationsstrang nachzuzeichnen, sei an dieser <strong>St</strong>elle zusammenfassend<br />
referiert, dass Welsch eine trennscharfe Differenzierung der Diskurse<br />
(ästhetisch, moralisch-praktisch, kognitiv-instrumentell) ablehnt. Er beschreibt<br />
und belegt in einer genaueren Analyse der Referenzbereiche der<br />
einzelnen Diskursarten, wie sich die These der Verflechtung im Gegensatz<br />
zum Trennungstheorem größerer Plausibilität erfreuen kann. 100 Dabei stellt<br />
er bezüglich der Referenzbereiche fest, dass keine der drei Diskursarten sich<br />
alleinig auf ihren jeweiligen Bereich bezieht, sondern immer auch Elemente<br />
98 Diese beiden Parameter, Autonomie und operationale Geschlossenheit, ergeben sich<br />
aus der Feststellung, dass Pluralität selbstorganisatorisch entsteht. Diese Form der<br />
Genese produziert und reproduziert diese beiden Parameter, da sie zu ihrem Fortbestand<br />
beitragen, quasi automatisch im Prozess der Autopoiese. Dies kann an dieser<br />
<strong>St</strong>elle nicht näher ausgeführt werden. Es sei dabei verwiesen u. a. auf Probst (1987),<br />
Krohn/Küppers (1990). Hier werden die Zusammenhänge von Eigengesetzlichkeit,<br />
Selbstorganisation und Autopoiese detaillierter erläutert.<br />
99 Welsch (1996: 446).<br />
100 Vgl. zu der Analyse der Diskursarten Welsch (1996: 461-539).<br />
118
aus anderen Bereichen ‚importiert‘ und somit Verflechtungen erzeugt. Der<br />
ästhetische Diskurs beispielsweise<br />
„(...) ist kein rein ästhetischer, sondern von seiner Grundschicht her immer<br />
auch schon ein moralisch-praktischer Diskurs. Autonomieforderung, Gestaltungsgebot<br />
und Freiheitsstatus sind ihm von dorther eingeschrieben. Noch in<br />
der Zieldoppelung, die für ihn charakteristisch ist – im Oszillieren zwischen<br />
Kunstpurismus und Lebensdienlichkeit -, wirkt diese moralische Grundierung<br />
nach.“ 101<br />
Ähnlich verhält es sich auch mit den anderen beiden Diskursarten. In dem<br />
Verflechtungsbefund gilt es zudem, sich gegen andere charakteristische Verbindungstypen<br />
abzugrenzen. So stand und steht die Majorisierung einer<br />
Diskursart durch eine andere dem Heterogenitätstheorem entgegen, denn<br />
was inkommensurabel zueinander ist, kann auch nicht durch einander ersetzt<br />
bzw. teilweise substituiert werden. Die Verflechtungsthese hebt diesen<br />
Widerspruch zwar auf, ist selbst aber deutlich von der Majorisierung zu<br />
unterscheiden. Denn Letztere kennt das plurale Gleichgewicht nicht und ein<br />
möglichst ganzheitliches und ausgewogenes Annähern an Sachverhalte kann<br />
danach nur aus der Perspektive eines Favoriten geschehen, welcher die übrigen<br />
ausblendet. 102<br />
Im Gegensatz zu der Verfasstheit der Paradigmenverflechtungen rekurriert<br />
Welsch bei der Beschreibung der Verfasstheit der Diskursverflechtungen auf<br />
den Wittgensteinschen Terminus der „Familienähnlichkeit“. 103 Diese bildet<br />
den Referenzpunkt der Kohärenz der Diskursarten, hebt dabei aber deren<br />
Differenzierungspotential zueinander nicht vollständig auf. Somit bleibt<br />
nachvollziehbar, von unterschiedlichen Diskursarten zu sprechen, jedoch<br />
nicht in einer Art und Weise, welche Separation und Inkommensurabilität<br />
101 Welsch (1996: 527).<br />
102 Welsch referiert zu dieser Thematik besonders prominente Majorisierungen. So zum<br />
Beispiel das Primat des Erkennens bei Sokrates, welches die Kultur der Dominanz des<br />
Kognitiven aussetzt und welches nach Nietzsche („das mörderische Princip“; 1872)<br />
zum Untergang der antiken Tragödie geführt hat. Vgl. Nietzsche, F. (1872): Die<br />
Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders. (1980), Sämtliche Werke,<br />
Kritische <strong>St</strong>udienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Colli, G./Moutinari, M., Bd. I,<br />
München, S. 9-156, hier S. 85. Auch bei Hegel lässt sich anfangs eine ästhetische Majorisierung<br />
identifizieren (Hegel: Mythologie der Vernunft), welche später zu einer<br />
kognitiven Majorisierung mutierte (Hegel: Ästhetik), zitiert nach Welsch (1996: 530ff.).<br />
103 Vgl. Wittgenstein, L. (1984): Philosophische Untersuchungen, in: ders. (1984), Werkausgabe,<br />
Bd. I, Frankfurt, S. 225-580, zitiert nach Welsch (1996: 396ff.).<br />
119
der Diskurse impliziert. Genauer expliziert sich die Art der Zuordnung der<br />
Diskursarten zueinander genealogisch:<br />
120<br />
„Der neue Kandidat hat seine Konturen durch Bezugnahme auf vorhandene<br />
Bestände des Diskurses gewonnen, hat sich mit deren Hilfe ausgezeugt.“ 104<br />
Damit ist nicht gesagt, dass den Diskursarten ein ‚Wesen‘ gemeinsam sein<br />
muss, auch müssen sie nicht allesamt nur ein einziges Merkmal teilen, sondern<br />
gemeinsam ist ihnen die Zuordnung zu der jeweiligen Gruppe. Für den<br />
Zusammenhang des Ganzen kann es sogar von Vorteil sein, wenn nicht nur<br />
ein einziges Merkmal alles zusammenhält. Denn bei Wegfall dieses Merkmales<br />
wäre gleich das Ganze gefährdet. So sind Schnittmengen, welche von<br />
Diskursart zu Diskursart, von Diskursversion zu Diskursversion variieren<br />
oftmals stabiler, da bei Ausfall bzw. Defektion einer Schnittmenge das Ganze<br />
als Zusammenhang nicht grundsätzlich zur Disposition steht. Die Vielfalt<br />
und Heterogenität der Verbindungen macht eine ebenso heterogene wie vielfältige<br />
Defektionsstruktur notwendig, welche schon an sich nur schwer vorstellbar<br />
ist, jedoch in der Wahrscheinlichkeit der Deckungsgleichheit mit der<br />
realen Schnittmengenstruktur nahezu gegen Null geht. 105 Es bleibt festzustellen,<br />
dass die konvergente Wirkung dieses Zuschreibungsmodus über<br />
heterogene Schnittmengen konstitutiv für die Familienähnlichkeit der Diskursarten<br />
wirkt.<br />
6.2 Zentrale Verhältnisbestimmungen<br />
Neben die Gegenstandsbestimmungen stellen sich die Verhältnisse als zentral<br />
charakteristische Parameter einer Konzeption. Im Folgenden werden<br />
zwei relevante, weil die Konzeption von Welsch zentral charakterisierende<br />
Verhältnisbestimmungen erläutert.<br />
6.2.1 Vernunft und Rationalität<br />
Der Versuch, Vernunft und Rationalität voneinander, miteinander oder gegeneinander<br />
zu differenzieren, ist an dieser <strong>St</strong>elle als eine Annäherung zu<br />
104 Welsch (1996: 536).<br />
105 So auch Wittgenstein (1984: I, 278, zitiert nach Welsch 1996: 538): „(...) die <strong>St</strong>ärke des<br />
Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern<br />
darin, daß viele Fasern einander übergreifen.“
verstehen, welche zum Ziel hat, aus den Erkenntnissen über das Verhältnis<br />
von Rationalitäten zueinander Rückschlüsse auf die Verfasstheit von Vernunft<br />
zu ziehen. Zusätzlich ist für die weitere Argumentation relevant, die<br />
Möglichkeit einer Transformation bzw. Transzendenz der ökonomischen<br />
Rationalität in eine ökonomische Form von Vernunft zu prüfen. Die Verschränkung<br />
und Unterschiedenheit von Vernunft und Rationalität stellen<br />
sich wie folgt dar. 106<br />
Nach Welsch lassen sich Vernunft und Rationalität nicht vollständig voneinander<br />
separieren. Ihre Reflexionstätigkeit ist nicht grundlegend verschieden,<br />
doch ist sie in „Ausrichtung und Funktion“ 107 zu differenzieren. Dabei<br />
scheint eine gewisse Figur der Umklammerung der Rationalität durch die<br />
Vernunft durchzuscheinen, ohne aber zu implizieren, dass die Rationalität<br />
ein Teil der Vernunft ist. Die Umklammerung kommt nämlich eher einer<br />
Klammerung gleich, die die Verhältnisse der Rationalitätstypen zueinander<br />
beschreibt und handhabt. Die Vernunft ist damit nicht Meta-Rationalität,<br />
kann also nicht hierarchisiert werden und ist in ihrem ‚Wesen‘ der ausgewogenen<br />
Ganzheitlichkeit per se nicht vergleichbar mit der Rationalität. Welsch<br />
fasst dies wie folgt zusammen:<br />
„Beider [Rationalität und Vernunft; T.B.] Unterschied kann pauschal folgendermaßen<br />
angegeben werden: es ist die Funktion von Rationalität, sich auf<br />
Gegenstände zu beziehen; die von Vernunft hingegen, sich auf Rationalität<br />
und Vernunft zu beziehen. Die Operationen der Vernunft sind Operationen<br />
zweiter, die der Rationalität solche erster <strong>St</strong>ufe. Gleichwohl bedeutet dies nur,<br />
daß Vernunft und Rationalität zu unterscheiden, nicht aber, daß sie zu trennen<br />
sind. Vernunft und Rationalität stellen im Grunde dasselbe reflexive Vermögen<br />
dar - nur in unterschiedlicher Ausrichtung und Funktion. Mit dem Ausdruck<br />
‚Rationalität‘ verweisen wir auf seine gegenstandsthematisierenden, mit dem<br />
Ausdruck ‚Vernunft‘ auf seine rationalitäts- und selbstbezogenen Leistungen.“<br />
108<br />
Somit treffen Rationalitäten Gegenstandsaussagen und konstituieren Bereiche,<br />
innerhalb derer sie ihre Kriteriensätze und Methoden entfalten. Die Gegenstandsaussagen<br />
beziehen sich dabei weder explizit auf das Verhältnis der<br />
106 Vgl. zum Folgenden Welsch (1996: 635ff.).<br />
107 Welsch (1996: 635).<br />
108 Welsch, W. (2000a): Vernunft und Übergang - das Konzept der transversalen Vernunft,<br />
in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 79-91, hier S. 87; Hervorhebungen im Original; Fußnoten<br />
weggelassen.<br />
121
Rationalitäten zueinander noch ist ihr Bereich der gesamte Bereich der Rationalitäten.<br />
Vernunft dagegen ist vornehmlich durch das „Vermögen der<br />
Selbstreflexion“ 109 gekennzeichnet. Diese Reflexion bezieht sich im Gegensatz<br />
zur Gebietsorientierung der Rationalität auf Totalität; die Vernunft<br />
122<br />
„(...) will alles in den Blick nehmen, immer noch einen Schritt weiter gehen,<br />
sie will herausfinden, wie die Dinge im letzten zusammenhängen.“ 110<br />
Abgesehen davon, dass die Vernunft selbst wohl nicht Akteur ihrer selbst ist,<br />
also auch nichts „wollen“ kann, sondern dies durch das Individuum geschieht,<br />
präsentiert sie sich in einem Zugang zu den Reflexionsobjekten, der,<br />
neben den Objekten selbst, die Zusammenhänge der Objekte zueinander<br />
thematisiert. 111 Dieses perspektivenüberschreitende Vermögen thematisiert<br />
somit auch die Möglichkeit der Konnexion von Bereichen. Vernunft ließe<br />
sich als dasjenige identifizieren, welches Heterogenität und Konnexion zusammendenkt<br />
und nicht nebeneinander. Der transversale Charakter wäre<br />
auf dieser Ebene das tatsächliche Verbinden von heterogener Verfasstheit<br />
und multipler Verflechtung. Dies bedeutet im Welsch’schen Ansatz, dass<br />
nicht nur Verflechtung von Rationalitäts-, Diskurs- oder Paradigmenversionen<br />
gedacht wird, sondern dass darüber hinaus die Pluralität dieser<br />
Teile, welche Verflechtungen eingehen, mit eben dieser Verflechtung zusammengedacht<br />
wird.<br />
Wie schon angedeutet, thematisiert die Vernunft das Verhältnis der Teile des<br />
Ganzen. Hiermit ist das Verhältnis - als prozessuale Dimension einer wie<br />
auch immer gearteten Handhabung einer wie auch immer gearteten Umwelt<br />
- mit dem pluralen <strong>St</strong>atus des Gegenstandes - als Dimension der Verfasstheit<br />
der wie auch immer gearteten <strong>St</strong>ruktur eines wie auch immer gearteten Ganzen<br />
- in Beziehung gesetzt. <strong>St</strong>atus und Prozess stehen in einer Relation des<br />
Ganzen – auch wenn dieses ‚Ganze‘ selbst nur eine Relation seinerseits darstellt.<br />
Eine wie auch immer geartete Vernunft ist in diesem Sinne die Handhabung<br />
paradoxaler Komplementaritäten, die in ihrer Differenzierung verbinden,<br />
die in ihrer Bewegung Kontinuität suchen, die in ihrer Totalität relativ<br />
und plural sind.<br />
109 Welsch (2000a: 80).<br />
110 Welsch (2000a: 87).<br />
111 Eine Kritik an der Personifizierung von Vernunft wird an späterer <strong>St</strong>elle aufgenommen.<br />
Vgl. Abschn. 9.2.3.
Neben der unterschiedlichen Vollzugs- und Bezugscharakteristik von Vernunft<br />
und Rationalität ist deren Mengenstatus zu klären. Während Totalitätsbzw.<br />
Bereichsorientierung prozessuale Bestimmungen sind, ist deren jeweiliger<br />
<strong>St</strong>atus in ihrer Lokalität, in ihrer inhaltlichen Extension bislang unterterminiert<br />
- insbesondere im Verhältnis zueinander. Welsch möchte hier mit<br />
einem, nach seiner Meinung, traditionellen Missverständnis aufräumen, welches<br />
die Vernunft als Meta-Rationalität konzipierte. Dies ergab sich aus der<br />
traditionellen Vernunftkonzeption, die der Vernunft einer inhaltlichen Bestimmung<br />
zugeführt hatte, einem „Satz fundamentaler und inhaltlicher<br />
Prinzipien (...), der ihr die Dekretierung einer Meta-Ordnung für alle Gegenstände<br />
und für all unser Verstehen und Begreifen ermöglichte“ 112. Diese traditionelle<br />
Interpretation verfehlt den Begriff der Vernunft und dessen Charakteristik<br />
„in grundsätzlicher Weise“ 113.<br />
Wie verhält sich jedoch nun die Vernunft zu der Rationalität, wenn sie nicht<br />
über ihr steht? Nach Welsch ist die Vernunft immer schon in der Rationalität<br />
enthalten, da sich die Rationalität derselben „logischen Prinzipien bedient,<br />
die wir zuvor als <strong>St</strong>rukturen der Vernunft identifiziert haben“ 114. Aufgrund<br />
dieser Überschneidung in den formalen Vollzügen schließt Welsch, dass<br />
Vernunft ein „immanentes und notwendiges Moment von Rationalität“ 115 ist.<br />
Somit können also beiden dieselben formalen Logiken zugeschrieben<br />
werden, und die Unterscheidung zwischen ihnen bezieht sich auf die<br />
Differenz in der Perspektive, wie bereits oben schon erwähnt.<br />
„In gewissem Sinne beginnen die Aufgaben der Vernunft dort, wo die Interessen<br />
der Rationalität enden. Während Rationalitätstypen ihr Verhältnis zu<br />
anderen Typen und Gebieten nur sekundär und in strategischer und selbstsichernder<br />
Absicht ins Auge fassen, widmet Vernunft sich genuin der Frage<br />
nach dem Verhältnis der diversen rationalen Formen – und zwar in einem<br />
Geist fortgesetzter Klärung und vorbehaltloser Gerechtigkeit.“ 116<br />
Unklar bleibt, warum der Inhalt von Vernunft rein formaler Natur sein soll,<br />
wenn als Inhalt gerade dasjenige beschrieben wird, was von der Rationalität<br />
aufgrund ihrer durch den Bereich beschränkten Perspektive nicht mehr er-<br />
112 Welsch (2000a: 86).<br />
113 Ebenda.<br />
114 Welsch (2000a: 87).<br />
115 Ebenda.<br />
116 Ebenda.<br />
123
fasst werden kann. Somit scheint doch ein Inhalt der Vernunft bestehen zu<br />
bleiben. Dieser Inhalt ist aber qualitativ unterschiedlich zu den Inhalten der<br />
Rationalität. Dies ist Ansatzpunkt für die spätere kritische Reflexion. 117<br />
Zusammenfassend, wenn auch weder umfassend noch abschließend, lassen<br />
sich die Welsch‘schen Differenzierungen von Vernunft und Rationalität mit<br />
Keller beschreiben:<br />
124<br />
„Die Unterscheidung zwischen Rationalität und Vernunft wird von Welsch<br />
auf verschiedene Weise getroffen: (1) Vernunft ist selbstbezogen, während<br />
Rationalität objektbezogen ist. Die Funktion ist es, das Denken auf sich selbst<br />
und auf seine Prinzipien zu beziehen, während die Funktion der Rationalität<br />
es ist, Gegenstände begrifflich zu erfassen. (2) Vernunft ist rein formal, während<br />
Rationalität inhaltsbezogen ist. (3) Vernunft ist totalitätsbezogen, während<br />
Rationalität auf einen begrenzten Gegenstand oder Bereich von Gegenständen<br />
bezogen ist.“ 118<br />
6.2.2 Vernunft und Totalität<br />
Wie Welsch ausführt, gibt es erste Anzeichen für eine Infragestellung der<br />
(totalitären) Einheitsidee bereits bei Platon. 119 Dieser richtete seine Aufmerksamkeit<br />
in seiner Spätphilosophie auf Ideenverhältnisse, die beschreiben<br />
sollten, welche Grundtypen in der Betrachtung von Gemeinsamkeit und<br />
Unterschied vorliegen. Neben dem Verhältnis der Durchgängigkeit (eine Idee<br />
wird von einer anderen durchdrungen), dem Verhältnis der Komplexion (eine<br />
Idee umfasst mehrere andere) und dem Verhältnis der Konstellation (mehrere<br />
Ideen konstituieren eine andere) trifft Platon auf das Verhältnis der Heterogenität<br />
(die Ideen haben aufgrund des Grades ihrer Unterschiedlichkeit keine<br />
Gemeinsamkeiten). Dies zieht die Konsequenz nach sich, dass in diesen<br />
Fällen auch bei vorhandener Einheitsintention die Ideen nicht zusammengeführt<br />
werden können, somit auch keinen gemeinsamen Ideenstrang<br />
bilden. Welsch vergleicht die Ideen und deren <strong>St</strong>ruktur-Befund mit seinem<br />
Befund der Paradigmen, wie zuvor bereits ausgeführt wurde. 120 Welsch fasst<br />
dies wie folgt zusammen:<br />
117 Vgl. Abschn. 7.3.1.<br />
118 Keller, P. (2000): „Ist die Vernunft noch zu retten?“, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 108-110,<br />
hier S. 108.<br />
119 Die Ausführungen zu dieser Fragestellung beziehen sich überwiegend auf Welsch<br />
(1996: 637ff.).<br />
120 Siehe hierzu Abschn. 6.1.2 und bei Welsch (1996: 642, Fußnote 8).
„Nicht Einheit also ist das letzte Pensum des Platonischen Philosophen -<br />
dieses alte, parmenideische Einheitspathos läßt er vielmehr hinter sich -, und<br />
nicht Sophistik ist sein Schicksal - vor dieser, die nur für Unkundige der Dialektik<br />
zum Verwechseln ähnlich sieht, bewahrt ihn sein differenziertes<br />
Bestimmungsvermögen -, sondern der „rein und recht Philosophierende“<br />
führt die <strong>St</strong>ruktur des Ganzen als eine <strong>St</strong>ruktur mannigfaltiger Unterscheidungen<br />
und Verflechtungen vor Augen.“ 121<br />
Auch d’Alembert, der Wissen systemisch rekonstruiert, muss auf der Suche<br />
nach einem alles übersehenden <strong>St</strong>andpunkt schließlich kapitulieren und feststellen,<br />
dass jeder <strong>St</strong>andpunkt nur eine Perspektive sein kann, nur eine<br />
Sicht. 122 Die Übersicht existiert über Inseln im Ozean, nicht über deren Verbindungen<br />
unter dem Meeresspiegel. So bleibt eine Perspektive immer der<br />
Willkür verhaftet, der Willkür ihrer Auswahl als Ausgangspunkt. 123 Alle<br />
unterschiedlichen Perspektiven weisen dabei <strong>St</strong>ärken und Schwächen auf,<br />
und es scheint keine auffindbar, die die <strong>St</strong>ärken aller anderen in sich vereint,<br />
ohne dies auf Kosten von Schwächen bewerkstelligen zu können.<br />
Auch Wittgenstein scheint, so Welsch, in den Kanon der Perspektivenvielfalt<br />
einzustimmen. Die von unterschiedlichen Philosophen im Laufe der Jahrhunderte<br />
angefertigten „Landschaftsskizzen“ des vermeintlich Realen kommen<br />
nur in ihrer Gesamtheit, quasi als übereinander gelegte Folien, dem Tatsächlichem<br />
nahe; sie vermögen in ihrer Ansammlung dem Betrachter „ein<br />
Bild der Landschaft“ 124 zu vermitteln.<br />
121 Welsch (1996: 642f.).<br />
122 Vgl. hierzu d’Alembert/Diderot et al. (1989: 53f.). Auch Barthes deutet die Frage des<br />
Ganzen und des Zugangs zu diesem in Bezug auf das literarische Herzstück der<br />
Französischen Revolution an: „Die Enzyklopädie hört nicht auf, eine pietätslose Fragmentierung<br />
der Welt vorzunehmen, aber was sie an der Grenze dieses Bruchs findet,<br />
ist nicht der gänzlich reine Urzustand der Ursachen. Das Bild zwingt sie meistens,<br />
einen eigentlich unverständigen Gegenstand wieder zusammenzusetzen; ist die erste<br />
Natur einmal aufgelöst, taucht eine andere Natur hervor, ebenso geformt wie die<br />
erste. Mit einem Wort: das Aufbrechen der Welt ist unmöglich: Ein Blick genügt - der<br />
unsrige - damit die Welt immerwährend vollständig ist.“ (Barthes, R. (1989): Bild,<br />
Verstand, Unverstand, in: d‘Alembert/Diderot (1989), S. 30-49, hier S. 48; Hervorhebung<br />
im Original; ursprünglich entnommen aus: Barthes, R./Seguin, J.P./Mauzi, R.<br />
(1964): L’Univers de L’Enzyklopédie, Paris).<br />
123 Auch Habermas deutet eine „rekontextualisierende Vernunftkritik“ (Habermas 1998:<br />
222) in ihren Grenzen der immanenten Kritik: „Wenn es jedoch keine Vernunft gibt,<br />
die ihren eigenen Kontext übersteigen kann, wird auch der Philosoph, der dieses Bild<br />
vorschlägt, keine Perspektive für sich in Anspruch nehmen dürfen, die ihm einen solchen<br />
Überblick erlaubt.“ (Habermas 1998: 223).<br />
124 Wittgenstein (1984: 231f., zitiert nach Welsch 1996: 646).<br />
125
Kant bezeichnet Einheit als subjektives Bedürfnis, nicht als objektives Faktum.<br />
Zwar stellt Kant als Subjekt nicht das Individuum vor, sondern es ist<br />
die Vernunft selbst, welche die Einheit anstrebt. In der „Methodenlehre“ der<br />
Kritik der reinen Vernunft entwickelt Kant eine Symbiose aus Architektonik<br />
und Vernunft, aus System und Vernunft, wodurch jegliche Vernunftannäherung<br />
einem Einordnungsschritt in die (Einheits-)Architektur gleichkommt.<br />
Jedoch, und dies ist aus Perspektive der Welsch’schen Konzeption besonders<br />
interessant, sind auch bei Kant Anzeichen dafür zu finden, dass zum einen<br />
das Interesse der Vernunft nach Einheit selbst wiederum der Reflexion durch<br />
die Vernunft unterliegt und zum anderen daraus folgend, dass die prinzipielle<br />
Möglichkeit einer Integration von Vielheit in eine Vernunftskonzeption<br />
damit nicht ausgeschlossen werden kann. So würde eine Vernunftentwicklung<br />
um ihrer selbst Willen das Telos von Vernunft, die Wahrheit, konterkarieren.<br />
Das Vernunftinteresse „Einheit“ ist somit durch die letztliche Reflexion<br />
am Gedanken der Wahrheit, der authentischen Wahrnehmung von<br />
Realem, relativiert und kann situativ der Vernunft selbst und ihrem Telos<br />
untergeordnet werden.<br />
Diese Relativierung des Interesses der Vernunft ergibt sich stringent, insbesondere<br />
in postmoderner Auffassung, aus der „Maxime der Selbsterhaltung<br />
der Vernunft“ 125. Die Befolgung dieser Maxime soll eine Selbstzerstörung<br />
durch den Selbstzweck unmöglich machen. Es ist der Zielpunkt der Vernunft<br />
in der Wahrheit wohl absolut, jedoch die Vernunft selbst als Weg zur Erfassung<br />
nur „relativ absolut“, nämlich in dem Grade, in dem eine Annäherung<br />
an die Wahrheit gelingt. Dieses jedoch kann nicht zweifelsfrei festgestellt<br />
werden. Welsch hilft sich mit der terminologischen und damit auch semantischen<br />
Differenzierung eines „Ausgriffs aufs Ganze“ statt eines „Zugriffs“. 126<br />
In dieser Unterscheidung nämlich wird dem Paradoxon Rechnung getragen -<br />
und dies berührt den methodisch kritischen Kern der Totalitätsdebatte -,<br />
welches zwischen zwei Unmöglichkeiten generiert wird, nämlich<br />
126<br />
„(...) zwischen der logischen Unmöglichkeit einer Einschränkung des Ganzheitsanspruchs<br />
und der faktischen Unmöglichkeit eines Zugriffs aufs Ganze.<br />
Diesem Dilemma ist nur zu entkommen, wenn es eine Weise des Ausgriffs<br />
aufs Ganze gibt, die nicht von der Art eines Zugriffs ist. (...) Daher gehört zu<br />
Vernunft stets die Doppelfigur von Ausgriff aufs Ganze und Wissen darum,<br />
125 Kant, „Was heißt: sich im Denken orientieren?“, A 329, zitiert nach Welsch (1996: 653);<br />
Hervorhebungen im Original.<br />
126 Welsch (1996: 662).
daß dieses Ganze nicht handhabbar, nicht besetz- und besitzbar, nicht positiv<br />
zu kanonisieren ist. Fällt eines der beiden Momente weg, so verkehrt Vernunft<br />
sich in Unvernunft, und aus der Berufung auf Vernunft geht eine Praxis der<br />
Unvernunft hervor.“ 127<br />
So stellt sich die Vernunft selbst nicht als das Ganze, das Allumfassende dar,<br />
als Garant des Absoluten, sondern als Zugang, als Konnektion zum Absoluten,<br />
von welchem die Vernunft nie Teilhaberin werden kann, sondern immer<br />
nur Teilnehmerin in Form einer Ahnung vom Absoluten bleibt.<br />
Welsch beschreibt die vermeintlich zentralen Aspekte dieses paradigmatischen<br />
Wandels von Einheit zur Vielheit auch in der Frage nach einer <strong>St</strong>ruktur<br />
und Verfassung der Vernunft durch „Diversität als Signatur des Ganzen“<br />
128 und „Bejahung letzter Vielheit“ 129. Die Diversität als kognitiver Parameter<br />
auf der einen Seite beschreibt die neuartige Antwort auf die Frage<br />
nach der Ganzheit, nach Totalität. Es muss die „Entkoppelung von Ganzheitsfrage<br />
und Einheitsantwort“ 130 erreicht bzw. ergänzt werden durch<br />
„(...) die positive Formel „Verkoppelung von Ganzheitsfrage und Vielheitsauskunft“.<br />
Ganzheit bleibt die unverzichtbare Perspektive der Vernunft. Aber<br />
heute führt deren Verfolgung auf <strong>St</strong>rukturen der Diversität.“ 131<br />
Es ergibt sich daraus eine Verschiebung der Einheit auf die Ebene der pluralen<br />
Teile. Man könnte insofern antworten, dass die Ganzheitsfrage in<br />
modernem Sinne nur auf Ebene der Rationalitäten und deren Einheit beantwortet<br />
werden kann. Einheit bedeutet dann die Einheit der Rationalitäten als<br />
Teile eines vielfältigen Ganzen. Auf Ebene der Vernunft muss man sich mit<br />
der Diversität auseinanderzusetzen.<br />
Die „Bejahung letzter Vielheit“ ist weit mehr als nur eine Geschmacksfrage.<br />
Die Attraktivität von Einheit durchzieht die ganze Menschheitsgeschichte<br />
und steht in direktem Zusammenhang mit der Suche nach Orientierung,<br />
nach Kontinuität, nach Erfass- und Verstehbarem. Dort, wo nach Einheit gesucht<br />
wird, dort entwickeln sich Eigendynamiken, so dass auch diejenigen<br />
Dinge, die vielleicht von der Norm abweichen mögen, unter dem Blick-<br />
127 Ebenda.<br />
128 Welsch (1996: 659ff.).<br />
129 Welsch (1996: 662ff.).<br />
130 Welsch (1996: 660).<br />
131 Ebenda.<br />
127
winkel der Einheit in die Masse eingegliedert werden. Dies findet immer<br />
dann allgemeine Unterstützung, wenn<br />
� diese Abweichungen in expliziter Minorität auftreten und<br />
� die Eingliederung dieser Elemente einen zu vertretenden Anpassungsgrad<br />
derselben nicht überschreitet.<br />
Schon hier ist die Frage nach dem Kriterium der Vertretbarkeit vor die unlösbare<br />
Asymmetrie der Betroffenenzahl zur Gesamtzahl gestellt. Auch<br />
wenn die Minorität die Anpassung als nicht vertretbar einstuft, so wird sie<br />
sich aufgrund ihres Minderheitenstatus in einer demokratischen Ordnung<br />
mit demokratischen Entscheidungsprozessen nicht durchsetzen können.<br />
Dies öffnet der Exploitation von Einheit und den damit verbundenen gesellschaftlichen<br />
und individuellen Dimensionen Tür und Tor; die geschichtlichen<br />
Inzidenzien zeigen das deutlich und haben insbesondere nach der erneuten<br />
Erschütterung durch den 2. Weltkrieg dazu geführt, dass dem Einzelnen,<br />
und damit dem einzelnen Element des Ganzen (Gesellschaft bzw.<br />
Menschheit) in seinem Beitrag zur Pluralität ein höherer <strong>St</strong>ellenwert beigemessen<br />
wurde. Die Betonung von Vielfalt wird wieder zum Politikum. Vor<br />
allem die Frankfurter Schule hat diese Intentionen aufgenommen und in<br />
ihren sozialwissenschaftlichen <strong>St</strong>udien elaboriert.<br />
128<br />
„In der Tat sind wir heute – oft wohl noch zögerlich, aber doch zunehmend<br />
verbreitet – auf dem Weg, eine derartige emotionale Umstellung zu vollziehen.<br />
Wir finden uns nicht nur gehalten, zum Ideal letzter Einheit auf Distanz<br />
zu gehen und uns mit letzter Unüberschaubarkeit zu befreunden, sondern wir<br />
tun dies de facto immer stärker und zunehmend selbstverständlich. Weithin<br />
gilt unsere Suche und Aufmerksamkeit Phänomenen der Diskontinuität, Ambivalenz<br />
und Ungewißheit, der Aufdeckung von Abweichungen und Alternativen,<br />
den Hinweisen auf offene Ränder.“ 132<br />
Durch diese geschichtliche Konkretisierung und theoretische Verdichtung<br />
ergeben sich aus der programmatischen Perspektive für die Vernunft Aufgaben,<br />
die mit der Verhinderung von Überstrapazierung bzw. Instrumentalisierung<br />
des Einheitsgedankens auf Kosten von Toleranz, Integration und<br />
Partizipation zu tun haben. Vernunft hat sich als Vermögen auszuformen,<br />
„das im Medium der Vielheit zu operieren und Lösungen zu finden erlaubt“<br />
133. Die Legitimation einer aktuellen Vernunftkonzeption muss sich an<br />
132 Welsch (1996: 667).<br />
133 Welsch (1996: 668).
ihrer Leistungsfähigkeit in der pluralen Wirklichkeit messen lassen, an der<br />
Fähigkeit, (kognitive) Voraussetzung für einen sinnvollen und gerechten<br />
Ausgleich von verschiedenartigen und in sich einheitlichen Elementen einer<br />
Vielfalt des Ganzen zu schaffen und zu etablieren. 134 Dabei kann in diesem<br />
Zusammenhang nur die Ebene der prinzipiellen kognitiven und emotiven<br />
Öffnung und Sensibilisierung für die Relevanz von Toleranz und Bejahung<br />
von Vielfalt angesprochen werden.<br />
Welsch spricht von der „Vernunft als Korrektiv der Formen der Rationalität“<br />
und meint damit in Bezug auf einzelne Paradigmen zum einen die<br />
„beschränkte Selbstauffassung“ und zum anderen das „unbeschränkte<br />
Selbstbewußtsein“. 135 Bei der Selbstauffassung der Paradigmen, Geltung nach<br />
innen, besteht der Verdacht der reduktionistischen Selbstwahrnehmung, d. h.<br />
es wird die eigene Komplexität nicht ausreichend wahrgenommen, sei es<br />
unbewusst oder bewusst. Das führt dazu, dass oftmals das eigene (paradigmatische)<br />
Potential nicht erkannt und ausgeschöpft wird, da das<br />
(reduktionistische) Bild nach außen auch wieder reduktionistisch nach innen<br />
wirkt. So wird das eigentlich Komplexe durch seine simplifizierende<br />
Darstellung nach außen tatsächlich simpel. Die Reduktion kann darauf<br />
zurückgeführt werden, dass Paradigmen vornehmlich um das Verfolgen der<br />
„intentio recta“ 136 bemüht sind. In ihrer Spezifikation, in ihrer fokussierenden<br />
Verengung liegt einerseits die Bedingung des Potentials und der Produktivität<br />
von Paradigmen begründet, andererseits aber bedarf es der Verflechtung<br />
dieser Spezifikation mit anderen Spezifikationen, was nur selten<br />
von Paradigmen geleistet wird. Die Spezifikation geht auf Kosten der Adap-<br />
134 Ähnlich auch Jameson, F. (1986b): Postmoderne - Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus,<br />
in: Huyssen, A./Scherpe, K.R. (Hrsg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen<br />
Wandels, Reinbek bei Hamburg, S. 45-102, hier S. 99f., zitiert nach Welsch (1993:<br />
157ff.). Welsch gibt Jameson diesbezüglich wie folgt wieder: „So wie es durch Ausbildung<br />
neuer Organe und Wahrnehmungsformen gelingen könnte, sich im postmodernen<br />
Hyperraum neu zu orientieren, so vermöchten eventuell neue, vernetzungserfahrene<br />
Denkformen im planetarischen Raum des multinationalen Kapitalismus einen<br />
neuen <strong>St</strong>andort zu begründen, der seinerseits neue Handlungsmöglichkeiten freisetzte.“<br />
(Welsch 1993: 158). Diese vernetzungserfahrenen Denkformen sind diejenigen,<br />
die die Pluralität, „Die Neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas, J. (1985): Die Neue<br />
Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt) überbrücken helfen.<br />
135 Welsch (1996: 673).<br />
136 Welsch (1996: 674).<br />
129
tion, der Fokus steht im kompetitiven Verhältnis zur Verflechtung, es wird<br />
Inkommensurabilität zwischen den Paradigmen erzeugt. 137<br />
Das überzogene Selbstbewusstsein bezieht sich auf die Geltung nach außen in<br />
Relation zu anderen Paradigmen. Die eigene Geltung wird tendenziell überschätzt,<br />
da der Blick nicht in dem Grade nach außen gerichtet ist, wie er zu<br />
einer annähernd authentischen Auffassung des Umfeldes und des eigenen<br />
<strong>St</strong>atus notwendig wäre. <strong>St</strong>att dessen wird überwiegend nach innen geschaut<br />
und der innere <strong>St</strong>atus in die scientific community projiziert. Die Überschätzung<br />
ist selbst schon eine logische Konsequenz der defizitären Wahrnehmung<br />
des Umfeldes, da zum einen die Relationen der eigenen Forschungstätigkeit<br />
verloren gehen und zum anderen auch die fruchtbare kritische<br />
Auseinandersetzung mit umliegenden oder auch diametral entgegengesetzten<br />
Ansätzen ungenutzt bleibt.<br />
Eine gewisse Form von absolutistischer Prägung kann Folge dieser fehlenden<br />
Auseinandersetzung sein. Ausschließlichkeitsansprüche werden auch nach<br />
außen hin formuliert, welche einen Dialog mit anderen, ähnlich operierenden<br />
Paradigmen nahezu unmöglich machen. Vernunft hat in dieser Charakteristik<br />
der Paradigmen die Aufgabe, für die eigene Komplexität, aber auch<br />
die Komplexität des Ganzen zu sensibilisieren.<br />
7 Transversale Vernunft in der kritischen Reflexion<br />
Die kritische Reflexion einer so umfangreichen und umfassenden Konzeption,<br />
wie sie Welsch vorstellt, steht vor dem grundsätzlichen Problem der<br />
Komplexität und damit auch vor der Frage der Selektion. Um möglichst<br />
übersichtlich der Forderung nach einer repräsentativen Darstellung des Reflexionsspektrums<br />
nachkommen zu können, werden im Folgenden historische<br />
und aktuelle Ansätze und Positionen der Welsch’schen Konzeption gegenübergestellt.<br />
138 Diese Gegenüberstellung verspricht, hilfreich in Bezug auf<br />
137 Vgl. nochmals Abschn. 5.3, wo die Konzeption der Heterogenität und Konnexion von<br />
Deleuze und Guattari Parallelen zur Welsch’schen Konzeption aufweisen kann und<br />
Elemente seiner Vernunftkonzeption widerspiegelt.<br />
138 Es versteht sich, dass die Kritik klassischer Ansätze an der Welsch’schen Konzeption<br />
in anderer Form geschieht, als die Skizzierung direkter aktueller Reaktionen auf die<br />
transversale Vernunft; klassische Ansätze können in ihrer Kritik nur hypothetisch<br />
entwickelt werden. Welsch selbst hat umfangreiche Analysen bezüglich der Bezüge<br />
zu anderen Ansätzen durchgeführt; auf diese sei sich hier hauptsächlich bezogen.<br />
130
die historische Einordnung aber auch auf eine begriffliche Schärfe zu sein.<br />
Die aktuellen zentralen Charakteristika sind dem Diskussionsbeitrag „Vernunft<br />
und Übergang - Zum Konzept der transversalen Vernunft“ in der<br />
Fachzeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften (EuS), Jg. 11 (2000), Heft 1,<br />
entnommen. Auch die nachfolgende kritische Auseinandersetzung lehnt sich<br />
vor allem an die Kritik und ihre Replik an, die als Reaktion auf den Beitrag<br />
von Welsch in der selbigen Fachzeitschrift erfolgte. 139<br />
7.1 Historisch-begriffliche Verhältnisbestimmungen<br />
Durch die Auseinandersetzung mit profilierten Positionen kann die<br />
Welsch’sche Konzeption im Folgenden an Schärfe gewinnen. Insbesondere<br />
der zu Beginn aufgenommene Paradigma-Begriff wird durch die Auseinandersetzung<br />
mit der Kuhnschen Konzeption inhaltlich an Profil gewinnen.<br />
Ferner geht es darum, eine wie auch immer zu beschreibende Art von Weiterentwicklung<br />
der philosophischen wie auch wissenschaftstheoretischen<br />
Forschung durch den Welsch’schen Ansatz transparent zu machen. Dies<br />
kann nur über eine Integration in den Kontext historischer Erkenntnisprozesse<br />
erfolgen.<br />
Welsch sieht die postmoderne Zersplitterung der einheitlichen Moderne als<br />
fraktale Dichotomie seiner Teile, die auf historische Trennungsvorgänge<br />
rückführbar ist. Identifizierte Inkommensurabilitäten, konstruktivistische<br />
Geschlossenheit proklamieren die Unmöglichkeit von Konnexion, von Übergängen.<br />
In diesem Spannungsfeld von Heterogenität und Konnexion transportiert<br />
Welsch den Übergangsgedanken. Trennung versus Übergang generiert<br />
plural-konstruktive Bezugsrahmen, in welchen Welsch seine Konzeption<br />
entwickelt. Aus diesem Grunde sind die folgenden Abgrenzungen letztlich<br />
eine Demonstration nicht nur historischer und postmoderner Trennungsüberzeugung,<br />
sondern vor allem Vorstellung und Abgleich des reflektierten<br />
Übergangs. In der Auseinandersetzung mit dem Vernunft-Begriff bei<br />
Kant können die Anschlüsse und die Neuerungen bezüglich der Bestimmungen<br />
von Vernunft aufgezeigt werden.<br />
139 Auf allgemeine Darstellungen der transversalen Vernunft bei anderen Autoren kann<br />
nicht explizit eingegangen werden. Sofern sie keine überwiegend kritische Position<br />
einnehmen, werden sie hier „übergangen“. Ausgewählte Rezeptionen sind bspw.<br />
Sandbothe (1998: 77ff.); Wiesmann, D.H. (1989): Management und Ästhetik, München,<br />
S. 242ff.; Kirsch (u. a. 1992).<br />
131
7.1.1 Paradigma-Begriff nach Kuhn 140<br />
In der Welsch’schen Wiedergabe lässt sich der Kuhnsche Paradigma-Ansatz<br />
wie folgt charakterisieren: Der Paradigma-Begriff folgt einer dualen Differenzierung,<br />
welche man zum einen als rational-strukturell und zum anderen<br />
als exemplarisch charakterisieren könnte. Die rational-strukturelle Interpretation<br />
des Paradigma-Begriffs weist auf die Vorstellung einer unter dem Paradigma-Begriff<br />
subsumierten Konstellation von Meinungen, Werten und<br />
Methoden hin, welche in ihrer umfassenden Bedeutung leitend für das Denken<br />
und Handeln der sich in diesem Paradigma bewegenden Individuen<br />
sind. Der exemplarische Charakter weist hingegen auf ein Verständnis hin,<br />
welches das Paradigma als spezifische Problemlösungsstruktur interpretiert,<br />
die in ihrer Charakteristik zwar auch geleitet ist von Meinungen, Methoden<br />
und Werten, jedoch nur und im Besonderen in dieser spezifischen situationsabhängigen<br />
Problemstruktur zum Tragen kommt. 141 Diese zweite Semantik<br />
hebt sich deutlich von der ersten ab. Welsch vertritt den <strong>St</strong>andpunkt, dass<br />
diese zweite Semantik als ein Teil der ersten Interpretation gesehen werden<br />
kann. Damit hätte die exemplarische Deutung ihre Eigenständigkeit im Sinne<br />
einer Gleichwertigkeit zur rational-strukturellen Semantik eingebüßt.<br />
Auch Kuhn schränkt die exemplarische Bedeutung des Paradigma-Begriffs<br />
ein, lässt sie aber bestehen. Dies kann nach der Welsch’schen Konzeption<br />
nicht gelten, weil diese den Paradigma-Begriff unbedingt an den Rationalitätsbegriff<br />
angeschlossen sieht und als Resultante des zweiten Pluralisie-<br />
140 Grundsätzlich stützt sich die folgende Darstellung auf Kuhn, Th.S. (1977): Neue<br />
Überlegungen zum Begriff des Paradigmas, in: ders. (1977), Die Entstehung des<br />
Neuen. <strong>St</strong>udien zur <strong>St</strong>ruktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt, S. 389-420, Kuhn<br />
(1976), Kuhn (1979) und die Rezeption bei Welsch (1996: 543ff.) und Lueken (1992:<br />
118ff.).<br />
141 Diese spezifische Differenzierung ergibt sich aus dem spezifischen Forschungsinteresse<br />
von Welsch, stellt aber keine allgemein gängige Differenzierung dar. Da die Darstellung<br />
bei Kuhn vielfältige und zum Teil sich partiell widersprechende Charakterisierungen<br />
liefert, ist ein genaues Fassen der Definition nur schwer möglich. Masterman<br />
(1974) hat aus diesem Grund sich die Mühe gemacht, die unterschiedlichen Semantiken<br />
in drei Kategorien zu unterteilen. Diese Kategorien unterscheiden sich inhaltlich<br />
und differenzieren den Paradigmabegriff nach Kuhn. Masterman unterscheidet<br />
die Dimensionen metaphysisch (Glaubenssätze etc.), soziologisch (Gewohnheiten,<br />
Gemeinsamkeiten etc.) und konstruiert (konkretes Musterbeispiel). Lueken (1992: 119)<br />
schlägt vor, den Begriff „konstruiert“ durch „instrumentell“ zu ersetzen. Diese inhaltlichen<br />
Differenzierungen zeigen deutlich das „Gegengewicht“ zu einer rein phänomenologischen<br />
<strong>St</strong>rukturanalyse, wie Welsch sie vornimmt. Vgl. Masterman, M.<br />
(1974): Die Natur eines Paradigmas, in: Lakatos, I./Musgrave, A. (Hrsg.), Kritik und<br />
Erkenntnisfortschritt, Braunschweig, S. 59-88, zitiert nach Lueken (1992: 118f.).<br />
132
ungsschrittes identifiziert. Wäre das Paradigma exemplarisch zu verstehen,<br />
so implizierte dieser Pluralisierungsschritt gleichzeitig einen kategorialen<br />
Schritt. Die Qualität einer Rationalität wäre mit einer exemplarisch verstandenen<br />
Paradigmen-Konstruktion nicht vergleichbar, weil Letzterer die Reichweite<br />
eines situationsunabhängigen Handlungs- und Denkmusters fehlt.<br />
Demnach könnte aufgrund dieser kategorialen Asymmetrie nicht von einem<br />
zweiten Pluralisierungsschritt gesprochen werden, sondern es läge eine<br />
interne Differenzierung der Rationalität vor. Welsch baut aber grundsätzlich<br />
den Paradigmenbegriff in der Weise auf, dass eine Pluralisierung des Rationalitätsbereichs<br />
erfolgt, welche von diesem Bereich eben nicht definitorisch<br />
vereinnahmt wird, sondern über diesen hinausgeht. Es entstehen Paradigmen-Verknüpfungen<br />
beinahe unabhängig von den Grenzen der jeweilig<br />
betroffenen Rationalitäten. Die Paradigmen sind bei Welsch mehr noch als<br />
die Rationalitäten Gegenstände des Interesses. Sie sind die eigentlichen<br />
transversalen Aktionsparameter; von ihnen gehen die transversalen Prozesse<br />
aus. Als elementarer Bestandteil von Transversalität können sie nicht situationsspezifisch<br />
bedingt sein, da sie überdauernd zu einer wie auch immer<br />
gearteten Konzeption von Vernunft beitragen. Diese Konzeption hat eben<br />
nicht diese situationsspezifische Charakteristik, wie es relational-konstruktivistisch<br />
denkbar wäre, sondern sie zeichnet sich durch ihre Unabhängigkeit<br />
aus. Welsch schlägt in Abgrenzung zu der Kuhnschen Konzeption folgendes<br />
vor: 142<br />
Nebeneinander von unterschiedlichen Paradigmen: Die diachrone Perspektive<br />
von Kuhn in Bezug auf die existenzielle Charakteristik von Paradigmen ist<br />
aufgrund heutiger Erkenntnis durch eine synchrone zu ersetzen, zumindest<br />
doch zu ergänzen. Das heißt, Paradigmen folgen nicht notwendigerweise<br />
aufeinander, sondern sind auch parallel existent, auch in ein und derselben<br />
Rationalität. Dabei ist nicht nur eine zeitliche Überschneidung aufeinanderfolgender<br />
Paradigmen angesprochen, sondern eine wirkliche Koexistenz<br />
gemeint. Diese Koexistenz impliziert eine Vergleichbarkeit von existenten<br />
Paradigmen, welche per definitionem vergleichbar sind, aber insbesondere<br />
in ihrer rational-strukturellen Dimension als parallel existent zu interpretieren<br />
sind. Dies bedeutet, dass nicht nur per Zufall exemplarische Paradigmen<br />
gleichzeitig in unterschiedlichen Situationen zur Anwendung gelangen,<br />
sondern, und das unterstreicht einmal mehr die Gewichtung der ratio-<br />
142 Vgl. zum Folgenden Welsch (1996: 542ff.).<br />
133
nal-strukturellen Semantik der Paradigmen, dass sich unterschiedliche Paradigmen<br />
gleichzeitig entwickeln und in reziprokem Miteinander parallel<br />
weiterentwickeln und ausdifferenzieren. 143 Hierbei ist notwendigerweise von<br />
einem Konkurrenzverhalten auszugehen, welches alleinig die Substitution<br />
des Konkurrenten anzustreben trachtet. Es ist auch ein produktives, den<br />
Konkurrenten in seinem (inhaltlich wie strukturellem) Wert akzeptierendes<br />
Verhalten denkbar.<br />
Die relevante Forschergruppe kann sehr klein sein: Diese Welsch’sche Implikation<br />
ergibt sich zwingend aus der vorherigen Annahme der synchronen Perspektive<br />
in Bezug auf die Existenz und Wirksamkeit von Paradigmen. Wenn<br />
nämlich von einer Synchronität ausgegangen wird, kann sich per definitionem<br />
nicht die ganze scientific community der Rationalität in einem einzigen<br />
Paradigma betätigen; dann wäre ein parallel existierendes Paradigma nicht<br />
denkbar, weder theoretisch noch praktisch. So räumt auch Kuhn in seiner<br />
tendenziell diachronen Perspektive ein, dass das entstehende Paradigma<br />
nicht notwendigerweise vom gesamten wissenschaftlichen <strong>St</strong>ab mitgetragen<br />
werden muss, um existent und wirksam zu sein. 144 Zum anderen ist diese<br />
Annahme auch aus Sicht des rational-strukturellen Verständnisses von Paradigmen<br />
von Bedeutung. Wäre nämlich ein exemplarisches Verständnis<br />
dominant, dann ist die Annahme einer partiellen Akzeptanz im relevanten<br />
Rationalitätsbereich nicht sonderlich erwähnenswert. Denn ein situatives<br />
Anwendungsmuster ist in Bezug auf deren Promotoren fast gar nicht anders<br />
als partiell denkbar. Die Situationsabhängigkeit - und damit deren stark<br />
kurzfristiger Charakter - ist im Ganzen nicht operationalisierbar. Insofern ist<br />
die Annahme und das Vertreten der These einer nur partiellen Unterstützung<br />
eines Paradigmas durch eine der vielen Forschergruppen eine zentrale<br />
Annahme, welche den pluralen und synchronen Gedanken postmoderner<br />
<strong>St</strong>rukturauffassung in die Diskussion hineinträgt.<br />
Die rational-strukturelle Bedeutung der Paradigmen tritt gegenüber der exemplarischen<br />
in den Vordergrund: Wie bereits angedeutet, ist nach Welsch ein Para-<br />
143 Siehe hierzu insbesondere die Beschreibung der Verhältnisse der Paradigmen zueinander<br />
bei Welsch (1996: 562ff.). In dieser Darstellung wird die Charakteristik des Miteinander<br />
deutlich vermittelt. Es entsteht aufgrund der Paradigmenpluralisierung<br />
rationale Unordentlichkeit nicht nur binnensektoriell, also innerhalb eines Rationalitätsbereichs,<br />
sondern vor allem auch transsektoriell; diese Beobachtung trifft Welsch in<br />
Bezug auf den Verflechtungsbefund der unterschiedlichen Diskursarten. Vgl. hierzu<br />
nochmals Abschn. 6.1.2.<br />
144 Vgl. Kuhn (1979: 205).<br />
134
digma mehr als nur eine exemplarische Anwendung, mehr als eine konkrete<br />
Problemlösung. Wie zuvor schon ausgeführt, ergäbe sich ein methodisches<br />
Problem der Subsumption dieser exemplarischen Bedeutung unter die rational-strukturelle<br />
Semantik. Ein gleichzeitiges Bestehen dieser Interpretationen<br />
nebeneinander ist somit nach Welsch nicht vertretbar. Die Kuhnsche Konzeption<br />
scheint den Welsch’schen Schritt schon vorzuzeichnen, indem sie die<br />
„Musterbeispiele“ nicht autoritativ, sondern pragmatisch versteht145, jedoch<br />
ist auch die Welsch‘sche Fokussierung auf die rein rationale <strong>St</strong>ruktur des<br />
Paradigmas nur bedingt nachvollziehbar. Führte man sich vor Augen, in<br />
welchem Maße „Musterbeispiele“, also herausragende, die scientific community<br />
erschütternde wissenschaftliche Forschungsarbeiten dazu führen können,<br />
einen Richtungswechsel des weiteren wissenschaftlichen Progresses<br />
tatsächlich herbeizuführen, dann stellen diese Impulse ein wichtiges und<br />
wirksames Komplement zu den strukturellen Verschiebungen dar. 146<br />
Bei Welsch tritt das Paradigma als Ergebnis des zweiten Pluralisierungsschrittes<br />
neben die Rationalitäten und ist in der Lage, deren Prozesse und<br />
Entwicklungen näher zu beschreiben und zu differenzieren. Durch ein solches<br />
Paradigmen-Verständnis kristallisiert sich zunehmend deren zentrale<br />
Relevanz für die Welsch’sche Konzeption heraus. Sie sind die Vehikel der<br />
Transversalität, sie sind die aktionalen Parameter.<br />
7.1.2 Exkurs: Die Überwindung des Trennungstheorems des Rationalismus<br />
Im Folgenden wird das Trennungstheorem des Rationalismus im Ansatz von<br />
Welsch reflektiert. Vor diesem Hintergrund wird die Position einer Transversalität<br />
deutlicher.<br />
(Descartes)<br />
Descartes begann, die verknüpfte Realität platonischer und aristotelischer<br />
Beschreibungen aufzubrechen. 147 Die Antike hatte es noch als eine der höchsten<br />
Errungenschaften eines Philosophen angesehen, wenn dieser in der Lage<br />
145 Vgl. hierzu Welsch (1996: 546; Fußnote 13).<br />
146 Es sind bspw. in Abschnitt 5.2 u. a. die Arbeiten zu Autopoiese und Selbstorganisation<br />
aufgeführt worden. In diesem Zusammenhang wurde auch die Bedeutung von<br />
sogenannten „Bifurkationen“ in systemischer Entwicklung herausgestellt. In diesen,<br />
über das System, hier also Rationalitätsbereich, hinausweisenden Impulsen kommt<br />
ein Element des Übergangs zum Ausdruck, welches nach Meinung des Verfassers<br />
konstitutive Funktion annehmen kann.<br />
147 Vgl. auch hierzu u. a. die Darstellung bei Welsch (1996: 766ff.).<br />
135
war, Verknüpfungen zwischen Heterogenem, Überschneidungen von Differentem<br />
zu identifizieren, zu erzeugen, zu kultivieren oder sogar auch zu<br />
verwenden. Diese Art der Verwendung kann als ein Beschreiten der Brücke,<br />
des Übergangs zwischen Ufern unterschiedlicher Provenienz interpretiert<br />
werden. Sich in diesem kurzen, dafür aber um so diffiziler darstellenden<br />
Gang zu üben und zu beweisen, erschien in der damaligen Zeit als praxeologische<br />
Essenz wissenschaftlichen Fortschritts. Das <strong>St</strong>ehenbleiben bei der<br />
Herausarbeitung von Seinstypen und deren analytische Darstellung konnte<br />
nicht als ganzheitlicher Prozess wissenschaftlichen Forschens akzeptiert<br />
werden. Dagegen wurde in der Neuzeit die erste <strong>St</strong>ufe der Herausarbeitung<br />
von Differenzierungen wieder stärker betont, ohne welche die präzise<br />
Wissenschaft nicht möglich schien. Die Ausdifferenzierungen in den Professionen,<br />
in den Berufen, führte auch zu einer Trennung der Inhalte.<br />
Descartes‘ Zweisubstanzenlehre, welche sich durch die Trennung von Geist<br />
(res cogitans) und Leib bzw. materieller Wirklichkeit (res extensa) explizierte,<br />
trennt hierbei das rational erfassbare Quantitative von dem nur sinnlich<br />
erfahrbaren Qualitativen. 148 Die Realität nach Descartes impliziert diese beiden<br />
Extensionen. Die Vernunft des Menschen in dieser dualistischen Konzeption<br />
ist nach Descartes eine Verstandestätigkeit, welche sich durch<br />
Fokussierung auf das Klare und Evidente als einziger Garant der Wahrheit<br />
darstellt. Der Kantischen Konzeption ist hierbei schon der Weg bereitet, da<br />
durch die Entgeistigung der physischen Welt der Körper als eine den Naturgesetzen<br />
ausgesetzte Entität begriffen wird, wohingegen der Geist das Privileg<br />
der Freiheit genießt.<br />
(Pascal)<br />
Auch Pascal hat dieses Cartesische Trennungstheorem aufgenommen und<br />
zudem weitergeführt. Der Mensch sieht sich in seinen Fähigkeiten, aber auch<br />
in seiner gleichzeitigen Niedrigkeit als Zwischenwesen, gleich weit von Tier<br />
148 Diese Unterscheidung ließe sich auch vergleichen mit der Atomlehre von Demokrit<br />
(um 460-370 v. Chr.), welcher die Atomlehre des Leukipp in ein System des Materialismus<br />
überführte. In diesem sind die aus den Atomkomplexen bestehenden Dinge<br />
bestimmt einerseits durch primäre Eigenschaften (Raumerfüllung, Trägheit, Dichte<br />
etc.) und andererseits durch sekundäre Eigenschaften (Farbe, Geruch, Geschmack<br />
etc.). Deutlich ist hier die Analogie zu Descartes zu erkennen, wobei die primären<br />
Eigenschaften die quantitative und die sekundären die qualitative Beschaffenheit der<br />
Realität darstellen. Vgl. zur Darstellung von Demokrits Aussagen bspw. Löbl, R.<br />
(1976): Demokrits Atome, Bonn.<br />
136
und Engel entfernt, ist ihnen aber auch gleich nah. Pascal schafft ein System<br />
von Ordnungen (Liebe–Geist-Fleisch), zwischen welchen nichts weniger als<br />
eine „unendliche Distanz“ 149 existiert. Zudem besteht die Möglichkeit einer<br />
