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TRANSVERSALE WIRTSCHAFTSETHIK - Universität St.Gallen

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<strong>TRANSVERSALE</strong> <strong>WIRTSCHAFTSETHIK</strong><br />

Ökonomische Vernunft zwischen Lebens- und Arbeitswelt<br />

D I S S E R T A T I O N<br />

der <strong>Universität</strong> <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>,<br />

Hochschule für Wirtschafts-,<br />

Rechts- und Sozialwissenschaften (HSG)<br />

zur Erlangung der Würde eines<br />

Doktors der Wirtschaftswissenschaften<br />

vorgelegt von<br />

Thies Boysen<br />

aus<br />

Deutschland<br />

Genehmigt auf Antrag der Herren<br />

Prof. Dr. Peter Ulrich<br />

und<br />

Prof. Dr. Emil Walter-Busch<br />

Dissertation Nr. 2644<br />

f. u. t. müllerbader GmbH<br />

<strong>St</strong>uttgart 2002


Die <strong>Universität</strong> <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und<br />

Sozialwissenschaften (HSG), gestattet hiermit die Drucklegung der<br />

vorliegenden Dissertation, ohne damit zu den darin angesprochenen<br />

Anschauungen <strong>St</strong>ellung zu nehmen.<br />

<strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, den 30. April 2002<br />

Der Rektor:<br />

Prof. Dr. Peter Gomez


Vorwort<br />

Nach Fertigstellung dieser Arbeit habe ich vielfältigen Grund, Dank zu sagen<br />

für Rat und Hilfe, Unterstützung und Beistand, die ich während der gesamten<br />

Zeit von unterschiedlichen Seiten erfahren durfte.<br />

Allen voran danke ich aufrichtig meinem Doktorvater Herrn Professor Dr.<br />

Peter Ulrich, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, der sich während, und schon vor der Erstellung dieser<br />

Arbeit für mich eingesetzt hat. Herrn Ulrich verdanke ich die Sensibilisierung<br />

für die Relevanz der Fragestellungen und für den differenzierten Umgang<br />

mit diesen. Durch seine wissenschaftliche Arbeit, seine zentralen Aussagen,<br />

hat er meinen Weg geprägt und wird ihn weiter prägen.<br />

Meinem Korreferenten, Herrn Professor Dr. Emil Walter-Busch, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>,<br />

danke ich ebenso aufrichtig für seine inspirierend-assoziative Offenheit, die<br />

mich während des Promotionsstudiums begleitet und gefördert hat.<br />

Geht man nach Maslow, so können die Wachstumsmotive - das Bedürfnis nach<br />

Wissen und Verstehen als Bestandteil der Selbstverwirklichung beispielsweise<br />

- erst dann wirksam befriedigt werden, wenn die Defizitmotive, also die<br />

Bedürfnisse nach Anerkennung, Liebe, Schutz, aber auch Hunger und<br />

Schlafen in ausreichendem Maße befriedigt sind. Ich möchte an dieser <strong>St</strong>elle<br />

meinen Dank aussprechen, dass diese „Defizitmotive“ zu keinem Zeitpunkt<br />

meiner Arbeit das Erfüllen der Wachstumsmotive behindert haben. Aus<br />

diesem Grund möchte ich allen danken, die mir <strong>St</strong>ärke und Mut, Anerkennung<br />

und Unterstützung gegeben haben. Allen voran danke ich meinen<br />

Eltern, Hella und Dr. Kurt Boysen, die auf allen diesen Ebenen nie Zweifel<br />

darüber haben aufkommen lassen, ob diese Defizitmotive befriedigt werden<br />

würden. Mit einschließen in diese Form des Dankes möchte ich meine Geschwister,<br />

Frank Boysen, Johannes Boysen und Anne-Beke Sontag, die liebevoll<br />

jeden einzelnen Schritt verfolgten. Tiefen Dank möchte ich auch meinem<br />

besten Freund Philipp Eder aussprechen, der mittlerweile wohl ebensoviel<br />

von Wirtschaftsethik versteht, wie ich. Er war in dieser Zeit nicht nur geduldiger<br />

Zuhörer, sondern auch moralischer Beistand.<br />

Schließlich sei all denjenigen gedankt, die die aufwendige und so wichtige<br />

Korrekturarbeit übernommen haben; dies sind neben der Familie insbesondere<br />

Frau Dr. Anja Haniel, München, Frau Annette Ott, Frankfurt, und Frau<br />

Dr. Barbara Hepp, Berlin. Herrn Markus Breuer, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, danke ich für<br />

seine geduldigen Auskünfte auf meine vielfältigen Anfragen.<br />

1


Ich blicke zurück auf eine Zeit der intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung<br />

und Herausforderung und blicke nach vorn auf eine Zeit, die von dieser<br />

Auseinandersetzung und ihren Inhalten geprägt sein wird - dafür bin ich<br />

dankbar. Ich bin glücklich, diese Zeit gelebt und erlebt zu haben und freue<br />

mich auf das, was danach kommt.<br />

Ich widme diese Arbeit meinen lieben Eltern.<br />

München, im Mai 2002 Thies Boysen<br />

2


Inhaltsverzeichnis<br />

EINLEITUNG....................................................................................................................... 7<br />

I ENTGRENZTE ÖKONOMIE, BEGRENZTE ÖKONOMISCHE<br />

RATIONALITÄT - SKIZZEN EINES SPANNUNGSFELDES............................ 10<br />

1 Die ökonomische Rationalität – eine <strong>St</strong>andortbestimmung ....................................................11<br />

1.1 Vom „Genug“ zum „Je mehr, desto besser“ - ein erster historischer Zugang...............11<br />

1.2 Formale Prinzipien ökonomischer Rationalität – eine kritische Reflexion.....................15<br />

1.3 Tauschhandel und Marktkoordination - methodische Bestimmungen ökonomischer<br />

Rationalität ..............................................................................................................................21<br />

1.3.1 Von der Selbstversorgung zum Tauschhandel ....................................................21<br />

1.3.2 Die Entstehung des Marktes...................................................................................26<br />

1.4 Zusammenfassung .................................................................................................................28<br />

2 Aktuelle Herausforderungen - Entgrenzung des Begrenzten..................................................29<br />

2.1 Globalisierung - eine systemische Rekonstruktion............................................................30<br />

2.1.1 Globale Pluralität - externe Herausforderung der Ökonomie ...........................31<br />

2.1.2 Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik - interne Herausforderung der<br />

Ökonomie ..................................................................................................................35<br />

2.2 Exkurs: Totale Flexibilisierung .............................................................................................43<br />

2.3 IuK-Technologien als Enabler ökonomischer Entgrenzung.............................................50<br />

2.4 Exkurs: Die Entgrenzung von Lebens- und Arbeitswelt ..................................................53<br />

3 Grenzen ökonomischer Rationalität – lebensweltliche Implikationen .................................60<br />

3.1 Quantifizierung – Positivismus............................................................................................61<br />

3.2 Rechnerisches Kalkül – Verdinglichung sinnlicher Erfahrung........................................62<br />

3.3 Raum, Zeit, Sprache – die Eskalation der Kolonialisierung .............................................65<br />

3.4 Ein tabellarisches Fazit ..........................................................................................................70<br />

4 Methodische Implikationen für das weitere Vorgehen ............................................................72<br />

4.1 System und Lebenswelt.........................................................................................................72<br />

4.2 Übersetzungsleistungen - eine wirtschaftsethische Grundsatzentscheidung................76<br />

3


II <strong>TRANSVERSALE</strong> VERNUNFT – VERNUNFT ZWISCHEN MODERNE UND<br />

4<br />

POSTMODERNE......................................................................................................... 82<br />

Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität im Lichte wirtschaftsethischer Ansätze<br />

- eine Vorbemerkung ...............................................................................................................................82<br />

5 Postmoderne Moderne - Skizzen des aktuellen Bezugsrahmens............................................85<br />

5.1 Moderne, Postmoderne oder postmoderne Moderne? .....................................................86<br />

5.2 Die konstitutive Rolle des Entdeckungs- und Verwendungszusammenhangs in der<br />

postmodernen Moderne........................................................................................................92<br />

5.2.1 Inkommensurabilität ...............................................................................................95<br />

5.2.2 Diskontinuitäten.......................................................................................................97<br />

5.2.3 Zusammenfassung ...................................................................................................98<br />

5.3 Der postmodern-moderne Begründungszusammenhang - Einheit und Vielheit vs.<br />

Heterogenität und Konnexion............................................................................................100<br />

5.4 Subjektive Vernunft vs. objektive Vernunft......................................................................103<br />

5.5 Zusammenfassung ...............................................................................................................109<br />

6 Vernunft im Übergang - das Konzept der transversalen Vernunft.......................................111<br />

6.1 Zentrale Gegenstandsbestimmungen................................................................................112<br />

6.1.1 Die Realverfassung von Rationalitäten ...............................................................114<br />

6.1.2 Die Pluralisierung von Paradigmen ....................................................................116<br />

6.2 Zentrale Verhältnisbestimmungen ....................................................................................120<br />

6.2.1 Vernunft und Rationalität .....................................................................................120<br />

6.2.2 Vernunft und Totalität...........................................................................................124<br />

7 Transversale Vernunft in der kritischen Reflexion .................................................................130<br />

7.1 Historisch-begriffliche Verhältnisbestimmungen............................................................131<br />

7.1.1 Paradigma-Begriff nach Kuhn..............................................................................132<br />

7.1.2 Exkurs: Die Überwindung des Trennungstheorems des Rationalismus........135<br />

7.1.3 Vernunft-Begriff nach Kant...................................................................................138<br />

7.2 Leere u. Positionsungebundenheit - zentrale Charakteristika transvers. Vernunft....143<br />

7.3 Aktuelle kritische Reflexion................................................................................................147<br />

7.3.1 Die Reinheit der Vernunft als Selbstpurifikationsdynamik – ..........................147<br />

vernünftige Grenzen..............................................................................................147<br />

7.3.2 Totalität, Vernunft, Rationalität - zentrale Verhältnisbestimmungen in der<br />

Kritik ........................................................................................................................153<br />

8 Fazit .................................................................................................................................................158


III BALANCE VON ARBEIT UND LEBEN - ÖKONOMISCHE VERNUNFT<br />

IN THEORETISCHER UND PRAKTISCHER REFLEXION....................... 160<br />

9 Vernunft in der postmodernen Moderne - Hinführung zu einer ökonomischen Vernunft ..<br />

.................................................................................................................................................160<br />

9.1 Rekapitulation der Notwendigkeit einer Weiterentwicklung ökonomischer<br />

Rationalität ............................................................................................................................161<br />

9.2 „Vernünftige“ Bausteine - eine Skizzierung der Verhältnisbestimmungen ................165<br />

9.2.1 Vernunft und Ökonomische Vernunft ................................................................165<br />

9.2.2 Vernunft und Ethik der Ökonomie......................................................................167<br />

9.2.3 Vernunft und Subjektorientierung - Vernunft als Vermögen ..........................168<br />

9.2.4 Vernunft als notwendige Bedingung des ethischen Vollzugs .........................172<br />

9.3 Verhältnisbestimmungen postmodern-moderner Vernunft - ein Fazit........................173<br />

10 Ökonomische Vernunft – der wirtschaftsethische Bezug.......................................................174<br />

10.1 Ökonomische Vernunft - Profilierung u. Positionierung in der akt. Diskussion ........175<br />

10.1.1 Ökonomische Vernunft vs. Ökonomische Vernunft .........................................179<br />

10.1.2 Ökonomische Vernunft und Pragmatismus.......................................................181<br />

10.1.3 Vernunft der Ökonomie vs. Ökonomische Vernunft ........................................185<br />

10.2 Impulse für eine Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität –<br />

Verknüpfungsvorbereitung ................................................................................................187<br />

10.2.1 Öffnungen ökonomischer Rationalität ................................................................187<br />

10.2.2 Legitimation nach innen und außen....................................................................189<br />

10.2.3 Nicht-Numerisches als alternative Form ............................................................193<br />

10.3 Zusammenfassung ...............................................................................................................195<br />

11 Postmoderne Ethik - der Übergang zum Anderen ...................................................................196<br />

11.1 Intersubjektive Verwiesenheit - ethische Grundbestimmung........................................199<br />

11.2 Übergang zum Selbst - zum Anderen ...............................................................................204<br />

11.3 Die andere Gemeinschaft – von der Einstellung zur Anerkennung des Anderen .......217<br />

11.4 Zusammenfassung ...............................................................................................................225<br />

12 Postmodern-moderne Ethik der Ökonomie und deren unternehmensethische<br />

Implikationen ..................................................................................................................................226<br />

12.1 Skizzen einer postmodern-modernen Ethik der Ökonomie...........................................227<br />

12.2 Identität und Entwicklung (in) der Unternehmung........................................................232<br />

12.2.1 Identität (in) der Unternehmung - zwischen Unternehmensidentität und<br />

Corporate Identity..................................................................................................234<br />

5


6<br />

12.2.2 Von der Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität zu der<br />

Weiterentwicklung der Unternehmung..............................................................242<br />

(Rekapitulation)......................................................................................................242<br />

(Geplante Evolution – Organisationsentwicklung) ...........................................243<br />

12.3 Implikationen aus ökonomischer Sicht .............................................................................247<br />

12.4 Ökonomische Vernunft als organisationale Fähigkeit ....................................................249<br />

IV FAZIT ..................................................................................................................... 255<br />

LITERATURVERZEICHNIS......................................................................................... 258<br />

LEBENSLAUF .................................................................................................................. 277


Einleitung<br />

Die anhaltende Liberalisierung der Märkte hat zu globalen Märkten, zu<br />

einem globalen Markt geführt und damit den Wettbewerbsdruck erhöht.<br />

Diese Marktsituation stellt <strong>St</strong>aat und Gesellschaft langfristig vor komplexe<br />

Herausforderungen, denen es von allen Seiten zu begegnen gilt - so auch von<br />

Seiten wirtschaftswissenschaftlicher Forschung. Diese konstatiert, dass der<br />

erhöhte Wettbewerbsdruck nicht nur zwischen international tätigen Unternehmen,<br />

sondern auch zwischen Nationen und ihren politischen und ökonomischen<br />

Systemen besteht. Ein Wettbewerb gesellschaftlicher <strong>St</strong>rukturen, der<br />

marktwirtschaftlichen Regeln folgt, trägt zur Spannung und Komplexität der<br />

Problemstellung bei. Eine wirtschaftsethische Analyse, so wie sie hier verstanden<br />

und „praktiziert“ wird, betrachtet die Verhältnisse von <strong>St</strong>aat, Gesellschaft<br />

und Individuum zur Ökonomie. Die Art der Betrachtung folgt einer<br />

grundlegenden Reflexion der Verhältnisse, die - jenseits einer moralisierenden<br />

Debatte - gesellschaftliche und individuelle Phänomene und Veränderungen<br />

in unserer Gesellschaft beschreibt.<br />

Die Omnipräsenz und Dominanz der Ökonomie führt zu einer Durchdringung<br />

aller Lebensbereiche mit Marktlogik in zunehmendem Maße. Kommerzialisierung,<br />

Kolonialisierung und Verdinglichung – die Lebenswirklichkeit<br />

eines jedes Einzelnen sieht sich mit einer ökonomischen Rationalität konfrontiert,<br />

die ausdifferenziert, professionalisiert und eigengesetzlich lebensweltliche<br />

Bezüge überlagert. Diese ökonomische Rationalität entfernt sich in<br />

ihrer Verfassung zunehmend von den lebensweltlichen Bezügen und transportiert<br />

eigengesetzlich ihre Gegenstände und Methoden. Hieraus ergibt sich<br />

die hier behandelte Problemstellung: Die Ökonomie entfernt sich in ihrer<br />

Rationalität zunehmend von den lebensweltlichen Bezügen, überlagert selbige<br />

aber in der Realität. Deswegen entsteht von außen der Eindruck, dass die<br />

Ökonomie sich immer stärker mit der Lebenswelt eines jeden Einzelnen<br />

verflechtet. Der Blick von innen jedoch offenbart, dass diese Verflechtung<br />

keine Verflechtung, sondern ein Aufeinanderprallen von unterschiedlichen<br />

Rationalitäten darstellt. Dieses Aufeinanderprallen wird in den westlichen<br />

Industrieländern zugunsten der Ökonomie entschieden – so die hier vertretene<br />

These. Aus diesem Grund kann in diesen Fällen von Überlagerung gesprochen<br />

werden.<br />

7


Eine solche Überlagerung führt langfristig dazu, dass sich unsere Lebensweltlichkeit<br />

verkürzt. Sie erfährt einen Reduktionismus, der alles Lebenswirkliche<br />

auf die ökonomischen Parameter bezieht. Um dieser einseitigen<br />

Reduzierung entgegenzuwirken ist eine Darlegung der Ursachen bzw. Auswirkungen<br />

dieses Reduktionismus und seiner Handhabung notwendig. Ziel<br />

dieses Vorhabens kann die Trennung von Ökonomie und Lebenswelt oder<br />

aber das reflektierte Zusammenleben dieser Bereiche sein. In der hier entwickelten<br />

Argumentation wird letzterer Weg beschritten. Wie sich ein solch<br />

„reflektiertes Zusammenleben“ vorstellen lässt, das versucht die folgende<br />

Argumentation darzustellen. Die zentrale Rolle wird dabei der ökonomischen<br />

Vernunft zugedacht. Sie hat in sich die Vorstellungen aller „Akteure“,<br />

also Bereiche zu vereinen und einen Ab- und Ausgleich der Ansprüche und<br />

Interessen zu vollziehen. Das Konzept der transversalen Vernunft scheint<br />

hierbei wertvolle und aktuelle Impulse liefern zu können.<br />

Ziel und Aufbau<br />

Ziel der Argumentation ist es, zu prüfen, inwieweit das Konzept der transversalen<br />

Vernunft in der Lage ist, Impulse für die Wirtschaftsethik-Debatte<br />

und dort speziell für die Diskussion um eine ökonomische Vernunft zu<br />

liefern. Das Konzept der transversalen Vernunft scheint geeignet, der Autonomisierung<br />

der Ökonomie entgegenzutreten und alternative Verknüpfungsszenarien<br />

zu entwerfen.<br />

Ausgangspunkt dieser Argumentation ist das Aufzeigen der durch die ökonomische<br />

Rationalität verursachten Verzerrungen in unserer Lebenswirklichkeit.<br />

Über die Darstellung des Konzepts der transversalen Vernunft gelangt<br />

die Argumentation zum Abgleich mit den in Kapitel I festgestellten<br />

Pathologien. Daraufhin können diejenigen Impulse identifiziert werden, die<br />

fähig sind, diese Pathologien zu handhaben. Dies führt zu einer Konzeption<br />

von ökonomischer Vernunft, die in sich die Impulse aus der kritisch reflektierten<br />

transversalen Vernunft aufnimmt. Die Schritte im Einzelnen:<br />

Zu Beginn wird die ökonomische Rationalität in ihren Inhalten, Methoden<br />

und Formen analysiert (Abschn. 1) und im Folgenden den Parametern der<br />

aktuellen Situation gegenübergestellt (Abschn. 2). Die Reflexion dieser Gegenüberstellung<br />

(Abschn. 3) zeigt die Überlagerung lebensweltlicher Bezüge<br />

durch systemische Parameter auf und macht auf diese Weise die Notwendig-<br />

8


keit einer Weiterentwicklung bzw. Öffnung ökonomischer Rationalität deutlich.<br />

Im folgenden Kapitel wird diese Möglichkeit der Weiterentwicklung bzw.<br />

Öffnung in einem theoretischen Rahmen reflektiert. Dieser Rahmen konstituiert<br />

sich durch die Moderne-Postmoderne-Debatte im Allgemeinen<br />

(Abschn. 5) und die Vernunft-Konzeption von Wolfgang Welsch im Speziellen<br />

(Abschn. 6). Beide Perspektiven knüpfen an die aktuell geführte<br />

Diskussion an. Hierbei wird deutlich, dass eine Weiterentwicklung/Öffnung<br />

von ökonomischer Rationalität ihre Grenzen dort erfährt, wo sie über ihre<br />

Grenzen geht und auf das Ganze, die Totalität ausgreift. Zugang zum<br />

Ganzen kann sie nur in und durch Vernunft erfahren, durch eine transversale<br />

Vernunft, die die heterogenen, ausdifferenzierten Rationalitäten zueinander<br />

in Beziehung setzt. Damit bedeutet eine Weiterentwicklung/Öffnung ökonomischer<br />

Rationalität im Wesentlichen, Anschlussfähigkeit zu erlangen. Aus<br />

sich selbst heraus kann die ökonomische Rationalität keine qualitative<br />

Progression hin zu einer ökonomischen Vernunft vollziehen – doch kann sie<br />

sich dieser öffnen. In diesem Sinne ist eine Weiterentwicklung zu verstehen.<br />

So wird die Rationalität Gegenstand des Vollzugs der Vernunft. In Abschnitt<br />

7 wird diese Konzeption einer kritischen Reflexion zugeführt.<br />

Wie dieser Vollzug der Vernunft sich im Spannungsfeld von Moderne und<br />

Postmoderne behauptet, soll zu Beginn des letzten Kapitels beschrieben<br />

werden (Abschn. 9). Die ökonomische Rationalität wird dadurch in den<br />

weiteren Bezugsrahmen gestellt; auf diese Weise kann spezifiziert werden,<br />

was eine Anschlussfähigkeit der ökonomischen Rationalität bedeutet. Die<br />

Belegung der vernünftigen Reflexion mit ethischer Norm-Setzung leitet über<br />

zu der wirtschaftsethischen Reflexion (Abschn. 10), an die eine explizite<br />

Auseinandersetzung von Postmoderne und Ethik der Ökonomie anschließt<br />

(Abschn. 11). Diese postmoderne Rekonstruktion von Ethik wird zum Abschluss<br />

im Kontext der Unternehmung reflektiert (Abschn. 12) und Implikationen<br />

aufgezeigt. Durch diesen Bezug auf die konkrete unternehmerische<br />

Situation wird ein Bogen geschlagen zu den Analysen der aktuellen Arbeitsbedingungen<br />

in Kapitel I. Die dort beschriebenen Verzerrungen können nun<br />

vor dem Hintergrund einer Analyse der Ursachen und Wirkungen, einer Begründung<br />

und Konzeptualisierung ökonomischer Vernunft und Ethik einer<br />

Handhabung zugeführt werden.<br />

9


I Entgrenzte Ökonomie, begrenzte ökonomische<br />

Rationalität - Skizzen eines Spannungsfeldes<br />

Zu Beginn der Diskussion um eine ökonomische Vernunft steht hier die<br />

Analyse der ökonomischen Rationalität. Sie bildet den kognitiven Kern ökonomischen<br />

Handelns, ökonomischer Methode und ökonomischer Kategorien<br />

und ist damit auch zentraler Gegenstand der Wirtschaftsethik. Auch Ulrich<br />

hebt die Analyse der ökonomischen Rationalität als Gegenstand der Wirtschaftsethik<br />

hervor:<br />

10<br />

„Wirtschaftsethik muss den „Kopf“ des Löwen, eben das ökonomische Rationalitätsverständnis,<br />

fokussieren, wenn sie sich nicht mit der ohnmächtigen<br />

Rolle des „sachfremden“ Anredens gegen dieses begnügen und die ökonomistischen<br />

Fehler, die aus dem Reflexionsabbruch vor ihm und vor der Logik des<br />

„freien“ Marktes methodisch unkrontrollierbar und daher fast unvermeidlich<br />

resultieren, in Kauf nehmen will.“ 1<br />

Angesichts der ökonomischen Globalisierung stellt sich aktuell die Frage, ob<br />

diese ökonomische Rationalität in ihren Methoden und Kategorien in der<br />

Lage ist, die von ihr zu erbringenden Aufgaben adäquat abbilden und handhaben<br />

zu können. Die Omnipräsenz der Ökonomie in den Bereichen unserer<br />

Lebenswirklichkeit führt zwangsläufig zu Fragen innerhalb der Ökonomie,<br />

die über genuin ökonomische Fragen hinausgehen. Dies sind Fragen der<br />

Kultur und Religion, Fragen aus dem Inneren der individuellen Lebensweltlichkeit,<br />

Fragen gesellschaftlicher Gestaltung. Diesem lebenswirklichen Verflechtungsbefund<br />

steht die rationale Entflechtung gegenüber: Auch wenn in<br />

der heutigen Erwerbsgesellschaft die Arbeit elementarer Bestandteil der Lebenspraxis<br />

darstellt, so war ihre innere Verfasstheit, ihre rationale Form und<br />

Methode, wohl selten rational so ausdifferenziert und different zur lebensweltlichen<br />

Rationalität, wie sie es heute in der kommerzialisierten Gesellschaft<br />

ist. Die scheinbare Harmonie aus Markt und Gesellschaft erweist sich<br />

im Inneren als materialer Konflikt.<br />

Im Folgenden soll skizziert werden, wie es zu diesem inneren Konflikt kam<br />

und wie er sich in der aktuellen Situation darstellt. Ausgangs- und Zielpunkt<br />

1 Ulrich, P. (2000b): Integrative Wirtschaftsethik im Rationalitätenkonflikt, in: EuS, Jg.<br />

11, H. 4, S. 631-642, hier S. 639; Hervorhebungen im Original.


ist hierbei die lebensweltliche Verankerung der Ökonomie, ihre lebensweltliche<br />

Rückbindung. 2 Dazu soll in einem ersten Schritt die ökonomische Rationalität<br />

in ihrer Entwicklung und ihren formalen und methodischen Bestimmungen<br />

skizziert werden, um in einem zweiten Schritt ihre aktuellen Bedingungen<br />

und damit auch Herausforderungen zu beschreiben. Aus dieser Gegenüberstellung<br />

folgt in einem dritten Schritt die zusammenfassende Darstellung<br />

des aktuellen Befundes, welcher die Diskrepanz zwischen entgrenztem<br />

Handeln und begrenztem Denken herausarbeitet und erläutert.<br />

Dieser Befund konstituiert die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung hin<br />

zu einer grenzüberschreitenden Öffnung der ökonomischen Rationalität.<br />

1 Die ökonomische Rationalität – eine <strong>St</strong>andortbestimmung<br />

Diese Darstellung kann nicht mit dem Anspruch auftreten, die ökonomische<br />

Rationalität zu bestimmen, noch kann sie für sich beanspruchen, dies vollständig<br />

zu tun. Die folgende Darstellung kann nur Momentaufnahme sein,<br />

die nach hinten (Historie) und nach vorn (Implikationen) schaut, um eine<br />

Sensibilisierung für die Veränderungen des ökonomischen Denkens und<br />

Handelns zu erreichen.<br />

1.1 Vom „Genug“ zum „Je mehr, desto besser“ - ein erster historischer<br />

Zugang<br />

Die ökonomische Rationalität, wie sie heute existiert und wirkt, kann nicht<br />

mit den Anfängen wirtschaftlichen Handelns und Denkens verglichen werden.<br />

Die Ausdifferenzierungsprozesse der Moderne haben durch ihre Rationalisierung<br />

zu signifikanten Veränderungen in der Lebenswirklichkeit geführt.<br />

Die hier im Mittelpunkt stehende, zentrale Veränderung in der<br />

Moderne stellt die Trennung, Verselbständigung und Ausdifferenzierung<br />

der Ökonomie von den ursprünglichen Bezügen dar. Erste Ansatzpunkte,<br />

2 Dieser Kerngedanke liegt dem integrativen wirtschaftsethischen Ansatz von Peter<br />

Ulrich zugrunde. Vergleiche zum integrativen Ansatz pars pro toto Ulrich, P. (1998):<br />

Integrative Wirtschaftsethik - Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 2.,<br />

durchgesehene Aufl., Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, hier S. 116ff. Zur „Wiederankoppelung<br />

der wissenschaftlichen Ökonomie an die Lebenswelt“ vgl. Ulrich, P. (1993): Transformation<br />

der ökonomischen Vernunft: Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft,<br />

3. rev. Aufl., Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 341ff.<br />

11


die zu dieser Verselbständigung der Ökonomie von soziokultureller Lebensform<br />

und Lebensordnung beitrugen, können in der Reformationszeit gefunden<br />

werden. Ulrich schildert die calvinistischen „Triebfedern“ 3, die vor allem<br />

in der <strong>St</strong>udie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ von<br />

Max Weber eindrücklich beschrieben werden. 4 Während frühere, vor-moderne<br />

Wirtschaftslehren, wie die von Adam Smith beispielsweise, ganz im<br />

Sinne dieser lebensweltlichen Einbettung allen Wirtschaftens Rechnung trugen<br />

und auf diese Weise „ihrem Wesen nach Wirtschaftsethik“ 5 waren, so<br />

entzog sich in der Moderne die Arbeit in ihrer religiösen Reinterpretation<br />

dem „diesseitigen“ Zugriff, welches auf die reformatorischen Zuordnungen<br />

zurückgeführt werden kann. 6 In dem <strong>St</strong>reben nach Einsicht in die eigene<br />

Prädestination (Gnadenwahl) vor Gott, die bereits auf Erden nach calvinistischer<br />

Lehre zugänglich ist, ist die Größe des „Erfolgs“ zunehmend in den<br />

Vordergrund getreten. Dies beschreibt auch Münch:<br />

12<br />

„Beispielsweise bedeutete die Deutung der religiösen Bewährung als Bewährung<br />

im weltlichen Beruf, die von Luther eingeleitet und vom Calvinismus<br />

noch radikaler gefaßt wurde (...), daß nun die wirtschaftliche Tätigkeit als religiöse<br />

Pflichterfüllung verstanden wurde und ihren Gesetzen zu gehorchen<br />

hatte, andererseits aber die religiöse Pflichterfüllung in die Bahnen der wirtschaftlichen<br />

Tätigkeit und ihrer Gesetzmäßigkeiten gelenkt wurde. Die Berufsaskese des<br />

Puritaners ist genau das Interpenetrationsprodukt von Religion und Wirtschaft,<br />

das durch die Entwicklung von der Lutherischen Reformation über<br />

Calvin bis zum Puritanismus Schritt für Schritt herausgebildet wurde.“ 7<br />

3 Ulrich (1998: 135, Fußnote 11) unterscheidet zwischen Wirkungsgeschichte des<br />

Calvinismus und Lehre des Calvin und verdeutlicht damit, dass das eine nicht mit<br />

dem anderen gleichgesetzt werden kann, wie es zuweilen kurzschlüssig geschieht.<br />

4 Vgl. hierzu Ulrich (1998: 133ff.) und die Referenzliteratur Weber, M. (1972): Wirtschaft<br />

und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen, Erstveröffentlichung<br />

1904/1905. Weber sieht in dem „Geist des Kapitalismus“ ein degeneriertes,<br />

säkularisiertes Produkt der innerweltlichen Askese der calvinistischen Ethik.<br />

5 Ulrich (1998: 132; Hervorhebungen im Original).<br />

6 Vgl. hierzu auch Borst, O. (1983): Alltagsleben im Mittelalter, Frankfurt. In der mittelalterlichen<br />

<strong>St</strong>ändegesellschaft wurde die Arbeit grundsätzlich als „Dienst“, als „Gottesdienst“,<br />

„Frondienst“ oder „Minnedienst“ interpretiert und gewertet. Zu der Entwicklung<br />

im Mittelalter vgl. Oexle, O.G. (2000): Arbeit, Armut, ><strong>St</strong>and< im Mittelalter,<br />

in: Kocka, J./Offe, C. (Hrsg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt,<br />

S. 67-79.<br />

7 Münch, R. (1998): Globale Dynamik, lokale Lebenswelten: Der schwierige Weg in die<br />

Weltgesellschaft, Frankfurt, S. 71; Hervorhebungen vom Verfasser.


Lebenserfolg wurde damals wie heute mit beruflichem Erfolg eng verbunden.<br />

Vergegenwärtigt man sich den <strong>St</strong>atus von Arbeit in der antiken Oikos-<br />

Gesellschaft, so sind hier starke Differenzen zu der industriellen Arbeitsgesellschaft<br />

der (Post-)Moderne zu erkennen. Es stehen sich die „Verachtung<br />

der Arbeit im Altertum“ und „ihre Verherrlichung in der Neuzeit“ 8 diametral<br />

gegenüber. Fortschritt in der Lebensqualität zu erreichen, bedeutete in<br />

der Antike die Emanzipation von Arbeit, die Befreiung des fleißigen und kalkulierenden<br />

Menschen von der Mühe körperlicher Arbeit, um das kulturelle<br />

und politische Leben außerhalb der Ökonomie, außerhalb des strengen Utilitarismus<br />

und der Instrumentalität zu er-leben. 9 Dagegen steht in der heutigen<br />

industriellen Arbeitsgesellschaft die Arbeit im Mittelpunkt des Lebens<br />

und seiner Verwirklichung. Die Industriegesellschaft überwindet die Klassen<br />

der Adelsgesellschaft und reproduziert sich durch die „asketische“ Arbeitsmoral.<br />

Das Wirtschaftssubjekt rekonstruiert individuellen Erfolg in dem<br />

Zirkel von Arbeit und Konsum. Die alternativen Bedürfnisse sind nur in und<br />

durch Arbeit realisierbar und für den Einzelnen vorstellbar.<br />

Das animal laborans verlernt die materialen Kräfte der Natur zu nutzen, die<br />

immateriellen, ästhetischen Kräfte zu genießen und überschätzt im gleichen<br />

Maß die Kräfte heutiger Formen der Arbeit. Vor diesem Hintergrund ist der<br />

bei Ulrich artikulierte Wunsch von einem „Wandel der Arbeitsethik vom<br />

undifferenzierten, abstrakten Laborismus zur lebensweltorientierten Tätigkeitsethik“<br />

10 zu verstehen. Das „Programm“ dieser Tätigkeitsethik skizziert<br />

Ulrich in Anlehnung an Hannah Arendt: 11<br />

„Die Tätigkeitsethik holt den konkreten Arbeitszweck und Arbeitsinhalt in<br />

die kritische Reflexion und Kommunikation der Arbeitstätigen zurück und<br />

vollzieht die im guten Sinne zeitgemässe Wiederankoppelung der Bewertung<br />

von Arbeit an lebenspraktische Kriterien.“ 12<br />

8 Arendt, H. (2001): Vita activa oder Vom tätigen Leben, 12. Aufl., München, S. 111.<br />

9 Zudem bestanden starke hierarchische Differenzierungen zwischen den unterschiedlichen<br />

Berufen und Tätigkeiten. Während die Landwirtschaft höchstes Ansehen genoss,<br />

so waren Handel und Geldgeschäfte auf den untersten <strong>St</strong>ufen bezüglich ihrer<br />

gesellschaftlichen Reputation zu finden. Sie galten als widernatürlich, als unwürdig.<br />

Vgl. zu einer weiterführenden Darstellung Nippel, W. (2000): Erwerbsarbeit in der<br />

Antike, in: Kocka/Offe (2000), S. 54-66.<br />

10 Ulrich (1993: 111).<br />

11 Ulrich entwickelt dies im Kontext der Diskussion um eine duale Lebensform, die sich in<br />

ihren strukturellen Grundlagen durch Systembegrenzung, Arbeitsumverteilung und<br />

Lebensweltentwicklung ausdrückt. Vgl. dazu näher Ulrich (1993: 460ff.).<br />

12 Ulrich (1993: 464).<br />

13


Wird die Arbeit in ihrer Rolle als zentraler „Hoffnungsträger“ für individuelle,<br />

soziale und religiöse Erwartungen und Bedürfnisse nicht relativiert, so<br />

führt dies notwendigerweise zu ihrer Überforderung und in der Folge zu<br />

einem chronischen menschlichen „Bedürfnisdefizit“, zu Leid:<br />

14<br />

„Diese laboristische Ethik, die den fehlenden Eigenwert industrialistischer<br />

Arbeit nicht zur Kenntnis nimmt bzw. durch religiöse Motive ersetzt, erfüllte<br />

gewollt oder ungewollt eine hervorragende ideologische Funktion zur Legitimation<br />

des alltäglichen Arbeitsleids.“ 13<br />

Gorz beschreibt die Notwendigkeit der Relativierung als „Wiedererringung<br />

der Macht jedes einzelnen über sein eigenes Leben“, indem es der „produktivistisch-kommerziellen<br />

Rationalität entzogen wird“. 14<br />

Dieser starke Wandel der Arbeitsinhalte und -bedingungen hat dem wirtschaftlichen<br />

Sektor zu einer bis dato andauernden Dynamik verholfen,<br />

welcher sich neben der metaphysisch-naturalistischen Aufladung durch die<br />

Klassik auf die reformatorischen Deutungen besinnt - jedoch in säkularer<br />

Weise. Die Unhintergehbarkeit der reformatorischen Deutung von Arbeit<br />

verliert in heutiger Zeit durch die Säkularisierung zwar überwiegend ihre<br />

religiös-transzendentale Charakteristik, wird aber erneut normativ aufgeladen<br />

durch eine positivistische Rekonstruktion der Ökonomie. Die Legitimierung<br />

von Arbeit verschiebt sich von der religiösen Rechtfertigung (Prädestination;<br />

Calvin) zu der Rechtfertigung durch die Zahlen und den Markt. 15 Auf<br />

diese Weise entzieht sich der Markt als solcher einer kritischen Reflexion und<br />

kann in seiner Rolle als Medium und Instrument des Erfolgsstrebens wirksam<br />

sein.<br />

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie neben die erodierende inhaltliche<br />

Verabsolutierung eine formale und methodische Absolutierung tritt, die den<br />

<strong>St</strong>atus der Unhintergehbarkeit wiederherzustellen in der Lage scheint.<br />

13 Ulrich (1993: 111; Hervorhebungen im Original).<br />

14 Gorz, A. (1980): Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Frankfurt, S. 69,<br />

zitiert nach Ulrich (1993: 111). Vgl. auch die Darstellung der Alternativbewegungen<br />

bei Ulrich (1993: 443ff.).<br />

15 Die wird an späterer <strong>St</strong>elle näher begründet werden. Vgl. Abschn. 3.1.


1.2 Formale Prinzipien ökonomischer Rationalität – eine kritische<br />

Reflexion 16<br />

In einem ersten Zugang verbindet man mit ökonomischer Rationalität vor<br />

allem Größen wie Produktivität, Rentabilität, Effektivität oder Gewinnmaximierung.<br />

Diese Größen sind systeminterne technische Maßstäbe der<br />

ökonomischen Methode, der wirtschaftlichen Transaktion. Rationalität wird<br />

in der ökonomischen Rekonstruktion nicht wirklich von Vernunft getrennt.<br />

So beschreibt die Theorie wirtschaftliches Handeln wie folgt:<br />

„Das wirtschaftliche Handeln unterliegt wie jedes auf Zwecke gerichtete<br />

menschliche Handeln dem allgemeinen Vernunftprinzip (Rationalprinzip), das<br />

fordert, ein bestimmtes Ziel mit dem Einsatz möglichst geringer Mittel zu<br />

erreichen.“ 17<br />

In der Gleichsetzung von allgemeiner Vernunft und Rationalprinzip zeigt<br />

sich das volkswirtschaftlich-neoklassische Erbe der Betriebswirtschaftslehre,<br />

die den Allgemeingültigkeitsanspruch der Vernunft auch auf die ökonomische<br />

Rationalität überträgt. Freimann setzt diesen Anspruch mit Ideologie<br />

gleich:<br />

„Was aber - als Allgemeingültigkeit ausgegeben - in Wahrheit nur Ausdruck<br />

des Partialinteresses der herrschenden Klasse ist, muß sich gefallen lassen,<br />

beim Namen genannt zu werden: Ideologie, falsches gesellschaftliches Bewußtsein<br />

mit herrschaftssicherndem Charakter.“ 18<br />

16 Die folgende Darstellung stützt sich vornehmlich auf Freimann, J. (1977): Ökonomische<br />

Rationalität und gesellschaftliches System. Die historische Bedingtheit wirtschaftlicher<br />