eindeutigen Zuordnung der Elemente zu den Ordnungen. Demzufolge wird<br />
alles Seiende aufgeteilt und kann ab dato nicht mehr zueinander in Beziehung<br />
gesetzt werden. Diese Konzeption stellt in dieser Interpretation das<br />
Trennungstheorem in extenso dar. Nach Welsch ist diese radikale Trennung<br />
so nicht haltbar: „Es scheint unmöglich, Verhältnisbehauptungen gänzlich zu<br />
vermeiden“ 150. Es ist nur schwer vorstellbar, dass sich Ordnungen ausdifferenzieren,<br />
ohne sich voneinander zu differenzieren. Der Differenzierungsprozess<br />
impliziert ein Gegenüber, welches als Referenz den komparatistischen<br />
Prozess der Differenzierung konstituiert. Zudem ist in einer selbstreferentiellen<br />
Perspektive die Charakterisierung einer Ordnung aus ihr selbst<br />
heraus, d. h. ohne eine andere Ordnung zu bemühen, umfassend nur schwer<br />
vorstellbar, denn es ist nicht einsehbar, aus welcher Ordnung heraus die Zuordnung<br />
der Elemente geschehen könnte.<br />
(Leibniz)<br />
Auch Leibniz kann letztlich keine befriedigende Antwort auf die Frage nach<br />
einer schlüssigen Konzeption der Trennung finden. Obgleich er um den<br />
Erweis von Kongruenzen zwischen den verschiedenen Ordnungen bemüht<br />
ist, ist sein Konzept der prästabilisierten Harmonie nicht nur für Welsch wenig<br />
überzeugend. Diese Harmonie beschreibt das Zusammenspiel von Monaden<br />
(Kraftpunkte) 151, welche individuell sind, sich gegenseitig wahrnehmen.<br />
Jedoch kann aus ihnen weder eine Bestimmung oder Substanz heraus noch<br />
herein gelangen. Dennoch ist dieser Leibnizsche Übergang zwischen den<br />
Monaden möglich. In ihren Bewegungen (Perzeptionen) können die Monaden<br />
zwar nicht direkt aufeinander reagieren („fensterlos“), jedoch sind sie unbewusst<br />
miteinander verbunden - durch göttliche Einrichtung.<br />
Dieser Übergang ist also weder eine bewusst geschaffene Verbindung zur<br />
Synchronisation der individuellen Dynamiken, noch geht Leibniz davon aus,<br />
149 Welsch (1996: 768).<br />
150 Welsch (1996: 769).<br />
151 Die Monade ist die Leibnizsche Antwort auf die res extensa von Descartes. Nach<br />
Leibniz ist die Substanz nicht ausdehnbar, sonst wäre sie teilbar. Aus diesem Grunde<br />
schlägt Leibniz einen Kriteriumswechsel vor, welcher nicht die extensa der Substanz<br />
sondern die Kraft als Wirkung der Substanz zum maßgeblichen Parameter substantieller<br />
Charakteristik erhebt.<br />
137
dass hier ein permanenter Synchronisationsprozess stattfindet. 152 Der Sachverhalt<br />
der Harmonisierung, welche im Voraus eine Art von <strong>St</strong>abilität aufweist,<br />
drückt hierbei den Wunsch nach der Überwindung der Cartesischen<br />
Trennung von Leib und Seele aus. Damit sind Leib und Seele durch eine Entsprechung<br />
der Eigengesetzlichkeit gekennzeichnet, welche die Koordinations-<br />
und Harmonisierungsfunktion zu erfüllen in der Lage ist. Nach<br />
Leibniz wurden also diese beiden Monaden, wie die anderen auch, von Gott<br />
so geschaffen, dass sie trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Verschiedenheit,<br />
ihrer Inkommensurabilität zueinander in Einklang gebracht werden<br />
können. Irdische (monadische) Heterogenitäten können somit nur durch<br />
überirdische, göttliche Übergänge überwunden werden. Es entsteht ein<br />
System der prästabil-harmonisierten Einheiten, welches die fraktale Pluralität<br />
dichotomer Vielheiten in ein Netz der göttlichen Entsprechung von<br />
Eigengesetzlichkeiten transformiert und auf diese Weise das Leib-Seele-<br />
Problem löst. 153 Die Überwindung geschieht durch transzendentalen Verweis<br />
und ist aus dieser Perspektive somit von anderen Konzepten grundsätzlich<br />
zu unterscheiden. 154<br />
7.1.3 Vernunft-Begriff nach Kant<br />
Es wäre ein kühnes Unterfangen, in der hier gebotenen Kürze mit dem<br />
Anspruch auftreten zu wollen, eine angemessene Darstellung, eine Skizzierung<br />
der Kantischen Vernunft-Konzeption leisten zu wollen. Das Folgende<br />
kann nur als ein eklektischer Umriss verstanden werden, welcher sich auf<br />
152 Im Bild oder Gleichnis zweier Uhren, welche stellvertretend für Leib und Seele stehen,<br />
versucht Leibniz dieses transparent zu explizieren. Man könnte die beiden Uhren<br />
nachträglich miteinander verbinden oder aber sie einer perfekt aufeinander abgestimmten<br />
Eigengesetzlichkeit überlassen („deus ex machina“). Letzteres entspricht<br />
der Leibnizschen Überzeugung.<br />
153 Die Betonung der Eigengesetzlichkeit geschieht bei Leibniz nur in der Weise der göttlichen<br />
Fügung. Doch sei an dieser <strong>St</strong>elle angemerkt, dass ein System von identifizierten<br />
Eigengesetzlichkeiten (ohne Betonung göttlicher Fügung) als vielversprechender<br />
und deswegen auch hier hervorgehobener Ansatz für die letztliche Aufhebung des<br />
Trennungstheorems gelten kann.<br />
154 So wie die Vernunft- und Tatsachenwahrheiten bei Leibniz unterschieden werden, so<br />
trennt er auch die Zweckursachen (Seele) von den Wirkursachen (Körper) und konzipiert<br />
eine Reiche-Trennung, welche jedoch harmonisch überwunden werden kann<br />
(s. o.). Analog harmoniert das Reich der Natur mit dem Reich der Gnade durch die<br />
dreiwertige Begründung (moralisch, physisch, metaphysisch) der Rechtfertigung<br />
Gottes angesichts des Übels der Welt. Es wird an späterer <strong>St</strong>elle noch auf diese transzendentalen<br />
Verweise einzugehen sein. Vgl. Abschn. 11.1.<br />
138
diejenigen Punkte konzentriert und beschränkt, die die Welsch’sche Konzeption<br />
von der Kantischen differenzieren.<br />
Die Welsch‘sche Konzeption baut im Wesentlichen auf der Metapher der<br />
Einheit und Vielheit auf. Entlang dieser Unterscheidung verkörpert die Vernunft<br />
immer noch den Einheitsgedanken pluraler Wirklichkeit. Nur ist die<br />
Einheitsidee auf andere Weise verwirklicht, als es bis dato gedacht und konzipiert<br />
war. Dabei ist nicht nur die Verfasstheit der Vernunft von einer unterschiedlichen<br />
Charakteristik als bisher konzipiert, auch der Prozess der<br />
Vereinheitlichung unterscheidet sich grundlegend von bisherigen Überlegungen.<br />
Kurz gesagt kann also einerseits ein grundlegender Verständniswandel<br />
von der Verfasstheit von Vernunft und andererseits eine Betonung<br />
des Prozesses festgestellt und als wesentliche Neuerungen identifiziert<br />
werden.<br />
Die Kantische Konzeption sieht sich mit einer ähnlichen Heterogenität der<br />
pluralen Elemente der Realität konfrontiert. Während aber Welsch von der<br />
Rationalitäten-Vielfalt spricht und rhizomatische Wucherungen handhabt, ist die<br />
Kantische Position von bipolarem Charakter, wenn nicht gar monopolar.<br />
Denn das menschliche Wesen konstruiert sich in und gegenüber der Natur.<br />
Dabei wird die Konstruktion der Dualität des Menschen als Gegenüber zur<br />
Natur erst ermöglicht, wenn sich der Mensch seiner Vernunft bedient und<br />
sich auf diese Weise der deterministischen Gesetzmäßigkeiten naturhafter<br />
Prozesse und Abläufe entledigen kann. Hier ist die Pflicht das Medium der<br />
Befreiung. Dieses Medium ersetzt die Willkür der empirischen Bestimmung<br />
durch eine selbstbestimmte Sukzession der Prozessschritte. Das Handeln des<br />
Menschen ist auf diese Weise bestimmt durch moralische Gesetze, welche<br />
der Vernunft entspringen und damit einen direkten Bezug zur selbigen aufweisen;<br />
auf der einen Seite steht die Natur mit ihrer rein zufälligen empirischen<br />
Bestimmung, auf der anderen Seite steht die Pflicht, welche durch den<br />
Bezug auf die Vernunft ein Befreiungspotential aufweist.<br />
Das Trennungsparadigma ist also an ganz anderer <strong>St</strong>elle entwickelt, als die<br />
Welsch’sche Konzeption es wahrnimmt. Auch lässt die Welsch’sche Konzeption<br />
gegenüber Kant eine Hierarchisierung der Vernunft vermissen, die<br />
auf eine unterschiedliche Intention der Verfasser schließen lässt. Bei Kant<br />
kann die Vernunft einer Befreiung gleichgesetzt werden, die einer Überwindung<br />
der evolutorischen Kreisläufe gleichkommt und damit die Unterordnung<br />
der Natur unter die menschliche Vernunft andeutet. Bei Welsch hingegen<br />
lässt sich keine explizite Verbindung der Vernunft mit einer Art von<br />
139
Herrschaft ausmachen. Die Vernunft entsteht aus der individuellen Einsicht,<br />
die Vernunft als notwendig ansieht. Es ist dies die Notwendigkeit von Übergang<br />
und damit sichtbar gemachter Ganzheitlichkeit. Diese Einsicht setzt<br />
sich nicht gegen etwas durch, sondern entsteht zwingend. Die Kantische<br />
Charakteristik der Überwindung scheint in dieser Form Voraussetzung der<br />
Welsch’schen Konzeption zu sein. Welsch thematisiert diese ursprüngliche<br />
Dualität nicht explizit, setzt sie jedoch implizit als überwunden voraus. In<br />
dieser Differenz wird die historische Bedingtheit von Konzeptionen um Vernunft<br />
deutlich; sie sind zum großen Teil immer auch als Produkt des aktuellen<br />
gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Spannungsfeldes zu interpretieren.<br />
Aus dieser historischen Perspektive ließe sich die Welsch’sche Konzeption<br />
als ein wie auch immer gearteter Fortschritt der Kantischen Konzeption<br />
einstufen, welcher über die Mensch-Natur-Dualität hinaus die aktuellen<br />
Spannungen aufzunehmen in der Lage ist. Diese Spannungen kommen<br />
überwiegend in der Moderne-Postmoderne-Debatte zur Sprache.<br />
Wie aus dieser Darstellung sukzessive transparent wird, zieht sich der Unterschied<br />
in Bezug auf die Geltungsansprüche der Ansätze durch die gesamten<br />
Konzeptionen hindurch. So schreitet Kant von einer schwächer ausgeprägten<br />
Entdeckungs- und Entstehungsebene (Dualität) zu einer normativen<br />
Begründungsebene, welches Implikationen für den Verwendungszusammenhang<br />
beinhaltet. Dagegen ist bei Welsch die Entdeckungsebene stark<br />
ausgeprägt (postmoderne Deskriptivität), wobei die beiden nachfolgenden<br />
Ebenen eher unterbestimmt bleiben. Insbesondere der Begründungszusammenhang<br />
trägt phänomenologischen Charakter, was einer <strong>St</strong>ringenz der<br />
Begründungsstruktur nicht immer zuträglich erscheint. 155<br />
Kant führt aus, was einen möglichen Übergang zwischen seinen heterogenen<br />
Polen betrifft, dass der eine Pol, die Natur und deren Gesetzmäßigkeiten, auf<br />
zwei verschiedene Arten der menschlichen Vernunft zugänglich werden<br />
kann. Zum einen kann dieses teleologisch begründet werden, zum anderen<br />
ästhetisch. 156 Dabei stellen diese verschiedene Arten mehr als reine Wegbe-<br />
155 Insbesondere vor dem Hintergrund des Befundes aus dem Abschnitt 5 bezüglich der<br />
zentralen Charakteristika der postmodernen Moderne - nämlich die immanente Verknüpfung<br />
von Entdeckungs- und Verwendungszusammenhang nicht nur phänomenologisch,<br />
sondern vor allem auch konzeptionell - scheint die Welsch’sche Konzeption<br />
der hier entwickelten Debatte in diesen Punkten nachzustehen.<br />
156 Vgl. hierzu ausführlicher Welsch (1996: 770ff.). Im teleologischen Entdeckungszusammenhang<br />
verbinden sich die sukzessive identifizierten Naturgesetze quasi zu einem<br />
Gesetzeszusammenhang per se. Jeder Schritt der (naturwissenschaftlichen) Erkennt-<br />
140
schreibungen dar. Sie sind Formen der Explizierung der Zweckmäßigkeit<br />
von Natur für das Vernunftinteresse. Die Autonomie der Vernunft scheint<br />
durch diese Verbindung der Zweckmäßigkeit zumindest teilweise aufgehoben.<br />
Die Zweckmäßigkeit selbst jedoch stellt nur in dem Sinne ein konstitutives<br />
Prinzip dar, als dass sie rein regulativ wirkt. 157 Dieses stellt u. a. die<br />
tiefere Begründung einer letztendlichen Trennung zwischen Natur und der<br />
Freiheit durch Pflicht dar. Denn würde sich die Vernunft konstitutiv auf die<br />
Natur stützen, wäre eine Trennungsthese nicht haltbar. So referiert Kant,<br />
dass hier lediglich von Entsprechungen ausgegangen werden kann, welche<br />
keinesfalls Verbindungen oder Brücken darstellen. 158 Rein logisch kann eine<br />
Befreiung aus einem Konstitut nur teilweise zutreffen, vollständig ist sie aber<br />
undenkbar, da sie sich der eigenen maßgeblichen Referenz entledigen<br />
würde. So bleiben Natur und Freiheit in Entsprechungen einander nah, doch<br />
nicht verbunden.<br />
Als Gemeinsamkeit oder Entsprechung mit der Kantischen Konzeption kann<br />
die Beantwortung der Frage nach der Verortung des Vollzugs von Vernunft bei<br />
Welsch interpretiert werden. 159 So folgt Welsch der identifizierten Nähe von<br />
Transversalität und Subjektivität160 und folgert daraus, dass Vernunft in ihrer<br />
transversalen Konzeption als „Kompetenz von Subjekten“ 161 zu verstehen ist.<br />
Im Gegensatz zu früheren Vernunftkonzeptionen, welche Vernunft als<br />
Metagebilde über alles verstanden haben, die in ihrer Omnipräsenz gleichzeitige<br />
Unabhängigkeit vom Ganzen beansprucht, oder eine Art objektiver<br />
Vernunft, die subjektunabhängig existent ist und zu der ein Zugang gefun-<br />
nis kann in einem umfassenden Kontext verortet und integriert werden. So fügt sich<br />
mit dem Ziel der vollendeten Vollendung eins zum anderen und er- und enthält<br />
antizipatorisch-teleologische Sinnhaftigkeit. Der Glaube an eine wie auch immer geartete<br />
Einheit scheint nach Welsch darin zum Ausdruck zu kommen. Es bewegt sich<br />
alle Erkenntnis auf einen vollendeten Zusammenhang hin. Zum anderen kann auf<br />
Ebene des Entdeckungszusammenhangs die Erfahrung des Naturschönen als zweckmäßig<br />
für das Vernunftinteresse angesehen werden, da das menschliche Erkenntnisvermögen<br />
in Einklang und Übereinstimmung mit der Natur erfahren wird. Somit<br />
kann auf teleologische und ästhetische Weise eine Entsprechung von Natur- und<br />
Freiheitsbegriff auch von Kant identifiziert werden, wobei aber die Verbindung weit<br />
weniger stark ist, als sie Welsch interpretiert.<br />
157 Vgl. Welsch (1996: 771).<br />
158 Vgl. Welsch (1996: 772).<br />
159 Vgl. zum Folgenden Welsch (1996: 933ff.).<br />
160 Vgl. hierzu näher das XIV. Kapitel bei Welsch (1996: 829ff.). Hier legt Welsch dar,<br />
dass transversale Vernunft für die innere <strong>St</strong>ruktur der Subjektivität unabdingbar ist.<br />
Das wird an späterer <strong>St</strong>elle explizit aufgenommen. Vgl. Abschn. 9.2.3.<br />
161 Welsch (1996: 953).<br />
141
den werden muss, ist die transversale Vernunft eine zentral subjektabhängige<br />
Größe, die eine Fähigkeit „sich inmitten einer Vielfältigkeit in Übergängen<br />
bewegen zu können“ 162 zum Ausdruck bringt.<br />
Wie an späterer <strong>St</strong>elle noch näher auszuführen sein wird, schließen sich an<br />
diese individualistische Perspektive von Vernunft Implikationen, wie auch<br />
Fragen an. So legt Welsch dar, dass<br />
� Vernunft nicht bestimmten Rationalitäten zugeschrieben werden kann, so<br />
wie Rationalitäten weit verbreitet in „Institutionen, Diskursarten und gesellschaftlichen<br />
Praktiken“ 163 verortet werden.<br />
� als Konsequenz aus dem individualistischen Ansatz man besser von Vernünftigkeit<br />
anstatt von Vernunft sprechen sollte, da Vernünftigkeit „eine<br />
Weise des Umgangs von Subjekten mit den Formen der Rationalität“ 164 beschreibt<br />
und dieses begründet mit der Aussage: „Vernünftigkeit lässt sich<br />
letztlich nicht objektiv implementieren, sondern nur subjektiv praktizie-<br />
ren“ 165.<br />
� diese Konzeption an die Kantische anschlussfähig bleibt, da auch dieser<br />
die Anwendung der Vernunft durch Subjekte betont, aus welcher heraus ein<br />
weiter Wirkungskreis erreicht werden kann.<br />
� in dieser spezifischen Koppelung von Vernunft und Subjektivität das charakteristische<br />
Freiheitspotential von Vernunft-Anwendung konstituiert ist,<br />
auf das auch Kant hinweist.<br />
Die zentrale Implikation scheint zu sein, dass durch diese Konzeptionierung<br />
von Vernunft nicht ihrer Exklusivität, sondern ihrer Inklusivität das Wort<br />
geredet wird. Denn im Gegensatz zu einer objektiven oder subjektunabhängigen<br />
Konzeption der Vernunft, welche das Individuum gegenüberliegend<br />
zu sich selbst positioniert, somit eine Partizipation des Subjekts an Vernunft<br />
nur mittelbar möglich ist, da sich das System durch Exklusion etabliert, so<br />
transportiert die Welsch’sche Konzeption eher eine Aufforderung zur Teilnahme,<br />
einen Inklusionscharakter. 166 Die Ermutigung fügt sich harmonisch<br />
in den Gedanken der Befreiung ein, der bei Kant entwickelt wurde. Die<br />
Welsch‘sche „Befreiung“ bezieht sich nicht auf den naturellen empirischen<br />
Zwang und die Emanzipation des Subjekts hiervon durch Vernunft, sondern<br />
162 Welsch (1996: 934).<br />
163 Ebenda.<br />
164 Welsch (1996: 934f.).<br />
165 Welsch (1996: 935).<br />
166 Vgl. insbesondere hierzu Welsch (1996: 938ff.).<br />
142
auf die Befreiung des Denkens der Moderne in ihrem positivistischen<br />
Zwang. Der Dogmatismus, der das Subjekt im Verwendungszusammenhang<br />
übergeht, weicht einer Ermutigung des Einzelnen in seinem Denken über<br />
Rationalität und die Verfasstheit von Vernunft. Die Kantische Befreiung entfaltet<br />
sich in dem Spannungsfeld von Natur und Vernunft, die Welsch’sche<br />
Freiheit hingegen promoviert im Spannungsfeld von Befund (Pluralität,<br />
Grenzenlosigkeit, Verflechtung) und dogmatischer Lehre (Bereichsdenken,<br />
Beherrschungsdenken, rationale Differenzierung) die Emanzipation des<br />
Subjekts.<br />
Zur Differenzierung von Kantischer und Welsch‘scher Konzeption kann bis<br />
hierher festgehalten werden, dass ihnen der individualistische Ansatz als<br />
zentrales Charakteristikum gemein ist. 167 Von diesem her leiten sich Konzeptionsparameter<br />
ab, welche darzustellen Aufgabe des Kapitels war. In der<br />
Gewichtung der Zusammenhänge von Begründung und Verwendung lassen<br />
sich Unterschiede erkennen. Da jedoch die Vernunftkonzeptionen von Kant<br />
und Welsch zeitlich auseinanderliegen, ist es einleuchtend, dass die Kantische<br />
Unterscheidung: Natur-Mensch zum Zeitpunkt der Welsch’schen Konzeption<br />
nicht im Mittelpunkt des Interesse steht. Vielmehr scheint diese<br />
Frage überwunden bzw. gehandhabt. In dem Welsch’schen Fokus auf Rationalitäten<br />
tritt die Mensch-Mensch-Relation in Bezug auf eine Annäherung an<br />
eine Vernunftkonzeption in den Vordergrund. Somit ist eine Vergleichbarkeit<br />
der Konzeptionen in ihrer Aussagekraft hinsichtlich dieser Verschiebung<br />
einzuschränken.<br />
7.2 Leere und Positionsungebundenheit - zentrale Charakteristika transversaler<br />
Vernunft<br />
Im Folgenden wird zu zeigen sein: Das Potential der transversalen Vernunft<br />
ist dessen (inhaltliche) Leere und dessen Positionsungebundenheit. Diese<br />
beiden Bestimmungen machen den bedingungslosen Perzeptionscharakter dieser<br />
Vernunft aus, d. h., in ihrer Aufnahme und Handhabung von Inhalten ist<br />
diese Vernunft weder an vorbestimmte Inhalte noch an spezifische Positionen<br />
gebunden – so die Konzeption der transversalen Vernunft. Dadurch<br />
167 Auch wenn die Kantische Konzeption aus dem Trennungstheorem entwickelt wurde,<br />
kann dies als Entsprechung gewertet werden.<br />
143
ist eine voraussetzungsfreie Berücksichtigung der pluralen <strong>St</strong>ruktur als Realverfassung<br />
der Rationalität möglich.<br />
(Leere)<br />
Die „Leere“ der Vernunft bezieht sich auf inhaltliche, materiale Prinzipien,<br />
nicht jedoch auf formale Prinzipien. Welsch konkretisiert dies:<br />
144<br />
„Gleichwohl ist Vernunft nicht einfachhin leer. Zwar ist sie frei von allen inhaltlichen<br />
Prinzipien, aber ihr sind formale Prinzipien zu eigen: die logischen<br />
Prinzipien. Diese bilden das genuine Instrumentarium der Vernunft. Vernunft<br />
verfügt über operative Grundsätze wie beispielsweise das Widerspruchsprinzip<br />
und elementare Kategorien wie Identität und Differenz, Einzelheit,<br />
Vielheit und Totalität, Beharren und Veränderung, Grund und Folge, Möglichkeit<br />
und Notwendigkeit, Einheitlichkeit, Partikularität, Widerspruch, Kohärenz<br />
und dergleichen. Die Vollzüge der Vernunft erfordern das Innehaben<br />
dieser logischen Prinzipien (der operativen Grundsätze wie der Elementarbegriffe)<br />
und bringen jeweils einige davon zur Anwendung. Vernunft ist ein<br />
wesentlich logisches Vermögen.“ 168<br />
Diese Freiheit von materialen Prinzipien veranlasst Welsch dazu, von einer<br />
Reinheit der Vernunft zu sprechen. 169 Diese Form von Objektivität verleiht<br />
der Vernunft eine „Souveränität und Universalität“ 170, denn sie ist nicht inhaltlich<br />
„vorbelastet“, kann frei wählen und entscheiden, was nach gewissen<br />
Regeln abläuft, die formale Prinzipien genannt werden.<br />
„Anders als diese [Positionen; T.B.], ist sie nicht an bestimmte Inhalte (Überzeugungsgeflechte,<br />
historische <strong>St</strong>andards, eine bestimmte Weltsicht oder dergleichen)<br />
gebunden. Vernunft ist von solch inhaltlichen Prämissen frei. Vernunft<br />
scheint eigentümlich rein zu sein – und anders nicht Vernunft sein zu<br />
können.“ 171<br />
168 Welsch (2000a: 84; Fußnoten weggelassen).<br />
169 Es sei an dieser <strong>St</strong>elle die Kritik von Kettner vorgezogen, der bemerkt, dass die Kohärenz<br />
„aus der formalen („logischen“) Reinheit“ ausschert, denn es „muß klar sein, daß<br />
Kohärenz (ähnlich übrigens wie der Begriff der Relevanz) überhaupt kein formallogisches<br />
(= in allen möglichen Welten gültiges) Verhältnis bezeichnet“ (Kettner, M.<br />
(2000): Wie leer und rein ist die transversale Vernunft?, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 110-112,<br />
hier S. 111). Welsch (2000b: 178) gesteht in seiner Replik hier eine Verwechslung mit<br />
dem Begriff der „Konsistenz“ ein.<br />
170 Welsch (2000a: 84).<br />
171 Ebenda.
Die Festlegung des Vernunftinhalts durch „formale Prinzipien“ kann als der<br />
kleinste gemeinsame Nenner gelten, auf den man sich bei aller Kritik an dem<br />
traditionellen Vernunftbegriff anscheinend einigen kann. Jedoch kann man<br />
sich nicht darauf einigen, ob dies der einzige Inhalt der Vernunft ist. Nach<br />
Meinung des Verfassers ist die Reinheitsthese in dem Sinne zu verstehen,<br />
dass zwar die Reinheit der Vernunft in der Praxis sehr unrealistisch ist, jedoch<br />
eine solche Feststellung nicht davon abhält, an der Reinheit der reinen<br />
Vernunft an sich festzuhalten. Die praxeologische Unzulänglichkeit des Vermögens<br />
widerlegt noch nicht deren konzeptionellen und theoretischen Zugang.<br />
Welsch stellt zudem fest, dass gerade in Bezug auf die „Verunreinigungen“<br />
die Vernunft ein Potential besitzt, das eine „Selbstpurifikation“ bewirkt.<br />
„(...) wo immer ihr Reinheitscharakter faktisch getrübt ist, wird sie [die Vernunft;<br />
T.B.] darauf drängen, solche Trübungen zu beseitigen. Selbstpurifikation<br />
ist ein Vollzugsimperativ der Vernunft. (...) Vernunft ist de facto nicht<br />
immer reine Vernunft, aber sie ist idealiter ein Vermögen der Reinheit und<br />
praktisch ein Vermögen der Selbstpurifikation.“ 172<br />
Welsch lehnt also den Verweis auf die faktische Unreinheit mit der dynamischen<br />
Komponente eines Imperativs ab. Er stellt hierbei die prozessuale<br />
Tendenz heraus anstatt eines faktischen <strong>St</strong>atus. 173 Die Vernunft ist rein, weil sie<br />
danach strebt. Sie besitzt die „Fähigkeit“, das Potential zu dieser Reinheit, in<br />
diesem Sinne ist die reine Vernunft zu verstehen.<br />
„Zusammengenommen bedeutet dies: Da Vernunft erstens über die erforderlichen<br />
Unsauberkeitserkennungsmittel verfügt, da zweitens die Erkenntnis<br />
des Grundes eines Defizits die logische Möglichkeit seiner Beseitigung impliziert,<br />
und da der Vernunft drittens der Imperativ zur Beseitigung solcher Unreinheiten<br />
eingebaut ist, vermag sie faktische Unreinheiten nicht nur zu erkennen,<br />
sondern arbeitet diese – wo eine wirkliche Praxis von Vernunft gegeben<br />
ist – auch ab.“ 174<br />
172 Welsch (2000a: 85).<br />
173 Vgl. zu einer expliziten Auseinandersetzung mit dem Prozessualen Heintel, P. (2000):<br />
Vernunft als Prozeßbegriff, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 104-106.<br />
174 Welsch (2000a: 85).<br />
145
(Positionsungebundenheit)<br />
Zu dieser Diskussion über die Reinheit der Vernunft gehört auch das Merkmal<br />
der Positionsungebundenheit. Ähnlich wie die Reinheit über den Vollzug<br />
der Vernunft als Vermögen deutlich wurde, gewinnt auch die Positionsungebundenheit<br />
in der Betrachtung des Vollzuges an Profil. Auch<br />
Welsch diskutiert die Ungebundenheit eng an der Praxis der Interpretation,<br />
die einer vernünftigen Reflexion unterzogen wird. In dieser Praxis werden<br />
die Möglichkeiten des Umgangs mit einem Einwand gegen die eigene Position<br />
exemplifiziert. Um den Anderen in seinem Einwand zu verstehen und<br />
diesen konstruktiv in die eigene Position einfließen zu lassen, ist das zumindest<br />
teilweise Verlassen der eigenen Position notwendige Voraussetzung.<br />
Dies relativiert den eigenen <strong>St</strong>andpunkt und bewirkt eine Öffnung gegenüber<br />
der anderen Position. Welsch nennt diesen Prozess das „sich-in-die-<br />
Position-des-anderen-hineinversetzen“ und die Betrachtung der eigenen<br />
Position mit den Augen des Anderen „reziproke Interpretation“. 175 Ähnlich<br />
zu dem Idealiter der Reinheit ist wohl nun auch die weitergehende Frage<br />
nach der völligen Überwindung der eigenen Position in der Auseinandersetzung<br />
mit anderen Positionen zu verstehen. Weder das Besinnen auf die<br />
Gemeinsamkeiten, noch die Einnahme einer dritten Position ist dabei für<br />
Welsch eine praktikable Lösung. 176 Es ist vielmehr der Vollzug der Abwägung<br />
dieser verschiedenen Lösungsansätze selbst, welcher als vernünftiger<br />
Vollzug bezeichnet werden könnte. In dem Vergleich von reziproker Interpretation,<br />
wechselseitiger Repräsentation, Schnittmengen-Identifikation oder<br />
der Einnahme einer dritten Position geschieht bereits eine Ablösung von<br />
einer Position. Die Logik der Positionalität hat vor Augen geführt, dass die<br />
Reflexion über diese Logik eine Abstraktion und damit auch neutrale Reflexion<br />
etablieren kann. 177 Welsch bestätigt also die faktische Möglichkeit einer<br />
Positionsungebundenheit. Aufgrund der Tatsache, dass all diese Abstraktionen<br />
und Reflexionen nie vollständig von ihrer Position des reflektierenden<br />
Subjekts getrennt werden können, so die Kritiker, ergeben sich vielfältige<br />
Fragestellungen. 178<br />
175 Welsch (2000a: 82).<br />
176 Vgl. hierzu Welsch (2000a: 82f.).<br />
177 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass nicht jeder Abstraktionsprozess auch<br />
automatisch zu einer Positionsungebundenheit führt.<br />
178 Vgl. hierzu den folgenden Abschnitt 7.3. Hier werden auch die anderen Bestimmungen<br />
kritisch reflektiert, sofern von deren Erörterung Aufschlüsse über eine Entwicklung<br />
ökonomischer Vernunft erwartet werden.<br />
146
7.3 Aktuelle kritische Reflexion<br />
Die folgende Skizzierung der Kritik greift aus den vielfältigen Aspekten zum<br />
einen die zentralen Bestimmungen der transversalen Vernunft auf und zum<br />
anderen skizziert sie exemplarisch eine zentrale Verhältnisbestimmung, das<br />
Verhältnis von Vernunft zu Rationalität. Den Abschluss bildet die Erörterung<br />
von Vernunft als (subjektives) Vermögen, was auch den Übergang zum<br />
dritten Kapitel darstellt.<br />
7.3.1 Die Reinheit der Vernunft als Selbstpurifikationsdynamik –<br />
vernünftige Grenzen<br />
Wie bereits ausgeführt, sieht Welsch die Vernunft als frei von Inhalten;<br />
lediglich die formalen Prinzipien der Logik stellen die innere Verfassung der<br />
Vernunft dar, doch die sind Form, nicht Inhalt. 179 Eine Vielzahl der Kritiker<br />
spricht sich gegen diese Leere aus, so auch Pothast:<br />
„Die Vernunft auf „die logischen Prinzipien“ vereidigt zu sehen und auf sonst<br />
nichts, macht sie (erstens) für die Rolle, die sie nach Welsch spielen soll, untauglich,<br />
und beraubt sie (zweitens) der Möglichkeit, gerade da tätig zu werden,<br />
wo die gegenwärtig dominante Theorie der Rationalität – als rational<br />
choice theory in Fragen von Handeln und Erkennen – eine eigenständige Instanz<br />
von Vernunft als dringendes Desiderat ausweist (wie der gleiche Bereich<br />
auch von alters her eine Domäne von Vernunft gewesen ist – trotz stark<br />
divergierender Vernunftauffassungen im einzelnen). (...) Wo die philosophische<br />
Gegenwart nach Vernunft vielfach fragt, ja ihre Tätigkeit einfordert (...),<br />
kann eine inhaltsleere und auch am Erwerb eigener Inhalte gar nicht interessierte<br />
Vernunft wenig beitragen, weil eben jene eigenen Inhalte (mindestens<br />
Verfahren zum Erwerb eigener Inhalte) es sind, nach denen verlangt<br />
wird. (...) Dieses Feld klassischer Vernunfttätigkeit, logisch angesiedelt vor<br />
aller Rationalität, wird preisgegeben durch eine prinzipienlose und ausdrücklich<br />
als inhaltsleer konzipierte Vernunft. Wenn die Vernunft in diesem Bereich<br />
nur übergeht, vermittelt, Reinheit anstrebt usw., aber von sich her insbesondere<br />
über Leitvorstellungen rechten Handelns unter Menschen gar nichts<br />
mehr sagen kann und will, ist sie nur noch ein Klärungsorgan nach Prinzipien<br />
einer irgendwie implantierten Logik, ein Klärungsorgan ohne essentiellen Be-<br />
179 Neben eine Unterterminierung der logischen Prinzipien bei Welsch tritt die allgemeine<br />
Problematik, aufgrund der langen Entwicklungsgeschichte und der Vielzahl<br />
der bereitgestellten Interpretationen logischer Prinzipien eine „Dekretierung“<br />
(Pothast 2000: 136) derselben durchführen zu wollen. Das würde „in die Theorie einer<br />
explizit positionsungebundenen Vernunft ein radikal dogmatisches Moment einführen,<br />
das zum Selbstbild einer solchen Vernunft in krassem Widerspruch stände.“<br />
(Pothast, U. (2000): Eine neue Vernunft und alte Probleme, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 135-<br />
137, hier S. 136).<br />
147
148<br />
zug zu menschlichem Leben und ohne Verwurzelung in diesem. Sie könnte<br />
über kurz oder lang leicht durch eine „Vernunft“ der Geräte, die logische<br />
Operationen viel schneller durchführen können als lebende Personen, ersetzt<br />
werden.“ 180<br />
Führt man den Gedanken der Inhaltsleere konsequent weiter, so ließe sich<br />
der freie Raum im Inneren der Vernunft nahezu beliebig besetzen. Doch eine<br />
Beliebigkeit, eine Willkür kann nicht vernünftige Intention sein, sondern<br />
kommt eher dem Mechanismus ökonomischer Rationalität gleich.<br />
So stellt sich allgemein die Frage, ob bzw. wie es möglich ist, ein inhaltlich<br />
überladenes, ein substantialistisches Programm, so wie es die Moderne aus<br />
Sicht der Postmoderne darstellt, in einen Zustand zu überführen, welcher zu<br />
einem differenzierteren Umgang, einem reflektierten Zugang zu den Gegenständen<br />
zurückfindet. Den modernen Inhalten eine postmoderne Inhaltsleere<br />
entgegenzustellen, führt die qualitative Diskrepanz von Form (logische Prinzipien)<br />
und Inhalt vor Augen. Auch wenn sich die Leere als dialektisches<br />
Pendant zu einer Überladung aufdrängt, so würde eine völlige Abkehr von<br />
jeglichem Inhalt bedeuten, dass die Chance vertan wird, den bisherigen<br />
Vernunft-Verzerrungen ein qualitatives Äquivalent entgegenzustellen. Die<br />
angestrengte Dialektik führte sich ad absurdum zugunsten einer neuen rein<br />
substantialistischen Dominanz, die aufgrund mangelnder Alternative entsteht.<br />
181 Die Postmoderne kommt um ein Mindestmaß an Inhalt nicht herum,<br />
will sie nicht denen vollständig das Feld überlassen, die abzulösen sie angetreten<br />
ist. Hug/Perger artikulieren diesen Gedanken wie folgt:<br />
„Deshalb sind wir dagegen, die Vernunft in erster Linie als ein logisches Vermögen<br />
auszuzeichnen. Die Logik ist ein Set von Werkzeugen und wie alle anderen<br />
Werkzeuge kann sie erst dann zum Einsatz kommen, wenn Ideen als<br />
verfolgenswert erscheinen. Mit einem Wort, ihr Platz ist in der zweiten Linie.<br />
180 Pothast (2000: 136).<br />
181 Ist nicht vielmehr die potentielle Disposition aller Inhalte qualitatives Gegenstück zu<br />
dem, was vorher war? Die Moderne ist ja nicht revisionsbedürftig in Bezug auf die<br />
Inhalte an sich; vielmehr sind es die Konsequenzen des rationalen Vollzugs in allen<br />
Zusammenhängen, die Eigendynamik, das Verhältnis der Kräfte, welche Verzerrungen<br />
generierten und sich dadurch kontinuierlich von dem Tatsächlichen entfernten.<br />
Auf diese Weise verfremdete sich die ursprüngliche und nachvollziehbare Intention<br />
der Moderne. Die angemessene Gewichtung der Inhalte, der umsichtige Umgang mit<br />
ihnen und ihre nachhaltige Umsetzung würde demnach ein qualitatives Gegenstück<br />
darstellen; ein Gegenstück, welches nicht programmatisch-kurzweilig auftritt, sondern<br />
die Grundlage eines nachhaltigen Konzepts im Sinne der Lebensdienlichkeit bilden<br />
kann.
Räumen wir ihr und insbesondere ihren Grundsätzen zur Herstellung von<br />
Einheit und Widerspruchsfreiheit, oberste Priorität ein, dann gibt es im Denken<br />
nur mehr ein Ziel: die Allgemeingültigkeit jedes Denkaktes. Genau diese<br />
Form von Rationalität hat in vielen besonderen Situationen großen Schaden<br />
angerichtet. Sie müssen wir in Frage stellen, um überhaupt so etwas wie<br />
transversale Vernunft möglich zu machen.“ 182<br />
Widersprechen die invasiven Inhalte der formalen Logik nicht, so sind sie<br />
grundsätzlich als Inhalt von Vernunft vorstellbar, so die hier angedeutete<br />
Implikation. Nach Ansicht des Verfassers ist dies mitursächlich für die momentane<br />
inhaltliche Rückbindung der Postmoderne. Die postmoderne Moderne<br />
sucht nach einem inhaltlichen Äquivalent zur substantialistischen Moderne<br />
und versucht die postmoderne inhaltliche Leere zu überwinden.<br />
Identifizierte man die Welsch’sche Konzeption als rein postmodernes Anliegen,<br />
so mag es nicht verwundern, wenn die Konsequenzen einer hierfür eintretenden<br />
Vernunft inhaltliche Leere und Positionsungebundenheit lauten. Angetreten,<br />
um totalitär substantialistische Inhaltssysteme abzulösen, um für die<br />
plurale Wirklichkeit zu sensibilisieren, um für deren Selbständigkeit einzutreten,<br />
um dem bis dahin machtlosen, weil sich von der Masse abhebenden<br />
Anderen, dem „Abwegigen“ zur sozialen Rehabilitierung zu verhelfen.<br />
Jedoch, und dies wurde zu Beginn der Auseinandersetzung zitiert, wäre die<br />
Interpretation der Konzeption der transversalen Vernunft als rein postmodernes<br />
Programm unzutreffend. Welsch tritt mit seiner Konzeption auch<br />
der oft überzogenen postmodernen Kritik an universellem Geltungsanspruch<br />
entgegen; dies ist aus seiner Position zwischen Moderne und Postmoderne<br />
nur konsequent. Auch der Widerstand gegen allzu rationalistische Beschränkungen<br />
der von den „Rationalitätsapologeten“ 183 vertretenen Positionen<br />
spricht „die gleiche Sprache“, nämlich die des postmodernen Modernen.<br />
Unterstützt wird diese These durch die jüngsten Äußerungen von Welsch:<br />
„In gewissem Sinne beginnen die Aufgaben der Vernunft dort, wo die Interessen<br />
der Rationalität enden. Während Rationalitätstypen ihr Verhältnis zu<br />
anderen Typen und Gebieten nur sekundär und in strategischer und selbstsichernder<br />
Absicht ins Auge fassen, widmet Vernunft sich genuin der Frage<br />
182 Perger, J./Hug, T. (2000): Transversale als ‚reine‘ Vernunft? Ein Plädoyer für die Relativierung<br />
des Reinheitsgebots, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 132-134, hier S. 133; Hervorhebung<br />
im Original.<br />
183 Welsch (2000a: 79).<br />
149
150<br />
nach dem Verhältnis der diversen rationalen Formen – und zwar in einem<br />
Geist fortgesetzter Klärung und vorbehaltloser Gerechtigkeit.“ 184<br />
Der „Geist vorbehaltloser Gerechtigkeit“ lässt erahnen, dass auch die Vernunft,<br />
die Welsch beschreibt, jenseits der formalen Prinzipien zusätzlich von<br />
Inhalten besetzt ist. In seiner Replik konkretisiert Welsch seine Vorstellung<br />
einer Leere und Positionsungebundenheit von Vernunft. Zusammen stellen<br />
diese Bestimmungen die Reinheit der Vernunft dar. Die Reinheit ist nicht<br />
Faktum, sondern Zielpunkt einer „Purifikationsdynamik“.<br />
„Entscheidend scheint mir allerdings zu sein, daß wir beim Begriff ‚Vernunft‘<br />
eine Purifikationsdynamik im Sinn haben müssen - oder andernfalls nicht<br />
wirklich von Vernunft sprechen. Wer sich in Vernunftfragen dieser Purifikationsdynamik<br />
nicht aussetzt, operiert nicht im Sinn von Vernünftigkeit (...). -<br />
Ich vertrete also auch in Sachen Reinheit keine substantialistische, sondern<br />
eine prozessualistische Position.“ 185<br />
Diese „prozessualistische Position“ von Welsch kommt jedoch nach Ansicht<br />
des Verfassers ohne eine „inhaltliche Minimallösung“ nicht aus. Wenn<br />
Welsch von einer Purifikation spricht, so setzt er Unreinheit voraus. Man<br />
müsse sich klarmachen, „daß es, genau betrachtet, eine wahrhaft neutral und<br />
rein operierende Vernunft wohl gar nicht gibt“ 186. Die Reinheit als unerreichbarer<br />
Zielpunkt wird auch von Leoprechting expliziert:<br />
„Mithin kann es praktisch keine reine Vernunft und ausschließlich formale<br />
Vernunft geben. Allenfalls kontrafaktisch ließe sich eine reine Vernunft denken:<br />
Als Ideal, als Ansporn und als analytische Konstruktion. Daher müßte die<br />
transversale Vernunft auch noch etwas bescheidener werden, als sie durch<br />
ihre Selbstbeschränkung auf Formalität ohnehin schon ist.“ 187<br />
Es ist, und dies ist in den meisten Kritiken missverstanden worden, und auch<br />
bei Welsch wird dies in dieser Deutlichkeit nicht ganz klar, diese Reinheit<br />
eher in ihrer asymptotischen Dynamik zu verstehen. 188<br />
184 Welsch (2000a: 87).<br />
185 Welsch (2000b: 177).<br />
186 Welsch (2000a: 84).<br />
187 Leoprechting (2000: 120; Hervorhebungen im Original).<br />
188 Die „tatsächliche Unreinheit“ deutet bereits an, inwieweit Vernunft nach Welsch auch<br />
als subjektives Vermögen zu verstehen ist, als eine personale Fähigkeit, die in ihrer<br />
Charakteristik immer schon eine Entwicklung darstellt und nicht zu tatsächlicher<br />
Reinheit gelangen kann. In diesem Kontext ist die Reinheit der Vernunft ein Ziel-
Vor dem Hintergrund einer prozessualen Konzeption der Reinheit gestaltet<br />
sich auch die Bestimmung der Positionsungebundenheit von Vernunft different.<br />
Nach Meinung des Verfassers kann diese Bestimmung auch nur im<br />
Sinne einer dynamischen Konzeption verstanden werden. Keller bezweifelt,<br />
„daß wir je in der Lage sind, uns von allen Positionen loszulösen“ und stellt<br />
weiter fest:<br />
„Wir können uns vielleicht von jeder einzelnen Position im Prinzip nacheinander<br />
losmachen, aber wir können uns nicht einmal im Prinzip von allen<br />
Positionen loslösen.“ 189<br />
Wenn Welsch bezüglich der intersubjektiven Kommunikation behauptet:<br />
„Innere Kommunikation ist eine Bedingung äußerer Kommunikation“ 190,<br />
dann stellt er sich damit gegen Habermas und auch gegen diskursethische<br />
Positionen, die eine Überwindung der subjektiven Vernunft vorgeben. 191 In<br />
Bezug auf eine Positionsungebundenheit setzt dies, wie bereits geschildert,<br />
ein über die eigene Position hinausgehendes Vermögen voraus, welches<br />
Welsch in dem Vollzug der Reflexion der unterschiedlichen Positionen zu<br />
erkennen glaubt. 192 Welsch verbindet auf diese Weise eine Philosophie des<br />
Subjekts, die nie vollständig objektiv überwunden werden kann, mit anscheinend<br />
objektiven Bestimmungen der Leere und Positionsungebundenheit. Er<br />
wendet sich gegen die Auflösung der subjektiven Vernunft, entwickelt jedoch<br />
eine vollständige Hintergehbarkeit der eigene Position. Diese Gegensätze<br />
in einem Ansatz zusammenzuführen, erscheint paradox. So auch<br />
Schlüter-Knauer:<br />
punkt des vernünftigen Vollzugs, dem man sich nähert, je weiter diese Entwicklung<br />
vorangeschritten ist.<br />
189 Keller (2000: 108).<br />
190 Welsch (2000a: 81).<br />
191 Vgl. hierzu Welsch (2000a: 90; Fußnote 4): „Damit wende ich mich natürlich insbesondere<br />
gegen Habermas‘ Zurückweisung und vorgebliche Überwindung subjektiver<br />
Vernunft. Die „kommunikationstheoretische Wende“ kann der „Philosophie des<br />
Subjekts“ schwerlich, wie Habermas meint, ein Ende setzen - sie bedarf ihrer.“ Welsch<br />
setzt jedoch nicht subjektive Vernunft mit innerer Kommunikation gleich. Ihm geht es<br />
im Wesentlichen darum, aufzuzeigen, dass ein Vorhaben, „die individuelle Dimension<br />
vollständig in der sozialen aufgehen zu lassen“ (Welsch 2000a: 90; Hervorhebung<br />
vom Verfasser), scheitern muss, dass die soziale Dimension nicht an die <strong>St</strong>elle der individuellen<br />
treten kann; beide Seiten sind komplementäre Teile eines Ganzen.<br />
192 So Welsch (2000a: 83): „Die Reflexion von Positionen und deren Relationen erfolgt<br />
durch ein selbst nicht positionsgebundenes Vermögen“.<br />
151
152<br />
„Trotz aller gutwillig angestrebten Positionsneutralität der Argumentationspraxis<br />
bleibt aber die eigene ‚Position‘ grundsätzlich unhintergehbar -<br />
denn sie ist die Kehrseite der erkenntniskritischen Darstellung (...) und liegt<br />
schon im Geltendmachen von Argumenten überhaupt.“ 193<br />
Dagegen schlägt sie eine regulative Idee vor,<br />
„(...) die auch über ein mögliches oder unmögliches Ende der Unsauberkeit<br />
(...) mangels der Möglichkeit an positivem Wissen (...) über die Erreichbarkeit<br />
keine Aussage macht und so Methodenfehler meiden möchte.“ 194<br />
Schärfer äußern sich u. a. Wuchterl, für den „jeder konkrete Umgang mit den<br />
formalen Prinzipien und Kategorien“ eine „philosophische Position“ darstellt<br />
und mit der „anvisierten Reinheit und Positionsungebundenheit nichts zu<br />
tun“ hat195, Topitsch kommentiert diese Bestimmung mit den Worten „Ein<br />
schöner Traum (...)“ 196 und auch Perger/Hug setzen der Ungebundenheit<br />
das affektiv-emotionale Moment eines jeden Übergangs zwischen verschiedenen<br />
Bezugsrahmen und Rationalitätsformen entgegen. 197 Der bei Welsch<br />
anscheinende Widerspruch löst sich nur auf, wenn die Positionsungebundenheit<br />
in ihrer Purifikationsdynamik gedacht wird, also prozessual anstatt<br />
substantiell. 198 Dann steht der „Rest“ subjektive Vernunft einem „Rest“ Unreinheit<br />
der Vernunft gegenüber. In dieser asymptotischen Dynamik, die die<br />
subjektive und die objektive Seite der transversalen Vernunft bestimmt, löst<br />
193 Schlüter-Knauer, C. (2000): Die ‚Neue Mitte‘ der Vernunft, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 147-<br />
149, hier S. 148.<br />
194 Schlüter-Knauer (2000: 148).<br />
195 Vgl. Wuchterl, K. (2000): Transversale Vernunft - eine ästhetische Illusion, in: EuS, Jg.<br />
11, H. 1, S. 162-164, hier S. 164; Hervorhebungen im Original.<br />
196 Topitsch, E. (2000): Gelungene Reanimation?, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 156-157, hier<br />
S. 157.<br />
197 Vgl. Peger/Hug (2000: 132). Weiter meinen Perger/Hug (2000: 132): „Es scheint, daß<br />
ein Konzept transversaler Vernunft, das auf dem Ausklammern von Inhalten und<br />
Affekten besteht, im Vollzug die Probleme paradoxerweise erst produziert, für dessen<br />
Lösung es sich hält.“ Welsch entgegnet: „(...) So klingt mir der Ruf nach Gefühl in<br />
Vernunftdingen in dieser Form zu feuilletonistisch, philosophisch müßte schon gezeigt<br />
werden, inwiefern Gefühlscharakter den Vernunftbestimmungen innerlich sind,<br />
und diesbezüglich bin ich recht skeptisch. Daß zu uns Menschen auch Gefühle gehören,<br />
reicht jedenfalls noch nicht aus, um zu behaupten, daß das Spezifikum vernünftiger<br />
Tätigkeit durch Gefühlsbindungen bestimmt wäre oder durch Gefühlsbetonung<br />
besser verstanden werden könnte.“ (Welsch 2000b: 186; Endnote 42; Hervorhebung<br />
im Original).<br />
198 In einem solchen Verständnis scheint es auch möglich, dass sich diese affektiv-emotionalen<br />
Momente daran „beteiligen“.
sich der Gegensatz auf - irgendwo im „Übergang“ zwischen ihnen. Dies verdeutlicht<br />
die zentrale Bestimmung, die die transversale Vernunft durchzieht:<br />
Es ist dies - verkürzt - die Differenzierung zwischen den theoretischen Zielen<br />
und dem praktischen Vermögen. Nur so ist eine Leere und Positionsungebundenheit<br />
mit einem subjektiven Vermögen zusammenzudenken, so die hier<br />
entwickelte Rekonstruktion des Welsch’schen Ansatzes. Die bewusste Konfrontation<br />
mit dieser Spannung, die bewusste Auseinandersetzung mit<br />
scheinbaren Paradoxien zeichnet diese Konzeption aus und verdeutlicht ihre<br />
Offenheit und Bestimmtheit gleichermaßen.<br />
7.3.2 Totalität, Vernunft, Rationalität - zentrale Verhältnisbestimmungen<br />
in der Kritik<br />
Wie bereits ausgeführt, unterscheiden sich nach Welsch Rationalität und<br />
Vernunft in ihren Funktionen: Die Rationalität bezieht sich auf Gegenstände,<br />
die Vernunft hingegen bezieht sich auf Rationalität und Vernunft, also auch<br />
auf sich selbst. Sie ist in dieser Selbstreflexion kategorial von der Rationalität<br />
zu unterscheiden. 199<br />
Die Kritik an der Unterscheidung von Rationalität und Vernunft bezieht sich<br />
vornehmlich auf die Frage nach der Notwendigkeit und überhaupt nach der<br />
Möglichkeit derselben. Nicht selten wurde auch eine Trennung in die Differenzierung<br />
hineingelesen. 200 In seiner Replik stellt Welsch nochmals deutlich<br />
199 Vgl. hierzu nochmals die Ausführungen in Abschn. 6.2.1. Es wird nochmals deutlich,<br />
dass im Mittelpunkt der Betrachtung die Differenz von Rationalität und Vernunft<br />
steht, da dies eine der Hauptbestimmungen des Welsch’schen Ansatzes ist. Auch<br />
wenn die ökonomische Rationalität in Abschnitt 1 analysiert worden ist, so geschah<br />
dies exemplarisch. Eine eigene Analyse von Rationalität an sich würde vom eigentlichen<br />
Fokus fortführen, auch wenn diese Analyse von Rationalität Parallelen zu dieser<br />
Argumentation aufzeigt. Vgl. hierzu insbesondere Will (1996), der die Komplementarität<br />
von deduktiver und pragmatischer Rationalität hervorhebt und in der Betonung<br />
von pragmatischer Rationalität der Welsch’schen Subjektorientierung nahe ist. Und<br />
auch die Aussage von Gert (1996), dass Irrationalität basaler ist als Rationalität, zeigt<br />
Parallelen auf zu einer grundsätzlichen Infragestellung von Rationalität und damit<br />
auch zu der Welsch’schen Interpretation der qualitativen Differenz von Rationalität<br />
und Vernunft. Vgl. Will, F.L. (1996): Pragmatische Rationalität, in: Apel/Kettner<br />
(1996), S. 296-317; Gert, B. (1996): Substantielle Rationalität, in: Apel/Kettner (1996), S.<br />
318-348.<br />
200 Die vielfältige Kritik an der Differenzierung und Unterscheidung soll nicht im Einzelnen<br />
dargestellt werden - dies würde von dem eigentlichen Fokus wegführen. Häufig<br />
beruht sie auch auf ungenauer Lektüre des Ansatzes, zum Teil ist sie nicht schlüssig<br />
oder schlägt nur Akzentverschiebungen vor. Zu der Kritik vergleiche bezüglich einer<br />
fehlenden Notwendigkeit der Unterscheidung Fischer (2000: 93), Givsan (2000: 97ff.);<br />
die Unmöglichkeit einer Unterscheidung vertreten Franzen (2000: 95), Keller (2000:<br />
153
heraus, dass es bezüglich des Verhältnisses von Vernunft und Rationalität<br />
nicht um eine Trennung, sondern lediglich um eine Unterscheidung geht. 201<br />
154<br />
„Es besteht zwar eine funktionsspezifische Unterscheidbarkeit, aber keine<br />
Trennbarkeit beider (...); vielmehr sind ‚Vernunft‘ und ‚Rationalität‘ als Bezeichnungen<br />
für unterschiedliche Operationstypen innerhalb unseres reflexiven<br />
Vermögens aufzufassen (...), wobei diese Operationstypen aufeinander<br />
angewiesen sind und in einem Passungsverhältnis zueinander stehen (...).“ 202<br />
Entscheidend ist zudem, und das bleibt im Kontext der Differenzierung von<br />
Rationalität und Vernunft zu wenig berücksichtigt, dass Vernunft durch<br />
ihren Bezug auf die Verhältnisse der Rationalitäten untereinander auf das<br />
Totale ausgreift. Insofern ist eine Diskussion um die Differenz von Vernunft<br />
und Rationalität nicht zu lösen von der Frage nach dem Verhältnis der Vernunft<br />
zur Totalität. In dem Bezug zur Totalität zeigt sich die inhaltliche und<br />
damit nicht nur operationale (!) Differenz von Vernunft und Rationalität. Die<br />
Vernunft unterscheidet sich grundsätzlich von der Rationalität durch ihren<br />
spezifischen Zugang zum Totalen; die Rationalität stellt hingegen den spezifischen<br />
Zugang zum Partialen dar. 203 Die von Welsch geforderte Differenzierung<br />
(und nicht Trennung) steht aus diesem Grund vor einer Zerreißprobe.<br />
108f.), Kleinmann (2000: 112f.), Wittwer (2000: 161f.), Wuchterl (2000: 163f.) und<br />
Wüstehube (2000: 164ff.).<br />
Vgl. hierzu Fischer, P. (2000): Im Schatten der Postmoderne, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 93-<br />
94; Givsan, H. (2000): Eine fragwürdige Verteidigung der „Vernunft“, in: EuS, Jg. 11,<br />
H. 1, S. 97-99; Franzen, W. (2000): Vernunft, Rationalität, Reinheit, in: EuS, Jg. 11, H. 1,<br />
S. 94-97; Kleinmann, B. (2000): Vernunft im Übergang, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 112-114;<br />
Wittwer, H. (2000): Wider den neuen Purism der Vernunft, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 161-<br />
162; Wüstehube, A. (2000): Rationalität versus Vernunft - Ein müßiger <strong>St</strong>reit, in: EuS,<br />
Jg. 11, H. 1, S. 164-166.<br />
201 Die Differenzierung findet sich auch in der Psychologie wieder und dort in der Konzeption<br />
der Metakognition. Diese Konzeption unterscheidet „Rationalität und Vernunft<br />
als Operationen erster und zweiter Ordnung.“ (Kraak, B. (2000): Forderungen an vernünftiges<br />
Denken, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 116-117, hier S. 116). Vgl. hierzu bspw.<br />
Weinert, F.E./Kluwe, R.H. [Hrsg.] (1984): Metakognition, Motivation und Lernen,<br />
<strong>St</strong>uttgart, und die bei Kraak (2000) angegebene Literatur.<br />
202 Welsch (2000b: 170).<br />
203 In diesem Sinne greift die Aussage von Glasersfeld zu kurz: „Vernunft ist nicht zuständig<br />
für, was man denkt, sondern für, wie man denkt. Das scheint mir eine wichtige<br />
Feststellung.“ (Glasersfeld, E.v. (2000): Ratio rediviva, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 99;<br />
Hervorhebungen im Original). Wenn man dies auf eine Kurzformel bringen möchte,<br />
dann ließe sich vielleicht sagen, dass es darauf ankommt wie was und was wie zu<br />
denken ist. Eine Ausschließlichkeit des ‚was‘ gegenüber dem ‚wie‘ zeigt nur die<br />
neuartige Akzentuierung, jedoch nicht die Komplexität des Zugangs.