Handlungsmuster und ihre Behandlung in der betriebswirtschaftlichen<br />

Literatur, Frankfurt.<br />

17 Wöhe, G. (1973): Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 11. Aufl.,<br />

München, S. 1; Hervorhebungen im Original.<br />

18 Freimann (1977: 12). So Freimann auch an anderer <strong>St</strong>elle: „Hier läßt sich bereits an<br />

dieser <strong>St</strong>elle aus der Analyse der Literatur die Vermutung äußern, daß das Rationalprinzip<br />

offenbar weniger operationales Muster privatwirtschaftlicher Realhandlung<br />

als vielmehr ideeller Ausdruck einer spezifisch kapitalistischen Rationalität ist,<br />

der Bewegung von Geld zu Mehr-Geld im Konkurrenzzusammenhang.“ (Freimann<br />

1977: 45). Und auch zum Ende seiner Argumentation: „Das rationalprinzipielle<br />

Handlungsmuster ist somit nicht einmal unter kapitalistischen Bedingungen Ausdruck<br />

eines allgültigen Vernunftgebots. Es ist Ausdruck der Akkumulationsgesetzlichkeit<br />

des Kapitals und als solcher Norm für die Wirtschaftssubjekte, die im Kapitalismus<br />

über die gesellschaftliche Produktion disponieren, Kapitalisten.“ (Freimann<br />

1977: 184).<br />

15


Mit positivistischen Interpretationen, die den Kapitalismus und dessen<br />

Methode als ein Instrument sehen, mit dessen Hilfe die Menschheit die Barbarei<br />

verlässt und in die Zivilisation eintritt19 und die den Markt wie ein<br />

Naturgesetz behandeln20, tritt die Betriebswirtschaftslehre hinter die Erkenntnisse<br />

in der Volkswirtschaftslehre zurück. Das Rationalprinzip der<br />

Ökonomie findet sich wohl erstmals konkret bei Quesnay, der formuliert:<br />

16<br />

„Den größtmöglichen Erfolg mit Hilfe des kleinstmöglichen Aufwands zu erreichen,<br />

das ist die Vollendung des ökonomischen Handelns.“ 21<br />

Abgesehen davon, dass die Formulierung von Quesnay logisch nicht haltbar<br />

ist, zeigen sich doch die zwei methodischen Seiten der ökonomischen Rekonstruktion<br />

von Rationalität: die Maximierung des Erfolgs und die Minimierung<br />

des Aufwands. In dieser methodischen Rekonstruktion ist das ökonomische<br />

Rationalprinzip scheinbar beliebig mit Inhalten belegbar. 22 Die allgemein<br />

praktizierte Gleichsetzung von Rationalität und ökonomischem Rationalprinzip<br />

kann auf ökonomischen Pragmatismus zurückgeführt werden,<br />

welcher die universal anwendbare numerische Form des Rationalprinzips (in<br />

Geldgrößen: Kosten, Erlös, Gewinn, Rentabilität) favorisiert. 23 Die Geldeinheit<br />

als der ökonomisch relevante Darstellungs- und Abbildungsparameter<br />

belegt das Rationalprinzip inhaltlich nach ökonomischer Methode der monetären<br />

Kalkulation. Bezieht man dieses Prinzip auf die reale Situation, so<br />

zeigt sich, dass das Prinzip einen bestimmten Handlungstypus voraussetzt<br />

und zwar denjenigen, „bei dem tatsächlich ein monetärer Einsatz um eines<br />

19 Vgl. hierzu Godelier, M. (1972): Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie,<br />

Frankfurt, S. 27.<br />

20 Vgl. bspw. Neuendorff, H. (1973): Der Begriff des Interesses - eine <strong>St</strong>udie zu den Gesellschaftstheorien<br />

von Hobbes, Smith und Marx, Frankfurt, S. 74ff., der bei Hobbes<br />

und Smith aufzeigt, wie der Typus des modernen Kaufmanns zur anthropologischen<br />

Figur wird. Zu der Verbindung von Naturrechtsphilosophie und moderner Wirtschaftstheorie<br />

vgl. Ulrich (1993: 186ff.).<br />

21 Quesnay, F. (1766): Sur les Travaux des Artisans, in: Oncken, A. (Hrsg.), Oeuvres economiques<br />

et philosophiques de F. Quesnay (1888), Frankfurt/Paris, S. 526-554, hier S.<br />

535, zitiert nach Freimann (1977: 28); Übersetzung: Freimann.<br />

22 Die inhaltliche Beliebigkeit ist dabei konstitutiv für die Allgemgültigkeit. So bspw.<br />

Pack: „Das Rationalprinzip (...) hat für alles zielstrebige Handeln schlechthin Gültigkeit.“<br />

(Pack, L. (1961): Rationalprinzip und Gewinnmaximierungsprinzip, in: Zeitschrift<br />

für Betriebswirtschaft, Jg. 31, S. 207-220 und 281-290, hier S. 210, zitiert nach<br />

Freimann 1977: 30).<br />

23 Auf den ökonomischen Pragmatismus wird an späterer <strong>St</strong>elle näher eingegangen.<br />

Vgl. Abschn. 3.2 und Abschn. 10.1.2.


monetären Erfolges willen getätigt wird“ 24. Die Person des Unternehmers<br />

und seine Handlungen werden methodologisch-individualistisch rekonstruiert,<br />

was sich durch die gesamte Betriebswirtschaftslehre zieht und in systematischem<br />

Gegensatz zumindest zu der gesamtgesellschaftlichen Perspektive<br />

steht. Dies zeigt sich in dem Rationalprinzip in der Minimierungs- und<br />

Maximierungsausprägung:<br />

„Das formale Rationalprinzip ist somit sowohl in seiner Minimierungsausprägung<br />

als auch in der Maximierungsausprägung nicht nur grundsätzlich<br />

analytisch durch Bewertung aller Handlungen bzw. Handlungsfolgen in<br />

Geldgrößen konkretisierbar als Kostenminimierungs- bzw. Gewinnmaximierungsprinzip,<br />

sondern genau in diesen Konkretisierungsformen spiegelt sich<br />

tatsächlich ein realer Handlungstyp, der sich an Geldgrößen orientiert.“ 25<br />

Dabei kommt dem Gewinnmaximierungsprinzip die dominante <strong>St</strong>ellung zu,<br />

da der monetäre Erfolg die privatwirtschaftliche Zielgröße darstellt. Neben<br />

vielen „systeminternen“, d. h. aus der rein betriebswirtschaftlichen Rechnung<br />

entspringenden Problemen bezüglich Zeit und Kausalität zwischen<br />

Aufwand und Ertrag26 spielt darüber hinaus vor allem die Vergleichbarkeit<br />

der Aufwands- und Ertragsgrößen eine entscheidende Rolle. Es zeigt sich<br />

hier, dass die Abstraktion durch die numerische (monetäre) Darstellung<br />

inhaltliche Unterschiede zu überdecken vermag. 27 Es zeigt sich zudem, dass<br />

bezüglich der komplementären Seiten des Rationalprinzips (Min - Max)<br />

unterschiedliche Bezüge zu Vernunft und Rationalität gewählt werden. Während<br />

die Minimierungsvariante als „allgemeines Vernunftgebot“ interpretiert<br />

wird, ist die Maximierungsvariante „übergeordnete Konkretisierungsform“ 28<br />

und zugleich Produkt der gesellschaftlichen Bedingungen, des Kapitalismus<br />

also. Es deutet sich auch hier die Differenz der effizienten Mittelverwendung<br />

24 Freimann (1977: 31).<br />

25 Freimann (1977: 32).<br />

26 Vgl. hierzu bspw. Freimann (1977: 33ff.).<br />

27 Das Problem der Vergleichbarkeit wird deutlicher, wenn man die Vorstufe der Abstraktion<br />

betrachtet, also die Ebene der unterschiedlichen „<strong>St</strong>offe“, also wenn „man<br />

Aussagen über die Wirtschaftlichkeit der Verwendung von Arbeitskraft oder <strong>St</strong>offen<br />

in verschiedenen Gegenstandsbereichen machen will.“ (Freimann 1977: 42; Hervorhebungen<br />

vom Verfasser). Dann stößt der Vorteil der Abstraktion, nämlich ihre Praktikabilität,<br />

an ihre Grenzen. An späterer <strong>St</strong>elle wird erläutert werden, wie durch den<br />

Bezug zur (Arbeits)Zeit ein universales Zuordnungsmedium von <strong>St</strong>offen zu abstrakten<br />

Geldeinheiten etabliert wurde. Vgl. dazu Abschn. 3.3.<br />

28 Freimann (1977: 64).<br />

17


und der damit verbundenen (relativen!) Ressourcenschonung und der individualistischen<br />

Gewinnmehrung an, die in der Spannung zwischen Privatwirtschaft<br />

und Gemeinwirtschaft auftauchen, zwischen dem Wohl des Einzelnen,<br />

den Eigeninteressen, und dem Wohl der Gemeinschaft, den gemeinschaftlichen<br />

Interessen. Vor diesem Hintergrund kann die Betriebswirtschaftslehre<br />

ihren Anspruch der Allgültigkeit durch die Vereinnahmung des<br />

„allgemeinen Vernunftgebots“ (s. o.) nicht aufrechterhalten.<br />

18<br />

„Den Nachweis der übergeschichtlichen Allgültigkeit des formalen Rationalprinzips,<br />

seines Charakters als Gebot der Vernunft menschlichen Handelns<br />

schlechthin ist die betriebswirtschaftliche Literatur mithin schuldig geblieben.<br />

Sie muß ihn schuldig bleiben, weil er in dieser Form gar nicht zu leisten ist.“ 29<br />

Auch wenn ihre Wirksamkeit sich faktisch über ihre Grenzen hinaus erstreckt<br />

und die Gesellschaft zunehmend kommerzialisiert wird, so sagt dies<br />

noch nichts über die Begründetheit des Allgemeingültigkeitsanspruchs aus.<br />

Denn die Betriebswirtschaftslehre ist zu kennzeichnen als eine Lehre,<br />

„(...) die in einem bestimmten und begrenzten Gegenstandsbereich dem dort<br />

vorherrschenden monetär ausgerichteten Handlungsmuster Anleitung und<br />

Hilfe gibt: unternehmerische Handlungswissenschaft, Profitlehre.“ 30<br />

Außerdem stellen sich dem Rationalprinzip zwei Antithesen aus a) der betriebswirtschaftlichen<br />

Zielforschung und b) der betriebswirtschaftlichen<br />

Organisationstheorie entgegen: Beide bezweifeln die Adäquanz des Unternehmensziels<br />

„Gewinn“ als umfassende Zielgröße.<br />

a) Die betriebswirtschaftliche Zielforschung legt ihr Augenmerk insbesondere<br />

auf die praktischen Zielvorstellungen der Unternehmung und hebt damit<br />

auf die inhaltliche Komplexität der Größe „Ziel“ ab. Weicht die Theorie<br />

von diesen empirisch gestützten Vorstellungen zu weit ab, verliert sie ihr<br />

Erklärungspotential. Dabei wird vor allem betont, dass sich die Zielvorstellung<br />

von einer derart pluralen Gesamtheit, nämlich der Mitarbeiterschaft<br />

ableitet, dass dies mit einem mono-disziplinären Ansatz nur unzureichend<br />

erfasst werden kann. Zielforschung in der Unternehmung muss somit inter-<br />

29 Freimann (1977: 44).<br />

30 Freimann (1977: 46).


disziplinär erfolgen; die Zielgröße „Gewinn“ kann dabei vom Zweck zum<br />

Mittel werden. 31<br />

b) Die Organisationstheorie fokussiert nur indirekt auf die inhaltliche<br />

Dimension der Zielvorstellung; eher thematisiert sie den Prozess der Zielentstehung.<br />

In der „neoklassischen“ Betriebswirtschaftslehre bleibt dieser<br />

Entstehungsprozess ausgeblendet. Das unternehmerische Ziel ist letztlich<br />

unabhängig von den individuellen Wirtschaftssubjekten, von den Mitarbeitern<br />

der Unternehmung. Es wird unabhängig davon (voraus)gesetzt. Die<br />

Organisationstheorie sieht entgegen dieser Setzung in der unternehmerischen<br />

Realität vielmehr eine Vielzahl komplexer Entscheidungsprozesse,<br />

aus denen eine Zieldefinition sukzessive entsteht und definiert wird. Dies<br />

wäre eine Zielvorstellung der Unternehmung, nicht für die Unternehmung. 32<br />

Aus der organisationstheoretischen Sicht treten dabei insbesondere die Entscheidungsprozesse<br />

der Unternehmung in den Vordergrund. Es lässt sich<br />

diesbezüglich aufzeigen, dass die Entscheidungstheorie in ihrem Abstraktionsgrad<br />

und der damit einhergehenden inhaltlichen Disposition anschlussfähig<br />

an das ökonomische Rationalprinzip ist, welches, wie angedeutet,<br />

einen ähnlichen Abstraktionsgrad aufweist. 33<br />

Beiden Antithesen ist ein übergeordneter Kritikpunkt gemeinsam, der sich<br />

auf den Befund der Pluralität gründet; Pluralität der Inhalte und Pluralität<br />

der Prozesse. Im Kontext der Unternehmung und der Notwendigkeit von<br />

Koordination zur gemeinsamen Erreichung einer Zielvorstellung wird aus<br />

31 Vgl. vor allem Bidlingmaier, J. (1964): Unternehmensziele und Unternehmensstrategien,<br />

Wiesbaden, S. 42ff., der die Unternehmensziele in ihren materialen und nominalen<br />

Bestimmungen unterscheidet und ihren monistischen und/oder pluralistischen<br />

Charakter deutlich macht. Diese Differenzierung geschieht dabei bei Bidlingmaier<br />

unter explizitem Verzicht auf die homo-oeconomicus-Prämissen.<br />

32 Um zu unterscheiden zwischen einer Zielvorstellung, die eher aus dem Unternehmen<br />

heraus entstanden ist (der) und einer Zielvorstellung, die eher aus der theoretischen<br />

Reflexion auf die Unternehmung angewendet wird (für), wird obige Formulierung<br />

gewählt. Dieser Perspektivenwechsel geht zurück auf Kirsch, W. (1992): Kommunikatives<br />

Handeln, Autopoiese, Rationalität, München, der dies im Zusammenhang mit<br />

der Definition seines betriebswirtschaftlichen Ansatzes verwendet. Es beschreibt seinen<br />

Ansatz als eine „Lehre für die Führung auf der Grundlage einer Lehre von der<br />

Führung“ (Kirsch 1992: 2). Der Ursprung und Zielpunkt von Prozessen sind zu differenzieren.<br />

Vgl. hierzu auch Ulrich, H. (1970): Die Unternehmung als produktives soziales<br />

System, 2. überarbeitete Aufl., Bern/<strong>St</strong>uttgart, S. 161f.<br />

33 Vgl. hierzu Freimann (1977: 58ff.). Zu einer Übersicht über die Unterschiede der organisationstheoretischen<br />

Ansätze bspw. Walter-Busch, E. (1996): Organisationstheorien<br />

von Weber bis Weick, Amsterdam.<br />

19


dieser Pluralität Komplexität. Diese Komplexität ist durch die Heterogenität<br />

der „Teile“, hier die Lebens- und Sprachformen der Mitarbeiter einer Unternehmung,<br />

gekennzeichnet. In einem lebensweltlichen Rekurs, der die „vieldimensionale<br />

menschliche Motivstruktur“ 34 zum Ausdruck bringt, wird<br />

zwingend die Frage der (unternehmerischen und individuellen) Zielpriorität<br />

aufgeworfen und damit der Geltungsanspruch der Ökonomie in lebensweltlichen<br />

Bezügen. Bidlingmaier vertritt die Auffassung, dass „der Mensch am<br />

Wirtschaften grundsätzlich nur ein mittelbares Interesse hat“ 35, was den<br />

unternehmerischen „Zielentscheidungsprozess“ nicht nur vor eine inhaltliche<br />

Vielfalt, sondern vor allem vor die Frage der Priorität, des Primats<br />

stellt. Der lebensweltlichen Pluralität steht die Ökonomie entgegen, die -<br />

wenn auch nur systemintern - ein ökonomisches Primat ihrer Rationalität<br />

einfordert, das sich gegen die Rolle als Mittel stemmt. Das lebensweltliche<br />

Apriori hingegen setzt die Ökonomie klar als Mittel zum lebensdienlichen<br />

Zweck.<br />

Aus dieser Gemengelage von ökonomischer Rationalität, Rationalität an sich<br />

und Vernunft an sich ist es schwer, klare <strong>St</strong>andpunkte abzuleiten. Auch<br />

wenn die ökonomische Rationalität Teile von Rationalität und Vernunft in<br />

sich trägt, so kann sie doch weder das eine noch das andere ganz erfassen -<br />

weder in ihrem Vollzug noch in ihrem Anspruch. Die Fragestellung der<br />

Legitimation ökonomischer Methoden und Ansätze lässt sich auf der Ebene<br />

des Entdeckungs- und Begründungszusammenhangs nur unvollständig<br />

beantworten; aus diesem Grund wird im Folgenden der Zugang zum Verwendungszusammenhang<br />

beschrieben. 36 Die Integration der Perspektive der<br />

Betroffenen geschieht durch die explizite Reflexion lebensweltlicher Bezüge.<br />

In dem phänomenologischen Zugang zeigt sich das lebensweltliche Apriori<br />

und es wird deutlich, wie die Menschen und der Einzelne am Beginn und<br />

Ende ökonomischer Transformationsprozesse stehen.<br />

34 Freimann (1977: 79).<br />

35 Bidlingmaier (1968: 75; Hervorhebungen im Original, zitiert nach Freimann 1977: 79).<br />

36 Vgl. zu der wissenschaftstheoretischen Systematisierung der unterschiedlichen Ebenen<br />

von Zusammenhängen Fußnote 30, Kapitel II.<br />

20


1.3 Tauschhandel und Marktkoordination - methodische Bestimmungen<br />

ökonomischer Rationalität<br />

Eine phänomenologische Rekonstruktion sieht die ökonomische Rationalität<br />

auf vielfältige Weise mit der Arbeit und dem arbeitenden Menschen verflochten.<br />

Diese Verflechtungen thematisiert auch Gorz. Gorz identifiziert<br />

insbesondere zwei zentrale Ursachen, welche der ökonomischen Rationalität<br />

zu ihrer heutigen Dominanz verholfen haben: Zum einen entfernte sich<br />

Arbeit von ihrer direkten Notwendigkeit zur Selbstversorgung und orientierte<br />

sich am Kriterium der Tauschbarkeit (Tauschhandel) und zum anderen<br />

entwickelte sich aus dem Tauschhandel eine Organisation der Tauschprozesse,<br />

der Markt. Dieser Markt legt die Bedingungen und Konditionen<br />

des Tausches fest und konstituiert das Innen (Inklusion) und das Außen<br />

(Exklusion). Im Folgenden wird deutlich werden, inwieweit die Dominanz<br />

der Ökonomie einhergeht mit ihrer sukzessiven Herauslösung aus dieser<br />

Verflechtung. 37<br />

1.3.1 Von der Selbstversorgung zum Tauschhandel38 Genuin dienten menschliche Tätigkeiten der Sicherung des menschlichen<br />

Überlebens. Sie deckten die Grundbedürfnisse des Menschen ab. Durch<br />

effektivere und effizientere Arbeitsmethoden konnte diese Sicherung<br />

schneller und einfacher erreicht werden, wodurch darüber hinaus andere<br />

Tätigkeiten ausgeübt werden konnten. In der fortschreitenden Zivilisierung<br />

und Kultivierung entstanden Bedürfnisse, welche über die Befriedigung der<br />

Grundbedürfnisse hinausgingen. Unter Grundbedürfnissen wurde nun neben<br />

den physiologischen Motiven auch die Sicherheitsmotive, die sozialen<br />

Motive und besonders auch die Ich-Motive verstanden. 39 Solange Arbeit<br />

37 Vgl. hierzu Gorz, A. (1998): Kritik der ökonomischen Vernunft: Sinnfragen am Ende<br />

der Arbeitsgesellschaft, 2. Aufl., Hamburg, S. 157ff.<br />

38 Im Folgenden wird nochmals der Wandel der Arbeit aufgenommen, diesmal jedoch<br />

aus psychologischer Perspektive. Diese Betrachtung des Einzelnen ergänzt die soziologische<br />

Analyse in Abschn. 1.1, die den Wandel vor allem auf der gesellschaftlichen<br />

Ebene reflektierte.<br />

39 Maslow zeigt in Maslow, A.H. (1943): A Theory of Human Motivation, in: Psychological<br />

Review 50, S. 370-396 und Maslow, A.H. (1954): Motivation and Personality,<br />

New York, eine Klassifizierung der Bedürfnisarten durch seine Motivpyramide auf,<br />

die die Bedürfnisse nach dem Grad ihrer Notwendig- und Dringlichkeit für das<br />

menschliche Dasein darstellt. Diese Differenzierung hilft bei der adäquaten Gewichtung<br />

individueller und gesellschaftlicher Bedürfnisse. Die basalen Grundbedürfnisse<br />

wie Hunger, Durst, Atmen, Schlafen sind hierbei physiologischer Natur. Das Erstreben<br />

und Befriedigen höhere Bedürfnisstufen ist nur auf der Bedingung der Erfüllung<br />

21


noch von der Form war, dass sie primär den physiologischen Motiven<br />

diente, solange wurde sie auch als Mühe empfunden. Das Individuum<br />

strebte den Zustand an, sich von dieser Art von Arbeit zu emanzipieren<br />

(Antike). Mit der Entwicklung von Berufsständen, von Zünften, Gilden und<br />

Handwerk begann die Arbeit auch jenseits der Befriedigung von Grundbedürfnissen<br />

zu existieren und als Instrument zur Erreichung von anderen<br />

Motiven zu dienen. Es war zum einen die „räumliche und zeitliche<br />

Beschränkung des Handels (Zunftordnung)“, die das vormoderne Wirtschaften<br />

im Kontext einer reinen „Subsistenzwirtschaft“ vollzog, also „auf die<br />

Befriedigung der unmittelbaren Lebensbedürfnisse der lokalen Lebensgemeinschaft<br />

(Familie, Sippe, Dorf) ausgerichtet“ sah. 40 Zum anderen waren<br />

es der sich daraus ergebende soziale Kontakt in den verbesserten Arbeitsbedingungen,<br />

der <strong>St</strong>atus eines handwerklichen Berufs (Ich-Motiv), die gesamten<br />

Entwicklungen in diesem gesellschaftlichen Bereich, die zu einer<br />

Aufwertung von Arbeit im Sinne eines Berufs, einer Berufung führten und<br />

die sich durch Treu und Glauben legitimierten. Zuvor wurden diese „höheren“<br />

Bedürfnisse noch außerhalb von Arbeit artikuliert. Doch mit der Etablierung<br />

einer regelmäßigen Tätigkeit nicht nur für die untersten Schichten,<br />

sondern auch für die Mittelschicht, den Bürgerstand, verstärkte sich auch der<br />

gesellschaftliche Anspruch (Lobby) und der individuelle Anspruch (Sinngebung)<br />

an diese Tätigkeiten. 41 Arbeit und Beruf mussten nun zunehmend<br />

diejenigen Bedürfnisse befriedigen, die zuvor in anderen gesellschaftlichen<br />

und familiären Zusammenhängen virulent waren und dort befriedigt wurden.<br />

Arbeit rückte schon zu diesem Zeitpunkt in den Mittelpunkt des Lebens<br />

sämtlicher unterer <strong>St</strong>ufen sinnvoll. Diese prepotency besagt, dass „das jeweils hierarchisch<br />

niedrigste noch nicht befriedigte Motiv (...) das stärkste“ (Rosenstiel, L.v.<br />

(1992): Grundlagen der Organisationspsychologie: Basiswissen und Anwendungshinweise,<br />

3. überarb. und erg. Aufl., <strong>St</strong>uttgart, S. 369f.) ist. Hier sind insbesondere auf<br />

gesellschaftlicher Ebene äußerst relevante Fragestellungen aufgetaucht, die eine<br />

Wohlstandsgesellschaft mit einem nicht marginalen Armenanteil in Frage stellen. Vgl.<br />

für einen Überblick über den gegenwärtigen <strong>St</strong>and der Armutsforschung Leibfried,<br />

S./Voges, W. [Hrsg.] (1992): Armut im modernen Wohlfahrtsstaat (Sonderheft 32 der<br />

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie), Opladen.<br />

40 Ulrich (1998: 133; Hervorhebungen im Original).<br />

41 Vgl. zum individuellen Anspruch Baethge, M. (1991): Arbeit, Vergesellschaftung,<br />

Identität – Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit, in: Soziale Welt<br />

42, H. 1, S. 6-19, dessen Beschreibung der „normativen Subjektivierung der Arbeit“ im<br />

ausklingenden 20. Jahrhundert die gleiche Thematik anspricht. Dies wird an späterer<br />

<strong>St</strong>elle nochmals explizit aufgenommen. Vgl. hierzu insbesondere Abschn. 12.<br />

22


und lebensweltlicher Bedürfnisse, blieb aber mit diesen innerlich und äußerlich<br />

verflochten. 42<br />

Bezüglich individueller Motivstruktur haben die Arbeiten von Maslow weitergehende<br />

Einblicke vermitteln können. Danach lassen sich zwei unterschiedliche<br />

Arten von Motiven unterscheiden: die Defizitmotive, die mittels<br />

eines homöostatischen Ansatzes danach streben, ausgeglichen und somit ins<br />

Gleichgewicht gebracht zu werden, und die Wachstumsmotive, die nicht<br />

homöostatisch gelöst werden können, sondern expansiver Natur sind. Die<br />

bisher in der Argumentation genannten Motive sind alle als Defizitmotive zu<br />

interpretieren; das Ziel von wachstumsmotiviertem Verhalten war für<br />

Maslow die Selbstverwirklichung. Dabei kann diese Differenzierung nicht<br />

als präzise trennscharf gelten. Eher muss davon ausgegangen werden, dass<br />

zwar Selbstverwirklichung prinzipiell in die Kategorie „Wachstumsmotive“<br />

gehört, jedoch auch in den unterschiedlichen Defizitmotiven wiedergefunden<br />

werden kann. Anerkennung, <strong>St</strong>atus und Prestige als Ich-Motive sind<br />

beispielsweise nicht eindeutig einer homöostatischen Defizit-Konzeption<br />

zuordenbar, da hier ein Gleichgewicht nicht unbedingt erreicht werden<br />

kann, sondern der Wunsch nach immer mehr besteht. 43<br />

Die Wachstumsmotive sind also als Prozess zu verstehen; sie unterscheiden<br />

sich hierin von den Defizitmotiven. Bei Letzteren wird aus einem identifizierten<br />

Defizit gehandelt mit dem Ziel, dieses Defizit zu beseitigen. Wenn<br />

42 Dieser Befund der Verflochtenheit entwickelt sich aufgrund der industrialistischen<br />

Ausdifferenzierungs- und Spezialisierungsprozesse zu einem Befund der Entflechtung.<br />

Die Entflechtung von Arbeit und Leben führt in Verbindung mit der Dominanz<br />

von Arbeit dazu, dass die komplexe lebensweltliche Anspruchs- und Bedürfnisstruktur<br />

keine adäquate Berücksichtigung mehr erfährt. Dies wird an späterer <strong>St</strong>elle<br />

aufgenommen. Vgl. Abschn. 2.2.<br />

43 Auch Herzberg, F. (1966): Work and the Nature of Man, Cleveland, geht in seiner<br />

Zweifaktorentheorie der Arbeitszufriedenheit von einer solchen „Grunddichotomie<br />

‚Defizit-Expansion‘ innerhalb der Motivation“ (Rosenstiel 1992: 75) aus. Charakteristisch<br />

dafür ist, dass die Context-Variablen (Arbeitsbedingungen) zwar Unzufriedenheit<br />

verhindern können, jedoch nicht zu Zufriedenheit führen können. Deswegen werden<br />

sie auch als Hygiene-Faktoren bezeichnet. Sie beeinflussen die extrinsische Arbeitsmotivation.<br />

Die intrinsische Arbeitsmotivation wird hingegen durch die Content-<br />

Variablen konstituiert. Dies betrifft die Arbeitsinhalte (Leistung, Verantwortung, Anerkennung);<br />

sie werden Motivatoren genannt, denn ihre erlebte Verbesserung führt zu<br />

Zufriedenheit, ihre Verschlechterung senkt die Zufriedenheit, kann aber nicht zur<br />

Unzufriedenheit führen. Im Vergleich mit dem ebenso inhaltlichen Ansatz von<br />

Maslow wird implizit die Verbindung von Lebenswelt (Maslow-Motive auch unabhängig<br />

von der Arbeit existent) und der Arbeitswelt (Herzberg-Motivation durch<br />

Arbeit definiert) deutlich. Vgl. auch die Darstellung der Kontroverse um die Theorie<br />

von Herzberg bei Walter-Busch (1977: 39ff.).<br />

23


eispielsweise die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe angestrebt<br />

wird, so wird im Zeitpunkt der Entscheidung, sich dieses Ziel der Zugehörigkeit<br />

zu setzen, eine Ausgeschlossenheit von dieser Gruppe verspürt. Diese<br />

Exklusion stellt das Defizit dar. Wachstumsmotive jedoch sind nicht in dem<br />

Maße mit einer Identifikation von Defizit gekoppelt, sondern haben einen<br />

gestalterischen, kreativen und expansiven Charakter, welcher sich erst nach<br />

der Beseitigung der Defizitmotive entfalten kann. Wie Rosenstiel deutlich<br />

macht, ist diese Maslowsche Konzeption lange Zeit ohne genauere empirische<br />

Untersuchungen in der scientific community übernommen worden. 44 Erst<br />

mit den Arbeiten von Huizinga, Rosenstiel und Campbell & Pritchard45 wurde der Diskrepanz zwischen Akzeptanz und empirischer Belegbarkeit<br />

größere Beachtung geschenkt und der Fokus auf die prozesstheoretischen<br />

Arbeiten gelenkt. 46 Letztere haben den Vorteil, dass sie unabhängiger von<br />

den zu beschreibenden Personen sind; sie beschreiben den Ablauf der<br />

psychologisch-empirisch belegbaren menschlichen Verhaltensweisen und<br />

sind nicht in dem Maße auf Wesensdefinitionen angewiesen. Durch ihren<br />

höheren Abstraktionsgrad (beispielsweise keine hierarchische Motiv-<strong>St</strong>ruk-<br />

44 Vgl. Rosenstiel (1992: 367ff.).<br />

45 Vgl. hierzu Huizinga, G. (1970): Maslow’s Need Hierarchy in the Work Situation,<br />

Groningen; Rosenstiel, L.v. (1975): Arbeitsleistung und Arbeitszufriedenheit, in: Zeitschrift<br />

für Arbeitswissenschaft, Jg. 29, S. 72-78; Campbell, J.P./Pritchard, R.D. (1976):<br />

Motivation Theory in Industrial and Organizational Psychology, in: Dunnette, M.D.<br />

(Hrsg.), Handbook of Industrial and Organizational Psychology, Chicago, S. 63-130.<br />

46 Hierunter fallen beispielsweise die Theorie von Alderfer (Alderfer, C.P. (1969): An<br />

Empirical Test of a New Theory of Human Needs, in: Organizational Behavior and<br />

Human Performance, 4, S. 142-175 und Alderfer, C.P. (1972): Existence, Relatedness,<br />

and Growth. Human Needs in Organizational Settings, New York), welcher auf Basis<br />

von drei Grundmotiven (Existence (Grundbedürfnisse), Relatedeness (soziale Bedürfnisse)<br />

und Growth (Entfaltungsbedürfnisse)), der ERG-Theorie, und vier verschiedenen<br />

Prinzipien sieben Grundaussagen ableitet. Diese Grundaussagen beschreiben die<br />

Prozesse und Konsequenzen der Befriedigung und Nichtbefriedigung unterschiedlicher<br />

Bedürfnisse. Vgl. hierzu im Überblick Rosenstiel (1992: 370ff.). Diese Theorie<br />

kann somit im Gegensatz zu der Maslowschen Theorie die Prozesse explizit berücksichtigen.<br />

Walter-Busch macht in Walter-Busch, E. (1977): Arbeitszufriedenheit in der<br />

Wohlstandsgesellschaft: Beitrag zur Diagnose der Theoriesprachenvielfalt betriebspsychologischer<br />

und industriesoziologischer Forschung, Bern/<strong>St</strong>uttgart, die Probleme<br />

und Verzerrungen deutlich, die in der Forschung um Arbeitszufriedenheit nur allzu<br />

schnell auftauchen und nicht gesehen werden. Die hier vorgenommene Skizzierung<br />

kann der bei Walter-Busch detaillierten Erörterung betriebspsychologischer und industriesoziologischer<br />

Ansätze nicht gerecht werden. Jedoch sei die Sensibilisierung<br />

im Umgang mit vermeintlich plausiblen Interpretationen betriebspsychologischer<br />

und industriesoziologischer Arbeits- und Lebenswirklichkeit in der folgenden Argumentation<br />

präsent.<br />

24


tur) ist ihnen auch eine gewisse kontextuelle und historische Unabhängigkeit<br />

zuzuschreiben, welches im Groben postmodernen Ansätzen folgt. Insbesondere<br />

in einer interkulturellen Betrachtung sind damit die Prozesse in unterschiedlichen<br />

Kulturen getrennt voneinander, jeweils individuell deutbar. 47<br />

In den westlichen Industrienationen geht der individuelle Anspruch an die<br />

Arbeit weit über die bloße Alimentierung der Grundbedürfnisse hinaus. 48<br />

Dieser Anspruch äußert sich in Reaktion auf die tayloristisch-minutiöse Zerlegung<br />

der Arbeitstätigkeit und der daraus entstehenden Sinnfraktale durch<br />

die Suche nach Sinn-Zusammenhängen, die die Investition in Form der eigenen<br />

Arbeitskraft nach innen sinnvoll erscheinen lässt und nach außen rechtfertigt.<br />

In der historischen Betrachtung können im Tauschhandel die abwägenden<br />

Überlegungen unterschieden werden, die ein hauptsächlich für die<br />

Selbstversorgung Arbeitender im Vergleich zu einem bereits in der Fremdversorgung<br />

Arbeitenden heutiger Zeit anstellt. Der „Selbstversorger“ wägt<br />

mehrere Variablen gegeneinander ab und zwar<br />

„(...) das Niveau der Bedürfnisbefriedigung und die zusätzliche Anstrengung,<br />

die eine Anhebung dieses Niveaus erfordert; die Annehmlichkeit von Zeitgewinn<br />

und die Unannehmlichkeit der dazu notwendigen Arbeitsintensivierung<br />

(usw.).“ 49<br />

Der bereits in der Fremdversorgung aufgewachsene Arbeiter dagegen ist<br />

vornehmlich bestimmt durch ökonomische Kalkulation, die die Leistung<br />

gegen den Zeitaufwand rechnet (wenn Leistung fix, dann Zeit minimieren;<br />

wenn Zeit fix, Leistung maximieren). Dies geschieht beispielsweise in der<br />

Eigenarbeit genuin nicht, sondern „erst in dem Maße, wie die Hausarbeit zur<br />

untergeordneten Tätigkeit geworden ist, die man in der Freizeit so schnell<br />

wie möglich hinter sich bringt, während die bezahlte Arbeit die Haupttätigkeit<br />

darstellt“ 50. Das Denken vom Markt her, von einer Größe „Tauschwert“<br />

her, macht gleichzeitig über das Maß ihrer objektiven Attraktivität (Geld)<br />

47 Vgl. hierzu bspw. Büscher, M. (1998): Weltwirtschaft und Weltethos - Gründe gegen<br />

die Liberalisierung und für die Regionalisierung einer lebensdienlichen Weltwirtschaft,<br />

in: Maak, Th./Lunau, Y. (Hrsg.), Weltwirtschaftsethik: Globalisierung auf dem<br />

Prüfstand der Lebensdienlichkeit, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 293-314, der die Frage der<br />

kulturellen Unterschiede vor dem Hintergrund einer globalen Wirtschaftstätigkeit reflektiert.<br />

48 Vgl. hierzu die Darstellung in Abschn. 12.<br />

49 Gorz (1998: 157f.).<br />

50 Gorz (1998: 158).<br />

25


hinaus nicht bezahlte Tätigkeit zur lästigen Pflicht. Der Wert von Tätigkeiten<br />

kann sich somit nur in Geldeinheiten ausdrücken.<br />

1.3.2 Die Entstehung des Marktes<br />

In der konsequenten Weiterführung der Fokussierung auf einen zu erreichenden<br />

Tauschwert der eigen hergestellten Güter rückt der Markt als Ort<br />

des Handels von Tauschwerten in den Mittelpunkt. Nahrungsmittel, Werkzeuge<br />

und Kleidung, früher noch notwendige Lebens-Mittel, werden zu Produkten,<br />

Gütern, zu Waren umgedeutet. Schon Aristoteles beobachtet diese<br />

Entwicklung und macht in den Erwerbskünsten eine Unterscheidung in die<br />

Kunst des Hausverwalters (Ökonomik) und die des Kaufmanns (Chremastik),<br />

wobei der Kaufmann „am meisten gegen die Natur“ 51 handelt. Dieser<br />

Unterscheidung entspringt sodann auch die Differenzierung des Wertes<br />

von Waren in Gebrauchs- und Tauschwert. Aristoteles stellt fest, dass es für<br />

„jedes Besitzstück eine doppelte Verwendung“ 52 gibt. In den Anfängen<br />

dieses Entwicklungsstadiums beschränkt sich der Handelspartner der Angebotsseite<br />

nun nicht mehr auf den Nachbarn, auf Freunde, Bekannte und<br />

Verwandte, sondern richtet sich an eine anonyme Masse von potentiellen<br />

Abnehmern. Dies bedeutet, dass der selbst produzierte Tauschwert nicht in<br />

der Gewissheit der direkten Tauschbarkeit mit bekannten Anderen hergestellt<br />

bzw. geerntet wird. 53 Aufgrund der stark wachsenden Teilnehmerzahl<br />

am Tauschprozess ist eine direkte und damit exakte Bestimmung der Nachfrage<br />

und des Angebots unmöglich.<br />

Anbieter-Produkt-Beziehung: Der Bezug des als Anbieter auf dem Markt<br />

agierenden Akteurs zu seinem Produkt ist nicht durch eine direkte Notwendigkeit,<br />

sondern durch eine abstraktere Form, eine indirekte Notwendigkeit<br />

gekennzeichnet. Nicht das Produkt selbst, Nahrungsmittel oder Werkzeuge<br />

beispielsweise, dienen dem eigenen Überleben, sondern sie dienen erst in<br />

ihrer Funktion als Produkte und Güter in der Tausch-Transaktion auf dem<br />

Markt. Die Güter werden auf ihre Funktion reduziert und damit versach-<br />

51 Aristoteles, Politik I, 10, 1258a, übers. v. O. Gigon, zitiert nach Brodbeck (1998: 194).<br />

52 Aristoteles, 1257a, zitiert nach Brodbeck (1998: 195).<br />

53 Beispiel: Bauer A baut mehr Kartoffeln an, da er weiß, dass Bauer B mehr Rüben<br />

pflanzt, so dass diese beiden nach der Ernte Rüben gegen Kartoffeln tauschen können,<br />

da beide Bauern die vom Nachbarn erzeugten Tauschwerte benötigen. Die<br />

Direktheit der Beziehung garantiert die Abnahme der über den Eigenbedarf gepflanzten<br />

und geernteten Feldfrüchte.<br />

26


licht54; ihr Inhalt besteht nicht mehr in ihrer originären Verwendungsart,<br />

sondern im Wert als Tauschobjekt auf dem Markt. Die Beziehung von Anbieter<br />

zum Gut wird damit abstrakter. An die <strong>St</strong>elle von sensualer Erfahrung<br />

und emotionaler Verbindung tritt eine reine Zweckbeziehung, die objektivierend<br />

und kalkulierend vorgeht. So auch Ulrich:<br />

„Dabei [bei der Sicherung des Lebensunterhalts durch Gütereinkauf; T.B.]<br />

zählt nicht oder nicht unmittelbar der lebenspraktische Gebrauchswert<br />

dessen, was der Einzelne am Markt anzubieten hat, sondern allein der<br />

Tauschwert seines Angebots, d. h. der am Markt erzielbare Preis. Nicht mehr<br />

subjektive oder intersubjektive Gesichtspunkte, sondern die objektiven<br />

„Marktsignale“ steuern die einzelwirtschaftlichen Dispositionen: Im freien<br />

Markt zählt nur, was sich auszahlt.“ 55<br />

Die organisierte Form des Tauschhandels, die der Markt ermöglicht, trägt zu<br />

einer systematischen Versachlichung bei. Durch die Institutionalisierung von<br />

organisiertem Tauschhandel nimmt der Markt eine konstitutive gesellschaftliche<br />