Argumentiert man konsequent auf Grundlage der nicht vollständigen Leere<br />
und Positionsungebundenheit aus der vorherigen Erörterung, so ergibt sich<br />
auch hier eine stärkere Differenz, als dies Welsch vorgibt. 204 Auch wenn<br />
diese Reinheit in einer Purifikationsdynamik angestrebt wird, so ist die tatsächliche<br />
Differenz zwischen Vernunft und Rationalität durch diesen kleinen,<br />
aber relevanten Unterschied geprägt. 205 Eine Trennung macht auch dies<br />
nicht notwendig, aber genauso wenig ist die kategoriale Differenz in eine<br />
Differenz der Operationstypen auflösbar.<br />
Auch wenn die Inhalte nur asymptotisch zurückgedrängt werden, so ist<br />
Vernunft doch nicht länger mehr das Universale selbst, sondern stellt den<br />
spezifischen Zugang zu diesem dar. Luckner kann in diesem Zusammenhang<br />
auch Parallelen zu Hegel aufzeigen:<br />
„In der Transversalität der Vernunft - ihrer Dialektik - liegt, dass sie schon<br />
durch das Schaffen eines Übergangs von einer (Verstandes-)Sphäre zur nächsten<br />
auf die Ganzheit ausgreift, aus der heraus die einzelnen Sphären allererst<br />
herausdifferenziert sind. Das heißt aber auch, dass es diese Totalität strenggenommen<br />
nicht schon gibt, bevor die Vernunft tätig wird. Die Totalität wird<br />
vielmehr durch den Gang der Vernunft erzeugt (...) und sie ist nicht durch<br />
grundlegende und fundamentale Prinzipien schon abgesteckt (denn von wem<br />
auch?). Auch bei Hegel ist die Totalität, auf die die Vernunft wesentlich bezogen<br />
ist, nicht schon gegeben, wie man immer wieder fälschlicherweise unterstellt,<br />
und von daher seine Philosophie alles andere als ein philosophischer<br />
Totalitarismus. Das, womit Verstand bzw. die vielen Rationalitäten nur rechnen,<br />
das Allgemeine, wird von der Vernunft erzeugt. Vernunft ist damit die<br />
„sich in sich entwickelnde Totalität“ und nicht etwa schon eine fixfertige, die<br />
von einem unausgewiesenen god’s eye view beschrieben werden könnte.“ 206<br />
Über die Charakteristik als ‚Zugang‘ hinaus zeigt sich hier ein weiterer zentraler<br />
Punkt, denn neben der Rolle des Mediums wird die Rolle des „Erzeugers“<br />
deutlich: Durch die mediale Vermittlung wird Totalität erzeugt, die<br />
zuvor nicht bestand. Die phänomenologische Gesamtheit ist existent, der<br />
204 Vor diesem Hintergrund sind auch die vielen kritischen <strong>St</strong>immen bezüglich einer<br />
Trennung nachzuvollziehen, denn diese Trennungscharakteristik wird implizit in der<br />
Welsch’schen Argumentation mitgetragen und vermittelt.<br />
205 Es scheint sich diese Differenz auch nicht aufzulösen, würde die Reinheit erreicht<br />
werden und damit auch die inhaltliche Leere: Der Ausgriff aufs Gesamte bleibt „unhintergehbare“<br />
Differenz.<br />
206 Luckner, A. (2000): Transversale Vernunft. Oder: Wolfgang Welschs Übergang ins<br />
dialektische Denken, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 123-126, hier S. 124; Hervorhebungen im<br />
Original; Fußnoten weggelassen.<br />
155
ewusste Zugang dazu, die Totalität, wird erzeugt. 207 Die transversale Vernunft<br />
steht somit zwischen Universalem und Partialem als Medium. Diese<br />
spezifische Zwischenrolle wiederum kann nur in einer asymptotisch-dynamischen<br />
Leere und Positionsungebundenheit gedacht werden, will das Medium<br />
nur Medium, reines Medium sein. 208<br />
In dem Fokus der transversalen Vernunft stehen diejenigen Inhalte, die<br />
zwischen diesen Gegenständen zu finden sind und ihre Beziehung zueinander<br />
beleuchten. Die Klärung der Inhalte jenseits der Inhalte der Gegenstände<br />
ist Vollzug der Vernunft und konstituiert sich aus der Einsicht in die<br />
Notwendigkeit der Klärung; der Klärung der Verhältnisse zueinander. Aus<br />
der konkreten Betrachtung der Vollzüge zeigt sich auf ähnliche Weise die<br />
Unterstützung der Vermutung einer nicht vollständig „leeren“ Vernunft.<br />
Im Blick auf eine Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität hat der<br />
Bezug zum Totalen und Partialen und die qualitative Differenz zwischen<br />
beiden eine zentrale Bedeutung. Die Rationalität bezieht sich auf die eigenen<br />
Inhalte. Diese sind zwar von zentraler Relevanz für den eigenen Bereich,<br />
darüber hinaus können sie jedoch keine Relevanz erreichen, wenn nicht<br />
deren Anschlussfähigkeit in irgendeiner Art und Weise hergestellt werden<br />
kann. Die Relevanz bleibt ohne diesen Anschluss Bereichsrelevanz. Dies<br />
kann sich im Wesentlichen aus zwei Gründen ändern und zu qualitativen<br />
Spannungen führen. Zum einen, dies wurde aus anderer Perspektive in Abschnitt<br />
2.4 bereits angedeutet, ist der real arbeits- und lebensweltliche Befund<br />
ein Verflechtungsbefund, trotz aller Autonomisierungsbemühungen seitens<br />
des Systems. Zum anderen kommt es dazu, dass die auf das Partiale<br />
bezogene Rationalität auf das Totale ausgreift, welches bereits mit dem Term<br />
207 Welsch (1996: 922f.) weist in diesem Zusammenhang auf die Russellsche Antinomie<br />
hin: „Die Russellsche Antinomie besteht darin, daß die Menge all derjenigen Mengen,<br />
die sich selbst nicht enthalten, genau dann, wenn sie sich nicht enthält, sich selbst<br />
enthalten muß, daß sie sich hingegen dann, wenn sie sich enthält, nicht enthalten<br />
kann.“ Das bedeutet, dass Aussagen über das Ganze „selbstinklusiv“ sein müssen, die<br />
jedoch gerade in eine Paradoxie, hier Antinomie führt. Vernunft als Ausgriff auf das<br />
Ganze kann damit nur asymptotisch und prozessual verstanden werden. In dieser<br />
Charakteristik bleibt Vernunft jedoch immer spezifiziert durch ihren spezifischen Zugang<br />
und ihre spezifische Referenz.<br />
208 Die Vernunft als Vermittler erinnert wiederum an Hegel, der diese Vermittlungstätigkeit<br />
mit dem Begriff „dialektische Natur der Vernunft“ belegte. Vgl. Hegel, G.W.F.<br />
(1970): Werke in zwanzig Bänden, Band 4, Frankfurt, S. 87, zitiert nach Luckner (2000:<br />
123).<br />
156
Kolonialisierung belegt wurde. 209 In beiden Fällen kommt das sich auf das<br />
Partiale beziehende mit dem Totalen in Berührung, was automatisch zu einer<br />
Überforderung des Partialen führt; jedoch nur dann, wenn sich das Partiale<br />
berufen fühlt, selbst auf das Gesamte auszugreifen. In dem hier beschriebenen<br />
Zusammenhang wird der ökonomischen Rationalität dieser Ausgriff<br />
vorgeworfen.<br />
Pointiert formuliert, konstruiert in diesem Fall das Partiale das Totale. Vor diesem<br />
Hintergrund gewinnen die Begriffe der Kolonialsierung und der Verdinglichung<br />
erneut an Profil. Wenn man sich beispielsweise die Gegenstandsbestimmung<br />
der Rationalität vergegenwärtigt, die über die gegenständliche<br />
Bestimmung nicht hinausgehen kann, dann lässt sich ausmalen, in welcher<br />
Weise die rationale Wahrnehmung die komplexe Verflechtung partialisiert<br />
und zu handhabbaren Paketen zusammenschnürt.<br />
Dieser Befund nun kann aus der Rationalität heraus nur schwerlich wahrgenommen<br />
werden; dazu bedarf es der Außenperspektive; aus dieser werden<br />
die diskrepanten Konstellationen deutlich. Wie auch Welsch selbst andeutet,<br />
werden die Gegenstände in der Rationalität, die das eigene Verhältnis zu anderen<br />
Rationalitäten thematisieren, „nur sekundär und in strategischer und<br />
selbstsichernder Absicht“ 210 bewegt, wenn überhaupt. 211 Die Vernunft hingegen<br />
kann mit ihren „Gegenständen“ nur schwerlich eine strategische Position<br />
einnehmen, da kein Gegenüber existiert und auch keine genuin eigenen,<br />
d. h. von den Gegenständen unterschiedlichen Intentionen. Jedoch müssen<br />
sich diese Einstellungen nicht notwendigerweise entgegenstehen.<br />
Der Blick der Vernunft auf die Verhältnisse der Rationalitäten wohnt eine<br />
Intention inne, die nicht notwendigerweise auf eine Verständigung der Rationalitäten<br />
abzielt, jedoch aber auf eine Sensibilisierung für die Differenzen<br />
und deren Auswirkungen auf das Ganze. Aus dieser Sensibilisierung kann<br />
die Einsicht in die Notwendigkeit eines Abgleichs zwischen den Rationalitäten<br />
entstehen. In dieser „Einsicht in die Notwendigkeit eines Abgleichs“ kann<br />
eine Bedingung der Möglichkeit von Verständigung gesehen werden; auf der<br />
Grundlage dieser Verständigung wäre Problemhandhabung möglich. In<br />
dieser Einsicht der Notwendigkeit und nicht in der Forderung des konkreten<br />
209 Vgl. Abschn. 3.3.<br />
210 Welsch (2000a: 87).<br />
211 Es ließe sich in Anlehnung an Habermas die Rationalität als strategisch-orientiert beschreiben,<br />
die Vernunft hingegen als verständigungsorientiert. Das wird an späterer<br />
<strong>St</strong>elle nochmals aufgenommen. Vgl. hierzu Abschn. 10.2.<br />
157
Vollzuges definiert sich zum einen die relative (nicht vollständige) Positionsungebundenheit<br />
und zum anderen die relative Leere der Vernunft. Hierin<br />
liegt die spezifische Leistung einer hier entwickelten und durch die transversale<br />
Vernunft wesentlich durchwirkten Vernunftcharakteristik.<br />
8 Fazit<br />
In Rückbesinnung auf die Ausgangsfrage, ob und wie eine Weiterentwicklung<br />
ökonomischer Rationalität zu ökonomischer Vernunft möglich ist, ist<br />
hier festzuhalten, dass eine solche Weiterentwicklung aufgrund der kategorialen<br />
Differenz von Rationalität und Vernunft nicht möglich ist. Diese kategoriale<br />
Differenz verlangt die Adaption an die Welsch’sche Konzeption; danach<br />
ist ein evolutorischer Übergang zwischen diesen nicht vorgesehen.<br />
Jedoch, dies konnte durch Reflexion aufgedeckt werden, bestehen für die<br />
Rationalität Möglichkeiten der Weiterentwicklung. In der Diskussion haben<br />
sich diese Möglichkeiten aus zwei Perspektiven dargestellt.<br />
(Systemisch)<br />
Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität in einer systemtheoretischen<br />
Rekonstruktion bedeutet die Überwindung ihrer systemischen<br />
Grenzen. Die Bifurkation als paradigmatischer Entwicklungssprung bringt<br />
dies zum Ausdruck. In diesem Sinne ist die Weiterentwicklung ein bifurkativer<br />
Reflexionsprozess, welcher in der Lage ist, den systemischen Eigensinn<br />
und die Eigengesetzlichkeit an Konzeptionen des Gemeinsinns und der<br />
„Gemeingesetzlichkeit“ anzubinden. In dieser Anbindung kommt die Offenheit<br />
zum Ausdruck, die die eigenen Kategorien zur Disposition zu stellen in<br />
der Lage ist.<br />
(Kommunikativ)<br />
Der bifurkativen Entwicklung aus systemtheoretischer Perspektive entspricht<br />
auf Ebene der kommunikationstheoretischen Analyse der Übergang, d. h. die<br />
Konnexion von strategischer und verständigungsorientierter Einstellung.<br />
Diese Einstellung transportiert die wechselseitige Anerkennung der Akteure<br />
in eine offene, weil dem „besseren“ Argument sich fügende kommunikative<br />
Interaktion und Sozialität. Sie vollzieht die Anbindung der strategisch-orien-<br />
158
tierten Positionen an eine gemeinschaftlich verständigungsorientierte Position.<br />
Es wird deutlich, wie beide Perspektiven aufeinander verweisen und verwiesen<br />
sind. Diese Transzendierung der eigenen Grenzen bedeutet nicht nur<br />
eine Verschiebung der Grenzen, sondern eine qualitative Veränderung der<br />
Beschaffenheit, der Verfassheit der Grenzen selbst.<br />
Auch wenn die (ökonomische) Rationalität die Vernunft selbst nicht erreicht<br />
bzw. nicht erreichen kann, so kann sie doch eine vernünftige Entwicklung<br />
durchschreiten, deren Zielpunkt die Anschlussfähigkeit an Vernunft ist.<br />
Die transversale Vernunft wirkt zwischen den Rationalitäten. Ihr „Erfolg“<br />
hängt jedoch im Wesentlichen von den Rationalitäten und deren „Offenheit“<br />
ab, den transversalen Weg vorzubereiten und nach Kräften zu unterstützen.<br />
Selbst beschreiten kann die Rationalität diesen Weg nicht, dies ist Vollzug<br />
der Vernunft. Doch kann sie dem vernünftigen Wanderer die Tür öffnen und<br />
eine Herberge geben, ihm zuhören und sich davon überzeugen lassen, dass<br />
es vernünftig sei, eine wahrhaftige Gemeinschaft in der Handhabung der<br />
Probleme zu bilden.<br />
159
III Balance von Arbeit und Leben - Ökonomische<br />
Vernunft in theoretischer und praktischer Reflexion<br />
Dieses abschließende Kapitel zeigt Möglichkeiten der Weiterentwicklung<br />
bzw. Öffnung ökonomischer Rationalität auf. Dazu werden Parameter einer<br />
ökonomischen Vernunft entwickelt, diese werden einer ethischen Reflexion<br />
zugeführt, um zum Abschluss im Kontext der Unternehmung wirtschaftsethische<br />
Implikationen für die Wirtschaftspraxis und deren Konzepte<br />
ableiten zu können. Zu Beginn sei hierzu das Spannungsfeld rekapituliert,<br />
aus dem die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der ökonomischen<br />
Rationalität heraus entstanden ist. Diese Notwendigkeit wird dann im<br />
Folgenden mit den Impulsen aus der Erörterung der transversalen Vernunft<br />
zusammengebracht. Hieraus ergeben sich Impulse für eine Vernunft in der<br />
postmodernen Moderne, für eine ökonomische Vernunft und für die<br />
konkrete Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität.<br />
9 Vernunft in der postmodernen Moderne - Hinführung zu<br />
160<br />
einer ökonomischen Vernunft<br />
Wie aufgezeigt werden konnte, ist vor dem Hintergrund der Welsch’schen<br />
Konzeption und der hier vorgestellten Rekonstruktion derselben keine<br />
Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität zu einer Form von<br />
Vernunft möglich. 1 Demzufolge ist die hier entwickelte Konzeption von<br />
Vernunft - und in der Konkretion von ökonomischer Vernunft - als Bezugsrahmen<br />
einer Form von Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität zu<br />
verstehen. Dieser Bezugsrahmen dient der ökonomischen Rationalität als<br />
Orientierungs- und Referenzsystem, an dem sich die ökonomische Rationalität<br />
ausrichtet, will sie eine Weiterentwicklung im starken Sinne vollziehen.<br />
Die nachfolgende Skizzierung der ethischen Konzeption stellt den konsequenten<br />
Schritt einer wirtschaftsethischen Analyse dar, die darauf abzielt,<br />
1 An späterer <strong>St</strong>elle wird hierzu aufgezeigt, dass die Diskussion um eine ökonomische<br />
Vernunft zuallererst eine Diskussion um Vernunft an sich verlangt. Diese Vernunft an<br />
sich kann ihrerseits Aufschlüsse darüber liefern, welche Implikationen Vernunft im<br />
Kontext von ökonomischer Vernunft aufweist. Vgl. hierzu Abschn. 9.2.1.
die erarbeiteten postmodern-modernen Bestimmungen von Rationalität,<br />
Vernunft und Ethik im Kontext der Unternehmung zu reflektieren, Impulse<br />
systematisch aufzunehmen und organisationstheoretische Implikationen zu<br />
diskutieren. Dafür ist eine Deutung der individuellen ethischen Reflexionen,<br />
der Subjektorientierung der Welsch’schen Konzeption in die intersubjektiven<br />
Bezüge einer sozialen Gemeinschaft zu überführen, um anschlussfähig zu<br />
sein an das soziale System „Unternehmung“. Diese Überführung geschieht<br />
im Rahmen der ethischen Reflexion.<br />
9.1 Rekapitulation der Notwendigkeit einer Weiterentwicklung<br />
ökonomischer Rationalität<br />
Eine Reflexion von ökonomischer Rationalität wird im Blick auf die aktuelle<br />
Praxis aus zwei unterschiedlichen Perspektiven dringlich und notwendig:<br />
Zum einen sind es die bei Sennett dargestellten Analysen, die diese Notwendigkeit<br />
unterstützen. Dazu wurde in Abschnitt 2.1.1 die Globalisierung in<br />
ihren charakteristischen Phänomenen nachgezeichnet. In ihrer Komplexität<br />
und Unübersichtlichkeit stellt die Pluralisierung der Lebenswirklichkeit die<br />
Menschen vor neue Herausforderungen. Einher geht die vor allem arbeitsweltliche<br />
Flexibilisierung mit einer ökonomischen Dynamisierung, die -<br />
losgelöst von jeglicher lebensweltlicher Reflexion - ins gesellschaftliche Abseits<br />
driftet und beinahe zwingend die „lebensweltliche Revolte“ provoziert.<br />
2 Auch wenn sich die Dynamik und Flexibilisierung aus dem ökonomischen<br />
System heraus entwickelt und auch vornehmlich für dieses bestimmt<br />
ist, so erscheint es naiv anzunehmen, dass die dadurch beeinflussten <strong>St</strong>rukturen<br />
und Zusammenhänge sich nur auf das ökonomische System beschränken.<br />
Vielmehr ist es gerade der lebensweltliche, der individuell-intrasubjektive<br />
Kontext von Persönlichkeit und Identität, der diese Sprache des „Turbo-<br />
2 Die Globalisierungsgegner formieren sich auf dem gesamten Globus in zunehmendem<br />
Maße. Die Form des Protests eskaliert, wenn die „Mächtigen“ dieser Welt zu<br />
Weltwirtschaftsgipfeln zusammenkommen, um globale Entscheidungen zu treffen –<br />
leider zunehmend auch gewalttätig (in Genua, September 2001, war das erste Todesopfer<br />
zu beklagen). Aufgrund der komplexen Semantik und auch überwiegend unscharfer<br />
Verwendung des Begriffs „Globalisierung“ lässt sich auch die Gegenbewegung<br />
nicht thematisch konkretisieren, was dazu führt, dass sich zuweilen unter den<br />
so genannten Globalisierungsgegnern recht abstruse Anliegen tummeln und damit<br />
eine m.E. so notwendige thematisch konzertierte Aktion nahezu unmöglich machen.<br />
161
Kapitalismus“ mit seinen „Speed-Parolen“, „Fusionen“, „Burn-Outs“ und<br />
„Inkubatoren“ nur zögerlich handhaben und kompensieren lernt.<br />
Sennett zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass eine Form von Erfahrungsfraktale,<br />
wie sie auch Lübbe skizziert, in zweifacher Weise relevant wird:<br />
Zum einen ist es die Handlungsfraktale in den arbeitsweltlichen Prozessen, die<br />
seit der Industrialisierung diskutiert wird, die den Blick für das Gesamte des<br />
Hergestellten und damit den Sinn des eigenen Tuns versperrt, da der<br />
Einzelne nur in einen Bruchteil des gesamten Prozessablaufes durch seinen<br />
Arbeitsbeitrag integriert ist. 3 Zum anderen führt die Kurzfristigkeit der<br />
Arbeitsverhältnisse zu einer Bereicherung, aber auch Fragmentarisierung der<br />
lebensweltlichen Erfahrung. Die kurze Verweildauer eines Arbeitnehmers in<br />
einer Unternehmung führt zu einer Arbeitskultur, die weniger durch Vertrauen<br />
und Loyalität als vielmehr durch Wettbewerb und strategische<br />
Mikropolitik gekennzeichnet ist. Das Verhältnis zu den ständig wechselnden<br />
Arbeitgebern nimmt aus Sicht des Arbeitnehmers mehr und mehr den Charakter<br />
einer „lebenslangen Probephase“ an. Es muss ständig neu eine Identität,<br />
ein <strong>St</strong>atus, ein <strong>St</strong>anding im sozialen Gefüge der Unternehmung aufgebaut<br />
werden. 4 Da eine Probephase durch die besondere Anstrengung, die<br />
Übererfüllung des Arbeitnehmers gekennzeichnet ist, entspricht dies einer<br />
latenten Ausbeutung.<br />
In der jeweiligen Lebenspraxis ist der ständige Wohnsitzwechsel - abgesehen<br />
von oft zahlreichen Geschäftsreisen - eine besondere Herausforderung für<br />
Familie bzw. für den Erhalt eines Freundeskreises. Das soziale Netz verlagert<br />
sich in das virtuelle Netz, kommuniziert über E-Mail und lernt, auf persönliche<br />
face-to-face Kontakte zu verzichten. Wie Sennett deutlich hervorhebt,<br />
kann die Flexibilisierung zu einer Erosion der Charaktere führen, die nur<br />
noch kurzfristig denken und handeln. Kontinuitätserfahrung wird seltener<br />
3 Vgl. Lübbe, H. [Hrsg.] (1982): Der Mensch als Orientierungswaise? Ein interdisziplinärer<br />
Erkundungsgang, Freiburg/München.<br />
4 Man kommt nicht umhin, bei diesen Interpretationen realsoziologischer Konsequenzen<br />
auf die Differenzierung zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen, Branchen<br />
und Hierarchiestufen hinzuweisen. So scheint es plausibel, dass derjenige, dessen Fähigkeiten<br />
eher Wissen als spezifische Fertigkeiten sind, aufgrund des höheren Abstraktionsgrades<br />
einfacher unterschiedlich „einsetzbar“ ist, somit vermutlich auch<br />
weniger Probleme mit häufiger wechselnden Arbeitgebern hat. So ist Unternehmensberatung<br />
auf der ganzen Welt in ihren Inhalten und Methoden relativ homogen im<br />
Gegensatz zum Arbeiter in der Fertigung, der wohl niemals auf die gleichen Arbeitsschritte<br />
beim Wechsel seines Arbeitsplatzes trifft. Dies deutet eine soziale Diskriminierung<br />
an.<br />
162
und der Aufbau einer zusammenhängenden Lebenserzählung – zentraler<br />
Baustein einer Identitätskonstituierung – zunehmend schwieriger. Das bedeutet,<br />
dass zu der Fraktale innerhalb der Arbeit - und dem damit einhergehenden<br />
Sinnverlust - eine Fraktale außerhalb der Arbeit bzw. zwischen<br />
Lebens- und Arbeitswelt entsteht, die lebensweltliche und soziale Mechanismen<br />
unterläuft und von innen aushöhlt.<br />
Zum anderen tritt zu diesem Befund die Perspektive der technologischen<br />
Ermöglichung von Informationsvermittlung und Kommunikation. Dieser<br />
technologische Fortschritt revolutioniert vor allem die Arbeitswelt in ihren<br />
Möglichkeiten der Datenübermittlung, aber auch darüber hinaus. Voß verdeutlicht<br />
in seiner <strong>St</strong>udie, dass die Grenzen von Leben und Arbeit erodieren.<br />
Auch wenn diese Erosion nicht unbedingt durch die räumliche Nähe von<br />
Leben und Arbeit erzeugt wird, wie dies noch in der vorindustriellen<br />
Arbeitswelt der Fall war, so kann die räumliche Distanz einfacher und<br />
direkter überwunden werden. 5 Darüber hinaus erhöhen sich die Möglichkeiten,<br />
auch zeitlich Grenzen zu überschreiten, ganz gleich, ob dies die globale<br />
„rund-um-die-Uhr-Produktion“ ist oder im individuellen Kontext der<br />
geschäftliche Anruf am Wochenende bei der Bergwanderung mit der Familie.<br />
Zeitliche und räumliche Relativierung bedeutet für die Ebene der unterschiedlichen<br />
Rationalitäten von System und Lebenswelt eine Durchlässigkeit,<br />
die vermehrt zu Überlagerungen führt. In den skizzierten Beobachtungen<br />
5 Wie bereits angedeutet wurde, ist ein Vergleich mit früheren Konstellationen von<br />
Arbeit und Leben aufschlussreich, jedoch nach der hier vertretenen Auffassung nur<br />
eingeschränkt aussagekräftig. Man mag bezüglich der Identitätserosion einwenden,<br />
dass gerade die vielfältige und wechselnde Herausforderung zu einer wiederholten<br />
Prüfung und Selbstreflexion und damit <strong>St</strong>abilisierung der Identität führen kann. Dergleichen<br />
ließe sich über den Vergleich von vorindustriellen und jetzigen, nachindustriellen<br />
Arbeits- und Lebensformen sagen: Die Erosion von Grenzen führt den Einzelnen<br />
in die Bedingungen zurück, mit denen seine Vorfahren zum Ende des 19. Jahrhunderts<br />
konfrontiert waren. Vgl. dazu Abschn. 1.1. Hierbei ist jedoch selten das gesamte<br />
Set der Situationsbedingungen in Betracht gezogen worden, sondern jeweils<br />
nur einzelne Aspekte. Wie aber auch die hier skizzierte Konstellation von Globalisierung<br />
und Technologie aufzuzeigen versucht, ist die aktuelle Situation vor allem durch<br />
die Komplexität der Herausforderungen gekennzeichnet, die durch das Wechselspiel<br />
von unterschiedlichen Parametern erzeugt wird. Gerade dieses reziproke Beeinflussungsverhältnis<br />
ist es, welches die jetzige Situation von den Situationen früherer Tage<br />
grundlegend unterscheidet und aus diesem Grunde nur eine beschränkte Vergleichbarkeit<br />
ermöglicht. Die vermutete Überforderung des Individuums in der Postmoderne<br />
gründet sich vornehmlich auf diese Beobachtung der unübersichtlichen Pluralität<br />
und Dynamik.<br />
163
wird eine tendenziell einseitige Assimilation der Lebenswelt an das System<br />
vermutet, also eine Überlagerung der Lebenswelt durch das System, die anhand<br />
unterschiedlicher Eskalationsstufen beschrieben werden kann.<br />
Es ergibt sich nach dem Befund der Identitätserosion aufgrund von Fraktale<br />
eine weitere Perspektive der Grenzerosion, die ersteren Befund bezüglich der<br />
Dringlichkeit einer erneuten Reflexion der ökonomischen Rationalität im<br />
Sinne einer Neukonzeptualisierung von ökonomischer Vernunft unterstützt.<br />
In Kapitel II wurden darauffolgend die theoretischen Bedingungen einer<br />
Neukonzeptualisierung ökonomischer Vernunft ausgelotet. Grundsätzliche<br />
aktuelle theoretische Determination stellte darin die Postmoderne in ihren<br />
charakteristischen Befunden dar. Eine Konzeptualisierung hat sich somit<br />
nicht nur den praktischen Befunden der Identitäts- und Grenzerosion zu<br />
stellen, sondern zudem postmoderne Parameter der Pluralisierung und Verabschiedung<br />
der Vereinheitlichung einzubeziehen. Exemplarisch für eine<br />
Berücksichtigung der postmodernen Bestimmungen wurde der Ansatz von<br />
Welsch vorgestellt. In dieser Neukonzeptualisierung von Vernunft als transversalem<br />
Vollzug finden sich die postmodernen Bestimmungen deutlich<br />
wieder, die in einem postmodern-modernen Bezugsrahmen reflektiert wurden.<br />
Der Charakter des Transversalen der Welsch’schen Vernunft ließe sich<br />
wie folgt beschreiben:<br />
Dort, wo nichts ist, ist doch immer Übergang, Austausch und Abgleich. Dort, und<br />
nur dort, vollzieht sich die Grundlage der Bestimmung des Ganzen, welches sonst<br />
als Ganzes nicht bezeichnet werden könnte. Die Gesamtheit entsteht zwischen den<br />
Rationalitäten – und nur dort.<br />
Auf diesem schmalen Grad, der sich von dem breiten Weg der Moderne und<br />
ihrer propagierten Sicherheit grundsätzlich unterscheidet, bewegt sich die<br />
postmoderne Moderne in ihrem Zugang zu Vernunft. Der schmale Grad hält<br />
zu kontinuierlicher Nachjustierung und Reflexion an. Die Vernunft, die nicht<br />
<strong>St</strong>ärke mit Kritikresistenz verwechselt, sondern die in der selbstbezüglichen<br />
Infragestellung und Flexibilität durch grundsätzliche Offenheit Größe zeigt<br />
und beweist, das ist die Vernunft, die sich nicht totalitär über alles stellt,<br />
sondern vermittelnd zwischen alles. Dadurch, dass sie zwischen Allem steht,<br />
konstituiert sich ihr universaler Charakter; ihren totalitären dagegen legt sie<br />
ab.<br />
Damit jedoch die Flexibilität der grundsätzlichen Offenheit, damit der<br />
schmale, jedoch feste Grad nicht zum Drahtseilakt wird, dafür benötigt der<br />
Vollzug der Vernunft eine eindeutige Orientierung, die Welsch in dem<br />
164
formalen Inhalt (Logik) verwirklicht sieht. Von der Welsch‘schen Position<br />
wurde aber im Laufe der Diskussion abgewichen bzw. die Position wurde in<br />
eine spezifische Richtung interpretiert. Die bei Welsch beschriebene Leere<br />
der Ver-nunft wird als asymptotischer Prozess verstanden, welcher die<br />
Vernunft inhaltlich „auf das Nötigste“ reduziert. Dieses Nötigste wurde mit<br />
der Einsicht in die Notwendigkeit der Genese von Vergleichbarkeit, von<br />
Anschlussfähigkeit der Gegenstände der Vernunft, den Rationalitäten,<br />
beschrieben. In dieser inhaltlichen Bestimmung widerspricht die Vernunft<br />
weder den Rationalitäten in ihren Gegenständen, noch ist dies mit den Bestimmungen<br />
der Moderne vergleichbar. In der Einsicht in die Notwendigkeit<br />
findet sich keine inhaltliche Bestimmung, in welcher Weise sich die Gegenstände<br />
der Vernunft zueinander verhalten, nur dass sie sich zueinander<br />
verhalten. Die Vernunft ist zwischen den Positionen einem Medium gleich,<br />
durch das die Positionen in ihren <strong>St</strong>ellungnahmen „hindurchfließen“. Dieses<br />
Medium ist insoweit normativ, als dass es die Vermittlung als notwendig, als<br />
vernünftig erachtet. Moderne Totalität und Einheit wird in dieser Vernunft<br />
durch Universalität ersetzt, die in der Konnexion von Heterogenitäten<br />
besteht.<br />
9.2 „Vernünftige“ Bausteine - eine Skizzierung der Verhältnisbestimmungen<br />
In einem letzten Schritt ist es nun notwendig, die Konzeption von Vernunft<br />
in dieser Argumentation zu umreißen und Möglichkeiten von Vernunft im<br />
Kontext der Ökonomie in Theorie und Praxis auszuloten, um daraus Bedingungen<br />
der Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität erörtern zu<br />
können.<br />
9.2.1 Vernunft und Ökonomische Vernunft<br />
Bisher hat die Diskussion auf Vernunft abgestellt, ohne eine nähere Analyse<br />
bezüglich des Gegenstandsbereichs der Ökonomie explizit nachzuvollziehen<br />
bzw. in diese Analyse zu integrieren. Dies hat vor allem folgenden Grund:<br />
Der Terminus „ökonomische Vernunft“ ist bisher in dieser Argumentation<br />
eher vermieden worden, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.<br />
Da der wesentliche Impuls für diese Argumentation aus dem Ansatz von<br />
Welsch gewonnen wurde, steht auch die gesamte Arbeit in dieser „Tradition“.<br />
Da ein wesentlicher Teil seines Ansatzes die Differenzierung zwischen<br />
165
Rationalitäten und Vernunft darstellt, legt eine Vernunft, die sich einem<br />
(rationalen) Bereich verschreibt, die Vermutung nahe, sie vollzöge einen<br />
Rückschritt. Dieser Rückschritt bestünde in einer Verengung der Vernunft<br />
auf einen Rationalitätsbereich, was zwingend implizieren würde, dass die<br />
Vernunft ihre Differenzierung gegenüber der Rationalität verlieren würde,<br />
da die Vernunft sich gerade zwischen den Rationalitäten lokalisiert und sich<br />
keiner Position verschreiben kann. Nach Welsch ist somit der Begriff der<br />
„ökonomischen Vernunft“ nicht eindeutig und eher irreführend.<br />
Um eine Diskussion über ökonomische Vernunft zu führen, ist es somit notwendig,<br />
über Vernunft an sich zu sprechen und sich nicht einer wie auch<br />
immer gearteten Einschränkung von dieser zu verschreiben. Diese Einschränkung<br />
ist theoretisch nicht haltbar, da auch ökonomische Vernunft<br />
Vernunft ist und nicht eine reduzierte Form davon. Von einer Vernunft zu<br />
sprechen, die ökonomisch sein soll, kann in der hier vertretenen Position und<br />
im Anschluss an Welsch nur in dem Sinne verstanden werden, dass dies ein<br />
Vermögen darstellt, welches in seinem Vollzug vornehmlich den ökonomischen<br />
Gegenstand (Singular!) reflektiert. In diesem Sinne ist sie somit keine<br />
Vernunft, die ökonomisch ist, sondern Vernunft, die sich auf die Ökonomie<br />
bezieht.<br />
Ökonomische Vernunft rekurriert dabei auf denselben theoretischen Rahmen<br />
wie die Vernunft an sich. Hierin unterscheidet sie sich nicht und kann sich<br />
auch nicht unterscheiden, sonst wäre sie Rationalität oder „halbe“ Vernunft.<br />
Von der ökonomischen Rationalität hebt sie sich qualitativ in der Weise ab,<br />
indem sie nicht die einzelnen Gegenstände und ihre Zusammenhänge untereinander<br />
thematisiert, sondern den gesamten Gegenstand der Ökonomie,<br />
also die Ökonomie in ihrer rationalen Gesamtheit zu erfassen sucht und darüber<br />
hinaus speziell diese Gesamtheit zu anderen Gesamtheiten in Beziehung<br />
setzt. 6 Ökonomische Vernunft unterscheidet sich von der Vernunft<br />
lediglich in ihrem „Anwendungsrahmen“, was bedeutet, dass ökonomische<br />
Vernunft den Vollzug der Vernunft vor allem im Rahmen der Ökonomie<br />
beleuchtet und reflektiert. In diesem Anwendungsfokus, in diesem spezifischen<br />
Vollzugsrahmen kann sie sich nicht von der Vernunft an sich separieren,<br />
sondern rekurriert auf sie. Die Referenz der ökonomischen Vernunft<br />
bleibt die Vernunft an sich und diese Referenz kann durch nichts einge-<br />
6 In dieser Betrachtung der Übergänge zwischen Rationalitäten kam der zentrale „Charakterzug“<br />
der Welsch‘schen Vernunft zum Vorschein, mit dem Unterschied, dass<br />
nicht spezifische Rationalitäten im Vordergrund standen.<br />
166
schränkt werden. In diesem Sinne erscheint es nachvollziehbar, weshalb<br />
auch in diesem Argumentationskontext die Konzentration vor allem auf die<br />
Vernunft an sich erfolgte, da sie das eigentliche Referenzzentrum darstellt;<br />
der Schritt in einen spezifischen Vollzug stellt sozusagen den praktischen<br />
Teil der theoretischen Analyse dar. In diesem Fall soll, obwohl dies theoretisch<br />
missverständlich erscheint, an dem Begriff der ökonomischen Vernunft<br />
festgehalten werden, um den spezifischen Fokus herauszustellen. Es ist dies<br />
ein Vollzug der Vernunft, der einen Ausschnitt des gesamten vernünftigen<br />
Vollzuges darstellt und folgt damit einer exemplarischen Methode, nicht<br />
einer reduktionistischen. Die ökonomische Vernunft prüft im Speziellen die<br />
Beziehungen des ökonomischen Gegenstandes zu anderen Gegenständen.<br />
Nachdem die Konzeption von Welsch beschrieben ist, kann nun dieser<br />
Begriff eingeführt, aus der Literatur aufgenommen und vor dem Hintergrund<br />
der hier entwickelten Vernunft-Konzeption reflektiert und weiterentwickelt<br />
werden. Dazu sollen im Folgenden relevante Eckpunkte der hier<br />
entwickelten Vernunft-Konzeption dargestellt werden. Das Profil dieser<br />
Konzeption wird durch die Gegenüberstellung von unterschiedlichen<br />
Bestimmungen innerhalb und außerhalb der Vernunft gewonnen.<br />
9.2.2 Vernunft und Ethik der Ökonomie<br />
Es ist bereits angeklungen: Die Hauptbestimmungen der Vernunft, die Leere<br />
und Positionsungebundenheit, sind nach der hier vertretenen und von anderen<br />
Autoren vertretenen Meinung nicht in der Art und Weise haltbar, wie<br />
sie Welsch in seinem Ansatz ausführt. Jedoch muss in Bezug auf eine zu<br />
skizzierende Ethik klargestellt werden, dass, interpretiere man diese Hauptbestimmungen<br />
der Vernunft als Idealiter, als heuristische Ausgangspunkte<br />
und nicht als faktische Realität der Vernunft – sofern damit Welsch nicht<br />
vollkommen widersprochen ist –, gerade in dieser Dynamik zu Leere und<br />
Positionsungebundenheit das zentrale Charakteristikum einer aktuellen<br />
Konzeptualisierung von Vernunft zum Ausdruck kommt, das gerade hierdurch<br />
ihren universalen Anspruch in irgendeiner Weise zu behaupten<br />
trachtet. Während nun die ökonomische Vernunft, in Anlehnung an Welsch,<br />
das In-Beziehung-setzen der ökonomischen Rationalität mit anderen Rationalitäten<br />
zueinander zum Programm hat, geht die Ethik der Ökonomie<br />
darüber hinaus und schreibt dieser Verhältnisbestimmung eine normative<br />
Notwendigkeit zu. Diese ethische Notwendigkeit geht über die Normativität<br />
der Vernunft hinaus, denn sie thematisiert das „Wie“ des Verhaltens<br />
167
zueinander. Die Ökonomie hat im vernünftigen Vollzug nicht nur eine<br />
grundsätzliche Anschlussfähigkeit „erworben“, sondern zudem einen spezifischen<br />
Zugang zum Gesamten. Im „ethischen Vollzug“ wird dieser Zugang<br />
konsequent in eine Setzung überführt, die das Gesamte in einer sozialen<br />
Solidargemeinschaft rekonstruiert und mit normativen Bezügen belegt. Die<br />
Verhältnisbestimmung ist nicht mehr deskriptiver Abgleich, sondern<br />
normative Entscheidung über Prioritäten. Es kristallisiert sich die „ökonomische<br />
Vernunft“ als notwendige, jedoch nicht als hinreichende Bedingung<br />
einer Ethik der Ökonomie heraus. Die hinreichende Bedingung ethischer<br />
Vollzüge erfordert weitere Voraussetzungen auf Ebene des Verwendungs-<br />
zusammenhangs. 7<br />
9.2.3 Vernunft und Subjektorientierung - Vernunft als Vermögen<br />
Die subjektive Perspektive kann als zentrales methodisches Bindeglied zwischen<br />
der hier entwickelten ökonomischen Vernunft und einer Ethik in der<br />
Postmoderne gesehen werden und damit die Relevanz der transversalen<br />
Vernunft für eine aktuell zu entwickelnde bzw. anzugleichende wirtschaftsethische<br />
Position unterstreichen. In den Bestimmungen der transversalen<br />
Vernunft stellt Welsch diese subjektive Perspektive heraus. Die Verbindung<br />
von Vernunft mit dem handelnden Subjekt hat Welsch dazu veranlasst, von<br />
Vernunft als einem Vermögen zu sprechen. 8 Vernunft tritt hiermit aus dem<br />
7 Der Verwendungszusammenhang spricht das moralische Subjekt und seine Fähigkeiten<br />
an. Ähnlich formuliert Kraak (2000: 116) in Bezug auf die Vernunft als Vermögen,<br />
was im Folgenden aufgenommen werden wird: „Wobei wohl klar ist, daß die<br />
Fähigkeit, vernünftig zu denken, eine notwendige Bedingung ist, aber keine zureichende,<br />
denn es muß die Bereitschaft, der Wille, die Kriterien vernünftigen Denkens<br />
auch anzuwenden, hinzukommen.“ Kraak bezieht sich dabei auch auf Salomon,<br />
G./Globerson, T. (1987): Skill May Be not Enough: The Role of Mindfulness in Learning<br />
and Transfer, in: International Journal of Educational Research, Jg. 11, S. 623-637.<br />
8 Kleinmann kritisiert diesbezüglich, dass sich Welsch darüber hinaus zu einer „Personifikation<br />
der Vernunft“ hinreißen lässt, indem er die Vernunft dieses oder jenes tun<br />
lässt. Damit indiziere und suggeriere Welsch „ein Verständnis von Vernunft, das<br />
diese als transindividuelles Agens konzipiert, als eine dynamische Entität, deren Wirkung<br />
durch das Handeln der menschlichen Subjekte hindurchgreift.“ (Kleinmann<br />
2000: 113). Ähnlich äußern sich auch Franzen (2000: 95f.) und Vester, H.-G. (2000):<br />
Kontexte der transversalen Vernunft, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 157-159, hier S. 157f.<br />
Welsch entgegnet hier, dass „Substantialisierungen, Hypostasierungen und Reifikationen“<br />
(Welsch 2000b: 170) fernzuhalten sind und gibt damit den Kritikern recht. In<br />
diesem Sinne wäre es besser von ‚Vernünftigkeit‘ anstatt von ‚Vernunft‘ zu sprechen,<br />
da das Vermögen ‚Vernunft‘ „nicht von der Art eines Bestandes“ ist, „sondern es<br />
bezeichnet ein Vermögen im wörtlichen Sinne, und das heißt: eine Kompetenz, ein<br />
Können.“ (Welsch 1996: 934). Vester kritisiert zudem, dass nicht klar sei, von wessen<br />
168
ein objektiven <strong>St</strong>atus mit objektiven Inhalten heraus und wird maßgeblich<br />
als ein durch das Subjekt Vollzogenes verstanden. Die letztliche Einheit des<br />
Subjekts ist es, die auch die Vernunft mit einer Einheitsdynamik konfrontiert.<br />
Dabei ist auch diese „Einheit“ des Subjekts plural. 9 Nach Welsch konstituieren<br />
zwei Ursachen diese Pluralität des Subjekts:<br />
� Zum einen präsentieren sich in der Identitätskonfiguration des eigenen<br />
„Ichs“ alternative Lebenswelten als mögliche Konfigurationsparameter, die<br />
in ihrer Optionalität ein undefinierbares pluralistisches Potential eigener<br />
Lebensweltlichkeit darstellen. 10 Dies bedeutet die Fortsetzung der externen<br />
Pluralisierung in einer internen Abbildung.<br />
� Zum anderen werden innere Potentialitäten durch die Erfahrung äußerer<br />
Pluralität freigesetzt. Es kommt zur inspirativen Mobilisierung bis dato<br />
zurückgehaltener, die eigene Lebenswelt konfigurierender Kreativität.<br />
„Das Leben der Subjekte wird daher heute in zweifachem Sinn zu einem<br />
„Leben im Plural“. Erstens im Außenbezug: Man lebt innerhalb eines durch<br />
Pluralität geprägten Feldes sozialer und kultureller Möglichkeiten und muss<br />
sich in dieser Pluralität bewegen und zurechtfinden. Zweitens im Innenbezug:<br />
Das Subjekt verfügt in sich über mehrere Entwürfe, die es gleichzeitig realisieren<br />
oder nacheinander durchlaufen kann. Sowohl jene äußere wie diese<br />
innere Pluralität erfordern einen hohen Grad an Übergangsfähigkeit. Das ist<br />
der Grund, warum Transversalität heute zu einer Elementarbedingung nicht<br />
bloß äußerer Handlungskompetenz, sondern auch innerer Identität wird.“ 11<br />
Im Lichte konstruktivistischer Realitätskonstruktionen der Individuen liegt<br />
der Ursprung der Pluralität des Subjekts im Prozess der Konstruktion, also<br />
Vermögen hier gesprochen wird; Vermögen „des Organismus, des Menschen, des<br />
Denkens, des Geistes, der Philosophie oder von kollektiven Gebilden?“ (Vester 2000:<br />
157f.). Welsch differenziere hier nicht. Es scheint nach Meinung des Verfassers jedoch<br />
nicht plausibel, wie eine solche Differenzierung sinnvoll durchführbar wäre.<br />
Vermögen wird an späterer <strong>St</strong>elle mit dem Begriff der Fähigkeit zusammengebracht;<br />
dies mag den Bezug deutlich machen. Vgl. hierzu Abschn. 12.4.<br />
9 Zu der folgenden Darstellung vgl. überwiegend Welsch (1996: 829ff.).<br />
10 Parallelitäten zu der Ausdifferenzierung von Lebens- und Sprachformen im Kontext<br />
der Lebenswelt sind hier unverkennbar: „Das ist die scharfe, die uns inzwischen völlig<br />
auf den Leib gerückte Form der Pluralität: Den Subjekten ist eine Mehrzahl von<br />
Konzeptionen oder Lebensformen gleichermaßen vertraut, in ihrer Legitimität einsichtig<br />
und in ihren Gehalten zustimmungsfähig, so daß sie sich in derselben Situation<br />
mal so und mal anders verhalten können - aber jeweils mit gleich guten Gründen.<br />
Pluralität ist intern zu einer <strong>St</strong>andardsituation geworden.“ (Welsch 1996: 832; Fußnoten<br />
weggelassen).<br />
11 Welsch (1996: 831).<br />
169
der Wahrnehmung selbst begründet. In diesem Sinne ist das Subjekt in seiner<br />
genuinen Konstruktionsleistung selbst Teil der „objektiven“ Pluralität, als<br />
welches es zur internen Pluralisierung anderer Subjekte beiträgt. Das Subjekt<br />
ist also in seiner charakteristischen epistemologischen Kontingenz selbst<br />
Ursache und Wirkung seiner inneren Pluralität.<br />
Wenn die Identität eines Subjekts mit irgendeiner Form von Einheit in Beziehung<br />
steht, dann folgt diesem die Frage nach der Handhabung von Vielheit.<br />
Valéry (1952) versucht, das alte Subjektmodell in „der traditionellen Doppelung<br />
von transzendentalem und empirischem Subjekt“ 12 im Sinne einer pluralen<br />
Subjektivität zu modifizieren und schlägt vor, die einzelnen Ich-<br />
Formen als Subsubjekte eines alles beobachtenden und reflektierenden<br />
Hypersubjekts zu konstruieren. 13 Dieses Modell ist aus der Welsch’schen<br />
Perspektive nicht nachvollziehbar, da letztlich die Einheit über der Vielheit<br />
konstruiert wird, was die innere Pluralität zum wirkungslosen Faktum degradiert.<br />
Dagegen konzipiert Welsch die Möglichkeit einer Ganzheit der<br />
Identität in der Fähigkeit, zwischen den verschiedenen Perspektiven, welche<br />
die Identität konstituieren, wechseln zu können und sich dabei bewusst zu<br />
sein, jeweils nur aus einer Perspektive zur Zeit als partielle Identität agieren<br />
zu können.<br />
170<br />
„Ganzheit gibt es, wenn überhaupt, nur im Übergang zwischen den Perspektiven<br />
und im Bewußtsein, daß jeweils andere Teile verschattet werden und<br />
daß es vermutlich auch Subjektanteile gibt, die in keiner dieser Perspektiven<br />
angemessen aufscheinen.“ 14<br />
In der weiteren Konsequenz führt dies zu der Aussage, dass die Transversalität<br />
zur „Elementarbedingung von Subjektivität“ emergiert, da der kompetente<br />
Umgang mit ihr über die Kohärenz der Identität entscheidet. 15<br />
12 Welsch (1996: 842).<br />
13 Vgl. hierzu Valéry, P. (1952), Moi, in: ders. (Hrsg.), Lettres a Quelques-uns, VII. Brief,<br />
Paris, S. 20-22.<br />
14 Welsch (1996: 846).<br />
15 Die Konzeption von Welsch kann hier nicht en detail wiedergegeben werden. Im<br />
Überblick umfasst die Konzeption Welschs (1996: 849-852) sechs Momente: Die beschriebenen<br />
Subjektanteile sind (1) von innen durch Überschneidungen, Anschlüsse<br />
und Interdependenzen verbunden, welche durch (2) wechselseitige Affizierbarkeit<br />
charakterisiert sind; gemeinsam ist ihnen demnach eine spezifische (3) Färbung, die<br />
sich durch alle Teile der Subjektivität hindurch zieht und ihnen einen „Individualitätsindex“<br />
verleiht, der sich mit der Zeit im Sinne einer Persönlichkeitsentwicklung<br />
auch verändern kann. Ferner ist die (4) Kompetenz relevant, mit der Pluralität der
„Erst durch Transversalität wird unter Pluralitätsbedingungen geglückte<br />
Subjektivität und Individualität möglich. Transversalität schützt vor den Gefahren<br />
der Entfremdung und Zersplitterung der Existenz, und sie befreit von<br />
der Ohnmächtigkeit gegenüber perfekt elaborierten Teilrationalitäten. Sie eröffnet<br />
Chancen gelingender Praxis wie gelingender Identität.“ 16<br />
Diese intraindividuelle Betrachtung knüpft an die Analysen Sennetts an, der<br />
die Identität durch die ständig wechselnden Bedingungen dahintreiben sah,<br />
ohne Halt und Orientierung (drift). 17 Mit diesem transversalen Vermögen,<br />
welches zwischen den Identitäten Brücken schlägt, wäre die Möglichkeit<br />
einer Kompensation dieses Befundes angedeutet. Dieses „Brückenbauen“<br />
schafft eine Konnexion der Heterogenitäten, ein Netz von unterschiedlichen<br />
Identitäten. Doch auch dieses innere Netz ist herausgefordert, wenn seine<br />
Sinn-Referenz verloren geht. Die Erfahrung von Sinnhaftigkeit wurde in der<br />
aktuellen Lebenswirklichkeit in Frage gestellt. Aufgrund von technologischer<br />
(Expertokratie), formal-ökonomischer (Quantifizierung) und prozessualer<br />
(Handlungsfraktale) Abstraktion wird es zunehmend schwerer, einen Überblick<br />
zu behalten. 18 Dies kann auch nicht die intraindividuelle Transversalität<br />
kompensieren. Jedoch kann eine innere Identitäten-Verknüpfung einen notwendigen<br />
Beitrag leisten, die äußeren - auch sozialen - Bezüge zu handhaben.<br />
Festzuhalten bleibt, dass die Vernunft ihren Vollzug über das Subjekt als das<br />
Vermögende findet. 19 Vernunft als Vermögen ist auch eng mit subjektiver<br />
Vernunft verbunden, die Horkheimer als dasjenige bezeichnet, welches Ver-<br />
Anteile umgehen zu können, sie zu steuern, um sie gezielt einsetzen zu können, wobei<br />
diese Kontrolle als „immanentes Vermögen der Subjektivität“ den Anteilen „inhärent“<br />
ist. Entscheidend bei der Bildung von Kompetenz ist die (5) Durchlässigkeit der<br />
Subjektanteile. Sie entscheidet über das Ausmaß der Kompetenz des Subjekts. Die (6)<br />
transversale Vernunft schließlich macht sich diese durch eine transversale <strong>St</strong>ruktur<br />
gekennzeichnete Subjektivität zunutze und kann als „genuiner Verwirklichungsmodus“<br />
der „Elementarstruktur“ bezeichnet werden.<br />
16 Welsch (1996: 852).<br />
17 Vgl. Abschn. 2.2.<br />
18 Vgl. zu der „entmündigenden Expertokratie“ vor allem die Darstellungen bei Illich<br />
(1978: 30ff. und 65ff.).<br />
19 Insbesondere die Positionsungebundenheit ist vor diesem subjektiven Hintergrund<br />
nicht überzeugend haltbar, was in Abschn. 7.3.1 dargestellt wurde. Die Ausschließlichkeit<br />
von Subjekt und Positionsungebundenheit lässt der kritischen Reflexion die<br />
Wahl. Wie aufgezeigt, sei der methodische Zugang der Subjektorientierung als eine<br />
Bestimmung der Vernunft stärker gewichtet.<br />
171
nunft instrumentalisiert und relativiert und damit ihres eigentlichen Potentials<br />
beraubt. Die hier strapazierte Subjektorientierung versteht sich ausschließlich<br />
in der Dialektik und Ergänzung zur objektiven Vernunft. Dieser<br />
Bezug ist ihr immanent. Vernunft wird hier in ihrer objektiven und subjektiven<br />
Dimension komplementär rekonstruiert. Beide Dimensionen sind notwendige<br />
Bestandteile des Einen. Der objektive Bezug wird durch die subjektive<br />
Reflexion revitalisiert und gewinnt in dieser kritischen, aber auch „unreinen“<br />
Reflexion an Überzeugungskraft.<br />
9.2.4 Vernunft als notwendige Bedingung des ethischen Vollzugs<br />
Vernunft ist Notwendigkeit des ethischen Vollzugs, also des ethischen Reflexionsprozesses.<br />
Sie schafft die notwendigen Voraussetzungen, nämlich die<br />
Vergleichbarkeit durch das In-Beziehung-zueinander-setzen der Rationalitäten.<br />
Ohne diese geschaffene Transversalität wäre der ethische Vollzug auf<br />
seinen eigenen Gegenstandsbereich beschränkt, was im Falle einer Ethik der<br />
Ökonomie Moralökonomie wäre. Dabei stellt die Tendenz zur Leere und<br />
Positionsungebundenheit, nach der hier vertretenen Auffassung, ein spezifisches<br />
Moment der Notwendigkeit des Vollzugs dar. 20 Es ist diese Tendenz<br />
zur Neutralität, die zwei Notwendigkeiten zu verbinden weiß:<br />
� Zum einen ist es das Faktum der nicht vollständig entleerten Vernunft,<br />
das einen inhaltlichen Anknüpfungspunkt für die Konzeption einer Ethik<br />
bietet, denn ein „auf das Notwendigste“ beschränkter Inhalt lässt Raum für<br />
eine normative Setzung durch die ethische Reflexion. Gemeinsam ist beiden<br />
diese Einsicht in die Notwendigkeit der Konnexion von Rationalitäten, also<br />
die Einsicht in die Notwendigkeit des Ausgriffs aufs Ganze. Dies ist „Endpunkt“<br />
der Vernunft und „<strong>St</strong>artpunkt“ des ethischen Vollzugs.<br />
� Zum anderen, und dies zeichnet eine auch postmoderne Konzeption im<br />
Kern aus, stellt sich Vernunft nicht in ihrem Totalitätsanspruch dar, welcher<br />
die Universalität mit einem inhaltlichen Machtanspruch verbindet, sondern<br />
versucht, eine möglichst weite, inhaltliche Offenheit zu erlangen, die sich in<br />
den „Dienst“ einer normativen Konzeption zu stellen vermag. Die Einsicht<br />
in die Notwendigkeit der Verknüpfung ausdifferenzierter Rationalitäten geschieht<br />
zur Erlangung des Kriteriums der Universalisierbarkeit „vernünftiger“<br />
Ansprüche. Dies ist nicht Gegenstand der Ethik, sondern zählt zu<br />
20 Zu den Hauptbestimmungen und der hier vertretenen Position vergleiche nochmals<br />
Abschn. 7.2. In dieser Weise ist die hier vorgestellte Konzeption ökonomischer Vernunft<br />
zu verstehen.<br />
172
ihren Voraussetzungen. Dieser vernünftige Vollzug zur Universalisierbarkeit<br />
ist keine Setzung, sondern Integration und Übergang und damit charakteristisch<br />
für die Neukonzeptualisierung der Vernunft. In ihrem Ausgriff<br />
aufs Ganze tritt sie in einen offenen Dialog mit diesem Ganzen. Eine Ethik<br />
der Postmoderne kann sich in ihrer normativen Setzung nur auf Grundlage<br />
einer so verstandenen und zustandegekommenen offenen Totalität der<br />
Vernunft vollziehen. Auch die Tendenz der „Selbstpurifikation“, die sich in<br />
ihrer Dynamik einer substantialistischen Konzeption diametral entgegenstellt,<br />
lässt Raum für eine ethische Setzung, die in kollektiven Entscheidungsprozessen<br />
diskursiv gefunden wird. Die hinreichende Bedingung<br />
kann Vernunft für eine Ethik nicht stellen, jedoch kann sie diese (notwendig)<br />
vorbereiten. 21<br />
9.3 Verhältnisbestimmungen postmodern-moderner Vernunft - ein Fazit<br />
Das Profil der hier entwickelten Verhältnisbestimmungen postmodernmoderner<br />
Vernunft kann Aufschlüsse über die Konzeptualisierung einer<br />
ökonomischen Vernunft liefern. Die Bestimmungen und die Ausblicke einer<br />
Konkretisierung in Form einer ökonomischen Vernunft können wie folgt<br />
zusammengefasst werden:<br />
� Eine postmodern-moderne Vernunft ist nur in der Referenz auf Vernunft<br />
überhaupt sinnvoll. Sie stellt somit keinen eigen zu definierenden<br />
Teilbereich der Vernunft dar.<br />
� Ökonomische Vernunft zeichnet sich durch ihren spezifischen ökonomischen<br />
Bezug aus. Sie stellt den spezifisch ökonomischen Vollzug von Vernunft<br />
dar.<br />
� Ökonomische Vernunft ist keine höherentwickelte ökonomische Rationalität.<br />
Ihr Vollzug kann jedoch dazu führen, dass die ökonomische Rationalität<br />
sich weiterentwickelt und Anschlussfähigkeit erwirbt.<br />
21 Zu den hinreichenden Bedingungen eines ethischen Vollzugs vgl. den Abschn. 12, in<br />
dem die situativen und persönlichen Bedingungen beschrieben werden.<br />
173
� Diese Anschlussfähigkeit bedeutet hier konkret eine kategoriale <strong>St</strong>rukturveränderung<br />
der ökonomischen Rationalität, die anderen Rationalitäten die<br />
Möglichkeit bietet, mit deren Gegenstandsbeschreibungen Einzug in die<br />
ökonomische zu halten und somit zu einer Erweiterung der ökonomischen<br />
Perspektive beizutragen. Diese Sensibilisierung der Rationalität, die sich in<br />
einer strukturellen Öffnung ausdrückt, ist dabei notwendige Bedingung für<br />
das Wirksamwerden von ökonomischer Vernunft.<br />
� Die postmodern-moderne Vernunft selbst sensibilisiert für die Notwendigkeit<br />
der Verknüpfung von Rationalitäten. In der Einsicht in die Notwendigkeit<br />
der Verknüpfung können Moderne und Postmoderne sich komplettieren,<br />
Heterogenität und Konnexion zugleich gedacht werden.<br />
� In der tatsächlichen Verknüpfung der ökonomischen Rationalität mit anderen<br />
Rationalitäten kann die zentrale Konsequenz des Vollzugs ökonomischer<br />
Vernunft gesehen werden. Diese Konsequenz wird insbesondere<br />
durch eine normative Setzung der unterschiedlichen Perspektiven erreicht,<br />
die das zentrale Charakteristikum einer weiterführenden Ethik darstellt.<br />
� Ökonomische Ethik ist in diesem Sinne der auf der ökonomischen Vernunft<br />
- ihrer notwendigen Bedingung - aufbauende und konsequent weiterführende<br />
Vollzug, der sich aus einem Vergleich der ökonomischen Rationalität<br />
mit anderen Rationalitäten ergibt. Ist die vernünftige Anschlussfähigkeit<br />
geschaffen, so wird der interne Anspruch der ökonomischen Rationalität<br />
durch die anderen Rationalitäten relativiert und ein Abgleich mit deren<br />
(eben auch relativen) Bestimmungen erreicht.<br />
10 Ökonomische Vernunft – der wirtschaftsethische Bezug<br />
In der Folge werden die zuletzt aufgeführten Bestimmungen ökonomischer<br />
Vernunft und ihrem Umfeld (ökonomische Rationalität, ökonomische Ethik<br />
und postmoderne Moderne) vor dem Hintergrund ähnlicher Konzepte aus<br />
der wissenschaftlichen im Allgemeinen und aus der wirtschaftsethischen<br />
Literatur im Speziellen reflektiert. Diese Überlegungen fließen zum Abschluss<br />
dieses Kapitels in konkrete Impulse für die Weiterentwicklung einer<br />
ökonomischen Rationalität ein.<br />
174
10.1 Ökonomische Vernunft - Profilierung und Positionierung in der<br />
aktuellen Diskussion<br />
Um eine genauere Vorstellung von dem zu erlangen, was hier unter ökonomischer<br />
Vernunft verstanden wird, ist es hilfreich, ausgesuchte andere Positionen<br />
aus der wissenschaftlichen Debatte aufzugreifen und Gemeinsamkeiten<br />
und Unterschiede zu identifizieren. Auf diese Weise kann eine Einordnung<br />
der hier entwickelten Konzeption gelingen und zudem versucht<br />
werden, Anschluss an diese Debatte herzustellen. Einige der Positionen, die<br />
im Folgenden nicht explizit in den thematisch pointierten Vergleich einfließen,<br />
werden kurz kommentiert, u. a. auch deswegen, um darzulegen, aus<br />
welchen Gründen sie - neben Gründen der Übersichtlichkeit - unberücksichtigt<br />
bleiben. 22<br />
Das Werk von André Gorz, „Kritik der ökonomischen Vernunft“, ist bereits<br />
explizit bezüglich der Analyse der ökonomischen Rationalität aufgenommen<br />
worden. 23 Seine <strong>St</strong>udien betreffen eher die ökonomische Rationalität und die<br />
Arbeitsgesellschaft, wie auch der Untertitel zu erkennen gibt. Er trifft keine<br />
explizite Unterscheidung zwischen Rationalität und Vernunft, sondern lässt<br />
diese implizit in seiner Argumentation zum Tragen kommen. Wenn er die<br />
Bestimmungen der Rationalität den aktuellen individuellen und gesellschaftlichen<br />
Herausforderungen gegenüberstellt, dann zeigt er auf, wo die<br />
ökonomische Rationalität „unzulänglich“ bezüglich der sie umgebenden<br />
Probleme ist. Insofern trifft auch Gorz, wie hier, eine qualitative Unterscheidung<br />
von Rationalität zu Vernunft, doch entsteht, also emergiert diese qualitative<br />
Unterscheidung und wird nicht explizit thematisiert. Das Entstehen<br />
dieser Differenz bei Gorz ist zu Beginn der hier vorgelegten Argumentation<br />
aufgenommen worden und diente zur Sensibilisierung zum einen für die<br />
Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität,<br />
zum anderen für eine qualitative Differenzierung von ökonomischer Rationalität<br />
zu ökonomischer Vernunft. Die auch bei Gorz angesprochenen Befunde<br />
der Entdinglichung durch die neuen Technologien und die gleichzeitige<br />
Verdinglichung an sich entdinglichter Gegenstände (Raum, Zeit,<br />
Sprache) wären wohl kaum ohne diese Erweiterung abzubilden.<br />
22 Zudem werden hier vornehmlich diejenigen Arbeiten betrachtet, die den Begriff der<br />
ökonomischen Vernunft (bzw. Rationalität) explizit im Titel führen.<br />
23 Gorz (1998). Vgl. auch Abschn. 1.3.<br />
175
Helmut Kaiser prüft „Die ethische Integration ökonomischer Rationalität“<br />
und sieht in dieser Figur das von ihm entwickelte wirtschaftsethische Verständnis<br />
begründet, „bei dem humane Aspekte und die Sachlogik der ökonomischen<br />
Rationalität integriert werden“ 24. Damit soll „die Gleichwertigkeit<br />
von Ethik und Ökonomie (...) sowie deren unauflösbarer Zusammenhang“<br />
zum Ausdruck gebracht werden. 25 Wie in der hier entwickelten Konzeption<br />
bereits zum Ausdruck kam, kann dem unauflösbaren - weil immanenten -<br />
Zusammenhang von so genannten „ethischen Aspekten“ innerhalb der Ökonomie<br />
zugestimmt werden, obgleich diese Formulierung mehr Unschärfe<br />
produzieren mag, als sie vorgibt zu kompensieren. Der Gleichwertigkeit von<br />
Ethik und Ökonomie jedoch kann aufgrund der qualitativen Differenz ihrer<br />
Vollzugscharakteristik nicht zugestimmt werden, weder im Begründungsnoch<br />
im Verwendungszusammenhang. Wenn auch nur in einer Fußnote und<br />
beinahe unkommentiert, so bezieht sich Kaiser doch auch auf die Position<br />
von Höffe (1984), der in seiner „Rationalität zweiter <strong>St</strong>ufe“ ähnliches beschreibt,<br />
wie es in der Reflexion von Rationalitäten als dem hier interpretierten<br />
Vernunft-Vollzug angedeutet wurde; dies vermittelt eine Ahnung<br />
qualitativer Differenz. Höffe äußert sich in seinem Kapitel „Sittlichkeit als<br />
Eudaimonie und Autonomie“ genauer:<br />
176<br />
„Letztlich kann man vom menschlichen Handeln nicht deshalb sagen, es sei<br />
gelungen, weil es beliebige Ziele und Zwecke verfolgt, diese aber auf rationalem<br />
Wege erreicht. Gelungen ist das Handeln nur dort, wo - in einer zweiten<br />
<strong>St</strong>ufe von Rationalität - die Ziele, die man verfolgt, im Sinnhorizont der<br />
Eudaimonie stehen. Mithin läßt sich die Sittlichkeit als Rationalität des Handelns<br />
begreifen.“ 26<br />
24 Kaiser, H. (1992): Die ethische Integration ökonomischer Rationalität: Grundelemente<br />
und Konkretion einer „modernen“ Wirtschaftsethik, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 272.<br />
25 Kaiser (1992: 272). Vgl. hierzu auch Kaiser (1992: 44f.), wo er die Gleichwertigkeit zu<br />
skizzieren versucht, jedoch nach Ansicht des Autors nicht genau spezifiziert, was er<br />
mit „Gleichwertigkeit“ meint. Es liegt nach der <strong>St</strong>udie seiner Ausführungen die Vermutung<br />
nahe, dass sich Kaiser hierbei auf den Verwendungszusammenhang beschränkt<br />
und dem in diesem Zusammenhang entwickelten Zusammenspiel von Ethik<br />
und Ökonomie; dabei scheinen seine eigenen Begründungsdiskurse nicht konsequent<br />