<strong>St</strong>ellung ein und damit auch der Prozess der Versachlichung in der<br />

Gesellschaft.<br />

Anbieter-Markt-Beziehung: Die Beziehung von Anbieter zum Markt ist<br />

durch die strukturierte Ermöglichung der Durchführung von Tauschaktionen<br />

gekennzeichnet und damit ein „natürlich“ entstandenes Produkt des Bedürfnisses<br />

nach einem geregelten Warenaustausch. 56<br />

Die Sinnhaftigkeit jeglicher Mühe, die für Güter aufgewendet wurde, lässt<br />

sich nur über den „Umweg“ erfassen, den die Abstraktion in Form des Tausches<br />

am Markt beschreitet. Die Mühe zahlt sich aus, wenn das von Anbieter<br />

A überschüssig produzierte Produkt X erfolgreich in ein solches Produkt Y<br />

von Anbieter B umgetauscht wird, welches Anbieter A einen zum eigenen<br />

Produkt X äquivalenten Nutzen stiftet. Kommt dieser Tausch nicht zustande,<br />

war die Mühe zum großen Teil umsonst, da aufgrund des abnehmenden<br />

54 „Ethische Bedenken“ werden in der Gesellschaft vor allem dort angemeldet, wo diese<br />

Güter Tiere sind. Hier wird die Verzerrung besonders deutlich (Tiertransporte). Dass<br />

die Versachlichung jedoch auch auf den Menschen zurückwirkt, wenn es um produzierte<br />

Güter geht, wird an späterer <strong>St</strong>elle wieder aufgenommen. Vgl. Abschn. 3.2.<br />

55 Ulrich (1998: 138; Hervorhebungen im Original).<br />

56 Der Begriff des „Natürlichen“ in diesem Zusammenhang spielt auf die positivistischen<br />

Analogien an, die moderne Wirtschaftstheorien zu Naturrechtsphilosophien<br />

aufstellen. Vgl. hierzu Ulrich (1993: 186ff.).<br />

27


Grenznutzens eines jeglichen Produkts Anbieter A die überschüssig produzierten,<br />

da nicht abgesetzten Einheiten von X nicht sinnvoll nutzen kann.<br />

Dies kommt dann vor, wenn eine der <strong>St</strong>ufen des Tauschprozesses Defizite<br />

aufweist: Sei es die aufgrund von Informationsintransparenz nicht korrekt<br />

eingeschätzte Höhe der Nachfrage, sei es die aufgrund von eingeschränkter<br />

Allokationsmöglichkeit der Güter fehlende Übereinstimmung von Zeit und<br />

Ort des Angebots und der Nachfrage oder sei es die aufgrund von geringer<br />

Marktreife des Produkts nicht erreichte Wettbewerbsfähigkeit. 57 Diese<br />

Intransparenz des Marktes führt zu einer latenten Entkoppelung des Angebots<br />

von der Nachfrage. Es deutet sich an, inwieweit auch Defizite der ökonomischen<br />

Instrumente selbst zu einer Entfernung von den eigentlichen Bedürfnissen<br />

führen kann. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass<br />

die Entstehung des Tauschwertes und des Marktes die ökonomische Rationalität<br />

zentral konstituieren. Sie führen über Abstraktion und Intransparenz<br />

zu ersten Formen von Eigengesetzlichkeit.<br />

1.4 Zusammenfassung<br />

Dieser erste Zugang zu ökonomischer Rationalität hat Folgendes aufzeigen<br />

können:<br />

� Der Ausdifferenzierungsprozess der Moderne führt im Allgemeinen zu<br />

einer Entkoppelung von System und Lebenswelt, im Speziellen zu der Entfernung<br />

des Systems der Ökonomie von dessen lebensweltlichen Bezügen.<br />

� Das ökonomische System begünstigt diese Entkoppelung vor allem durch<br />

die elementar-ökonomische Form des Numerischen und die strukturell-koordinative<br />

Form des Marktes.<br />

Es ist angedeutet worden, dass in Bezug auf die inhaltlich-lebensweltlichen<br />

Zusammenhänge<br />

� die numerische Form als Abstraktion interpretiert wird, welche zu „Sinn-<br />

Versperrung“ und, in der Folge, zu Verlust von Inhalten führen kann.<br />

� die koordinative Form des Marktes als systemische Eigengesetzlichkeit zu<br />

deuten ist, die tendenziell eine Resistenz gegenüber Ansprüchen aus der<br />

(lebensweltlichen) Umwelt aufweist.<br />

57 Vgl. zu den Defiziten des Marktes bspw. Samuelson, P.A./Nordhaus, W.D (1998):<br />

Volkswirtschaftslehre, Übersetzung der 15. Aufl., Wien, S. 189ff.<br />

28


<strong>St</strong>ellt man diese lebensweltlichen Implikationen von ökonomischer Rationalität<br />

der aktuellen Verfassung der Gesellschaft gegenüber, welche durch die<br />

Ökonomie und die Arbeit maßgeblich geprägt und besetzt ist, dann wird<br />

dadurch die Relevanz einer grundsätzlichen Reflexion der ökonomischen<br />

Rationalität deutlich. Das folgende Kapitel wird versuchen, die These der<br />

Überforderung der ökonomischen Rationalität zu verdeutlichen und zu belegen.<br />

2 Aktuelle Herausforderungen - Entgrenzung des Begrenzten<br />

Es soll an dieser <strong>St</strong>elle auf eine explizite Darstellung von Globalisierung verzichtet<br />

werden; dies ist bereits vielfach und in unterschiedlicher Weise geschehen.<br />

Was in dieser Argumentation relevanter und zielführender erscheint,<br />

ist die explizite Auseinandersetzung mit denjenigen Phänomenen in<br />

der Globalisierung, die die im vorherigen Kapitel skizzierten phänomenologischen<br />

Charakteristika der ökonomischen Rationalität (Systemcharakter,<br />

Abstraktionscharakter) in der Aktualität aufzeigen können. Auf diese Weise<br />

kann die Überforderung der ökonomischen Rationalität verdeutlicht werden.<br />

Grundlegende These wird sein, dass dem entgrenzten ökonomischen Handeln<br />

ein begrenztes ökonomisches Denken gegenübersteht, welches notwendigerweise<br />

zu inhaltlicher Reduktion und Verkürzung führen muss. Der<br />

Aufbau sieht wie folgt aus: In einem ersten Schritt wird die Globalisierung<br />

aus systemischer Sicht rekonstruiert. Dies wird vor allem aufzeigen können,<br />

inwieweit das Denken der Ökonomie, die ökonomische Rationalität, an<br />

systemische Grenzen stößt. Im Anschluss daran wird das diesem Denken<br />

gegenüberstehende entgrenzte Handeln beschrieben. Das entgrenzte Handeln<br />

wird in heutiger Zeit maßgeblich durch die neuartigen Informationsund<br />

Kommunikationstechnologien (IuK-Technologien) ermöglicht. Dabei<br />

wird deutlich, in welcher Weise die IuK-Technologien als Enabler einer ökonomischen<br />

Entgrenzung wirken. Ergänzt werden die Analysen durch zwei<br />

soziologische Untersuchungen, die die behandelten Themen im Kontext von<br />

Arbeit reflektieren und die These unterstützen.<br />

29


2.1 Globalisierung - eine systemische Rekonstruktion<br />

Im Folgenden wird die Globalisierung aus systemisch-ökonomischer Perspektive<br />

beschrieben. 58 Aus dieser systemischen Perspektive stellt sich die<br />

Globalisierung für das System Ökonomie als interne (inner-systemisch,<br />

System) und externe (außer-systemisch, Umwelt) Herausforderung dar.<br />

Allgemein wird die interne Herausforderung der Ökonomie ökonomisch rekonstruiert.<br />

Es stehen Fragen der Expansion globaler Netzwerke und globaler<br />

Wertschöpfungsaktivitäten im Vordergrund. Zunehmend aber werden<br />

auch Fragen thematisiert, die nicht genuin ökonomischen Inhalts sind; dies<br />

sind Fragen der Kultur, Gerechtigkeit und Solidarität. Die global player<br />

können sich diesen Fragen und damit den Aufgaben einer über die ökonomische<br />

Dimension hinausgehenden Gestaltung der globalen Gemeinschaft59 58 Auch Thielemann, U. (1996): Das Prinzip Markt: Kritik der ökonomischen Tauschlogik,<br />

Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, wählt den analytischen Zugang System-Lebenswelt in der<br />

Betrachtung des Marktes. Über die rein analytische Bedeutung geht dieser Zugang<br />

hinaus, wenn „die in Frage stehende soziale Ordnung nur noch unter dem Systemaspekt<br />

angemessen erklärt werden kann“ (Thielemann 1996: 21). Dann ist eine „nicht<br />

mehr nur analytische Anwendung der Systemanalyse“ (Habermas, J. (1986): Entgegnung,<br />

in: Honneth, A./Joas, H. (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen<br />

Habermas‘ „Theorie des kommunikativen Handelns“, Frankfurt, S. 327-405, hier S.<br />

386, zitiert nach Thielemann 1996: 21) notwendig. Diese Argumentation liegt auch<br />

dem hier getroffenen nicht nur analytischen, sondern auch „essentialistischen“<br />

(Thielemann 1996: 21) Zugang zugrunde. Vgl. dazu die methodischen Implikationen<br />

in Abschn. 4.<br />

59 Die allgemeine Verwendung des Terminus „global“ in den alltäglichen Debatten ist<br />

charakteristisch für die westliche Einstellung, die impliziert, wer zum Globus dazugehört<br />

(Inklusion) und wer nicht (Exklusion). Allein die Potentialität reicht nicht aus,<br />

von einem globalen Netzwerk zu sprechen. Die Möglichkeit hat sich einer konkreten<br />

Implementierung zu stellen. Der Begriff der Exklusion bezieht sich zum einen auf den<br />

nationalen Kontext, in dem der Einzelne ausschließlich durch Arbeit und Konsum<br />

zum Teil der Gesellschaft wird - ansonsten wird er ausgeschlossen. Und zum anderen<br />

bezieht sich der Begriff auf den internationalen Kontext, wo trotz aller Liberalisierung<br />

Grenzen, Beschränkungen und Barrieren aufgebaut werden, die ganzen Ländern den<br />

Zutritt zur global community verwehrt, dessen Aufnahmekriterien faktisch alleinig<br />

ökonomischer Natur zu sein scheinen; dies wird in der Diskussion um „Globalisierung“<br />

nochmals aufgenommen. So kommen auch Hasse/Wehner zu dem Schluss:<br />

„Das Angebot neuer Kommunikations- und Dokumentationstechniken wird allein<br />

wohl ebensowenig die Öffnung exklusiver Teilöffentlichkeiten bewirken wie die<br />

Beseitigung bestehender Ungleichheiten. Elektronische Netze dienen nicht allein der<br />

Überwindung von Grenzen und Hierarchien, sondern sie unterstützen zugleich den<br />

Aufbau und Erhalt von Eliten und exklusiven Gemeinschaften – was sie für die<br />

Erzeugung der Gesamtöffentlichkeit als denkbar ungeeignet erscheinen läßt.“ (Hasse,<br />

R./Wehner, J. (1997): Vernetzte Kommunikation. Zum Wandel strukturierter Öffentlichkeit,<br />

in: Becker, B./Paetau, M. [Hrsg.] (1997), Virtualisierung des Sozialen: Die<br />

30


als einer ihrer dominanten Akteure nicht entziehen. In der Thematisierung<br />

dieser Fragen zeigt sich die Verbindung von interner und externer Herausforderung:<br />

Die externe Pluralität trifft auf eine interne Geschlossenheit. Ist<br />

diese Pluralität aus irgendeinem Grund erhaltenswert, so entsteht hier ein<br />

Handhabungskonflikt. Dieser Konflikt wird im Folgenden skizziert.<br />

2.1.1 Globale Pluralität - externe Herausforderung der Ökonomie<br />

Der Blick auf den gesamten Globus spricht die Sprache der Pluralität. Diese<br />

Pluralität entsteht nicht durch die Globalisierung, wird aber in diesem Prozess<br />

umso deutlicher. Pluralität genuin als Vielheit verstanden, bringt zunächst<br />

einmal das Nebeneinander von heterogenen Existenzen zum Ausdruck.<br />

Über deren Beziehung zueinander ist bis zu diesem Erklärungsstand<br />

zunächst nichts ausgesagt, außer, dass die Heterogenität der Elemente durch<br />

nichts eliminierbar scheint. Gerät diese gesamte Pluralität in den Blick einer<br />

globalen Handhabung, so wie die ökonomische Globalisierung eine darstellt,<br />

so wird sie wegen ihrer aufwendigen Handhabbarkeit in Frage gestellt. Es ist<br />

somit die vorfindbare Pluralität von der Handhabung zu trennen. Diese<br />

Differenzierung ist elementar für eine Betrachtung der Globalisierung. Wird<br />

hier von der externen Herausforderung gesprochen, so drückt dies die<br />

Handhabungsperspektive der Ökonomie aus. Der Begriff der Globalisierung<br />

ist aus dieser Handhabungsperspektive zu verstehen. 60<br />

Die globale Pluralität wird insbesondere durch die Informations- und<br />

Kommunikationstechnologien und die durch sie erzeugte globale Informa-<br />

Informationsgesellschaft zwischen Fragmentierung und Globalisierung, Frankfurt/<br />

New York, S. 53-80, hier S. 76).<br />

60 Gegen eine solche Handhabungsperspektive und der damit einhergehenden Reduzierung<br />

auf eine handhabbare Komplexität richten sich vielfältige Ansprüche. Einer der<br />

zentralen Gegenbewegungen und Gegenprogramme stellt die Regionalisierung oder<br />

Glokalisierung dar, die für eine Rückbesinnung auf die lokalen Besonderheiten im vielfältigen<br />

Ganzen sensibilisiert. Bauman nimmt den Begriff der Glokalisierung von<br />

Robertson, R. (1992): Globalization: Social Theory and Global Culture, London, auf:<br />

„Integration und Fragmentierung, Globalisierung und Territorialisierung sind jeweils<br />

sich ergänzende Prozesse; oder genauer: zwei Seiten desselben Prozesses, und zwar<br />

der weltweiten Umverteilung von Souveränität, Macht und Handlungsfreiheit. Aus<br />

diesem Grund ist es - dem Vorschlag Roland Robertsons folgend - sinnvoll, von<br />

Glokalisierung statt von „Globalisierung“ zu sprechen, von einem Prozeß, innerhalb<br />

dessen die Gleichzeitigkeit und das Ineinander von Synthesis und Auflösung, Integration<br />

und Dekomposition alles andere als zufällig und erst recht nicht korrigierbar<br />

sind.“ (Bauman, Z. (1997): Schwache <strong>St</strong>aaten – Globalisierung und die Spaltung der<br />

Weltgesellschaft, in: Beck, U. (Hrsg.), Kinder der Freiheit, Frankfurt, S. 315-332, hier<br />

S. 323).<br />

31


tionstransparenz sichtbar. Wo Transparenz erhöht wird, da ist auch Vergleich<br />

möglich. Dieser Vergleich entwickelt sich durch die momentane<br />

Dominanz der ökonomischen Parameter auch in unserer Lebenswelt zum<br />

Wettbewerb. Die bipolare Gesellschaftsstruktur als Ausfluss nationaler<br />

Marktprozesse in Gewinner und Verlierer nimmt globale Dimensionen an.<br />

Sie spaltet den Globus trotz seiner ökonomischen Vernetzung. Die Kräfte des<br />

Wettbewerbs wirken durch die neoliberalistische Freiheit imperialistisch,<br />

kennen keine Grenzen, keine pragmatischen, keine geographischen und auch<br />

keine kulturellen. 61<br />

Auch innerhalb der Ökonomie stehen sich Einheitlichkeit und Vielfältigkeit<br />

gegenüber: Die Produktvielfalt sichert zum einen die Differenzierung vom<br />

Mitbewerber auf dem Markt, zum anderen fordern Markt und Unternehmen<br />

eine Einheitlichkeit und <strong>St</strong>andardisierung der Produkte, um den globalen<br />

Markt systematisch bedienen zu können. Während die Vielfalt eher die Frage<br />

nach der Sinnhaftigkeit aufwirft62, so führt die Vereinheitlichung zu<br />

Konflikten mit gesellschaftlichen und humanen Ansprüchen auf globaler<br />

Ebene. 63 Ökonomische Einheit und Vielheit treffen sich dort, wo es um ihre<br />

61 Die Literatur zu diesem Thema ist inzwischen so umfangreich, dass an dieser <strong>St</strong>elle<br />

nur skizziert werden kann, welche thematischen Facetten im Zusammenhang mit<br />

„Globalisierung“ erörtert werden. <strong>St</strong>ellvertretend sei hier auf den Sammelband<br />

Maak/Lunau (1998), verwiesen, welcher unterschiedliche Aspekte auch und vor<br />

allem aus wirtschaftsethischer Perspektive beleuchtet. Vor dem aktuellen Hintergrund<br />

sind insbesondere die Themen Kultur, Religion und Sozialstandards relevant.<br />

Zu der Frage der <strong>St</strong>andards vgl. bspw. Thielemann. Thielemann erörtert die Frage, ob<br />

„das Tal der Tränen niedriger Sozial- und Umweltstandards durchschritten“ (Thielemann,<br />

U. (1998): Globale Konkurrenz, Sozialstandards und der (Sach-)Zwang zum<br />

Unternehmertum, in: Maak/Lunau (1998), S. 203-244, hier S. 228) werden muss, um<br />

zu einer verantwortbaren globalen Wirtschaftsgestaltung zu gelangen. Die Frage der<br />

Kultur in der Globalisierung betrachtet bspw. Skelton, T. [Hrsg.] (1999): Culture and<br />

Global Change, London u. a., in einer Aufsatzsammlung und Beck, U. (1997): Was ist<br />

Globalisierung?, 3. Aufl., Frankfurt. Rosecrance, R. (2001): Das globale Dorf - New<br />

Economy und das Ende des Nationalstaates, Düsseldorf, hebt die Virtualität und<br />

Immaterialität heutiger Wirtschaft hervor und gelangt über die Re-Definition von<br />

Nationalstaaten und ihren Beziehungen untereinander zu der nicht unbedenklichen<br />

Differenzierung in „Kopfstaaten“ und „Körperstaaten“. Ethische Reflexion bezüglich<br />

Immaterialität nimmt Rosecrance dagegen nicht vor. Martin, H.-P./Schumann, H.<br />

(1997): Die Globalisierungsfalle - Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand, 9.<br />

Aufl., Reinbek bei Hamburg, illustrieren die unterschiedlichen Facetten der Globalisierung<br />

auf anschauliche Weise durch zahlreiche Beispiele aus ihrer praktischen<br />

journalistischen Erfahrung.<br />

62 Vgl. hierzu auch den folgenden Abschn. 2.1.2.<br />

63 Prahalad/Bettis bezeichnen die von den westlichen Industrieländern vertretenen<br />

ökonomischen Inhalte und Verhaltensweisen als „dominant logic“. Diese westliche<br />

32


Kompatibilität zum System Ökonomie geht; diese besitzen beide auf ihre<br />

Weise. Durch diese Kompatibilität ist die Vielfalt nicht eine emergierende<br />

Vielfalt, die sich bspw. in den unterschiedlichen Kulturen zeigt, sondern eine<br />

geplante und bewusst eingesetzte Vielfalt, die um ihretwillen Vielfalt schafft,<br />

nämlich die expansive Vielfalt der Bedürfnisse auf der Nachfrageseite. Ökonomische<br />

Vielfalt kann auf diese Weise nicht zu kultureller Vielfalt beitragen,<br />

da sie sich durch ihre Perspektive der Handhabung, des spezifischen<br />

Telos, nicht mit der kulturellen Emergenz trifft. Dies verhält sich ähnlich mit<br />

der ökonomischen Vereinheitlichung und der inneren Homogenität einer<br />

Kultur. Das eine stellt sich primär in den Dienst der Ökonomie, das andere<br />

stellt sich primär in den Dienst des Menschen. Auch wenn wirtschaftliche<br />

Einheit Teil einer kulturellen Einheit darstellen mag, so kann sie aufgrund<br />

ihres ökonomischen Endzwecks diese nie ersetzen - sie kann diese nur aushöhlen.<br />

Nicht erst im Absatz sondern bereits in der Erstellung der Produkte nutzt die<br />

Wirtschaft Möglichkeiten des globalen Handelns. Internationale Preisdifferenzen,<br />

sogenannte komparative Kostenvorteile, bei Ressourcenbeschaffung<br />

oder Löhnen, aber auch qualitative Differenzen in Bezug auf <strong>St</strong>andards und<br />

Gesetzgebung spielen eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Koordinierung<br />

globaler Aktivitäten. In Bezug auf den wirtschaftlich Schwächeren,<br />

„Dritte Welt“ und „Schwellenländer“, kann dies Legitimitätsfragen aufwerfen.<br />

64 Die internationale Splittung der Wertschöpfungskette ist für global<br />

Dominanz überdeckt nicht nur andere Weisen des Wirtschaftens, sondern auch andere<br />

Weisen des Lebens. Vgl. hierzu Prahalad, C.K./Bettis, R.A. (1986): The Dominant<br />

Logic. A New Linkage Between Diversity and Performance, in: <strong>St</strong>rategic Management<br />

Journal, Jg. 7, S. 485-501, zitiert nach Pless, N. (1998a): Globalisierung und der Umgang<br />

mit kultureller Diversität, in: Maak/Lunau (1998), S. 355-366.<br />

64 In den USA wird diese Debatte bereits länger und auch intensiver geführt. Die sog.<br />

„Sweatshops“ bezeichnen Fabriken, in denen Kinder und Erwachsene unter Bedingungen<br />

arbeiten, die bei weitem nicht den hiesigen <strong>St</strong>andards entsprechen. Darüber<br />

hinaus wird vermutet, dass Absprachen zwischen Konzernen und den jeweiligen ansässigen<br />

Regierungen bestehen, die den internationalen Konzernen einräumen, unter<br />

dem landesüblichen Mindestlohnsatz Arbeitnehmer zu beschäftigen. Vgl. hierzu<br />

Klein, N. (2001): No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht. Ein Spiel<br />

mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern, München, und Bales, K. (2001): Die<br />

neue Sklaverei, München. Narr/Schubert identifizieren eine Spaltung zwischen<br />

„arm“ und „reich“ im internationalen Vergleich, weisen jedoch auch auf diese<br />

Spaltung im intranationalen Kontext hin: „Konzentration des Weltreichtums im Norden<br />

schliesst die Bildung von Armutssegmenten ebensowenig aus, wie die allgemeine<br />

Armut im Süden eine Schranke für den Reichtum einer Minderheit darstellen kann.<br />

Die produktive Transnationalisierung wertet keine nationalen Ökonomien mehr als<br />

33


player in der Industrie alltägliches Erscheinungsbild. Aufgrund des intensiven<br />

Wettbewerbs ist man gezwungen, diese Kostenvorteile zu suchen und<br />

auszunutzen, so die Argumentation. Im Inland zu produzieren, würde heißen,<br />

die Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Allgemein kann festgestellt werden,<br />

dass die zunehmende Durchlässigkeit von Grenzen für den Warenhandel<br />

und die Wertschöpfungsaktivitäten, die Liberalisierung des globalen<br />

Marktes, zur Intensivierung des inländischen und internationalen Wettbewerbs<br />

beiträgt, jedoch: diese „Zwangssituation“ ist „hausgemacht“. 65<br />

Die Durchlässigkeit der Grenzen bzw. die ökonomische Überschreitung derselben<br />

auf der einen Seite und die erhöhten Möglichkeiten von Mobilität auf<br />

der anderen Seite führen auch zu erhöhter Migration von Arbeitnehmern. 66<br />

Unternehmensintern führt dies zu einer kulturellen Pluralisierung der Mitarbeiterschaft,<br />

die aus rein ökonomisch-organisatorischer Sicht ambivalent<br />

erscheint. Interne Vielfalt erhöht die Kreativität, die Prozesspromotion jedoch<br />

nimmt ab. Es entsteht erhöhter Koordinationsbedarf, der einen „sensiblen<br />

und intelligenten Umgang mit kultureller Vielfalt“ verlangt. 67 Die<br />

Unternehmen sehen sich - nicht nur im internationalen Kontext, sondern vor<br />

solche ‚auf‘. Sie heterogenisiert und segmentiert dieselben so stark, dass selbst in den<br />

Industrienationen inzwischen Armut und Arbeitslosigkeit grassieren.“ (Narr, W.-D./<br />

Schubert, A. (1994): Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt, S. 123, zitiert<br />

nach Gil, T. (1998): Ethische und kulturelle Aspekte der wirtschaftlichen Globalisierung,<br />

in: Maak/Lunau (1998), S. 45-57, hier S. 51). Es wird hier deutlich, dass die ökonomisierte<br />

Gesellschaft große soziale Differenzen auch auf engstem Raum legitimiert,<br />

indem sie diese auf eine ökonomische Gerechtigkeit zurückführt.<br />

65 Den Zwang zur Adaption wird in der wirtschaftsethischen Debatte mit dem Begriff<br />

des „Sachzwangs“ belegt. Vgl. hierzu Ulrich (1998: 131ff.). Das ökonomische System<br />

hat zwar - wie noch näher aufzuzeigen sein wird - eigendynamischen Charakter, dies<br />

kann jedoch nicht als Legitimation für den Sachzwang gelten, denn das System ist<br />

selbst erschaffen und nicht „natürlich passiert“. Eine aus dieser Meta-Position heraus<br />

geführte Sachzwangdiskussion verkommt automatisch zu einer Scheindiskussion, um<br />

Eigeninteressen zu überdecken. Es ist dies um so verwunderlicher, wenn den Zwang<br />

der homo faber artikuliert, der so ein „Macher“ ist. Dieser soll mit einem Mal zum<br />

bloßen Spielball fremder Interessen geworden sein? Eine detaillierte Analyse des<br />

Sachzwangproblems findet sich bei Weber, Th. (1999): Das Denken in Sachzwängen.<br />

Unternehmer im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Verantwortung und ökonomischen<br />

Notwendigkeiten, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien.<br />

66 Vgl. hierzu bspw. die Darstellung bei Körner, H. (1990): Internationale Mobilität der<br />

Arbeit: eine empirische und theoretische Analyse der internationalen Wirtschaftsimigration<br />

im 19. und 20. Jahrhundert, Darmstadt, der die Migrationsveränderungen in<br />

den letzten 200 Jahren beschreibt und empirisch belegt.<br />

67 Pless (1998a: 357). Vgl. hierzu ausführlicher auch Pless, N. (1998b): Corporate caretaking:<br />

neue Wege der Gestaltung organisationaler Mitweltbeziehungen, Marburg.<br />

34


allem innerhalb der Landesgrenzen - mit Fragen konfrontiert, die über den<br />

genuin ökonomischen Gegenstand hinausgehen.<br />

2.1.2 Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik - interne Herausforderung der<br />

Ökonomie<br />

Wie aufgezeigt, trägt ökonomische Form und Methode zu systemischer Verselbständigung<br />

bei. Intern führt dies zu ökonomischer Effektivität und Effizienz,<br />

in Bezug auf die externen Herausforderungen jedoch bedeutet diese<br />

systemische Schließung Ineffektivität sowie Ineffizienz. Die systemische<br />

Operation der Ökonomie ist ihre <strong>St</strong>ärke und Schwäche zugleich.<br />

<strong>St</strong>ellte die Pluralität die zentrale Bestimmung der System-Umwelt der Ökonomie<br />

dar, so kann die zentrale systeminterne Bestimmung in der operationalen<br />

Geschlossenheit, ihren Eigengesetzlichkeiten und den daraus entstehenden<br />

Eigendynamiken gesehen werden. Die unternehmerische Wirtschaft reagiert<br />

oftmals erst dann auf die Ansprüche der <strong>St</strong>akeholder, wenn diese sich<br />

negativ auf das eigene Unternehmensergebnis auswirken könnten. 68 Diese<br />

ökonomische Relevanz ist eine systemische, eine innere Relevanz. Solange<br />

diese Relevanz nicht erreicht wird, solange werden die Vorgänge beobachtet,<br />

geduldet, akzeptiert oder verdrängt. 69 Handlungsbedarf entsteht erst bei<br />

direkter wirtschaftlicher Betroffenheit, und das bedeutet in diesem Fall die<br />

Ergebnisbeeinflussung. Die Vorfälle, die im Zusammenhang mit Shell (Brent<br />

Spar; Nigeria-Engagement) oder Bayer (Lipobay-Skandal) beispielsweise die<br />

Gefährdung von Umwelt und menschlicher Gesundheit mit sich brachten,<br />

wurden erst dann ökonomisch handlungsrelevant, als dies an die Öffentlichkeit<br />

gelangte; Imageverlust wird zunehmend zum entscheidenden öko-<br />

68 Vgl. zum „Eigensinn“ innerhalb der Organisation bspw. Ringlstetter, M. (1995): Konzernentwicklung.<br />

Rahmenkonzepte zu <strong>St</strong>rategien, <strong>St</strong>rukturen und Systemen, München,<br />

S. 314ff.<br />

69 Ohne dies explizit zu behandeln, nimmt diese Analyse den Luhmannschen Begriff<br />

der Systemrationalität auf. Vgl. hierzu Luhmann, N. (1973): Zweckbegriff und Systemrationalität,<br />

Frankfurt. An anderer <strong>St</strong>elle zeigt Luhmann auf, dass „der Einzelbeitrag,<br />

die Einzelwirkung, die Zwecksetzung (...) für sich alleine keine Rationalität behaupten“<br />

kann; „sie können nur rational sein im Rahmen und nach Maßgabe von Systemreferenzen.“<br />

(Luhmann, N. (1974): Funktionale Methode und Systemtheorie, in: ders.<br />

(1974), Soziologische Aufklärung, Band I: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme,<br />

Opladen, S. 31-53, hier S. 47). Vgl. auch die Darstellung bei Dorschel, A./Kettner, M.<br />

(1996): Systemrationalität?, in: Apel, K.-O./Kettner, M. (Hrsg.), Die eine Vernunft und<br />

die vielen Rationalitäten, Frankfurt, S. 349-372, und Acham, K. (1984): Über einige<br />

Rationalitätskonzeptionen in den Sozialwissenschaften, in: Schnädelbach, H. (Hrsg.),<br />

Rationalität. Philosophische Beiträge, Frankfurt, S. 32-69.<br />

35


nomischen Erfolgsfaktor. Die Gesellschaft artikuliert darüber hinaus die<br />

Erwartung an die Ökonomie, ein antizipativ-risikoaverses Verhalten bezüglich<br />

direkter Folgen für Umwelt und Menschheit an den Tag zu legen, auch<br />

wenn dies zu wirtschaftlichen Einbußen führen sollte. 70 Wenn man die dieser<br />

Erwartung entgegenstehende ökonomische Prioritätensetzung verstehen<br />

möchte, muss man sich das Wesen des ökonomischen Systems näher<br />

anschauen. Dabei steht die Fragestellung im Vordergrund, ob und wenn: wie<br />

eine Einflussnahme auf das System Ökonomie jenseits systemischer Parameter<br />

möglich ist.<br />

In der Systemtheorie können Einflüsse von „außen“, also aus der Systemumwelt,<br />

das System selbst nicht wirklich pertubieren, sondern nur peripher<br />

tangieren. Initiatoren können zwar das System anstoßen, dieses aber nicht<br />

nachhaltig verändern. Eine nachhaltige Veränderung kann erst dann entstehen,<br />

wenn diese Initiierung zu einer Transzendenz der Systemgrenzen führt.<br />

Ansonsten werden Impulse aus der Umwelt systemintern verarbeitet und<br />

systemeigene Reaktionsketten generiert, die sich innerhalb der Systemgrenzen<br />

selbstorganisiert ausbreiten. Anzeichen hierfür sehen auch Manager<br />

in der Praxis:<br />

36<br />

„Wir donnern mit 150 Meilen Tempo die <strong>St</strong>rasse hinunter und wissen genau,<br />

dass da irgendwo eine Mauer steht. Aber das Schlimmste, was wir tun könnten,<br />

wäre, uns überholen zu lassen.“ 71<br />

Nicht im System generierte Inhalte müssen für die systeminterne Verarbeitung<br />

übersetzt werden, wenn diese Inhalte im System wirksam werden<br />

wollen.<br />

70 Vgl. zu Brent Spar bspw. Ulrich, P. (1996): Brent Spar und der „moral point of view“.<br />

Reinterpretation eines unternehmensethischen Realfalls, in: Die Unternehmung, Jg.<br />

50, S. 27-46, und Osterloh, M./Tiemann, R. (1995): Konzepte der Wirtschafts- und<br />

Unternehmensethik. Das Beispiel der Brent Spar, in: Die Unternehmung Jg. 49, S. 321-<br />

338, zum Nigeria-Engagement bspw. Pless, N. (1997): Interkulturelles Management:<br />

Konfliktpotentiale eines entitativen Menschenbildes und Beziehungsverhältnisses am<br />

Beispiel des Falles Shell Nigeria und dem Volk der Ogoni, in: Seminar – Lehrerbildung<br />

und Schule, Jg. 2, S. 44-52. Bezeichnenderweise nennt die Ökonomie diese<br />

Effekte „externe Effekte“, also außerhalb des Systems Ökonomie. Vgl. zu einer fundierten<br />

Analyse des ökonomischen Terminus „externe Effekte“ Thielemann (1996:<br />

45ff.).<br />

71 Craig Barnett, Präsident von Intel, zitiert nach Müller-<strong>St</strong>ewens, G. (2001): Risk-<br />

Awareness und Reaktionsfähigkeit, in: <strong>St</strong>udent Business Review 6, Mai 2001, S. 12-13,<br />

hier S. 12.


Aus volkswirtschaftlicher Perspektive kommt dieser positivistisch und<br />

operationell-geschlossene <strong>St</strong>atus der Ökonomie in der Abkoppelung des<br />

Angebots von der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage zum Ausdruck. Diese<br />

Abkoppelung geschieht nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ.<br />

Während die quantitative Abkoppelung die Frage nach der Bedürfnisgenerierung<br />

aufwirft, so macht die qualitative Abkoppelung zweierlei deutlich:<br />

� Im wortwörtlichen Sinne kann hierunter die Produktqualität verstanden<br />

werden; diese stellt aus rein ökonomischer Perspektive zumindest bei<br />

Gebrauchsgütern ein zweischneidiges Schwert dar. Einerseits schafft<br />

Produktqualität Kundenbindung, andererseits erhöht sie aber auch die<br />

Verweildauer der Produkte im Markt, was den Umlauf und damit den<br />

Umsatz senkt. Der längeren Verweildauer steht zudem die Beschleunigung<br />

der technologischen Entwicklung gegenüber. Elektronische Gebrauchsgüter<br />

hemmen das Wirtschaftswachstum, wenn sie dann noch funktionsfähig<br />

sind, obwohl bereits ein technologisch weiterentwickeltes Produkt auf seine<br />

Kunden wartet. So ist häufig die Reparatur elektronischer Geräte gar nicht<br />

möglich bzw. nicht sinnvoll, da der Neukauf günstiger ist. Dies ist vornehmlich<br />

auf eine bestimmte Produkt- und Wirtschaftspolitik zurückzuführen.<br />

Dem entgegengesetzt ist ein weiteres Verständnis von Produktqualität notwendig,<br />

um die gesamten Kosten abbilden zu können. Dieses Verständnis<br />

bezieht sich - neben den rein materiellen Bestimmungen des Produkts - auf<br />

die personalen und nicht-personalen (Ökologie) <strong>St</strong>akeholder, die indirekt<br />

von dem Kauf eines Produkts und dessen Nutzung (und dazu gehört auch<br />

die Entsorgung!) betroffen sind. 72 Gebrauchsgüter erodieren so zu Konsumgütern:<br />

Benutzen und Entsorgen. 73<br />

72 Vgl. hierzu Sietz, M. [Hrsg.] (1998): Umweltschutz, Produktqualität und Unternehmenserfolg:<br />

vom Öko-Audit zur Ökobilanz, Berlin u. a. Zu diesem erweiterten Verständnis<br />

gehört jedoch auch die explizite Integration der Nachfrageseite in ihrem<br />

Verhalten; nur eine gemeinsame Anstrengung von beiden Seiten trägt zu einer nachhaltigen<br />

Gestaltung von Produktqualität bei. In diesem Sinne ließe sich auf der Nachfrageseite<br />

von einer „Konsumentenethik“ sprechen, die entsprechende Anreize und<br />

Sanktionen für die Angebotsseite schafft. Vgl. zu einer detaillierteren Ausarbeitung<br />

auch Knobloch, U. (1994): Theorie und Ethik des Konsums. Reflexion auf die normativen<br />

Grundlagen sozialökonomischer Konsumtheorien, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, und<br />

Hansen, U./Schrader, U. (1999): Zukunftsfähiger Konsum als Ziel der Wirtschaftstätigkeit,<br />

in: Korff, W. et al. (Hrsg.), Handbuch der Wirtschaftsethik, Bände I-IV, Gütersloh,<br />

S. 463-486.<br />

73 Arendt (2001) beschreibt den Charakter von Konsumgütern und deren Differenz sehr<br />

eindrücklich schon im Jahre 1958: „Unter allen Gegenständen, die wir in der Welt vor-<br />

37


� Eine qualitative Abkoppelung kann jedoch auch bedeuten, dass eine Diskrepanz<br />

entsteht zwischen dem, was nachgefragt wird und dem, was angeboten<br />

wird. Die betrifft nicht das Wie von Produkten, sondern stellt Produkte<br />

als Ganzes, in ihrer Sinnhaftigkeit in Frage, was in der öffentlichen<br />

Diskussion weitgehend verlorengegangen zusein scheint. Dabei entsteht die<br />

Legitimation von technologischer Forschung aus ihr selbst heraus, wird aber<br />

auch zu großen Teilen von außen durch die marktwirtschaftliche Nachfrage<br />

legitimiert; seien es die unzähligen Unterhaltungsprodukte für die Jugend<br />

oder bewegte Bilder über das Handy, die durch den neuen Universal Mobile<br />

Technology <strong>St</strong>andard (UMTS) bzw. durch das wireless application protocol<br />

(WAP) möglich werden. Oftmals werden Produkte aus diesem Grund gegenüber<br />

Anfragen bezüglich ihrer Sinnhaftigkeit „abgesichert“, indem sie<br />

vorgeben, für die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen notwendig zu<br />

sein. Auf diese Weise gelangen sie in den (marktwirtschaftlichen) Sozialisationsprozess<br />

der Gesellschaft. Ein Produkt, eine Marke wird zum <strong>St</strong>atussymbol<br />

und notwendiger Teil der Identität. Diese Kommerzialisierung übt<br />

Druck auf die Nicht-Besitzenden aus und schafft auf diese Weise erneute<br />

Nachfrage auch bei dem, der es sich nicht leisten kann. 74<br />

finden und die uns umgeben, besitzen die Konsumgüter den geringsten Grad an Beständigkeit,<br />

sie überdauern kaum den Augenblick ihrer Fertigstellung.“ (Arendt 2001:<br />

114). Und an späterer <strong>St</strong>elle stellt sie fest, „daß Gebrauchen sich von Verbrauchen nur<br />

durch eine Verlangsamung des Tempos unterscheidet.“ (Arendt 2001: 163). Vgl. auch<br />

die Darstellung bei Braun, M. (1994): Hannah Arendts transzendentaler Tätigkeitsbegriff:<br />

Systematische Rekonstruktion ihrer politischen Philosophie im Blick auf Jaspers<br />

und Heidegger, Frankfurt u. a., S. 48ff.<br />

74 Vgl. hierzu beispielsweise Klein (2001). Diese relative Sinnhaftigkeit überdeckt zunehmend<br />

die absolute Sinnhaftigkeit/Nützlichkeit eines Produkts. In unzähligen anderen<br />

Bereichen der westlichen Industriegesellschaften ist ein Wertewandel hin zu einer<br />

Legitimität durch den Markt zu beobachten; besonders stark ist dies in der Medienbranche.<br />

Die „Quoten“ im Fernsehen bestimmen das Programm. Der Bildungsauftrag,<br />

an den sich zumindest die Öffentlichen Sender binden, wird zunehmend durch<br />

den Markt ausgehöhlt. Der visionäre und oftmals auch gegen die „Masse“ ankämpfende<br />

Auftrag, Bildung und Kultur zu vermitteln, wird zugunsten einer Reproduktion<br />

und Verstärkung des Bestehenden aufgegeben. Auch bei Sportveranstaltungen,<br />

die im TV übertragen werden, wird diese Kommerzialisierung deutlich. So werden<br />

bspw. in der National Basketball League (NBA) in den USA die Spiele für TV-<br />

Werbung unterbrochen. Oder: Zur Leichtathletik-Weltmeisterschaft 2001 in Edmonton<br />

wurden die Normen (Mindestleistung) für Werfer und Springer drastisch verschärft.<br />

Die Techniker (Werfer, Springer) sind nicht so attraktiv anzuschauen wie die<br />

Läufer, so die Aussage der Verbände. „Gefragt sind nicht mehr nur die Fachleute,<br />

hofiert werden muss heutzutage vor allem das Publikum an den Bildschirmen, an<br />

dessen erster Forderung niemand mehr vorbei kommt, nämlich kurzweilig unterhalten<br />

zu werden.“ (Hartmann, R. (2001): Leichtathleten zweiter Klasse, in: Süddeutsche<br />

38


Aus historischer Sicht ist der durch die protestantische Arbeitsethik genährte<br />

Laborismus ursächlich für den Konsumismus; diese Ursächlichkeit stellt das<br />

zentrale Bindeglied zwischen Arbeitswelt und Lebenswelt dar. Der Konsum<br />

ist eine lebensweltliche und ökonomische Größe zugleich. Damit unterscheidet<br />

sich Konsum von volkswirtschaftlichen <strong>St</strong>ellgrößen wie Leitzins oder<br />

Nominallöhne. Der Konsum entsteht aus der lebensweltlichen Sphäre heraus,<br />

kann durch die Angebotsseite auch initiiert bzw. manipuliert werden,<br />

bleibt jedoch auch außerhalb des Kontextes Arbeit ursächlich und ursprünglich<br />

dem lebensweltlichen Rahmen verhaftet.<br />

Produktion tritt an dem Punkt aus der Ursächlichkeit heraus, wo sie nicht<br />

auf eine Nachfrage reagiert, sei sie auch extrapoliert oder antizipiert. Diese<br />

Antizipation richtet sich nämlich eher an einer volkswirtschaftlichen Erwünschtheit<br />

einer stetig wachsenden Wirtschaft aus, als an dem wirklichen<br />

individuellen Bedarf. <strong>St</strong>ellt sich dieser nicht ein, ist er durch Werbung und<br />

Promotion zu erzeugen. 75 Ein produktionsinduzierter Angebotsüberhang<br />

stellt eines der zentralen Phänomene des Abstraktionsgrades von ökonomischer<br />

Rationalität dar. Sinnhaftigkeit wird vornehmlich innerhalb des ökonomischen<br />

Systems gesucht und gefunden. Der Kreis schließt sich – und<br />

damit erfüllt sich der Sachverhalt der Existenz einer Eigendynamik –, wenn<br />

daraufhin Arten des Konsums entstehen, welche jeglicher rationaler Grund-<br />

Zeitung, 24.01.01, Nr. 19, S. 37). Neil Postman sieht in der Sportberichterstattung im<br />

Wesentlichen ein „Showbusiness“ und deutet damit die enge Verbindung von Sport<br />

und Kommerz (durch Medienberichterstattung) an und zugleich auch die Dominanz<br />

des Kommerz über den Sport. Vgl. Postman, N. (1988): Wir amüsieren uns zu Tode.<br />

Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt, S. 154. Vgl. auch<br />

Schmidt, S.J./Spieß, B. (1997): Die Kommerzialisierung der Kommunikation. Fernsehwerbung<br />

und sozialer Wandel 1956-1989, Frankfurt.<br />

75 Vgl. hierzu Ven, B.v.d. (2000): Postmodernism and the Advertised Life. In Search for<br />

an Ethical Perspective on Advertising, in: zfwu, Jg. 1, H. 2, S. 155-170, der die Funktion,<br />

Rolle und Wesen der Werbung ethisch reflektiert.<br />

Pohl identifiziert einen doppelten Reduktionismus in der Denkhaltung des Marketing:<br />

Zum einen wird der Mensch nur in seiner Rolle als Konsument rekonstruiert,<br />

zum anderen wird „aufgrund einer behavioristischen Grundtendenz seine Vernunftbegabung<br />

und sein freier Wille, vorsichtig formuliert, nicht ausreichend ernst genommen.“<br />

(Pohl, T. (2001): Marketing in der Sozialen Marktwirtschaft: Eine <strong>St</strong>reitschrift<br />

für die Erneuerung des Marketing-Ethos, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 146). Pohl<br />

kann in seiner weiteren Analyse die Verflechtungen von Marketing und sozialer<br />

Marktwirtschaft aufzeigen und reflektiert das Marketing auch im Rahmen einer Ökonomismuskritik.<br />

Hier wird die - kritisch zu reflektierende - Rolle und Funktion des<br />

Marketing im System Ökonomie transparent. Vgl. hierzu Pohl (2001: 68ff.).<br />

39


lage entbehren. So spricht Ulrich unter Bezug auf Bahros Werk „Die Alternative“<br />

von „kompensatorischem Konsum“, welcher auf eine psychologische<br />

Zwanghaftigkeit zurückgeführt werden kann. 76 Die Zwänge können dabei<br />

materieller Natur (beispielsweise die Kommerzialisierung der <strong>St</strong>adt durch<br />

bauliche Maßnahmen) oder immaterieller Natur sein im Sinne einer erhöhten<br />

Abhängigkeit des Einzelnen von Konsum durch strukturelle marktwirtschaftliche<br />

Maßnahmen, „existenznotwendige Kaufkraft“ 77.<br />

40<br />

„Der steigende Konsum spiegelt mehr ihre [der Menschen; T.B.] wachsende<br />

Unselbständigkeit und „Bedürftigkeit“ als steigende Lebensqualität.“ 78<br />

Die Autonomie des Einzelnen und die Autonomie, die Subsistenz der Gemeinschaften,<br />

sehen sich hierbei mit systematischen Barrieren konfrontiert.<br />

Die hier verfolgte phänomenologische Systembetrachtung umfasst neben der<br />

(statischen) Differenzierung von System-Umwelt auch immer die dynamische<br />

Perspektive des Systems, welche die spezifischen, nach Eigengesetzlichkeiten<br />

verlaufenden, systemischen Prozesse betrachtet. Hier können die<br />

zahlreichen naturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten der letzten Jahrzehnte<br />

zusätzliche Aufschlüsse für eine Analyse des Systems Ökonomie<br />

liefern, die sich mit Phänomenen wie Eigendynamik, Selbstorganisation und<br />

Eigengesetzlichkeiten in organischen Systemen auf Mikro- (intra-systemisch,<br />

zellulär) und Makroebene (inter-systemisch) befassen. Eine entscheidende<br />

Rolle spielen dabei u. a. Rückkoppelungsprozesse, Fluktuationen, Bifurkationen<br />

und (zirkuläre) Kreisprozesse. In ihnen finden sich Phänomene der<br />

Selbsterzeugung bzw. –erhaltung (Autopoiese), der Entstehung von Ordnung<br />

(Selbstorganisation), des Selbstbezugs (Selbstreferentialität) und Formen<br />

von Autonomiegraden (operationale Geschlossenheit). Um die naturwissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse auf das System Ökonomie übertragen zu<br />

können, ist eine interdisziplinäre Betrachtung notwendig, die Analogien<br />

zwischen organischen und anorganischen Systemen zu identifizieren sucht. 79<br />

76 Vgl. Bahro, R. (1990): Die Alternative: Zur Kritik des real existierenden Sozialismus,<br />

Frankfurt, zitiert nach Ulrich (1993: 112ff.).<br />

77 Ulrich (1993: 455).<br />

78 Ebenda.<br />

79 Diese Analogien zwischen Natur und Ökonomie seien nur in der Weise gemeint und<br />

verstanden, dass auf dessen Grundlage keine Begründung und Rechtfertigung der<br />

Ökonomie als „Natürliches“ möglich ist. Zu dieser Diskussion sei beispielsweise auf


So schlägt bspw. Luhmann eine Brücke dieser Phänomene zu den Mechanismen<br />

sozialer Systeme. 80 Auch die betriebswirtschaftliche Forschung beobachtete<br />

derartige Phänomene im unternehmerischen Kontext und zeigt<br />

Parallelen auf. 81 Da diese Parallelen nicht den Charakter von Analogieschlüssen<br />

annehmen und wohl auch nicht annehmen können, so bleiben die<br />

naturwissenschaftlichen Phänomene immer nur Impulse für den ökonomischen<br />

Kontext, niemals aber konsequente breite Übertragung. 82<br />

Prigogine weist nach, dass sich Entropie (Unordnung) ab einem kritischen<br />

Punkt, welcher eben durch die dissipativen <strong>St</strong>rukturen bestimmt ist, irreversibel<br />

umkehrt und zu einem Zustand höherer Ordnung und größerer Komplexität<br />

gelangt. 83 Dieser Punkt kann als Bifurkationspunkt bezeichnet werden,<br />

die detaillierten Ausführungen bei Ulrich (1993: 184ff.) verwiesen. Vielmehr gelten<br />

hier die Analogien als Versuch, Aufschlüsse über die Geschlossenheit und - im Weiteren<br />

- über die Entwicklungsfähigkeit des ökonomischen Systems zu erlangen, welches<br />

in der aktuellen Forschung auch mit Hilfe biologisch-systemischer Forschung geschieht.<br />

80 Vgl. Luhmann, N. (1982): Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung,<br />

in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 11, S. 366-379. Zur allgemeinen Konzeption vgl.<br />

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt.<br />

81 So zum Beispiel Haken, H. (1984): Can Synergetics be of Use to Management Theory?,<br />

in: Ulrich, H./Probst, G.J.B. (Hrsg.), Self-Organization and Management of Social<br />

Systems: Insights, Promises, Doubts and Questions, Berlin u. a., S. 45-56; Kirsch<br />

(1992); Klimecki, R./Probst, G.J.B./Eberl, P. (1994): Entwicklungsorientiertes Management,<br />

<strong>St</strong>uttgart; Knyphausen, D. zu (1988): Unternehmungen als evolutionsfähige<br />

Systeme. Überlegungen zu einem evolutionären Konzept für die Organisationstheorie,<br />

München; insbesondere Probst, G.J.B. (1987): Selbstorganisation. Ordnungsprozesse<br />

in sozialen Systemen aus ganzheitlicher Sicht, Berlin u. a.; Richter, F.-J. (1995):<br />

Die Selbstorganisation von Unternehmen in strategischen Netzwerken: Bausteine zu<br />

einer Theorie des evolutionären Managements, Frankfurt.<br />

82 Witt kann in seiner Erörterung aufzeigen, inwieweit und an welchen Punkten Analogien<br />

sinnvoll sind. Sein Fazit lautet, dass es zwar nur einige wenige Bereiche gibt, bei<br />

denen Parallelen aufgezeigt werden können (bspw. Innovationen im Markt), jedoch<br />

die dadurch gewonnenen Erkenntnisse eine genauere Analyse lohnenswert erscheinen<br />

lassen. Vgl. Witt, U. (1997): Warum sollen sich Ökonomen mit Selbstorganisation<br />

beschäftigen?, in: Gleich, A. et al. (Hrsg.), Surfen auf der Modernisierungswelle, Marburg,<br />

S. 47-70.<br />

83 Vgl. Prigogine, I. (1979): Vom Sein zum Werden, München. Ähnliche Forschungsansätze<br />

gab es zur gleichen Zeit auch in der Theoretischen Physik: H. Haken: Synergetik,<br />

der Chemie: M. Eigen/P. Schuster: Hyperzyklus-Theorie und vor allem in der<br />

(Kognitions-)Biologie: H. R. Maturana/F. J. Varela: Autopoiese. Vgl. hierzu Haken, H.<br />

(1977): Synergetics: Nonequilibrium Phase Transitions and Self-Organization in Physics,<br />

Chemistry and Biology, Berlin u. a., Eigen, M./Schuster, P. (1979): The Hypercycle,<br />

Heidelberg u. a., und Maturana, H.R./Varela, F.J. (1980): Autopoiesis and Cognition,<br />

Boston. Diese Ansätze können an dieser <strong>St</strong>elle nicht näher diskutiert werden.<br />

Vgl. zu einem Überblick bspw. Krohn, W./Küppers, G. [Hrsg.] (1990): Selbstorganisation:<br />

Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Braunschweig u. a.<br />

41


an dem sich das System paradigmatisch verändert. Das Vorher und Nachher<br />

stehen nicht länger mehr in einem systemischen Kontinuum. Die Bifurkation<br />

geht über das System hinaus, relativiert es und setzt es in einen neuen<br />

Bezugsrahmen.<br />

Die in dieser Argumentation um eine Weiterentwicklung der ökonomischen<br />

Rationalität angestrebte Grundlagenreflexion des Systems Ökonomik weist<br />

ähnliche Charakteristika auf. Die Reflexion führt zwar „nur“ zu einer Rückbindung<br />

der Ökonomie an ihre ursprüngliche Verwiesenheit, doch stellt<br />

diese Rückbindung im Vergleich zu der jetzigen Abkoppelung der Ökonomie,<br />

dem jetzigen systemischen <strong>St</strong>atus der Geschlossenheit, eine Form von<br />

paradigmatischer Veränderung des Systems Ökonomie dar. In diesem Sinne<br />

ließe sich - in Rekurs auf die systemische Verfasstheit der Ökonomie - von<br />

einer Bifurkation sprechen.<br />

Es wurde angedeutet, dass Impulse von außen nur im Rahmen der systeminternen<br />

Logik verarbeitet werden, was ihnen zwangsläufig den innovativen<br />

Charakter im starken Sinne nimmt. 84 Eine Form von Innovation im System<br />

Ökonomie, eine Bifurkation, muss die Grenzen des Systems thematisieren.<br />

Die „Fundierung der ökonomischen Sachlogik auf ethisch legitimen Grundlagen“<br />

85 zielt letztlich - insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen<br />

Verfassung der Ökonomie - auf eine solche Bifurkation ab. Die Reflexion des<br />

Systems Ökonomik kann nicht nur aus der Binnenperspektive gelöst werden,<br />

sondern muss durch die Außenperspektive fundamental-integrativ komplettiert<br />

werden. Für eine damit zu erörternde Weiterentwicklung/Öffnung<br />

der ökonomischen Rationalität bedeutet dies die Inkaufnahme einer systemischen<br />

Bifurkation, die die Rationalität über ihr Bezugssystem derart hinaus<br />

entwickelt, so dass die systemische Geschlossenheit durchbrochen wird und<br />

Anknüpfungspunkte für die „Umwelt“ entstehen. Nur eine bifurkative Entwicklung<br />

kann eine auch aus der Außenperspektive wahrnehmbare und<br />

84 Innovation im starken Sinne zielt insbesondere auf diejenige Veränderung ab, die nicht<br />

unbedingt an das Vorherige anknüpfen muss, sondern von einer hypothetisch parallelen<br />

Alternative ausgeht und von dieser auf zukünftige Handhabungen schließt<br />

(„Was wäre gewesen, wenn wir damals nicht so, sondern anders entschieden hätten?<br />

Dann stünden wir heute vor anderen Alternativen. Ist eine davon mit unserer jetzigen<br />

Situation kompatibel, d. h., stellt sie eine praktikable Handhabung auch noch in der<br />

jetzigen Konstellation dar und könnte sie auf diese Weise eine frühere, vielleicht falsche<br />

Entscheidung kompensieren?“). Indem Wege generiert werden, die ohne die retrospektive<br />

Reflexion nicht denkbar gewesen wären, lässt sich der aktuelle Entscheidungshorizont<br />

in gewisser Weise transzendieren.<br />

85 Ulrich (1998: 126).<br />

42


damit wirksame Veränderung darstellen. Diese wirksame Veränderung ließe<br />

sich - analog zu der Innovation - als eine Entwicklung im starken Sinne interpretieren.<br />

Die sich im System entwickelnde Eigendynamik hat schon längst nichts<br />

mehr mit dem „Natürlichen“ menschlicher Lebensdynamik zu tun. Der<br />

Mensch ist zur (systemischen) Flexibilität gezwungen, um sich in der ökonomisierten<br />

Welt behaupten zu können; diese Flexibilisierung geht über die<br />

reine materielle Mobilität hinaus. Zur Reaktion verdammt gibt der Einzelne<br />

sukzessive seine gestalterischen Kompetenzen an sich verselbständigende<br />

Mechanismen ab. Der hier verfolgte Ansatz bezieht sich in seiner lebensweltlichen<br />

Rückbindung auf die innere Verfasstheit der Systeme und versucht,<br />

systemische Eigendynamik durch lebensweltlich-konstruktive Dynamik<br />

abzulösen.<br />

2.2 Exkurs: Totale Flexibilisierung 86<br />

In der sich dynamisch verändernden globalen Wirtschaft sind vor allem die<br />

Arbeit und ihre Bedingungen einem starken Wandel unterworfen. Dieser<br />

Wandel fordert vom Einzelnen eine Flexibilität, die nicht nur eine zeitliche<br />

ist, sondern auch räumlich besetzt wird. Mag auch der Einzelne zum Teil<br />

einen höheren Grad an individueller Freiheit erlangen, so steht oftmals diese<br />

sogenannte Freiheit zunehmend im Zeichen des Konsumzwangs, der Güterproduktion<br />

und Eigentumsmehrung. Was flexibel bedeutet, sagt uns die<br />

kommerzialisierte Gesellschaft, das bestimmt der Arbeitgeber.<br />

Richard Sennett sieht in dieser fremd- bzw. ökonomie-induzierten Flexibilisierung<br />

eine besondere Herausforderung für den Einzelnen. Dazu betrachtet<br />

Sennett den Lebensbereich, der wohl am stärksten von den globalen Prozessen<br />

betroffen ist und zugleich auch im Mittelpunkt individueller Lebensgestaltung<br />

steht; es ist dies der Kontext „Arbeit“. Fasst man die Veränderungen<br />

in gesellschaftlicher Lebens- und Arbeitswelt mit der Feststellung eines<br />

„modernen Kapitalismus“ 87 zusammen, so lassen sich ähnliche Veränderungen<br />

auf der Makroebene (Globalisierung) wie auf Mesoebene (Arbeit im<br />

86 Dies folgende Kapitel stützt sich vornehmlich auf Sennett, R. (1998): Der flexible<br />

Mensch - Die Kultur des neuen Kapitalismus, 6. Aufl., Berlin.<br />

87 Sennett, R. (2000): Der flexibilisierte Mensch – Zeit und Raum im modernen Kapitalismus,<br />

in: Ulrich, P./Maak, Th. (Hrsg.), Die Wirtschaft in der Gesellschaft: Perspektiven<br />

an der Schwelle zum 3. Jahrtausend, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 87-104, hier S. 91ff.<br />

43


nationalen Kontext) beobachten. Gemeinsam ist ihnen ein neuartiger ökonomischer<br />

Bezugsrahmen. Die <strong>St</strong>rukturen, Methoden und Regeln dieses<br />

Rahmens werden durch die ökonomische Rationalität konstruiert und konstituiert.<br />

Die Flexibilisierung in der aktuellen Arbeitswelt geht einher mit einer Entgrenzung,<br />

einer Erosion inhaltlicher Grenzen und Orientierungen. Sennett<br />

beobachtet vor allem die formalen Veränderungen der Arbeitsbedingungen<br />

und wirft die Frage auf, inwieweit diese formalen, strukturellen Veränderungen<br />

auch inhaltliche Veränderungen von Arbeit darstellen und, wenn<br />

dies der Fall ist, vor welche inhaltlichen Herausforderungen der Einzelne<br />

dann gestellt ist.<br />

Die im Zentrum seiner Ausführungen stehende Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen<br />

verrät sich quasi in ihrer Terminologie selbst:<br />

44<br />

„Die Betonung der Flexibilität ist dabei, die Bedeutung der Arbeit selbst zu<br />

verändern und damit auch die Begriffe, die wir für sie verwenden. „Karriere“<br />

zum Beispiel bedeutet ursprünglich eine <strong>St</strong>raße für Kutschen, und als das<br />

Wort schließlich auf die Arbeit angewandt wurde, meinte es eine lebenslange<br />

Kanalisierung für die ökonomischen Anstrengungen des einzelnen. Der flexible<br />

Kapitalismus hat die gerade <strong>St</strong>raße der Karriere verlegt, er verschiebt Angestellte<br />

immer wieder abrupt von einem Arbeitsbereich in den anderen. Das<br />

Wort „job“ bedeutet im Englischen des 14. Jahrhunderts einen Klumpen oder<br />

eine Ladung, die man herumschieben konnte. Die Flexibilität bringt diese<br />

vergessene Bedeutung zu neuen Ehren. Die Menschen verrichten ihre Arbeit<br />

wie Klumpen, mal hier, mal da.“ 88<br />

Mit der Flexibilität verbindet sich insbesondere in der Arbeitswelt eine<br />

<strong>St</strong>ruktur, die Brüche aufweist und keine Kontinuität mehr leisten kann. Der<br />

Charakter eines Menschen „konzentriert sich insbesondere auf den langfristigen<br />

Aspekt unserer emotionalen Erfahrung“ 89, und es entsteht Angst,<br />

wenn diese langfristige Erfahrung zunehmend unmöglich wird. Die sich verselbständigende<br />

Dynamik des ökonomischen Systems lässt hingegen keine<br />

Langfristigkeit mehr zu. Flexibilität scheint nur durch Kurzfristigkeit erreichbar<br />

zu sein. 90 Die Erfahrung von Kurzfristigkeit dringt in das Zentrum<br />

lebensweltlicher Selbstbestimmung vor:<br />

88 Sennett (1998: 10).<br />

89 Sennett (1998: 11).<br />

90 Dass für das Unternehmen durch die Kurzfristigkeit hohe Kosten und Umstellungen<br />

entstehen, wird erst in jüngster Zeit auch von Unternehmensseite registriert. So ver-


„Es ist die Zeitdimension des neuen Kapitalismus, mehr als High-Tech-Daten<br />

oder der globale Markt, die das Gefühlsleben der Menschen, außerhalb des<br />

Arbeitsplatzes am tiefsten berührt.“ 91<br />

Diese zeitliche Selbstbestimmung ist aber konstitutiv für eine gelingende<br />

Identitätserfahrung. Das Gefühl der schwindenden Kontrolle über sein eigenes<br />

Leben bezeichnet Sennett als drift, die den Menschen in die Rolle des<br />

Reagierers drängt. In Bezug auf die Möglichkeit der Persönlichkeits- und<br />

Identitätsbildung stellt Sennett fest:<br />

„Die Erfahrung einer zusammenhangslosen Zeit bedroht die Fähigkeit der<br />

Menschen, ihre Charaktere zu durchhaltbaren Erzählungen zu formen.“ 92<br />

Die flexible Ordnung stellt sich für Sennett in den folgenden Merkmalen<br />

dar: 93<br />

� Diskontinuierlicher Umbau von Institutionen: Dies beschreibt die Differenzierung<br />

zwischen einem Wandel, welcher an die alten <strong>St</strong>rukturen anschließt<br />

und einem Wandel, welcher ohne Anschluss einen Neuanfang, einen neuartigen<br />

Ansatz vertritt. Dabei kann grundsätzlich die zweite Form wegen ihrer<br />

Unvergleichbarkeit der beiden Zustände im Sinne eines Fortschritts nur<br />

schwer bewertet werden. Der Bruch zwischen Vorher und Nachher birgt die<br />

Gefahr der Fragmentierung der arbeitsweltlichen Erfahrung und damit den<br />

Verlust einer kontinuierlichen Bindung an und die Identifikation mit<br />

dieser. 94<br />

lassen Mitarbeiter häufig gerade dann die Unternehmung, wenn sie aus der Einarbeitungsphase<br />

heraus sind, wechselnde Führungskräfte kommen mit immer neuen<br />

Management-Ansätzen, hohe Kosten der Rekrutierung rechnen sich nicht, hohe<br />

Fluktuation senkt ab einem gewissen Grad die Produktivität etc. Generell stellen diese<br />

erhöhten Transaktionskosten zunehmend eine hohe Belastung für die Unternehmen<br />

dar, insbesondere dann, wenn die Personalkosten den größten Posten auf der Ausgabenseite<br />

ausmachen, was in vielen Konkursfällen in der New Economy der Fall war.<br />

Insofern ist von dieser Seite her mit einer Entspannung in dieser auf kürzere Phasen<br />

strebenden Ökonomie zu rechnen. Der entscheidende Impuls ist dabei jedoch wieder<br />

ein ökonomischer.<br />

91 Sennett (1998: 29).<br />

92 Sennett (1998: 37).<br />

93 Vgl. zum Folgenden Sennett (1998: 59ff.).<br />

94 Edmund Leach (1968) hat diese Unterscheidung aus seinen <strong>St</strong>udien über die Erfahrung<br />

mit der Zeit gewonnen. Es wird insbesondere im Abschn. 12.2.2 darauf zurück-<br />

45


� Flexible Spezialisierung: In der Abkehr von der automatisierten fordistischen<br />

Produktion werden neue Formen der <strong>St</strong>ruktur angestrebt, die möglichst<br />

flexibel auf die sich verändernde Nachfrage reagieren können. Diese<br />

Flexibilität des Angebots betrifft inhaltlich die Produktpalette ebenso wie<br />

den formalen Aspekt der (Reaktions)Geschwindigkeit. Routine wird hier als<br />

<strong>St</strong>arrheit zugunsten eines „entschiedenen, abrupten, irreversiblen Wandels“<br />

verworfen. 95<br />

� Konzentration ohne Zentralisierung96: Ähnlich den Ressentiments, welche<br />

gegenüber der Routine aufgebaut wurden, ist auch eine Abkehr von der<br />

Zentralisierung in politischen, aber auch in wirtschaftlichen Systemen zu<br />

beobachten. Netzwerkarchitekturen entstehen und verknüpfen die Unternehmenseinheiten<br />

nach Bedarf miteinander. Entgegen der Annahme, es<br />

würde in Netzwerk-Organisationen weniger Macht ausgeübt werden, da<br />

diese Macht nicht zentral verwaltet wird, scheint es in der organisatorischen<br />

Realität eher mehr Druck auf den Einzelnen zu geben. Im Netzwerk steht<br />

zum einen jeder Einzelne mit seinem Team im Wettbewerb zu anderen<br />

Teams und zum anderen sind die Weisungswege kürzer; Kontrolle kann<br />

direkter wirken.<br />

Der vermeintliche Gegenpart der Flexibilität, die Routine, ist ihrerseits - zumindest<br />

in der wissenschaftlichen Diskussion - eine ambivalente Größe. 97<br />

Während Adam Smith zu Beginn des industriellen Kapitalismus Bedenken<br />

zukommen sein, dass der von außen initiierte (künstliche) Wandel, den bspw. Unternehmensberater<br />

an eine Unternehmung herantragen, oftmals den Charakter eines<br />

Bruchs annimmt, aber nicht aus Absicht, sondern aus Unvermögen, das Bestehende<br />

zu identifizieren, zu lesen. Vgl. zum Begriff des Lesens auch Sennett (1998: 81), der von<br />

der „Unlesbarkeit“ moderner Arbeitsstrukturen spricht. Dies deutet an, dass die Defizite<br />

bzw. Komplexitäten nicht nur auf der Seite der Identifizierenden, sondern auch<br />

auf der Seite des Identifizierten liegen. Vgl. hierzu Leach, E. (1968): Two Essays Concerning<br />

the Symbolic Representation of Time, in: ders. (1968), Rethinking Anthropology,<br />

London, S. 124-136.<br />

95 Sennett (1998: 65). Eine Unternehmung, die sich in ihrer Binnenstruktur möglichst<br />

dem Wandel der Außenwelt anzupassen versucht, wird an späterer <strong>St</strong>elle in Verbindung<br />

mit der „Ko-Evolution“ der Unternehmung mit der Umwelt wieder aufgenommen<br />

- dann jedoch in einer Verbindung von Evolution und Gestaltung. Vgl.<br />

hierzu Kirsch, W. (1997): <strong>St</strong>rategisches Management: Die geplante Evolution von Unternehmen,<br />

München, und Abschn. 12.2.2.<br />

96 Dieser Terminus geht auf Harrison zurück. Vgl. hierzu Harrison, B. (1994): Lean and<br />

Mean: The Changing Landscape of Corporate Power in an Age of Flexibility, New<br />

York, S. 47.<br />

97 Vgl. hierzu Sennett (1998: 39ff.).<br />

46


ezüglich der Routine äußerte, da diese den Menschen abstumpfe, so trat<br />

Diderot für die positiven Effekte ein, die Routine auf den Menschen habe. 98<br />

In der Wiederaufnahme von Adam Smith durch Karl Marx gewann insbesondere<br />

in der sozialwissenschaftlichen Diskussion die negative Interpretation<br />

von Routine an Popularität, was aus der historischen Perspektive als Reaktion<br />

auf Taylorismus und Fordismus zu erklären ist. Die vielleicht einseitige<br />

Ablehnung jeglicher Automatisierung ist demnach eher in ihrer programmatischen<br />

Funktion der damaligen Auseinandersetzung zu erklären.<br />

Die Thematisierung dieser Antithese zur Routine hat sich bis zur Mitte des<br />

letzten Jahrhunderts fortgesetzt und ist dort unter anderem in die „Humanisierungs-Welle“<br />

(Hawthorne-Experimente) und die <strong>St</strong>udien von Daniel Bell<br />

eingeflossen. 99 In der aktuellen Bestandsaufnahme jedoch zeigt sich ein gegensätzlicher<br />

Befund, nämlich die Hinwendung zur Routine als dialektisches<br />

Pendant zur Flexibilität. So sind Diderots Analysen zu den positiven Seiten<br />

der Routine, vor allem auch in der Aufnahme durch Giddens, von verstärktem<br />

Interesse für die aktuellen Diskussionen um eine Handhabung arbeitsweltlicher<br />

Diskontinuität. 100<br />

Flexibilisierung bedeutet für den Arbeitnehmer, dass sein Arbeitsplatz und<br />

damit sein Medium zur Sozialität in der heutigen Erwerbsgesellschaft zunehmend<br />

zur Disposition steht, es sei denn, dass er sich „mitflexibilisiert“.<br />

Jedoch hat in den letzten Jahren die Bereitschaft zur Auflösung der Arbeitsverhältnisse<br />

auch auf Seiten der Arbeitnehmerschaft zugenommen. Die<br />

hire&fire-Mentalität der frühen 90er Jahre, die einer einseitigen Aufkündigung<br />

der Loyalität von Arbeitgeberseite gleichkam, scheint nun auch zu<br />

einem Umdenken auf Arbeitnehmerseite geführt zu haben. Als realisiert<br />

wurde, dass auch eine lebenslange Firmenzugehörigkeit nicht mehr davor<br />

schützt, im Alter von 50 Jahren in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden,<br />

98 Vgl. die grundlegenden Werke von Smith, A. (1776): Der Wohlstand der Nationen,<br />

München, und d‘Alembert, J. le R./Diderot, D. et al. (1989): Enzyklopädie. Eine Auswahl,<br />

hrsg. und eingeleitet von G. Berger, Frankfurt, zitiert nach Sennett (1998: 39).<br />

99 Vgl. hierzu zu die Darstellung der Hawthorne-Experimente bei Walter-Busch, E.<br />

(1989): Das Auge der Firma: Mayos Hawthorne-Experimente und die Harvard Business<br />

School 1900-1960, <strong>St</strong>uttgart, S. 27ff. und 172ff., und die Darstellungen bei Bell, D.<br />

(1956): The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, Cambridge/Mass.;<br />

zur Human-Relations-Bewegung vgl. Neuberger, O. (1977): Organisation<br />

und Führung, <strong>St</strong>uttgart, und auch die Übersicht über die historischen Positionen<br />

bei Ulich, E. (1994): Arbeitspsychologie, 3., überarb. und erw. Aufl., <strong>St</strong>uttgart, S. 5ff.<br />

100 Vgl. hierzu Giddens, A. (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer<br />

Theorie der <strong>St</strong>rukturierung, Frankfurt/New York.<br />

47


da begann der einzelne Arbeitnehmer, sich besser gegen diesen Fall abzusichern.<br />

Ein Weg der Absicherung stellt das häufige Wechseln des Arbeitsplatzes<br />

dar, wodurch unterschiedliche Kenntnisse erworben und Verbindungen<br />

geknüpft werden. Der Arbeitnehmer sieht seine berufliche Identität<br />

vor allem in dieser Variabilität begründet; diese kann helfen, Brüche zu<br />

kompensieren, Kontinuität im Wandel zu finden und sich allgemein eine<br />

Form von Autonomie und Unabhängigkeit zu erarbeiten. So stellt auch Kocka<br />

(2000) aus sozialhistorischer Perspektive die Frage, ob nicht „das „Normalarbeitsverhältnis“,<br />

dessen Erosion derzeit so heftig diagnostiziert wird,<br />

vielleicht immer mehr die Norm als die Normalität gewesen ist“, denn die<br />

„lebenslange Zugehörigkeit zu einem Beruf“ war<br />

48<br />

„(...) auch früher - jedenfalls im 19. und 20. Jahrhundert, von vorindustriellen<br />

Zeiten ganz zu schweigen - immer nur für eine (männliche) Minderheit der<br />

Erwerbstätigen Realität gewesen (...) Für die meisten der mehr oder weniger<br />

erwerbstätigen Menschen, vor allem für die im breiten und massiven Sockel<br />

der Erwerbspyramide, scheinen dagegen auch im Zeitalter der Industrialisierung<br />

der oft erzwungene Wechsel von Arbeitsplatz, Tätigkeit und Beruf,<br />

das Verknüpfen unterschiedlicher Einkommensquellen zum (selten vom<br />

männlichen Ernährer allein gewährleisteten) Familieneinkommen und<br />

Patchwork-Biographien eher die Regel als die Ausnahme gewesen zu sein.“ 101<br />

Jedoch bemerkt Kocka bezüglich der inhaltlichen Implikationen später auch:<br />

„In der Tat scheint die Bindungskraft, die sozial strukturierende, kulturell<br />

verbindende und vergesellschaftende Kraft der Arbeit im Zuge des Übergangs<br />

von der industriellen zur Dienstleistungsgesellschaft - mit der weitgehenden<br />

Ersetzung der manuellen durch nicht-manuelle Arbeit, mit dem<br />

säkularen Rückgang der Erwerbsarbeitszeit und der wachstumsbedingten<br />

Zunahme von Individualisierungschancen - in den letzten Jahrzehnten stark<br />

abgenommen zu haben.“ 102<br />

Auch Schmiede sieht die identitätsstiftende Funktion der „Normalarbeitsverhältnisse“<br />

erodieren, die in doppelter Weise besteht: Zum einen „war es<br />

Basis persönlicher Identität (Unverwechselbarkeit)“, zum anderen<br />

101 Kocka, J. (2000): Arbeit früher, heute, morgen: Zur Neuartigkeit der Gegenwart, in:<br />

Kocka/Offe (2000), S. 476-492, hier S. 489; Hervorhebungen im Original.<br />

102 Kocka (2000: 490f.).


„(...) stiftete es kollektive Identitäten dadurch, daß die gemeinsame Arbeitserfahrung<br />

und Arbeitswelt milieu- und organisationsbegründende Wirkungen<br />

hatte: Betriebskollektive, Gewerkschaften sowie Arbeiterwohnviertel und<br />

Arbeitermilieus sind auf dieser Grundlage entstanden.“ 103<br />

In diesem Sinne scheint das hohe Niveau der Flexibilisierung des Arbeitnehmers<br />

zwar auf der einen Seite Sicherheit, auf der anderen Seite aber auch<br />

„Identitätsfraktale“ mit sich zu bringen. In Zeiten eines starken technologischen<br />

Wandels bedeutet dies für den Arbeitnehmer zudem lebenslanges<br />

Lernen. Die Weiter- und Fortbildung ist nicht nur für die momentane<br />

Arbeitsstelle von Bedeutung, sondern kann darüber hinaus beim Erwerb von<br />

Zusatzqualifikationen entscheidendes Kriterium bei eventuellen zukünftigen<br />

Bewerbungen darstellen.<br />

Es wird deutlich, dass es bei der Identifikation des Einzelnen mit der Arbeit<br />

zunehmend weniger darum geht und gehen kann, was bzw. auch wie<br />

(Arbeitsplatzwechsel) man arbeitet, als dass man arbeitet. Diese Entfremdung<br />

des Einzelnen stellt Selbstschutz des Einzelnen dar, der von der Marktseite<br />

provoziert wird. 104 Dieser Selbstschutz hat zum Ziel, den eigenen Identitätsaufbau<br />

von dem Inhalt der Arbeit loszulösen. Dies mindert zumindest<br />

das Risiko, in eine Identitätskrise durch den Verlust des Arbeitsplatzes zu<br />

geraten - von der sozialen Frage abgesehen. 105 Eine Überwindung dieser zir-<br />

103 Schmiede, R. (1996b): Informatisierung und gesellschaftliche Arbeit: <strong>St</strong>rukturveränderungen<br />

von Arbeit und Gesellschaft, in ders. (1996a), S. 107-128, hier S. 127f.<br />

104 Einen ähnlichen Effekt erzeugt die Technologisierung der Arbeit. So bspw. Wenzel:<br />

„Die Menschen werden zu Systembedienern, die Subjekte selbst dem technischen<br />

Verfahren unterzogen. Mensch und System gleichen sich immer stärker an. Das Denken<br />

vollzieht die endgültige Mimesis an die selbst hervorgebrachte Form, und der<br />

Verstand droht die Vernunft, die ihm erst seine Macht gab, endgültig zu besiegen. Die<br />