auf den von ihm behandelten Argumentationsgegenstand „durchzuwirken“.<br />
26 Höffe, O. (1984): Sittlichkeit als Rationalität des Handelns?, in: Schnädelbach (1984),<br />
S. 141-174, hier S. 170.
Es wird bei Höffe deutlich, wie und in welchem Maße er für eine über die<br />
„normale“ Rationalität hinausgehende Denkweise und einen ebensolchen<br />
Begründungshorizont plädiert. Auch wenn diese Erweiterungsform der<br />
ökonomischen Rationalität bei Kaiser selbst nicht im Mittelpunkt steht, so<br />
wird doch ihre Anlage und Voraussetzung vorbereitet. Ist der Zielpunkt<br />
dieser Bemühungen im Ansatz unterterminiert, so wird die Entwicklung des<br />
Gegenstandes „ökonomische Rationalität“ fehlgeleitet - so zumindest die<br />
Auffassung des Autors. Aus diesem Grund ist in der hier vorgestellten Konzeption<br />
das Hauptaugenmerk auf die Bestimmungen dieses Zielpunktes gerichtet<br />
worden.<br />
Auch bei Hans-Joachim <strong>St</strong>adermann, „Ökonomische Vernunft: wirtschaftswissenschaftliche<br />
Erfahrung und Wirtschaftspolitik in der Geschichte“, geschieht<br />
keine explizite Auseinandersetzung mit dem Begriff der Vernunft,<br />
und, nach Meinung des Verfassers, zudem auch keine implizite Auseinandersetzung.<br />
Der Term wird hier zwar auch im Sinne einer Reflexion der<br />
Ökonomie verstanden, doch geht es vornehmlich um eine vernünftige Umsetzung<br />
ökonomischer Erkenntnisse. Dies könnte man auch unter dem Begriff<br />
der (ökonomischen) Professionalisierung subsumieren. 27 Trotz der Ansätze<br />
einer grundlegenden Reflexion verharrt die Analyse auf der ökonomischen<br />
Ebene:<br />
„Unter den gegebenen Umständen ist die Wirtschaftswissenschaft aufgerufen,<br />
genau das zu tun, was sie in den letzten Jahrzehnten zumeist vermieden hat:<br />
Die institutionelle Ordnung, in der sich Wirtschaft realisiert, einer radikalen<br />
Untersuchung zu unterziehen, nicht, um sie zu stürzen, wie das die Absicht<br />
der Kapitalismuskritik der 70er Jahre war, sondern vor allem, um sie zu begreifen<br />
und die in ihr möglichen <strong>St</strong>euerungsleistungen richtig einzuschätzen.<br />
(...) Wenn nicht Traumtänzer und Phantasten, sondern Realisten die ökonomische<br />
Vernunft wieder in Frage stellen, wird man auch erkennen, wie die Hilflosigkeit<br />
der Wirtschaftswissenschaft gegen die beiden großen Herausforderungen<br />
der Gegenwart, Massenarbeitslosigkeit und Schutz der Regenerationskraft<br />
der Natur, überwunden werden kann.“ 28<br />
27 Vgl. zur Semantik des Begriffs der „Professionalisierung“ Kirsch, W. (1998): Evolutionäre<br />
Organisationstheorie: Fortsetzung eines Projekts der Moderne mit anderen<br />
(postmodernen?) Mitteln - Entwürfe zu einem Buchprojekt, unveröff. Arbeitspapier,<br />
München, S. 52ff.<br />
28 <strong>St</strong>adermann, H.-J. (1987): Ökonomische Vernunft: wirtschaftswissenschaftliche Erfahrung<br />
und Wirtschaftspolitik in der Geschichte, Thüringen, S. 8.<br />
177
Die Vernunft der Ökonomie bezieht sich hier auf die Bereiche, in denen die<br />
Ökonomie ökonomisch nicht erfolgreich ist. Die außerökonomischen Ansprüche<br />
verlieren sich in Generalisierungen und emanzipieren sich damit<br />
nicht aus ihrer eher symbolischen Rolle. Es scheint zudem für <strong>St</strong>adermann<br />
nur <strong>St</strong>ärkung oder <strong>St</strong>urz in Frage zu kommen, was wirtschaftsethischen Ansätzen<br />
nicht gerecht werden kann - doch vielleicht sind mit „Traumtänzer<br />
und Phantasten“ gerade Wirtschaftsethiker gemeint? Unter diesen Voraussetzungen<br />
ist eine über die ökonomische Rationalität hinausgehende Perspektive,<br />
außer in den Vor- und Schlussbemerkungen, nicht zu entdecken.<br />
Dies trifft sich somit auch nicht mit dem hier vertretenen Verständnis einer<br />
Reflexion und ihren manifest-materialen Konsequenzen für den eigenen<br />
Gegenstandsbereich.<br />
Die Arbeit „Ökonomische Rationalität und gesellschaftliches System“ von<br />
Jürgen Freimann liegt seit dem Jahre 1977 vor und ist in dieser Arbeit vor<br />
allem zu Beginn in die Auseinandersetzung mit der ökonomischen Rationalität<br />
eingeflossen. 29 Bei seiner Analyse der ökonomischen Rationalität identifiziert<br />
Freimann, wie auch in dieser Arbeit, Defizite, wenn es darum geht,<br />
das wirtschaftliche Handeln im gesellschaftlichen System zu reflektieren.<br />
Während Freimann eine makrosoziale Ebene wählt und in Ansätzen die<br />
unterschiedlichen systemischen Parameter und deren Auswirkungen erörtert,<br />
geschieht dies in dieser Arbeit in Bezug auf den mikrosozialen Bereich,<br />
auf das einzelne Individuum und dessen Lebenswelt. Zudem rekonstruiert<br />
Freimann die ökonomische Rationalität als Handlungsrationalität und deckt<br />
in einer gründlichen Aufarbeitung derselben die defizitären Momente auf.<br />
Diese genaue Analyse hat in dem hier entwickelten Kontext geholfen, die<br />
materiellen Ursachen der phänomenologischen Befunde detaillierter zu bestimmen,<br />
obwohl der Schwerpunkt eher auf den darauf folgenden phänomenologischen<br />
Bestimmungen lag. Freimann leistet eine Verbindung zwischen<br />
wirtschaftlichem Denken und Handeln und den beide umgebenden<br />
makrosozialen Bedingungen, die in einem reziproken Beeinflussungsverhältnis<br />
zueinander stehen. Er kann auf diese Weise aufzeigen, wie eine<br />
Erweiterung der ökonomischen Rationalität zu denken ist, die sich auch aus<br />
den gesellschaftlichen und systemischen Bedingungen herauslösen kann.<br />
Liegt bei ihm der Fokus auf dieser Verbindung, so liegt er in diesem Kontext<br />
29 Vgl. hierzu vor allem Abschn. 1.2.<br />
178
explizit auf der Möglichkeit der Weiterentwicklung, die dadurch aber auch<br />
Schwächen bezüglich der makrosozialen Bedingungen und deren Berücksichtigung<br />
in Kauf nehmen muss.<br />
Ausgesuchte, in der wissenschaftlichen Debatte vorgelegte Konzeptionen<br />
werden im Folgenden unter einem jeweiligen thematischen Schwerpunkt mit<br />
der hier entfalteten Konzeption in Beziehung gesetzt. Die thematischen<br />
Schwerpunkte sind so gewählt, dass sie die wesentlichen Differenzpunkte zu<br />
den jeweiligen Konzeptionen aufzeigen können. 30<br />
10.1.1 Ökonomische Vernunft vs. Ökonomische Vernunft31 Wenn Ulrich die Transformation der ökonomischen Vernunft beschreibt, dann<br />
scheint er ökonomische Vernunft vorauszusetzen und damit dasjenige,<br />
welches in dieser Argumentation nicht als Tatsachenbeschreibung, sondern<br />
als ein qualitativ zu erreichendes Ziel gekennzeichnet wird. Ulrich stellt diesen<br />
scheinbaren Widerspruch gleich zu Beginn richtig:<br />
„Die konzeptionelle Schlüsselidee der vorliegenden Arbeit kann im Versuch<br />
gesehen werden, die grosse sozialökonomische Transformation im Sinne<br />
Polanyis mit der von Apel auf den Begriff gebrachten Transformation der<br />
Philosophie systematisch und wechselseitig zu vermitteln, um auf dem so zu<br />
gewinnenden kulturgeschichtlich-evolutionären Hintergrund eine zukunftsträchtige<br />
kritisch-normative Rekonstruktion des ökonomischen Rationalitätsund<br />
Fortschrittsverständnisses zu beginnen.“ 32<br />
Es geht bei Ulrich somit um eine Rekonstruktion der ökonomischen Rationalität,<br />
die einfließt in eine Konzeption von ökonomischer Vernunft, welche<br />
sich ihrerseits dem „transformativen Programm“ anderer Untersuchungsbereiche<br />
anzuschließen versucht. Zentraler Befund bei Ulrich ist die „Herauslösung<br />
der ökonomischen Rationalität aus den praktischen Kriterien des<br />
guten Lebens der Menschen“ 33. Die Rationalisierung der modernen Indust-<br />
30 Der Verfasser ist sich der Tatsache bewusst, dass diese Art der Auseinandersetzung<br />
den einzelnen Positionen in keiner Weise gerecht werden kann. Die hier gewählte<br />
Darstellung differenziert bewusst nicht in Pro und Kontra, in Übereinstimmungen<br />
und Differenzen, da zum einen diese Kategorisierung nicht immer eindeutig zu treffen<br />
ist und zum anderen dem Entwicklungsstrang der Konzeption gefolgt werden<br />
soll, um so ein besseres Verständnis der Argumentation zu erlangen.<br />
31 Dieser Abschnitt bezieht sich vornehmlich auf die Arbeit von Peter Ulrich (1993).<br />
32 Ulrich (1993: 14; Hervorhebung im Original).<br />
33 Ulrich (1993: 11).<br />
179
iegesellschaft hat von den „authentischen lebensweltlichen Bedürfnissen der<br />
Menschen“ 34 weggeführt und wäre somit als ökonomische Vernunft in der<br />
„systematischen Wiederankoppelung der ökonomischen Rationalisierungsdynamik<br />
an die externalisierten Kriterien lebenspraktischer Vernunft“ 35 zu<br />
verstehen. So konstatiert Ulrich auch bezüglich einer aktuellen Verwendung<br />
der Begrifflichkeit „ökonomische Vernunft“, dass diese Verwendung derzeit<br />
nur „ironisch“ 36 anmuten könne.<br />
Neben einer breiten und fundamentalen Übereinstimmung zwischen der<br />
Ulrichschen und der hier entwickelten Argumentation, die vielfach deutlich<br />
geworden ist, bestehen Verschiebungen in der thematischen Akzentuierung,<br />
die vor allem auf die phänomenologische Methode, die explizite Postmoderne-Betrachtung<br />
und den Fokus auf die Welsch‘sche Konzeption dieser<br />
Arbeit zurückzuführen sind. Durch diese Verschiebungen können auf der<br />
einen Seite aktuelle Befunde neuartiger Kolonialisierung diskutiert werden<br />
und auf der anderen Seite kann eine theoretische Einbindung in die aktuelle<br />
Debatte um Postmoderne, Vernunft und Anerkennung vollzogen werden.<br />
Die wesentliche Implikation, die aus diesen Verschiebungen resultiert und<br />
zu einem Unterschied der beiden Konzeptionen führt, zeigt sich auf Ebene<br />
des Verwendungszusammenhangs: Ulrich argumentiert eng an den materialen<br />
Voraussetzungen der ökonomischen Rationalität und gelangt zu dem<br />
„Programm der kommunikativ-ethischen Vernunft“ 37, während in der hier<br />
vorgelegten Abhandlung die rationalen Voraussetzungen des Diskurses den<br />
Endpunkt der Verwendung darstellen. Insofern stellen Ulrichs und diese<br />
Arbeit Komplemente dar, keinesfalls Substitute. Es ließe sich diese Arbeit als<br />
Differenzierung des Zwischenschritts auf dem Weg zu einem „idealen Diskurs“<br />
identifizieren, den Ulrich in seiner Konzeption in Bezug auf die politischdemokratischen<br />
Entscheidungsstrukturen aufgreift und entwickelt. Im<br />
Weiteren kann aufgrund der unterschiedlichen perspektivischen Akzente in<br />
dieser Arbeit auch nicht die politische Ebene in dem Maße reflektiert werden,<br />
wie dies bei Ulrich geschieht. 38 Die konkrete Ausgestaltung verharrt in<br />
den Einstellungen zueinander.<br />
34 Ebenda.<br />
35 Ulrich (1993: 12).<br />
36 Ebenda.<br />
37 Ulrich (1993: 269ff.).<br />
38 Dies geschieht bei Ulrich (1993) vor allem in Teil III, S. 341-474.<br />
180
In diesem Sinne ist die hier entwickelte Position der Ulrichschen Position<br />
verschieden und doch gleich. Der scheinbar paradoxe Titel dieses Unterkapitels<br />
möchte auf diese Feststellung hinweisen – gleich und doch ungleich.<br />
Daran soll zudem deutlich werden, inwieweit eine genaue und detaillierte<br />
Erläuterung der verwendeten Terminologie und ihrer Semantik notwendig<br />
ist, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede differenziert identifizieren zu<br />
können. Es sind oftmals gerade diese neuartigen Akzente, die von außen, in<br />
der Terminologie beispielsweise, nicht immer offensichtlichtlich sind.<br />
10.1.2 Ökonomische Vernunft und Pragmatismus39 Der Instrumentalisierungsvorwurf greift insbesondere dort, wo ökonomische<br />
Rationalität sich vornehmlich aus strategisch-instrumenteller Absicht öffnet.<br />
In diesem Zusammenhang wurde abgelehnt, dies in eine Beschreibung der<br />
Wirksamkeit von ökonomischer Vernunft zu integrieren.<br />
So werden beispielsweise Ethik-Siegel vergeben, die ganze Unternehmen zu<br />
„moralischer Immunität“ verhelfen, von diesen Unternehmen jedoch vornehmlich<br />
aus Zwecken der Reputation und des Marketing angestrebt werden.<br />
Man verspricht sich dadurch eine höhere Akzeptanz im Markt und<br />
damit eine <strong>St</strong>ärkung der eigenen Wettbewerbsposition. 40<br />
Diese Dynamik macht auch nicht Halt vor den wissenschaftlichen Expertisen<br />
zum Thema Wirtschaftsethik. Wieland beispielsweise weist zwar darauf hin,<br />
dass seine Instrumentierungsbemühungen nicht Instrumentalisierungsbemühungen<br />
gleichzusetzen sind, jedoch fehlt bis dato die explizite Begründung,<br />
dass seine Bemühungen nicht letztlich darauf hinauslaufen. Er entwirft<br />
das Modell der „Governanceethik“, das „die Analyse der Funktionen<br />
39 Dieser Abschnitt bezieht sich vornehmlich auf den Beitrag von Josef Wieland (2001).<br />
40 Es scheint beinahe überflüssig zu erwähnen, dass nicht dieser Effekt an sich abgelehnt<br />
wird. Ganz im Gegenteil: Es kann dies elementar wichtiger Bestandteil sein, um einen<br />
ethischen Reflexionsprozess innerhalb der ökonomischen Rationalität, innerhalb einer<br />
Unternehmung anzustoßen. Die Instrumentalisierung wird hierbei als Initiator in<br />
Kauf genommen. Es lässt sich dies mit dem Ausspruch: „Ethik muss nichts kosten!“<br />
beschreiben. Wenn jedoch die ökonomische Rentabilität einziges Fundament der ethischen<br />
Maßnahme bleibt, dann verfehlt dies den Inhalt, den ethischen Gehalt und<br />
scheint, nach der hier vertretenen Meinung, keine nachhaltigen Chancen auf Bestand<br />
bzw. keine nachhaltigen Chancen auf Effekt, also Überzeugung und Einsicht selbst im<br />
ökonomischen Kontext zu haben. Die ethische Maßnahme hat sich über kurz oder<br />
lang auf ihren Selbstzweck zurückzuziehen, sonst verlässt sie ihre „Core Competence“.<br />
Dies lässt sich mit dem Satz: „Aber Ethik kann bzw. darf was kosten!“ umschreiben.<br />
181
und Wirkungen von Moralregimes innerhalb der Führung, <strong>St</strong>euerung und<br />
Kontrolle von wirtschaftlichen Transaktionen“ 41 darstellt. Dies impliziert:<br />
182<br />
„Tugenden, Werte, Moral und Ethik werden in diesem Kontext als individuelle<br />
oder organisationale Ressourcen und Kompetenzen verstanden, die als<br />
Elemente der formalen und informalen Regimes zur Führung, <strong>St</strong>euerung und<br />
Kontrolle von Transaktionen der Organisation und ihren Mitgliedern zur Verfügung<br />
stehen.“ 42<br />
Nicht allein die funktionale Zusammenfassung von Moral und Ethik, sondern<br />
vielmehr die „Transformation“ von Ethik zu einer Ressource ökonomischer<br />
Transaktionen steht im grundsätzlichen Widerspruch zu der hier vorgestellten<br />
Konzeption. Wenn nicht diese spezifische Ressource notwendigerweise<br />
zu einer grundlegenden Relativierung und damit zu einer möglichen<br />
Transzendierung des ökonomischen Systems führt, dann kann der Instrumentalisierungsvorwurf<br />
nicht abgewendet werden. Wieland bestätigt<br />
diesen Eindruck an späterer <strong>St</strong>elle, wo er sich eindeutig gegen jegliche Hierarchisierung<br />
zwischen Ökonomie und Ethik ausspricht. 43 Im Kontext der<br />
Governanceethik folgt bei Wieland beispielsweise:<br />
„Während die ökonomische Leitcodierung direkt auf die Transaktionskosten<br />
wirkt (steigende/sinkende Transaktionskosten), zielt die moralische Codierung<br />
auf den Aufbau eines Reputationskapitals, das über die Fähigkeit, Bereitschaft<br />
und Chancen der Kooperation vermittelt auf die Kooperationsrente<br />
wirkt (...)“ 44<br />
An diesem Ausschnitt wird deutlich, dass die moralische Dimension der<br />
Handlungen in die ökonomische Kalkulation eingerechnet wird und sich ihr<br />
damit unterordnen muss. Auch wenn die Kooperationsrente „nicht mit<br />
„Gewinn“ oder „Profit“ verwechselt werden darf“ 45, ist eine ökonomische<br />
Abwägung moralischer Größen nicht von der Hand zu weisen, an denen<br />
auch eine Unsicherheit der Erträge (welche Erträge sind eigentlich sicher?)<br />
und den daraus notwendig werdenden Vorab-Investitionen (welche Investi-<br />
41 Wieland (2001: 15).<br />
42 Ebenda.<br />
43 Im genauen Wortlaut: „Die Governanceethik lehnt sowohl eine hierarchische als auch<br />
eine duale Ordnung des Verhältnisses von Ökonomie und Ethik ab.“ (Wieland 2001:<br />
19).<br />
44 Wieland (2001: 21).<br />
45 Wieland (2001: 22).
tionen werden im nachhinein geleistet?) nichts ändern. Letztlich müssen im<br />
Ansatz von Wieland „alle in einer Unternehmung existierenden und relevanten<br />
Entscheidungslogiken sich an ihren ökonomischen Folgen bewerten<br />
lassen“ 46, was einem Primat der Quantifizierung entspricht und damit gerade<br />
der Wielandschen Ablehnung jeglicher Hierarchie zwischen Ökonomie<br />
und Ethik widerspricht. 47 Denn damit ist eine normative Setzung der ökonomischen<br />
Rationalität über die Ethik beschrieben, von der sich Wieland<br />
doch eigentlich distanziert. 48<br />
Die hier vorgestellte Konzeption geht hingegen davon aus, dass die ökonomische<br />
Vernunft die Einsicht in die Öffnung der ökonomischen Rationalität<br />
generieren kann, was letztlich auch die Möglichkeit einer normativen<br />
Setzung nicht genuin ökonomischer Kriterien im ökonomischen Kontext<br />
vorbereitet. Diese normative Setzung entspricht dann einer hierarchischen<br />
<strong>St</strong>ruktur, wie sie Wieland ablehnt. Wenn also eine Berücksichtigung ethischer<br />
Reflexionen im ökonomischen Kontext stattfindet, so führt dies in der<br />
hier entwickelten Argumentation zu einer Transzendierung der ökonomischen<br />
Rationalität und damit auch zur In-Relation-Setzung derselben. Dies<br />
kommt einer Relativierung ihres Anspruches gleich.<br />
Nach dem Verständnis des Autors geht es Wieland jedoch vornehmlich<br />
darum, eine praktische Umsetzung ethischer Reflexionen im ökonomischen<br />
Kontext zu erreichen. Die Legitimation seiner Methode nährt sich somit aus<br />
der Überlegung (verkürzt gesprochen): „Was nützt Wirtschaftsethik dem<br />
46 Wieland (2001: 32).<br />
47 Wie aufgezeigt, führt ein Primat der Quantifizierung durch den reduktionistischen<br />
Charakter langfristig zu einer Norm gegenüber jeglichem Bereich, der dieser Quantifizierung<br />
nicht entspricht. Vgl. Abschn. 3.1. Diese Normierung wäre nicht problematisch,<br />
wenn die Ökonomie nicht eine solche Dominanz besäße, wie in heutiger Zeit.<br />
48 Wieland stellt diesbezüglich den Homannschen und den eigenen Ansatz als komplementäre<br />
Ansätze dar, übersieht aber dabei die normativen Implikationen seines eigenen<br />
Ansatzes: „Während die Governanceethik nun nach organisationsökonomischen<br />
Antworten auf die moralökonomischen Integrationsprobleme funktionaler Differenzierung<br />
sucht, stellt die „Wirtschaftsethik mit ökonomischer Methode“ auf den philosophischen<br />
Aspekt der Möglichkeit von Normativität ab. Ich verstehe sie daher als<br />
eine „philosophische Wirtschaftsethik mit ökonomischer Methode“ und damit als eine zur<br />
Governanceethik komplementäre Forschungsrichtung (Wieland 2001: 25; Hervorhebungen<br />
im Original). Wenn bei Homann die Normativität im theoretischen Ansatz,<br />
im ökonomischen Paradigma angelegt ist, so „schleicht“ sie sich bei Wieland „von<br />
hinten“, durch die theoretischen Implikationen seiner Instrumentierung, in seine<br />
Konzeption ein. Insofern können die beiden Ansätze vor diesem Hintergrund als<br />
„komplementär“ bezeichnet werden. Vgl. zu Wieland ausführlicher Wieland, J.<br />
(1999): Die Ethik der Governance, Marburg.<br />
183
Menschen, wenn sie nicht wirksam wird?“ Im Gegensatz dazu ließe sich hier,<br />
wie bei Ulrich, auch formulieren: „Was nützt Wirtschaftsethik dem Menschen,<br />
wenn sie letztlich nur Ökonomik ist?“ Während also bei Wieland die Legitimation<br />
seines Ansatzes in der Argumentation von den tatsächlichen Resultaten,<br />
vom Pragmatismus her geführt wird, wird bei Ulrich, wie auch hier, die<br />
Legitimation über den Ansatz selbst begründet. Denn eine Wirtschaftsethik,<br />
die in ihrem Vollzug im ökonomischen Kontext zuweilen zwar moralisch als<br />
„gut“ zu bewertende Resultate hervorbringt, ist in ihrem Ansatz nicht<br />
zwangsläufig ausreichend fundiert begründet.<br />
Letztlich ließe sich behaupten, dass sich diese Ansätze nicht unbedingt<br />
widersprechen müssten, da der eine (Wieland) primär den Verwendungszusammenhang<br />
betrachtet, der andere (Ulrich) dagegen primär den Begründungszusammenhang.<br />
Wenn diese Betrachtung jedoch dazu führt, dass die<br />
Argumentation nicht auch die anderen Ebenen in die Reflexion einbezieht,<br />
dann kann es zu Verzerrungen kommen. Die Begründung der Verwendung<br />
durch die Verwendung greift demnach - nach Ansicht des Verfassers - bei<br />
Wieland zu kurz.<br />
Wieland selbst äußert sich kritisch gegenüber der Unterbelichtung des Verwendungszusammenhangs<br />
bei den „begründungsorientierten“ Ansätzen:<br />
184<br />
„An dieser <strong>St</strong>elle zeigt sich nach meiner Überzeugung eine fundamentale<br />
Schwäche der strikt „antiinstrumentellen“ Diskursethik, nämlich ihr institutionelles<br />
und organisatorisches Defizit. Dieses Defizit zu überspringen mit<br />
dem Hinweis auf ein Instrumentalisierungsverbot der Ethik, mag zwar im<br />
Nirwana konsequenzenlos bleiben, in einer anwendungsorientierten Ethik<br />
wie der Wirtschafts- und Unternehmensethik jedoch nicht. Die Instrumentierung<br />
moralischer Ansprüche an wirtschaftliche Transaktionen ist hier Bedingung<br />
der Möglichkeit.“ 49<br />
Dagegen wird die „Bedingung der Möglichkeit“ in diesem Zusammenhang<br />
in der Einsicht in die Notwendigkeit der Verknüpfung von Heterogenitäten, also im<br />
Vollzug ökonomischer Vernunft gesehen, was vielleicht nicht praktisch klingt,<br />
jedoch durch die tiefe Verankerung erheblich nachhaltigere Effekte auf<br />
Ebene des Verwendungszusammenhanges zu zeitigen in der Lage scheint,<br />
als eine Verwendungsorientierung, die sich durch sich selbst zu begründen<br />
sucht.<br />
49 Wieland (2001: 23).
Bezüglich des Ansatzes von Wieland muss somit festgehalten werden: Die<br />
Fokussierung auf organisatorische Umsetzung von ethischer Reflexion im<br />
ökonomischen Kontext befreit Wieland nicht von der Frage des hierarchischen<br />
Verhältnisses von Ökonomie und Ethik, auch wenn er dies suggeriert.<br />
Die Art der Umsetzung lässt nämlich ihrerseits Schlüsse auf dieses Verhältnis<br />
zu und diese Schlüsse weisen in Richtung einer Vereinnahmung der<br />
Ethik für ökonomische Zwecke.<br />
10.1.3 Vernunft der Ökonomie vs. Ökonomische Vernunft50 Elke Mack widmet sich in ihrer Arbeit „Ökonomische Rationalität: Grundlage<br />
einer interdisziplinären Wirtschaftsethik?“ einer ähnlichen Thematik,<br />
wie es in diesem Argumentationskontext geschieht. Dabei jedoch, und das<br />
wird bei genauerer Betrachtung des Titels bereits deutlich, steht bei ihr die<br />
ökonomische Rationalität als potentieller Kandidat, die notwendigen Übergänge<br />
zu vollziehen, im Mittelpunkt des Interesses. In diese Rolle kann die<br />
ökonomische Rationalität selbst gar nicht gelangen, so die hier vertretene<br />
Meinung, denn dies obliegt dem Vollzug der Vernunft. Wohl aber kann sie<br />
die „notwendigen Vorbereitungen treffen“. Ihr strategischer Charakter und<br />
die ihr eigene Gegenstandsbeschreibung kann nicht die Voraussetzungen<br />
erfüllen, zwischen den Bereichen zu vermitteln. Es bedarf einer Außenperspektive,<br />
deren Interesse nicht ein eigenes ist, sondern das ihrer Gegenstände:<br />
der Außenperspektive der ökonomischen Vernunft. Nur aus ihr ist,<br />
so die Meinung des Verfassers, eine Form der Wirtschaftsethik zu entwikkeln.<br />
Diese hier getroffene Differenz zwischen Rationalität und Vernunft<br />
steht im Gegensatz zu der Mackschen Auffassung:<br />
„Wenn jedoch die Verbindung zwischen Philosophie und Ökonomik hergestellt<br />
werden soll, ohne daß eine Disziplin die andere domestiziert, so kann<br />
das nur durch eine gleichrangige Integration von praktischer Vernunft und<br />
ökonomischer Rationalität geschehen. Jene Gleichrangigkeit wird in diesem<br />
Fall allerdings nicht dadurch systematisch deutlich gemacht, daß unterschiedliche<br />
Rationalitätstypen nebeneinander stehen, sondern durch die Ein-<br />
50 Dieser Abschnitt bezieht sich vor allem auf die Dissertation von Mack, E. (1994): Ökonomische<br />
Rationalität - Grundlage einer interdisziplinären Wirtschaftsethik?, Berlin.<br />
Der Gebrauch des Begriffs „Ökonomische Vernunft“ ist in seiner Missverständlichkeit<br />
in dieser Argumentation bereits angedeutet worden. Vgl. hierzu Abschn. 9.2.1. Danach<br />
müsste es korrekt „Vernunft der Ökonomie“ heißen. In Bezug auf Mack wird<br />
insbesondere diese Unterscheidung virulent, da hier nach Meinung des Verfassers<br />
eine ökonomisch verkürzte Vernunft vorliegt.<br />
185
186<br />
heit eines nachmetaphysischen Vernunftbegriffs, der sich in praktischer Vernunft<br />
und deren Ausdifferenzierung, nämlich in ökonomischer Rationalität,<br />
ausdrückt.“ 51<br />
Bereits an dieser <strong>St</strong>elle (das Kapitel heißt „Methodische Grundorientierung“)<br />
muss aus der hier entwickelten Perspektive der Macksche Ansatz als Überforderung<br />
der ökonomischen Rationalität gedeutet werden, da diese eine<br />
„Ausdifferenzierung“ praktischer Vernunft darstellt. Wenn der Vollzug der<br />
Vernunft auf Übergänge abzielt, dann muss der Vollzug ökonomischer<br />
Rationalität in Bezug auf Gegenstand (Gegenstände innerhalb vs. Übergänge<br />
zwischen) und Einstellung (strategische vs. verständigungsorientierte) als<br />
qualitativ Anderes davon unterschieden werden. Durch diese Differenzierung<br />
und den damit betonten qualitativen Unterschied sind Konnexionen<br />
zwischen Rationalität und Vernunft nicht zwangsläufig unmöglich, eine<br />
Gleichsetzung jedoch schon.<br />
Die Macksche „Gleichrangigkeit“ von Ökonomik und Philosophie zielt dagegen<br />
auf eine Negierung einer qualitativen Differenz ab. So ist auch eine<br />
Rekonstruktion der praktischen Vernunft durch ökonomische Rationalität<br />
möglich:<br />
„Da diese Arbeit sich als ökonomische versteht, welche die vermeintlichen<br />
Grenzen ihrer Disziplin im Hinblick auf die Ethik bewußt zu überschreiten<br />
sucht, wird praktische Vernunft soweit wie möglich mittels ökonomischer<br />
Rationalität rekonstruiert werden.“ 52<br />
Diese Rekonstruktion kann aus Sicht der hier entwickelten Position nur als<br />
„Domestizierung“ verstanden werden. Oder wie Mack am Ende der Arbeit<br />
schreibt:<br />
„Das Anliegen dieser Arbeit über ökonomische Rationalität lag darin, einen<br />
Versuch der interdisziplinären Verständigung zwischen Ethik und Ökonomik<br />
zu unternehmen, um auf dieser Basis eine ökonomisch akzeptanzfähige Wirtschaftsethik<br />
zu entwickeln.“ 53<br />
Aufgrund des beschränkten Abbildungsraumes der ökonomischen Rationalität<br />
kommt eine ökonomische Rekonstruktion praktischer Vernunft einer<br />
51 Mack (1994: 11; Fußnoten weggelassen).<br />
52 Mack (1994: 12; Hervorhebung im Original).<br />
53 Mack (1994: 195; Hervorhebung vom Verfasser).
Vereinheitlichung gleich, die zwar vorgibt, im Interesse der Vernunft zu<br />
handeln („pragmatische Reduktion“), jedoch – bewusst oder unbewusst –<br />
diese ökonomisch umdeutet.<br />
10.2 Impulse für eine Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität –<br />
Verknüpfungsvorbereitung<br />
Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität wurde in der Öffnung<br />
der Rationalität gesehen und diese Öffnung wiederum wurde als das Erreichen<br />
von Anschlussfähigkeit beschrieben. Die Einsicht in die Notwendigkeit,<br />
diesen <strong>St</strong>atus zu erreichen, wurde als Konsequenz des Vollzugs der Vernunft<br />
bezeichnet. Ökonomische Vernunft kann also initiieren, dass sich die ökonomische<br />
Rationalität nicht nur öffnet, sondern auch eine „Ahnung“ davon<br />
entwickelt, dass diese Öffnung in einem weiteren Zusammenhang steht und<br />
ihr damit eine Art von Notwendigkeit anhaftet. 54 Diese rationale Ahnung geht<br />
über eine bloß reale (authentische) Öffnung hinaus und bereitet die vernünftige<br />
Einsicht vor. Öffnung, Ahnung und Einsicht stehen damit in einer Sukzession,<br />
die die ökonomische Rationalität bis zur Ahnung beschreiten kann. Diese<br />
Ahnung „reicht aus“, um sich vom vernünftigen Vollzug, der seinerseits die<br />
Einsicht in sich trägt, weiterentwickelt zu werden.<br />
10.2.1 Öffnungen ökonomischer Rationalität<br />
In der konkreten ökonomischen Konstellation kommen Öffnungen ökonomischer<br />
Rationalität vor, die unterschiedliche Grade bezüglich ihrer „Tiefe“<br />
aufweisen. So kann unterschieden werden zwischen einer Öffnung der ökonomischen<br />
Rationalität, die a) eher instrumentellen Charakter hat und einer<br />
solchen, die b) Selbstzweck an sich darstellt. 55<br />
54 Ähnlich dem Vorwurf, mit dem Welsch konfrontiert wurde, dass bei ihm Vernunft<br />
wie eine Person auftrete, ließe sich dies nun auch bezüglich der oben getroffenen<br />
Aussage anführen. Zur Klarstellung sei bemerkt: Wenn die Rationalität gleich einer<br />
Person behandelt wird, also beispielsweise das Vermögen besitzt, eine Einsicht in bestimmte<br />
Sachverhalte zu erlangen, so ist damit gemeint, dass deren <strong>St</strong>ellvertreter -<br />
dies kann letztlich ein jeder sein -, deren subjektive Akteure diese Einsicht erlangen<br />
und ihre Denkweisen anderen Denkweisen gegenüber öffnen. Um jedoch nicht auf<br />
die subjektive Ebene gehen zu müssen, wird die Rationalität scheinbar personalisiert,<br />
was jedoch theoretisch, und dessen ist sich der Autor bewusst, einen Rückschritt bedeuten<br />
würde, da gerade die Rationalität nicht subjektgebunden ist.<br />
55 Es sind hier Parallelen zu den Kategorisierungen von Habermas bezüglich der unterschiedlichen<br />
Orientierungen (Erfolgs- und Verständigungsorientierung) identifizierbar.<br />
In gewisser Weise thematisiert Habermas, gleich der hier vorgestellten Konzeption,<br />
Einstellungen der Aktoren bzw. Akteure in der Vorbereitung und Begleitung der<br />
187
ad a): Dieser Fall der Öffnung muss nicht bedeuten, dass tatsächlich über die<br />
eigenen rationalen Grenzen hinaus vollzogen wird. Die Öffnung hat eher<br />
strategischen Charakter und nur so lange Bestand, solange diese Öffnung<br />
von Nutzen für die ökonomische Rationalität selbst ist; letztlich verstärkt sie<br />
diese nur. Einsicht und Notwendigkeit sind dann nur in Bezug auf die eigenen<br />
Absichten relevant. Wenn die Ökonomie feststellt, dass sie mit ihren Annahmen<br />
und Methoden nicht mehr ausreichend komplex die Umwelt darstellen<br />
kann, dann versuchen die Akteure des ökonomischen Systems neue<br />
Inhalte aufzunehmen, indem sie diese in die ökonomische Sprache übersetzen.<br />
Zielpunkt ist dabei die rein ökonomische Zwecksetzung, das bedeutet,<br />
die <strong>St</strong>eigerung der ökonomischen Effektivität und Effizienz. Diese Form der<br />
„Öffnung“ bleibt der instrumentellen Rationalität verhaftet und festigt ihre<br />
eigene Position.<br />
ad b): Anders dagegen die Form der Öffnung, die in verständigungsorientierter<br />
Absicht vorgenommen wird. Diese Öffnung geschieht vornehmlich<br />
aus dem Gedanken heraus, dass eine Verknüpfung der unterschiedlichen<br />
Bereiche den tatsächlichen Problemstrukturen in der realen Umwelt näher<br />
kommt, nicht, um ausschließlich den eigenen Bereich zu stärken. Übergänge<br />
zwischen den Bereichen stehen wegen ihrer Rolle und der damit verbundenen<br />
Authentizität der Wahrnehmung auf Ebene des Entdeckungszusammenhangs<br />
tendenziell dem Kriterium der Lebensdienlichkeit nahe. Diese<br />
Lebensdienlichkeit konkretisiert sich hier in der Adäquanz von Problem- zu<br />
Handhabungskomplexität: Die Öffnung der ökonomischen Rationalität entspricht<br />
der tatsächlichen Verflechtung von System und Lebenswelt. Sie ist<br />
damit die Bedingung der Möglichkeit einer Ahnung um die Notwendigkeit<br />
von Verknüpfung. Diese Ahnung kann innerhalb der ökonomischen Rationalität<br />
durch Reflexion generiert werden, um sich dann in einem weiteren<br />
Schritt dem Vollzug der Vernunft zu stellen. Der Inhalt der Vernunft,<br />
nämlich die Einsicht in die Notwendigkeit der tatsächlichen und dauerhaften<br />
Verknüpfung von Rationalitäten, scheint damit in die Rationalität hineinzuwirken.<br />
Dieses „Hineinwirken“ von Vernunft in die Rationalität geschieht<br />
188<br />
tatsächlichen Kommunikation. Da es in diesem Kontext um Rationalitäten und Vernunft<br />
geht, also eher um die Bedingungen von Kommunikation, entsteht keine vollständige<br />
Überschneidung – ähnlich zu der Ulrichschen Position – des Objektgegenstandes,<br />
jedoch sind in dem Punkt der Einstellungen zueinander Äquivalente zu entdecken.<br />
Vgl. hierzu vor allem Habermas, J. (1981a): Theorie des kommunikativen<br />
Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung,<br />
Frankfurt.