Frage nach dem Sinn des eigenen Daseins wird sinnlos.“ (Wenzel, H. (1996): Die<br />

Technisierung des Subjekts im Zeitalter der Information: Zum Verhältnis von Individuum,<br />

Arbeit und Gesellschaft heute, in: Schmiede, R. (Hrsg.), Virtuelle Arbeitswelten:<br />

Arbeit, Produktion und Subjekt in der „Informationsgesellschaft“, Berlin, S. 179-<br />

200, hier S. 197).<br />

105 Die Erosion der kollektiven Identität wird insbesondere in der Betrachtung der New<br />

Economy evident: es wird individualisiert gearbeitet, was individuelle Freiheit, aber<br />

auch individuelle Machtlosigkeit bedeutet; Freiheit und Machtlosigkeit/Abhängigkeit<br />

sind in diesem Kontext nicht getrennt voneinander denkbar. Die Euphorie über das<br />

Feststellen von paradigmatischem Wandel ist trotz alledem zu dämpfen und einer<br />

differenzierten und differenzierenden Reflexion zuzuführen. Auch die Ausführungen<br />

von Sennett, so plausibel sie erscheinen mögen, sind vor diesem Hintergrund nicht in<br />

Frage zu stellen, so doch differenziert wahrzunehmen. In der hier entwickelten<br />

Argumentation wird aus diesem Grund der inhaltliche Erosionsbefund nicht im Mittelpunkt<br />

stehen. Er bleibt ein Befund unter vielen.<br />

49


kulären Loyalitätsverlustprozesse kann nur in der Unterbreitung eines<br />

glaubwürdigen Loyalitätsangebots von Seiten der Unternehmung an den<br />

einzelnen Mitarbeiter bestehen, um dessen Bindung an und Identifikation<br />

mit der Unternehmung im eigentlichen Sinne wiederzuerlangen. 106<br />

Im Folgenden wird aufgezeigt, dass nicht nur die globalen Bedingungen von<br />

Arbeit den Einzelnen mit ökonomischer Rationalität konfrontieren, sondern<br />

auch die Arbeit im lokalen, in jedem einzelnen individuellen Kontext dem<br />

entgrenzten ökonomischen Handeln zunehmend ausgesetzt ist. Diese Entgrenzung<br />

wird durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien<br />

begünstigt.<br />

2.3 IuK-Technologien als Enabler ökonomischer Entgrenzung<br />

Der technologische Fortschritt verändert die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf paradigmatische Weise. Dieser<br />

Fortschritt ist in seiner Initiierung nicht allein auf die Ökonomie rückführbar.<br />

Münch (1998) benennt neben dem Fortschrittsglauben zwei andere expansive<br />

gesellschaftliche Kräfte: die Gleichheitsidee und das wirtschaftliche<br />

Wachstum. Zusammen mit dem Fortschrittsglauben gehen alle drei in dem<br />

Prinzip des „wachsenden Kuchens“ auf. 107 In dieser Diskussion ist unter<br />

„Fortschritt“ diese „Triade“ zu verstehen. Münch kann auf diese Weise die<br />

kurzschlüssige Behauptung der ökonomischen Allein-Verursachung jeglichen<br />

Fortschrittswahns entkräften.<br />

50<br />

„Die auf Wachstum programmierte Wirtschaft folgt keineswegs allein einer<br />

von der privatkapitalistischen Konkurrenz aufgeherrschten „Kapitalverwertungslogik“,<br />

sondern auch einer damit übereinstimmenden kulturellen<br />

Legitimationsidee (Fortschritt) und einer politischen Inklusionsbewegung (der<br />

Kampf um Teilhaberechte).“ 108<br />

Fortschritt und Gleichheitsidee entstehen aus außerökonomischen Bereichen.<br />

Jedoch, und dies relativiert die Differenzierung von Münch zu einem nicht<br />

unerheblichen Teil, tritt die Ökonomie nicht zuletzt im Kontext der Globalisierung<br />

als alleinig legitimes Medium für Fortschritt und Gleichheit auch<br />

106 Vgl. zu der konkreten Wiederaufnahme dieser Gedanken Abschn. 12.<br />

107 Vgl. hierzu Münch (1998: 169ff.).<br />

108 Münch (1998: 170; Hervorhebung im Original).


außerhalb der Ökonomie auf. In dieser Promotoren-Rolle überlagert und<br />

instrumentalisiert sie die lebensweltlichen Bedürfnisse. Diese drei Teile der<br />

gesellschaftlichen Dynamik beeinflussen sich gegenseitig, werden jedoch<br />

zunehmend durch die ökonomische Wachstumsdynamik vereinnahmt. 109 In<br />

der Folge wirken diese Veränderungen nicht nur auf die Gesellschaftsstruktur<br />

als Ganzes, sondern wirken zudem in die lebensweltlichen Bezüge<br />

eines jeden Einzelnen hinein. Technologischer Fortschritt bedeutet grundsätzlich,<br />

dass sich der Mensch professionalisierter Werkzeuge bedient, die<br />

seine Handlungsmöglichkeiten erweitern und damit zu einer <strong>St</strong>eigerung der<br />

Lebensqualität führen können. Diese erhöhte „Wirkmächtigkeit“ des Individuums<br />

bezieht sich vor allem auf die Verursachung, die Folgen können aufgrund<br />

der komplexen und zum Teil irreversiblen Reaktionsprozesse nicht in<br />

demselben Grad gehandhabt werden. 110 Es entsteht ein Schere zwischen<br />

Verursachung und Handhabung, die nicht nur zeitlich besteht111, sondern<br />

109 Illich bezeichnet diese zunehmende Abhängigkeit vom Markt als Ohnmacht. Die<br />

Argumentation und Interpretation bei Illich decken sich in weiten Teilen mit der hier<br />

entwickelten Argumentation. Vgl. Illich, I. (1978): Fortschrittsmythen. Schöpferische<br />

Arbeitslosigkeit oder Die Grenzen der Vermarktung; Energie und Gerechtigkeit; Wider<br />

die Verschulung, Reinbek bei Hamburg.<br />

110 Erschreckend deutlich wird die Ohnmacht gegenüber der Eigendynamik unserer<br />

eigenen Entwicklungen vor allem bei der Entwicklung der Atombombe, die ursprünglich<br />

als „Nebenprodukt“ in der physikalisch-chemischen Forschung entstand<br />

und nicht das Produkt gezielter Waffenentwicklung darstellt. Aber auch positive<br />

„Nebenprodukte“ fielen nach diesem „Gesetz der unbeabsichtigten Folgen“ an. So<br />

entstand zum Beispiel der Personal Computer (PC) eher beiläufig, als Bastler sich in<br />

den 70er Jahren aus Mikroprozessoren die ersten simplen Computer zusammenschraubten<br />

- aus Ermangelung an kommerziellen Angeboten. Zu dem Zeitpunkt<br />

konnte man sich nicht vorstellen, dass alles, was über einen Taschenrechner hinausgeht,<br />

für den privaten Gebrauch interessant wäre. In ähnlicher Weise sah niemand<br />

voraus, dass das Patent zur Vulkanisierung, von Charles Goodyear eingereicht, auch<br />

außerhalb des Anwendungsbereichs in der Fabrik als Gummi zum Einsatz kommen<br />

sollte. Auch der schottische Taubstummenlehrer Alexander Graham Bell, der für<br />

seine Schüler im Jahre 1876 eine Hörhilfe erfand, die „electrical speech machine“,<br />

ahnte wohl nicht, dass sich 100 Jahre später die Menschen die Welt ohne Telefon gar<br />

nicht mehr vorstellen können. Vgl. hierzu Campbell-Kelly, M./Aspray, W. (1996):<br />

Computer: A History of the Information Machine, New York; Levinson, P. (1997): The<br />

Soft Edge: A Natural History and Future of the Information Revolution, London u. a.;<br />

Johnson, S. (1997): Interface Culture: How New Technology Transforms the Way We<br />

Create and Communicate, San Francisco.<br />

111 Die Rolle der Technikfolgenabschätzung besteht darin, vor allem diese zeitliche Lücke<br />

(„gap“) weitestgehend durch Antizipation zu schließen; ganz wird dies aufgrund der<br />

Unvorhersagbarkeit der unterschiedlichsten Reaktionsprozesse wohl nie möglich<br />

sein. Vgl. hierzu im Überblick bspw. Kornwachs, K. [Hrsg.] (1991): Reichweite und<br />

Potential der Technikfolgenabschätzung, <strong>St</strong>uttgart; zur Rolle im gesellschaftlichen<br />

51


vor allem systematischer Natur ist; insbesondere dann gelingt eine Schließung<br />

systematisch nicht. Bauman sieht hierin die Ursache für die „moralische Unsicherheit“,<br />

die sich in der Postmoderne zeigt:<br />

52<br />

„Unsere Zeit ist eine der tiefempfundenen moralischen Ambiguität: sie offeriert<br />

eine nie zuvor gekannte Entscheidungsfreiheit und befängt uns gleichzeitig in<br />

einem nie quälenderen Zustand der Unsicherheit.“ 112<br />

Diese Unsicherheit ist auch im Umgang mit den neuen Informations- und<br />

Kommunikationstechnologien zu beobachten. Dabei liegen die Gründe vor<br />

allem in den Charakteristika der Kommunikationstechnologien selbst begründet.<br />

Virtualität und Immaterialität, Anonymität und Intransparenz (in<br />

Bezug auf die Handlungen und ihre Folgen) verändern das Verständnis von<br />

Sozialität, sozialen Räumen, Kommunikation und Verantwortung. 113 Dies<br />

stellen Herausforderungen (und Überforderungen) für den Einzelnen, aber<br />

auch für die ganze Netsociety dar. 114<br />

Diskurs bspw. Zweck, A. (1993): Die Entwicklung der Technikfolgenabschätzung<br />

zum gesellschaftlichen Vermittlungsinstrument, Opladen.<br />

112 Bauman, Z. (1995): Postmoderne Ethik, Hamburg, S. 38.<br />

113 Eine ausführlichere Darstellung der Implikationen von IuK-Technologien für Gesellschaft<br />

und Individuum kann an dieser <strong>St</strong>elle (leider) nicht geschehen. Zentrale Fragen<br />

wären hier: Wie verändert sich die Sozialität der Menschen, wenn die face-to-face<br />

Kommunikation zunehmend durch die Beschäftigung mit anderen Kommunikationsmitteln<br />

ersetzt werden sollte? Wie verhält es sich mit der Erfahrung von zunehmender<br />

Virtualität? Was bedeutet Endgültigkeit in Zeiten der Digitalisierung, in denen<br />

Endgültigkeit an Bedeutung verliert und Vorläufigkeit, also die Reversibilität von<br />

Handlungen zum <strong>St</strong>atus Quo wird? Wie verhält sich der Einzelne zu der Erfahrung<br />

von Fraktale (die neuen IuK-Technologien führen zu einer Zersplitterung von Handlungsketten,<br />

führen zu einer neuen Form von Unübersichtlichkeit)? Insbesondere der<br />

Befund der „Fraktale“, der zum Ausdruck bringt, dass die mediale Kommunikation<br />

für den Einzelnen und letztlich auch für die Gemeinschaft unsichtbar und intransparent<br />

ist, birgt materiale ethische Implikationen in sich. In der Literatur werden diese<br />

Fragen zwar angesprochen, bleiben aber in ihren ethischen Implikationen unterbestimmt.<br />

Literatur, die sich direkt oder indirekt mit diesen Fragen beschäftigt, ist u. a.<br />

<strong>St</strong>einmüller, W. (1993): Informationstechnologie und Gesellschaft, Darmstadt; Wenzel<br />

(1997); Paetau, M. (1997): Sozialität in virtuellen Räumen?, in: Becker/Paetau (1997), S.<br />

103-134; Johnson (1997); Sandbothe, M. (1998): Transversale Medienwelten. Philosophische<br />

Überlegungen zum Internet, in: Vattimo, G./Welsch, W. (Hrsg.), Medien –<br />

Welten Wirklichkeiten, München, S. 59-83; Lyon, D. (1998): Cyberspace-Sozialität:<br />

Kontroversen über computervermittelte Beziehungen, in: Vattimo/Welsch (1998), S.<br />

87-105. Zu den ethischen Implikationen siehe bspw. Bauman (1995: 217ff.), der die sozialen<br />

Räume in ihrer neuen kognitiven, ästhetischen und moralischen Bedeutung reflektiert.<br />

114 Vgl. zu den Aspekten der Netsociety Ulrich, P. (2001): Die Netsociety - technokrati-


In diesem Argumentationskontext kann diese Charakteristik der IuK-Technologien<br />

nicht explizit behandelt werden; sie weist keinen direkten Bezug zu<br />

der ökonomischen Rationalität auf. Auch wenn die Technologie und die<br />

Ökonomie in vielfältiger Weise miteinander verflochten sind115, z. B. durch<br />

die Doppelrolle der Wirtschaft als zentraler Anbieter und Nachfrager der<br />

Technologie, so erscheinen die Bezüge aus der hier entwickelten Perspektive<br />

zu ungenau bzw. zu komplex. Ein direkter Bezug besteht jedoch dort, wo die<br />

IuK-Technologien quasi als „Medium“ ökonomischer Rationalität fungieren.<br />

Diese Rolle der IuK-Technologien wird vor allem zwischen Lebens- und<br />

Arbeitswelt deutlich. Hier stellt sich die Frage nach dem Einfluss der Ökonomie<br />

auf die lebensweltlichen Bezüge durch die neuartigen Möglichkeiten<br />

auf völlig neuartige Weise. Dies sei im Folgenden durch die Darstellung der<br />

Analyse von Voß verdeutlicht. 116<br />

2.4 Exkurs: Die Entgrenzung von Lebens- und Arbeitswelt<br />

Die Untersuchung von Günther Voß stellt die konkrete Arbeitssituation vornehmlich<br />

in den Kontext der technologischen Veränderungen. Ähnlich wie<br />

die bereits skizzierte Analyse von Richard Sennett stellt Voß eine Erosion der<br />

Grenzen fest, die insbesondere durch die neuen IuK-Technologien hervorgerufen<br />

wird. Raum und Zeit scheinen relativiert zu sein, Lebensbereiche<br />

werden in ihren Konturen verwischt. Im Vergleich zu Sennetts Analysen<br />

geht es hier vorerst jedoch um die materiellen Grenzen, um die materiellen<br />

Bedingungen der Arbeit. Zum Teil ergeben sich die immateriellen Grenz-<br />

sche Utopie oder Chance für eine demokratische Gesellschaft mündiger Bürger? Beiträge<br />

und Berichte des Instituts für Wirtschaftsethik, Nr. 93, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>. Vgl. auch die<br />

Beiträge bei Jones, S.G. [Hrsg.] (1995): CyberSociety: Computer-Mediated Communication<br />

and Community, Thousand Oaks CA/London.<br />

115 Bauman attestiert der Technologie, wie hier der Ökonomie, systemische Geschlossenheit:<br />

„Die einzige Totalität, die Technologie systematisch konstruiert, reproduziert<br />

und unverwundbar macht, ist die Totalität der Technologie selbst – Technologie als<br />

ein geschlossenes System, das keine Fremdkörper in seinem Inneren duldet und alles<br />

eifrig verschlingt und assimiliert, das sich auf sein Territorium verirrt. Technologie ist<br />

das einzig wahre Un-teilbare (Individuum). Ihre Herrschaft kann nur ungeteilt und<br />

ausnahmslos sein. Menschen sind da ganz gewiß nicht ausgenommen.“ (Bauman<br />

1995: 292). Es zeigt sich hier eine rationale, formal-methodische Ähnlichkeit zwischen<br />

der Technologie und der Ökonomie.<br />

116 Vgl. Voß, G.G. (1998): Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft – Eine subjektorientierte<br />

Interpretation des Wandels der Arbeit, Sonderdruck aus: Mitteilungen aus<br />

der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 31. Jg., S. 473-487.<br />

53


auflösungen aus den hier zu beschreibenden materiellen Überschreitungen,<br />

zum Teil hatte diese Sennett jedoch auch als Konsequenzen des ökonomischen<br />

Vollzuges interpretiert.<br />

Voß fasst diese durch die Technologien induzierten Relativierungen von<br />

Raum und Zeit als Phänomene der „Entgrenzung“ zusammen und interpretiert<br />

sie als charakteristisches Merkmal aktueller Arbeitsbedingungen. In<br />

seiner Analyse differenziert er die Charakteristika auf verschiedenen Ebenen<br />

und unterscheidet zwischen den Entwicklungen in der Erwerbsarbeit und<br />

der Beziehung zwischen „Arbeit und Leben“. Dabei wird deutlich, dass die<br />

Nutzung des technologischen Fortschritts durch die Ökonomie die Bedingungen<br />

der Arbeit unternehmensintern grundlegend verändert und dies vor<br />

allem über den Unternehmenskontext hinaus die lebensweltlichen Bedingungen<br />

eines jeden Arbeitnehmers berührt. 117<br />

Voß nähert sich dem Befund der Entgrenzung auf verschiedenen Ebenen an,<br />

welche in der folgenden Abbildung zusammenfassend dargestellt werden: 118<br />

117 Es muss bemerkt werden, dass nicht nur die lebensweltlichen Bedingungen der<br />

Arbeitnehmer betroffen sind, sondern auch die lebensweltlichen Bedingungen der<br />

Nicht-Erwerbstätigen. Man denke nur an die nicht oder nur halbtags erwerbstätigen<br />

Ehepartner im Kontext von Familie oder auch an das klingelnde Handy am Abend im<br />

Restaurant, welches letzte geschäftliche Absprachen für die am nächsten Morgen<br />

stattfindende Präsentation ermöglicht. Die hier im Text vorgenommene Verkürzung<br />

auf die Arbeitnehmer beschränkt sich auf den direkten Betroffenheitsgrad, was aber<br />

die indirekte Betroffenheit als „<strong>St</strong>akeholder“ mitdenkt.<br />

118 Im Hinblick auf die Identität und die Identifikationsfähigkeit einer Tätigkeit soll insbesondere<br />

die Kategorie Sinn/Motivation interessieren, da bei dieser ein stärkerer Bezug<br />

vermutet wird als bei den anderen Kategorien. Sekundär werden die Kategorien<br />

Sozialorganisation und Arbeitsinhalt/Qualifikation behandelt.<br />

54


Sozialdimension Entgrenzungen in der Erwerbsarbeit Entgrenzungen von „Arbeit und Leben“<br />

Zeit<br />

Raum<br />

Hilfsmittel/<br />

Technik<br />

Arbeitsinhalt/<br />

Qualifikation<br />

Sozialorganisation<br />

Sinn/ Motivation<br />

Weitreichende Flexibilisierung und<br />

Individualisierung von Arbeitszeiten<br />

in Dauer, Lage und Regulierungsform<br />

Abbau der Bindung von Arbeit an Orte<br />

- innerbetrieblich und betriebsübergreifend<br />

Entstandardisierung von Arbeitsmitteln und<br />

wachsende Selbstorganisation und<br />

Individualisierung der Auswahl und der<br />

konkreten Nutzung von Hilfsmitteln<br />

Selbstorganisation der Arbeitsausführung,<br />

Rücknahme von Detailkontrolle und<br />

Zunahme von Rahmensteuerung;<br />

Dynamisierung von Qualififkationsanforderungen<br />

und Qualifizierung;<br />

„employability“ und fachliche Flexibilität<br />

statt Lebens-Beruf; neue überfachliche<br />

Anforderungen<br />

Selbstorganisation der Kooperationsformen<br />

und Sozialnormen in der Arbeit<br />

- horizontal und vertikal<br />

Verstärkte Anforderungen an<br />

Selbstmotivierung, individuelle<br />

Sinnsetzung, Selbstbegeisterung und<br />

Disziplinierung - individuell und<br />

kooperativ<br />

Durchmischung bzw. individualisierte<br />

Koordination von Arbeits- und Privatzeiten<br />

- als Folge flex. Arbeitszeiten und<br />

individualisierter Zeitwünsche und -strategien<br />

Abbau fester Grenzen zwischen Arbeits-<br />

und privaten Lebensorten - als Folge neuer<br />

Arbeitsformen und eines individualisierten<br />

Verhaltens<br />

Durchmischung des privaten und<br />

betrieblichen Besitzes von Arbeitsmitteln<br />

und ihrer Nutzung<br />

Zunehmende Bedeutung unklarer<br />

Tätigkeiten und Kompetenzen<br />

zwischen Privatheit und Arbeit<br />

Wachsende Rolle diffuser Sozialformen<br />

und -normen zwischen<br />

Arbeit und Privatleben<br />

Durchmischung von Arbeits- und<br />

Lebensmotivationen. Arbeit als aufgewertete<br />

Lebenssphäre, Privatheit als verstärkt<br />

beruflich zu nutzender Bereich und „Arbeit“<br />

Abb. 1: Beispiele für Entgrenzungserscheinungen in der Erwerbsarbeit und im Verhältnis von „Arbeit und Leben“<br />

in verschiedenen Sozialdimensionen, leicht verkürzt nach Voß (1998: 480).<br />

In dieser tabellarischen Darstellung wird die Rolle der IuK-Technologien als<br />

Enabler von Entgrenzung deutlich. In den Dimensionen „Zeit“ und „Raum“<br />

ist der Grad der Veränderungen durch die neuartigen IuK-Technologien besonders<br />

hoch. Das mobile Telefon ermöglicht die Erreichbarkeit unabhängig von<br />

Zeit und Raum, heißt es. Diese Ermöglichung kann eine wesentliche Erleichterung<br />

darstellen, wenn sie zur Verbesserung der Lebensqualität genutzt<br />

wird. Jedoch kann sie auch einseitig für Zwecke ausgenutzt werden, die nur<br />

eine von vielen Möglichkeiten darstellen, so bspw. für die Ausweitung der<br />

55


Arbeitswelt in die Lebenswelt hinein. Nicht nur der Vorgesetzte, der den<br />

Arbeitsdruck in die Urlaubszeit hineinträgt und während des Urlaubs anruft<br />

bzw. aus dem Urlaub den Mitarbeiter abruft, die Zeiten vor oder nach der<br />

Arbeit mit Anrufen penetriert, verdeutlicht in seinem Verhalten und den<br />

daraus entstehenden Folgen für seine Mitarbeiter die „Kehrseite“ der multiplen<br />

Ermöglichung; auch in der Privatsphäre eines jeden Einzelnen werden<br />

diese Grenzüberschreitungen deutlich, wenn Freunde und Bekannte jede<br />

halbe <strong>St</strong>unde „sinnvoll“ nutzen wollen und sich mit privaten Terminen<br />

zudecken. Dies kann gerade dazu führen, dass sie ihre Zeit verlieren, weil sie<br />

fragmentiert, wie sie ist, nicht mehr als solche wahrgenommen werden kann.<br />

Es fühlt sich der erreichbare Einzelne getrieben und wird das Gefühl nicht<br />

los, dass ihm die Zeit davonrennt. 119<br />

Es steht außer Frage, dass der Mensch auf Sozialität angewiesen ist, diese<br />

sich hauptsächlich in der Kommunikation verwirklicht und diese wiederum<br />

in der heutigen Arbeitsgesellschaft zum großen Teil Telekommunikation<br />

bedeutet. Aus der Perspektive des Bedürfnisses nach Sozialität aber wirkt die<br />

wirtschaftliche Nutzung dieser Technologie als latente Zweckentfremdung<br />

und Vereinnahmung des Einzelnen. Diese zusätzliche Nutzung, sei es<br />

kommerziell oder informationell, ist nicht per se zu kritisieren. Ab dem Zeitpunkt<br />

jedoch, wo erkannt wird, dass sich die versachlichten Zusammenhänge<br />

auf Kosten sozialer Zusammenhänge ausbreiten und diese nicht komplementieren,<br />

also sich in den Dienst des Menschen stellen, ist bei fehlender<br />

Sensibilisierung und ausbleibender Kompensation mit nicht befriedigten<br />

sozialen Bedürfnissen zu rechnen. Dabei ist dieser Befund nicht nur auf die<br />

direkte Konkurrenzsituation in den Ressourcen Zeit und Raum zu beschränken,<br />

sondern besteht vor allem auch dort, wo diese Konkurrenzsituation<br />

nicht bewusst empfunden bzw. zum Gutteil auch akzeptiert wird, wie es -<br />

wie bereits angedeutet - im Arbeitskontext der Fall ist. 120<br />

Voß trägt diesen Formen der Überlagerung von „Arbeit und Leben“ in der<br />

zweiten Spalte seiner Tabelle Rechnung und beschreibt skizzierend die Kon-<br />

119 Es mag zutreffen, dass es letztlich doch immer im Ermessen des Handybesitzers liegt,<br />

gegebenenfalls die Situation vor Anrufen und Unterbrechungen zu schützen, indem<br />

er selbiges ausschaltet. Der soziale Druck jedoch, der auf denjenigen ausgeübt wird,<br />

der diese potentielle Erreichbarkeit unterbindet - sei es durch Anrufannahmeverweigerung<br />

oder Nicht-Besitz -, wird gestützt vom Fortschrittsglauben der Gesellschaft.<br />

Überhaupt kein Telefon zu besitzen, scheint in heutiger Zeit undenkbar. Bei Mobiltelefonen<br />

ist es bereits ähnlich. Fortschritt verpflichtet - auch zur Erreichbarkeit.<br />

120 Vgl. hierzu Abschn. 2.2.<br />

56


sequenzen. Zunehmend scheinen Arbeit und Leben nicht mehr eindeutig<br />

voneinander trennbar zu sein. Die Arbeit geschieht auch von daheim<br />

(Raum), sie geschieht auch am Wochenende (Zeit), sie geschieht mit Mitteln,<br />

die privat und geschäftlich genutzt werden (Hilfsmittel/Technik), sie geschieht<br />

auch unter Zuhilfenahme von privaten Kontakten, von privater<br />

Unterstützung (Arbeitsinhalt/Qualifikation/Sozialorganisation) und schließlich<br />

geschieht Arbeit in der <strong>St</strong>ringenz der Erreichung von allgemeinen<br />

Lebenszielen (Sinn/Motivation). Auf die Frage: „Wie geht’s?“ wird allgemein<br />

„...in der Arbeit läuft’s ok...“ oder „...ziemlich busy...“ geantwortet. Insbesondere<br />

letztere Kurzform des englischen Begriffs business unterstützt und<br />

wahrt den Schein des Gebraucht-Seins, des Sich-Nützlich-Machens, des<br />

sinnvollen Handelns, des Partizipierens an der (Solidar-)Gemeinschaft und<br />

der Gesellschaft durch Arbeit.<br />

Aus der Perspektive vorindustrieller Arbeitsformen mag diese Diskussion<br />

skurril anmuten, denn diese Befunde gehörten damals zum Alltag. Da wurde<br />

schon mal nach der Abendmahlzeit die Werkstatt im Erdgeschoss des<br />

Wohnhauses aufgesperrt, um die Schuhe des Herrn Nachbarn zu reparieren.<br />

Trennung von Arbeit und Leben war in dieser Zeit weder ein Bedürfnis noch<br />

ein Befund. 121 Jedoch ist die Ökonomie in ihrer Charakteristik von damals<br />

und heute nicht vergleichbar. So differieren nicht nur die äußeren Bedingungen,<br />

sondern es differieren vor allem das inhaltliche „Leistungsprofil“ der<br />

Arbeit für den Einzelnen und die Distinktion und Proliferation ökonomischer<br />

Rationalität in derselben: Zwischen ihnen liegt die Entkoppelung des<br />

Systems Ökonomie und die damit verbundene Ausdifferenzierung und Professionalisierung<br />

der ökonomischen Rationalität. Aus diesem Grund steht<br />

diese „Wiedervereinigung“ von Arbeits- und Lebenswelt heute unter anderen<br />

Vorzeichen. Auch ist die soziale Interaktion in Qualität (Loyalität, Authentizität,<br />

Solidarität) und Intensität (Feedback, Führung) heutiger Arbeitsbedingungen<br />

schwerlich mit den damaligen Verhältnissen zu vergleichen. Es<br />

121 Vgl. hierzu auch Ulrich (1993). Ulrich zeigt, dass Teile postindustrieller bzw. postmoderner<br />

Bewegungen sich inhaltlich eher im „Rückschritt auf vorindustrielle und<br />

teilweise sogar vormoderne <strong>St</strong>ufen der gesellschaftlichen Entwicklung“ (Ulrich 1993:<br />

449; Hervorhebungen weggelassen) befinden. Diesbezüglich zitiert Ulrich (1993: 448f.)<br />

u. a. Robertson, der davon spricht, dass sich die Ökonomie „auf eine Rückkehr nach<br />

Hause“ vorbereitet, was einer Entkolonialisierung der Lebenswelt gleichkommt. Vgl.<br />

Robertson, J. (1979): Die lebenswerte Alternative: Wegweiser für eine andere Zukunft,<br />

Frankfurt, S. 8 und S. 99f.<br />

57


wird zwar durch die Verkleinerung von Arbeitsgruppen, Institutionalisierung<br />

von Kommunikation (Regelkommunikation), Ethikkommissionen<br />

und Human-Resource-Manager versucht, diese Qualitätsdefizite zu kompensieren.<br />

Doch dies ist im Rahmen ökonomischer Rationalität, die nach Effizienz<br />

strebt, jeglichen Aufwand mit direkten Erlösen verbunden sehen will<br />

und sich langfristige Gestaltung nicht leisten kann, nur schwer durchsetzbar.<br />

Es bleibt somit festzuhalten, dass neben Chancen und Freiheiten des Arbeitnehmers<br />

zur flexiblen Arbeitsgestaltung auch Risiken in Form von Druck<br />

und Zwang durch „ökonomische Übergriffe“ treten. Durch diese erhöhten<br />

„Kontrollmöglichkeiten“ wird der Schutz der Privatsphäre des Einzelnen im<br />

Kreise von Familie und Freunden erschwert.<br />

58<br />

„Es ist nur so, daß jeder sich von Zeit zu Zeit der Kontrolle entzieht, um in<br />

Freiheit und im Geheimnis zu leben, allein oder mit anderen Menschen, eine<br />

<strong>St</strong>unde am Tag, einen Abend in der Woche oder einen Tag im Monat. Und<br />

diese heimliche und freie Existenz setzt sich von einem Abend oder Tag zum<br />

anderen fort, und die <strong>St</strong>unden folgen aufeinander, eine auf die andere.“ 122<br />

Berberova schreibt davon, dass diese andere Seite des Lebens, diese Reflexion,<br />

diese Kontemplation, das zwanglose Dahintreiben als Entschleunigung<br />

helfen kann, „eine allgemeine Linie einzuhalten“ 123 . Diese aristotelischen Erkenntnisse<br />

erfahren neue Sinn-Räume, wenn sie vor dem aktuellen lebensweltlichen<br />

Hintergrund reflektiert werden. Es bleibt dieses Gegenstück zum<br />

Getriebensein nicht nur treffend, sondern auch aktuell - aktueller denn je. 124<br />

Ob sich der Einzelne dieses Gegenstück bewahrt und beschützt, ist letztlich<br />

jedem selbst überlassen. Doch dort, wo der Einzelne gar keine Möglichkeit<br />

hat, dieses zu bewahren - sei es aufgrund persönlicher Kompetenz oder aufgrund<br />

äußerer Bedingung -, kommt es zur individuellen Überforderung und<br />

damit zu einem Konflikt. Sofern dieser auf die äußeren Bedingungen<br />

122 Berberova, N.N. (1993): Das rauschende Schilfrohr, in: dies. (1993): Der Traum von<br />

Liebe, die bleibt. Drei Novellen, Hildesheim, S. 78, zitiert nach Lyotard, J.-F. (1989):<br />

<strong>St</strong>reifzüge, Wien, S. 107.<br />

123 Berberova (1993: 79; Hervorhebungen im Original).<br />

124 An späterer <strong>St</strong>elle wird dies im Kontext einer ethischen Implikation explizit behandelt<br />

werden und mit ähnlichen Befunden und Implikationen zusammengebracht werden.<br />

Vgl. hierzu Abschn. 11.3.


zurückzuführen ist, sind die Möglichkeiten und moralischen Ansprüche zu<br />

klären. 125<br />

„Dieser Bereich ist geheim, weil er abgetrennt ist. Das Recht auf die zweite<br />

Existenz ist das Recht, abgetrennt zu bleiben, nicht exponiert zu werden, nicht<br />

auf andere antworten zu müssen. Früher hat man gesagt: sein Für-sich-sein zu<br />

bewahren. (Aber dieses sich, man weiß nicht so recht was das ist. Sein Füretwas-sein.)<br />

Dieses Recht muß jedem zuerkannt und von jedem respektiert<br />

werden.“ 126<br />

Es wird auch bei Lyotard deutlich, dass für ihn dieses Getrennt-sein ein<br />

Recht darstellt, welches auch von anderen zu respektieren ist, jedoch auch,<br />

dass es verwirkt, wenn sich der Einzelne darum nicht bemüht.<br />

Die Entgrenzung im Sinne des Menschen und damit im Sinne einer Lebensdienlichkeit<br />

zu gestalten, fordert Verantwortungsübernahme auf beiden Seiten<br />

der Grenze. 127 Ab dem Zeitpunkt, wo sich die versachlichten Zusammen-<br />

125 Die Diskussion um das persönliche Vermögen, um die Kompetenz, wird an dieser<br />

<strong>St</strong>elle nicht explizit geführt, denn sie liegt der gesamten Argumentation zugrunde.<br />

Aufgrund der fortgeschrittenen Kolonialisierung der Lebenswelt ist die „Kultur“ für<br />

die Einsicht in die Notwendigkeit zu Entschleunigung verlorengegangen. Diese Einsicht<br />

wiederzuerlangen, kann nicht allein durch die Veränderungen der Bedingungen<br />

erreicht werden, sondern auch der Einzelne ist aufgefordert, sich zu sensibilisieren.<br />

Lyotard drückt dies so aus: „Wenn der Mensch nicht den unmenschlichen Bereich<br />

schützt, in dem er sich mit diesem oder jenem trifft, das sich der Ausübung der<br />

Rechte völlig entzieht, verdient er die Rechte nicht, die man ihm zuerkennt. (...) Man<br />

muß der „zweiten Existenz“ ihr absolutes Recht zubilligen, da sie den Rechten das<br />

Recht gibt. Und so wie sie sich den Rechten entzieht, muß sie sich immer mit einer<br />

Amnestie zufriedengeben.“ (Lyotard 1998: 112).<br />

126 Lyotard (1998: 108; Hervorhebungen im Original).<br />

127 Der Begriff der „Lebensdienlichkeit“ wird von Peter Ulrich in umfassender Weise<br />

aufgenommen. Der Begriff geht auf Rich zurück, welcher ihn von Brunner übernommen<br />

hat. Die „Idee“ der Lebensdienlichkeit stellt die Sinn- und die Legitimationsfrage.<br />

Der Sinn des Wirtschaftens differenziert sich in Fragen wie „Was für Werte sind<br />

zu schaffen?“, „Wie wollen wir in Zukunft leben?“ und „Ist unser Wirtschaften uns<br />

selbst zuträglich?“; die Legitimationsfrage spaltet sich auf in Fragen wie „Für wen<br />

sind Werte zu schaffen?“, „Wie sollen wir gerecht zusammenleben“ und „Ist die<br />

soziale Organisation unserer Wirtschaft allen zumutbar?“ (Ulrich, P./Maak, Th.<br />

(2000b): Lebensdienliches Wirtschaften in einer Gesellschaft freier Bürger – Eine Perspektive<br />

für das 21. Jahrhundert, in: dies. (2000a), S. 11-34, hier S. 12; Hervorhebungen<br />

weggelassen). Siehe auch ausführlicher Ulrich (1998: 203ff.). Diese „Idee“ der Lebensdienlichkeit<br />

wird in der gesamten Argumentation als orientierender Bezugsrahmen<br />

implizit thematisiert und diskutiert werden. Vgl. Rich, A. (1990): Wirtschaftsethik, Bd.<br />

II: Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht, Gütersloh;<br />

Brunner, E. (1978): Das Gebot und die Ordnungen. Entwurf einer protestantischtheologischen<br />

Ethik (1932), 4. Aufl., Zürich.<br />

59


hänge auf Kosten sozialer Zusammenhänge ausbreiten und diese nicht komplementieren<br />

sondern überlagern, werden bei fehlender Sensibilisierung und<br />

ausbleibender Kompensation dieser Überlagerung nicht befriedigte lebensweltliche<br />

Bedürfnisse die systematische Folge sein.<br />

3 Grenzen ökonomischer Rationalität – lebensweltliche<br />

60<br />

Implikationen<br />

Es lässt sich somit das Denken wie auch das Handeln der Ökonomie gleichfalls<br />

mit dem Term der Entgrenzung erfassen und gegenüberstellen. Dieser<br />

Term beschreibt das grenzenlose wirtschaftliche Handeln ebenso wie das<br />

begrenzte, weil disziplinäre Denken. Das Auseinanderdriften von Ausmaß im<br />

Denken und Handeln kann als defizitäre Adäquanz der Entgrenzungsgrade<br />

bezeichnet werden. 128<br />

„Das Paradigma der Ökonomie, so vielfältig und in sich verflochten es in sich wiederum<br />

bis in die kleinsten Verästelungen hinein ist, besitzt insgesamt die Haltung,<br />

ihre Gegenstände unter Kosten- und Nutzenaspekten zu beobachten: <strong>St</strong>ets hat sie<br />

Effizienz und Effektivität im Auge. Zugleich weitet sie permanent ihre Gegenstandsbereiche<br />

aus, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch. War früher Erziehung<br />

eine Frage der Pädagogik, so ist sie heute auch eine der Ökonomie; war häusliche<br />

Pflege früher eine Frage von Familie und Freiwilligen, so ist es heute zum großen Teil<br />

eine von professionellen Diensten. Die Rationalität der Ökonomie weitet sich konsequent<br />

in andere Bereiche aus, weniger auf sich wertfrei verflechtende Weise, sondern<br />

auf besetzende Weise. Und will dies auch, aus ihrer Sicht nur folgerichtig.“ 129<br />

Dabei bedeutet die Erosion der Grenzen zwischen Lebens- und Arbeitswelt<br />

unter den aktuellen Bedingungen für den Einzelnen eine Herausforderung,<br />

128 In Anlehnung an das law of requisite variety bei Ashby (1957) kann von der Forderung<br />

nach einer „Isomorphie des Entgrenzungsgrades“ gesprochen. So zumindest haben<br />

Mirow et al. den Terminus der „Komplexitätsisomorphie“ entwickelt, welcher vorher<br />

auch schon in ähnlicher Weise bei Kirsch, W. (1994): Die Handhabung von Entscheidungsproblemen:<br />

Einführung in die Theorie der Entscheidungsprozesse, 4., völlig<br />

überarbeitete und erweiterte Aufl., München, vorbereitet wurde. Vgl. hierzu Ashby,<br />

W.R. (1970): An Introduction to Cybernetics, 5. Aufl., London; Mirow, M./Aschenbach,<br />

M./Liebig, O. (1995): Produktion und/oder Reduktion von Komplexität: Ein<br />

systemtheoretischer Beitrag zur Frage der Konzernentwicklung, unveröffentl. Aufsatz,<br />

München.<br />

129 Leoprechting, G.v. (2000): Vernunft zu Ende - am Anfang, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 119-<br />

121, hier S. 120.


der zu begegnen einen Einblick in die Zusammenhänge und eine Fähigkeit<br />

zur Handhabung verlangt. Die Befunde in diesem Kapitel lassen sich auf den<br />

Verflechtungsbefund und den systemischen Befund verdichten.<br />

� In den hier diskutierten Bereichen aktueller Lebenswirklichkeit, Globalisierung<br />

und IuK-Technologien, hat sich gezeigt, dass die Möglichkeiten<br />

wirtschaftlicher Tätigkeit zugenommen haben. Nicht nur im globalen Kontext<br />

liberalisiert sich die Wirtschaft selbst, auch im individuell-lebensweltlichen<br />

Kontext zeigt sich eine zunehmende Verflechtung von Lebenswelt und<br />

Arbeitswelt.<br />

� Die globale Ebene machte zudem deutlich, dass die plural-globale Wirklichkeit<br />

einem geschlossenen ökonomischen System gegenübersteht. Ansprüche<br />

aus der (systemischen) Umwelt werden innerhalb des ökonomischen<br />

Systems systemintern verarbeitet, d. h. übersetzt und ausschließlich in<br />

ihrer systeminternen Relevanz bewertet.<br />

Dieses Aufeinandertreffen von Lebenswelt und (ökonomischem) System<br />

wird im Folgenden durch die Darstellung der formalen (und systemischen)<br />

Hauptbestimmungen der ökonomischen Rationalität, der Quantifizierung<br />

und dem Rechnerischen Kalkül, in ihren lebensweltlichen Implikationen<br />

verdeutlicht. Die konkreten Analysen von Sennett und Voß haben bereits<br />

angedeutet, in welcher Weise diese Diskrepanz zu einer Überforderung des<br />

Einzelnen führen kann. Der allgemeine lebensweltliche Befund lautet hierbei<br />

die Ökonomisierung der Lebenswelt. Aus diesem Befund leiten sich zum<br />

Abschluss zwei methodische Bestimmungen für die weitere Argumentation<br />

ab.<br />

3.1 Quantifizierung – Positivismus<br />

Die Darstellung der formalen Bestimmungen hat aufzeigen können, in welcher<br />

Weise sich ein Primat der Quantifizierung im Bereich der Ökonomie<br />

durchgesetzt hat. Als zentrale organisatorisch-koordinative Bestimmung des<br />

Marktes hat das „Pekuniäre“ als omni-kompatibles Tauschmittel den traditionellen<br />

Tauschhandel endgültig abgelöst. 130 Das Geld ist aufgrund seines<br />

hohen Abstraktionsgrades fähig, als „Meta-Tauschmittel“ zu fungieren. Es<br />

130 Vgl. zu der Rolle des „Pekuniären“ ausführlicher Thielemann (1996: 280ff.).<br />

61


stellt selbst keinen Wert dar, nur im Bezug auf das System; so sind es nur<br />

Zahlen, die zuerst einmal unabhängig ihrer inhaltlichen Bestimmung existieren<br />

können - und existieren. Dieser immanente Verbund von ökonomischem<br />

Meta-Mittel und Zahl ist in dem hier entwickelten Fokus Schlüssel für<br />

den positivistischen Charakter der Ökonomie. 131<br />

In der lebensweltlichen Reflexion bedeutet dieser positivistische Charakter<br />

der Ökonomie eine tendenzielle Unhintergehbarkeit der ökonomischen Tatsachen.<br />

Die durch Zahlen erbrachten Beweise brauchen „durch keine Autorität<br />

mehr verbürgt zu werden“ 132. Dies sichert dem ökonomischen System<br />

eine Form von Autonomie und Unabhängigkeit in seiner Umwelt, die auf<br />

zweifache Weise erzeugt und reproduziert wird: Von außen durch die Umwelt,<br />

die durch die numerische Abstraktion einer „Sinn-Versperrung“ erlegen<br />

ist, und von innen durch das System, welches in seiner operationalen<br />

Geschlossenheit „sinn-resistent“ ist, da es externe Ansprüche systemintern<br />

umdeutet. Es geschieht somit innerhalb und außerhalb des Systems ein<br />

Reflexionsstopp. 133 Die Logik und Methodik der Ökonomie präsentieren sich<br />

als prinzipiell inhaltsleere Handhabungsstrukturen.<br />

3.2 Rechnerisches Kalkül – Verdinglichung sinnlicher Erfahrung<br />

Das rechnerische Kalkül stellt die zentrale ökonomische Methode dar. Sie ist<br />

Ursache ihrer Darstellungsform (Numerisch) und ihrer koordinativen Form<br />

(Markt) und deren Folge zugleich, denn sie schafft sich ihre eigenen Vehikel,<br />

die sie reproduzieren - effektiv und effizient. Neben der zuvor geschilderten<br />

Quantifizierung und ihrer positivistischen Konsequenz kann eine andere,<br />

ebenso relevante lebensweltliche Implikation festgestellt werden: Es ist die<br />

131 Der Positivismus in der Ökonomie kann hier nur angerissen werden. Ein wesentlicher<br />

und auch in der Argumentation auftauchender positivistischer Befund findet sich in<br />

der gesamten Neoklassik. Hier werden Markt und Natur in ihrem „Wesen“ gleichgestellt.<br />

Diese Analogisierungen bringen die Ökonomik in die Nähe naturwissenschaftlicher<br />

Disziplinen und deren Wahrheitsansprüchen. Vgl. hierzu im Allgemeinen<br />

Ulrich (1998: 184ff.), Ulrich (1993: 173ff.), Maak, Th. (1999): Die Wirtschaft der Bürgergesellschaft:<br />

Ethisch politische Grundlagen einer Wirtschaftspraxis selbstbestimmter<br />

Bürger, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 21ff.; Brodbeck, K.-H. (1998): Die fragwürdigen<br />

Grundlagen der Ökonomie - Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften,<br />

Darmstadt, S. 188ff. Zu der Positivismusdebatte vergleiche auch die<br />

Darstellung und Erörterung bei Adorno, Th.W. [Hrsg.] (1968): Der Positivismusstreit<br />

in der deutschen Soziologie, Darmstadt u. a.<br />

132 Gorz (1998: 161).<br />

133 Vgl. hierzu Ulrich (1998: 100).<br />

62


durch die Verdinglichung erzeugte Verkürzung von sinnlicher Erfahrung. 134<br />

Gorz beschreibt das Rechnerische Kalkül als „Prototyp der verdinglichenden<br />

Rationalisierung“ 135 und führt dessen Ursachen zurück auf den der Quantifizierung<br />

anhängenden Selbstzweck:<br />

„Seine Rechengröße ist die Arbeitsmenge pro Produkteinheit an sich, unter<br />

Abstraktion vom (Er)Leben der Arbeit: vom Vergnügen oder Mißbehagen,<br />

das mir diese Arbeit verschafft; von der Art der Anstrengung, die sie von mir<br />

verlangt; von meiner affektiven und ästhetischen Beziehung zum produzierten<br />

Gegenstand.“ 136<br />

In der Abstraktion entfremdet sich das Individuum von den Inhalten der<br />

Arbeit. Dieser Arbeitsinhalt setzt sich aus dem Inhalt des Produkts, dem<br />

Inhalt der Tätigkeit und dem Inhalt des gesamten Erlebnisses zusammen.<br />

Dabei sind diese unterschiedlichen Inhalte weder unabhängig voneinander<br />

noch überschneidungsfrei und damit trennscharf fassbar. Diese Inhaltsdimensionen<br />

werden nur dann ökonomisch relevant, wenn ihnen ein direkter<br />

ökonomischer Bezug zum ökonomischen System nachgewiesen werden<br />

kann. Den Nachweis erbringt die Ökonomie selbst. Wird bspw. festgestellt,<br />

dass Gruppenerlebnisse zu einer höheren Produktivität führen, so besitzen<br />

diese Gruppenerlebnisse direkte ökonomische Relevanz, werden übersetzt,<br />

also mit Zahlen besetzt, und damit handhabbar für das Rechnerische Kalkül.<br />

Im ökonomischen System werden auf diese Weise Sachverhalte, Bezüge und<br />

auch Menschen inhaltlich rekonstruiert, was dazu führt, dass diese „Gegenstände“<br />

auf ihre ökonomische Relevanz verkürzt werden und, solange diese<br />

Relevanz die maßgebliche Bewertungsreferenz ist, verkürzt bleiben. 137 Horkheimer<br />

stellt diese Dominanz bereits im Jahre 1947 fest:<br />

134 Vgl. hierzu Horkheimer, M. (1967): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den<br />

Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende. Herausgegeben von Alfred Schmidt,<br />

Frankfurt, S. 47ff.<br />

135 Gorz (1998: 157).<br />

136 Ebenda.<br />

137 Dass die ökonomische Rekonstruktion den relevanten Bewertungsmaßstab in unserer<br />

heutigen Gesellschaft darstellt, lässt keine Aussage über die Begründetheit und<br />

Nachhaltigkeit dieser Rekonstruktion zu. Dies käme einem naturalistischem Fehlschluss<br />

gleich. Der Begriff der „schöpferischen Zerstörung“, der den innovativen Geist<br />

der Ökonomie zu charakterisieren versuchte, erscheint vor dem Hintergrund dieser<br />

inhaltlichen Aushöhlung in neuem Licht. Vgl. hierzu Schumpeter, J.A. (1950): Kapitalismus,<br />

Sozialismus und Demokratie, 2. erw. Aufl., München, S. 134ff.<br />

63


64<br />

„Die einmal durch die objektive Vernunft, durch die autoritäre Religion oder<br />

die Metaphysik ausgeübten Funktionen sind durch die verdinglichenden Mechanismen<br />

des anonymen ökonomischen Apparats übernommen worden.“ 138<br />

Der Markt entscheidet über die Inhalte, ohne selbst Inhalte liefern zu können.<br />

Dies kommt einer Aushöhlung gleich. Diese aushöhlende Verdinglichung<br />

„(...) überführt Kunstwerke in kulturelle Waren und ihren Konsum in eine<br />

Reihe von zufälligen Gefühlen, die von unseren wirklichen Intentionen und<br />

Bestrebungen getrennt sind. Kunst ist ebenso von der Wahrheit abgelöst wie<br />

Politik oder Religion.“ 139<br />

Verdinglichung und Positivismus sind durch ihre verzerrende Übersetzung<br />

ursprünglicher Inhalte sehr ähnlich, wirken aber auf unterschiedlichen Ebenen.<br />

Während die Verdinglichung auf Ebene des Entdeckungszusammenhangs<br />

verkürzt wahrnimmt und damit auf Ebene des Verwendungszusammenhangs<br />

verkürzt handhabt, bewegt sich der Positivismus auf Ebene des<br />

Begründungszusammenhangs und wirkt dort in Richtung einer Verkürzung<br />

der Reflexion. Diese Verkürzung jedoch ist beiden gemein.<br />

In diesem Sinne beugt sich die ökonomische Rationalität als Gegenstand<br />

wissenschaftlicher Methode dem Pragmatismus einer systemischen Verselbständigung<br />

und wagt nicht deren Infragestellung. Horkheimer betrachtet<br />

einen solchen Pragmatismus als „Ausdruck des positivistischen Ansatzes“ 140<br />

und stellt fest:<br />

„(...) eine Lehre [hier: der Pragmatismus; T.B.], die es ernsthaft unternimmt,<br />

die geistigen Kategorien - wie Wahrheit, Sinn oder Konzeptionen - in praktische<br />

Verhaltensweisen aufzulösen, kann selbst nicht erwarten, im geistigen<br />

Sinne des Wortes begriffen zu werden; sie kann nur versuchen, als ein<br />

Mechanismus zu funktionieren, der bestimmte Ereignisreihen in Gang<br />

setzt.“ 141<br />

Als ein solcher Mechanismus funktioniert die Ökonomie, reproduziert ihre<br />

eigenen Verkürzungen und sichert sich damit ihren Erhalt - jedoch nur solange,<br />

wie der von ihr promovierte Reflexionsstopp auf lebensweltlicher<br />

Seite wirksam ist.<br />

138 Horkheimer (1967: 47f.).<br />

139 Horkheimer (1967: 47).<br />

140 Horkheimer (1967: 51).<br />

141 Horkheimer (1967: 54f.).


3.3 Raum, Zeit, Sprache – die Eskalation der Kolonialisierung<br />

Im Folgenden soll abschließend versucht werden, die konkreten lebensweltlichen<br />

Veränderungen in einen Zusammenhang zu stellen. Dieses einleitende<br />

Kapitel konnte, auch aus der historischen Betrachtung, die unterschiedlichen<br />

<strong>St</strong>ufen der Kolonialisierung nachzeichnen. Diese <strong>St</strong>ufen stehen in einem Zusammenhang,<br />

der sich als Eskalationszusammenhang interpretieren und rekonstruieren<br />

lässt.<br />

Lyotard beschreibt die zunehmende Vereinnahmung der Lebenswelt durch<br />

das ökonomische System - auch wenn er sich dieser Terminologie in dem<br />

Sinne nicht bedient - indem er Raum, Zeit und Sprache in eine „Kolonialisierungs-Sukzession“<br />

stellt. 142 Er stellt die Hypothese auf, dass „Kapital eine<br />

Hegemonialmacht über die Zeit ist“ 143. In Anlehnung an Marx, der das<br />

Kapital als Hegemonialmacht über die Kraft (Arbeitskraft bzw. Produktivkraft<br />

allgemein) beschrieb, leitet Lyotard aus den Charakteristika des<br />

Tausches die ökonomische Relevanz der Zeit ab. Es liegt in der „Natur“ der<br />

Sache, dass zwischen Tauschaktionen am Markt „Zeit“ vergeht. Diese Zeit<br />

lässt sich das Wirtschaftssubjekt (A) für sein Produkt (x) von demjenigen<br />

erstatten, der schließlich als nächster Tauschpartner (B) mit dem (Tausch-)<br />

Produkt (y) im Markt auftritt.<br />

„Der Kapitalismus führt nun ein großes Prinzip ein: das Intervall, das Abtretung<br />

und Gegenabtretung trennt, ist für A verlorene Zeit. B muß ihm diese<br />

vorgeschossene Zeit zusätzlich zum Wert von y zurückerstatten. Die Quelle<br />

des zusätzlichen Werts, den A aus dem Tausch zieht, liegt nicht im Objekt y,<br />

sondern in der Zeit, die B verliert, bis er A y überläßt. (...) Damit komme ich<br />

zum Gedanken, daß Geld zu haben heißt, Zeit zur Verfügung zu haben.“ 144<br />

Lyotard überträgt dies auf die Arbeitssituation.<br />

„Ein Lohnarbeiter ist jemand, der einen wichtigen Teil seiner realen Zeit abtreten<br />

muß, um die Geldmenge (den Lohn) zu erwerben, mit der er seinerseits<br />

erst in den Tauschverkehr eintreten kann (während der andere bereits durch<br />

Kreditgeld darin eintritt). Auf diese Weise begreift man wohl recht gut,<br />

warum es im Kapitalismus allein darum geht, Zeit zu gewinnen („gagner du<br />

142 Die Dimension „Raum“ sei im Folgenden nicht explizit aufgenommen, da sie auch in<br />

der Argumentation nicht erörtert wurde. Die ökonomische Überlagerung, eine Art<br />

von „Versiegelung“, ist nicht nur in Bezug auf den ökologischen Raum, sondern auch<br />

auf den sozialen Raum allenthalben offensichtlich.<br />

143 Lyotard, J.-F. (1985): Immaterialität und Postmoderne, Berlin, S. 49.<br />

144 Lyotard (1985: 50).<br />

65


66<br />

temps“). Man begreift, was es heißt, seinen Lebensunterhalt zu verdienen<br />

(„gagner sa vie“), nämlich seine reale gegen potentielle Zeit zu tauschen. Man<br />

begreift die allgemeine Beschleunigung der Rhythmen, nicht nur bei der<br />

Arbeit, sondern auch beim Transport, beim Informationsfluß und im Alltagsleben.“<br />

145<br />

Hier wird deutlich, in welcher Weise die Zeit nicht nur „natürlich“ mit unserem<br />

Leben und unserer Lebenszeit zusammenhängt, sondern wie die Zeit<br />

vor dem Hintergrund des kapitalistischen Profitstrebens bzw. - neutral formuliert<br />

- vor dem Hintergrund der ökonomischen Umdeutung und Besetzung<br />

auch dieser Dimension aufgeladen wird. Die ökonomische Besetzung<br />

der Zeit lässt selbige nicht fortlaufend laufen, sondern rennen, rasen und<br />

nicht rasten. Nicht die „traditionelle“ physische Entgrenzung des Wirtschaftens,<br />

sondern die Grenzenlosigkeit der individuellen Eigentumsvermehrung,<br />

die Entgrenzung des „genug“ zum „je mehr, desto besser“ führt<br />

den Einzelnen unweigerlich dazu, die eigene zeitliche Kontingenz nicht zu<br />

akzeptieren und lebens-lang (!) dagegen anzukämpfen. Wulf bezeichnet dies<br />

als die „Konzentration auf den Gewinn an Zeit“. 146 Dieses Ankämpfen kann<br />

kompensiert werden, wenn die eigene zeitliche Kontingenz beherrscht wird.<br />

Dies führt nicht zu ihrer Auflösung, doch ist sie unter Kontrolle, so die<br />

postmoderne Interpretation.<br />

„(...) eine Moderne, die sich um die Beherrschung des Raumes drehte, geht<br />

damit allmählich über in eine Postmoderne, die von der Beherrschung der<br />

Zeit besessen ist.“ 147<br />

145 Lyotard (1985: 51).<br />

146 Wulf, C. (1987): Lebenszeit – Zeit zu leben? Chronokratie versus Pluralität der Zeiten,<br />

in: Kamper, D./Wulf, C. (Hrsg.), Die sterbende Zeit: 20 Diagnosen, Darmstadt/Neuwied,<br />

S. 266-275, hier S. 268. Ein breites Spektrum an Zeitdiagnosen, die sich unter<br />

anderem auch mit der Lebenszeit, mit dem Verhältnis des Einzelnen zu der ihm zur<br />

Verfügung stehenden Zeit beschäftigen, haben Kamper/Wulf (1987) zusammengetragen.<br />

„Bereits in der neuzeitlichen Leitidee des Fortschritts soll mit Hilfe des Fortschreitens<br />

der Mangel an Zeit kompensiert werden. Je schneller sich die Menschheit<br />

voranbewegt, desto mehr hofft sie, mit dem stark gewachsenen Zeitbedarf fertig zu<br />

werden. Während der Aufklärung gewinnt das Bewußtsein Raum, verspätet in die<br />

Welt einzutreten und daher sich eilen zu müssen, um die verlorene Zeit wieder gutzumachen.<br />

Die Beschleunigung der Zeit wird an die Verspätung der Vernunft und an<br />

ihren historischen Auftrag gebunden, den Menschen in eine bessere Welt zu führen.<br />

Der Zivilisationsprozeß erscheint als Mittel zu diesem Zweck, in dem die Zeit die entscheidende<br />

Rolle spielt. Konzentration auf den Gewinn an Zeit.“ (Wulf 1987: 268).<br />

147 Lyotard (1985: 51).


Wie bereits in der Analyse der ökonomischen Rationalität aufgezeigt wurde,<br />

ist die Verbindung von Arbeit und Zeit immanent, vor allem, da Zeit die<br />

Maßeinheit ist, in der die Arbeit entlohnt wird. 148<br />

Nach Gorz ist die Autonomie des Subjekts auf dieser Eskalationsstufe dadurch<br />

zu erreichen, dass „Einsparungen an Arbeitszeit als Freisetzung von<br />

Zeit“ angesehen wird, „dank derer sich die sozialen Individuen von den im<br />

Kapital verkörperten Zwängen der ökonomischen Rationalität (...) emanzipieren<br />

sollten“. 149 Dies bedeutet nach Gorz, die Erwerbsarbeit nicht abzuschaffen,<br />

sondern ihr „eine begrenzte und subalterne Funktion in der Entwicklung<br />

der Gesellschaft“ 150 zuzuweisen.<br />

„Der ökonomische Apparat läßt wachsende Zeitflächen im Leben jedes Individuums<br />

und vor allem der Gesamtheit der Individuen vakant. Aber damit<br />

diese Zeit nicht als befreite, jeder Herrschaft entzogene Zeit erscheint, setzt<br />

der Apparat alles ins Werk, um sie zu rekolonialisieren, zu monetarisieren, sie<br />

zu kommodifizieren, sie in warenförmige Freizeit, d. h. in Warenkonsumtion<br />

ohne ökonomische Rationalität und ohne Autonomie, umzuwandeln.“ 151<br />

Gorz plädiert hier für einen Prozess, der zu initiieren ist, von jedem Einzelnen<br />

und vom Gesamten, und den er als „Wiederaneignung der Zeit“ be-<br />

schreibt. 152<br />

Lyotard geht noch einen Schritt weiter. Er kann durch die Verbindung von<br />

Informationen und Wissen mit Sprache aufzeigen, dass sich die kapitalistische<br />

Besitznahme von ehemals Raum und Zeit nun auch auf die Sprache<br />

148 „Alle Ökonomie – so hat Karl Marx prophezeit – werde schließlich Ökonomie der<br />

Zeit. Dies war nicht nur in dem Sinne gemeint, daß es um die Verkürzung der<br />

Arbeitszeit gehen soll, sondern um eine ökonomische Zeitregie, um eine „Ordnung“<br />

der Zeiten, deren Gesetzmäßigkeiten als rationale rekonstruierbar sein müßten.“<br />

(Kamper, D. (1987): Zeitopfer: Vom ewigen Kalender zum Alltag der Termine, in:<br />

Kamper/Wulf (1987), S. 259-265, hier S. 259).<br />

149 Gorz (1998: VIII; Hervorhebungen im Original). So auch Teriet, der die persönliche<br />

Autonomie, die „flexible Lebensplanung“ mit dem Begriff der Zeitsouveränität in Verbindung<br />

bringt. Vgl. Teriet, B. (1979): Zeitsouveränität für eine flexible Lebensplanung,<br />

in: Huber, J. (Hrsg.), Anders arbeiten - anders wirtschaften, Frankfurt,<br />

S. 150-157, zitiert nach Ulrich (1993: 462).<br />

150 Gorz (1998: IX).<br />

151 Gorz (1998: X; Hervorhebungen im Original).<br />

152 Gorz (1998: X). In dieser durch die Ökonomie rationalisierten Lebenswelt wird auch<br />

das Ende des irdischen Lebens, der Tod, in gewissem Grade zum Selbstmord, welcher<br />

zu verhindern gewesen wäre, „(...) wenn man mehr Ressourcen in die Lebensverlängerung<br />

investiert hätte.“ (Becker, G.S. (1982): Der ökonomische Ansatz zur Erklärung<br />

menschlichen Verhaltens, Tübingen, S. 9).<br />

67


wirksam ausdehnt. Dies stellt eine signifikante Eskalation dar: Während die<br />

vorherigen <strong>St</strong>ufen über die äußeren Bedingungen auch die inneren Bedingungen<br />

des Menschen bestimmt hatten, so greift die <strong>St</strong>ufe der Sprachbesetzung<br />

die inneren Bedingungen, die menschlichen Bestimmungen direkt an.<br />

Sprache ist elementarer Bestandteil des Menschen und seiner Sozialität. 153<br />

Sprache, und das bedeutet Denken, Konstruieren, Kombinieren und Reproduzieren,<br />

wird zum „Objekt kapitalistischer Investition“ 154.<br />

Auf die Frage, was die ökonomische Aneignung der Sprache bedeutet und<br />

wie sich dies von der kapitalistischen Aneignung der Arbeit unterscheidet,<br />

antwortet Lyotard u. a.:<br />

68<br />

„Bislang ist die Sprache ausserhalb der Warenzirkulation geblieben, als<br />

„natürliche Sprache“ des Alltags und als Sprache der Bildung, die in Lehrund<br />

Kultureinrichtungen erlernt wurde. Diese gebildete Sprache diente zur<br />

Professionalisierung des Wissens, aber auch zur Formierung politischer<br />

Macht (das Redenhalten bei Versammlungen z. B.). Die Vermarktung der<br />

Sprache ändert diese Situation grundlegend. Die „Bildungskrise“ auf allen<br />

Ebenen und in allen „industrialisierten“ Ländern beispielsweise, die Entprofessionalisierung<br />

der Lehre und die sichtlichen Veränderungen in den natürlichen<br />

Sprachen („basic Englisch“, Idiome der Medien etc.) – all das sind<br />

Symptome für diese Veränderung.“ 155<br />

Dabei wird, insbesondere im ökonomischen Fokus auf die Nutzung der<br />

Sprache, leicht die Heterogenität der Satzordnungen übersehen.<br />

„(...) die Sprache ist nicht einheitlich und homogen; es gibt Satzordnungen<br />

und –arten, die gerade nicht ineinander übersetzbar sind; und der <strong>St</strong>reit, der<br />

aus dieser Heterogenität entsteht, muß respektiert und angehört, erwartet und<br />

ausgebildet werden. Er bildet die Basis des Widerstands gegen eine „kommunikative“<br />

Verflachung und Vereinheitlichung.“ 156<br />

Wenn also die Ökonomie in ihrem Pragmatismus mit Sprache „arbeiten“<br />

möchte, so ist auch diese zur Ware umzudeuten; nur dies sichert eine ökonomische<br />

Handhabbarkeit. 157<br />

153 Der Mensch ist wesentlich ein „Sprachtier“ (Ulrich 1998: 78). Vgl. zu dem kulturanthropologischen<br />

Bedeutungsrahmen Ulrich (1993: 31ff.).<br />

154 Lyotard (1985: 48).<br />

155 Ebenda.<br />

156 Lyotard (1985: 49).<br />

157 Vgl. zu den Folgen einer „Invasion von Tauschbeziehungen und bürokratischen Regelungen<br />

in die kommunikativen Kernbereiche der privaten und öffentlichen Sphären


Dieser Prozess zu einer Marktkompatibilität zieht jedoch auch konkrete<br />

Auswirkungen für die Sprache selbst, nun als Gegenstand der Ökonomie,<br />

nach sich. Mit der Umdeutung der Sprache als Ware geht eine „pragmatische“<br />

sprachliche <strong>St</strong>andardisierung einher; Sprache an sich ist zu heterogen<br />

für den Markt, vielleicht sogar in ihren (Sprach-)Formen inkommensurabel.<br />

Wenn sie sich jedoch vereinheitlichen ließe, so „taugt“ sie auch als Massenprodukt,<br />

als Massenware und kann die erforderlichen „<strong>St</strong>ückzahlen“ aufweisen,<br />

die das Geschäft mit ihr rentabel machen. Eine ihr, aus dem Heterogenitätsbefund<br />

resultierende und in der Wissenschaft zugesprochene Pluralität<br />

und damit auch Komplexität, wirkt aus Sicht der Ökonomie, wenn auch<br />

nicht zwingend kontraproduktiv, so zumindest doch sehr kostenintensiv.<br />

„Verflachung und Vereinheitlichung“ ist ökonomisch geboten und global<br />

bereits reality ...<br />

Die Ware Sprache als „Information und Wissen“ tritt von Beginn an „mit der<br />

idealen Aussicht auf die größtmögliche Geschwindigkeit, diejenige der Photonen,<br />

der Lichtquanten“ auf und hat damit in einer Zeit der rastlosen Zeit<br />

beste Erfolgschancen. 158<br />

Horkheimer äußert sich im Hinblick auf die Ökonomisierung der Sprache<br />

wie folgt:<br />

„Die Sprache ist im gigantischen Produktionsapparat der modernen Gesellschaft<br />

zu einem Werkzeug unter anderen reduziert. Jeder Satz, der kein Äquivalent<br />

einer Operation in diesem Apparat ist, erscheint dem Laien als ebenso<br />

bedeutungslos, wie er den heutigen Semantikern zufolge sein soll, nach denen<br />

der rein symbolische und operationelle, das heißt völlig sinnlose Satz einen<br />

Sinn ergibt. Bedeutung wird verdrängt durch Funktion oder Effekt in der<br />

Welt der Dinge und Ereignisse.“ 159<br />

In Horkheimers Ausführungen wird deutlich, dass dieser Vorwurf der völligen<br />

Instrumentalisierung der Sprache mehr noch die Relativisten, also die<br />

beginnende (radikale) Postmoderne trifft, als nur die Ökonomie, wie dies<br />

tendenziell bei Lyotard geschieht. Gleich ist beiden Deutungen die Charakterisierung<br />

des Befunds und der implizite Verweis auf die Bedeutung von<br />

Sprache, die über Zeit und Raum hinausgeht. Bei Horkheimer ist die Be-<br />

der Lebenswelt“ (Habermas 1998: 228) auch Honneth, A./Archard, D. [Hrsg.] (1994):<br />

Pathologien des Sozialen: Die Aufgaben der Sozialphilosophie, Frankfurt. Vgl.<br />

Habermas, J. (1998): Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt.<br />

158 Vgl. hierzu Lyotard (1985: 49ff.).<br />

159 Horkheimer (1967: 31).<br />

69


mächtigung der Sprache im Rahmen seiner Kritik der instrumentellen Vernunft<br />

eine neben vielen anderen Instrumentalisierungen. 160 Die instrumentelle<br />

Vernunft erkennt keine Wahrheit an sich an, „Wahrheit ist kein Selbstzweck“<br />

161 und so wird auch Sprache als Vollzugsmedium der praktischen<br />

Vernunft vereinnahmt für die individuellen Zwecke der Menschen. 162<br />

3.4 Ein tabellarisches Fazit<br />

Ziel der einleitenden Kapitels war es, aufzuzeigen<br />

� was ökonomische Rationalität ist,<br />

� wie ökonomische Rationalität sich in der und zu der Aktualität verhält<br />

und<br />

� welche Wirkungen ökonomische Rationalität in der Lebenswelt hat.<br />

Festgestellt worden ist, dass<br />

� die ökonomische Rationalität in Form und Methode spezifische Bestimmungen<br />

(Rechnerisches Kalkül, Quantifizierung) und Charakteristika (entgrenztes<br />

Handeln) aufweist,<br />

160 Zur gleichen Zeit legt auch Marcuse seine „<strong>St</strong>udien zur Ideologie der fortgeschrittenen<br />

Industriegesellschaft“ vor. Auch er beschreibt die Vereinnahmung der Sprache:<br />

„Dieser <strong>St</strong>il [Abkürzungen und Bindestrich-Begriffe; T.B.] ist von einer überwältigenden<br />

Konkretheit. Das „mit seiner Funktion identifizierte Ding“ ist realer als das von<br />

seiner Funktion unterschiedene, und der sprachliche Ausdruck dieser Identifikation<br />

(im funktionalen Substantiv und in den vielen Formen syntaktischer Abkürzung)<br />

schafft ein grundlegendes Vokabular und eine Syntax, die eine Differenzierung,<br />

Trennung und Unterscheidung im Wege stehen. Diese Sprache, die den Menschen<br />

unausgesetzt Bilder aufnötigt, widersetzt sich der Entwicklung und dem Ausdruck<br />

von Begriffen. In ihrer Unmittelbarkeit und Direktheit behindert sie begriffliches<br />

Denken und damit das Denken selbst.“ (Marcuse, H. (1967): Der eindimensionale<br />

Mensch. <strong>St</strong>udien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied/<br />

Berlin, S. 114; Hervorhebungen im Original).<br />

161 Horkheimer (1967: 31).<br />

162 Dieser Bezug kann an dieser <strong>St</strong>elle nicht vertieft werden. Eine Ahnung, von welcher<br />

lebensweltlichen Tragweite die ökonomische Aneignung der Sprache sein kann, vermittelt<br />

der Vergleich, den Horkheimer zwischen Philosophie und Faschismus in Bezug<br />

auf den Umgang mit Sprache anstellt: „Darin besteht der fundamentale und wesentliche<br />

Antagonismus zwischen Philosophie und Faschismus. Der Faschismus behandelte<br />

die Sprache als Machtinstrument, als Mittel, Kenntnisse aufzustapeln zum<br />

Gebrauch für Produktion und Destruktion, im Kriege wie im Frieden. (...) Die Philosophie<br />

ist mit der Kunst darin einig, daß sie vermittels der Sprache das Leiden reflektiert<br />

und es damit in die Sphäre der Erfahrung und Erinnerung überführt.“ (Horkheimer<br />

1967: 167).<br />

70


� in der Aktualität diesen Bestimmungen und Charakteristika Vorschub<br />

geleistet wird, welches zu intensiveren Verflechtungen zwischen Lebensund<br />

Arbeitswelt führt und<br />

� diese Verflechtungen aufgrund der Dominanz der ökonomischen Rationalität<br />

zu materialen Konsequenzen in der Lebenswelt führen.<br />

Dieser Befund stellt die wissenschaftliche Reflexion im weiteren Vorgehen<br />

vor unterschiedliche Alternativen der Handhabung. Es könnten Überlegungen<br />

angestellt werden, inwieweit die Möglichkeit besteht, dass<br />

� Lebens- und Arbeitswelt wieder stufenweise entflochten werden (Doch:<br />

Ist dies umsetzbar, würde dies die negativen Implikationen zu kompensieren<br />

helfen, würde dies die Ursache der Konflikte betreffen bzw. ist dies<br />

überhaupt wünschenswert?),<br />

� das einzelne Individuum sensibilisiert und befähigt wird, mit den ökonomischen<br />

Verkürzungen umzugehen. (Doch: Ist damit der Einzelne nicht<br />

systematisch überfordert, sind nicht eher Lösungen auf Ebene der Rahmenbedingungen<br />

notwendig bzw. komplementär zu initiieren?) und<br />

� die ökonomische Rationalität sich weiterentwickelt bzw. weiterentwickelt<br />

wird, die in Richtung einer Öffnung des Systems Ökonomie wirkt und damit<br />

Anschlussfähigkeit generiert. 163<br />

Im Kern stellt diese dritte Alternative den Ansatz der hier entwickelten<br />

Argumentation dar. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit die anderen<br />

beiden Alternativen in ihrer Relevanz oder ihrem Potential abgewertet seien;<br />

sie werden in die folgende Argumentation mit einfließen. Die hier entwikkelte<br />

wirtschaftsethische Perspektive wird aufzeigen, inwieweit und auf welche<br />

Weise es möglich ist, diese dritte Alternative zu verfolgen.<br />

Die Kompensation der aus dieser Gegenüberstellung auftretenden Defizite<br />

kann, nach der hier vertretenen Meinung, nicht innerhalb der ökonomischen<br />

Rationalität gelöst werden, sondern setzt eine Transzendierung ihrer Grenzen<br />

bzw. eine Transzendierung ihrer Fähigkeiten voraus. Diese Fähigkeiten<br />

bestehen im Kern in der Entwicklung einer strukturellen und inhaltlichen<br />

Anschlussfähigkeit zu genuin außerhalb der Ökonomie angelegten Inhalten;<br />

163 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei angemerkt, dass diese Alternativenaufzählung<br />

keine Vollständigkeit beansprucht, sondern lediglich dazu dienen soll, die<br />

hier verfolgte inhaltliche Intention zu verdeutlichen.<br />

71


diese Fähigkeiten sind Voraussetzung einer transversalen <strong>St</strong>ruktur, welche<br />

wiederum Zugang zum Gesamtzusammenhang hat.<br />

4 Methodische Implikationen für das weitere Vorgehen<br />

In diesem ersten Kapitel ist eine zentrale inhaltliche, aber auch methodische<br />

Bestimmung zum Tragen gekommen, die in der Differenzierung von System<br />

und Lebenswelt besteht. Diese Differenzierung ergibt sich aus den Befunden<br />

bezüglich der ökonomischen Rationalität und ihrer Verselbständigung im<br />

Laufe der Ausdifferenzierung in der Moderne. Aus dieser Differenzierung<br />

ergibt sich vor dem Hintergrund einer Vernunft-Konzeption und ihrem Bezug<br />

zum Gesamten zudem eine Notwendigkeit, die durch den Begriff der<br />

„Übersetzung“ beschrieben werden kann. Dieser Übersetzung zwischen den<br />

ausdifferenzierten Teilen wird hier der Charakter des Transversalen anhand<br />

der Welsch’schen Vernunft-Konzeption gegenübergestellt. Diese beiden<br />

methodischen Bestimmungen werden im Folgenden nochmals explizit aufgenommen<br />

und zusammenfassend erläutert, da sie den methodischen Kern<br />

der Argumentation darstellen.<br />

4.1 System und Lebenswelt<br />

In der hier dargestellten und phänomenologisch rekonstruierten ökonomischen<br />

Rationalität stellt die Differenz zwischen System und Lebenswelt eine<br />

methodisch-analytische und phänomenologische („essentialistische“) Hauptbestimmung<br />

dar. 164 Sie wird hier als theoretische Differenz verstanden; die<br />

164 Es soll an dieser <strong>St</strong>elle die System-Lebenswelt-Debatte nicht ausführlicher dargelegt<br />

werden. Die hier vertretene Auffassung von der Entkoppelung von System und<br />

Lebenswelt geht im Wesentlichen zurück auf Habermas, J. (1981b): Theorie des<br />

kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft,<br />

Frankfurt, S. 192ff. und S. 229ff. Einen Überblick verschaffen die Darstellungen bei<br />

Ulrich (1993: 68ff.) und die tabellarische Gegenüberstellung von Lebenswelt und ökonomischem<br />

System bei Ulrich (1998: 146). Zu der phänomenologischen Rekonstruktion<br />

von Lebenswelt vgl. Schütz, A./Luckmann, Th. (1975): <strong>St</strong>rukturen der Lebenswelt,<br />

Neuwied/Darmstadt, aber auch Waldenfels, B. (1985): In den Netzen der<br />

Lebenswelt, Frankfurt. Waldenfels tritt der verschwindenden Metaphysik mit einer<br />

„Genealogie der Normen“ entgegen, „die sich nicht nur als „Genealogie der Logik“ darstellt,<br />

sondern ebenso als „Genealogie der Moral“ auftritt, wie immer diese auch aussehen<br />

mag.“ (Waldenfels 1985: 131; Hervorhebungen im Original). Methodisch bewegt<br />

sich Waldenfels damit „auf den Spuren einer genetischen Phänomenologie“<br />

72


tatsächliche, praktische Beschaffenheit der Lebenswirklichkeit ist durch den<br />

Befund der Verflechtung von System und Lebenswelt geprägt. In der<br />

gleichzeitigen Differenz und Verflechtung von System und Lebenswelt<br />

kommt das den hier rekonstruierten Bezugsrahmen bestimmende Spannungsfeld<br />

zum Ausdruck. Dabei können sich Differenz und Verflechtung auf<br />

ihre Weise legitimieren. Der Differenz, als Produkt des Rationalisierungsprozesses<br />

der Moderne verstanden, liegt die Intentionalität des Fortschrittsgedankens<br />

zugrunde, während die phänomenologische Verflechtung einen<br />

„passierten“ Zustand beschreibt. 165<br />

Das aktuelle Spannungsfeld ergibt sich aus einer spezifischen Form der Differenz<br />

und aus der daraus resultierenden Verzerrung der Verflechtung.<br />

Die spezifische Form der Differenz bedeutet in diesem Zusammenhang das<br />

Überziehen der Differenz hin zu einer Entkoppelung der vormals auch<br />

lebenswirklich komplementären Teile. Diese Abspaltung und Autonomisierung<br />

eliminiert die Differenzierung selbst, da die Grundlage der Vergleichbarkeit<br />

erodiert. Hier ist es das System, welches eigendynamisch und<br />

eigengesetzlich sich seine eigenen Bedingungen schafft, den ihr immanenten<br />

Verweis auf Lebensweltlichkeit abzustreifen sucht.<br />

Die Rationalisierungsprozesse kommen im System in der funktionalen Komplexitätssteigerung<br />

zum Ausdruck. In der Lebenswelt dagegen drückt sich<br />

eine Rationalisierung in der Entwicklung der kommunikativen Fähigkeiten<br />

aus, in der Entfaltung der rationalen Potentiale kommunikativen Handelns.<br />

(Waldenfels 1985: 131), die sich auch von der Habermasschen Position abhebt:<br />