zwar aus der funktionalen Perspektive normativ, entbehrt jedoch, entgegen<br />
der üblichen Normativität, eigener inhaltlicher Interessen. Ihr Interesse ist<br />
die Verknüpfung in Bezug auf das Ganze, nicht als <strong>St</strong>ellvertreter des Ganzen.<br />
Diese Form der Öffnung hängt nicht primär von ökonomischen Kalkulationen<br />
ab, sondern etabliert sich unabhängig davon als über die rein ökonomische<br />
Rationalität hinausgehende Bestimmung derselben. In diesem Sinne<br />
ist sie Selbstzweck. 56<br />
Die tatsächliche Verknüpfung kann als Konsequenz aus einer solchen Öffnung<br />
folgen. Entscheidend ist jedoch vorerst, dass prinzipiell Verknüpfung<br />
möglich wird. Diese Möglichkeit legitimiert sich nicht unbedingt durch ihre<br />
tatsächliche Umsetzung, denn bereits die Vorbereitung auf eine mögliche<br />
Verknüpfung zeitigt materiale Konsequenzen in der Binnen-<strong>St</strong>ruktur einer<br />
Rationalität. Diese Phase der Vorbereitung vermittelt eine Ahnung darüber,<br />
was potentiell in die eigenen Prozesse tatsächlich zu integrieren ist. 57 Die<br />
(nachhaltige) Öffnung stellt sich also als prinzipiell unabhängig von ihrer<br />
weiteren „Verwendung“ dar.<br />
Dieser zweite Typ der Öffnung soll im Folgenden in seinen Konsequenzen<br />
für die Bestimmungen ökonomischer Rationalität erörtert werden.<br />
10.2.2 Legitimation nach innen und außen<br />
Die Öffnung der ökonomischen Rationalität ist vornehmlich durch die damit<br />
geschaffene Voraussetzung für eine Vernunft der Ökonomie legitimiert. Dies<br />
stellt die Legitimation nach außen dar. Zusätzlich zu dieser Legitimation nach<br />
56 Implizit angesprochen ist hier, wie auch an anderer <strong>St</strong>elle, ein Gedanke der Nachhaltigkeit,<br />
der sich in einer normativen Semantik lokalisiert. Was auf den ersten Blick<br />
anmutet, als wäre nur die zeitliche Dimension der Überdauerung angesprochen, erscheint<br />
auf den zweiten Blick als Andeutung einer weitergehenden Konnotation. So<br />
ließe sich diese Öffnung in ihrer Einsicht und ihrer (zeitlichen) Nachhaltigkeit mit<br />
dem (normativen) Begriff der Nachhaltigkeit zusammenbringen, doch würde das an<br />
dieser <strong>St</strong>elle zu weit führen.<br />
57 Bspw. kann davon ausgegangen werden, dass zu Beginn der Alternativ-Bewegung<br />
und in den nachfolgenden Jahren sich die Unternehmen darauf vorbereitet haben,<br />
zum Zeitpunkt X auf entsprechende gesetzliche Vorschriften innerbetrieblich und<br />
ohne nennenswerte Schädigung der Rentabilität der Geschäftstätigkeiten reagieren zu<br />
können. Auch wenn die Verknüpfung noch nicht existent ist, so wird sie im Zuge der<br />
unternehmerisch-strategischen Planung bereits antizipiert. Dieses Vorgehen korrespondiert<br />
eng mit den Prozessen der Unternehmensrationalität, da sie Voraussetzung<br />
und Bedingung der Handlungen darstellen. An dieser <strong>St</strong>elle wird nochmals deutlich,<br />
dass diese Reaktion der Öffnung nicht notwendigerweise auch Vorbereitung einer ökonomischen<br />
Vernunft darstellen muss. Die Öffnung kann aus rein betriebswirtschaftlich-rationalen<br />
Gründen entschieden und umgesetzt werden.<br />
189
außen tritt die Legitimation nach innen, innerhalb der ökonomischen Rationalität.<br />
Diese besteht darin, dass eine umfassende Erfassung der im ökonomischen<br />
Kontext zu behandelnden Größen der Präzision und Vorhersagbarkeit<br />
ökonomischer Kalkulation zugute kommt. Die grundsätzliche Legitimation<br />
nach außen kann sich mit dieser internen Legitimation in dem<br />
Punkt verbinden, wo eine genauere Kalkulation zu einer Erhöhung der<br />
Lebensdienlichkeit des Wirtschaftens beiträgt. Die innere und äußere Referenz<br />
sind gleichzeitig erreichbar. Dabei behält die äußere Legitimation das<br />
Primat – jedoch in enger Verbindung zu der inneren Referenz. 58<br />
In der Legitimation nach innen spielt die Quantifizierung und deren formales<br />
Primat die zentrale Rolle. Die numerische Darstellungsform erhöht die<br />
Praktikabilität von Wirtschaftsprozessen bzw. ermöglicht diese zum Teil erst.<br />
Diese Form stellt die zentrale Formgrundlage dar. Durch ihre Abstraktion<br />
läuft sie Gefahr, ökonomisch direkt und ökonomisch indirekt relevante<br />
Inhalte reduktionistisch zu behandeln bzw. gar nicht erst wahrzunehmen.<br />
Dies wirkt auf die ökonomische Rationalität zurück. Insbesondere im wirtschaftlichen<br />
Kontext geht es immer auch zentral um Menschen und deren<br />
Lebenspläne. Sie finden jedoch als solche keinen Einzug in die ökonomische<br />
Form, es sei denn, sie erweisen sich als relevanter Faktor, der den Unternehmenserfolg<br />
beeinflusst und selbst dann scheint ihre Erfassung rudimentär.<br />
So entsteht in der Ökonomie ein generelles Handhabungsmuster, das die<br />
Gegenstände auf eine einfache Formel bringt, mit ihnen rechnet, Ergebnisse<br />
präsentiert, um dann später festzustellen, dass aufgrund der starken<br />
Vereinfachung durch numerische Form das Problem entweder gar nicht oder<br />
nur ungenügend gehandhabt wurde. Es entstehen Prozess-Schleifen, die<br />
nicht selten infinitiven Charakter annehmen. Zudem treten zu den alten,<br />
aber neu aufbrechenden Problemen neuartige Konflikte hinzu, die erst durch<br />
die unvollständige bzw. fahrlässig identifizierte Problemstellung entstanden<br />
58 Die Einwände gegen dieses Primat von anderer Seite sind bereits angedeutet worden.<br />
Es sei an dieser <strong>St</strong>elle nochmals deutlich gemacht: Das Primat der (politischen) Ethik<br />
steht dem Wirtschaften weder inhaltlich noch kategorisch per se entgegen. Was hier<br />
als „enge Verbindung“ bezeichnet wird, versucht auszudrücken, dass sich die Zielräume<br />
von Wirtschaft und Lebensdienlichkeit überschneiden. So ist es im Interesse<br />
des Arbeitnehmers, dass seine lebensweltlichen Bedürfnisse in Abstimmung mit den<br />
wirtschaftlichen Interessen (und das bedeutet „ökonomischer Verträglichkeit“) befriedigt<br />
werden, denn: einen Teil seiner lebensweltlichen Bedürfnisse sind wirtschaftlicher<br />
Natur. Durch diese Überschneidung entsteht ein natürliches Komplement des<br />
politisch-ethischen Primats, das das Individuum auch an seine ökonomische, wenn<br />
auch derivative Existenz rückbindet.<br />
190
sind. Am Beispiel des reziproken Loyalitätsverlusts zwischen Arbeitgeber<br />
und Arbeitnehmer ist dies an früherer <strong>St</strong>elle bereits veranschaulicht<br />
worden. 59<br />
Systemexterne Inhalte haben es insbesondere dann schwer, ökonomische Beachtung<br />
zu finden, wenn ihre ökonomische Relevanz nicht direkt ersichtlich<br />
scheint. So äußert sich Wieland beispielsweise:<br />
„Leitcodierung besagt vielmehr, dass alle in einer Unternehmung existierenden<br />
und relevanten Entscheidungslogiken sich an ihren ökonomischen Folgen<br />
bewerten lassen müssen.“ 60<br />
Was ist jedoch zu tun, wenn manche Größen bezüglich ihrer ökonomischen<br />
Folgen partout nicht bewertet werden können? 61 Kann dieses Nadelöhr ihnen<br />
damit die Berechtigung der Berücksichtigung absprechen, insbesondere<br />
dann, wenn sie die eigenen Arbeitnehmer betreffen?<br />
Es besteht auch die Gefahr, dass das eigene Können überschätzt wird. Dann<br />
wird zwar übersetzt, jedoch nur äußerst ungenügend; dies kann als „Reduktionismus“<br />
bezeichnet werden. Karl Homann sieht in diesem „Können“<br />
einen Zustand, der früher oder später überwunden werden kann. 62 Dort, wo<br />
die (ökonomische) Überwindung noch nicht ganz geglückt ist, äußert<br />
Homann sich bezüglich seines eigenen Ansatzes folgendermaßen:<br />
„Wenn in diesem Forschungsprogramm Moral in terms of economics rekonstruiert<br />
wird („Übersetzung“), dann handelt es sich nicht um einen „Reduktionismus“,<br />
sondern um eine strikt problemabhängige, nämlich auf das Implementierungsproblem<br />
zugeschnittene „pragmatische Reduktion“. In einer<br />
als konstruktivistisch ausgewiesenen Methodologie ist diese Reduktion legitim,<br />
weil und sofern sie um ihren Sinn und ihre Grenzen weiß. In diesem<br />
Verständnis wird Moral zu einer Kurzformel langer ökonomischer Kalkula-<br />
59 Siehe dazu Abschn. 2.2.<br />
60 Wieland (2001: 32; Hervorhebung vom Verfasser).<br />
61 Ein Nicht-Können wird häufig mit dem Verweis auf die mit den komplexen Übersetzungsleistungen<br />
anfallenden hohen Kosten begründet. Nach der hier vertretenen Ansicht<br />
jedoch sind diejenigen Kosten, die aufgrund der nicht umsichtigen Erfassung<br />
und Berücksichtigung der betreffenden Inhalte in der Folge entstehen, um ein Vielfaches<br />
höher zu veranschlagen als die Übersetzungs- bzw. Öffnungskosten.<br />
62 Diese Aussage ist einem Vortrag vom 12. Oktober 2000 in München frei entnommen,<br />
der in Boysen (2001) skizziert und diskutiert wird. Vgl. Boysen, T. (2001): Wirtschaftsethik<br />
- (K)ein Widerspruch in sich?, in: ForumTTN, Jg. 5, H. 1, S. 46.<br />
191
192<br />
tionen, gewissermaßen zu einer Art Zweitcodierung, mit der man sich begnügen<br />
kann, solange sie wirksam ist.“ 63<br />
Ähnlich wie Wieland versucht Homann zum einen, Legitimität durch den<br />
Verweis auf die Praktikabilität des Reduktionismus zu erreichen. Nicht zufällig<br />
sprechen beide tendenziell eher von „Moral“ als von „Ethik“. Es ist<br />
nicht von der Hand zu weisen, dass die tatsächliche „Verwendung“ als<br />
Kriterium der Legitimität eines Ansatzes herangezogen werden kann, jedoch<br />
kann sie nicht zur dominanten bzw. entscheidenden theoretischen Bestimmung<br />
werden.<br />
Zum anderen akzeptiert Homann den Reduktionismus, wenn der Akteur<br />
darum weiß. Dieser Ansatz wäre grundsätzlich anschlussfähig an die hier<br />
vorgestellte Konzeption: Das Bewusstmachen der Reduktion zieht jedoch -<br />
nach hier vertretener Auffassung - eine weiterführende Konsequenz nach<br />
sich, nämlich die Einsicht in die Notwendigkeit der Öffnung ökonomischer<br />
Rationalität gegenüber anderen Rationalitäten. Dies wurde als das „Hindurchwirken<br />
der ökonomischen Vernunft in die Rationalität hinein“ bezeichnet,<br />
bei der Letztere eine Ahnung der Notwendigkeit erlangen kann.<br />
Homann schließt dieses jedoch aus:<br />
„Genuine Normativität spielt für die positive Ökonomik eine bedeutende<br />
Rolle, sofern sie deren Paradigma bestimmt. Normative Leitideen der Tradition<br />
bestimmen so Fragestellung, Grundbegriffe und Design der positiven<br />
Ökonomik, nicht jedoch ihre Inhalte. „Werte“, „Pflicht“ und „Sollen“ haben in<br />
der positiven Ökonomik keinen Platz, aber sie bzw. die damit angedeuteten<br />
Probleme bestimmen das ganze Paradigma dieser positivistischen Forschung.“<br />
64<br />
Dies wurde bereits an früherer <strong>St</strong>elle kommentiert. 65 Homann sieht bereits im<br />
Paradigma der Ökonomik die Ethik verwirklicht. Durch diese „Auslagerung“<br />
der Ethik in die Voraussetzungen ist eine explizite Behandlung derselben<br />
im ökonomischen Vollzug nicht mehr notwendig. In diesem Sinne<br />
kann die positive Ökonomik frei sein von Werten und Normen. Die Verwirklichung<br />
der Ethik im Paradigma der Ökonomik wird jedoch in dieser<br />
Argumentation nicht gesehen.<br />
63 Homann (2001: 38; Fußnoten weggelassen). Der Begriff „pragmatische Reduktion“<br />
geht auf Suchanek (1994) zurück.<br />
64 Homann (1997: 38).<br />
65 Vgl. die Einleitung in Kapitel II.
Es lässt sich festhalten: Das Wissen um die eigene „pragmatische Reduktion“<br />
allein reicht nicht aus, um die daraus entstehenden Defizite handhaben zu<br />
können, sondern es gilt, Wege aufzuzeigen, wie diesen Defiziten begegnet<br />
werden kann. Wieland und Homann sehen beide keinen wirklichen Handlungsbedarf,<br />
der sich aus der – wenngleich bewussten – Reduktion ergeben<br />
könnte. Die Praktikabilität überkompensiert die damit verbundenen Reduktionismen,<br />
wie es scheint. 66 Jedoch, und dies stellt den zentralen Kritikpunkt aus<br />
der hier vertretenen Sicht dar, werden die Reduktionismen nachhaltig in<br />
Kauf genommen, es geschieht weder eine wirksame Aufarbeitung der einmal<br />
ausgeschlossenen bzw. scheinbar übersetzten Inhalte, noch führt man sich<br />
den Abstraktionsprozess in seiner inhaltlichen Konsequenz vor Augen.<br />
Letzteres bleibt der Soziologie, Philosophie, Theologie und anderen Disziplinen<br />
vorbehalten.<br />
10.2.3 Nicht-Numerisches als alternative Form<br />
Die zweite Form der Öffnung, die Anknüpfung vorbereitet und damit nachhaltig<br />
wirksam ist, folgt der Überzeugung, dass die ökonomische Rationalität<br />
in ihrer ausdifferenzierten Spezifizierung, so wie sie momentan „vorliegt“,<br />
eine stark asymmetrische Problem-Handhabungsstruktur erzeugt. Das bedeutet,<br />
dass sie andere Probleme generiert, während sie ihre eigenen zu lösen<br />
sucht. Dies ist an sich nichts Außergewöhnliches, da die Folgen einer Handlung<br />
oftmals außerhalb desjenigen Bereichs auftreten, in dem sie entstanden<br />
sind. Dies ist in den einleitenden Kapiteln ausführlich zum Ausdruck gekommen.<br />
Doch ist bezüglich der ökonomischen Rationalität diese Diskrepanz<br />
aufgrund ihrer Omnipräsenz, aber nicht Omnipotenz besonders evident.<br />
Die Öffnung begründet sich in ihrer Notwendigkeit vor allem dadurch, dass<br />
die weitreichenden, freilich von der Ökonomie überwiegend nicht intendierten,<br />
so doch nicht minder zu verantwortenden negativen Folgen für<br />
Natur und Gesellschaft systematisch in die eigene Rationalität zu integrieren<br />
sind. Dabei reicht es nicht aus, „Übersetzungsleistungen“ zu vollziehen, da<br />
diese letztlich doch im ökonomischen Sinne und zu ihren Zwecken gesche-<br />
66 Es ist dies keine neue Diskussion, die sich vor allem im Kontext um den homo oeconomicus<br />
entfaltet hat. Entscheidend scheinen dabei die Meinungen an dem Punkt<br />
auseinanderzugehen, wo die Folgen der Verwendung dieser Verhaltensheuristik eingeschätzt<br />
werden. Bei den Kritikern erfüllt diese Heuristik die Rolle und Funktion eines<br />
Menschenbildes und wirkt damit fundamental orientierend auf den Menschen<br />
zurück.<br />
193
hen. Vielmehr ist der eigene Rationalitätsrahmen, der eigene „Horizont“<br />
grundsätzlich zu reflektieren und zu erweitern, zu öffnen. Dies führt im Blick<br />
auf das Primat der ökonomischen Messbarkeit, der pragmatischen Quantifizierung,<br />
zu Konzepten, die antizipativ, somit im eigenen Ansatz schon, eine<br />
über den eigenen Rahmen hinausgehende Handhabungsstruktur anlegen.<br />
Im Wesentlichen bedeutet dies eine Grammatik zu etablieren, die Nicht-<br />
Numerisches im ökonomischen Kontext pragmatisch abbilden kann. Dies<br />
ließe sich – im Welsch‘schen Sinne – als „neues“ ökonomisches Paradigma<br />
bezeichnen, das Numerisches und Nicht-Numerisches in demselben<br />
ökonomischen Kontext parallel zueinander und in Konkretion und<br />
Pragmatik absolut gleichberechtigt bewegt. 67 Dabei wird das Nicht-Numerische<br />
in seiner Form belassen und damit das Primat der Quantifizierung ökonomischer<br />
Rationalität rational transzendiert. In diesem Zusammenhang<br />
scheint dies der einzige und nachhaltig wirksame Weg, um den vielfältigen<br />
und zum Teil noch gar nicht abschätzbaren Folgen der ökonomischen Reduktion<br />
adäquat begegnen zu können.<br />
In gewisser Weise versucht Wieland - bewusst oder unbewusst - in seiner<br />
funktionalen Erfassung von Moral in wirtschaftlichen Transaktionen genau<br />
dieses zu verfolgen: die Darstellung der Moral im Kontext der Wirtschaft,<br />
ohne dies gleich numerisch erfassen zu wollen. Die Darstellung geschieht als<br />
Funktion. 68 Jedoch legen die weiteren Ausführungen und die ganze Konzeption<br />
die Vermutung nahe, dass die nicht-numerische Darstellung vorwiegend<br />
aus praktischen Gründen geschieht, da sich die Größen nun mal nicht<br />
ganz so problemlos in Zahlen „übersetzen“ lassen, wie eine spezifische<br />
Marktgröße, Auftragsbestände oder strategische Kennzahlen. Die weitere<br />
Behandlung dieses Nicht-Numerischen aber unterscheidet sich von der Behandlung<br />
des Numerischen nicht; das Nicht-Numerische zeitigt keine<br />
methodische Konsequenz.<br />
67 Es ist bereits seit einigen Jahren eine Sensibilisierung für so genannte „soft-factors“<br />
auf den Weg gebracht. Die Ökonomie hat erkannt, dass dort Größen in „ihrem“ Bereich<br />
existieren, die bis dato nicht oder nur ungenügend inhaltlich Einzug in die ökonomische<br />
Kalkulation gefunden haben. Diese „<strong>St</strong>örgrößen“ verhindern genaue Prognosen<br />
über den Geschäftsverlauf und sind somit geschäftsschädigend, wenn sie unberücksichtigt<br />
bleiben – polemisch formuliert. So machte sich die Ökonomie - bis dahin<br />
noch soziales „Entwicklungsland“ - auf, um diese Größen zu erfassen und zu beeinflussen.<br />
Sehr bald wird auch erkannt, dass eine Berücksichtigung beiden Seiten<br />
hilft, dem Einzelnen (Arbeitnehmer) und dem Ganzen (Unternehmung) – mehr oder<br />
weniger direkt.<br />
68 Vgl. hierzu Wieland (2001: 8ff.).<br />
194
Ein solch „neues“ Paradigma des Nicht-Numerischen würde über die Transzendierung<br />
der Quantifizierung hinaus die Reflexion über Sinn und Zweck<br />
des Wirtschaftens „reanimieren“. Solange nämlich der Zweck in den Zahlen<br />
als Selbstzweck aufgeht, wird der eigentliche inhaltliche Zweck bzw. Sinn aus<br />
den Augen verloren. Das bedeutet ökonomisch, dass auch dasjenige in der<br />
ökonomischen Rationalität abgebildet wird, welches keinen direkten<br />
ökonomischen Bezug aufweist und nicht notwendigerweise quantifizierbar<br />
sein muss. 69 Die Abkehr von der Zahl gibt den Blick frei auf außerökonomische<br />
Zielvorstellungen, die nicht unbedingt konträr, also kontraproduktiv<br />
zu der ökonomischen Zielsetzung laufen müssen, sondern diese aus anderen<br />
Perspektiven anreichern. Die zentrale „andere Perspektive“ ist in Bezug auf<br />
die ökonomische Rationalität die Lebenswelt. Die ist zwar seit jeher existent<br />
im ökonomischen System, doch praktisch nicht relevant, das heißt nicht<br />
richtungsweisend. So sehr auch Wieland dieser Prioritätenfrage aus dem<br />
Weg zu gehen versucht: Sein maßgebliches Kriterium stellt das ökonomische<br />
Kriterium dar.<br />
10.3 Zusammenfassung<br />
Die Weiterentwicklung im starken Sinne lässt sich somit, auch in Reflexion<br />
der Bestimmungen einer Vernunft der Ökonomie, in folgenden Punkten zusammenfassen:<br />
� Eine Öffnung, die sich der Weiterentwicklung im starken Sinne verpflichtet,<br />
verzichtet im eigenen Interesse auf traditionelle Übersetzungsleistungen.<br />
� Eine solche Öffnung wählt die Konnexion von Heterogenitäten, nicht die<br />
Übernahme zum Zwecke der Vereinheitlichung.<br />
� Sie sieht im spezifisch Anderen den Schlüssel zu eigener Transzendenz.<br />
� Die Transzendenz konstituiert ihre Relationalität und fordert ihre Relativierung.<br />
� In dieser rationalen Transzendenz erkennt die ökonomische Rationalität<br />
ihren eigentlichen Beitrag zum Ganzen.<br />
69 Damit sei nicht impliziert, dass die Ökonomie angehalten ist, alles abzubilden. Es<br />
geht hier lediglich um diejenigen „Gegenstände“, welche einen direkten oder indirekten<br />
Bezug zu der wirtschaftlichen Tätigkeit aufweisen.<br />
195
11 Postmoderne Ethik 70 - der Übergang zum Anderen<br />
Bis vor kurzem war es noch undenkbar, Postmoderne und Ethik auch nur in<br />
einem Atemzug zu nennen. Es deuten sich in der jüngsten wissenschaftlichen<br />
Diskussion Auflösungserscheinungen dieses klassischen Antagonismus<br />
an. 71 Diese Entwicklung manifestiert sich vor allem in zwei zentralen<br />
Merkmalen:<br />
Zum einen ist das, was sich momentan als Postmoderne präsentiert, nicht<br />
mit dem zu vergleichen, was Postmoderne seit den 60er Jahren als Antipode<br />
zur Moderne beschrieb. Als dialektisch-historischer Entwicklungsbefund<br />
zeichnete sich die Postmoderne vor allem in ihrem Abgrenzungscharakter<br />
zur Moderne aus. Als Gegenpol war sie in ihren Anfängen zu verstehen, zu<br />
einem komplementären Pol hat sie sich entwickelt.<br />
Zum anderen hat sich innerhalb dieser Entwicklung inhaltlicher Redefinition<br />
von Postmoderne ein intersubjektivitätstheoretischer Ansatz herauskristallisiert,<br />
der über die ursprüngliche Metaphysikkritik hinausgeht. Auf der<br />
Suche nach dem Nicht-Berücksichtigten, dem Ignorierten von pluralen<br />
Phänomenen treten scheinbar unwillkürlich Subjekte und ganze soziale<br />
Gruppen – zudem latent normativ - in den Gesichtskreis der Moderne-Postmoderne-Debatte.<br />
Es ließe sich von einer „normativen Subjektivierung“ der<br />
beinahe schon zwanghaften postmodernen Indifferenz bezüglich politischethischer<br />
Aspekte sprechen. 72<br />
70 Der Begriff „Postmodern“ wird im Spannungsfeld zur Moderne rekonstruiert, so wie<br />
es in der Argumentation entwickelt wurde. „Postmoderne“ bedeutet damit immer<br />
eine postmoderne Moderne. Der Einfachheit halber und um den programmatischen<br />
Charakter der Postmoderne auch in der postmodernen Moderne zu betonen, wird im<br />
Folgenden oft nur von „Postmoderne“ gesprochen. Wenn damit die „reine“ Postmoderne<br />
gemeint ist, dann wird dies explizit durch einen Zusatz wie „radikal“ o. ä.<br />
kenntlich gemacht. Einige der zitierten Autoren verwenden diesen Term vielfach<br />
synonym zu einer postmodernen Moderne.<br />
71 Vgl. dazu die jüngere Literatur wie z. B. Bernstein (1991), Critchley, S. (1992): The<br />
Ethics of Deconstruction. Derrida and Lévinas, Oxford; White, S.K. (1991): Political<br />
Theory and Postmodernism, Cambridge; Benjamin, A. [Hrsg.] (1992): Judging Lyotard,<br />
London/New York, zitiert nach Honneth (2000a: 133).<br />
72 Historisch ist dieser extrem deskriptive Zugang der Postmoderne als Antwort auf den<br />
„zwanghaften Universalismus der Moderne“ (Honneth 2000a: 133) und der damit<br />
verbundenen metaphysischen Normativität zu interpretieren. Wie bereits angedeutet,<br />
eliminiert sich im Zuge der Integration von Moderne in die Postmoderne bzw. vice<br />
versa der extreme programmatische Charakter der Postmoderne von selbst und entwickelt<br />
sich zu einer gemäßigteren Position.<br />
196
Honneth fasst die neuartige Auseinandersetzung der Postmoderne folgendermaßen:<br />
„Von der Idee einer moralischen Berücksichtigung des Besonderen, des Heterogenen,<br />
nimmt daher auch die Ethik der Postmoderne heute ihren theoretischen<br />
Ausgang; nicht anders als die ungeschriebene Moraltheorie Adornos<br />
kreist sie um die Vorstellung, daß sich erst im angemessenen Umgang mit<br />
dem Nicht-Identischen der Anspruch menschlicher Gerechtigkeit erfüllt.“ 73<br />
Honneth deutet hier bereits dasjenige Spannungsfeld an, in dem sich die<br />
Diskussion um eine Ethik der Postmoderne entfalten wird: Das Kriterium der<br />
Gerechtigkeit steht in dialektisch-produktiven Verhältnis zu dem Grundsatz der<br />
Gleichbehandlung.<br />
In dieser Argumentation konnte aufgezeigt werden, dass die ökonomische<br />
Vernunft in Richtung einer Ethik der Ökonomie weist. 74 Für eine solche stellt<br />
sie notwendige Voraussetzung dar. Welsch selbst macht dies deutlich:<br />
„Diese Implikationen [ethische; T.B.] scheinen mir äußerst wichtig. Sie bedeuten,<br />
daß unseren Begründungs- und Rechtfertigungsvollzügen ethische<br />
Forderungen eingebaut sind - daß es eine epistemische Ethik gibt. Deren ausführliche<br />
Darstellung wäre ein lohnendes Unternehmen.“ 75<br />
73 Honneth (2000a: 134).<br />
74 So äußert sich auch Kreß: „Aus der Perspektive der Sozialethik gesagt, besteht die<br />
Bedeutung eines solchen prozessualen oder prozeduralen Vernunftbegriffes darin,<br />
daß er mit dem Leitbild der aktiven ethischen Toleranz bzw. dialogischen Toleranz<br />
korrespondiert.“ (Kreß, H. (2000): Transversale Vernunft in ihrer Abhängigkeit von<br />
ethischen Voraussetzungen, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 117-119, hier S. 117f.).<br />
Ähnlich auch Rehmann-Sutter: „Der Schluß, den man m.E. ziehen müßte, den Welsch<br />
hier aber zumindest nicht explizit zieht, ist, daß die Kriterien für die Evaluation verschiedener<br />
Vernunftkonzeptionen ethische Kriterien mit einschließen. Es geht nicht<br />
nur um korrekte Selbstdarstellung und kohärente Exposition, sondern um die Angemessenheit<br />
einer Selbstkonzeption in pragmatischer Hinsicht hier und jetzt.“ (Rehmann-Sutter,<br />
C. (2000): Kathartik der Vernunft?, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 137-139, hier S.<br />
137; Hervorhebung im Original).<br />
Baumann (1995: 33) spricht von der „moralischen Unsicherheit“ in der Postmoderne.<br />
Schon früher hatte Gehlen der Kultur der Postmoderne eine „reizvolle Unverantwortlichkeit“<br />
attestiert. Vgl. Gehlen, A. (1963c): Über kulturelle Kristallisation, in:<br />
ders. (1963a), S. 311-328, hier S. 325. In Bezug auf die IuK-Technologien ist dies mit<br />
der sich öffnenden Schere zwischen den Fähigkeiten des Menschen in der heutigen<br />
technologischen Welt und der zeitlichen und räumlichen Distanz zu den Folgen<br />
unserer in Handlungen umgesetzten Fähigkeiten beschrieben worden. Vgl. hierzu<br />
Abschn. 2.3.<br />
75 Welsch (2000b: 175).<br />
197
Eine ethische Reflexion hat sich mit den tatsächlichen Gegebenheiten auseinanderzusetzen<br />
und damit neben den notwendigen auch die hinreichenden<br />
Bedingungen zu betrachten. Diese setzen sich aus den äußeren (materiellen<br />
und sozialen) Bedingungen des Subjekts (Fraktale, Entgrenzung, Erosion,<br />
Macht etc.) und den inneren Bedingungen des Subjekts, den Potentialen und<br />
Möglichkeiten (Bewusstsein, Mut, Überzeugung etc.) zusammen. 76 Im Folgenden<br />
wird es darum gehen, Möglichkeiten des ethischen Vollzugs unter<br />
den aktuellen äußeren Bedingungen und ihren Implikationen auszuloten.<br />
Dabei soll das Subjekt als solches und in seiner direkten Sozialität in den<br />
Mittelpunkt gestellt werden. 77 Neben die intraindividuellen Herausforderungen<br />
treten dabei die Herausforderungen reflektierter Intersubjektivität.<br />
Wesentlicher Befund für eine Reflexion über die Möglichkeiten eines ethischen<br />
Vollzugs ist die „Unsichtbarkeit“ der Kolonialisierung. Die ökonomische<br />
Rationalität erreicht durch ihre Reduktion und Verdinglichung auch<br />
in lebensweltlichen Bezügen, dass der Maßstab jeglicher kritischer Reflexion<br />
selbst erodiert und damit auch eine hinreichende Bedingung des ethischen<br />
Vollzuges. 78 Die äußeren Befunde der Entgrenzung und Fraktale haben zudem<br />
zu einer Form von Orientierungslosigkeit des Einzelnen in seinen inne-<br />
76 Auf die inneren Bedingungen (Fähigkeiten) wird in Abschnitt 12 in Bezug auf die<br />
Unternehmung eingegangen.<br />
77 In dem am Ende zu analysierenden Kontext der inneren Verfassung der Unternehmung<br />
soll hier eine ethische Analyse vornehmlich als eine „philosophische Bemühung<br />
um den Menschen“ verstanden werden, wie Buch über die Ethik Nicolai Hartmanns<br />
schreibt, auch wenn sich vielfältige andere Bezüge gleichwertig stellen mögen.<br />
Vgl. hierzu Buch, A.J. (1982): Wert – Wertbewußtsein – Wertgeltung: Grundlagen und<br />
Grundprobleme der Ethik Nicolai Hartmanns, Bonn, S. 219. Wenn es Hartmann<br />
darum geht, die „Bedeutsamkeit des Menschen als sittliches Wesen herauszustellen,<br />
d. h. der Person mit ihrer Freiheit und Wertträgerschaft als Vermittler der in den<br />
Werten als Prinzipien gesehenen und von diesen ausgehenden Sollensforderungen<br />
ins Reale“ (Buch 1982: 219; Endnoten weggelassen), so trifft sich dies mit dem intersubjektiven,<br />
sozialen Kontext der Unternehmung. Ergänzt wird dieser anthropologische<br />
Grundzug durch die Darstellung intersubjektiver Verwiesenheit im folgenden<br />
Kapitel. Hartmann bezeichnete dies damals als „Rehabilitation des Menschen“<br />
(Hartmann, N. (1962): Ethik, 4. Aufl., Berlin, S. 170).<br />
78 In Abschnitt 3.3 ist deutlich geworden, dass die ökonomische Rationalität durch ihre<br />
lebensweltliche Dominanz selbst dem lebensweltlichen Gegenüber sukzessive das<br />
kritische Potential entzieht - das Potential des sensiblen Wahrnehmens, genauen Differenzierens<br />
und offenen Kritisierens. Diese Erosion wird zudem durch die kommerzialisierte<br />
Gesellschaft tagtäglich reproduziert. Die Arbeitsgesellschaft konstituiert<br />
den Zirkel aus Erwerbsarbeit und Konsum, welcher auch die Fragen des sozialen<br />
<strong>St</strong>atus entscheidet. Deutlich wird dies bspw. an dem Marken-Kult der Jugend, der in<br />
den 80er Jahren intensiv einsetzte. Vergleiche hierzu insbesondere die pointierten Beschreibungen<br />
bei Klein (2001). Vgl. auch Abschn. 2.1.<br />
198
en Bedingungen geführt, die bis in die lebensweltlichen Tiefenstrukturen<br />
hineinreicht. Und gerade von hier aus nimmt ethischer Vollzug seinen Ausgangspunkt,<br />
aus den unmittelbaren lebensweltlichen Bezügen des Einzelnen.<br />
Wird die Vernunft - wie aufgezeigt - als Vermögen bzw. Fähigkeit rekonstruiert,<br />
so ist dies übertragbar auf die Konzeptualisierung eines Vollzugs<br />
der Ethik. Ethischer Vollzug ist dann auch als individuelle Fähigkeit zu ethischer<br />
Reflexion zu rekonstruieren. Und diese Fähigkeit ist auf ihre äußeren<br />
und in der Folge auch inneren Bedingungen angewiesen.<br />
Der Vollzug der transversalen Vernunft hat bereits angedeutet, welchen<br />
Charakter ein solcher ethischer Vollzug besitzt. Die inneren und äußeren Bezüge<br />
stehen in wechselseitiger Austauschbeziehung und bedeuten in einer<br />
Subjektorientierung die inter- und intrasubjektiven Verhältnisse. Damit stellt<br />
sich die zentrale individuelle Herausforderung für die Entwicklung „ethischer<br />
Fähigkeit“ als Reflexion und Revitalisierung des Übergangs zu sich<br />
selbst und - in der Folge - des Übergangs zum Anderen. 79<br />
Im Folgenden werden die intersubjektiven Verhältnisse im Mittelpunkt<br />
stehen; sie sind Teil der äußeren Bedingungen des Subjekts. Grundbestimmung<br />
einer Ethik stellt dieses intersubjektive Verhältnis dar. In der intersubjektiven<br />
Verwiesenheit werden die direkten sozialen Bezüge in ihrem ethischen<br />
Gehalt deutlich. Darauf aufbauend werden die Beziehungen zwischen<br />
den intra- und intersubjektiven Bezügen beleuchtet, welche in besonderem<br />
Maße von den hier skizzierten Befunden einer Postmoderne durchdrungen<br />
sind. Den Abschluss bildet die Zusammenführung der inter- und intrasubjektiven<br />
Perspektive in einer Konzeptuierung von Gemeinschaft.<br />
11.1 Intersubjektive Verwiesenheit - ethische Grundbestimmung<br />
Rendtorff beschreibt die Verwiesenheit als zwingende Folge eines „Gegebensein<br />
des Lebens“, das die Grundsituation der Ethik in ihrer inneren Logik<br />
79 Das Individuum findet sich in einer Sozialität immer schon vor und setzt sich mit<br />
dieser auseinander. Diese Auseinandersetzung setzt notwendigerweise eine Auseinandersetzung<br />
mit sich selbst voraus. Der Weg zu gelingender Sozialität führt also<br />
über die eigene Persönlichkeit, die eigene Individualität, die eigene Identität, so die<br />
hier vertretene Annahme. Dies ist an früherer <strong>St</strong>elle in Bezug auf Identität bereits angesprochen<br />
worden. Vgl. hierzu Abschn. 9.2.3.<br />
199
darstellt. 80 Aus dieser inneren Verfasstheit entwickelt sich in der Konsequenz<br />
die Einsicht, „daß ein gegebenes Leben in seinem Vollzug das Leben anderer<br />
betrifft“ 81, denn keiner lebt aus sich selbst.<br />
Der Ausgangspunkt des Gegebenseins ist theologisch, aber auch phänomenologisch<br />
herleitbar. Die Herleitung verwehrt sich somit einer rein theologischen<br />
Argumentation. 82 Sie folgt der Überzeugung, dass die „Ethik als<br />
Theorie der Lebensführung“ 83 zu verstehen sei. In diesem Sinne dient die<br />
Theorie dazu, den Bezugsrahmen des Lebens in seiner Form und Orientierungsfunktion<br />
zu identifizieren, zu fixieren und zu reflektieren. Die Grundelemente<br />
dieses Bezugsrahmens der ethischen Lebensführung sieht Rendtorff<br />
in dem a) „Gegebensein des Lebens“, b) der „Forderung, Leben zu geben“<br />
und c) in der „Reflexivität des Lebens“. 84 Die Einstellung zum Leben als etwas,<br />
das dem Einzelnen gegeben wurde, differiert von der Überzeugung eines<br />
sich „aktiven Nehmens“ und der Formulierung von Ansprüchen hieraus.<br />
200<br />
„Nicht, was alles überhaupt möglich sein und getan werden könnte, ist das<br />
Thema der Ethik der Lebensführung, sondern das, was in einem gegebenen<br />
Leben verantwortet werden kann. Damit wird keineswegs einer Beschränkung<br />
der ethischen Einbildungskraft das Wort geredet. Vielmehr wird auf<br />
diese Weise zur Geltung gebracht, daß alles Wollen und Sollen durch das Gegebensein<br />
das Lebens vermittelt ist. Erst durch diese Vermittlung erhält es eine<br />
ethische Qualifikation.“ 85<br />
Diese, wenn auch schwer zu fassende Differenzierung führt zu einer Verantwortung<br />
gegenüber dem eigenen Gegebensein. Der Mensch findet sich<br />
selbst immer schon in einer Lebensweltlichkeit vor, er ist sozusagen in das<br />
Leben „hineingeworfen“. Es ist nicht möglich, das eigene Sein vor dessen<br />
tatsächlicher lebensweltlichen Existenz in irgendeiner Weise selbst zu beeinflussen.<br />
Somit bezieht sich alles das, was „gewollt“ und „gesollt“ werden<br />
kann, nicht nur auf sich selbst, sondern von Beginn an auf etwas von sich<br />
80 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Rendtorff, T. (1980): Ethik. Grundelemente, Methodologie<br />
und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. I, <strong>St</strong>uttgart u. a., S. 31ff. Die<br />
Ausführungen müssen in diesem Argumentationskontext stark verkürzt ausfallen.<br />
81 Rendtorff (1980: 45).<br />
82 Die qualitative Differenz zwischen Philosophie und Theologie kann, muss aber nicht<br />
zum Geltungsausschluss des jeweils anderen führen. Der Verweis auf eine phänomenologische<br />
Interpretation sei in dieser Weise verstanden.<br />
83 Rendtorff (1980: 31).<br />
84 Ebenda; Hervorhebungen im Original.<br />
85 Rendtorff (1980: 32; Hervorhebungen durch den Verfasser).
selbst Verschiedenes, Differenzierbares. Diesen Bezug zeichnet das eigene<br />
Leben in seiner Grundverfassung aus. Dies impliziert in einer ethischen<br />
Lebensgestaltung die Offenheit und Akzeptanz, das Gegebensein des Lebens<br />
wahrzunehmen und zu begreifen. 86 Die Konsequenz, mit der diese Implikation<br />
auftritt, begründet in der Verbindung mit der Unendlichkeit des Anderen,<br />
der zwingend zu dem Gegebensein dazugehört, die ethische Qualität in<br />
der „horizontalen Dimension“, im Hier und Jetzt der Lebensgestaltung. Was<br />
in der „Vertikalen“, ob transzendent oder phänomenologisch, die innere Begründung<br />
konstituiert, wird nach außen durch die lebensweltliche Verwiesenheit<br />
auf komplementäre Weise ergänzt. Denn erst in dieser Komplettierung<br />
ergibt sich der konsistente Rahmen eigener Lebensgestaltung in Bezug<br />
auf das eigene und „andere“ Wesen. Das Bindeglied zwischen Innen und<br />
Außen, zwischen der elementaren Voraussetzung und dem sich betätigenden<br />
Leben, benennt Rendtorff mit der Aussage, dass die Gestaltung des<br />
eigenen Lebens in einer ethisch reflektierten Weise das Geben des Lebens des<br />
Anderen bedeutet. Der bereits entwickelte Begriff der „Verwiesenheit“<br />
kommt somit in dem zweiten Grundelement, dem „Leben geben“ zum Ausdruck.<br />
„Das eigene Leben bestimmt und bewirkt in seinem tätigen Vollzug immer<br />
auch Leben für andere. Wir sind und gestalten für andere eine Welt des<br />
Lebens.“ 87<br />
Obwohl das eigene Leben unausweichlich in Beziehung zum Leben anderer<br />
steht, wird es allgemein als grundsätzliche Offenheit und freie Entscheidung<br />
des Einzelnen verstanden, sich zu dieser Beziehung zu verhalten oder auch<br />
nicht. Aus ethischer Perspektive jedoch ist diese Freiheit nur scheinbar. Es<br />
kann niemand vermeiden, sich zu dieser Beziehung zu verhalten. 88 Die Lossagung<br />
von jeglicher Verantwortung überhaupt übersieht die Evidenz dieser<br />
Grundstruktur für das tätige Leben. Eine bewusste Verweigerung von<br />
Verantwortungsübernahme hingegen trägt die Evidenz in sich, drängt aber<br />
86 Zum wiederholten Male wird deutlich, inwiefern der Vollzug ethischer Reflexion von<br />
dem ersten Schritt der unvoreingenommenen, deskriptiven, offenen, sorgfältigen<br />
Wahrnehmung des personalen oder situativen Anderen abhängt.<br />
87 Rendtorff (1980: 45; Hervorhebungen im Original).<br />
88 In dieses Beziehungsgeflecht sind selbstverständlich nicht nur menschliche Wesen<br />
einbezogen, sondern jegliches Leben, sei es menschlicher, tierischer oder pflanzlicher<br />
Natur.<br />
201
auf eine Klärung der Frage der Zuständigkeiten. Diese Zuständigkeitsdebatte<br />
steht mit dem Schlagwort „gesellschaftliche Verantwortung“ neben<br />
anderen Fragen im Mittelpunkt auch wirtschaftsethischer Reflexionen. Es ist<br />
diese Verbindung von deontologischer Begründung und praxeologischem<br />
Bezug, die Prinzipien und Verantwortung in einer Systematik integriert. Dies<br />
beschreibt Ulrich wie folgt:<br />
202<br />
„Auch Verantwortungsethik ist, wenn der Begriff mehr als ein rhetorisches<br />
Symptom für „gesinnungslosen“ Opportunismus sein soll, nur als deontologisch<br />
fundierte, prinzipienorientierte Verantwortungsethik zu haben.“ 89<br />
Das deontologische Moment ist dabei eingebettet in eine begründete Sukzession,<br />
die eine ungefilterte Pflichtenethik vor dem Hintergrund des intersubjektiven<br />
Charakters der Lebensweltlichkeit reflektiert. Der reflektierte Durchgriff<br />
von Grundbedingungen unseres Daseins in das alltägliche Handeln,<br />
diese eingeforderte Konsequenz stellt sich auch für jede Deskription einer<br />
Vernunft-Konzeption. Die Kompetenz, die sich durch die Einsicht in die<br />
Grundstruktur des Lebens und ihrer Folgerungen bildet, die sich durch den<br />
Vollzug der „Reflexivität des Lebens“ 90, das dritte Grundelement ethischer<br />
Lebensführung nach Rendtorff, entwickelt, kann sich ihrerseits nicht aus<br />
ihrer charakteristischen Konstellation lösen: als individuelle Kompetenz<br />
steht sie in der intersubjektiven Verwiesenheit der gesellschaftlichen Gemeinschaft<br />
und stellt somit potentiell auch die Kompetenz des Anderen dar.<br />
Die eigene Erweiterung steht dabei nicht in substitutiver Beziehung zum<br />
Anderen, so dass sich damit dessen Raum, dessen Leben notwendig verengen<br />
würde, sondern kann in ihrer „Bewusstseinserweiterung“ die Freiheit<br />
des Anderen ausweiten. Diese Systematik kann treffend beschrieben werden<br />
durch die „Freiheit der Vergegenwärtigung“. Die Reflexion der eigenen<br />
Bedingtheit, im Sinne einer intersubjektiven Bezogenheit, baut Unsicherheit<br />
ab und Vertrauen auf. 91 In ihrer Orientierungsleistung trägt sie zur Lebens-<br />
89 Ulrich (1998: 74; Hervorhebung im Original).<br />
90 Rendtorff (1980: 62).<br />
91 Analog hierzu ließe sich beispielsweise im Unternehmen die Funktion der „Organisation“<br />
beschreiben. Organisation koordiniert die einzelnen Funktionsbereiche,<br />
stimmt sie aufeinander ab, reduziert damit Reibungsverluste und schafft Freiheit,<br />
denn Routine muss nicht jeden Tag aufs Neue erfunden werden. Vgl. zu der Funktion<br />
von Routine die Ausführungen in Abschn. 2.2.
ewältigung bei und eröffnet neue Möglichkeiten der Gestaltung. 92 Diese<br />
Möglichkeiten eröffnen sich nämlich dann, wenn die „Grundelemente der<br />
ethischen Lebensführung“ 93 gehandhabt, von dem Einzelnen „beherrscht“<br />
werden. Selbst wenn die tatsächliche Lebenswirklichkeit zu permanenten<br />
reflexiven Korrekturen „nötigt“, d. h. der Andere verändert beispielsweise<br />
sein Verhalten, so führt diese Reflexion zu einer „Professionalisierung“ der<br />
Lebensführung, die es erlaubt, über das reine Verhalten hinaus zu gestalten.<br />
Die Gestaltung erfolgt nicht ab einer bestimmten <strong>St</strong>ufe, jedoch, die Gestaltung<br />
entwickelt freie, kommunizierbare Teile, die in die intersubjektive<br />
Aktion, in die Interaktion, in den Diskurs „eingebracht“ werden können. 94<br />
In Bezug auf die Überlegungen zu Voraussetzungen diskursethischer Konzeptionalisierungen<br />
ließe sich somit neben die inhaltliche Überzeugung zur<br />
Wahrnehmung des Anderen die Kompetenz der ethischen Lebensführung<br />
stellen, welche weder von der Überzeugung völlig unabhängig auftritt, noch<br />
eine „intellektuelle Diskriminierung“ fördert. Der Prozess der Einsicht und<br />
die Erlangung von Kompetenz der ethischen Lebensführung basiert gleichermaßen<br />
auf reflexiv-kognitiven und intuitiv-emotionalen Parametern,<br />
wobei zwischen diesen keine qualitative Differenzierung existiert. 95 Die<br />
92 Die „Orientierungsbedürftigkeit des Lebens“ (Rendtorff 1980: 63) tritt im Dialog mit<br />
der „Fülle des Lebens“, mit dem individuellen Möglichkeitsraum auf. Dabei wird<br />
dem Individuum „die Subjektstellung des Menschen in seiner Welt bewußt“ (Rendtorff<br />
1980: 63), in seinem Kontingenz-, aber auch Potentialcharakter. In dieser<br />
„Spange“, in der das Subjekt Objekt seiner eigenen Beobachtung ist, gilt es sich zu lokalisieren,<br />
zu orientieren, was sich vornehmlich in der „Sprachlichkeit des Lebens“<br />
ausdrückt (Rendtorff 1980: 63; Hervorhebung im Original). In dieser Form kann sich<br />
Reflexivität artikulieren und gleichsam vermitteln. Dies verdeutlicht sich in der Diskursethik.<br />
Folgt man Rendtorff, so impliziert die Freiheit des Einzelnen die „Abhängigkeit<br />
von Kommunikation“ (Rendtorff 1980: 64; Hervorhebungen im Original). Damit<br />
kann der Einzelne in der Kommunikation seinen individuellen Möglichkeitsraum erweitern,<br />
seine „Dispositionsmöglichkeiten“ (Rendtorff 1980: 64) transzendieren.<br />
93 Rendtorff (1980: 31).<br />
94 Diese „frei kommunizierbaren Teile“ können auch als Zeichen einer „Kommunikationsfähigkeit“<br />
(Rendtorff 1980: 64; Hervorhebung im Original) bezeichnet werden, die<br />
als Teil der Reflexivität des Lebens und der Lebensführung hilft, diese in das direkte<br />
Verhältnis zu anderen Lebensentwürfen zu stellen und damit einen „sozialen<br />
Abgleich“ zu ermöglichen.<br />
95 Dies bedeutet, dass das „Mischungsverhältnis“ der Determinanten des Generierungsprozesses<br />
beliebig ausfallen kann. Ferner kann sich die Konzeption von Kompetenz<br />
nur als graduelle Konzeption verstehen, die nicht zwischen „Kompetenz“ und<br />
„Nicht-Kompetenz“, sondern zwischen „mehr“ und „weniger“ unterscheidet.<br />
203
Komplementarität aus prinzipieller und okkasioneller Rationalität stellt sich<br />
in die Systematik einer Ethik der Postmoderne. 96<br />
11.2 Übergang zum Selbst - zum Anderen<br />
Der Befund der Entgrenzung thematisiert die Möglichkeiten eines „Für-sichseins“<br />
des Einzelnen. 97 Aufgrund der Proliferation ökonomisch-systemischer<br />
Koordination in die lebensweltlichen Bezüge hinein entwickelt sich diese<br />
Selbstkontrolle zu einer lebensweltlichen Autonomie gegenüber dem System.<br />
Die eigenen Grenzen, in denen eine Identitätserfahrung trotz defizitärer<br />
Materie (fraktale Sinnstruktur) zu konstruieren versucht wird, müssen sich<br />
nach außen profilieren, obwohl die innere Referenz nicht hergestellt werden<br />
kann. Die Möglichkeit des „Für-andere-seins“ wird hier nicht nur von innen<br />
ausgehöhlt, sondern zudem von außen aufgebrochen. Wenn die äußere Referenz<br />
stabile Bezüge aufweisen würde, dann ließe sich die innere Erosion<br />
kompensieren. Zwar treten neue Bezüge hinzu (globale Kommunikation),<br />
jedoch weisen sie in ihrer Charakteristik qualitative Differenzen - und wenn<br />
man will: Defizite - auf, treten sie den Vergleich zu den herkömmlichen<br />
Bezügen (regionale bzw. lokale Kommunikation) an. Die neuen kommunikativen<br />
Möglichkeiten können diese nur zum Teil kompensieren. Die Entgrenzung<br />
kann somit dazu führen, dass eine zentrale Bestimmung moralischen<br />
Handelns, die gelingende Selbstkontrolle, vereinnahmt und instrumentalisiert<br />
wird und damit nicht mehr im Dienst des Einzelnen steht. Da<br />
zudem der innere Kern seinerseits erodiert, findet sich kein wirksamer<br />
Parameter einer Selbstbestimmung.<br />
In Bezug auf die soziale gemeinschaftliche Ebene bedeutet dies, dass ohne<br />
eine individuelle Selbstreflexion das Einlassen auf eine gemeinsame, soziale<br />
Reflexion, die die Beziehung zum Anderen zum Gegenstand hat, unwahr-<br />
96 Vgl. hierzu die Spinnersche „Doppel-Vernunft“ bspw. die „Fallstudien“ bei Spinner,<br />
H.F. (1994): Der ganze Rationalismus einer Welt von Gegensätzen: Fallstudien zur<br />
Doppelvernunft, Frankfurt. Die Komplementarität von prinzipieller und okkasioneller<br />
Vernunft zeichnet sich implizit in den hier behandelten Begriffspaaren ab. In<br />
diesem Sinne ist der Übergang in der transversalen Konzeption bei Welsch Programm,<br />
aber auch Konsequenz der Konzeption. System-Lebenswelt, Symmetrie-<br />
Asymmetrie, Dynamik-Routine stehen in inhaltlicher Nähe zu der Spinnerschen Konzeption.<br />
97 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Tugendhat, E. (1979): Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung:<br />
Sprachanalytische Interpretation, Frankfurt.<br />
204
scheinlich scheint. Der Übergang zum anderen Individuum, die interindividuelle<br />
bzw. intersubjektive Transversalität, setzt die intraindividuelle Transversalität,<br />
den intraindividuellen Übergang voraus98, den Übergang zum<br />
Anderen in einem Selbst. 99 Mag dieses Andere Spiegelbild des nicht-eigenen<br />
Anderen sein oder mehr ein dialektisches Spiegelbild des Eigenen darstellen,<br />
so besitzt doch die Auseinandersetzung mit diesem inneren Anderen eine<br />
über die reine Symbolik hinausreichende, soziale und auch ethische Bedeutung.<br />
Diese innere Spiegelung ist dabei aber weder notwendige noch hinreichende<br />
Bedingung moralischen Handelns. Das bedeutet zum einen, dass<br />
auch ohne die gelingende innere Kontrolle moralisches Handelns möglich ist<br />
und zum anderen, dass eine gelingende innere Kontrolle, ein wirkliches<br />
„Für-sich-sein“ nicht notwendigerweise zu moralischem Handeln führen<br />
muss. Hier wird jedoch die These vertreten, dass gelingendem „Für-sichsein“<br />
konstitutive Bedeutung in Bezug auf moralisches Handeln zukommt. 100<br />
Diese Bedeutung wächst dem „Für-sich-sein“ direkt und in ihrer Rückkoppelung<br />
zu:<br />
� Einerseits generiert die „Selbstbeherrschung“ die Selbst-Akzeptanz bzw.<br />
Selbstachtung, die Annahme des eigenen Selbst, aus der heraus die An-<br />
98 Auf die intraindividuelle Transversalität nach Welsch (1996: 829ff.) wurde bereits<br />
eingegangen. Vgl. hierzu Abschn. 9.2.3.<br />
99 Dieser Ausdruck lehnt sich an Ricoeur, P. (1996): Das Selbst als ein Anderer, München,<br />
an. Ricoeur bezeichnet eine „ethische Ausrichtung“ als eine „Ausrichtung auf das<br />
„gute Leben“ mit Anderen (autrui) und für sie in gerechten Institutionen“ (Ricoeur 1996:<br />
210; Hervorhebungen im Original). Diese Definition kann als konsequente Fortführung<br />
einer Vernunft des Übergangs (Welsch) gewertet werden; sie schreibt die<br />
Einsicht in die Notwendigkeit des Übergangs auf der intersubjektiven Ebene normativ<br />
fort.<br />
100 Die folgende Beherrschung des Selbst bedeutet in dem Sinne keine zusätzliche Kontrolle,<br />
sondern eine zusätzliche Befreiung, die den Einzelnen befreit von äußerem<br />
Zwang. Im Kontext der Ökonomie ist dies der ökonomische Sachzwang. In Anlehnung<br />
an Marcuse beschreibt Habermas zweckrationales Handeln „seiner <strong>St</strong>ruktur<br />
nach als Ausübung von Kontrolle“ (Habermas, J. (1970): Technik und Wissenschaft<br />
als ‚Ideologie‘, 4. Aufl., Frankfurt, S. 49ff.). Die Technik als Medium der Zweckrationalität<br />
steht bei Marcuse im Mittelpunkt des Beherrschungsverhältnisses: „Nicht erst<br />
die Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und über<br />
den Menschen), methodische, wissenschaftliche, berechnete und berechnende Herrschaft.<br />
Bestimmte Zwecke und Interessen der Herrschaft sind nicht erst ‚nachträglich‘<br />
und von außen der Technik oktroyiert – sie gehen schon in die Konstruktion des<br />
technischen Apparates selbst ein; die Technik ist jeweils ein geschichtlich-gesellschaftliches<br />
Projekt; in ihr ist projektiert, was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden<br />
Interessen mit den Menschen und den Dingen zu machen gedenken.“ (Marcuse,<br />
H. (1965): Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, in: Kultur<br />
und Gesellschaft II, Frankfurt, S. 46).<br />
205
nahme und Akzeptanz des Anderen erwachsen kann. Die Erfahrung der<br />
Selbstachtung ermöglicht die Weitergabe dieser Erfahrung. Dies bezieht sich<br />
zum einen auf die Akzeptanz des Anderen und zum anderen auf die Weitergabe<br />
der Selbstachtung. 101<br />
� Andererseits wird die „Selbstbeherrschung“ durch die Erfahrung der<br />
Akzeptanz durch Andere generiert. Konstitutiver Teil des Für-sich-seins ist<br />
die äußere, die soziale Akzeptanz. Auf diese Weise, in einer Rückkoppelungsschleife,<br />
rekonstruiert und rekonstituiert sich die Akzeptanz des Anderen<br />
durch die Erfahrung der Akzeptanz seiner selbst. Man lässt dem Anderen<br />
das zukommen, was man selbst erfahren hat.<br />
Diese Bedeutung des intraindividuellen Übergangs für den ethischen Vollzug<br />
in der Intersubjektivität zeigt die ethische Relevanz der bisher dokumentierten<br />
und interpretierten Befunde. Diese Befunde nämlich stellten im<br />
Wesentlichen eine intraindividuelle Herausforderung dar. Es soll nun im<br />
Folgenden versucht werden aufzuzeigen, wie sich das intersubjektive Verhältnis<br />
in der aktuellen Situation darstellt. Die zentrale intersubjektive<br />
Herausforderung, die immanent-komplementär mit den intraindividuellen<br />
Herausforderungen verwoben ist, stellt sich in der Einsicht dar, die Akzeptanz<br />
des Anderen von einer symmetrischen <strong>St</strong>ruktur zu lösen. Diese Relativierung<br />
der Notwendigkeit von Symmetrie lässt sich nach Honneth als das<br />
Andere der Gerechtigkeit bezeichnen.<br />
Die universalistische Idee der Gleichbehandlung, die bisher die Moderne<br />
geprägt hat, erweitert sich in der Folgezeit um den Gedanken der Solidarität.<br />
Dieser Gedanke scheint sich jedoch nicht auf der gleichen universalistischen<br />
101 So bspw. auch Honneth, A. (2000a): Das Andere der Gerechtigkeit: Aufsätze zur<br />
praktischen Philosophie, Frankfurt, S. 182ff. Dieser referiert die unterschiedlichen<br />
Aspekte der Selbstbeziehung. Mit Selbstbeziehung ist „stets das Bewußtsein oder das<br />
Gefühl gemeint, das eine Person von sich selber in Hinblick darauf besitzt, welche<br />
Fähigkeiten und Rechte ihr zukommen“ (Honneth 2000a: 182). Die einzelnen Formen<br />
kommen in den folgenden Begriffen zum Ausdruck: „Selbstvertrauen“ (nach Erikson,<br />
E.H. (1980): Identity and Lifecycle, New York) bezeichnet die „Sicherheit über den<br />
Wert der eigenen Bedürftigkeit“ (Honneth 2000a: 182), „Selbstachtung“ oder<br />
„Selbstrespekt“ (nach Dillon, R.S. [Hrsg.] (1995): Dignity, Character and Self-Respect,<br />
New York/London) eine „Art von Sicherheit über den Wert der eigenen Urteilsbildung“<br />
(Honneth 2000a: 183) und schließlich das „Selbstwertgefühl“ (Tugendhat, E.<br />
(1993): Vorlesungen über Ethik, Frankfurt, S. 57f.), das eine „Art von Sicherheit über<br />
den Wert der eigenen Fähigkeiten“ (Honneth 2000a: 183) vermittelt. Auch Honneth<br />
zeigt die zentrale Rolle der Selbstbeziehung im Kontext von „Anerkennung“ (des<br />
Anderen) auf.<br />
206
Geltungsebene zu etablieren, da ihm in seiner Voraussetzung „etwas<br />
abstrakt Utopisches“ 102 innewohnt. Vielmehr vermag es dem moralischen<br />
Prinzip der Fürsorge in seiner Einseitigkeit ein Komplement zur Seite zu<br />
stellen, das eine Anbindung an die moderne Auffassung der Gleichbehandlung<br />
sucht. Die Gleichbehandlung als Prinzip kann in diesem Sinne nur aufgehen,<br />
wenn auch die Objekte der „Behandlung“ den gleichen <strong>St</strong>atus aufweisen.<br />
Jenseits der Habermasschen Gleichberechtigung in der kommunikativen<br />
Gemeinschaft ist eine relationale Form der Gleichbehandlung ein Ansatz,<br />
der der postmodernen Pluralität im Ansatz Rechnung zu tragen versucht.<br />
Die einheitlichen Vorstellungen der Moderne verlassend, entwickelt<br />
sich somit eine Handhabungsform, die zwar dem Gerechtigkeitscharakter<br />
der Gleichbehandlung folgt, dies jedoch von einer der Moderne differenten<br />
Rezeption des Gegenüber entwickelt. Sofern von einer aktiven Rezeption des<br />
Gegenüber in der Moderne aus postmoderner Sicht überhaupt gesprochen<br />
werden kann, ist die Pluralitäts- und Heterogenitätserfahrung für die Redefinition<br />
des Gleichheitsgrundsatzes konstitutiv. Während die Moderne eher<br />
dem Grundsatz gefolgt ist, dass einem jeden von uns die gleiche Behandlung<br />
zusteht, obgleich wir mit unterschiedlichen Ausstattungen und Profilen auftreten,<br />
so wäre die postmoderne Rekonstruktion eine Befürwortung der<br />
Gleichbehandlung, gerade weil wir unterschiedlich sind. Diese Differenz<br />
ließe sich als aktive oder bewusste Toleranz bezeichnen, wohingegen die<br />
Moderne eher von einer geduldeten Toleranz getragen war. Die Duldung<br />
(bzw. die Nicht-Duldung!) geschah aus der rationalen Vernunft heraus, aus<br />
der Einheitsorientierung, in der das Einzelne dem Gesamtziel untergeordnet<br />
war - ihr fehlte das okkasionell-affektive Moment. 103 Die ethisch-postmoderne<br />
Wende läge in der Transformation der rationalen Vernunft in die<br />
innere Überzeugung einer ethischen Norm.<br />
102 Honneth (2000a: 169).<br />
103 Vgl. zu diesem Moment insbesondere Spinner, H.F. (1982): Ist der kritische Rationalismus<br />
am Ende?: Auf der Suche nach den verlorenen Maßstäben des Kritischen Rationalismus<br />
für eine offene Sozialphilosophie und kritische Sozialwissenschaft, Weinheim/Basel,<br />
S. 86ff., Spinner (1994) und Lyotard, J.-F. (1998): Postmoderne Moralitäten,<br />
Wien. Habermas kritisiert das affektive Moment, sofern es emotiv-affektive Dimension<br />
annimmt. Es besteht die Gefahr eines affektgestützten Partikularismus, der die<br />
Grundlage der Wahrheitssuche, die Suche nach den Gründen verzerren könnte. Vgl.<br />
hierzu Habermas, J. (1991): Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt, S. 58ff.<br />
207
Dieses Moment der Aktivität ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der „Aktivitätsorientierung<br />
der neuzeitlichen Moral“ 104. Im Gegenteil: die aktive Toleranz<br />
geschieht, in Anlehnung an White, in einer differenzierten und differenzierenden<br />
Distanz. White bezieht sich seinerseits auf Denkansätze, die er<br />
bei Nietzsche, Heidegger und Adorno findet. 105 Ob es die Heideggersche<br />
„Gelassenheit“ oder die „mimetische Reaktion“ bei Adorno ist - die Aussagen<br />
beschreiben eine ähnliche Überzeugung: Das Handlungssubjekt ist in<br />
seiner Fähigkeit der Wahrnehmung anderer Subjekte und deren Einstellungen<br />
eingeschränkt, sofern ein wie auch immer gearteter Druck für den Handelnden<br />
existiert. 106 Der Andere wird nicht mehr als „bloßes Objekt der moralischen<br />
Pflichterfüllung“ 107 wahrgenommen, sondern in seiner individuellen<br />
charakterlichen und charakteristischen Differenzierung erfasst. 108 Es<br />
scheint die Einsicht in die Notwendigkeit der Öffnung und Sorgfalt in der<br />
Rezeption des Anderen verloren gegangen zu sein. Wie bereits angedeutet,<br />
ist dies zumindest zu einem gewichtigen Teil auf den Zielpunkt der Moderne<br />
zurückzuführen, der in der Einheit als Selbstzweck gesehen werden kann.<br />
104 Honneth (2000a: 144f.).<br />
105 Vgl. hierzu White (1991: 21f.).<br />
106 Vgl. hierzu auch die Rezeption bei Habermas (1998: 210ff.) und bei Wellmer (1985).<br />
107 Honneth (2000a: 145).<br />
108 Auch die Diskursethik nimmt diesen Aspekt des „sich Entledigen von Handlungsdruck“<br />
auf. Apel und Habermas beschreiben in den <strong>St</strong>udien zur Diskursethik, dass<br />
diese zeitweilige Distanzierung von Handlungszwang zu einer effektiveren Umsetzung<br />
des diskursethischen Ideals beiträgt. Der ursprünglichen diskursethischen Intention,<br />
den Kantischen Ansatz intersubjektiv zu ergänzen, wird somit nicht nur in<br />
der Form, sondern auch im Wesen Rechnung getragen. Vgl. hierzu Habermas (1981a:<br />
437f.) und Apel, K.-O. [Hrsg.] (1976): Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt. In<br />
ähnlicher Form beschreibt dies auch Kirsch in seiner Kommunikationsanalyse für den<br />
ökonomischen Kontext. Vgl. hierzu Kirsch (1992: 82ff.) und Kirsch, W. (1996): Wegweiser<br />
zur Konstruktion einer evolutionären Theorie der strategischen Führung: Kapitel<br />
eines Theorieprojektes, Herrsching, S. 389ff. Hier wird eine solche Situation als<br />
„handlungsentlasteter Interaktionszusammenhang“ bezeichnet. Dabei wird der Andere<br />
jenseits seiner hierarchischen Position und der sich hieraus ergebenden Rolle<br />
wahrgenommen. Aus wirtschaftsethischer Perspektive ergibt sich eine über die ökonomische<br />
Rationalität hinausreichende Analyse: Mit dieser Identifikation eines<br />
handlungsentlasteten Interaktionszusammenhangs eng verbunden ist der Bezugsrahmen<br />
der Wirtschaftssubjekte. Dieser konstituiert sich aus der ökonomischen Rationalität<br />
heraus und schafft eine Kultur des Handelns, die auf ökonomische Ziele<br />
ausgerichtet ist. Der durch den systemischen Kontext (Markt) erzeugte Sachzwangcharakter<br />
dieser Kultur generiert einen permanenten Druck zur Handlungsaktivität,<br />
die „Überleben“ sichert, so die ökonomistische Sichtweise. Außerhalb dieses Handlungsdrucks,<br />
im so genannten „Kamingespräch“, ist eine völlig unterschiedliche<br />
Kommunikation möglich, die jenseits der ansonsten funktional-instrumentellen intersubjektiven<br />
Verbindung stattfindet.<br />
208
Die „geduldete Toleranz“ hatte hierbei Alibi-Funktion, da eine „aktive Toleranz“<br />
des Anderen in ihrem offenen Charakter nach Auffassung der Moderne<br />
nicht zielführend gewesen wäre. Dies führt zu einem der zentralen<br />
Differenzierungskriterien zwischen Moderne und Postmoderne: Es ist diese<br />
Ergebnisoffenheit, die es der Postmoderne erlaubt, sich eine detailliertere<br />
Wahrnehmung des Anderen zu „leisten“. Wie bereits angedeutet, ist dies<br />
nicht zuletzt eine aus der historischen Erfahrung heraus entstandene Überzeugung.<br />
Die postmoderne Gestaltung der Intersubjektivität zeichnet sich<br />
durch ihren Forumscharakter aus. Die Metapher des „Forums“ findet sich als<br />
komplementärer Gegenpol zu der Metapher des „Faktors“ wieder. Beide<br />
Formen besitzen in ihrem Wesen einen legitimen Anspruch. Das Forum<br />
zeichnet sich durch eine Orientierung an der „idealen Sprechsituation“ aus,<br />
wie sie Habermas (1981) beschrieben hat. In ihr herrschen Prinzipien wie<br />
Akzeptanz, Gleichheit und Gleichberechtigung unter den Aktoren der<br />
Kommunikation. Maßgeblich aber scheint die prinzipielle Ergebnisoffenheit<br />
zu sein, die die diskursiven Beiträge in ihrer inhaltlichen (Meinung) und<br />
formalen (Person) Bedeutung für den Gesamtverlauf der Diskussion gleichberechtigt<br />
berücksichtigt. Der „Faktor“ bezieht seine Legitimation aus der<br />
Notwendigkeit von Konsensorientierung, um als kollektiver Akteur im gesellschaftlichen<br />
Diskurs einen möglichst homogenen Beitrag leisten zu können.<br />
Dieses vielleicht modern, da vereinheitlichend anmutende Element ist<br />
aufgrund seiner zur Moderne differenten Intention von dieser abzuheben. Im<br />
Vordergrund steht nicht wie in der Moderne die Einheit als Selbstzweck, als<br />
per se Legitimes, sondern die Legitimität durch die praxeologische Konse-<br />
quenz. 109<br />
109 Der kollektive Akteur „Diskurs-Gruppe“ beispielsweise ist nicht in diesem Sinne gesellschaftlich<br />
relevant, wenn keine Beiträge zu der gesamtgesellschaftlichen Diskussion<br />
zu erwarten sind. Ihre Bedeutung für den Einzelnen mag sie gewiss haben, jedoch<br />
verlangt die Komplexität des Kommunikationsraumes „Gesellschaft“ nach „akkumulierten“<br />
individuellen Meinungen. Die parlamentarische Demokratie versucht<br />
dieser Tatsache mit ihrem Parteiensystem Rechnung zu tragen. Die Wahrnehmung<br />
des Einzelnen in seiner Einstellung kann also auf gesellschaftlicher Ebene nur in der<br />
organisierten Form (Partikularismus) wahrgenommen werden. Dies legitimiert die<br />
Faktor-Dimension eines kollektiven Akteurs, der zu einer erhöhten Sensibilisierung<br />
für die Andersartigkeit des Anderen beiträgt. Rorty beschreibt diese Sensibilität als<br />
„ästhetische Sensibilität“ und schreibt ihr die Rolle zu, Motor moralischen Fortschritts<br />
zu sein. Vgl. hierzu Rorty, R. (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt;<br />
Habermas, J. (1999): Die Einbeziehung des Anderen: <strong>St</strong>udien zur politischen Theorie,<br />
Frankfurt.<br />
209
Somit liegt in dem postmodernen Forum der Schwerpunkt auf der Wahrnehmung<br />
der Vielfalt, der pluralen <strong>St</strong>ruktur. Die Moderne steht dieser pluralistischen<br />
Einstellung kritisch gegenüber, da sich durch die plurale Prozesspartizipation<br />
die Prozess- wie auch die Ergebnispromotion im Vergleich<br />
zur Methodik der Moderne diffiziler gestaltet. 110 Aus dieser Perspektive sind<br />
die postmodernen Bemühungen zwar von der Intention her zu legitimieren,<br />
jedoch scheitern sie an dem „Realitäts-Check“. Die Bewährung in der tatsächlichen<br />
Praxis individueller Lebensführung und insbesondere gesellschaftlicher<br />
Lebensweltgestaltung stellt sich aus dieser Perspektive als zentrales<br />
modernes Kriterium dar, an dem sich die Postmoderne messen lassen<br />
muss. Ohne sich auf dieses Kriterium festlegen zu lassen, reagiert die Postmoderne<br />
mit dem Hinweis, dass es grundsätzlich keine Alternative zu der<br />
angestrebten Auflösung moderner Vereinheitlichungen geben kann. Insofern<br />
ist eine Wahrnehmung des Anderen in seiner Andersartigkeit notwendige<br />
Bedingung einer Fortentwicklung. Wie beschrieben, wird das Drängen auf<br />
eine Formulierung auch der hinreichenden Bedingungen stärker. Diese hinreichenden<br />
Bedingungen würden die Aspekte der Prozess- und Ergebnispromotion<br />
berücksichtigen. In dieser neueren Intention sind auch die Bemühungen<br />
um eine postmoderne Ethik zu verstehen. 111<br />
White sieht den Kern einer postmodernen Ethik in dem Erlernen derjenigen<br />
Fähigkeiten begründet, die dazu beitragen, dass zum einen das Heterogene<br />
wahrgenommen und akzeptiert und zum anderen zu dessen Schutz beigetragen<br />
wird. Im Kontext von Ethik und dem intersubjektiven Bezug werden<br />
diese Fähigkeiten als „Tugenden“ bezeichnet und somit die „Idee einer<br />
postmodernen Ethik in Form der Ausarbeitung einer Tugendlehre entfaltet“<br />
112. Honneth identifiziert im Ansatz von White zudem einen komplementären<br />
Charakter in Bezug auf an Kant angelehnte Konzeptionen:<br />
210<br />
„Von hier aus ist nun aber unschwer zu durchschauen, daß die von White<br />
umrissene Ethik nicht eigentlich in einem Gegensatz, sondern in einem Ergänzungsverhältnis<br />
zu jener Moraltheorie steht, die die Intentionen Kants<br />
unter intersubjektivitätstheoretischen Prämissen fortzusetzen versucht.“ 113<br />
110 Vgl. die Ausführungen zu Prozess- und Ergebnispromotion in Entscheidungsprozessen<br />
bei Kirsch (1994: 234ff.).<br />
111 Parallel hierzu ist bereits in Abschn. 5 die wissenschaftstheoretische Diskussion skizziert<br />
worden, in der von einer „Moderne mit postmodernen Mitteln“ gesprochen<br />
wurde.<br />
112 Honneth (2000a: 146).<br />
113 Honneth (2000a: 147).
Somit wird zusätzlich zu dem Sensibilitätsvorhaben die Perspektive einer<br />
überdauernden Veränderung der individuellen Einstellungen zueinander<br />
deutlich. Der kontinuierliche Prozess der Einsicht trägt irreversiblen Charakter;<br />
er führt in der idealen Konsequenz über die individuelle Veränderung<br />
zu einem nachhaltigen Wandel des Miteinanders.<br />
Die von White identifizierten notwendigen Einstellungen („Tugenden“) des<br />
Individuums weisen in ihrer Gesamtheit einen Charakter auf, den White<br />
selbst auch mit dem Begriff der „Fürsorge“ vergleicht. 114 Es bleibt in der<br />
Betrachtung dieser Argumentation zu analysieren, in welcher Art und Weise<br />
die Gleichbehandlung der Moderne eine Modifikation erfährt. Die „Fürsorge“<br />
allein scheint hierfür eine nicht ausreichend ausgewogene Konzeption<br />
darzustellen.<br />
Zunächst einmal ist das Verhältnis zur Diskursethik zu skizzieren. Der<br />
moralische Diskurs in der „idealen Sprechsituation“ scheint nicht voraussetzungsfrei<br />
zu sein. Die Motivation eines jeden Akteurs, der beabsichtigt, sich<br />
in diese Situation zu begeben, konstituiert sich im idealen Fall aus der Überzeugung<br />
der Legitimität der diskursethischen Methode. Diese Legitimität<br />
gründet sich jedoch ihrerseits wieder auf moralische Überzeugungen, die<br />
bereits mit dem universalistischen Gleichheitsprinzip der Moderne und<br />
seiner Weiterentwicklung in der Postmoderne beschrieben wurden. Insofern<br />
hat die individuelle Überzeugung des am moralischen Diskurs Teilnehmenden<br />
auch auf diese Inhalte zu reflektieren. In dieser Annahme der Voraussetzung<br />
der Diskursethik ist das bindende Glied zwischen dem Ansatz von<br />
White und der Diskursethik zu identifizieren. Während die Diskursethik<br />
tendenziell eher auf die Methode fokussiert, beschreibt White die individuellen<br />
Einstellungen, die sich aus dem Kontext der Postmoderne ergeben und<br />
die Einsicht in die Notwendigkeit der Wahrnehmung des Anderen beinhalten,<br />
und ergänzt auf diese Weise, wie auch die hier entwickelte Konzeption,<br />
das diskursethische Programm im Bereich der Voraussetzungen.<br />
White selbst bezieht eindeutig <strong>St</strong>ellung gegen die Habermassche Position<br />
bzw. auch gegen die Behauptung der Moderne, alles in sich abbilden zu<br />
können, und beschreibt dies, teilweise ein wenig polemisch, durch das Erzählen<br />
einer Anekdote:<br />
114 Vgl. hierzu White (1991: 99f.).<br />
211
212<br />
„This point [the belief of the modernists, that the problem of otherness can be<br />
adequately settled within their frameworks; T.B.] came most clearly to me<br />
when I presented a paper on this topic and a staunch Habermasian brushed<br />
my concerns aside with the claim that we could have a virtual, „advocatory<br />
discourses“ in which we represent those others who cannot in some sense<br />
effectively speak for themselves: the insane, children, past generations, future<br />
generations, those who have no sense of political efficacy, and so on. My<br />
answer is that one must certainly try to do this, but in doing it, we must carry<br />
a deeply tragic sense of the inevitable seriousness with which one takes the<br />
responsibility to otherness, one will always be susceptible to a subtle and<br />
blinding overconfidence. The declaration that the problem of otherness is<br />
solved by the use of the mechanism of virtual, advocatory discourses is<br />
perhaps something like a twentieth-century version of Britain’s eighteenthcentury<br />
assertion to the American colonists that they should be satisfied with<br />
virtual representation in Parliament.“ 115<br />
White führt weiter aus, dass er in diesem Zusammenhang zwei Arten der<br />
Rezeption von Sprache unterscheidet. Die eine ist die Interpretation, dass<br />
Sprache Handlungen koordiniert (action-coordinating), die andere sieht<br />
Sprache in ihrem Charakter, den Blick auf die Welt freizugeben (worlddisclosing).<br />
116 Wenn man die postmoderne Position mit der zweiten Art in<br />
Verbindung bringt, die auch an Derrida erinnert, so kommt zum Ausdruck,<br />
für welche Dimension die Postmoderne sich stark macht. 117<br />
Auch wenn der Diskurs als Vollzugsform hier keine explizite Auseinandersetzung<br />
erfährt, so bedeutet dies nicht, dass die hier vorgestellte Position<br />
nicht mit den diskursethischen Positionen kompatibel ist. Die Kompatibilität<br />
kommt in der Einsicht in die Notwendigkeit der spezifischen Wahrnehmung<br />
des Anderen zum Ausdruck. Jedoch beschreiben die Wahrnehmung, also die<br />
Einstellung zum Anderen und die tatsächliche Umsetzung dieser Beobachtungsergebnisse<br />
in der Kommunikation unterschiedliche Prozessstufen.<br />
In diesem Sinne fokussiert die hier entwickelte Position die Einstellung zum<br />
Anderen und bewegt sich damit auf der diskursethischen Voraussetzungsebene.<br />
Als Ausdifferenzierung der Voraussetzung ist sie mit der Diskursethik<br />
immanent verbunden.<br />
Auf dieser „Vorstufe“ des Diskurses greift Honneth auf das allgemein rezipierte<br />
Modell der Rollenübernahme von Mead zurück, das in der postmo-<br />
115 White (1991: 22; Fußnote 18).<br />
116 Vgl. White (1991: 22ff.).<br />
117 Die Kritik von White und die dahinter stehende postmoderne Position hat implizit<br />
auch Einzug in die hier entwickelte Konzeption gefunden.
dernen Sensibilisierung für die Wahrnehmung des Anderen kennzeichnend<br />
geworden ist. 118 In der moralischen Konnotation erscheint die Übernahme<br />
der Rolle des Anderen, um zu einem ausgewogeneren Bild der kommunikativen<br />
Situation zu gelangen, nicht nur als kognitiver, sondern auch als affektiver<br />
Vorgang rekonstruierbar. Die Diskursethik stützt sich überwiegend auf<br />
die kognitive Dimension der wechselseitigen Verständigung mit der Begründung,<br />
den Diskurs nicht von subjektiv affektiven Emotionen abhängig<br />
zu machen. Jedoch ist diese affektive Einstellung der Diskursteilnehmer<br />
nicht nur personenbezogen und bipolar zu verstehen. 119 Sie kann sich genauso<br />
gut auf der „Vorstufe“ der diskursiven Voraussetzungen entwickeln,<br />
auf der die eigentlichen Diskursteilnehmer noch nicht bekannt sind und somit<br />
auch keine individuell personenbezogene Affektion möglich wäre. Der<br />
Charakter der Affektion erhält auf diese Weise einen überindividuellen Inhaltsbezug,<br />
der die Subjektabhängigkeit zumindest auf der Seite des Gegenübers<br />
relativiert. 120<br />
Dies ließe sich in Anlehnung an die hier entfaltete Argumentation als die<br />
Einsicht in die überindividuelle Notwendigkeit der Wahrnehmung des Anderen<br />
beschreiben und stellt auf diese Weise den prinzipiellen Charakter dieser<br />
Art der Affektion heraus. Habermas ist zwar dieser Ebene der Affektion<br />
im Kontext des Diskurses nicht sehr nahe, doch erwähnt er zumindest, „daß<br />
eine universalistische Moral der „Übereinstimmung“ mit postkonventionellen<br />
Bewußtseinsformen bedarf“ 121. Honneth sieht hierin eine Anlehnung der<br />
empirischen Position von Habermas an die normative Deutung, wie sie<br />
White vornimmt, und resümiert:<br />
„(...) was jener [White; T.B.] im Rückgriff auf Heidegger als Fähigkeit zur Vergegenwärtigung<br />
individueller Besonderheiten beschrieben hat, ist ein zentrales<br />
Element der kommunikativen Tugenden, die hier als personale Voraussetzungen<br />
von moralischen Diskursen in Anschlag gebracht werden können.“ 122<br />
118 Vgl. die Ausführungen bei Ulrich (1998: 79ff.). Vgl. hierzu auch Mead, G.H. (1973):<br />
Geist, Identität und Gesellschaft (Chicago 1934), Frankfurt.<br />
119 Dies soll bedeuten, dass eine affektive Einstellung zum einen nicht nur zwischen zwei<br />
Personen entstehen kann, sondern auch zu einer Überzeugung, zu einer „Sache“ entwickelt<br />
werden kann und zum anderen, dass sich die Affektion auf mehrere Personen<br />
in ihrer Bedeutung als Gruppe beziehen kann. Endpunkt wäre im Letzteren die gemeinschaftliche<br />
Gesellschaft - letztlich auch über die nationalen Grenzen hinaus.<br />
120 Dass diese personengebundene Dimension an späterer <strong>St</strong>elle wieder aufgenommen<br />
wird, steht zu dieser Annahme auf der Voraussetzungsebene nicht im Widerspruch.<br />
121 Habermas (1991: 25; Hervorhebungen im Original, zitiert nach Honneth 2000a: 153).<br />
122 Honneth (2000a: 153).<br />
213
Bislang bewegen sich die Argumentationen in der mehr oder minder stringenten<br />
Fortführung der Kantischen Moralphilosophie und dem Gleichheitsprinzip<br />
der Moderne. Angeklungen sind aber bereits die „ästhetische Sensibilität“<br />
(Rorty), die „Fürsorge“ (White) oder der „stumme Widerstreit“<br />
(Honneth in Bezug auf Lyotard), welche scheinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz<br />
harmonieren. Bei einer näheren Betrachtung jedoch fällt auf, dass<br />
insbesondere im Begriff der „Fürsorge“ eine Asymmetrie impliziert ist, die<br />
mit der gerechten Gleichbehandlung der Moderne nicht vollständig in Einklang<br />
zu bringen ist. Wie Honneth ausführt, ist es Derrida, der seinerseits in<br />
Bezug auf Lévinas den bisherigen Erkenntnissen und Fortführungen von<br />
Kant eine qualitativ neuartige, weil die Moderne transzendierende Erkenntnis<br />
hinzufügen kann. Im Anschluss an einen Kernpunkt seiner Forschung,<br />
der „individuellen Besonderheit“, entwickelt Derrida die umfassende Wahrnehmung<br />
des Anderen im Gegensatz zu dem Gleichheitsprinzip der Moderne:<br />
214<br />
„Im Unterschied zu White sieht er [Derrida; T.B.] diese kritische Einsatzstelle<br />
aber nicht dort angelegt, wo in der philosophischen Tradition seit Kant die<br />
moralische Perspektive der Gerechtigkeit ihren Platz hat; seine These ist vielmehr,<br />
daß dem individuellen Subjekt in seiner Differenz zu allen anderen nur<br />
eine moralische Perspektive gerecht zu werden vermag, die sich in einem<br />
Verhältnis der produktiven Entgegensetzung zur Idee der Gleichbehandlung befindet.“<br />
123<br />
Derrida, wie auch Lévinas, geht es darum, die Gerechtigkeit in ihrer Gleichbehandlung<br />
des verallgemeinerten Gegenübers und ihrer fürsorglichen<br />
Ungleichbehandlung des individuellen Gegenübers zu begreifen. Dabei sind<br />
die Ausführungen von Lévinas, der diese Formen der (Un-)Gleichbehandlung<br />
in eine Konzeption von Gerechtigkeit integriert, Ansatzpunkt für<br />
Derridas Bemühungen, der aber das Zusammenspiel der Formen eher dialektisch<br />
interpretiert. Der Freundschaftsbegriff spielt hierbei eine zentrale<br />
Rolle in der Argumentation von Derrida und ist seit jeher von Interesse für<br />
die praktische Philosophie, weil er exemplifiziert, „wie zwei unterschiedliche<br />
Einstellungen der Moral in einem einzigen Sozialverhältnis eine Einheit zu<br />
bilden vermögen“ 124. Es ist dies auf der einen Seite die asymmetrische Verpflichtung,<br />
die sich auf uneingeschränkte Sympathie und Zuneigung grün-<br />
123 Honneth (2000a: 155f.; Hervorhebungen vom Verfasser).<br />
124 Honneth (2000a: 156).
det, nicht nach einer direkten Gegenleistung fragt, und auf der anderen Seite<br />
die reziproke verpflichtende Verflechtung, die die prinzipielle Form<br />
menschlicher Gesamtheit in der direkten Beziehung zwischen zwei Menschen<br />
reflektiert.<br />
In Anlehnung an seine Interpretationen des modernen Rechts begreift Derrida<br />
die Gleichbehandlung des Individuums rechtlich als Chancengleichheit,<br />
die die Freiheit des Individuums im rechtlichen Rahmen betrifft: einem jeden<br />
steht die gleiche, wenn auch begrenzte Freiheit zu. Sobald es aber um die<br />
Rechtsprechung geht, also um die Anwendung des Rechts, bezieht sich<br />
Derrida auf die „Idee einer Gerechtigkeit gegenüber der „Unendlichkeit“ des<br />
konkreten Anderen“ 125. Er verlässt damit auf der Ebene der Anwendung den<br />
Grundsatz der Gleichheit und spricht sich für eine individuelle Behandlung<br />
aus, die sich an der „Unendlichkeit“ des Anderen orientiert. Das bedeutet,<br />
dass das, was für die Kodifizierung auf der verallgemeinerten Ebene gilt, im<br />
konkreten Fall durch die normative Idee der besonderen Wahrnehmung des<br />
Anderen ergänzt werden muss. Diese Differenzierung von Derrida wird in<br />
ähnlicher Form bei Lévinas vorgenommen und geht auch auf diesen zurück.<br />
Lévinas ist trotz oder gerade wegen seiner starken Prägung durch seine<br />
Lehrer Heidegger und Husserl in eine Gegenposition zu der traditionellen<br />
Philosophie und ihrer ontologischen Orientierung getreten. Diese Gegenposition<br />
ist aber eine produktiv-dialektische, die nicht substituiert, sondern<br />
komplementiert. Das Komplement jedoch, das er in Beziehung zu der philosophischen<br />
Ontologie setzt, steht nicht gleichberechtigt neben ihr, sondern<br />
löst die Ontologie in ihrer Vormachtstellung ab. Es ist die Ethik, welcher der<br />
Vorzug gelassen wird, wenn es um die Deutung zwischenmenschlicher Begegnungen<br />
und deren Kommunikation untereinander geht. Lévinas findet<br />
seinen Ausgangspunkt dort, wo angenommen wird, dass jede intersubjektive<br />
Aktion, also das Verhältnis von Menschen zueinander an sich normativ<br />
interpretiert werden kann und muss. Das Normative ergibt sich aus der umfassenden<br />
Betrachtung der konkreten Situation, in der intersubjektiv gehandelt<br />
wird.<br />
Dieses „Erfahrungsfeld des Moralischen“ 126 wäre nur partiell beschrieben,<br />
würde man es bei den Deskriptionen bezüglich eines Grundsatzes der<br />
Gleichheit gegenüber dem verallgemeinerten Anderen bewenden lassen. Die<br />
125 Honneth (2000a: 159).<br />
126 Honneth (2000a: 157).<br />
215
Norm ergibt sich aus der Reflexion der Anwendung: Die moralische Erfahrung<br />
mit dem individuell Anderen vermittelt die Ahnung einer Unendlichkeit<br />
des Gegenübers. Gerade in dem sorgfältigen Erkennen der vielfältigen<br />
Verschiedenheit des Anderen liegt bereits der moralische Vollzug, der sich<br />
durch Reflexion, d. h. in diesem Fall: die Einordnung in ein gemeinschaftliches<br />
Ganzes (solidarische Gemeinschaft), zu einer Ethik entwickeln kann.<br />
Die Einordnung in ein innerweltliches Ganzes dagegen fordert ein adäquates<br />
Äquivalent zu der Unendlichkeit des Anderen; dieses Äquivalent kann nur<br />
in einer unendlichen Bezogenheit auf den Anderen in Form grenzenloser<br />
Fürsorge bestehen.<br />
Zu dem Grundsatz der Gleichbehandlung tritt also der Grundsatz der Fürsorge,<br />
der streng genommen der „traditionellen“ Gleichbehandlung entgegensteht.<br />
Welchem Grundsatz gefolgt werden soll, dies lässt Lévinas einen<br />
imaginären Dritten entscheiden, der die Grundsätze des modernen Rechts<br />
vertritt. Damit drängt das Moment der Gerechtigkeit in die Entscheidungssituation<br />
und kann nur eliminierend auf die Fürsorge wirken und somit die<br />
mühsam entwickelte Argumentation Lévinas zunichte machen. Aus diesem<br />
Grund entscheidet er sich, die Gerechtigkeit als etwas zu beschreiben, was<br />
„stets über die Gerechtigkeit selbst hinaustreibt“ 127. Dies ließe sich derart<br />
deuten, dass die Semantik der Gerechtigkeit in eine neue, in Bezug auf die<br />
Unendlichkeit: transzendentale Qualität überführt wird, in der zwar immer<br />
noch der Grundsatz der Gleichbehandlung wirkt, jedoch neben sich die<br />
asymmetrische <strong>St</strong>rukturcharakteristik der Fürsorge systematisch zu integrieren<br />
weiß. In der Spinnerschen Rationalitäten-Differenz gesprochen, wäre<br />
die Gleichbehandlung somit in der prinzipiellen Rationalität des modernen<br />
Rechts verankert, wohingegen die okkasionelle Rationalität im konkreten<br />
Einzelfall, im konkreten Anderen zum Zuge kommt. In ihrem Geltungscharakter<br />
mögen die Grundsätze differieren (prinzipiell vs. situativ), doch in<br />
ihrem Geltungsanspruch stehen sie in der Postmoderne als komplementäre<br />
Teile gleichberechtigt nebeneinander.<br />
Es ist unter anderem durch die Darstellung der Rendtorffschen Konzeption<br />
deutlich geworden, dass der inhaltliche Dialog nicht nur innerhalb der philosophischen<br />
Disziplin, sondern auch über deren Grenzen hinaus insbesondere<br />
mit der theologischen Disziplin geführt wird. Bei Fragen moralischer Be-<br />
127 Honneth (2000a: 163).<br />
216
gründungen durch Reflexion mögen diese Disziplinen augenscheinlich die<br />
besten Voraussetzungen mitbringen und deren Dialog miteinander ist wohl<br />
selten fruchtbarer gewesen. Auch wenn Derrida zwischen dem Grundsatz<br />
der Gleichbehandlung und dem der Fürsorge als moralische Orientierungen<br />
keine sich aufdrängenden permanenten Verbindungen sieht, so verweist er<br />
doch auf die Möglichkeit eines situativen Perspektivenwechsels, der gewaltsame<br />
Züge tragen mag, jedoch um der Gerechtigkeit Willen zu vollziehen<br />
ist. 128 Aus Sicht des Dekonstruktivismus ist diese Akzeptanz einer nicht nur<br />
identifizierten, sondern auch als Form einer asymmetrischen Verpflichtung<br />
wahrgenommenen Verschiedenartigkeit ein Schritt aus der streng deskriptiven<br />
Position heraus.<br />
11.3 Die andere Gemeinschaft – von der Einstellung zur Anerkennung<br />
des Anderen<br />
Im Blick auf die konkrete, auch diskursive Situation des Sozialen, die vor<br />
allem in der abschließenden Betrachtung des sozialen Systems „Unternehmung“<br />
interessiert, ist eine Spezifizierung bezüglich der Art und Weise der<br />
Berücksichtigung des Nicht-Identischen und dessen Verhältnis zu den unterschiedlichen<br />
kriterialen Grundsätzen notwendig. Was macht nun genau die<br />
personale Heterogenität aus?<br />
Individualität kann sich nach Honneth in der „Singularität des Sprachspiels,<br />
in der unaufhebbaren Differenz aller menschlichen Wesen oder in der konstitutiven<br />
Hilfsbedürftigkeit des einzelnen Menschen“ 129 ausdrücken. Deren<br />
Berücksichtigung kann darum als „erweiterte Form der sozialen Gleichbehandlung,<br />
als <strong>St</strong>eigerung der ethischen Sensibilität oder als asymmetrische<br />
Verpflichtung zwischen Personen“ 130 interpretiert werden. 131 Aus dieser<br />
Differenzierung lässt sich im Vergleich zu den bisher vorgestellten Differenzierungskriterien<br />
in der Postmoderne-Debatte und der Vernunft-Konzeption<br />
von Welsch die letzte Alternative als ein qualitativ Neuartiges identifizieren.<br />
Die Hilfsbedürftigkeit von Menschen, deren Berücksichtigung eine asym-<br />
128 Vgl. die Ausführungen bei Honneth (2000a: 164f.).<br />
129 Honneth (2000a: 134).<br />
130 Ebenda.<br />
131 Auch Tugendhat stellt die Bedeutung der Gemeinschaft für die eigene Identitätskonstruktion<br />
dar und prüft die Aussage, ob „das Individuum sich eigentlich zu sich nur<br />
verhält, indem es sich in einem affirmativen Verhältnis zu seiner Gemeinschaft weiß“<br />
(Tugendhat 1979: 319).<br />
217
metrische Handhabungsstruktur hervorruft, fordert das Prinzip der Gleichbehandlung<br />
dermaßen heraus, dass dieses transzendierend komplettiert<br />
wird. Dass sich kein Paradoxon ergeben muss, wenn man das Prinzip der<br />
Gleichbehandlung einschränken will, soll im Folgenden gezeigt werden. 132<br />
Lyotard kommt, wie bereits erläutert, in seiner sprachwissenschaftlichen<br />
Analyse zu dem Schluss, dass unterschiedliche Diskursarten zueinander inkommensurabel<br />
sind und jeweilige Sätze aus diesen Diskursarten bei ihrem<br />
Aufeinandertreffen einen „Widerstreit“ provozieren. Es ist nicht einmal ein<br />
Vergleich zwischen beiden Sätzen möglich. Folgen sie aufeinander, so eliminiert<br />
der zweite Satz den ersten samt seiner Geltungsansprüche. 133 Durch<br />
den „Re-Import“ des die Diskursarten legitimierenden und anwendenden<br />
Individuums belegt Lyotard die an sich deskriptive Analyse normativ. Individuen<br />
als Träger von Rechten und Ansprüchen machen deutlich, dass eine<br />
Eliminierung von Sätzen einer Ignoranz gleichkommt, einer Unterdrückung<br />
derjenigen, die diese artikuliert haben. <strong>St</strong>ellt sich dann heraus, dass bestimmte<br />
Diskursarten überdurchschnittlich eliminieren, also „überstimmen“,<br />
andere dagegen häufiger überstimmt werden, dann ergibt sich vor dem<br />
Hintergrund der damit einhergehenden Überstimmung des Individuums<br />
und seiner an sich gleichberechtigten Artikulation ein Ungleichgewicht, das<br />
langfristig zum faktischen Ausschluss derselben aus dem gesellschaftlichen<br />
Diskurs führen kann.<br />
Dies beschreibt, wenn auch aus einer anderen Perspektive, die dieser Arbeit<br />
zugrunde liegende These in Bezug auf die ökonomische Rationalität. Die<br />
ökonomische Dominanz in unserer Gesellschaft wird auf diese Weise einer<br />
ethischen Reflexion zugeführt, die postmodernen Parametern Rechnung<br />
trägt. So fordert Honneth mit Bezug auf Lyotard explizit:<br />
218<br />
„(...) weil in unserer Gesellschaft bestimmte Diskursarten, darunter vor allem<br />
die des positiven Rechts und der ökonomischen Rationalität, zu einer institutionell<br />
gesicherten Vorherrschaft gelangt sind, bleiben bestimmte Sprachspiele<br />
132 Dabei sei überwiegend der Argumentation und Darstellung bei Honneth (2000a:<br />
136ff.) gefolgt. Von besonderem Interesse sind jedoch die Parallelen, die sich zu den<br />
vorherigen Kapiteln ergeben.<br />
133 Siehe hierzu die Bemerkungen zur Historie von Honneth (2000a: 138), welcher, mit<br />
Verweis auf Lyotard, Beispiele dieser Eliminierung aufführt. So sind es bspw. die<br />
Holocaust-Überlebenden, die ihre moralischen Ansprüche nur schwerlich artikulieren<br />
können, es sei denn, sie lassen sich auf die Diskursart des formalen Rechts ein. Auch<br />
der Arbeiter wird genannt, der mit seinen Anliegen nur bedingt in der ökonomischen<br />
Rationalität, also der Management-Ebene abbildbar ist.
anderer Geltungsart auf Dauer von der gesellschaftlichen Artikulation ausgeschlossen.<br />
Um diesen „stummen“ Widerstreit der Gefahr des Vergessens zu<br />
entreißen, bedarf es einer politisch-ethischen Haltung, die der sozial verdrängten,<br />
abweichenden Seite zur Artikulation verhelfen kann.“ 134<br />
Die Feststellung, dass die ökonomische Rationalität eine institutionelle Verankerung<br />
erfährt, ist ein Befund, der über die in dieser Argumentation vorgestellten<br />
Befunde hinausgeht. Die institutionelle Integration erst lässt es<br />
legitim erscheinen, von einer systematischen Verdrängung zu reden, wie dies<br />
auch bei Habermas und Ulrich vielfach beschrieben wird. Die daraus resultierende<br />
systematische Spannung gründet sich auf einen Widerspruch gesellschaftlich<br />
geteilter Werte mit den faktisch zur Anwendung gelangten Praktiken.<br />
Demnach konfligiert der Gleichheitsgrundsatz mit einer Form von Gerechtigkeit,<br />
die sich anscheinend eher marktkonform als sozial rekonstruiert. Eine<br />
soziale Form von Gerechtigkeit bezüglich des Gleichheitsgrundsatzes würde<br />
sich in dem Anliegen ausdrücken, „allen Subjekten die gleiche Chance zur<br />
öffentlichen Artikulation ihrer Interessen und Bedürfnisse zu verschaffen“ 135.<br />
Honneth macht damit Anleihen bei einer radikal- bzw. basis-demokratischen<br />
Idee und deren möglichst effektiven Umsetzung im Gesellschaftssystem.<br />
Ähnlich dem republikanischen „Programm“ von Ulrich geht mit diesem Ansatz<br />
die Identifizierung des Einzelnen in seiner Beziehung zum Mitmenschen,<br />
zur Gesellschaft und zum <strong>St</strong>aat einher. In dieser individuellen Lokalisierung<br />
werden Verantwortungs- aber auch Gesinnungssystematiken transparent,<br />
die die gesellschaftliche, soziale und politische Wahrnehmung des<br />
Einzelnen möglich machen. Damit dieser Wahrnehmungsprozess nicht zum<br />
Scheinprozess verkommt, sind Gestaltungsmaßnahmen auf allen staatlichen<br />
Ebenen notwendig, die der Wahrnehmung tatsächliche Möglichkeiten folgen<br />
lassen. Unter Möglichkeiten sind im Zusammenhang der Überlegungen von<br />
Lyotard und seiner Rezeption durch Honneth die Gleichberechtigung der<br />
Diskursarten im gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu verstehen.<br />
Im Gegensatz zu Habermas ist Lyotard in seinen Arbeiten zum postmodernen<br />
Wissen und zur Sprachtheorie der Überzeugung einer deskriptiven und<br />
nicht kritisch-theoretischen Wissenschaftspraxis gefolgt. In diesem Sinne ergäbe<br />
sich trotz der „moralischen“ Aufladung durch den Import von Indivi-<br />
134 Honneth (2000a: 139; Hervorhebungen vom Verfasser).<br />
135 Honneth (2000a: 139).<br />
219
dualrechten, wenn überhaupt, die Konsequenz einer ethischen Sensibilisierung,<br />
die die Asymmetrien transparent macht. Nur schwerlich ließe sich<br />
hieraus ein normatives Konzept entwickeln, wie es Habermas in seiner Diskursethik<br />
umsetzt. Auch wenn sich die Diskursethik von diskreten Werten<br />
und Normen ganz im Kantischen Sinne löst und eine Harmonisierung zwischen<br />
den so heterogenen Auffassungen der individuellen Akteure nur über<br />
ein homogenes Procedere der kommunikativen Interaktion zu erreichen<br />
trachtet, so beinhaltet diese Konzeption doch den dezidierten Versuch, in<br />
einem zumindest partiell normativen Ansatz die (Artikulations)Rechte des<br />
Einzelnen durchzusetzen. Der im Gegensatz zu Kant stark intersubjektive<br />
Charakter des Habermasschen diskursiven Prozesses trägt dem Gleichheitsgrundsatz<br />
in komparativer und normativer Weise Rechnung:<br />
Zum einen trägt der Grundsatz der Gleichheit das komparatistische Element<br />
in sich, denn Gleichheit ist nur festzustellen oder abzulehnen, wenn mit<br />
Nicht-Identischem, also einem beliebigen Anderen verglichen wird. Intersubjektivität<br />
weist somit einen ähnlichen Grad an komparatistischer Aktivität<br />
auf, wie es die Gleichheit implizit fordert. Über diese Wesensverwandtschaft<br />
hinaus scheint jedoch noch eine weitergehende Übereinstimmung<br />
notwendig. Wie mit dem Begriff des „impliziten Forderns“ bereits angedeutet<br />
wurde, ist dem normativistisch-programmatischen Charakter der Gleichheit<br />
Rechnung zu tragen, wenn dieser sich auf das Verhältnis der Menschen<br />
zueinander bezieht und sich am Prozess der Gestaltung eigener Lebensweltlichkeit<br />
und Lebensführung orientiert. Der bloßen Identifikation von Gleichund<br />
Ungleichheit folgt unweigerlich das, was weiter oben bereits mit Möglichkeit<br />
bezeichnet wurde. Diese Möglichkeit bezieht sich auf die tatsächliche<br />
Ausübung von Gleichheit, auf das wirksame Leben von Gleichheit. Die Prozessorientierung<br />
von Habermas kann diesem normativen Charakter zumindest<br />
im Ansatz gerecht werden. Im kategorischen Imperativ von Kant ist dagegen<br />
weder die Intersubjektivität in der Weise angelegt, noch ließe sich behaupten,<br />
dass dieser Imperativ die Beschreibung eines tatsächlichen Prozesses<br />
darstellt. Auch wenn der Kantische Imperativ als Ausgangspunkt<br />
auch für die Habermassche Konzeption dient, so ist erst diese Weiterentwicklung<br />
in ihrer neuartigen Qualität rezipierbar für die hier vorgestellte<br />
Rekonstruktion einer Ethik im Kontext von Postmoderne. Insbesondere die<br />
„transzendierende Idee eines herrschaftsfreien Diskurses“ 136, die als Gel-<br />
136 Honneth (2000a: 141).<br />
220
tungsbedingung von moralischen Normen argumentativ entwickelt wird, ist<br />
durch ihre Nähe zum Gleichheitsgrundsatz anschlussfähig an das „Andere“<br />
der Gerechtigkeit, wie sich auch Habermas ausdrückt. 137<br />
„Solidarität ist für Habermas deswegen die andere Seite der Gerechtigkeit,<br />
weil in ihr sich alle Subjekte wechselseitig um das Wohl des jeweils anderen<br />
bemühen, mit dem sie zugleich als gleichberechtigte Wesen die kommunikative<br />
Lebensform des Menschen teilen.“ 138<br />
Jedoch, und dies wird in diesem Zitat deutlich, bewegt sich Habermas in einem<br />
Zirkel der Voraussetzungen, den auch Honneth anmahnt. Der Zustand<br />
der Gleichberechtigung der „Wesen“ in einer kommunikativen Lebensform<br />
ist ihrerseits wieder an Bedingungen gebunden, die eine Form von Wertegemeinschaft<br />
beschreiben. Die Entstehung einer Wertegemeinschaft wiederum<br />
erfordert einen Prozess der Vergegenwärtigung von Gemeinsamkeiten<br />
mit Anderen, welche Anstrengungen des Erhalts dieser Gemeinschaft<br />
rechtfertigt.<br />
„Nun kann sich ein derartiges Gefühl der sozialen Zugehörigkeit zu einer<br />
gemeinsamen Lebensform überhaupt nur in dem Maße bilden, in dem auch<br />
Belastungen, Leiden und Aufgaben als etwas Gemeinsames erfahren werden;<br />
und weil sich eine derartige Erfahrung gemeinsamer Belastungen und Nöte<br />
wiederum nur unter der Bedingung kollektiver Zielsetzung entwickeln kann,<br />
die Definition solcher Ziele aber allein im Lichte geteilter Werte möglich ist,<br />
bleibt die Entstehung eines Gefühls der sozialen Zugehörigkeit zwangsläufig<br />
an die Voraussetzungen einer Wertegemeinschaft gebunden.“ 139<br />
Folgt man dem Gedanken des „Anderen“ – ob Person, Gerechtigkeit oder<br />
Vernunft – in den weiteren sozialen Rahmen hinein, ergibt sich zumindest<br />
ein zentraler Gedanke, der noch nicht Diskurs selbst ist, doch immanent mit<br />
ihm verbunden. Die beschriebene Sukzession von Ahnung-Einsicht-Setzung<br />
führt von der anderen Seite ebenso auf diesen Gedanken; es ist der Gedanke<br />
der Anerkennung. Anerkennung in der sozialen Gemeinschaft kommt bereits<br />
in materialen Parametern (bspw. kodifiziertes Recht) zum Tragen, ist aber<br />
selbst nicht Diskurs, doch dem Diskurs näher als die hier skizzierte Einstellung<br />
- nicht inhaltlich, sondern prozessual. Honneth selbst entwickelt, in<br />
137 Vgl. hierzu Habermas (1991: 70).<br />
138 Honneth (2000a: 168).<br />
139 Ebenda.<br />
221
einer jüngeren Veröffentlichung, diesen Gedanken aus seinen Überlegungen<br />
der letzten Jahre heraus: 140<br />
222<br />
„An die <strong>St</strong>elle dieser einflussreichen Idee von Gerechtigkeit, die sich politisch<br />
als Ausdruck der sozialdemokratischen Epoche begreifen lässt, scheint nun<br />
seit geraumer Zeit eine neue Vorstellung zu treten, die politisch zunächst viel<br />
weniger eindeutig wirkt: nicht mehr die Beseitigung von Ungleichheit stellt<br />
hier scheinbar das normative Ziel dar, sondern die Vermeidung von Entwürdigung<br />
oder Missachtung, nicht mehr „Gleichverteilung“ oder „Gütergleichheit“<br />
sondern „Würde“ oder „Respekt“ bilden ihre zentralen Kategorien.“ 141<br />
Aus diesen zentralen Kategorien verweist Honneth auf den Begriff der Anerkennung,<br />
der an sich in der praktischen Philosophie nicht neu ist, jedoch<br />
relevante aktuelle Bezüge erfährt. 142 Als Gründe für den aktuell zu beobachtenden<br />
Wandel bietet Honneth zwei alternative Deutungen an:<br />
Zum einen ließe sich der Wandel als Ergebnis einer „politischen Ernüchterung“<br />
143 deuten, die aufgrund der jüngsten Siege konservativer Parteien auf<br />
internationaler Ebene eingetreten ist. Dies hat Hoffnungen auf eine ökonomische<br />
Umverteilung zerstört. Übrig bleibt, zumindest eine „Beseitigung von<br />
Entwürdigung und Missachtung“ 144 zu erreichen.<br />
140 Es sei hier angemerkt, dass die bisher am häufigsten zitierte Quelle von Honneth<br />
(Honneth 2000a) einen Aufsatzband darstellt, aus dem bisher diejenigen Aufsätze zitiert<br />
wurden, die entstehungsgeschichtlich vor dem nun zitierten Aufsatz in demselben<br />
Band liegen. Außerdem wird auf einen ebenso später erschienenen Beitrag verwiesen:<br />
Honneth, A. (2000b): Anerkennung oder Umverteilung? Veränderte Perspektiven<br />
einer Gesellschaftsmoral, in: Ulrich/Maak (2000a), S. 131-150, welcher als Vortrag<br />
von selbigem in einem öffentlichen Zyklus anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der<br />
<strong>Universität</strong> <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong> gehalten wurde. Dieser Vortrag fasst „einige Überlegungen<br />
programmatisch zusammen“, die Axel Honneth „in den letzten Jahren an verschiedenen<br />
Orten systematisch entwickelt“ (Honneth 2000b: 131) hat.<br />
141 Honneth (2000b: 131f.).<br />
142 Honneth selbst zeigt die Verwendung dieses Begriffs bei Fichte und Hegel. Vgl.<br />
hierzu Fichte, J.G. (1971): Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre,<br />
in: Fichte, I.H. (Hrsg.), Fichtes Werke III, Zur Rechts- und Sittenlehre I,<br />
Berlin; Hegel, G.W.F. (1967a): Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur<br />
Philosophie der Natur und des Geistes von 1805-1806, hrsg. von Johannes Hoffmeister,<br />
Hamburg; Hegel, G.W.F. (1967b): System der Sittlichkeit, hrsg. von Georg Lasson,<br />
Hamburg. Vgl. hierzu auch Honneth, A. (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen<br />
Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt. Zu den aktuellen Bezügen vergleiche<br />