„Habermas sucht also eine Rettung des „Projekts der Moderne“ in einer ausdifferenzierten,<br />

formalisierten, posttraditionalen Vernunft, die „formale Bedingungen eines<br />

vernünftigen Lebens“ bereitstellt, und darüber hinaus den materialen Entwürfen<br />

eines „guten Lebens“ freien Lauf läßt. Die Vernunft zieht sich zurück auf ein Minimalprogramm;<br />

durch diesen Selbstverzicht hält sie sich Positivität, Kontingenz und<br />

Machtkonflikte vom Leibe.“ (Waldenfels 1985: 121). In der Diskussion um die Konzeption<br />

von Welsch und deren Hauptbestimmungen wird deutlich werden, dass<br />

diese Habermassche Vorsicht der Welsch’schen postmodernen Vorsicht zu gleichen<br />

scheint. In der hier entwickelten Diskussion werden die genealogischen Ansätze mit<br />

den „vorsichtigen“ Ansätzen verbunden. Auch wenn der Inhalt einer Vernunft stark<br />

reduziert sein mag, so heißt dies noch lange nicht, dass sich auch deren inhaltliche<br />

Begründung ändert - sie wirkt nur anders auf ihre Methoden und Gegenstände. Vgl.<br />

zu den Bestimmungen bei Welsch Abschn. 7.2.<br />

165 In gewisser Weise ist bereits in diesem Bezug eine qualitative Differenz zwischen den<br />

Befunden zu identifizieren. Reale Lebenswirklichkeit ist immer schon verflochten,<br />

unabhängig von ihren Elementen. Eine Differenz kann sich nur innerhalb dieser Verflochtenheit<br />

entwickeln. Die lebenswirklich wirksame Differenz bedarf der permanenten<br />

systemischen Reproduktion.<br />

73


Hierbei werden die lebensweltlichen Bezüge, der nicht vollständig hintergehbare<br />

Hintergrund lebensweltlichen Handelns166, soweit wie möglich in<br />

eine kritische Selbstreflexion einbezogen. Der Einzug von Rationalisierungsprozessen<br />

in die lebensweltlichen Bezüge geht einher mit der Disposition<br />

überwiegend unreflektierter Sinnbezüge.<br />

74<br />

„Die kommunikative Rationalisierung der Lebenswelt entlässt die Individuen<br />

zwar aus konventionellen (zugeschriebenen) Konsensverpflichtungen, nimmt<br />

sie aber sozusagen erneut in die Pflicht der kollektiven Anstrengung der praktischen,<br />

kommunikativen Vernunft, wenn die Sozialintegration soweit erhalten<br />

werden soll, dass ein friedliches, gutes Zusammenleben möglich ist.“ 167<br />

Die lebensweltliche Rationalisierung konstituiert eine sozial integrative Wirkung.<br />

Eine kollektive Öffnung gegenüber einer kritischen diskursiven Auseinandersetzung<br />

über konventionell tradierte Lebensinhalte sichert die<br />

„kommunikative Überlebensfähigkeit“ dieser Inhalte. Konstitutive Parameter<br />

der Lebensweltlichkeit, welche nicht zur Diskussion gestellt werden<br />

können, laufen im Zuge der Rationalisierung der Lebenswelt Gefahr, ihre<br />

gemeinschaftliche Unterstützung zu verlieren. Sie verlieren latent ihr<br />

„Konsens-Potential“. Annahme dieser Überlegungen bleibt, dass zu einer<br />

nachhaltig gelingenden Tradierung lebensweltlicher Bezüge eine prinzipielle<br />

Öffnung gegenüber Rationalisierungsprozessen notwendig ist. Die Forderung<br />

einer totalen Infragestellung durch die lebensweltlichen Akteure kommt<br />

hierbei dem Wesen der Lebensweltlichkeit nicht nahe: „Im Ganzen steht uns<br />

dieser Traditionshintergrund niemals zur Disposition“. 168 Die grundsätzliche<br />

Nicht-Reflektierbarkeit erweist sich damit als graduelle Konzeption, welche<br />

jedoch von den Akteuren nie vollständig beschritten werden kann. Die<br />

grundsätzliche Offenheit gegenüber Reflexion ist Überlebensvoraussetzung<br />

einer Gesellschaftsordnung, die totale Offenheit im Sinne einer totalen<br />

Umkehrung hingegen ist überlebensverhindernd. Die Frage nach dem<br />

adäquaten Reflexionsgrad des Traditionshintergrundes scheint im Ermessen<br />

der Akteure zu liegen und wird zwischen den Generationen immer wieder<br />

166 Habermas spricht in diesem Zusammenhang von implizitem Wissen, Waldenfels (1985:<br />

194ff.) verbindet dies mit dem Begriff der „Heimat“. Zu einer Übersicht vergleiche<br />

auch Kirsch (1992: 60ff.). Vgl. Habermas, J. (1984): Vorstudien und Ergänzungen zur<br />

Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt, S. 584.<br />

167 Ulrich (1993: 72).<br />

168 Ulrich (1993: 73; Hervorhebungen im Original).


neu ausgehandelt. Die tatsächliche Gestalt des Aushandlungsprozesses ist<br />

dabei im bedeutenden Maße von dem historischen Kontext abhängig.<br />

Die phänomenologische Verflochtenheit von System und Lebenswelt ermöglicht<br />

darüber hinausgehende „Verbindungen“, die Habermas als „Kolonialisierung<br />

der Lebenswelt“ 169 bezeichnet hat. Das Systemische breitet sich<br />

in der Lebenswelt aus und überlagert diese, so dass Funktionen in der<br />

Lebenswelt verloren gehen. 170 Das nach der Entkoppelung „passierende“<br />

Aufeinandertreffen von System und Lebenswelt scheint sich einer gemeinsamen<br />

und gleichberechtigten Gestaltung zu entziehen. Der kooperative<br />

phänomenologisch-passierende Verflechtungsbefund von System und Lebenswelt<br />

erodiert zum Wettbewerb und läuft auf eine entweder-oder Entscheidung<br />

hinaus, da die Entkoppelung zu einer derartigen Differenz in den<br />

Tiefenstrukturen geführt hat.<br />

Es ist deutlich geworden, dass die ökonomische Rationalität als Systemrationalität<br />

immer schon der Lebenswelt in einem idealisierten systemtheoretischen<br />

Differenzierungsmuster als Gegenüber positioniert gesehen wird. Aus<br />

ihr heraus entwickelt, behauptet sich die systemische Rationalität als eigenständiger<br />

Methodenraum. Die eine Trennung provozierende, systemische<br />

Eigenständigkeit erscheint wie eine Emanzipation von dem, was die eigentliche<br />

Grundlage auch der Ökonomie darstellt. Emanzipation von der Lebenswelt<br />

nicht nur methodisch, sondern vor allem auch normativ, erscheint,<br />

als entzöge sich das System seiner eigenen Grundlage. Diese Abkoppelung<br />

kann nur auf Grundlage lebensweltlicher Unterstützung passieren, denn sie<br />

stellt die phänomenologische Referenz dar. Die Lebenswelt stellt den umfassenderen<br />

Rahmen im Vergleich zum System dar. Das System kann nur als<br />

„derivative Lebenswelt“, als Ableitung der Lebenswelt verstanden werden –<br />

zumindest in der Entstehung. Eine Entkoppelung kann zwar angestrebt und<br />

sogar auch gelebt werden, doch sie blendet die lebenspraktische Begründung<br />

einer jeden menschlichen Tätigkeit aus, reduktioniert. 171 Das System erhebt<br />

seinen funktionalen Fortschritt zum Selbstzweck. Der Selbstzweck der öko-<br />

169 Habermas (1981b: 293).<br />

170 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Ulrich (1993: 84ff.).<br />

171 So äußert sich auch Hinder in Bezug auf die Unternehmung. Die „Lebenswelt“ der<br />

Unternehmung ist „immer noch auf eine komplementäre Alimentierung durch eine<br />

originäre Lebenswelt angewiesen (...), die in die alltäglichen Lebensformen der privaten<br />

Lebenswelt eingebettet ist.“ (Hinder, W. (1986): <strong>St</strong>rategische Unternehmensführung<br />

in der <strong>St</strong>agnation: <strong>St</strong>rategische Programme, unternehmenspolitischer Rahmen<br />

und kulturelle Transformation, München, S. 307).<br />

75


nomischen Rationalität erschöpft sich in der Effektivität und Effizienz ihrer<br />

Methoden. Sie verliert den Bezug ihrer lebensweltlichen Zwecksetzung und<br />

damit auch die Sensibilisierung für die Notwendigkeit einer Übersetzung<br />

überhaupt. Die Motivation einer Rückbindung kann anscheinend von der<br />

Ökonomie nicht mehr erwartet werden, da sie die Motivationsgrundlage<br />

„wegrationalisiert“ hat. Der Übersetzungsimpuls ist von anderer <strong>St</strong>elle zu<br />

generieren.<br />

4.2 Übersetzungsleistungen - eine wirtschaftsethische Grundsatzentscheidung<br />

Es ist deutlich geworden, dass eine Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität<br />

Übersetzungsleistungen zwischen System und Lebenswelt erfordert.<br />

Die ökonomische Rationalität scheint hierbei einen reduzierten Abbildungsraum<br />

aufzuweisen. Zum Ausdruck kommt dies, wenn man sich den<br />

Umstand vergegenwärtigt, dass die Ökonomie auf die Quantifizierung von<br />

Inhalten angewiesen ist. Wirtschaftliche Transaktionen bedürfen eines<br />

gewissen Abstraktionsgrades, um ihre Verfahren umsetzen zu können.<br />

Müller macht diese sprachliche Transformation in ihren Dimensionen<br />

deutlich:<br />

76<br />

„Im Netzwerk industrialer Technizität begegnet in gleichermaßen markantem<br />

wie vielfach differentem Sinne, was generell als „Transformations“-, „Übertragungs“-<br />

und „Übersetzungsleistung“ bezeichnet werden kann. Dies gilt<br />

vorab für distinkt sprachliche Übersetzungsvorgänge - die technisch industrielle<br />

Realität fordert in ihrer Kommunikations- wie Funktionsfähigkeit die<br />

ständige Übertragung in sogenannte „Weltsprachen“ als selbstverständliche<br />

Alltagspraxis. Neben dem Transfer in die geltenden Welt- und Einheitssprachen,<br />

deren Artikulations-, Mitteilungs-, Verstehens- und Verständigungsmöglichkeiten,<br />

ihre Bezeichnungs-, Bedeutungs- und Sinnmöglichkeiten<br />

erfolgt „Übersetzung“ auch als „Übertragung“ in die sogenannte „Sprache“<br />

von Datenverarbeitungssystemen, also in Codes und Codierungsformen der<br />

Informationselektronik. Die Typik solcher Übertragung scheint sich als Leitmodell<br />

für „Übersetzung“ unter Bedingungen industrial-technischer Einheit<br />

zu installieren.“ 172<br />

172 Müller, S. (1994): Einheit des Menschen und Pluralität der Kulturen. Oder: Humane<br />

Identität als Übersetzung, in: Honnefelder, L. (Hrsg.), Die Einheit des Menschen: Zur<br />

Grundlage der philosophischen Anthropologie, Paderborn u. a., S. 121-140, hier<br />

S. 125f.


Bei Müller wird insbesondere deutlich, dass die „technologische Sprache“<br />

globale Dimensionen durch ihre Allgemeinverständlichkeit erreicht. Diese<br />

Universalität geht jedoch mit einer Reduktion einher, die hier einer kritischen<br />

Reflexion zugeführt sei. Wenn nämlich die ökonomisch-technische<br />

Methode eine (sprachliche) Abstraktion verlangt, die nach Anwendung der<br />

Methode inhaltlich nicht wieder rückgebunden wird an ihren ursprünglichen<br />

Ausgangspunkt, dann hat die Methode inhaltliche Auswirkungen auf<br />

ihren behandelten Gegenstand. So äußert sich auch Müller:<br />

„Zugleich scheint unübersehbar, daß die Einheitsform industrialer Technizität<br />

in jenen Umsetzungsprozessen auch anthropologische Rückwirkungen bedingt,<br />

also von sich her das Verständnis der genuin humanen Einheit<br />

prägt.“ 173<br />

Die Kernthese der folgenden Ausführungen lautet somit: Die Methode führt zu<br />

einer Überführung des Inhalts in eine Form, kann jedoch die Form nicht wieder<br />

adäquat in ihren genuinen Inhalt zurückführen. 174<br />

Die numerische Form stellt das „ökonomisch-formalistische Nadelöhr“ dar,<br />

durch das all diejenigen Inhalte hindurch müssen, die ökonomische Relevanz<br />

erlangen wollen. Dies kann zum einen zur Folge haben, dass spezifische<br />

Inhalte keine Berücksichtigung in der ökonomischen Kalkulation finden, da<br />

sie sich nicht oder nur schlecht in die numerische Form überführen und in<br />

dieser darstellen lassen. Zum anderen kann es aber auch dazu führen, dass<br />

komplexe Inhalte den Einzug in die numerische Form der Ökonomie durch<br />

starke inhaltliche Reduktion erkaufen müssen.<br />

Diese beiden möglichen Folgen ökonomisch-formaler Abstraktion lassen sich<br />

in Beziehung setzen zu der wirtschaftsethischen Fragestellung, wann, auf<br />

welche Weise und ob überhaupt eine Übersetzungsleistung zu vollziehen notwendig<br />

ist. Bezüglich der Frage des Zeitpunktes wäre im Blick auf die<br />

Komplexitätshandhabung denkbar, dass systemexterne Inhalte erst am Ende<br />

des Wirtschaftsprozesses in den ökonomischen Kontext „importiert“ werden.<br />

Diese Form findet jedoch aus unterschiedlichen Gründen von beiden<br />

173 Müller (1994: 126).<br />

174 Vor allem bei Arendt (2001) und Horkheimer (1967) zeigen sich deutliche Interpretationen,<br />

die in die gleiche Richtung weisen. Ob es die Sinnentleerung durch die<br />

Ökonomie ist oder die Instrumentalisierung der Vernunft, die der Formalisierung vor<br />

den Inhalten das Primat einräumt, die Resultate und Konsequenzen für die Gesellschaft<br />

und den Einzelnen sind dieselben.<br />

77


Seiten (Ökonomie und Wissenschaft) keine Zustimmung. 175 Auch kann der<br />

Ansatz verfolgt werden, die „systemische Sprache“ um die lebensweltliche<br />

Semantik zu erweitern, was jedoch die Leistung der Abstraktion (ihre Vorteile<br />

bezüglich der Praktikabilität) ad absurdum führen könnte. Ein dritter<br />

Weg wäre die Übersetzung „systemexterner“ Inhalte soweit wie möglich<br />

und zu Beginn des Prozesses, auch auf die Gefahr hin, dass man sich dem<br />

Vorwurf des Reduktionismus aussetzt.<br />

In der wirtschaftsethischen Debatte lassen sich - stark verkürzt – zwei Ansätze<br />

unterscheiden, die hier als pragmatischer und theoretischer Ansatz bezeichnet<br />

werden. Während die eine Seite die Rolle der Praktikabilität, die<br />

Besonderheiten der Funktionsweise des ökonomischen Systems und die<br />

Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung hervorhebt und für eine interdisziplinäre<br />

Pragmatik plädiert, so betreibt die andere Seite eine grundsätzliche<br />

Reflexion des ökonomischen Systems bezüglich seiner eigenen Be-Gründung<br />

im Gesamtkontext. Letztere ist im Bezug auf den <strong>St</strong>atus der Ökonomie ergebnisoffen<br />

und hat ihren Fokus eher auf der theoretischen Durchleuchtung<br />

der Tiefenstruktur, als auf der pragmatischen Implementierungsfrage. 176<br />

175 Diese explizite inhaltliche Rückbindung lässt sich in der unternehmerischen Prozessstruktur<br />

nur schwer umsetzen und würde aufgrund ihrer Komplexität im Tagesgeschäft<br />

wohl eher untergehen. Jedoch sprechen nicht nur ökonomische Praktikabilitätserwägungen<br />

dagegen: Werden in einem nach ökonomischer Methode ablaufenden<br />

Prozess spezifische Inhalte nicht „mittransportiert“, so scheint es zum Ende des<br />

Prozesses eher unwahrscheinlich, dass diese Inhalte in die rein ökonomischen<br />

Schlussfolgerungen integrierbar sind. Zum einen bleibt dabei der Einfluss des Inhalts<br />

auf die Methode unberücksichtigt (Hätte ein die systemexternen Inhalte mittransportierender<br />

(ökonomischer) Prozess nicht ganz anders ausgesehen?), zum anderen lassen<br />

sich schwerlich Inhalte „re-importieren“, die im Verlauf des Prozesses keine Berücksichtigung<br />

fanden. Sie sind in diesem Fall im Prozess selbst nicht „angelegt“, sie<br />

finden keine Anknüpfungspunkte. Ihr tatsächlicher Import könnte zu einer vollständigen<br />

Neuabwicklung des Prozesses führen - vorausgesetzt, hinter diesen systemexternen<br />

Inhalten stehen ausreichend Machtpromotoren (angelehnt an das Promotorenkonzept<br />

von Kirsch, und vorausgesetzt, dass erkannt wird, dass wesentliche Bestimmungen<br />

mit ökonomischer Relevanz nicht berücksichtigt wurden - von den Inhalten<br />

ohne direkte ökonomische Relevanz einmal abgesehen. Es zeigt sich, dass die Positionen<br />

sich nicht nur methodisch, sondern vor allem in ihrer qualitativen Differenz gegenüberstehen.<br />

Vgl. zum Promotorenkonzept Kirsch (1994: 233ff.).<br />

176 Die „pragmatische“ Position ist hier exemplarisch mit Karl Homann und Josef Wieland<br />

belegt. Der Terminus „pragmatisch“ mag insbesondere der philosophischen Position<br />

von Homann nicht gerecht werden. Jedoch sind beide Positionen insofern unter<br />

einen Begriff subsumierbar, als dass sie eine gemeinsame Zielsetzung (Wirtschafts-,<br />

Governance- bzw. philosophische Ethik mit ökonomischer Methode) aufweisen. Die<br />

Gegenposition, die „theoretische Position“, wird exemplarisch mit Peter Ulrich zitiert.<br />

Dies bedeutet nicht, dass die theoretische Position keine pragmatische Orientierung<br />

78


Beiden Seiten ist und bleibt die grundsätzliche Beschäftigung mit Übersetzungsleistungen<br />

gemeinsam, allein die Art und Weise der methodischen<br />

Umsetzung und damit auch deren theoretische Voraussetzungen und Konsequenzen<br />

differieren. Dabei versucht die theoretische Position die Übersetzung<br />

von innen heraus zu leisten, d. h. die ethischen Bestimmungen innerhalb<br />

der Ökonomie transparent zu machen, diese Bestimmungen von innen<br />

heraus aufzudecken und in den ökonomischen Prozessen stark zu machen.<br />

Die moralischen Bestimmungen sind, gemäß dieser Position, nie wirklich<br />

außerhalb des Systems gewesen. Die pragmatische Position hingegen sieht<br />

die moralischen Bestimmungen vornehmlich außerhalb des ökonomischen<br />

Systems. Die moralischen Bestimmungen werden von außen an das stark<br />

ausdifferenzierte, ökonomische System in Form moralischer Ansprüche herangetragen<br />

und innerhalb des Systems systemintern verarbeitet. Die Transformation<br />

in systemintern geltende Parameter stellt hierbei die Übersetzung<br />

dar. Das bedeutet, dass ethische Bestimmungen eine Umdeutung erfahren<br />

und in ökonomischer Form dargestellt werden. Auf diese Weise, so ihre<br />

Vertreter, kann sichergestellt werden, dass sich die Ethik überhaupt in<br />

irgendeiner Form - und nicht nur mittel- bis langfristig innerhalb der Ökonomie<br />

zeigt, anstatt in theoretischen Differenzierungen zu verharren.<br />

Der Fokus der „pragmatischen Position“ auf (ökonomische) Wirksamkeit<br />

„um jeden Preis“ scheint dabei selbst Ausfluss der im ökonomischen System<br />

etablierten Reduktion auf kurzfristigen Erfolg zu sein. Es scheint, als beuge<br />

sich hier die wissenschaftliche Methode dem ökonomischen Pragmatismus<br />

und wagt nicht seine Infragestellung. Homann bezeichnet dies in Anlehnung<br />

an Suchanek als pragmatische Reduktion, welche den Vorwurf des Reduktionismus<br />

von sich weist:<br />

„Wenn in diesem Forschungsprogramm Moral in terms of economics rekonstruiert<br />

wird („Übersetzung“), dann handelt es sich nicht um einen „Reduk-<br />

aufweise, auch nicht, dass die pragmatische Position nicht theoretisch wäre. Es soll<br />

lediglich den maßgeblichen Akzent dieser Ansätze zum Ausdruck bringen; dieser<br />

Akzent bestimmt das Profil des Ansatzes. Dies wird im Folgenden näher erläutert<br />

werden. Vgl. zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Karl Homann und<br />

Josef Wieland die in der gleichen Zeitschrift erschienenen Ausführungen: Homann, K.<br />

(2001): Governanceethik und philosophische Ethik mit ökonomischer Methode - Versuch<br />

einer Verhältnisbestimmung, in: zfwu, Jg. 2, H. 1, S. 34-47; Wieland, J. (2001):<br />

Eine Theorie der Governanceethik, in: zfwu, Jg. 2, H. 1, S. 8-33. Vgl. allgemein zu den<br />

Positionen bspw. Palazzo, B. (2000): Interkulturelle Unternehmensethik – Deutsche<br />

und amerikanische Modelle im Vergleich, Gütersloh, S. 25ff.<br />

79


80<br />

tionismus“, sondern um eine strikt problemabhängige, nämlich auf das Implementierungsproblem<br />

zugeschnittene „pragmatische Reduktion“. In einer<br />

als konstruktivistisch ausgewiesenen Methodologie ist diese Reduktion legitim,<br />

weil und sofern sie um ihren Sinn und ihre Grenzen weiß. In diesem Verständnis<br />

wird Moral zu einer Kurzformel langer ökonomischer Kalkulationen,<br />

gewissermaßen zu einer Art Zweitcodierung, mit der man sich begnügen<br />

kann, solange sie wirksam ist.“ 177<br />

Auch Wieland äußert sich bezüglich einer Leitcodierung ähnlich:<br />

„Leitcodierung besagt vielmehr, dass alle in einer Unternehmung existierenden<br />

und relevanten Entscheidungslogiken sich an ihren ökonomischen Folgen<br />

bewerten lassen müssen.“ 178<br />

Auch wenn Wieland hier auf die Folgen anstatt auf die Darstellungsform abzielt,<br />

kann die Betonung der ökonomischen Ergebnisorientierung als Indiz<br />

dafür gewertet werden, dass unrentable Aktivitäten als unbequeme abgelehnt<br />

werden. Diese Diskussion wird zu Beginn des folgenden Kapitels bezüglich<br />

einer Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität nochmals<br />

aufgenommen.<br />

Es bleibt als methodische Implikation bezüglich einer zu leistenden Übersetzung<br />

festzuhalten: Die skizzierte pragmatische Position nimmt Übersetzung<br />

vor, ist sich dabei aber auch der Reduktion bewusst. Die theoretische Position<br />

verfolgt in diesem Sinne keine „klassische“ Übersetzung, sondern vollzieht<br />

eine Sichtbarmachung der in der Ökonomie selbst angelegten moralischen<br />

Ansprüche. Diese moralischen Ansprüche sind der Ökonomie immanent<br />

und werden im Vollzug dieses Ansatzes expliziert. Im Blick auf diese<br />

beiden (idealisierten) Positionen ist die hier vertretene Auffassung, dass die<br />

klassische Übersetzung (Kommunikation zwischen zwei unterschiedlichen<br />

Bereichen) durch ihren Reduktionismus zu Defiziten führt, die später nicht<br />

mehr kompensierbar sind.<br />

Aus diesem Grund soll der zweiten, der theoretischen Position gefolgt<br />

werden, jedoch nur soweit, als dass es um die Explizierung der der Ökonomie<br />

immanenten moralischen Ansprüche geht. Diese Ansprüche sind der<br />

Ökonomie immanent, weil – wie bereits angedeutet – sich die Ökonomie<br />

aufgrund ihres derivaten Charakters (als ein Produkt der Lebenswelt) sich<br />

177 Homann (2001: 38; Fußnoten weggelassen). Zu Suchanek vergleiche Suchanek, A.<br />

(1994): Ökonomischer Ansatz und theoretische Integration, Tübingen.<br />

178 Wieland (2001: 32; Hervorhebungen vom Verfasser).


dieser Ansprüche nicht entledigen kann – und nicht deswegen, weil sich<br />

diese Ansprüche aus dem Charakter ihrer Methode und Form aufdrängen<br />

würden.<br />

Darüberhinaus thematisiert die hier entwickelte Argumentation explizit die<br />

Notwendigkeit der Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität. Es<br />

geht dabei primär darum, die Akteure der Kommunikation, die Bereiche, zu<br />

mobilisieren und weiterzuentwickeln, so dass eine wirkliche Übersetzung,<br />

die ja letztlich immer defizitär bleiben muss, (nahezu) überflüssig werden<br />

würde. In diesem Sinne wird die methodische Implikation „Übersetzung“<br />

transformiert in eine methodische Implikation der „Öffnung“. Eine strukturell-inhaltliche<br />

Öffnung der Rationalitätsbereiche stellt dabei das Kriterium<br />

dar, welches auf einen weiterentwickelten <strong>St</strong>atus des Bereichs rückschließen<br />

lässt. In diesem weiterentwickelten <strong>St</strong>atus kann der Rationalitätsbereich<br />

adäquat den Verknüpfungstendenzen der transversalen Vernunft nachkommen,<br />

da deren – vormals externen – Ansprüche nun auf Entsprechungen<br />

im eigenen Bereich treffen. Wie dies aussehen kann, wird in Kapitel II und III<br />

deutlicher werden.<br />

81


II Transversale Vernunft – Vernunft zwischen<br />

Moderne und Postmoderne<br />

Die ökonomische Rationalität ist der lebensweltlichen Herausforderung nicht<br />

gewachsen, so das Fazit der einleitenden Analyse. Die weiterführende Aufgabe<br />

besteht nun darin, Möglichkeiten aufzuzeigen, ob und, wenn ja, wie sich<br />

diese ökonomische Rationalität in ihrer jetzigen inneren Verfassung weiterentwickeln<br />

kann. Dabei bedeutet eine Weiterentwicklung die Weiterentwicklung<br />

im starken Sinne; dies impliziert, dass die eigene paradigmatische Veränderung<br />

grundsätzlich gedacht werden kann. Das heißt nicht, dass sich die<br />

ökonomische Rationalität grundsätzlich umkehrt, sondern dass die Möglichkeit<br />

gedacht werden kann. Dies öffnet die eigene <strong>St</strong>ruktur systematisch<br />

gegenüber systemexternen Bestimmungen.<br />

Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität im Lichte<br />

wirtschaftsethischer Ansätze - eine Vorbemerkung<br />

Die Weiterentwicklung im starken Sinne deckt sich nach Ansicht des Autors<br />

überwiegend mit der Position von Peter Ulrich. 1 Eine Weiterentwicklung im<br />

schwachen Sinne wird hier in der Position von Wieland gesehen. 2 Diese zeigt<br />

eine Öffnung ökonomischer Rationalität, die jedoch nur innerhalb der Ökonomie<br />

kritisch selbstreflexiv ist; über die eigenen Grenzen im Sinne einer<br />

grundlegenden Disposition geht dieser Ansatz nicht hinaus. Die dritte Position,<br />

für die der Ansatz von Karl Homann stehen soll, geht der Frage nach<br />

dem Ort bzw. den Orten der Moral im dialektischen Spannungsfeld von<br />

Individuum und Rahmenordnung nach. Die Frage nach einer Weiterentwicklung<br />

ökonomischer Rationalität stellt sich hier nicht wirklich.<br />

In einer verkürzten Interpretation lässt sich die wirtschaftsethische Landschaft<br />

zwischen den Polen Individual- und Institutionenethik lokalisieren. 3<br />

1 Vgl. zu der Position Ulrichs im Wesentlichen Ulrich (1993) und Ulrich (1998).<br />

2 Dabei wird vor allem Wieland (2001) herangezogen.<br />

3 Für diese Alternativen in der wirtschaftsethischen Debatte sei auf der individualethischen<br />

Seite stellvertretend Ulrich (1993, 1998), auf der institutionenethischen Seite<br />

Homann, K./Blome-Drees, F. (1992): Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen,<br />

genannt. An dieser <strong>St</strong>elle können diese sich gegenüberstehenden Ansätze nicht in ad-<br />

82


Hierdurch wird die ökonomische Rationalität als solche vielleicht etwas vorschnell<br />

einerseits in die Hände der individuellen Akteure gelegt, andererseits<br />

in die Rahmenordnung „ausgelagert“. In der mittleren Position zwischen<br />

Rahmen und Individuum sieht sich der hier vertretene Ansatz: Das Individuum<br />

steht in seiner Auslegung und Reproduktion von wirtschaftlichem<br />

Denken immer auch in reziproker Beziehung zu den – hier insbesondere<br />

ökonomischen – Rahmenbedingungen, zum System. Hieraus ergibt sich ein<br />

latentes „ausgeliefert sein“ des Individuums; der Einzelne ist immer auch<br />

Produkt seines Rahmens. Doch ist er immer auch Produzent bzw. zumindest<br />

„Reproduzent“ dieses Rahmens und somit in einer konstitutiven und damit<br />

aktiven Rolle. Wird diese Rolle negiert, wird im Umkehrschluss dem Rahmen<br />

eine subjektunabhängige Bedeutung beigemessen, die sich logisch<br />

jedoch nicht aufrechterhalten lässt. Aus real-soziologischer Perspektive mag<br />

es hingegen plausibel sein, wenn das Individuum als Produkt der Gesellschaft<br />

rekonstruiert wird. Doch diese Einsicht kann nur in der Dialektik zum<br />

Menschen als schaffendes Wesen bzw. zum schaffenden Wesen in seinem<br />

„vita activa“ gewonnen werden, nicht unabhängig von dieser Dialektik. Es<br />

käme einer einseitigen Überbetonung gleich, würde man den Menschen als<br />

allein produziertes Wesen interpretieren, auch wenn es um die soziale Faktizität<br />

geht, so beispielsweise Homann:<br />

Auch wenn dieser die Rolle der Individualmoral anspricht, so kann dies<br />

nichts daran ändern, dass sie bei ihm nicht gleichrangig und schon gar nicht<br />

vorrangig, sondern nachrangig zu den institutionellen Konstitutionen<br />

fungiert. 4 Sie greifen dort, wo evident wird, dass die über Verträge zustande<br />

gekommenen Rahmenordnungen systematisch unvollständig bleiben und<br />

bleiben müssen. Diese „systemischen Löcher“ hat das Individuum zu stopfen,<br />

ansonsten sich aber reaktiv zu verhalten, so würde die polemische Interpretation<br />

dieser Position lauten. Homann stellt seinem Ansatz ähnliche Befunde<br />

voraus wie in der hier entwickelten Argumentation, zieht jedoch andere<br />

Konsequenzen. Die funktionale Ausdifferenzierung in der Moderne – und<br />

damit auch die Abkopplung der ökonomischen Rationalität von gesellschaftlichen<br />

Bereichen – würde in ihrer Leistungsfähigkeit bedroht, hätte sie<br />

sich einer „externen“ Norm zu beugen; ihre funktionalen, systemischen<br />

äquater Weise expliziert werden. Da der Ulrichsche Ansatz in die hier vorgestellte<br />

Konzeption vielfältig einfließt, beziehen sich die im Text gemachten Bemerkungen<br />

eher in differenzierender Weise auf den Homannschen Ansatz.<br />

4 Vgl. hierzu Homann/Blome-Drees (1992: 135ff.).<br />

83


Errungenschaften könnten nicht mehr in vollem Umfang wirksam sein. 5 Es<br />

wird auch hier offensichtlich, dass die gesellschaftlichen Errungenschaften<br />

und der Beitrag der Ökonomie hierzu stark unterschiedlich zu der hier entwickelten<br />

Reflexion interpretiert werden. 6<br />

Somit kann festgehalten werden: Die wirtschaftsethischen Ansätze, die den<br />

systematischen Ort der Moral in der Rahmenordnung lokalisieren, müssen<br />

sich nach Meinung des Verfassers den Vorwurf gefallen lassen, den Rahmen<br />

auf der einen Seite zu überfordern und das Individuum auf der anderen<br />

Seite zu unterfordern, nämlich als „potentiellen Defektierer“. Eine wirkliche<br />

Anwendungsorientierung der Wirtschaftsethik kommt nicht umhin, beide<br />

Seiten in ihren produktiven Dimensionen zu erkennen und zu unterstützen.<br />

Während die „individualorientierte“ Wirtschaftsethik den Rahmen in die<br />

Betrachtung zu integrieren sucht, tut sie dies jedoch vornehmlich als zusätzliches<br />

Mittel, die diejenigen Kriterien institutionell zu verankern sucht, die<br />

durch den Einzelnen diskursiv mitentwickelt wurden. Der Rahmen ist Mittel<br />

zum Zweck im Sinne des und der Menschen. Dagegen scheint die<br />

„rahmenorientierte“ Wirtschaftsethik diesen Zweck aus dem Blick zu verlieren<br />

und den Rahmen als Selbstzweck etablieren zu wollen, aus dessen Perspektive<br />

der Einzelne als „Mängelwesen“ erscheint. Zumindest verliert dieser<br />

überwiegend seine produktive, aktive Rolle, wenn es um moralische<br />

Handlungen geht.<br />

Bezieht man dies auf die Frage der Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität,<br />

so ergibt sich folgendes Bild: In dieser Sicht des Einzelnen und des<br />

5 Vgl. Homann/Blome-Drees (1992: 13).<br />

6 Die jüngsten Veröffentlichungen bzw. Äußerungen Homanns verstärken den Ansatz<br />

dahingehend, dass die Ethik und das Paradigma der Ökonomik immanent miteinander<br />

verbunden werden. Dieses Paradigma ist methodisch im Wesentlichen durch das<br />

„Gefangenen-Dilemma“ bestimmt. In dieser ökonomistischen Methode sieht Homann<br />

nicht in der ökonomischen Sache, so doch in der ökonomischen Methode die Ethik als<br />

der Ökonomik immanent; in diesem Sinne kann der weitere ökonomische Vollzug,<br />

die positive Ökonomik, frei sein von Werten und Normen, denn die sind bereits im<br />

Paradigma der Ökonomik abgebildet und liegen jeglicher Wirtschaftstätigkeit zugrunde.<br />

Dies könnte man als „integrativ“ bezeichnen, steht aber in seiner Begründungsargumentation<br />

der Ulrichschen Integration diametral und kategorial entgegen.<br />

Vgl. hierzu Homann, K. (1997): Sinn und Grenze der ökonomischen Methode in der<br />

Wirtschaftsethik, in: Aufderheide, D./Dabrowski, M. (Hrsg.), Wirtschaftsethik und<br />

Moralökonomik. Normen, soziale Ordnung und der Beitrag der Ökonomik, Berlin, S.<br />

11-42 und Abschn. 10.2.2. Außerdem bezieht sich dieser letzte Abschnitt auf einen<br />

unveröffentlichten Vortrag „Ökonomik: Fortsetzung der Ethik mit anderen Mitteln“,<br />

gehalten in Freiburg am 21. Juni 2001.<br />

84


Systems ist ökonomische Rationalität Inhalt des Rahmens, sozusagen außer<br />

Reichweite des Individuums. Hier soll dagegen die Meinung vertreten werden,<br />

dass ökonomische Rationalität vorwiegend von der individuellen<br />

Reproduktion abhängt. Die Weiterentwicklung im starken Sinne verlangt<br />

eine Reflexion nicht nur vor ihrem systemischen Rahmen, sondern vor den<br />

lebensweltlichen Bedürfnissen. 7 Hieraus konstituiert sich ihre moralische Legitimität.<br />

Um eine solche Weiterentwicklung vorzubereiten, erscheint es sinnvoll, die<br />

ökonomische Rationalität in ihren weiteren theoretischen Bezugsrahmen zu<br />

stellen. Die tatsächliche Öffnung kann, wie aufgezeigt werden wird, in Form<br />

einer Anbindung an (ökonomische) Vernunft geschehen. Für diese Erweiterung<br />

bzw. Ergänzung wird der Welsch‘sche Vernunft-Ansatz wiedergegeben<br />

und kritisch reflektiert. Dieser Ansatz gibt zum einen den <strong>St</strong>atus Quo<br />

zeitgenössischer Vernunftkritik wieder, zum anderen erweist sich seine zentrale<br />

Thematik, die Transversalität, für den interdisziplinären Anspruch der<br />

Wirtschaftsethik im Allgemeinen und die Weiterentwicklung der ökonomischen<br />

Rationalität im Besonderen als hilfreich und weiterführend. Einführen<br />

in die Welsch‘sche Konzeption wird im folgenden Kapitel die Darstellung<br />

des aktuellen theoretischen Rahmens. Den Abschluss bilden kritische Reflexionen<br />

bezüglich der Bestimmungen und Verhältnisse transversaler Vernunft<br />

- insbesondere in ihrem Bezug auf die hier verfolgte Absicht.<br />

5 Postmoderne Moderne - Skizzen des aktuellen<br />

Bezugsrahmens<br />

Die Gesellschaft und die Lebensgestaltung des Einzelnen sind spätestens seit<br />

dem Beginn der Industrialisierung vor grundlegend neuartige Herausforderungen<br />

gestellt. Nicht nur die gesellschaftlichen <strong>St</strong>rukturen haben sich er-<br />

7 Wenn es vorwiegend um die alltägliche Anwendung gehen würde, dann ließe sich<br />

die Ebene der institutionalisierten Bestimmungen ökonomischer Rationalität als<br />

Fokus argumentativ rechtfertigen. Alltägliche Anwendung kann nämlich nicht bedeuten,<br />

dass Tag um Tag die ökonomische Rationalität neu geschaffen, reflektiert und<br />

implementiert wird. In diesem Sinne stellt diese Analyse eine grundsätzliche, keine<br />

alltägliche Reflexion dar, deren Notwendigkeit sich aus signifikanten Veränderungen<br />

in der Umwelt des Einzelnen ergeben. Die „Signifikanz“ wurde in Kapitel I deutlich<br />

zu machen versucht.<br />

85


heblich gewandelt, auch die inhaltlichen Bestimmungen sind in lebensweltlichen<br />

und systemischen Kontexten Rationalisierungs- und Ausdifferenzierungsprozessen<br />

unterworfen. Im dialektischen Feld von Gesellschaft und<br />

Individuum, von System und Lebenswelt entstehen Wertewandel, Kolonialisierung<br />

und Individualisierung. Historische, politische und vor allem zunehmend<br />

ökonomische Bedingungen führen zu Brüchen und tiefgreifenden<br />

Eingriffen in die rationale Verfasstheit der Menschen. In der wissenschaftlichen<br />

Debatte werden je nach Perspektive unterschiedliche Phänomene in<br />

den Vordergrund gerückt und thematische Akzentuierungen beschreiben<br />

partielle Spannungsfelder. Aufgrund der Vielfalt der Beobachtungen scheint<br />

es nicht möglich, einen thematischen Schwerpunkt auszumachen, welcher<br />

querliegend die meisten Beobachtungen tangiert und somit in gewisser<br />

Weise integriert. Dies hat zur Folge, dass auch die Bezeichnung dieser Periode<br />

nicht einheitlich geschieht. Vornehmlich ist dies darauf zurückzuführen,<br />

dass in Verbindung mit den thematischen Akzentuierungen das Verhältnis<br />

von Altem zu Neuem unterschiedlich konstruiert und interpretiert wird. Ob<br />

die Postmoderne etwas Neuartiges darstellt oder letztlich nur eine modifizierte<br />

Moderne darstellt, dies soll zu Beginn geklärt werden. Danach sollen<br />

Charakteristika einer postmodernen Moderne vorgestellt werden. Dies sind<br />

vor allem die charakteristischen Prozesse zwischen den wissenschaftstheoretisch-methodischen<br />

Zusammenhangsebenen, die im Umgang mit Pluralität,<br />

Relativität und Einheit und Vielheit zum Tragen kommen. Zum Abschluss<br />

dieses Kapitels werden diese Charakteristika mit der parallel verlaufenden<br />

Vernunft-Diskussion verknüpft.<br />

5.1 Moderne, Postmoderne oder postmoderne Moderne?<br />

Aus der geschichtswissenschaftlichen Perspektive, so Schulze, beraubt sich<br />

eine Abspaltung der Postmoderne von der Moderne zumindest zweier, nicht<br />

unerheblicher Vorteile, die ein Diskurs über Vergangenheit und Zukunft zu<br />

leisten im <strong>St</strong>ande ist: 8<br />

86<br />

„Die Vergangenheit hätte eine Chance, in ihrer Komplexität und prinzipiellen<br />

Offenheit wahrgenommen zu werden, sie wäre mehr als die Vorgeschichte<br />

der industriellen Gesellschaft, der Französischen Revolution, des Dritten<br />

8 Vgl. auch zum Folgenden Schulze, W. (1990): Ende der Moderne? Zur Korrektur<br />

unseres Begriffs der Moderne aus historischer Sicht, in: Meier (1990), S. 69-97.