die Ausführungen bei Honneth (2000b: 133ff.).<br />
143 Honneth (2000b: 132).<br />
144 Ebenda.
Zum anderen ließe sich der Wandel als Folge einer „<strong>St</strong>eigerung moralischer<br />
Sensibilität“ 145 begreifen; dieser zweiten These folgt Honneth. Die Anerkennung<br />
kann differenziert werden in eine emotionale, rechtlich-politische und<br />
solidarische Anerkennung. 146<br />
„Mit diesen drei Anerkennungsformen sind die moralischen Einstellungen<br />
benannt, die zusammengenommen den <strong>St</strong>andpunkt bilden, dessen Einnahme<br />
die Bedingungen unserer persönlichen Integrität sicherstellt.“ 147<br />
Maak (1999) nimmt diesen Gedanken der Anerkennung auf und führt ihn in<br />
eine Konzeption der Bürgergesellschaft, die ethisch auf den Prozess der<br />
„Anerkennung“ angewiesen ist. Diese Reinterpretation sozialer Gemeinschaft<br />
bezieht sich damit - ähnlich zu der hier vorgestellten Argumentation -<br />
auf Intersubjektivität und deren Implikationen. Jedoch kann der gesamte<br />
intersubjektive Prozess, in dem die Anerkennung an einem spezifischen<br />
Punkt bzw. mehreren Punkten auftaucht, in unterschiedliche Phasen differenziert<br />
werden. Danach steht die hier entwickelte Einstellung phasentechnisch<br />
vor der Anerkennung. Dies führt zu unterschiedlichen Akzentuierungen<br />
in der Maakschen Darstellung zu der hier vorgestellten.<br />
Beiden gemeinsam jedoch ist die Fokussierung auf den Prozess als solchen.<br />
Dieser Prozess steht - in welcher Form auch immer - im Mittelpunkt einer in<br />
Beziehung auf die postmodern-reflektierte Moderne konstituierten Ethik-<br />
Konzeption. Bei einer näheren, vergleichenden Betrachtung ist eine Akzentverschiebung<br />
bezüglich der Phasen feststellbar, die die entscheidende Brücke<br />
zwischen Einstellung und Diskurs darzustellen in der Lage ist. Maak hebt die<br />
Facette der Anerkennung hervor, die nicht in der Voraussetzung verhaftet<br />
ist, sondern einen starken Bezug zum intersubjektiven Verlauf aufweist. Eine<br />
Aussage, die nachvollziehbar ist, jedoch auch zu Missverständnissen führen<br />
kann, zeigt diesen Bezugsverlauf:<br />
„Menschen werden zu Menschen in dem Masse, wie sie Anerkennung erfahren.“ 148<br />
145 Honneth (2000b: 133).<br />
146 Siehe zu der detaillierten Beschreibung dieser unterschiedlichen Anerkennungsdimensionen<br />
Honneth (2000b: 139ff.) oder auch Maak (1999: 82ff.).<br />
147 Honneth (2000a: 187).<br />
148 Maak (1999: 63; Hervorhebungen im Original).<br />
223
Doch: Menschen sind eben gerade unabhängig dessen, was ihnen widerfährt,<br />
Menschen. 149 Maak zeigt jedoch hierdurch - und so sei es im Duktus seiner<br />
Arbeit interpretiert - die konstitutive Rolle der Anerkennung im Kontext von<br />
Menschenwürde und diese ist vornehmlich auch eine tatsächlich-prozessuale.<br />
Auch wenn Maak in Bezug auf die Position von Hegel der Voraussetzungsebene<br />
sehr nahe kommt, bleibt doch der prozessuale Charakter jenseits<br />
der Anfangsbedingungen deutlich zu erkennen.<br />
Die hier vertretene Position ist im Ursprung in den Voraussetzungen einer<br />
Intersubjektivität verhaftet, jedoch handelt es sich eher um eine Perspektive,<br />
die den Prozessbeginn redefinieren möchte. Der Beginn eines Prozesses, der<br />
letztlich zu Anerkennung im Maakschen Sinne führen und der auch den diskursethischen<br />
Weg einschlagen kann, liegt in der Vergegenwärtigung des<br />
Ursprungs, somit zwischen Prozess und Voraussetzung. In diesem Übergang<br />
findet eine Reflexion der Voraussetzung im Blick auf den zu beschreitenden<br />
Weg statt. Die Sensibilisierung einer intersubjektiven Verwiesenheit entsteht<br />
in diesem Übergang von Voraussetzung und Umsetzung. Dieser Übergang<br />
kann am treffendsten mit einer rationalen Öffnung beschrieben werden. Sie ist<br />
nicht nur Erfassung der Voraussetzung, sondern zudem prozessualer Bestandteil,<br />
da die Bindung zurück an die Voraussetzung in dem antizipativen<br />
Bewusstsein der Bindung an die Umsetzung geschieht. Als Bindeglied<br />
nimmt die rationale Öffnung die Rolle ein, die Welsch „seiner“ transversalen<br />
Vernunft zugedacht hat - zumindest in der Ausgangskonzeption. Ob die gelingende<br />
Bindung zwischen Voraus- und Umsetzung auch tatsächlich zu<br />
einer gelingenden Umsetzung im Sinne von tatsächlicher Anerkennung bzw.<br />
Diskurs führt, ist eine Frage, die von der Situation und der Fähigkeit des<br />
Subjekts abhängt (hinreichende Bedingung).<br />
Die rationale Öffnung hat sich in der hier vertretenen Position als notwendige<br />
Bedingung des ethischen Vollzugs zu erkennen gegeben, jedoch nicht<br />
als hinreichende. Es ließe sich auch argumentieren, dass die Frage der tatsächlichen<br />
Umsetzung nicht die gleiche Qualität aufweist wie die Frage der<br />
Reflexion der Voraussetzungen. So kann zumindest die Faktizität die Reflexion<br />
auf der Begründungsebene nicht in Frage stellen. D. h., auch wenn die<br />
Umsetzung nicht gelingt, ist dies nicht ausreichend für eine Widerlegung der<br />
149 Hierauf kann an dieser <strong>St</strong>elle nicht näher eingegangen werden. Vgl. zu dem Komplex<br />
„Menschenwürde“ und die theoretische Fundierung bspw. Knoepffler, N./Haniel, A.<br />
[Hrsg.] (2000): Menschenwürde und medizinethische Konfliktfälle, <strong>St</strong>uttgart.<br />
224
hier vorgestellten Art von Bindung. 150 Umgekehrt jedoch scheint aus dieser<br />
Perspektive eine Umsetzung, die ohne eine derartige Bindung zur Voraussetzung<br />
auskommt, nachhaltig nicht tragfähig zu sein, da sie das Primat der<br />
rationalen Öffnung nicht wahrnimmt. In diesem Sinne ist eine besondere<br />
Betonung der Phase der Faktizität, wie sie bei Maak aus der hier entwickelten<br />
Perspektive erscheint, gegenläufig zu dem hier vertretenen Fokus des<br />
Übergangs, obwohl sich beide Ansätze als prozessual-komplementäre<br />
Bestandteile identifizieren. Eine einseitige Gewichtung stellt sich latent der<br />
Komplementarität entgegen. Die bei Maak diskutierte Begrifflichkeit der<br />
„Anerkennung“ erfährt vor diesem Hintergrund also eine Akzentverschiebung:<br />
Es ist hier das Erkennen der Andersartigkeit verbunden mit dem<br />
Erkennen der Verwiesenheit trotz und gerade wegen der Andersartigkeit.<br />
11.4 Zusammenfassung<br />
Die Vernunft vereinigt sich mit der Ethik in der Postmoderne in der aktiven<br />
Einstellung zur personalen und rationalen Andersartigkeit. Diese Aktivität<br />
geschieht in der gelassenen Distanz, die die differenzierte Rezeption der<br />
Heterogenität ermöglicht, entwickelt aber im Gegensatz zu der streng<br />
deskriptiven postmodernen - und damit aus Sicht einer Ethik eher „passiven“<br />
- Einstellung eine Position, die die Andersartigkeit zueinander in Beziehung<br />
setzt. Diese Beziehung zeichnet sich durch die permanente reziproke<br />
Reflexion über die Verschiedenartigkeit der Akteure aus, deren Position<br />
in der Gestaltung und Begründung des Zueinanders zum Ausdruck<br />
kommt. Die Begründung des Zueinanders ergänzt sich durch die intrapersonale<br />
Beziehung und deren individueller Selbstreflexion. „Das Andere der<br />
Vernunft“ kann seine Begründungsevidenz zu praxeologischer Legitimation<br />
durch die systematische Einbindung des „Das Andere der Gerechtigkeit“<br />
herstellen. Verpflichtungsasymmetrien der Fürsorge sind in dieser dialektisch-produktiven<br />
<strong>St</strong>ruktur darstellbar.<br />
150 Vgl. hierzu auch die Argumentation bei Ulrich, P. (1994): Moderne Wirtschaftsethik -<br />
Moralökonomik oder Kritik der „reinen“ ökonomischen Vernunft?, in: EuS, Jg. 5, H. 1,<br />
S. 78-81, hier S. 79, der den „Sinn universalistischer Normenbegründung“ gerade<br />
darin verwirklicht sieht, dass das „unbedingte Moment“ moralischer Normen auch<br />
gegen ihre „empirischen Durchsetzungsbedingungen“ zur Geltung kommt.<br />
225
In Bezug auf das Verhältnis von Postmoderne und Ethik lässt sich resümierend<br />
festhalten: Der Befund der Postmoderne, die Pluralität, scheint in ihrer<br />
programmatischen Umsetzung eine Fragmentarisierung zu fördern, die zu<br />
manifesten Konsequenzen in unserer Lebenswelt führt. Diese Konsequenzen<br />
sind sowohl struktureller als auch inhaltlicher Natur. Dies reicht vom Verlust<br />
von Kontinuitätserfahrung, über Intransparenz der Erfahrungswelt, Verlust<br />
der Selbstkontrolle bis hin zu moralischen Regeln, die sich zunehmend<br />
schlechter in ein universales Paradigma integrieren lassen. Die Metapher der<br />
Konnexion von Heterogenitäten fügt sich vor diesem Hintergrund in eine<br />
Konzeption der Vernunft für die Postmoderne, die zwischen den ausdifferenzierten<br />
Gegenständen möglichst voraussetzungsfrei zu vermitteln versucht,<br />
die Fraktale verknüpft. Eine so verstandene transversale Vernunft<br />
knüpft ein Sinn-Netz, ein Erfahrungsnetz, das zwar nicht über die Pluralität<br />
hinwegtäuschen kann, das jedoch in der Lage ist, Wege aufzuzeigen, bei denen<br />
es trotz der Unterschiede Anknüpfungspunkte gibt bzw. geben kann.<br />
Der Inhalt (modern-)postmoderner Vernunft manifestiert sich, neben den<br />
formalen Bestimmungen, in der Einsicht in die Notwendigkeit dieser Genese<br />
von Vergleichbarkeit, die zentrale Bestimmung für das Vernunft-Kriterium<br />
„Universalität“ darstellt. Diese Vergleichbarkeit ermöglicht der Ethik eine<br />
vor der Postmoderne-Moderne-Debatte reflektierte normative Setzung, die<br />
Pluralität in ihren sozialen Konsequenzen beschreiben kann.<br />
12 Postmodern-moderne Ethik der Ökonomie und deren<br />
unternehmensethische Implikationen<br />
In einem letzten Schritt soll versucht werden, die postmodern-modernen<br />
Überlegungen zu einer Ethik der Ökonomie in ihren ökonomischen Bestimmungen<br />
zu konkretisieren und im Kontext der Unternehmung zu reflektieren.<br />
151 Es wird für diesen letzten Abschnitt die ethische Reflexion des vor-<br />
151 Dabei wird die Unternehmung vorwiegend systemisch rekonstruiert. Dieser Ansatz<br />
ist der Position der <strong>St</strong>. Galler Schule und der Münchener Schule, hier insbesondere<br />
der Position Werner Kirschs, gleich. Die Position von Kirsch wird im Folgenden noch<br />
ausführlicher behandelt werden. Zu der <strong>St</strong>. Galler Schule vgl. u. a. Ulrich, H./Malik,<br />
F./Probst, G./Semmel, M./Dyllik, T./Dachler, P./Walter-Busch, E. (1984): Grundlegung<br />
einer Theorie der Gestaltung, Lenkung und Entwicklung zweckorientierter<br />
Systeme, Diskussionsbeitrag 4, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>; Ulrich, H. (1971): Der systemorientierte An-<br />
226
herigen Kapitels herangezogen. Sie stellt die konsequente Weiterführung der<br />
hier entwickelten Vernunft-Konzeption dar.<br />
Durch die starke und direkte Verflechtung und Überlagerung von System<br />
und Lebenswelt scheint die Unternehmung als hier zu diskutierender Kontext<br />
geeignet, um Implikationen einer ethischen Reflexion aufzeigen zu können.<br />
152 Die Exemplifizierung der ethischen Reflexion wird in zwei unterschiedlichen,<br />
aber doch miteinander verwobenen organisationstheoretischen<br />
Konzepten aufgezeigt werden. Zum einen ist dies das Konzept der Corporate<br />
Identity bzw. der Unternehmensidentität; die ethische Reflexion setzt genau in<br />
der Differenz dieser beiden Begrifflichkeiten an. Zum anderen sei hieran<br />
anknüpfend die Frage einer Weiterentwicklung der Unternehmung als<br />
Ganzes thematisiert. 153 Doch vorerst seien die Bestimmungen einer postmodern-modernen<br />
Ethik der Ökonomie beschrieben.<br />
12.1 Skizzen einer postmodern-modernen Ethik der Ökonomie<br />
Eine Ethik der Ökonomie beschreibt ein Verhältnis, welches ethische<br />
Ansprüche im Rahmen der Ökonomie artikuliert. Dabei wird in diesem<br />
Argumentationszusammenhang grundsätzlich dem Primat der Ethik gefolgt.<br />
Die postmodern-moderne Betonung liegt dabei jedoch nicht auf der ethischen<br />
Setzung (Vollzugsmoment); sie liegt auf diese ethische Setzung ermöglichenden<br />
und vornehmlich von Seiten der ökonomischen Rationalität<br />
zu erbringenden notwendigen Voraussetzungen. Eine wesentliche Voraussetzung<br />
wurde hier in der Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität<br />
selbst identifiziert. 154 Damit stellt die ethische Setzung logische, letzte Konse-<br />
satz in der Betriebswirtschaftslehre, in: Kortzfleisch, G.v. (Hrsg.): Wissenschaftsprogramm<br />
und Ausbildungsziele der Betriebswirtschaftslehre, Berlin, S. 43-60.<br />
152 So auch Münch (1998: 107): „Das Feld der Berufsarbeit ist Teil des ökonomischen und<br />
Teil des ethischen Feldes, bildet eine Interpenetrationszone und eine Brücke des<br />
wechselseitigen Transports von ökonomischen und ethischen Anforderungen in das<br />
ökonomische und ethische Handeln selbst hinein.“<br />
153 Beide Konzept-Darstellungen werden auf den Ansatz der „Evolutionären Organisationstheorie“<br />
von Werner Kirsch rekurrieren. Bei aller Notwendigkeit zur kritischen<br />
Reflexion und Unterscheidung verspricht dieser Ansatz die meisten Berührungspunkte<br />
mit der hier entwickelten Konzeption.<br />
154 Vgl. hierzu ähnlich auch Ulrich: „Die spezifische, im guten Sinne zeitgemäße, sowohl<br />
von der „angewandten“ Ethik als auch von der heutzutage gelehrten Ökonomik vernachlässigte<br />
Aufgabe von Wirtschaftsethik ist in der philosophisch-ethischen Kritik<br />
der ökonomischen Vernunft oder dessen, was dafür gehalten wird, zu erkennen. Und<br />
das meint: Es ist der normative Gehalt der ökonomischen Rationalität selbst, den es<br />
227
quenz dar, doch ist sie nicht unbedingter Zielpunkt der hier entwickelten<br />
Konzeption. 155 Die kritische Distanz zu einem normativen Vollzug repräsentiert<br />
den postmodernen Tribut, das Einlassen auf diesen Vollzug den modernen<br />
Tribut. In der postmodern-modernen Verbindung steht die Ermöglichung<br />
des Vollzugs im Mittelpunkt.<br />
In der hier entwickelten Argumentation geht es um die ökonomische Rationalität<br />
nicht nur bezüglich ihrer eigenen Verfasstheit, sondern auch bezüglich<br />
ihres Verhältnisses zu anderen Rationalitäten. Dabei wurde festgestellt,<br />
dass eine Weiterentwicklung gerade in der Öffnung gegenüber anderen<br />
Rationalitäten besteht und dies wiederum nicht ohne eine Entwicklung der<br />
eigenen Verfasstheit zu realisieren ist. In diesen charakteristischen Entwicklungsprozessen,<br />
die eigene (rationale) Identität, Öffnung und Verknüpfung<br />
zusammendenken, wird hier der nachhaltig vielversprechendste Weg zur<br />
Wirksamwerdung moralischer Ansprüche innerhalb der Wirtschaft gesehen.<br />
Und wie steht es um die oben genannten ethischen Bestimmungen im ökonomischen<br />
Kontext? Genuiner und damit wesentlicher Akteur der ökonomischen<br />
Rationalität ist das einzelne Individuum. Durch das Individuum wird<br />
die Rationalität in Rahmenordnungen und Anreizsysteme transportiert, von<br />
wo aus die ökonomische Rationalität auf den Einzelnen zurückwirkt, jedoch<br />
immer nur soweit, wie es das einzelne Individuum letztendlich und langfristig<br />
zulässt. 156 Ausgangspunkt hierbei ist, dass der einzelne Wirtschaftsakteur<br />
über die Einsicht in die Begründung der moralischen Ansprüche (Andersartigkeit;<br />
Verwiesenheit) den ökonomisch-rationalen Kontext nachhaltig auf-<br />
ethisch-kritisch zu ergründen und möglicherweise neu zu begründen gilt.“ (Ulrich, P.<br />
(2000a): Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagenreflexion der ökonomischen Vernunft,<br />
in: EuS, Jg. 11, H. 4, S. 555-567, hier S. 555; Hervorhebungen im Original).<br />
155 Vgl. hierzu nochmals Abschn. 10.2.<br />
156 Dabei sei von Zwangs- und quasi Zwangskonstellationen abgesehen. Dass ein Beschäftigungsverhältnis,<br />
vor allem in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, Züge einer solchen<br />
Zwangssituation aufweisen kann, sei dabei nicht ignoriert. Jedoch soll hier davon<br />
ausgegangen werden, dass ein Minimalspielraum der Handlungsmöglichkeit auch<br />
für den Arbeitnehmer besteht. Diese (Rest)Möglichkeit der individuellen Einflussnahme<br />
konstituiert die quasi „lebensweltliche“ Verantwortung des Einzelnen, die, so<br />
gering sie auch angesichts vielfältiger anderer Beeinflussungen werden mag, nicht<br />
eliminierbar ist. Entgegen dem ökonomischen „normativen Individualismus“, der dem<br />
Individuum (bzw. Wirtschaftssubjekt) „keine anderen Rationalitätsansprüche“<br />
zumuten will, „als die kluge Verfolgung der Eigeninteressen“ (Ulrich 2000a: 558;<br />
Hervorhebungen im Original), fordert diese nicht eliminierbare „lebensweltliche“<br />
Verantwortung gerade die Auseinandersetzung mit diesen anderen Rationalitätsansprüchen<br />
bzw. versagt dem Einzelnen die Ignoranz gegenüber diesen Ansprüchen.<br />
228
echen kann. 157 Aufgrund der sich vielfältig entgegenstehenden Bestimmungen<br />
von Ökonomie und Ethik158 sind die Voraussetzungen ethischen<br />
Vollzugs vor allem über die „individuelle Mobilisierung“, nicht zuletzt auch<br />
wegen des eigengesetzlichen Charakters der Ökonomie, zu erreichen. Die<br />
„Mobilisierung“, die „Vitalisierung“ des Einzelnen erfolgt mit dem Ziel, eine<br />
grundsätzliche und dauerhafte Infragestellung der ökonomischen Rationalität<br />
und des ökonomischen Systems zu erreichen und im ökonomischen<br />
Kontext längerfristig zu etablieren. 159 Diese Mobilisierung geschieht vor<br />
allem durch die Explizierung der moralischen Begründungen (Andersartigkeit<br />
und Verwiesenheit). 160<br />
Das spezifisch postmodern-moderne sind die aus dieser Mobilisierung entstehen<br />
<strong>St</strong>rukturen und nachhaltigen Konsequenzen. Die grundsätzliche und<br />
nachhaltige Infragestellung der Ökonomie ermöglicht deren Öffnung und<br />
damit Anschlussfähigkeit an andere Rationalitätsbereiche und letztlich an<br />
postmodern-moderne Vernunft. Die Öffnung bzw. Konnexion harmoniert<br />
mit der Sicherung der Eigenständigkeit bzw. Heterogenität. Die Öffnung<br />
lenkt den Blick auf die Voraussetzungen der ethischen Setzung, nicht auf<br />
deren Vollzug selbst. Diese <strong>St</strong>ruktur setzt bereits auf individueller Ebene<br />
auch im ökonomischen Kontext an.<br />
Bei der Bestimmung einer postmodern-modernen Ethik der Ökonomie im<br />
unternehmerischen Kontext geht es vor allem um solche Fragen,<br />
a) wie sich die aktive Einstellung zur personalen und rationalen Andersartigkeit<br />
im Unternehmenskontext darstellt;<br />
157 Gründe für die Unwirksamkeit moralischer Ansprüche im ökonomischen Kontext<br />
sind bereits in Abschnitt 2.1.2 auf den systemisch-geschlossenen Charakter der ökonomischen<br />
Rationalität zurückgeführt worden. Daneben, aber hier nicht näher behandelt,<br />
lassen sich soziologische (Arbeitsgesellschaft) oder psychologische (Gruppenzwang,<br />
Rollenwechsel, Modelllernen) Ursachen zum Teil anführen und zum Teil<br />
vermuten.<br />
158 Vgl. bspw. die Ökonomismuskritik bei Ulrich (2000a: 559ff.).<br />
159 Es sei nochmals betont, dass dies nicht notwendigerweise die Effektivität und Effizienz<br />
des ökonomischen Vollzuges beeinträchtigen muss, jedoch kann (auch im Sinne von<br />
„dürfen“) es dazu führen.<br />
160 Ulrich antwortet diesbezüglich auf die Frage, wie diese Mobilisierung zu erreichen<br />
ist: „Die Antwort ist, wenn überhaupt, im Selbstverständnis aufgeklärter Bürger zu<br />
finden, also darin, als welche Personen sie sich selbst verstehen und in welcher<br />
Grundhaltung sie ihr Leben führen wollen, um sich selbst „gut finden“ und achten zu<br />
können. Das die personale Identität prägende Ethos impliziert immer auch eine Idee<br />
der moral community, der man sich zugehörig fühlt (soziale Identität).“ (Ulrich 2000a:<br />
565; Hervorhebungen im Original).<br />
229
) was eine gelassene Distanz, die die differenzierte Rezeption der Heterogenität<br />
ermöglicht, im Unternehmenskontext bedeutet und<br />
c) wie eine permanente reziproke Reflexion über die Verschiedenartigkeit der<br />
Akteure im ökonomischen Kontext umzusetzen ist, deren Position in der<br />
Gestaltung und Begründung des Zueinanders zum Ausdruck kommt.<br />
Wie bereits angedeutet, legitimieren sich diese Bestimmungen postmodernmoderner<br />
Ethik grundsätzlich unabhängig von den situativ-lebenspraktischen<br />
Bedingungen. Dagegen ist ihre Konstituierung und Etablierung (Verwendungszusammenhang)<br />
von den jeweilig herrschenden Bedingungen<br />
(beispielsweise: ökonomischer Kontext) abhängig, was wiederum deren<br />
Legitimation und Begründung jedoch nicht antastet. Ob es die Andersartigkeit<br />
oder die intersubjektive Verwiesenheit ist, die diesen Anspruch begründet,<br />
der Anspruch als solcher bleibt bedingungslos wirksam. Bezüglich der<br />
oben genannten Bestimmungen sei dies kurz skizziert:<br />
Ad a) Die aktive Einstellung ist sozusagen eine bewusste Wahrnehmung des<br />
Kollegen nicht nur in seiner Funktion und Rolle, die ihm die Unternehmung<br />
zugedacht hat, sondern immer auch in seinem hierüber hinausgehenden Profil<br />
und seinen Beziehungen (Rechte und Pflichten). Die Wahrnehmung der<br />
Andersartigkeit des Anderen bezieht sich damit vor allem auf die Verschiedenartigkeit<br />
jenseits der ökonomischen (derivativen) Lebenswelt. Dies<br />
bedeutet nicht die „Privatisierung“ der unternehmerischen Öffentlichkeit,<br />
sondern dies bedeutet die Identifikation und Inanspruchnahme des Anderen<br />
in seinen gesellschaftlichen und lebensweltlichen Bezügen. Der „Kollege“ ist<br />
nie nur Arbeitnehmer, also auf die unternehmensinternen Verträge und<br />
Bezüge beschränkt, sondern immer auch sozial und gesellschaftlich verwiesen.<br />
In dieser Wahrnehmung geschieht eine nachhaltige „Transzendierung“<br />
der (rationalen) Grenzen der Unternehmung. Die moralischen Verpflichtungen,<br />
die sich aus der wahrgenommenen Andersartigkeit ergeben, brechen<br />
mit ökonomischen Gerechtigkeiten und Symmetrien und etablieren lebensweltliche<br />
Asymmetrien (Fürsorge) und das „Andere der Gerechtigkeit“<br />
innerhalb und – in der Folge idealerweise auch – außerhalb der Unternehmung.<br />
Ad b) Eine gelassene Distanz trifft innerhalb der Unternehmung auf zwanghafte<br />
Aktivitäts- und kurzfristige Erfolgsorientierung. Ein gemäßigter Voluntarismus<br />
trifft auf ökonomische Machbarkeitsphantasien. Die sich im ökonomischen<br />
System entwickelnde Eigendynamik macht den Einzelnen zum<br />
230
Gefangenen seiner selbst. Der interne Wettbewerb verstärkt sich selbstreferentiell<br />
und zwingt den Einzelnen zur permanenten Erfolgssteigerung.<br />
Eine gelassene Distanz – übrigens in Ergänzung zu der aktiven Einstellung –<br />
erreicht ein Zurücktreten von und sich Herauslösen aus dem <strong>St</strong>rom der<br />
eindimensionalen Erfolgssteigerung und verhilft dem Einzelnen zu einer<br />
differenzierteren Analyse des Geschehens. Eine Öffnung, die sich der<br />
Wahrnehmung der Andersartigkeit verschreibt, die bemüht ist, die offensichtliche<br />
Reduktion aufzulösen, ist nicht ohne eine gelassene Distanz<br />
denkbar, die auch rezipiert und nicht nur (sich) produziert, die auch zuhört<br />
und nicht nur präsentiert. Die gelassene Distanz bricht – ähnlich wie die<br />
aktive Einstellung auf rationaler Ebene – die ökonomische Rationalität nachhaltig<br />
auf Ebene der zeitlich-dynamischen Handlungsorientierung auf, ist<br />
somit als Ergänzung zu der aktiven Einstellung zu sehen.<br />
Ad c) Die permanente reziproke Reflexion über diese Möglichkeiten des<br />
Aufbrechens soll den Übergangs- bzw. „Brückencharakter“ der transversalen<br />
Wirtschaftsethik zum Ausdruck bringen. In der Konsequenz der Vollzüge<br />
der ethischen Bestimmungen im Kontext der Unternehmung, wie sie hier<br />
beschrieben wurden, wird es darum gehen, eine „Kultur der (rationalen)<br />
Übergänge“ zu etablieren. Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität<br />
zu einer Anschlussfähigkeit an postmodern-moderne Vernunft –<br />
beispielsweise durch die oben beschriebenen „Aufbruchsmechanismen“ –<br />
eröffnet einen neuen Interaktionsraum, der zwischen den Rationalitäten liegt.<br />
In diesem Raum geschieht die offene (!) Auseinandersetzung mit „externen“<br />
bzw. eben nicht externen Ansprüchen. Dabei ist diese Etablierung des<br />
Raumes und der darin gestalteten Form des Zueinanders von einem<br />
Commitment der Akteure (hier: „Kollegen“ bzw. Arbeitnehmer und –geber)<br />
abhängig, die nachhaltig das Aufbrechen, die Transzendierung der ökonomisch-rationalen<br />
Grenzen praktizieren.<br />
In den nun folgenden Skizzen unternehmensethischer Implikationen verdeutlicht<br />
die Identitätsbetrachtung insbesondere die ethische Bestimmung<br />
der aktiven Einstellung und damit die Bedeutung dessen, sich selbst und den<br />
Anderen jeweils bewusst aus unterschiedlichen Bezugssystemen zu rekonstruieren.<br />
Dabei steht die Wahrung und „Einbringung“ der eigenen Identität<br />
in die Unternehmung hinein gleichberechtigt neben der Wahrnehmung und<br />
Verknüpfung mit der Identität des Anderen und der Identität der ganzen<br />
Unternehmung. Die darauffolgende Betrachtung von unternehmensinternen<br />
231
Entwicklungsprozessen nimmt im Wesentlichen die ethische Bestimmung<br />
der gelassenen Distanz auf, die sich im gemäßigten Voluntarismus (geplante<br />
Evolution) exemplarisch zeigt: Machbarkeitsphantasien relativieren sich<br />
unter der Einsicht einer Unbeeinflussbarkeit von evolutiven Prozessen und<br />
der Unmöglichkeit umfassender Problemlösung. Im abschließenden Kapitel<br />
einer Fähigkeitenbetrachtung werden Möglichkeiten des gestalteten Zueinanders<br />
(reziproke Reflexion) und damit des nachhaltigen Überschreitens der<br />
ökonomisch-rationalen Grenzen diskutiert.<br />
12.2 Identität und Entwicklung (in) der Unternehmung<br />
Der Kontext der Unternehmung ist durch die Befunde von Voß und Sennett<br />
charakterisiert worden. Der eine Befund der strukturellen (materiellen) Entgrenzung<br />
von Voß zeigte auf, in welchem Maße die Grenze zwischen<br />
Lebens- und Arbeitswelt erodiert und Überschreitungen in beide Richtungen<br />
mehr denn je ermöglicht. Dabei ist festgestellt worden, dass diese erhöhte<br />
Überschreitungsmöglichkeit aufgrund unterschiedlicher aktueller Faktoren<br />
überwiegend nur in eine Richtung „genutzt“ wird, nämlich in Form von<br />
Kolonialisierung und anderer Beeinflussung der Lebenswelt durch die Ökonomie.<br />
Diese strukturelle Entgrenzung führt u. a. zu inhaltlicher (materialer)<br />
Entgrenzung im Kontext Arbeit, die die Identitätserfahrung und –aufbau des<br />
Einzelnen erheblich erschwert, wie der andere Befund von Sennett zeigt. Aus<br />
diesem Grund der inhaltlichen und für den Einzelnen elementaren Implikationen<br />
struktureller Entgrenzung scheint es um so dringlicher, die andere<br />
Richtung der Überschreitung, also in die Arbeitswelt hinein, in Form von<br />
Bewegungen, Beeinflussungen und Bereicherungen auszuloten. Beide Ansätze<br />
konnten aufzeigen, in welcher Weise die äußeren (sachlichen) hinreichenden<br />
Bedingungen ethischen Vollzugs die inneren hinreichenden Bedingungen<br />
herausfordern, strapazieren und überfordern.<br />
Baethge (1991) beschreibt die Richtung in die Arbeitswelt hinein. Er stellt<br />
eine zunehmende normative Subjektivierung der Arbeitsverhältnisse fest. Baethge<br />
zeigt auf, dass das Bedürfnis, seine eigene individuelle Subjektivität in die<br />
Arbeit einzubringen, gestiegen ist. Die Normativität dieses Bedürfnisses ist<br />
232<br />
„(...) im Sinne der Geltendmachung persönlicher Ansprüche, Vorstellungen<br />
und Forderungen in der Arbeit [zu verstehen], im Gegensatz zu solchen<br />
Momenten von Handlungsspielraum und Berücksichtigung persönlicher Be-
dürfnisse, die aus dem funktionalen Interesse des Arbeitsprozesses zugestanden<br />
werden.“ 161<br />
Baethge bezieht sich auf Maccoby, der die Richtung der Wegbeschreitung im<br />
Typus-Begriff eines „self-developer“ zusammenzufassen sucht und damit<br />
vor allem die intellektuelle und kommunikative Emanzipation des Menschen<br />
in der Arbeit meint, die jede Rollen- und nicht rechtfertigbare Machtstruktur<br />
ablehnt und ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Privatleben anstrebt.<br />
162 Dies artikuliert einen neuen Sinnanspruch in der und an die Arbeit,<br />
welcher die Arbeit auf den Prüfstand ihres sinnspendenden Potentials<br />
stellt. 163 Diese Richtung der Überschreitung und deren Möglichkeiten stehen<br />
hinter einer ethischen Reflexion, so wie sie hier rekonstruiert wird. Im Allgemeinen<br />
geht es hierbei um die Emanzipation des Menschlichen in verdinglichten<br />
Zusammenhängen; im Speziellen geht es um gelingende Identitätserfahrung<br />
des Einzelnen in, durch und mit Arbeit. Diese Überschreitungen<br />
können vom Einzelnen ausgehen (Unternehmensidentität), aber auch<br />
institutionalisiert in den Organisationsstrukturen verankert werden (Organi-<br />
sationsentwicklung). 164<br />
161 Baethge (1991: 7; Fußnote 1).<br />
162 Vgl. hierzu Maccoby, M (1989): Warum wir arbeiten: Motivation als Führungsaufgabe,<br />
Frankfurt/New York. Die Ursachen sieht Baethge in unterschiedlichen Faktoren<br />
begründet. Der <strong>St</strong>rukturwandel (hin zur Dienstleistungsgesellschaft und hin zur zunehmenden<br />
Abhängigkeit der Arbeit von Wissen und Qualifikation) generiert eine<br />
Ausdehnung vorberuflicher Sozialisation. Auch bewirkt die Veränderung von Organisationskonzepten<br />
eine Zurücknahme rigider Arbeitsteiligkeit und tendiert zu eher<br />
komplexeren Arbeitsformen. Letztlich entsteht die Zunahme der Erwerbsbeteiligung<br />
von Frauen zu einem historisch spezifischen Zeitpunkt und unter spezifischen Bedingungen.<br />
163 Boes gibt hierbei zu Bedenken, dass bei einer über die „Informationsebene vermittelte<br />
Reflexivität der Arbeit“ im Zeitalter der Informationsgesellschaft die Gefahr besteht,<br />
dass die Informationsebene als einziges Medium der Emanzipation „die Subjekte zu<br />
Agenten ihrer eigenen Unterordnung“ (Boes 1996: 166f.) macht. Die Subjektivierung<br />
läuft damit selbst nach Regeln ab, die abzulösen sie angetreten ist. Vgl. Boes, A.<br />
(1996): Formierung und Emanzipation: Zur Dialektik der Arbeit in der „Informationsgesellschaft“,<br />
in: Schmiede (1996), S. 159-178.<br />
164 In dieser Betrachtung steht der Einzelne idealisiert der ökonomischen Rationalität<br />
gegenüber. Auch wenn der Einzelne immer auch Teil der ökonomischen Rationalität<br />
ist, so wird er hier als Vertreter der „Lebenswelt“, die ökonomische Rationalität als<br />
Vertreter der „Arbeitswelt“ rekonstruiert. Die ökonomische Rationalität sei im Kontext<br />
der Unternehmung als durch die oberen Führungsebenen repräsentiert gesehen.<br />
Dem Verfasser ist bewusst, dass diese Trennung unscharf und idealisiert ist, denn<br />
grundsätzlich repräsentiert ein jeder, der die ökonomische Rationalität konsequent<br />
auch nach innen vertritt, die ökonomische Rationalität selbst; dies geschieht zunächst<br />
233
12.2.1 Identität (in) der Unternehmung - zwischen Unternehmensidentität<br />
und Corporate Identity<br />
Wie bereits angedeutet, soll an dieser <strong>St</strong>elle darauf verzichtet werden, die<br />
Literatur zu diesem Thema zu analysieren; vielmehr sollen - in medias res -<br />
die hier relevanten Gesichtspunkte herausgearbeitet und auf ihre Anschlussfähigkeit<br />
an die hier entwickelte Konzeption überprüft werden. 165 Wird die<br />
Identität einer Unternehmung diskutiert, so ist das Innen- sowie das Außenverhältnis<br />
der Unternehmung gleichermaßen zu untersuchen. Da es in diesem<br />
Kontext primär um den Einzelnen und seine Identitätserfahrung im<br />
einmal unabhängig von der <strong>St</strong>ellung im Unternehmen. Plausibel erscheint es jedoch,<br />
wenn angenommen wird, dass sich diejenigen, die eine ungleich höhere Verantwortung<br />
für die Unternehmung tragen müssen – nicht nur Sach-, sondern vor allem auch<br />
Personalverantwortung – stärker in der Rolle des Verteidigers von ökonomischen<br />
Interessen gestellt sehen, als diejenigen, die sich aufgrund geringerer Entscheidungsbefugnisse<br />
eher mit der Rolle des Betroffenen identifizieren. Letztlich hängt dies immer<br />
von der Person selbst ab, jedoch sei hier diese Verteilung in „Vertreter der ökonomischen<br />
Rationalität – obere Führungsebenen“ und „Betroffene der ökonomischen<br />
Rationalität – untere Ebenen“ idealisiert angenommen.<br />
165 Vgl. zu Unternehmensidentität und Corporate Identity pars pro toto die umfassende<br />
Aufsatzsammlung von Birkigt, K./<strong>St</strong>adler, M.M./Funck, H.J. [Hrsg.] (1995): Corporate<br />
Identity: Grundlagen, Funktionen, Fallbeispiele, 8. Aufl., Landsberg/Lech, und<br />
die dort verarbeitete Literatur. Nicht nur bei Birkigt/<strong>St</strong>adler/Funck, sondern in der<br />
gesamten Literatur zum Thema Unternehmensidentität und Corporate Identity wird<br />
deutlich, dass die Begriffe überwiegend gleichgesetzt werden und eine Identität immer<br />
schon aus der Perspektive des ökonomischen Nutzen rekonstruiert wird. Identität<br />
als Selbstzweck taucht dagegen eher selten auf. Unterschieden wird lediglich in<br />
Corporate Identity und (Corporate) Image, wobei das erste das Selbstbild des Unternehmens<br />
bezeichnet, das zweite dagegen sein Fremdbild. Die Differenzierung ist nur<br />
eine methodische (Innen- und Außenperspektive), aber keine qualitative. Auch Birkigt<br />
et al. sehen die Corporate Identity als „Identititäts-Mix“ (Birkigt/<strong>St</strong>adler/Funck<br />
1995: 18), das sich aus dem Verhalten, der Kommunikation, dem Erscheinungsbild<br />
und eben der Persönlichkeit der Unternehmung zusammensetzt. Jenseits der Zielformulierung<br />
der Unternehmung scheint nichts unternehmensintern existent. Speziell in<br />
diesem Punkt wird sich die hier vorgestellte Skizze von den bisherigen Ansätzen differenzieren<br />
und unterscheiden.<br />
Des Weiteren wird, in Konsequenz zu den vorherigen Ausführungen, auf eine Analyse<br />
der Kommunikationsstrukturen der Unternehmung verzichtet, was jedoch keine<br />
Aussage über deren Relevanz implizieren soll, ganz im Gegenteil: Kommunikation ist<br />
das entscheidende Reproduktionsmedium von Identität - innerhalb und außerhalb der<br />
Unternehmung. Vgl. hierzu bspw. Giddens, A. (1998): The Third Way – The Renewal<br />
of Social Democracy, Cambridge, der zwischen praktischer und diskursiver Reflexion<br />
unterscheidet; in Anlehnung daran auch Kirsch (1998: 211ff.), der die „Unternehmensidentität<br />
als Ergebnis diskursiver Konstruktion“ skizziert. Die vorangegangenen Ausführungen<br />
stellen zusätzliche Impulse und zusätzliche Begründungsargumente für<br />
eine (herrschaftsfreie) Gestaltung von Kommunikation im Kontext der Unternehmung<br />
dar.<br />
234
Umgang mit der ökonomischen Rationalität geht, ist insbesondere das<br />
Innenverhältnis der Unternehmung von Interesse – das Außenverhältnis<br />
kann nur angedeutet werden. Am individuellen Umgang mit der Rationalität<br />
der Unternehmung und am Umgang der Unternehmung mit dem einzelnen<br />
Mitarbeiter hat sich die ökonomische Rationalität zu prüfen. Auch<br />
wenn dies nicht ihren genuinen Gegenstandsbereich darstellt, ist sie doch auf<br />
diesen immanent (moralisch) verwiesen. In dieser Wahrnehmung der Verwiesenheit<br />
liegt der Zielpunkt ihrer Weiterentwicklung.<br />
Dabei muss für die folgende Argumentation hervorgehoben werden, dass<br />
die Ethik der Ökonomie nicht in der Weise verstanden wird, dass sie die<br />
Ökonomie ausschließlich dazu bewegen will, gegen ihre eigene (ökonomische)<br />
Rationalität zu handeln; sie will nur den Ausschluss nicht direkt ökonomie-kompatibler<br />
Inhalte verhindern. 166 Diese Öffnung geschieht in einer<br />
konstruktiven Weise, stellt nicht alles grundlegend in Frage, sondern versucht<br />
eine breitere Basis, einen Konnex zwischen Ökonomie und Gesellschaft<br />
zu erzeugen bzw. wiederherzustellen. Dieser rationale Konnex kommt dabei<br />
beiden Seiten zugute, sofern er ein Konnex und keine Invasion oder Übernahme<br />
darstellt. Eine Eliminierung von System oder Lebenswelt stellt hierbei<br />
keine Alternative dar.<br />
Die Identität der Unternehmung ist in ihrer Tiefenstruktur geprägt von einer<br />
Pluralität der Identitäten ihrer Mitarbeiter. Über dieser <strong>St</strong>ruktur pluraler<br />
Teile liegt ein Koordinationsnetz, das die Aktivitäten des Einzelnen und der<br />
Gruppe in Beziehung setzt zu den Aktivitäten der anderen Mitarbeiter und<br />
zu den übergeordneten Zielen der Unternehmung. Diese Koordination generiert<br />
eine Parallelisierung, eine ähnliche Ausrichtung, eine „Polung“ der<br />
Einzel-Identitäten, die auf diese Weise ein annähernd homogenes Gesamtbild<br />
abgeben. Jedoch gehen die Einzel-Identitäten in der Gesamt-Identität<br />
nicht vollkommen auf, sondern werden zu einem Teil derselben und umgekehrt:<br />
die Gesamt-Identität bildet einen Teil der Einzel-Identität. Die Gesamt-<br />
166 Dies käme einer vollständigen Trennung von Ethik und Ökonomie gleich, was die<br />
These einer wertfreien Ökonomik stützen würde. Jedoch, es kann „das Verhältnis von<br />
Ethik und Ökonomik nicht als Nicht-Verhältnis verstanden werden“ (Enderle, G.<br />
(1988): Wirtschaftsethik im Werden. Ansätze und Problembereich der Wirtschaftsethik,<br />
<strong>St</strong>uttgart, S. 26, zitiert nach Ulrich 1998: 120).<br />
235
Identität soll im Folgenden als Unternehmensidentität bezeichnet werden,<br />
die Einzel-Identität als Mitarbeiteridentität. 167<br />
Diese Identitäten-<strong>St</strong>ruktur besitzt zu einem großen Teil emergenten Charakter,<br />
doch treten beide Seiten, die der Mitarbeiter und die der Unternehmung,<br />
auch mit Interessen und Ansprüchen gegen- und miteinander auf, die im<br />
Zuge der (Vertrags)Beziehung idealerweise ihre Einlösung erfahren. Kirsch<br />
betont im Hinblick auf eine Unternehmensidentität dreierlei: den emergenten<br />
Charakter, die Berücksichtigung des Beobachtungsphänomens und die<br />
Unternehmensidentität als politisches Phänomen. 168 In dieser Argumentation<br />
soll neben der Berücksichtigung von Konstruktionen durch Beobachter vor<br />
allem das „politische Phänomen“ interessieren. Vor der hier entwickelten<br />
Konzeption erscheint jedoch der Begriff des Politischen in diesem Zusammenhang<br />
verkürzt. Vielmehr geht es um die kategoriale Differenz und<br />
Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt, die bei der Frage nach<br />
Identität zusammentreffen und neben rein politischen Prozessen (auf der<br />
Grundlage von expliziten Verträgen durchgeführte Aushandlungsprozesse)<br />
Prozesse der Balance zwischen Arbeit und Leben und den aus ihnen abgeleiteten<br />
Ansprüchen erfordern. Diese Ansprüche weisen eine andere Qualität<br />
von Außenperspektive auf, als dies Kirsch auf Grundlage seines Ansatzes zu<br />
tun in der Lage ist. Dieses „Außen“ der Außenperspektive ist nicht, wie bei<br />
Kirsch, ein rein funktional-methodisches Außen, sondern ein inhaltliches,<br />
normatives Außen, welches das System der Ökonomie einer grundsätzlichen<br />
lebensweltlichen Reflexion zuführt. Das politische Phänomen bei Kirsch wird<br />
167 In diesem Identitätenbild ist bereits deutlich geworden, dass es im Wesentlichen um<br />
Überschneidungsgrade zwischen unterschiedlichen Identitäten geht. Dabei ist es möglich,<br />
dass individuelle Unterschiede zwischen den Mitarbeitern in Bezug auf die<br />
Unternehmung, aber auch zwischen den Unternehmen bezüglich ihrer Mitarbeiter<br />
auftreten. Der eine Mitarbeiter identifiziert sich stärker mit der Unternehmung und<br />
dem anderen Mitarbeiter, der andere weniger, und das eine Unternehmen legt mehr<br />
Wert auf die Identifikation der Mitarbeiter mit den eigenen Produkten und Inhalten,<br />
das andere weniger.<br />
168 Vgl. hierzu Kirsch (1998: 207ff.). Berggold hebt sich deutlich von Kirsch ab, verweist<br />
jedoch auch sehr explizit auf den emergenten Charakter und die methodische Entscheidung<br />
des Beobachters, wenn es um die Analyse der Unternehmensidentität geht.<br />
In vielen Punkten stimmt die hier zu leistende Skizzierung mit der ausführlichen und<br />
komplexen Analyse von Berggold überein – jedoch kann sie an dieser <strong>St</strong>elle keine explizite<br />
Auseinandersetzung erfahren. Vgl. hierzu Berggold, C. (2000): Unternehmensidentität:<br />
Emergenz, Beobachtung und Identitätspolitik: Ansatzpunkte einer organisationstheoretischen<br />
Betrachtung, Berlin.<br />
236
in diesem Argumentationskontext erweitert um die (moralischen) Ansprüche<br />
der „Vertragspartner“, der <strong>St</strong>akeholder.<br />
Es mag aufgrund dieser Unterschiede nicht verwundern, wenn Kirsch seinen<br />
eigenen Ansatz im Vergleich bzw. oder eben gerade nicht im Vergleich zu<br />
dem Ulrichschen Ansatz als „inkommensurabel“ bezeichnet. Auch wenn die<br />
erkenntnis- bzw. „radikalpluralistische“ 169 Perspektive des Kirsch‘schen<br />
Ansatzes in die Richtung einer Überschreitung der eigenen disziplinären<br />
und methodischen Grenzen weist, so scheint deren Überschreitung jedoch<br />
eher im Sinne einer Anreicherung im Gegensatz zu einer grundsätzlichen<br />
Reflexion zu geschehen. Wunderer bezeichnet die Ansätze von Ulrich und<br />
Kirsch als „weitgehend ökonomieunabhängige, sozialwissenschaftlich orientierte<br />
Managementansätze“ 170. Dies mag für den Verwendungszusammenhang<br />
zutreffen, auf Ebene der Begründung jedoch besteht nach Meinung des<br />
Verfassers eine kategoriale Differenz. 171 Vor diesem Hintergrund der Differenz<br />
sind die folgenden Ausführungen zu verstehen. Sie verhindern nicht<br />
169 Vgl. zu dieser Kategorisierung Walter-Busch (1996).<br />
170 Wunderer, R. (1988): Die Betriebswirtschaftslehre als Management- und Führungslehre,<br />
2. ergänzte Aufl., <strong>St</strong>uttgart, S. VI.<br />
171 Es kann an dieser <strong>St</strong>elle (leider) keine ausführliche Auseinandersetzung der beiden<br />
Positionen mit- und/oder gegeneinander erfolgen. Ein „Kernsatz“, der bei Kirsch den<br />
wesentlichen Unterschied zu Ulrich verdeutlicht, lautet: „Mir schwebt demgegenüber<br />
die Bejahung der Komplexität vor. Und dies bedeutet unter anderem, daß ich alle<br />
(auch betriebswirtschaftliche) Traditionen als a priori relevante Kontexte für die Explikation<br />
und Bewältigung von Problemen der Praxis ansehe.“ (Kirsch, W. (2000): Erkenntnispluralistische<br />
Führungslehre: Zum programmatischen Diskurs in der Betriebswirtschaftslehre,<br />
unveröff. Arbeitspapier, München, S. 96). Dieses „a priori“<br />
lässt den postmodernen Charakter der Kirsch’schen Konzeption durchscheinen. Bei<br />
Kirsch ist der Befund der Pluralität normativ und Programm seiner Führungslehre. Im<br />
Vergleich dazu ist in dieser Argumentation die Pluralität in der „Letztbegründung“<br />
deskriptiv zu verstehen. Sie kann nicht in die letzte Begründung normativ<br />
vordringen, wird jedoch, und dies zeichnet eine postmoderne Moderne aus, sehr weit<br />
ins „Innere“ des Begründungszusammenhangs vorgelassen. Gerade in Bezug auf die<br />
Figur des „Anderen“ wird die Pluralität auch als normatives Programm deutlich; die<br />
letzte Norm kann sie jedoch nicht bilden. Auch wenn bei Ulrich dieser hier „praktizierte“<br />
normative Pluralismus nicht explizit „hofiert“ wurde, so stellt er sich, so das<br />
Verständnis des Verfassers, doch als grundsätzlich anschlussfähig an die Ulrichsche<br />
Position dar, sofern es nicht um die Letztbegründung geht. Vgl. zu den beiden Positionen<br />
in ihrem Bezug aufeinander auch Ulrich, P. (1995): Betriebswirtschaftslehre als<br />
praktische Sozialökonomie, in: Wunderer, R. (Hrsg.), Die Betriebswirtschaftslehre als<br />
Management- und Führungslehre, 3., ergänzte Aufl., <strong>St</strong>uttgart, S. 179-204.<br />
237
eine Auseinandersetzung, fordern jedoch signifikante Veränderungen und<br />
Akzentverschiebungen. 172<br />
In Zeiten extrem hoher Fluktuationsraten ist die Rede von einer inneren<br />
Identität der Unternehmung nur bedingt treffend. Nicht nur, dass die<br />
Gesamtheit der Mitarbeiteridentitäten einem absoluten Wandel unterliegt,<br />
der nicht mit natürlichen Entwicklungsprozessen verglichen werden kann;<br />
auch die Bereitschaft des Einzelnen, seine individuelle Identität in die<br />
Gesamtheit einzubringen, schwindet mit Zunahme der Fluktuationsdynamik.<br />
Die Verweildauern der Mitarbeiter werden kürzer, es entsteht ein<br />
kompetitives anstatt eines kollegialen Klimas, das eigene Wissen wird zunehmend<br />
zum internen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Mitarbeitern und<br />
der Einzelne schützt sich durch Zurückhalten der eigenen Meinung, eigener<br />
Ideen, eigenem (eventuell mit Risiko verbundenem) Engagement.<br />
Zusätzlich zu dieser Verzerrung, die aufgrund der realen Unternehmensund<br />
Marktverfassung entsteht, führt der Evaluationsprozess zur Erfassung<br />
der Unternehmensidentität zu Verzerrungen, die durch das präformierte<br />
Urteil der Wahrnehmung zustande kommt: Es ist gängige Praxis, den<br />
Evaluationsprozess zur Unternehmensidentität durch die Führungsebenen<br />
bzw. durch die von ihnen bestellten externen Berater durchführen zu lassen.<br />
Ganz gleich, ob dieser Prozess intern oder von extern geleistet wird, er ist<br />
gleichsam durchwirkt von strategisch-ökonomischen Interessen. Eine Identitätserfassung<br />
in einer Unternehmung ist damit immer auch Leitbild-<br />
Entwicklung. Damit geht der reine Analysecharakter der Identifikation verloren.<br />
Wird die Feststellung immer schon mit einer Zielvorstellung verbunden,<br />
so kann niemals das wahrgenommen werden, was existiert, sondern<br />
eher das, was gewünscht ist. Das ökonomische Wunschbild einer Unternehmensrealität<br />
ist jedoch ein zukünftiges, kein aktuelles. 173<br />
Es wird deutlich, dass sich die Unternehmung nicht - und auch nicht vorübergehend<br />
- aus der Erfolgsorientierung lösen kann. Die Wahrnehmung der<br />
Anderen geschieht nicht um derer selbst Willen, sondern immer schon im<br />
Hinblick auf die zu erreichenden ökonomischen Ziele, ist immer schon ge-<br />
172 Als komplementär kann man die Ansätze jedoch nur aufgrund der Unterschiedlichkeit<br />
der durch sie behandelten Themen rekonstruieren; das ist auch der Grund, weshalb<br />
an dieser <strong>St</strong>elle auf die komplexen Ausarbeitungen zu Management-Konzepten<br />
von Kirsch zurückgegriffen wird.<br />
173 Ein „Wunsch“ impliziert die erhoffte Veränderung der bestehenden Tatsachen. In<br />
diesem Sinne kann er nur auf die Zukunft gerichtet und mit dem Bestehenden nicht<br />
identisch sein.<br />
238
äußerter Wunsch anstatt akzeptierende Wahrnehmung. Somit entsteht eine<br />
Corporate Identity, die einen Soll-Charakter in sich trägt, in der sich die einzelnen<br />
Mitarbeiter nur insoweit wiederfinden, wie sie sich den ökonomischen<br />
Zielvorgaben verschreiben. Die Identitätswahrnehmung erfährt eine<br />
Instrumentalisierung. Dies betrifft nicht nur explizite Identitätserfassungsprozesse,<br />
sondern jeglichen Prozess in der Unternehmung, der eine Ist-Analyse<br />
in Bezug auf die Arbeitnehmer durchführt.<br />
Kirsch unterscheidet zwischen Identität und Image, was sich aus seinem<br />
konzeptionellen Ansatz von Außen- und Binnenperspektive ergibt:<br />
„Von der tatsächlichen Identität des Unternehmens ist die möglicherweise erarbeitete<br />
„Corporate Identity“ strikt zu unterscheiden. Die Corporate Identity<br />
(als Erscheinungsbild des Unternehmens im weitesten Sinne) soll die tatsächliche<br />
oder die bei einem vorauseilenden Leitbild gewünschte Identität „mit<br />
unbeirrbar wiederholten stilistischen Mitteln“ nach innen und nach außen<br />
kommunizieren. Letztlich wird mit der Entwicklung einer Corporate Identity<br />
das Ziel verfolgt, einen Fit zwischen der Identität und dem Image des Unternehmens<br />
herzustellen.“ 174<br />
Hier werden die drei Kategorien von „Identität“ einer Unternehmung nochmals<br />
deutlich: Die Unternehmensidentität ist die tatsächliche, doch oftmals<br />
nicht berücksichtigte Identität der Unternehmung, die Corporate Identity<br />
vermittelt zwischen Tatsächlichem und Wahrgenommenem, und das Image<br />
stellt das reine Fremdbild aus der Außenperspektive dar. Das Image hat dabei<br />
höchste strategische Relevanz, da es sich hier um die Reputation des Unternehmens<br />
im Markt und in der Gesellschaft handelt, was in Zeiten erhöhter<br />
Sensibilisierung für außerökonomische Fragestellungen wettbewerbsentscheidend<br />
sein kann. Eine Leitbild-Formulierung ist nie nur Bestandsaufnahme,<br />
sondern immer auch prospektive <strong>St</strong>rategie.<br />
Kirsch verbindet sein Konzept in der Folge mit einer Diskussion um die<br />
Fähigkeiten einer Unternehmung, lehnt dies an das Konzept der „treibenden<br />
Kraft“ von Tregoe und Zimmermann (1981) an und evaluiert mögliche strategische<br />
Potentiale einer Unternehmung. 175 Bereits Hamel und Prahalad<br />
(1990) heben die strategische Bedeutung von Kernprodukten einer Unter-<br />
174 Kirsch (1997: 333).<br />
175 Vgl. Tregoe, B.B./Zimmermann, J.W. (1981): Top Management <strong>St</strong>rategie, Zürich.<br />
239
nehmung hervor; 176 in der Verknüpfung mit „Kernkompetenzen“ 177 kann<br />
dies zu Kräften innerhalb der Unternehmung führen, die in ihrer charakteristischen<br />
Symbiose von innerer Dynamik und äußerem Nachfrage-Sog<br />
(marktwirtschaftliche Relevanz) zur treibenden Kraft, zu treibenden Kräften<br />
der Geschäftstätigkeit evolvieren können. Die Verbindung der Kernkompetenzen<br />
bzw. ihre gezielte Entwicklung mit den Kernprodukten einer Unternehmung<br />
tragen wesentlich zur Identität der Unternehmung bei, so Kirsch.<br />
Verkürzt gesagt, entspricht dieser Zugang der Aussage: „Wir sind, was wir<br />
tun!“ bzw. „Wir sind, was wir gut können!“ und damit einer handlungsorientierten<br />
Identitätsbildung. Der Einzelne wie auch das Gesamte drückt<br />
sich in und durch die Handlungen aus. Die Substanz der Identität, die „materiale<br />
Identität“ ist somit nur mittelbar zu identifizieren. Neben der pragmatistischen<br />
Verzerrung tritt zudem die Verzerrung der quantitativen Darstellungsform<br />
der ökonomischen Rationalität, die nur diejenigen Handlungen<br />
erfasst, die sich in Zahlen niedergeschlagen haben. 178 Die Annahme,<br />
„Wir sind, wer wir sind!“ kann im organisatorischen Kontext als nicht realisierbarer<br />
bzw. auch nicht gewünschter Ansatz zur Erfassung und Definition<br />
von Identität gelten. 179 In diesem Sinne ist eine Erfassung der Unternehmensidentität<br />
in ihrem So-Sein nur bedingt möglich.<br />
176 Vgl. Hamel, G./Prahalad, C.K. (1990): The Core Competences of the Corporation, in:<br />
Harvard Business Review, Mai/Juni 1990, S. 79-91.<br />
177 Kirsch (1997: 341).<br />
178 Ähnliche Feststellungen lassen sich bezüglich der Analyse von Beratungssituationen<br />
machen, insbesondere dann, wenn das zu beratende Unternehmen eine Dienstleistung<br />
anbietet, die entscheidend die Lebensqualität des Kunden beeinflusst. So steht<br />
der externe Berater eines Altenheimes vor der Herausforderung, auch jenseits der von<br />
ihm festgestellten Inhalte der Prozesse (Qualität der Dienstleistung) die Ansprüche<br />
aus der Situation an sich zu erfassen und in eine Effizienzsteigerungskonzeption einfließen<br />
zu lassen. Dies ist dann noch relativ einfach, sofern der „Kunde“ seine Präferenzen<br />
äußern kann, obwohl hier immer noch die aus der Situation entstehenden Ansprüche<br />
zu berücksichtigen sind. Der mit dem herkömmlichen betriebswirtschaftlichen<br />
Instrumentarium arbeitende Berater ist aber spätestens dann überfordert, wenn<br />
sich die Ansprüche nicht in seinem (effizienten) System abbilden lassen. Dies kommt<br />
bspw. dann vor, wenn der „Kunde“ für die erhaltene Dienstleistung finanziell nicht<br />
aufkommen kann oder aber, der „Kunde“, also der Patient, seine Präferenzen nicht<br />
äußern kann. Vgl. hierzu Speck, O. (1999): Ökonomisierung sozialer Qualität: Zur<br />
Qualitätsdiskussion in Behindertenhilfe und Sozialer Arbeit, München/Basel.<br />
179 Auch wenn man nur sagen würde: „Wir sind, was wir sind!“, kann dies entweder als<br />
Banalität abgetan werden, oder aber das „was“ bezieht sich auf die ökonomische<br />
Funktion des Subjekts. Diese wäre anschlussfähig an die ökonomische Rationalität insofern,<br />
als damit der Machtaspekt, die Funktion des Einzelnen, die Legitimation der<br />
240
Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Evaluationsprozess, der zu der<br />
Erfassung der tatsächlichen Unternehmensidentität führt, versucht primär zu<br />
erfassen, also reine Evaluation zu betreiben, nicht strategisch zu entwickeln.<br />
Der systematische Unterschied des Prozesses der Corporate Identity zeigt<br />
sich in dem Handlungsdruck, der aus dem gebotenen Abgleich zwischen<br />
Identität und Image entsteht. Diese Funktion des Abgleichs ist zudem<br />
asymmetrischer Natur, da Ausgangspunkt des Gewünschten selten die<br />
Unternehmensidentität ist, sondern die Kundenwünsche, der Markttrend.<br />
Diese Größen machen den Unternehmenserfolg aus und bestimmen das<br />
systemische Verhalten der Unternehmung. 180 Diese von außen bestimmte<br />
Identität drängt die tatsächliche Identität der Unternehmung in die <strong>St</strong>atistenrolle;<br />
sie hat sich der gewünschten und durch die Corporate Identity vermittelten<br />
Identität anzupassen. Hierbei gehen diejenigen Vorteile für den<br />
Einzelnen und für die Unternehmung verloren, welche entstehen würden,<br />
wenn der Einzelne sich in seiner genuinen Identität im Gesamtkomplex<br />
wiederfände. Dies bedeutet nämlich Identifikation. Die Anpassung an strategisch<br />
vorgeschriebene Identitäten kann hingegen keinen authentischen<br />
Charakter annehmen. 181<br />
In der ethischen Reflexion bedeutet dies, dass das in der postmodernen Ethik<br />
herausgearbeitete zentrale Charakteristikum der Wahrnehmung des Anderen<br />
in seiner Andersartigkeit und die aus dieser Feststellung abgeleitete<br />
eigenen Identität darstellt. Damit bleibt auch dieser Ausdruck im Kontext der Unternehmung<br />
dem ökonomischen Paradigma verhaftet.<br />
180 Das sich hier darstellende Bild ist eines, welches das Unternehmen als reinen Reagierer<br />
interpretiert, als einen Akteur, der dem Sachzwang des Marktes unterworfen ist.<br />
Die Corporate Identity füllt diese Rolle der Anpassung an das Wunschbild des<br />
Marktes bis in die innerste Unternehmensverfassung, die Unternehmensidentität<br />
nämlich, aus. „Subjektivität wird in diesem systemischen Kontext reduziert auf die<br />
richtige Reaktion auf die wechselnden Anforderungen des globalen Marktsystems.<br />
Die Zwecke sind objektiv vorgegeben, was subjektiv übrig bleibt, ist die Wahl der<br />
Mittel, und Horkheimers Ameisenmetapher trifft das System in seinem Kern.“ (Wenzel<br />
1996: 197).<br />
181 Es gibt hierzu unzählige Beispiele. Die C&A-Werbekampagne in den späten 90er Jahren<br />
bspw. vermittelte ein Bild des Unternehmens, welches vorwiegend junges Publikum<br />
ansprach, dem Trend entsprach, diesem sogar vorauseilte. Wenn man jedoch die<br />
C&A-Kaufhäuser betrat, dann war von dieser „hippen“ Kultur nichts mehr zu spüren,<br />
weder in den Produkten, noch in ihrem Erscheinungsbild. Dies liegt nicht nur<br />
daran, dass die Corporate Identity nicht ausreichend in die Unternehmung hinein<br />
vermittelt wurde. Vielmehr lag es daran, dass die tatsächliche Unternehmensidentität<br />
zu weit von dem auf sie projizierten Wunschbild entfernt war - und auch immer noch<br />
ist.<br />
241
Wahrnehmung der Verantwortung gegenüber dem Anderen im Kontext der<br />
Unternehmung nicht bzw. nur ungenügend umgesetzt werden kann. In der<br />
Analyse einer zu definierenden Unternehmensidentität stellt sich die soziale<br />
Identität der Gruppe und die personale Identität des Einzelnen als Voraussetzung,<br />
als Bedingung der Unternehmensidentität dar. Identitätsbildende<br />
Prozesse im unternehmerischen Kontext nehmen ihren Ausgangspunkt bei<br />
der personalen Identität und artikulieren ihre Identitätsansprüche über die<br />
soziale Identität des Einzelnen in der Gruppe. 182<br />
Der hier entwickelte postmodern-ethische Unternehmensidentitätsansatz<br />
beinhaltet, dass die Unternehmensidentität primär keine Soll- sondern eine<br />
Ist-Größe darstellt; eine Ist-Größe, die immer nur eine Annäherung sein<br />
kann, jedoch in ihrem Ansatz sehr viel authentischer ist, als es das strategische<br />
Instrument der Corporate Identity jemals sein kann. Denn in dem strategischen<br />
Ansatz ist die erfolgsorientierte Kommunikation immer schon<br />
dominant gegenüber der verständigungsorientierten. Eine wirkliche Ergebnisoffenheit<br />
des Evaluationsprozesses würde nicht nur dem einzelnen Mitarbeiter<br />
in einem ethisch-postmodernen Sinne der sensiblen Wahrnehmung<br />
des Anderen Rechnung tragen, sondern scheint langfristig auch ökonomisch<br />
nicht nur tragfähig, sondern sogar lohnend.<br />
12.2.2 Von der Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität zu der<br />
Weiterentwicklung der Unternehmung<br />
Um in einem letzten Schritt die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der<br />
gesamten Unternehmung erörtern zu können, sind mögliche Impulse einer<br />
ökonomischen Vernunft, so wie sie hier vorgestellt wurden, zu eruieren.<br />
Dazu sei der bisherige <strong>St</strong>and stichwortartig skizziert und danach Ansatzpunkte<br />
einer Weiterentwicklung diskutiert.<br />
(Rekapitulation)<br />
Die innere strukturelle Verfassung der Unternehmung stellt sich vor dem<br />
Hintergrund des hier skizzierten wirtschaftsethischen Ansatzes als ein<br />
rhizomatisches Geflecht dar. Die Knotenpunkte bilden die einzelnen<br />
Akteure, die Verflechtungen sind die Transaktionen zwischen ihnen. So<br />
182 Auch die gemeinsame Identität gleicht sich permanent mit der personalen Identität<br />
ab, und es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede identifiziert. Die Corporate<br />
Identity behält auf diese Weise ihren eher artifiziellen Charakter, sie steht dem emergenten<br />
Charakter einer „selbstlosen“ Identitätsbildung entgegen.<br />
242
heterogen die Punkte auch sein mögen, so andersartig, es gibt doch Möglichkeiten<br />
der Konnexion; Konnexionen, die Wahrnehmungen des Anderen in<br />
seiner Andersartigkeit ermöglichen, die Austausch ermöglichen, ohne dass<br />
damit die Heterogenität aufgehoben werden müsste. Konnexion und Verflechtung<br />
entstehen vor dem funktionalen Hintergrund der Organisationstätigkeit.<br />
Ihr Charakter verändert sich, reflektiert man den Wert des Erhalts<br />
der Andersartigkeit, den Wert der Akzeptanz und Toleranz von Differentem,<br />
den ethischen Wert der Anerkennung. Die funktionale Verflechtung erfährt<br />
eine Erweiterung um ihre moralischen intersubjektiven Ansprüche. Diese<br />
Ansprüche artikulieren sich in Begriffen wie Anerkennung, handlungsentlastete<br />
Interaktionszusammenhänge, plurale Einheit und authentische Partizipationsmöglichkeiten.<br />
Dies relativiert den ökonomischen Drang nach<br />
Vereinheitlichung, den Sachzwang, den Pragmatismus, den ökonomischen<br />
Reduktionismus und öffnet den Denkrahmen durch das Aufweisen von<br />
Bezügen, die über diesen Rahmen hinausgehen. Diese Transzendenz führt<br />
nicht zur Eliminierung des engeren Rahmens, sondern trägt zu dessen<br />
verantwortungsvoller Reflexion bei. Die Sicht auf den Gesamtkontext, der<br />
Zugang zum Gesamten stellt auch den Vernunft-Vollzug im ökonomischen<br />
Kontext dar.<br />
(Geplante Evolution – Organisationsentwicklung)<br />
Wie kann eine Unternehmung von einer Weiterentwicklung ökonomischer<br />
Rationalität als Gesamtes profitieren und wie sieht der dafür adäquate organisationstheoretische<br />
Rahmen aus? Das ist die Frage, die im Mittelpunkt dieses<br />
abschließenden Kapitels steht. Dabei entsteht die weitere Frage, wie Vielheit,<br />
Heterogenität oder Inkommensurabilität im organisatorischen Kontext<br />
(und dort im Speziellen mit dem Subjekt als solchem) zu handhaben ist, da<br />
die bloße Kenntnis ihrer Existenz noch keine Operationalisierungsmuster<br />
liefert. 183<br />
183 Die konkreten Operationalisierungsmuster sollen vor einem lebensweltlichen Hintergrund<br />
in Bezug auf den zu konzipierenden wirtschaftsethischen Ansatz entwickelt<br />
werden. Dabei ist dem Autor durchaus bewusst, dass dieser Aspekt nur einer von<br />
vielen ist, die das zentrale Spannungsfeld der „Einheit und Vielheit“ in organisatorischen<br />
Kontexten charakterisieren. Ringlstetter sieht in dem Muster von „Einheit und<br />
Vielheit“ das „Grundmuster konzerntypischer Rahmenkonzepte“ (Ringlstetter 1995:<br />
27ff.). Der Konzern pendelt zwischen Einheits- und Vielheitsorientierung hin und her.<br />
Vgl. auch die graphische Darstellung bei Ringlstetter (1995: 317). Ähnlich auch Go-<br />
243
Eine Entwicklung beschreibt einen Prozess. Im Kontext der Organisation ist<br />
mit dem Begriff der Entwicklung ein Intendiertes und nur selten ein Emergiertes<br />
gemeint. Im organisatorischen Rahmen wird nur wenig dem Zufall<br />
überlassen – dies widerspräche dem ökonomischen Kalkül. In der hier entwickelten<br />
Konzeption ist das evolutionäre Moment einer Entwicklung dem<br />
handlungsentlasteten Interaktionszusammenhang nahe, der mimetischen<br />
Reaktion, der Entschleunigung, der Offenheit für das, was passiert. Insofern<br />
wird es nicht verwundern, wenn in diesem Kontext Organisationsentwicklung<br />
auch als ein Passiertes, ein Evolutives verstanden wird. Die Intention<br />
der Entwicklung wird im organisatorischen Kontext nicht vollständig durch<br />
das evolutionäre Moment aufgehoben; vielmehr ist es so, dass sich das Passieren<br />
innerhalb des Intendierten abspielt, doch kann es auch über deren<br />
Grenzen hinausgehen. Dies könnte beispielsweise bedeuten, dass nicht mehr<br />
ein im Jetzt detailliert definierter Zielpunkt der Entwicklung ausgemacht<br />
bzw. determiniert wird, sondern eine relative Aussage getroffen wird. Die<br />
Relativität kann sich durch mindestens zwei unterschiedliche Bezüge konstituieren.<br />
Zum einen durch eine allgemeinere Form des Zielpunktes, also<br />
keine detailliert ausgearbeitete Zielvorgabe, sondern eher ein Zielkorridor,<br />
eine Vision. Zum anderen kann Relativität durch Relationalität erzeugt werden,<br />
d. h. der Zielpunkt richtet sich vornehmlich nach einer anderen, im<br />
Zeitablauf sich verändernden Größe (BSP-Wachstum, Trends, Wertewandel),<br />
wird somit wesentlich auch zur abhängigen Variable. 184 Die Zielvorstellung<br />
verhält sich dann in Relation zu der Veränderung dieser Größe(n). In dieser<br />
zweiten Form verbinden sich geplante und evolutive Momente in ein und<br />
derselben Konzeption. Kirsch entwickelt diesen Gedanken der Gleichzeitigkeit<br />
von Intention und Evolution in seinem organisationstheoretischen<br />
Ansatz und spricht in diesem Zusammenhang von geplanter Evolution. 185<br />
Diese Fähigkeit, ein Planen und ein Reagieren auf das Umfeld in gleichem<br />
Maße systematisch-organisatorisch umzusetzen, ist innerhalb der Unternehmung<br />
oftmals nicht ausgebildet und stellt eine komplexe Herausforde-<br />
mez, P. (1991): Konzernstrukturen in Bewegung: Neue Trends in der Konzernorganisation,<br />
unveröff. Seminarunterlagen, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, S. 16.<br />
184 Ziele sind mehr oder minder immer abhängig von den äußeren Bedingungen. Jedoch<br />
stellt es organisationstheoretisch eine andere Qualität dar, ob die Organisation auf die<br />
Bedingungen - neben dem Verfolgen der Zielvorgaben - immer noch zu reagieren hat,<br />
oder ob die Organisation diese Bedingungen in ihrer dynamischen Charakteristik<br />
systematisch einbezieht; dies wird im Folgenden noch deutlicher werden.<br />
185 Vgl. hierzu Kirsch (1991: 266ff.) und Kirsch (1997).<br />
244
ung organisatorischer Fähigkeiten dar. Um eine Ausbildung dieser Fähigkeit<br />
zu erlangen, bedarf es eines Entwicklungsprozesses, der vor allem die<br />
innere Verfassung der Unternehmung, die Rationalität der Unternehmung im<br />
Auge hat. 186<br />
Die herkömmliche Organisationsentwicklung konzentriert sich, wie bereits<br />
erwähnt, auf die intendierte, geplante Entwicklung der Unternehmung.<br />
Auch eine Konzeption, die evolutive Elemente aufnimmt, kommt um den<br />
Anteil an Planung nicht herum; Planung und Evolution verhalten sich in diesem<br />
Kontext komplementär zueinander. In dieser Komplementarität verändert<br />
sich auch das Planungselement selbst. Planung, die in Verbindung mit<br />
Evolutivem gedacht und konzipiert wird, stellt sich anders dar, als die herkömmliche<br />
„<strong>St</strong>absplanung“. Die Integration des evolutiven Elements stellt<br />
nicht nur an sich eine Veränderung zu den herkömmlichen Modellen dar,<br />
auch die weitreichenden Konsequenzen, die diese Integration bspw. auf sein<br />
Komplement „Planung“ zeitigt, unterscheiden die Modelle.<br />
Das Planungselement der Organisationsentwicklung ist transitiv, das evolutive<br />
Element ist intransitiv. Wenn ein Gegenstand entwickelt wird, dann impliziert<br />
dies grundsätzlich andere Kategorien, als wenn sich ein Gegenstand<br />
von selbst entwickelt. Der „Machbarkeitscharakter“ der Planung bedeutet<br />
eine stärkere Involviertheit in jeden Teil des Prozesses. Eine Planung, die sich<br />
komplementär zu evolutiven Elementen konstituiert, kann nicht in der Weise<br />
einer betriebswirtschaftlichen und voluntaristisch-traditionellen Machbar-<br />
186 Diese Rationalität der Unternehmung stellt immer eine Mischform aus systemischen<br />
und lebensweltlichen Rationalitäten dar. Die zu Beginn der Argumentation entwikkelte<br />
Konzeption ökonomischer Rationalität kann hiermit nur bedingt gleichgesetzt<br />
werden. Diese dort skizzierte „reine“ Form stellt eine theoretische Idealisierung dar,<br />
die versuchte, die Gegenstände zu identifizieren und zusammentragen und deren<br />
theoretischen und auch phänomenologischen Ursprung aufzuzeigen. Hier wird dagegen<br />
davon ausgegangen, dass der Kontext der Unternehmung derjenige Bereich ist,<br />
in dem die ökonomische Rationalität zwar dominant ist, aber nicht den einzigen rationalen<br />
Bezugsrahmen darstellt. Kirsch (1996: 357ff.) hat die rationale Gemengelage<br />
der Unternehmung als derivative Lebenswelt bezeichnet und damit darauf hingedeutet,<br />
dass die rationale Verfasstheit der Unternehmung als Lebenswelt interpretiert werden<br />
kann, da sie zum einen lebensweltlich-ähnliche Momente aufweist und zum anderen<br />
immer auch mit lebensweltlicher Rationalität durchsetzt ist. Interessant ist die<br />
Begriffswahl von Kirsch in diesem Zusammenhang deswegen, weil dadurch auch<br />
gleichzeitig ein lebensweltliches Apriori zum Ausdruck kommen kann: Die Unternehmung<br />
kann sich eben nie vollständig gegenüber der Lebenswelt abschotten, sondern<br />
ist immer auf sie angewiesen und letztlich auf sie verwiesen.<br />
245
keitsvorstellung eines okzidentalen Rationalismus verschrieben sein. 187 Vielmehr<br />
verbindet sich eine solche Planung auch in ihrer Determination mit<br />
einer gemäßigten Einstellung, einem gemäßigten Voluntarismus. 188 Planung<br />
geschieht im Bewusstsein auf die nicht vollständig determinierbare zukünftige<br />
Entwicklung. Dieses Bewusstsein beginnt dort, wo der Ist-Zustand festgestellt<br />
wird und endet dort, wo der Zielpunkt bzw. der Zielkorridor festgelegt<br />
wird. Evaluation und Extrapolation bilden den Rahmen jeglicher Entwicklungsmaßnahme.<br />
Ihre Relativierung durch Sensibilisierung für das<br />
Mögliche steht im Zeichen einer postmodern-ethischen Organisations-<br />
theorie. 189<br />
Inhaltlich hat jede Organisationsentwicklungsmaßnahme in der Umsetzung<br />
mit der Evaluation zu beginnen. Ohne eine möglichst authentische Analyse<br />
des Bestehenden laufen neue Entwicklungen Gefahr ins Leere zu laufen.<br />
Wenn nämlich eine Entwicklung nicht dort ansetzt, wo das zu Entwickelnde,<br />
hier: die Unternehmung, sich zu dem Zeitpunkt tatsächlich befindet, so greifen<br />
die Maßnahmen nicht. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass im<br />
Falle einer nur unzureichenden Evaluation die Entwicklungen nicht dasjenige<br />
entwickeln, was tatsächlich einer Entwicklung bedarf. Insbesondere in<br />
der Gewichtung zwischen <strong>St</strong>art- und Zielpunkt unterscheiden sich die herkömmlichen<br />
Konzeptionen von der hier vorgestellten Position. In herkömmlichen<br />
Konzeptionen führt die Machbarkeitsthese dazu, eine allzu detaillierte<br />
187 Vgl. hierzu ausführlicher Kirsch, W. (1984b): Evolutionäres Management und okzidentaler<br />
Rationalismus, unveröff. Arbeitspapier, München.<br />
188 Vgl. hierzu Kirsch, W. (1984a): Wissenschaftliche Unternehmensführung oder Freiheit<br />
vor der Wissenschaft? <strong>St</strong>udien zu den Grundlagen der Führungslehre, 2 Halbbände,<br />
München, S. 605ff., Kirsch (1992: 536ff.) und Kirsch (1994: 228f.). Vgl. zudem Abschn.<br />
5.1. Auch Müller-<strong>St</strong>ewens/Lechner sehen ihren Ansatz, den sie den „General Management<br />
Navigator (GMN)“ nennen, zwischen Determinismus und Voluntarismus<br />
und konzeptualisieren ihre Modelle bewusst in diesem Spannungsfeld. Vgl. hierzu<br />
Müller-<strong>St</strong>ewens, G./Lechner, C. (2001): <strong>St</strong>rategisches Management: Wie strategische<br />
Initiativen zum Wandel führen; der <strong>St</strong>.-Galler-General-Management-Navigator, <strong>St</strong>uttgart.<br />
„Sogar“ Lyotard sieht das Subjekt nicht in einer völligen (postmodernen) Ohnmacht<br />
und äußert sich ähnlich der Position des gemäßigten Voluntarismus: „Das<br />
Subjekt ist also nicht aktiv oder passiv, es ist beides zugleich, aber es ist das eine oder<br />
andere nur insofern, als es - in einem Regelsystem von Sätzen befangen - sich selbst<br />
mit einem Satz eines anderen Regelsystems konfrontiert und, wenn nicht nach den<br />
Regeln ihrer Versöhnung, so doch wenigstens nach den Regeln ihres Konflikts sucht,<br />
das heißt nach seiner immer bedrohten Einheit.“ (Lyotard 1987: 116).<br />
189 Der Begriff „Mögliche“ soll gleichermaßen einen gemäßigten Voluntarismus zum<br />
Ausdruck bringen, wie auch die Möglichkeit der Wahrnehmung der individuellen<br />
Andersartigkeit; somit ist das „Mögliche“ zugleich kontingent als auch transzendent<br />
gedeutet.<br />
246
Evaluation für nicht notwendig zu erachten und dafür eher den Fokus auf<br />
den Zielpunkt zu legen. Vor dem hier entwickelten Verständnis liegt dagegen<br />
der Fokus auf der Erfassung des <strong>St</strong>atus Quo, da sich in der Wahrnehmung<br />
des Bestehenden Vernunft und Ethik der Ökonomie vollziehen können.<br />
Der Zielpunkt dagegen ist maßgeblich von diesem <strong>St</strong>atus Quo abhängig<br />
und daher tendenziell abhängige Variable.<br />
Dieser <strong>St</strong>atus Quo der Unternehmung stellt sich immer auch als Produkt und<br />
Gegenstand der einzelnen Mitarbeiter dar. Wie im Zusammenhang mit der<br />
Unternehmensidentität erörtert wurde, ist diese Identität eine plurale, eine<br />
komplexe. Ein Außerachtlassen dieser Feststellung kann bewusst aus<br />
Kostengründen beispielsweise oder unbewusst aus Glauben an die Kontrollier-<br />
und <strong>St</strong>euerbarkeit der Unternehmung („Machbarkeit“) geschehen.<br />
Aus der hier skizzierten Konzeption bedeutet dagegen ökonomische Vernunft<br />
und ökonomische Ethik, dem Einzelnen Anerkennung im Sinne seiner<br />
ganzheitlichen Berücksichtigung, seiner expliziten Partizipation zuteil werden<br />
zu lassen, insbesondere dann, wenn es um Fragen der Identität geht.<br />
Grundsätzlich ist diese Möglichkeit der Berücksichtigung unternehmensintern<br />
zu schaffen, in einer systematischen, d. h. organisatorisch institutionalisierten<br />
Weise. 190 Eine auf diese Weise gestaltete Entwicklungsmaßnahme<br />
setzt nicht einen inhaltlichen <strong>St</strong>artpunkt, sondern öffnet sich den Inhalten<br />
des <strong>St</strong>artpunktes, die sich aus der Evaluation ergeben. Die Unternehmung ist<br />
heute nicht das, was wir heute aus ihr machen, sondern das, was sie heute<br />
tatsächlich ist. Planung kann erst nach einer Auseinandersetzung mit dem<br />
Tatsächlichen beginnen, nicht davor. Beginnt die Planung mit der Konstruktion<br />
des <strong>St</strong>artpunktes anstatt mit der offenen Erfassung, so hat die Maßnahme<br />
nur bedingt Bezug zu dem, auf was sie sich bezieht, nämlich auf die<br />
Unternehmensidentität und damit auf die Menschen, die in ihr und für sie<br />
arbeiten.<br />
12.3 Implikationen aus ökonomischer Sicht<br />
In Bezug auf die rein ökonomischen Implikationen deutet sich an, dass die<br />
stärkere Berücksichtigung der Evaluation der hier entwickelten Konzeption<br />
190 Damit sei angedeutet, dass sich eine solche systematische Ermöglichung nicht auf die<br />
politisch-korrektive Funktion der Gewerkschaft beschränken kann, sondern seinen<br />
systematischen Einzug in die organisatorischen Prozesse selbst halten muss, um nachhaltig<br />
wirksam sein zu können.<br />
247
zwar aufwendig erscheint, die damit aber mittel- bis langfristigen verbundenen<br />
positiven Effekte diese Aufwände überkompensieren können.<br />
Betrachtet man beispielsweise die prozessuale Ebene organisatorischer<br />
Transaktionsverflechtungen, so ist bei einer Organisationsentwicklungsmaßnahme<br />
die Unterstützung der Prozesspromotoren von zentraler Relevanz für<br />
den Erfolg dieser Maßnahme. Ein Machtpromoter ohne Prozesspromotoren<br />
ist dagegen nahezu machtlos. 191 Die Machtpromotoren sind oftmals die<br />
Ansprechpartner und Supervisoren des Organisationsentwicklungsprozesses;<br />
sie sind verantwortlich für den Gesamtprozess und die Maßnahme als<br />
solche. Die Prozesspromotoren sind Mitarbeiter auf mittlerer Führungsebene,<br />
die Verantwortung für das operative Geschäft tragen, für die operative<br />
Durchführung. In einer näheren Betrachtung ist aber auch jeder<br />
einzelne, von der Maßnahme betroffene Mitarbeiter ein Prozesspromotor.<br />
Die Bedeutung dieser Unterstützung durch die Betroffenen auch auf den<br />
unteren Hierarchiestufen wird oftmals ökonomisch unterbewertet und<br />
menschlich unterschätzt. Sind diese Prozesspromotoren von der Entwicklungsmaßnahme<br />
nicht überzeugt, so kann es zu stillem Boykott, zu Apathie<br />
bereits zu Beginn des Prozesses kommen. „<strong>St</strong>ill“ ist dieser Widerstand, denn<br />
er wird vom Einzelnen nicht explizit artikuliert. So scheint die Entwicklung<br />
aus der Außenperspektive, in diesem Fall die Perspektive der Machtpromotoren,<br />
voranzuschreiten, fällt jedoch nach Beendigung der durchgeführten<br />
Maßnahme in den Ursprungszustand zurück. Der Boykott wird wegen der<br />
<strong>St</strong>ille häufig nicht wahrgenommen. Der Einzelne gibt Unterstützung vor, um<br />
nicht als destruktiver Akteur in progressiven Entwicklungsprozessen aufzufallen<br />
und dadurch eventuelle Nachteile in den Beförderungsrunden hin-<br />
191 Vgl. zu den Begriffen der Promotoren in Entscheidungsprozessen Kirsch (1994:<br />
234ff.). Kirsch betrachtet die Promotionsaktivitäten eines Entscheidungsprozesses und<br />
unterscheidet zwischen Prozess- und Ergebnispromotion, die sich auf eine Episode beziehen<br />
und einer generellen Promotion, die episodenübergreifend ist. Insbesondere in<br />
komplexen Entscheidungsproblemen (so wie die Organisationsentwicklungsmaßnahme)<br />
schützt eine Prozesspromotion den Prozess vor „Versanden“ und „Diffusion“;<br />
die Ergebnispromotion dient vornehmlich der Durchsetzung der Ergebnisse<br />
gegenüber der „Umwelt“, welches beispielsweise auch Gläubiger sein können. Die in<br />
dieser Argumentation zusätzliche Unterscheidung in Machtpromotoren überträgt dies<br />
auf Prozesse im mikropolitisch-organisatorischen Kontext im Allgemeinen. Gerade in<br />
der Frage der Macht in und über Prozesse sind diejenigen, die den Prozess tatsächlich<br />
durchführen, oftmals nicht diejenigen, die Entscheidungsbefugnis (Prozessverantwortung)<br />
haben und vice versa. Dies führt zu Ineffizienzen und sozialen Konflikten,<br />
die charakteristisch sind für Prozesse in Organisationen. Aufgenommen ist diese<br />
Asymmetrie beispielsweise in der Principal-Agent-Theory.<br />
248
nehmen zu müssen. Diese Effekte führen ökonomisch gesehen mittelfristig<br />
zu hohen Aufwänden, denen keine Erträge gegenüberstehen.<br />
Die hier entwickelte Konzeption erfasst dagegen den Einzelnen, sieht ihn<br />
auch als Selbst-Zweck und fördert bewusst Bereiche der evolutionären<br />
Selbstorganisation. In dieser offenen Erfassung des individuellen So-Seins<br />
identifiziert sich der Einzelne als ein selbständiger Teil des Prozesses. Die<br />
Organisationsentwicklungsmaßnahme ist eine Entwicklung, durch die der<br />
Einzelne vornehmlich selbst geht. Aus dem individuell erfahrenen Prozess<br />
entstehen dann vielfältige Impulse für den Gesamtprozess – auch durch die<br />
wechselseitigen interindividuellen Interaktionen. Es können durch die Kombination<br />
von individueller Ansprache und Freiräumen der Selbstorganisation<br />
Eigendynamiken - immer in Bezug auf den Entwicklungsrahmen - entstehen,<br />
die durch die ursprüngliche Maßnahme selbst nicht hervorgebracht<br />
hätten werden können.<br />
12.4 Ökonomische Vernunft als organisationale Fähigkeit<br />
Die Rationalität der Unternehmung bildet den umfassenden organisatorischen<br />
Rahmen einer Diskussion um die innere Verfassung der Unternehmung,<br />
ihre Möglichkeiten der Weiterentwicklung und ihren Bezug zum einzelnen<br />
Mitarbeiter. In ihr ist grundsätzlich angelegt, was in der unternehmerischen<br />
Praxis zur Anwendung gelangt. Dabei stellt die Rationalität der<br />
Unternehmung eine Konkretion der ökonomischen Rationalität dar, die die<br />
allgemeinen ökonomischen Kategorien, Methoden und Darstellungsformen<br />
auf den Kontext der Unternehmung bezieht. Rekonstruiert man diese Rationalität<br />
der Unternehmung in Bezug auf ihre Teilnehmer, so kann von einer<br />
derivativen Lebenswelt der Unternehmung gesprochen werden. 192 In dieser<br />
Lebenswelt werden, wie in der originären Lebenswelt auch, von den Teilnehmern<br />
Fähigkeiten entwickelt, die ihrerseits einer Entwicklung – im transitiven<br />
und intransitiven Sinne – zugänglich sind. Da sie im engen Bezug auf<br />
die Unternehmung, jedoch immer auch durch und mit den Teilnehmern entstehen,<br />
kann man sie als organisatorische Fähigkeiten bezeichnen. 193 Im<br />
192 Vgl. hierzu Kirsch (1996: 357ff.) und Fußnote 186, Kapitel III.<br />
193 Vgl. hierzu Schreiner, G. (1998): Organisatorische Fähigkeiten: Konzeptualisierungsvorschläge<br />
vor dem Hintergrund einer evolutionären Organisationstheorie, München.<br />
Die bei Schreiner sehr komplex entwickelte Konzeption kann an dieser <strong>St</strong>elle nicht<br />
explizit zitiert werden. In der Hauptaussage versteht sich die Analyse der organisato-<br />
249
Folgenden wird es abschließend darum gehen, wie eine vor diesem Hintergrund<br />
verstandene Rationalitäten- und Fähigkeitenentwicklung inhaltlich zu<br />
belegen ist.<br />
Die organisatorische Fähigkeit, die eine planende Evolution, eine Ko-Evolution<br />
umsetzen kann, sensibilisiert die „Membran“, die Außengrenzen der<br />
Unternehmung, macht sie durchlässig und ermöglicht auf diese Weise ein<br />
organisationales Lernen an und mit der Umwelt. Zu dieser Umwelt gehört<br />
auch immer der einzelne Mitarbeiter, denn er bleibt immer auch andersartig,<br />
ist nie vollständig eins mit der derivativen Lebenswelt, immer nur Teil-<br />
Nehmer derselben. Diese Umwelt auch im Inneren des Systems fair, offen,<br />
authentisch und flexibel in die Gesamtorganisation integrieren zu können,<br />
bedarf eines hochsensiblen organisatorischen Fähigkeitenapparates, der sich<br />
auf Grundlage einer Rationalität der Unternehmung entwickeln kann. Wie<br />
jedoch sieht diese Fähigkeit in Bezug auf ihre Grundlage, die Rationalität der<br />
Unternehmung, aus?<br />
Kirsch bezeichnet in seinem Ansatz die organisatorischen Fähigkeiten als<br />
Basisfähigkeiten. Neben der Basisfähigkeit Lernen und der Basisfähigkeit<br />
Handeln scheint vor allem die Basisfähigkeit Responsiveness Charakterzüge<br />
aufzuweisen, die kompatibel mit den hier entwickelten Begriffen sind. Kirsch<br />
beschreibt die Responsiveness wie folgt:<br />
250<br />
„Die Responsiveness einer Organisation ist deren Fähigkeit, die Bedürfnislagen<br />
Betroffener zu erkennen und zu berücksichtigen, geht aber über das<br />
reine Berücksichtigen von Bedürfnissen in einem einzigen Kontext hinaus: In<br />
der Responsiveness eines Systems äußert sich ganz allgemein die Offenheit<br />
bzw. Empfänglichkeit für weitere Lebens- und Sprachformen und letztlich die<br />
Fähigkeit, die Welt auch in anderen, fremden Kontexten zu sehen, wahrzu-<br />
rischen Fähigkeiten bei Schreiner auch und vor allem als „kritische Organisationstheorie“<br />
(Schreiner 1998: 246; Hervorhebungen im Original). Indem sie den<br />
Fortschrittsbegriff in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, versteht sie sich als Fortsetzung<br />
des Projekts der Moderne - jedoch aus pluralistischer und konstruktivistischer<br />
Sicht. Dies hat zur Folge, dass sich hinter dem Fortschrittsverständnis weniger<br />
inhaltliche Dimensionen verbergen, diese aber in ihren Möglichkeiten reflektiert<br />
werden. In diesem Sinne bewegt sich die Analyse bei Schreiner durch den<br />
Gegenstand in einem tendenziell substantiellen Moderne-Verständnis, die Art der<br />
Bewegung geschieht jedoch nach postmodernen Regeln. Insofern ist die Konzeption<br />
bei Schreiner anschlussfähig an die hier entwickelte Konzeption, wobei die inhaltliche<br />
Belegung des Fortschrittbegriffs in dieser Argumentation durch die wirtschaftsethische<br />
Perspektive stärker im Vordergrund steht.
nehmen bzw. zu konstituieren. Damit wird eine kontextspezifische Bedürfnisinterpretation<br />
impliziert, deren Realisation natürlich entscheidend von der<br />
Grammatik bzw. Weltsicht anderer Lebens- und Sprachformen abhängt.“ 194<br />
Die Responsiveness transzendiert den sonstigen Handlungsfokus und<br />
nimmt Einstellungen, Haltungen und Sichtweisen auf, die zwar handlungsrelevanten<br />
Charakter haben, jedoch an sich keine Prozesse darstellen, denen<br />
ein direkter ökonomischer Bezug nachgewiesen werden kann. Im Kontext<br />
einer Erweiterung ökonomischer Rationalität scheint gerade diese Fähigkeit<br />
dasjenige darzustellen, was gemeinhin als „ethische Sensibilisierung“ also:<br />
Sensibilisierung für ethische Fragestellungen nicht nur im organisationalen<br />
Zusammenhang bezeichnet wird. Die Responsiveness stellt damit das Bindeglied<br />
zwischen der Konzeption von Kirsch und dem hier vorgestellten<br />
wirtschaftsethischen Zugang dar.<br />
Jedoch: Aus der hier entwickelten Perspektive stellt die Responsiveness - im<br />
Vergleich zu den Fähigkeiten Lernen und Handeln - qualitativ etwas anderes<br />
dar. Sie wird hier als konstitutive Voraussetzung der beiden anderen Basisfähigkeiten<br />
der Unternehmung reinterpretiert. Der Gleichordnung der<br />
Fähigkeiten bei Kirsch wird demnach nicht gefolgt. Die Differenz in diesem<br />
Punkt ergibt sich hauptsächlich durch die hier entwickelte Perspektive einer<br />
ökonomischen Vernunft und ökonomischen Ethik. In beiden, in Vernunft<br />
und Ethik, ist der Übergang als zentrales Spezifikum herausgestellt worden.<br />
Ob es die rationale Ahnung ist, die vernünftige Einsicht oder die ethische Notwendigkeit<br />
des Übergangs: für den Kontext der Unternehmung bleibt die<br />
Durchlässigkeit der organisatorisch-rationalen Membran diejenige Größe, welche<br />
den bestimmenden Faktor einer organisatorischen Weiterentwicklung darstellt<br />
und damit auch die Handlungs- und Lernfähigkeit der Unternehmung<br />
konstituiert. Diese Membran steht zwischen Innen (Systemlogik in Form von<br />
ökonomischer Rationalität) und Außen (lebensweltliche Rationalität) und<br />
wird in der hier entwickelten Konzeption in beide Richtungen durchlässig.<br />
Die Durchlässigkeit der Membran wird ergänzt durch einen organisatorischen<br />
Kern, dessen Offenheit für Differentes, für den Anderen und seine<br />
Denkweisen konstitutives Merkmal ist, was bedeutet, dass die Impulse von<br />
außen grundsätzlich beliebige Reaktionen im Inneren auslösen können und<br />
194 Kirsch (1997: 351; Hervorhebung im Original; Fußnoten weggelassen).<br />
251
nicht schon immer eine systemäquivalente Umdeutung erfahren. 195 Den<br />
organisatorischen Kern stellt bei Kirsch die Konzeption der „evolutionsfähigen<br />
Unternehmung“ dar. 196 Bei dieser evolutionsfähigen Unternehmung<br />
steht das Bestreben im Vordergrund, „einen Fortschritt in der Befriedigung<br />
der Bedürfnisse und Interessen der vom Handeln der Organisation direkt<br />
oder indirekt Betroffenen zu erzielen“ 197. Diesen Zielpunkt bezeichnet Kirsch<br />
als Fortschrittsmodell. 198 Bevor ein Unternehmen diese <strong>St</strong>ufe erreicht, „überwindet“<br />
es das Instrumentalmodell, in dem die Unternehmung „in allererster<br />
Linie als Instrument zur Durchsetzung von Interessen der primären Nutznießer“<br />
interpretiert wird. Die mittlere <strong>St</strong>ufe stellt das Überlebensmodell dar,<br />
das primär darauf ausgerichtet ist, angesichts aller Veränderungen innerhalb<br />
und außerhalb der Unternehmung den eigenen Bestand zu sichern. Der<br />
Zielpunkt dieser Höherentwicklung der Rationalität der Unternehmung<br />
generiert und reproduziert die Fähigkeiten der Unternehmung, stellt also<br />
deren rationalen Bezugsrahmen, deren Referenz dar. 199<br />
Die evolutionsfähige Unternehmung und ihre Ko-Evolution wird in der hier<br />
entwickelten Konzeption durch den Wechsel zwischen Routine und Flexi-<br />
195 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Unternehmung sich vollständig nach dem richtet,<br />
was die Umwelt, und damit nämlich auch der Markt, vorgibt; dies käme einem Sachzwang<br />
gleich.<br />
196 Wiesmann (1989: 259ff.) sieht enge Verbindungen zwischen der Kirsch’schen Position<br />
und der Position von Welsch, wenn man das Konzept der evolutionsfähigen Unternehmung<br />
betrachtet. Insbesondere die Komplementarität von prinzipieller und okkasioneller<br />
Rationalität, die sich an Spinner anlehnt, entspricht im Welsch’schen System<br />
der Komplementarität von Moderne und Postmoderne. Allerdings bleibt die Analyse<br />
von Wiesmann in ihren Analogien zu ungenau.<br />
197 Kirsch (1997: 653).<br />
198 Das Fortschrittsmodell kann aus der expliziten Betrachtung organisatorischer Fähigkeiten<br />
als kontrafaktisches Modell rekonstruiert werden, da die Feststellung der<br />
Fähigkeit stark beobachterabhängig ist. Schreiner (1998: 240ff.) resümiert vor dem<br />
Hintergrund einer Fähigkeitenbetrachtung, dass es adäquater erscheint, von einer<br />
fortschritssbewussten, anstatt von einer fortschrittsfähigen Unternehmung zu sprechen.<br />
Dies zollt nicht nur dem Ansatz eines gemäßigten Voluntarismus Tribut, sondern<br />
verdeutlicht auch die konsequent postmoderne Rekonstruktion der Moderne.<br />
199 Vgl. hierzu auch Bretz (1988: 321ff.). Unter dem Begriff der „Kultivierung der Intuition“<br />
verbindet Bretz die Sinnmodelle und deren Dynamik mit einer Betrachtung von<br />
linksseitiger (prinzipieller) und rechtsseitiger (okkasioneller) Rationalität und knüpft<br />
damit u. a. auch an die Doppelvernunft nach Spinner (1994) an. Bretz zeigt zudem<br />
auf, in welcher Weise sich in der Höherentwicklung der Unternehmung die Art der<br />
Austauschprozesse und die Komplexitätshandhabungsstrategien ändern und inwieweit<br />
diese wiederum mit der prinzipiellen und okkasionellen Vernunft in Verbindung<br />
stehen. Vgl. insbesondere die graphische Darstellung bei Bretz (1988: 333).<br />
252
ilität maßgeblich charakterisiert gesehen. 200 Die Balance zwischen diesen<br />
Größen ermöglicht wiederum dem Einzelnen, seine Räume der Selbstorganisation,<br />
Räume der Autonomie zu erhalten, eine Form individueller Selbstbestimmung<br />
zu verwirklichen und damit eine Balance zwischen Arbeit und<br />
Leben zu erreichen. 201 Diese Selbstbestimmung stellt einen Teil der Anerkennung<br />
des Einzelnen dar und ermöglicht dessen Selbstachtung. Somit<br />
können diese Methodenübergänge als vernünftige Übergänge interpretiert<br />
werden, auf deren Grundlage eine intersubjektiv-ethische Konsequenz, der<br />
Übergang zum Anderen, rekonstruiert werden kann. Methodenwechsel generieren<br />
eine Art „Schutzraum“, eine spezifische Form von Unternehmenskultur,<br />
in der die individuellen Entscheidungen auch trotz sozialer und<br />
fachlicher Zwänge der Unternehmung faktisch möglich sind. Eine solchen<br />
Übergang in zweifacher Weise zu etablieren, dies stellt sich als eine der zentralen<br />
Herausforderungen der Gestaltung von Unternehmen dar.<br />
200 „Routine“ wurde bereits im Zusammenhang mit der Flexibilisierung näher beschrieben.<br />
Vgl. hierzu Abschn. 2.2. Routine stellt eine „Insel“ im <strong>St</strong>rom der Geschäftigkeit<br />
dar, die immun ist gegen alltäglichen Druck und Hektik. Dieser Raum ist wesentliche<br />
Voraussetzung der Möglichkeit einer Erzählung, einer Identitätsbildung. In dieser<br />
Selbstreflexion identifiziert sich der Einzelne in seinen Erwartungen und Ansprüchen,<br />
aber auch in seinen Fähigkeiten und Beiträgen für die Unternehmung und kann auf<br />
diese Weise reflektierter zu einem gemeinsamen organisatorischen Prozess beitragen.<br />
201 Eine solche Selbstbestimmung beobachtet Voß im Kontext der Unternehmung und<br />
beschreibt dies als eine ideelle oder motivationale Entgrenzung, welche dazu führt,<br />
dass eine gemeinsame (organisationale) Ausrichtung und Orientierung der Mitarbeiter<br />
zur Ausnahme betrieblicher Praxis mutiert. Eine „kognitive Parallelisierung“, welche<br />
noch vor einigen Jahren als Zeichen einer optimal umgesetzten Unternehmenskultur<br />
(in diesem Fall i.S.v. Identifikation mit der Unternehmung gemeint) galt, wird<br />
heute– als eher unkreativ, nicht produktiv und im strategischen Sinne als<br />
problematisch empfunden. Vgl. nach Voß (1998) beispielsweise Clutterbuck,<br />
D./Kernaghan, S. (1995): Empowerment – So entfesseln Sie die Talente ihrer<br />
Mitarbeiter, Landsberg; Herriot, P./Pemberton, C. (1994): Competitive Advantage<br />
Through Diversity. Organizational Learning from Difference, London; Sprenger, R.K.<br />
(1996): Mythos Motivation. Wege aus einer Sackgasse, Frankfurt/New York. Der<br />
Einzelne muss auf dem Wege der Eigenmotivierung eine selbständige Sinnsetzung in<br />
der und in die Arbeit vornehmen, er soll die Charakteristika seiner individuellen<br />
Persönlichkeit wahrnehmen, handhaben und in dieser personalen Differenz zu seinen<br />
Kollegen die Quelle der interpersonalen Produktivität suchen und ausschöpfen.<br />
Differenz wird aus dieser Perspektive nicht destruktiv wahrgenommen, sondern<br />
konstruktiv aufgelöst.<br />
253
254
IV Fazit<br />
Die Argumentation hat versucht, einen Bezugsrahmen aufzuspannen, in<br />
dem sich Rationalität, Vernunft und Ethik der Ökonomie zueinander verhalten.<br />
Dieses Verhaltensmuster ist einerseits geprägt durch qualitative Differenzen,<br />
andererseits gekennzeichnet durch Konnexion dieser Bereiche.<br />
Auch wenn die Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität nicht bedeuten<br />
kann, dass aus Rationalität Vernunft wird, so kann doch eine Weiterentwicklung<br />
im starken Sinne, also eine Entwicklung, die ihre eigenen Grenzen<br />
transzendiert, die Konnexion zu Vernunft herstellen und damit teilhaben.<br />
Die Öffnung der eigenen Grenzen setzt eine grundsätzliche (Selbst-)Reflexion<br />
voraus, die sich selbstreferentiell in den eigenen Reflexionsbereich in<br />
fundamentaler, d. h. in einer die eigene Begründung umfassend in Frage<br />
stellenden Weise einbezieht und so die Transformation in einen weiteren,<br />
vernünftigen Kontext vollzieht.<br />
Eine zusätzliche Erweiterung stellt die ethische Reflexion dar, die jedoch<br />
nicht einen derart qualitativen Schritt beschreibt, sondern eine konsequente<br />
Fortführung der vernünftigen Einsicht in die Notwendigkeit von Konnexion,<br />
also von nicht-vereinheitlichender Verbindung darstellt. Diese konsequente<br />
Fortführung vollzieht eine normativ-inhaltliche Setzung der vernünftigen<br />
Einsicht, bleibt jedoch in gleichem Maße der Grundstruktur, der Konnexion<br />
von Heterogenitäten, auch in der Normativität verpflichtet. Dies hat dazu<br />
geführt, dass sich die Normativität nicht durch spezifisch-konkrete Inhalte<br />
konstituiert, sondern auf einer abstrakteren Ebene - und damit partiell losgelöst<br />
von konkreten Inhalten, aber auch von konkretem subjektiven Zugriff<br />
und Willkür - durch die bewusste Wahrnehmung der Andersartigkeit des<br />
Anderen ausdrückt. Hiermit verbunden ist die Notwendigkeit der Gestaltung<br />
von Übergängen.<br />
Im ökonomischen Kontext konstituiert sich der Übergang zum Anderen in<br />
dem Übergang zwischen den Rationalitäten. Dieser Übergang stellt den Anschluss<br />
an eine Vernunft dar, die trotz heterogener Verfasstheit, trotz inhaltlicher<br />
Reduziertheit, Zugang zum Ganzen aufweisen kann. Im Vollzug der<br />
Vernunft wird auch die ökonomische Rationalität in ihrer relativierenden<br />
Relationalität rekonstruiert und damit in Beziehung gesetzt zu den sie umgebenden<br />
Kontexten. Dieser Vollzug bringt die Verwiesenheit der Kontexte<br />
untereinander zum Vorschein und verknüpft auf diese Weise die ökonomische<br />
Rationalität mit dem Kriterium der Lebensdienlichkeit.
In der Argumentation ist deutlich geworden, in welchem Spannungsfeld sich<br />
der Einzelne im ökonomischen Kontext bewegt. Um eine Anschlussfähigkeit<br />
ökonomischer Rationalität zu erlangen, ist der Einzelne als Träger und<br />
Betroffener ökonomischer Rationalität in zweifacher Weise herausgefordert,<br />
die notwendige differenzierte und differenzierende Distanz zu entwickeln,<br />
die eine grundsätzliche Reflexion ermöglicht und auf diese Weise zu einer<br />
tatsächlichen, real-wirksamen Anschlussfähigkeit beitragen kann. Dies<br />
würde einer Art von Autonomie entsprechen, die als „Schutzraum“ von<br />
Seiten der Unternehmung bzw. Gesellschaft institutionalisiert werden kann.<br />
256<br />
„Es sind ja nicht mehr bloß die einzelnen Individuen gefordert, im Sinne ihres<br />
Autonomiezuspruchs von Vernunft als Selbstreflexion Gebrauch zu machen<br />
(auch diese brauchen dafür eine willentliche Entscheidung, von selbst geschieht<br />
auch diese Selbstreflexion nicht so ohne weiteres), eigentlich wären<br />
ganze Systeme gebeten zu überlegen, was sie sind, was sie wollen, und ob wir<br />
wollen, daß sie sind, was sie sind. In diesem Vorgang kollektiver Anstrengung<br />
wird der Imperativ nach transversalem Vernunftgebrauch zu einer<br />
Frage der Organisierbarkeit von Selbst-Systemdifferenz und –transzendenz.“ 1<br />
Diese „kollektive Anstrengung“ weist jedoch immer auch auf den Einzelnen<br />
zurück. Das Subjekt stand als Träger und Betroffener von Rationalität, Vernunft<br />
und Ethik im Mittelpunkt auch dieser Argumentation. In der individuellen<br />
Anstrengung verwirklicht sich die individuelle Autonomie, die der<br />
Einzelne qua Vernunft erfahren und erleben kann. Die individuelle Autonomie<br />
kann der Autonomie des Systems entgegenstehen, wenn ihr <strong>St</strong>atus<br />
durch das System eingeschränkt wird. Gleichzeitig kann auch das System<br />
durch die individuelle Autonomie beschränkt werden. Durch die immanente<br />
Verbindung der individuellen Autonomie mit Vernunft fällt dieser Autonomie,<br />
so auch in der vorgestellten Argumentation, ein prinzipieller Vorrang<br />
gegenüber der Autonomie des Systems zu. Die systemische Autonomie legitimiert<br />
sich vornehmlich durch Rationalität. Polarisiert man dies, so ließe<br />
sich festhalten, dass der Einfluss der individuellen Autonomie auf die<br />
Systemautonomie latent konstruktiv, weil transzendierend wirkt, die<br />
systemische Autonomie latent destruktiv, weil reduktionistisch-kontingent<br />
wirkt.<br />
1 Heintel (2000: 106).
Eine transversale Vernunft im Kontext der Unternehmung weiß, die individuelle<br />
Autonomie in Verbindung zu bringen mit anderen individuellen<br />
Autonomien, ohne dass die Individualität verloren geht, die ökonomische<br />
Ethik weiß, diese Verbindungen zu „nutzen“, ohne dass die Autonomie<br />
verloren geht – Autonomie um ihrer selbst Willen.<br />
Eine ökonomisch-transversale Vernunft weiß, individuelle und systemische<br />
Autonomie zusammenzudenken und den lebensdienlichen Beitrag beider<br />
Autonomien zu identifizieren. Damit steht sie zwischen der Lebens- und<br />
Arbeitswelt. Als transversaler Übergang plädiert sie auf beiden Seiten für<br />
Offenheit und Sensibilisierung. Solange die ökonomische Rationalität nur<br />
disziplinär denkt, aber interdisziplinär handelt, solange läuft sie Gefahr,<br />
überfordert zu sein und solange der Mensch die ökonomische Rationalität<br />
nicht in ihrer defizitären <strong>St</strong>ruktur erkennt, solange läuft er Gefahr, aufgrund<br />
der rationalen Verengung der Lebenswelt durch die ökonomische Rationalität<br />
latent von den übrigen Problemstellungen überfordert zu sein.<br />
257
Literaturverzeichnis<br />
Es werden für folgende Fachzeitschriften Abkürzungen verwendet:<br />
� „Ethik und Sozialwissenschaften“: EuS<br />
� „Berliner Forum zur Wirtschafts- und Unternehmensethik (Hrsg.): Zeitschrift<br />
für Wirtschafts- und Unternehmensethik, Mering“: zfwu<br />
Zuweilen ist der englische Originaltitel zusätzlich zu der deutschen Übersetzung<br />
genannt, wenn sich nach Meinung des Verfassers zu starke inhaltliche<br />
Verzerrungen durch die Übersetzung ergeben bzw. der englische Titel signifikant<br />
aufschlussreicher erscheint. Ebenso ist das Jahr der Ersterscheinung<br />
genannt, wenn sich hier starke Differenzen ergeben.<br />
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Marburg, S. 47-70.<br />
Wittgenstein, L. (1953): Philosophische Untersuchungen, Oxford.<br />
Wittgenstein, L. (1984): Philosophische Untersuchungen, in: ders. (1984):<br />
Werkausgabe, Bd. I, Frankfurt, S. 225-580.<br />
Wittwer, H. (2000): Wider den neuen Purism der Vernunft, in: EuS, Jg. 11,<br />
H. 1, S. 161-162.<br />
Wöhe, G. (1973): Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre,<br />
11. Aufl., München.<br />
Wuchterl, K. (2000): Transversale Vernunft - eine ästhetische Illusion, in: EuS,<br />
Jg. 11, H. 1, S. 162-164.<br />
Wüstehube, A. (2000): Rationalität versus Vernunft - Ein müßiger <strong>St</strong>reit, in:<br />
EuS, Jg. 11, H. 1, S. 164-166.<br />
Wulf, C. (1987): Lebenszeit – Zeit zu leben? Chronokratie versus Pluralität<br />
der Zeiten, in: Kamper/Wulf (1987), S. 266-275.<br />
Wunderer, R. (1988): Die Betriebswirtschaftslehre als Management- und<br />
Führungslehre, 2. ergänzte Aufl., <strong>St</strong>uttgart.<br />
275
Zweck, A. (1993): Die Entwicklung der Technikfolgenabschätzung zum<br />
gesellschaftlichen Vermittlungsinstrument, Opladen.<br />
276
Lebenslauf<br />
1982 – 1991 Kieler Gelehrtenschule, Altsprachl. Gymnasium, Kiel<br />
1991 – 1998 Betriebswirtschaftslehre an der<br />
Christian-Albrechts-<strong>Universität</strong> zu Kiel<br />
<strong>Universität</strong> Osnabrück<br />
Ludwig-Maximilians-<strong>Universität</strong> zu München (Dipl.-Kfm.)<br />
1998 – 2000 Soziologie (Vordiplom) an der<br />
Ludwig-Maximilians-<strong>Universität</strong> zu München<br />
1999 – 2002 Promotion zum Dr. oec.<br />
<strong>Universität</strong> <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, Schweiz<br />
1998 – 2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Technik-<br />
Theologie-Naturwissenschaften (TTN), München<br />
Bereich: Wirtschaftsethik<br />
1991 – 2002 Praktika<br />
BDO AG, Kiel<br />
Siemens AG, München<br />
DaimlerChrysler AG, <strong>St</strong>uttgart<br />
Bayrischer Rundfunk, München<br />
Skymore-Productions, New York<br />
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