Reiches, der sozialen Marktwirtschaft, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung,<br />

oder anderer jeweils erreichter Zwischenstadien der Geschichte.<br />

Von einer solchen Vergangenheit könnt eine Zukunft nur profitieren. Denn sie<br />

wäre mehr als die unendliche Fortschreibung gegenwärtiger Mängel, und sie<br />

wäre weniger als die bedrohliche Extrapolation gegenwärtigen Unheils.“ 9<br />

Geschichtswissenschaftlich ist somit diese Abkehr ein notwendig mit dem<br />

Vorangegangenen verbundener Reflexionsprozess. Das Scheitern der Moderne<br />

ändert hieran nichts.<br />

„Die Geschichte der Moderne selbst in ihrer glücklichsten Phase ist auch immer<br />

die implizite Geschichte ihres Scheiterns, ja die Möglichkeit des Scheiterns<br />

ist der Kern der Moderne selbst.“ 10<br />

Jedoch wird ein Fortschreiben schwer, wenn selbst das „Ende der Geschichte“<br />

bevorzustehen scheint. 11 Dieses Ende ergibt sich aus der Gesellschaftsanalyse<br />

nach Gehlen, die beschreibt, wie die Gesellschaft<br />

„(...) nur mehr als funktionierendes System verstanden wird, als reibungslos<br />

ihren Dienst verrichtende Großmaschine, die Wirtschaft, Bürokratie und politische<br />

Entscheidungsmechanismen in sich aufnimmt und egalisiert.“ 12<br />

Dieser sich auf globale Dimensionen ausweitende „Zustand stationärer<br />

Dauer“ lässt die Geschichte und ihre Wissenschaften zu <strong>St</strong>atisten werden. 13<br />

9 Schulze (1990: 96f.).<br />

10 Schulze (1990: 96).<br />

11 So behauptet zumindest Arnold Gehlen bereits 1952 in „Über die Geburt der Freiheit<br />

aus der Entfremdung“. Das Ende der Geschichte ergibt sich deshalb, weil der Einzelne<br />

nach Sicherheit strebt und die höchste Sicherheit ist die, wenn man es schafft,<br />

„die Welt zukunftslos zu machen“ (Gehlen, A. (1963b): Über die Geburt der Freiheit<br />

aus der Entfremdung, in: ders. (1963a), <strong>St</strong>udien zur Anthropologie und Soziologie,<br />

Neuwied/Berlin, S. 232-246, hier S. 246). Dieses Sicherheitsbedürfnis des Menschen<br />

entwickelt Gehlen in Bezug auf Marx und Fichte. In der Entfremdung des Menschen<br />

von seinen Produkten, der „Überwältigung durch die eigene Tat“ und „dem Befreiungsakt,<br />

sie wieder in die Verfügung zu holen - in dieser Formel steckt etwas Mißtrauisches<br />

und Angstvolles.“ (Gehlen 1963b: 246). Dieses Misstrauen ruft das Sicherheitsbedürfnis<br />

hervor.<br />

12 Schulze (1990: 77).<br />

13 Vgl. Gehlen, A. (1974): Ende der Geschichte? Zur Lage des Menschen im Posthistoire,<br />

in: Schatz, O. (Hrsg.), Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter<br />

Denker, Graz/Wien/Köln, S. 61-76, hier S. 69ff. Wie jedoch bekannt, bestehen<br />

in diesem Punkt fundamentale Differenzen zu der Frankfurter Schule beispiels-<br />

87


Anders dagegen die historische Analyse Blumenbergs, der angesichts der<br />

Pluralität der unterschiedlichen historischen Prozesse nicht das Ende der<br />

Geschichte sieht und darüber hinaus für eine Fortführung der Moderne plädiert.<br />

14 Geschichte ist „im Modell eines aus vielen Adern gebündelten<br />

<strong>St</strong>ranges, eines Plurals von Zusammenhängen, Traditionen, Sach- und<br />

Schulgeschichten, Rezeptionen und Reaktionen“ 15 zu interpretieren. Diese so<br />

interpretierte, plurale Geschichte sieht damit keine Notwendigkeit, weder ihr<br />

Ende einzuläuten, noch einen Bruch mit der Vergangenheit durchzuführen.<br />

Die Notwendigkeit eines grundsätzlichen Umdenkens bleibt hiervon jedoch<br />

unberührt und wird in der Geschichtswissenschaft analog zu anderen Disziplinen<br />

hinreichend erkannt.<br />

So sehen die einen in den jüngsten Veränderungen etwas paradigmatisch<br />

Neues, die anderen dagegen eine konsequente Fortführung vorangegangener<br />

Entwicklungen. Auch Meier bspw. bezweifelt die Neuartigkeit der<br />

Postmoderne:<br />

88<br />

„Die sogenannte Postmoderne war zu keinem Zeitpunkt ein ernsthafter Anwärter<br />

auf die Nachfolge. Wenn sie überhaupt in einem Gegensatz zur<br />

Moderne stand – und ihre Protagonisten sind sich keineswegs einig gewesen,<br />

ob sie in einem Gegensatz zu ihr stehen wollten -, so zählte sie zu den am<br />

wenigsten bedrohlichen Gegnern, auf die die Moderne bisher traf. (...) Wenn<br />

wir in den diffusen postmodernen Theorien und Erzählungen nach verbindlichen<br />

oder wenigstens verbindenden Orientierungspunkten Ausschau halten,<br />

begegnet uns allenthalben die moderne Hochschätzung für Kreativität, Subjektivität<br />

und Relativität wieder. Mit dem Unterschied, daß die modernen<br />

Prinzipien und „Wertsetzungen“ nach ihrer postmodernen „Verwandlung“<br />

einen nunmehr derivativen Charakter haben.“ 16<br />

Nicht in gleicher, so doch in ähnlicher Weise sehen auch Klotz (1994; Zweite<br />

Moderne), Habermas (1994; Vollendung des Projekts der Moderne), Heinrichs<br />

(1984; Die katastrophale Moderne), Giddens (1999; radikalisierte Moderne) und<br />

Beck (1986; reflexive Modernisierung) keinen wirklichen Bruch, der sich ein-<br />

weise. Auch wenn es grundsätzlich um die Reflexion der Vergangenheit geht, so<br />

könnten die daraus gezogenen Schlüsse Gehlens und „eines so flachen Schriftstellers<br />

wie Herbert Marcuse“ (Gehlen 1974: 74) unterschiedlicher nicht sein.<br />

14 Vgl. Blumenberg, H. (1966): Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt.<br />

15 Blumenberg (1966: 440, zitiert nach Schulze 1990: 82).<br />

16 Meier, H. (1990b): Die Moderne begreifen – die Moderne vollenden?, in: ders. (Hrsg.),<br />

Zur Diagnose der Moderne, München, S. 7-20, hier S. 8f.


deutig identifizieren lassen und somit die Rede von einer Postmoderne rechtfertigen<br />

würde. 17 Gleichwohl, ein „geschichtlicher Zäsurbedarf des modernen<br />

Menschen“, wie ihn Odo Marquard konstatiert, bleibt allgemeiner<br />

Befund - auch bei denjenigen, die die Postmoderne als Begriff, Projekt oder<br />

Programm als nicht gerechtfertigt ansehen. 18<br />

Bei Lyotard, der sich für die Postmoderne explizit und exklusiv einsetzt,<br />

scheint dieser Zäsurbedarf zur Trennung von Moderne und Postmoderne zu<br />

führen, doch auch er sieht diese Epochen als verbunden miteinander:<br />

„Die Postmoderne situiert sich weder nach der Moderne noch gegen sie. Sie<br />

war in ihr schon eingeschlossen, nur verborgen.“ 19<br />

Dieser Sichtweise von Lyotard schließt sich auch Welsch an. Letzterer weist<br />

zudem darauf hin, dass die Postmoderne nicht für sich beanspruchen kann,<br />

etwas völlig Neues geschaffen zu haben; er deutet an, wie sich bereits bei<br />

17 Vgl. Klotz, H. (1994): Kunst im 20. Jahrhundert: Moderne - Postmoderne - zweite<br />

Moderne, München; Habermas, J. (1994): Die Moderne, ein unvollendetes Projekt:<br />

Philosophisch-politische Aufsätze, 3. Aufl., Leipzig; Heinrichs, J. (1984): Die katastrophale<br />

Moderne, Frankfurt; Giddens, A. (1999): Konsequenzen der Moderne, 3. Aufl.,<br />

Frankfurt; Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne,<br />

Frankfurt. Insbesondere die „radikalisierte Moderne“ bei Giddens (1999) zeigt viele<br />

Ähnlichkeiten zu der hier vertretenen und entwickelten Auffassung einer postmodernen<br />

Moderne. Vgl. insbesondere der Überblick bei Giddens (1999: 186), der die<br />

Postmoderne und die radikalisierte Moderne gegenüberstellt und Gemeinsamkeiten<br />

und Unterschiede aufzeigt. Die radikalisierte Moderne scheint dabei, ähnlich der<br />

postmoderne Moderne, postmoderne Elemente in den modernen Rahmen zu integrieren<br />

- nicht vereinheitlichend, sondern konstruktiv-kritisch. Vgl. hierzu auch die Äußerungen<br />

Giddens in Giddens, A./Pierson, C. (1998): Conversations with Anthony<br />

Giddens – Making Sense of Modernity, <strong>St</strong>anford.<br />

18 Vgl. Marquard, O. (1987): Temporale Positionalität. Zum geschichtlichen Zäsurbedarf<br />

des modernen Menschen, in: Herzog, R./Koselleck, R. (Hrsg.), Epochenschwelle und<br />

Epochenbewusstsein, Poetik und Hermeneutik XII, München, S. 343-352. Vgl. auch<br />

die Überlegungen bei Kirsch (1992: 470ff.), welcher sich auf Jameson beziehend die<br />

unterschiedlichen Haltungen in diesem Spannungsfeld beschreibt. Jameson stellt<br />

dazu eine Vier-Felder-Matrix auf, deren Achsen in „anti-modernistisch und promodernistisch“<br />

und in „pro-postmodernistisch und anti-postmodernistisch“ aufgeteilt<br />

sind. Damit kann er die Differenzierung leisten, dass anti-postmodernistisch<br />

nicht gleich pro-modernistisch bedeuten muss und vice versa. Die Position von<br />

Habermas ließe sich danach als anti-postmodern und pro-modern rekonstruieren;<br />

Lyotard dagegen setzt Jameson in die Pro-Position bezüglich Moderne und Postmoderne.<br />

Vgl. zum Letzteren Jameson, F. (1986a): Ideologische Positionen in der Postmodernismus-Debatte,<br />

in: Das Argument 155 (1986), S. 18-28, hier S. 24.<br />

19 Lyotard, J.-F. (1986): Le Postmoderne expliqué aux enfants, Paris, Umschlagrücken,<br />

zitiert nach Welsch, W. (1993): Unsere postmoderne Moderne, 4. Aufl., Berlin, S. 82.<br />

89


Aristoteles „postmodernes“ Gedankengut finden lässt. 20 Aufgrund dieser<br />

Feststellung konstatiert Welsch:<br />

90<br />

„Paradox wäre dies nur, wenn man – wie ignorante Kritiker dies zu tun pflegen<br />

– die Postmoderne als den neuesten Ismus verstünde, der folglich nur<br />

Allerneustes propagieren dürfte, wenn man sie also genau im <strong>St</strong>il derjenigen<br />

modernistischen Ideologie mißverstünde, der sie in Wahrheit den Abschied<br />

gibt.“ 21<br />

Postmoderne stellt sich hier als pragmatische Rekonstruktion der späten<br />

Moderne dar. Diese „Moderne des 20. Jahrhunderts (...) bedeutete ihrerseits<br />

einen Bruch mit der Moderne im Sinn der Neuzeit“ und stellt nach Welsch<br />

eine „Radikalmoderne“ dar. 22 Somit schafft Welsch eine Differenzierung der<br />

Moderne innerhalb ihrer selbst und lässt den Postmoderne-Begriff an die<br />

„zweite Version“ anknüpfen. Diese späte Moderne bereitet die Postmoderne<br />

durch ihre „Gegenmotive“ vor, differenziert sich aber von ihr in den zentralen<br />

neuzeitlichen Punkten: dem „Einheitszwang“ und dem „Ausschließlich-<br />

keitspathos“. 23<br />

Hinter dieser begrifflichen Diskussion stehen die Inhalte von Moderne und<br />

Postmoderne. 24 Um einen Überblick über die inhaltlichen Unterschiede zwischen<br />

Moderne und Postmoderne zu erlangen, wird hier die Darstellung bei<br />

Bretz wiedergegeben, die die Differenzen kategorisiert: 25<br />

20 Welsch sieht in der aristotelischen phronesis und auch in der These der Mannigfaltigkeit<br />

des Seins Parallelen zu Charakteristika in der Postmoderne-Debatte. Vgl. hierzu<br />

Welsch (1993: 82).<br />

21 Welsch (1993: 82f.).<br />

22 Welsch (1993: 84).<br />

23 Ebenda.<br />

24 Bernstein schlägt vor, in der Diskussion von den Begriffen zu den Inhalten zu gehen,<br />

wenn diese, die Begriffe nämlich, mehr verschleiern als klären können, wenn sie mehr<br />

Fronten als Austausch schaffen: „My own conviction is that we have reached a stage<br />

of discussion where these labels [„modern“ and „postmodern“; T.B.] (and their<br />

cognates) obscure more than they clarify - that it is better to drop these terms from<br />

our „vocabularies“, and to try to sort out the relevant issues without reifying these<br />

labels.“ (Bernstein, R.J. (1991): The New Constellation. The Ethical-Political Horizons<br />

of Modernity/Postmodernity, Cambridge, S. 200).<br />

25 Vgl. zur Abbildung Bretz, H. (1988): Unternehmertum und Fortschrittsfähige Organisation.<br />

Wege zu einer betriebswirtschaftlichen Avantgarde, München, S. 153.


Telos der<br />

Evolution<br />

Komplexitätshandhabungsstrategie<br />

Weltzugang<br />

Telos der<br />

Sprache<br />

Gesellschaftliche<br />

Konsequenzen<br />

MODERNE<br />

KONVERGENZ<br />

• Einheitlichkeit: Synthese unter das Allgemeine<br />

• Universalismus: globale Wahrheiten<br />

• Kontinuität: Sicherheit und Weltbeherrschung<br />

DICHOTOMIE<br />

• Zweiteilige Logik: Entweder - Oder<br />

• Festlegen: Kategorisierung von Informationen<br />

• Bändigung der Komplexität<br />

VORHERRSCHAFT DER WISSENSCHAFT<br />

• Rationalität als absolutes Maß aller Dinge<br />

• Unterordnung unter Gesetze und Logizismen<br />

• Legitimation durch übergeordnete Utopien<br />

KONSENS UND INTERSUBJEKTIVITÄT<br />

• Universale Sprachkompetenz<br />

• Grammatik: allgemein akzeptierte Regeln<br />

• Konformität: Einhaltung von Regeln<br />

ELITEKULTUR<br />

• Ausdifferenzierung von spezialisierten<br />

Subsystemen<br />

• Esoterik: Intellektuellenhegemonie<br />

Abb.2: Modernismus und Postmodernismus (aus Bretz 1988, S. 153)<br />

POSTMODERNE<br />

PROLIFERATION<br />

• Einzigartigkeit: Pluralität von Lebensformen<br />

• Relativismus: lokale Wahrheiten<br />

• Diskontinuität: Eröffnung neuer Welten<br />

PARADOXIE<br />

• Mehrwertige Logik: Sowohl als Auch<br />

• Offenlassen: Aufspannen unendlicher Informationen<br />

• Entfesselung der Komplexität<br />

REHABILITIERUNG DES MYTHOS<br />

• Vielfältige Weisen der Welterzeugung<br />

• Eigenwert von Ästhetik und Imagination<br />

• Narratives Wissen legitimiert sich selbst<br />

PARALOGIE: AGNOSTIK DER SPRECHAKTE<br />

• Inkommensurabilität der Sprachspiele<br />

• Heteronomie: Regeln entstehen aus dem Spiel<br />

• Verfremdung: Suche nach neuen Spielzügen<br />

MASSENKULTUR<br />

• Öffnung und Interpenetration von Subsystemen<br />

• Esoterik: Demokratisierung von Wissenschaft/ Kultur<br />

Das Schaubild von Bretz kann verdeutlichen, inwieweit Moderne und Postmoderne<br />

durchgängig different sind, in ihrer Dialektik aber verbunden bleiben.<br />

Wenn Bretz, sich auf Lyotard beziehend, ausführt, dass der postmoderne<br />

<strong>St</strong>immungswandel als ein Bewusstseinswandel zu fassen sei,<br />

„(...) der an die moderne Bestimmung des Gerechten, Wahren und Wirklichen<br />

nicht mehr glaubt und sich auf der Suche nach neuen Legitimationsgrundlagen<br />

in Wittgensteins später Sprachphilosophie und Kants Ästhetik des Erhabenen<br />

wiederfindet“ 26 ,<br />

dann ist dies nur eine Seite des postmodernen Programms. 27 Mittlerweile hat<br />

sich die Postmoderne weiterentwickelt: Es werden im Folgenden, jenseits<br />

von Sprachphilosophie28 und Ästhetik, Dimensionen des postmodernen Pro-<br />

26 Bretz (1988: 149).<br />

27 Vgl. Lyotard, J.-F. (1987): Der Widerstreit, München, S. 12 und Dubost, J.-P. (1987):<br />

L’àme, or ... Montaigne, Marx, Proust, in: Kamper, D./Reijen, W.v. (Hrsg.), Die unvollendete<br />

Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt, S. 514-535, hier S. 514f.<br />

28 Da sich die Postmoderne zu einem großen Teil aus der sprachphilosophischen Deutung<br />

nährt, sei an dieser <strong>St</strong>elle nochmals darauf hingewiesen, dass diese Dimension<br />

der Postmoderne, die sich beispielsweise in der Narration ausdrückt, in dieser Argumentation<br />

keine explizite Auseinandersetzung erfahren wird. Dies lässt sich auf die<br />

methodologische Grundentscheidung zurückführen, die dieser ganzen Arbeit zu-<br />

91


gramms beleuchtet werden, die ihrerseits, jenseits von Programm, in konstruktive<br />

Weiterentwicklungsprozesse treten und sich mit der Redefinition<br />

moderner Bestimmungen beschäftigen. Wie aufgezeigt, entscheidet sich auch<br />

Wolfgang Welsch dafür, Moderne und Postmoderne miteinander statt gegeneinander<br />

zu denken. Dabei ist die Moderne der Postmoderne immanent.<br />

Der Begriff der postmodernen Moderne macht dies deutlich. 29 Hinsichtlich der<br />

inhaltlichen Vielfalt, die auch der Interpretationsansatz von Welsch aufzeigt,<br />

werden im Folgenden charakteristische Merkmale herausgearbeitet. Es wird<br />

deutlich, dass hier der Welsch’schen Interpretation gefolgt wird.<br />

5.2 Die konstitutive Rolle des Entdeckungs- und Verwendungszusammenhangs<br />

in der postmodernen Moderne30 Im Folgenden soll es um die Frage gehen, ob die Postmoderne ihr Differenzierungspotential<br />

zur Moderne durch ihren spezifischen Bezug zum Entdeckungs-<br />

und Verwendungszusammenhang gewinnt. Dies lässt sich an den<br />

wesentlichen postmodernen Bestimmungen Pluralität und Relativität beschreiben<br />

und darstellen. Dabei wird deutlich werden, dass Pluralität und<br />

Relativität komplementär den postmodern-modernen Charakter prägen.<br />

In der naturwissenschaftlichen Forschung war spätestens mit Einsteins Relativitätstheorie<br />

(1905), Heisenbergs Unschärferelation (1927) und Gödels Unvollständigkeitssatz<br />

(1931) die mathesis universalis, die seit Descartes „Hoff-<br />

grundeliegt. Der hier verfolgte Fokus auf die rationalen Bedingungen jeglichen „Verhaltens“<br />

bleibt quasi auf der Vorstufe der konkreten Umsetzung (bspw. Diskurs) stehen.<br />

Die sprachphilosophische Deutung der Postmoderne bleibt jedoch konstitutiv<br />

für diesen Kontext, jedoch eher in dem Sinne, als dass die inhaltlichen Konsequenzen<br />

in die Gesamtanalyse einfließen.<br />

29 Vgl. Welsch (1993; 1. Aufl. 1987). Welsch beschreibt das Verhältnis wie folgt: „Unsere<br />

postmoderne Moderne besagt nicht nur, daß die Postmoderne die heutige Form der<br />

Moderne ist, sondern kann dies nur behaupten, weil Postmodernes als Einlösungsform<br />

von Modernem zu begreifen ist.“ (Welsch 1993: 185; Hervorhebungen im Original).<br />

Diese Position wird im Folgenden in ihrer Argumentation nachzuzeichnen sein.<br />

30 Die „Zusammenhänge“ bestehen in diesem Argumentationskontext aus dem wissenschaftstheoretischen<br />

Entdeckungs-, Begründungs- und Verwendungszusammenhang.<br />

Vgl. hierzu grundlegend Popper, K.R. (1973): Logik der Forschung (1934), 5. Aufl.,<br />

Tübingen; Reichenbach, H. (1983): Erfahrung und Prognose. Eine Analyse der Grundlagen<br />

und der <strong>St</strong>ruktur der Erkenntnis (1938), in: ders. (1983), Gesammelte Werke in 9<br />

Bänden, Bd. 4, Braunschweig/Wiesbaden. Es wird in der hier entwickelten Argumentation<br />

deutlich werden, inwieweit von den traditionellen Positionen abgewichen<br />

wird.<br />

92


nungsträger“ für des Menschen Zugang zu Wahrheit, zum Ganzen war,<br />

grundlegend erschüttert worden, was sich auch auf die Geisteswissenschaften<br />

übertrug. 31 Absolutheit ist nicht länger mehr ein von den Menschen Erfahrbares<br />

und damit auch Beweisbares, sondern erodiert zu einer Ahnung,<br />

ist „nur noch eine Idee“ 32. Unterstützt durch diese grundsätzliche Wende in<br />

der szientifischen Rationalität, gewinnen Relativität und Pluralität nicht nur<br />

im Inneren, in der wissenschaftlichen Überzeugung, sondern auch in der<br />

Methode, in der wissenschaftlichen Vorgehensweise an Boden. Dieser<br />

„Reputationsgewinn“ lässt sich nach Welsch in unterschiedliche Phasen einteilen:<br />

„Die Postmoderne konvergiert mit Basistheoremen der wissenschaftlichen<br />

Moderne dieses Jahrhunderts. Wie Pluralität, Diskontinuität, Antagonismus<br />

und Partikularität in den Kern des Wissenschaftsbewußtseins eingedrungen<br />

sind, so bilden sie heute Grundkategorien der postmodernen Weltsicht. Der<br />

Abschied von Monopolismus, Totalität, Ausschließlichkeit prägte die erste<br />

Phase, der Übergang zu den „paradoxen“ Kehrseiten und neuen Phänomenen<br />

die zweite, eine dritte kann man durch die neuere Wissenschaftstheorie markiert<br />

sehen.“ 33<br />

In der für Erkenntnisse auf der Begründungsebene konstitutiven Rolle des<br />

Entdeckungsammenhangs kommt ein postmodernes Spezifikum zum Vorschein,<br />

insbesondere dann, wenn man sich die spätmoderne Einsicht vor<br />

Augen hält: „alle Erkenntnis ist limitativ“ 34. Aus dieser Einsicht heraus präsentiert<br />

sich die Postmoderne auf Ebene des Entdeckungszusammenhangs in<br />

der Tendenz offen, unbedingt und voraussetzungsfrei - theoretisch bis zum<br />

Punkt der Selbstauflösung. 35 Sie hat, nicht zuletzt durch die Erkenntnisse in<br />

der Physik, erkannt, dass spezifische Erwartungen in Form von Wahrnehmungsbedingungen<br />

zu Verzerrungen auf Ebene des Entdeckungszusammenhangs<br />

führen. Der Satz der Moderne: Es ist nicht, was nicht sein kann!<br />

wird diametral abgelöst durch: Es kann sein, was (eigentlich) nicht sein kann!<br />

31 Vgl. hierzu Welsch (1993: 185ff.). Zur mathesis universalis und der Interpretation der<br />

Rolle von Descartes vgl. Welsch (1993: 66ff.).<br />

32 Welsch (1993: 187).<br />

33 Welsch (1993: 188).<br />

34 Welsch (1993: 186).<br />

35 Die „Tendenz“ meint die Dynamik hin auf eine Offenheit, die permanent präsent ist<br />

und vorangetrieben wird. Offenheit kann nie absolut als gegeben vorausgesetzt werden,<br />

nur ihre asymptotische Annäherung.<br />

93


Dieses „Risiko“ der Postmoderne, sich einzulassen auf das, was „wirklich“<br />

(die vom Menschen und seiner Betrachtung unabhängige Realität) ist,<br />

charakterisiert die spezifisch postmoderne Herangehensweise, die offen ist<br />

für neue, eben auch paradoxe Phänomene,, die sie nicht ignoriert, sondern<br />

sich auf sie einlässt.<br />

Dies setzt sich auf den anderen Ebenen fort; sie führen zu materialen Veränderungen<br />

im Kern des Begründungszusammenhangs. Diese beispielsweise<br />

paradoxen Phänomene auf Ebene des Entdeckungszusammenhangs tragen<br />

die Codierung der Limitation in sich - sie sind immer nur vorläufig und nicht<br />

absolut. Diese „Meta-Codierung Limitation“ würde bei einem modernen<br />

Kern dazu führen, dass den Erkenntnissen kein Begründungsstatus zuerkannt<br />

wird, sie somit keine konstitutive Rolle spielen (können). Die Postmoderne<br />

hingegen lässt zu, dass diese „Meta-Codierung“ der Limitation im<br />

Kern aufgenommen wird und damit zu paradigmatischen Veränderungen<br />

auf der Begründungsebene führt. Die Begründungsebene entwickelt sich<br />

nicht nur dergestalt, dass sie diese Inhalte, Gegenstände und Phänomene,<br />

abzubilden in der Lage ist, sondern sie legitimiert sie und unterstützt deren<br />

Umsetzung auf Ebene des Verwendungszusammenhangs. Relativität wird<br />

zum konstitutiven Merkmal der Begründung, Pluralität zum konstitutiven<br />

Befund der Wirklichkeit.<br />

Diese Integration des Relativitätsgedankens auf Ebene der Begründung bedeutet<br />

in einem weiteren Schritt, dass sich die Postmoderne selbst in diese<br />

Relativität mit einschließen muss. Wenn also nun beispielsweise die postmoderne<br />

Moderne gegen die Postmoderne antritt, so ist ein Nebeneinander<br />

theoretisch möglich und vorstellbar. So erzeugt auch hier die Relativität auf<br />

Ebene der Verwendung eine Pluralität, die unterschiedliche Geltungsansprüche<br />

komplementär zueinander rekonstruiert. Pluralität ist damit logische<br />

Konsequenz einer aus dem Entdeckungszusammenhang entstehenden<br />

Relativität.<br />

Durch die hier angedeutete Verbindung von Relativität und Pluralität kann<br />

aufgezeigt werden, inwieweit zusätzlich zum Entdeckungszusammenhang<br />

die „andere“ Seite, der Verwendungszusammenhang in die Interaktion der<br />

Zusammenhänge tritt. Die „Erfahrung“, die mit den Inhalten auf Ebene des<br />

Verwendungszusammenhangs gemacht wird, führt zu erneuter kritischer<br />

Reflexion der Begründungsebene und in einem weiteren Schritt zur Reflexion<br />

der Annahmen und Methoden auf Ebene des Entdeckungszusammen-<br />

94


hangs. Die postmoderne Moderne, indem sie den Entdeckungs- und Verwendungszusammenhang<br />

in die Konstruktion der inneren Konstitution aufnimmt,<br />

erarbeitet sich eine „doppelte praktische Absicherung“, eine doppelte<br />

Evaluierung der Theorie. In dieser Durchlässigkeit der verschiedenen<br />

Zusammenhänge, der unterschiedlichen Ebenen der wissenschaftlichen Reflexion<br />

und Konstruktion, ist eine interne Reziprozität etabliert, die den wissenschaftlichen<br />

Vollzug der postmodernen Moderne treffend charakterisiert.<br />

Parallel dazu zeichnet sich eine Verschiebung von den klassischen Inhalten<br />

und deren Charakter zu Inhalten ab, die einen direkten Bezug zum Vollzug<br />

aufweisen und in diesen eingebunden sind. In diesem Sinne lässt sich auch<br />

eine Differenz der Inhalte von Moderne und Postmoderne identifizieren, die<br />

in dem postmodernen Reziprozitätscharakter zum Ausdruck kommt.<br />

Dies lässt sich auch beispielhaft verdeutlichen an den Befunden der Inkommensurabilität<br />

und Diskontinuität.<br />

5.2.1 Inkommensurabilität<br />

Bernstein hebt in seiner Diskussion zur Postmoderne die Inkommensurabilität<br />

und die Andersartigkeit (des Anderen) hervor. Bei ihm wird deutlich,<br />

dass eine Differenz zwischen dem „rein“ pluralen Befund und dem sprachphilosophischen<br />

Befund besteht. Inkommensurabilität diskutiert Bernstein<br />

am Gegenstand des sprachlichen Vollzuges. In dieser „Vollzugsorientierung“<br />

kommt er zu einer Sicht von Inkommensurabilität, die nicht, wie oft<br />

fehlinterpretiert, Unvergleichbarkeit meint: 36<br />

36 Auch Lueken stellt heraus, dass Inkommensurabilität in Bezug auf Kuhn (insbesondere<br />

1979) und Feyerabend (insbesondere 1976 und 1978) nicht Unvergleichbarkeit,<br />

sondern eher „radikale Verschiedenheit konkurrierender Orientierungssysteme“ (Lueken<br />

1992: 29; Hervorhebungen im Original) meint. Kuhn weist dieses Missverständnis<br />

zurück (Kuhn 1976: 191) und auch Feyerabends „deduktives Getrenntsein“ (Lueken<br />

1992: 27; Hervorhebungen im Original) bezieht sich nicht auf die Unvergleichbarkeit,<br />

sondern eher auf die Unmöglichkeit der gleichzeitigen Verwendung unterschiedlicher<br />

Theorien. „Unter Inkommensurabilität ist also nicht bloße Verschiedenheit in<br />

irgendwelchen Hinsichten zu verstehen, sondern eine grundlegende Verschiedenheit,<br />

die zur Unmöglichkeit führt, die Theorien oder Paradigmata in eine Beziehung zu<br />

setzen, die einen kontinuierlichen Übergang oder eine neutrale, unparteiische Entscheidung<br />

zwischen ihnen erlaubt.“ (Lueken 1992: 30). Vgl. Lueken, G.-L. (1992):<br />

Inkommensurabilität als Problem rationalen Argumentierens, <strong>St</strong>uttgart; Kuhn, Th.S.<br />

(1976): Theory-change as <strong>St</strong>ructure-change: Comments on the Sneed Formalism, in:<br />

Erkenntnis 10, S. 179-199; Kuhn, Th.S. (1979): Die <strong>St</strong>ruktur wissenschaftlicher Revolutionen,<br />

2., revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Aufl., Frankfurt;<br />

Feyerabend, P.K. (1976): Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchischen<br />

Erkenntnistheorie, Frankfurt; Feyerabend, P.K. (1978): Der wissenschaftstheoretische<br />

95


96<br />

„The concept of incomennsurability is not to be confused with, or reduced to<br />

logical incompatibility or incomparability. Incommensurable languages can be<br />

compared and rationally evaluated in multiple ways. Practically, such comparison<br />

and evaluation requires the cultivation of hermeneutical sensitivity and<br />

imagination.“ 37<br />

Während also der rein plurale Befund sich streng auf deskriptiver Ebene bewegt,<br />

ist der Inkommensurabilitätsbefund bereits zumindest ausgerichtet auf<br />

die Handhabung, ausgerichtet auf jeglichen Vollzug in diesem pluralen Feld.<br />

Die Deskription lässt in gewissem Maße einen höheren Grad an Radikalität<br />

zu, die Ausgerichtetheit auf den Vollzug fordert einen gemäßigten Voluntarismus.<br />

Diese Akzentverschiebung von pluralem Nebeneinander zu einer<br />

wie auch immer gehandhabten heterogenen <strong>St</strong>ruktur stellt eine methodische<br />

Konsequenz dar, von der bereits oben gesprochen wurde. Diese Konsequenz<br />

ergibt sich aus den Reflexionsprozessen, die zwischen Entdeckungs-,<br />

Begründungs- und Verwendungszusammenhang stattfinden. Pluralität als<br />

solche zu erkennen (Entdeckungszusammenhang) und zu begründen (Begründungszusammenhang)<br />

ist zunächst einmal nicht schwer. Doch diese<br />

Pluralität auch auf Ebene des Verwendungszusammenhangs zu etablieren,<br />

das stellt sich als außerordentliche Herausforderung dar, da eine inkommensurable<br />

fraktale <strong>St</strong>ruktur keinen Raum für Koordination, Kooperation oder<br />

Integration lässt. Operationalisierung und konstruktive Konzeptionen sind<br />

zum Scheitern verurteilt. In dieser Situation wird ein Rückkoppelungsprozess<br />

angestoßen, der auf Ebene der Begründung kritische Reflexionsprozesse<br />

um alternative Wege der Interpretation und Rekonstruktion der Inhalte und<br />

Gegenstände initiiert.<br />

Dieser Umgang mit Inkommensurabilität zeigt die Durchlässigkeit der Zusammenhänge<br />

und damit das zentrale Charakteristikum der postmodernen<br />

Moderne deutlich. Auch in der Betrachtung der (post)strukturalistischen<br />

<strong>St</strong>römungen der Postmoderne lassen sich bezüglich des Befundes „Diskontinuität“<br />

Aussagen ableiten, die geeignet sind, die Verbindung zwischen den<br />

Zusammenhängen zu belegen.<br />

Realismus und die Autorität der Wissenschaften. Ausgewählte Schriften, Band 1,<br />

Braunschweig.<br />

37 Bernstein (1991: 65; Hervorhebung im Original).


5.2.2 Diskontinuitäten<br />

Michael Foucault hat in seinem 1966 erschienenen Buch „Les mots et les choses“<br />

(der deutsche Titel ist eher Interpretation als Übersetzung: „Die Ordnung<br />

der Dinge. 38 Eine Archäologie der Humanwissenschaften“) über die<br />

Typik des Wissens und dessen Wandel geschrieben. Er kann aufzeigen, dass<br />

sich die Typik seit dem 16. Jahrhundert (mindestens) zweimal gewandelt hat,<br />

„(...) und zwar so, daß die neue nicht aus der vorausgegangenen ableitbar ist.<br />

Man hat es mit radikaler Diskontinuität zu tun.“ 39<br />

Diskontinuität wurde somit zur Grundthese der Wissenschaftsentwicklung.<br />

Es hat sich in der folgenden Forschung vor allem in Frankreich gezeigt, dass<br />

diese These vielfach und unterschiedlich aufgenommen wurde. 40 Das methodische<br />

Vorgehen Foucaults in seinem oben genannten Werk zeigt darüber<br />

hinaus auf, wie die radikale Diskontinuität in der Postmoderne bzw. postmodernen<br />

Moderne zu einer Dialektik und damit nicht zu völliger Trennung<br />

mutiert. Das bedeutet für den Kontext der unterschiedlichen Zusammenhänge:<br />

Die Identifikation von radikaler Diskontinuität war zum einen nur in<br />

der Postmoderne möglich, da ihr Abbildungsraum dieses darzustellen in der<br />

Lage war, zum anderen zeigt die Rekonstruktion dieser Diskontinuität zu<br />

Dialektik auf, inwieweit diese ursprünglich postmoderne Identifikation im<br />

Laufe der Reflexionsprozesse in der postmodernen Moderne aus der Fraktale<br />

in eine Verknüpfung transformiert wird.<br />

Foucault weist nämlich zu Beginn in streng strukturalistischer Weise nach,<br />

dass „die verschiedenen Wissensgebiete und Wissensarten einer Epoche nur<br />

oberflächlich different erscheinen“ 41, um darauf diese These zu widerlegen<br />

38 Welsch verweist darauf, dass Foucault durch Gaston Bachelard inspiriert war, der<br />

bereits 1934 in seinem Werk „Le Nouvel Esprit scientifique“ die Diskontinuität in der<br />

Wissenschaftsentwicklung identifizierte. Vgl. Welsch (1993: 140; Fußnote 15).<br />

39 Welsch (1993: 139).<br />

40 Vgl. insbesondere die Arbeiten von Gilles Deleuze (1968), Jacques Derrida (1972),<br />

Jean-Francois Lyotard (1984), die alle maßgeblich die strukturelle Bestimmung der<br />

Diskontinuität aufnahmen, was jedoch an dieser <strong>St</strong>elle nicht weiter ausgeführt werden<br />

kann. Nur die Arbeiten von Deleuze werden im Folgenden nochmals explizit<br />

aufgenommen, da sie die Grundtendenz einer postmodernen Moderne - nach hier<br />

vertretener Meinung - am ehesten abbilden können und damit zu verdeutlichen helfen.<br />

Vgl. Deleuze, G. (1968): Différence et répétition, Paris; Derrida, J. (1972): Marges<br />

de la philosophie, Paris; Lyotard, J.-F. (1984): Tombeau de L’intellectuel et autres<br />

papiers, Paris.<br />

41 Welsch (1993: 140).<br />

97


und vielfältig zu konterkarieren und die „archäologische Diskontinuität und<br />

Heterogenität der episteme-Blöcke“ 42 festzustellen. Der Poststrukturalismus<br />

wird aus dem <strong>St</strong>rukturalismus gewonnen, aus der Dialektik zu ihm. Ohne<br />

diese Gegenüberstellung kann sich der Poststrukturalismus nur ungenügend<br />

profilieren. Totale Differenz und Abhängigkeit bedingen einander im Prozess der<br />

Konstituierung. So ist auch die Postmoderne nur in, durch und mit der<br />

Moderne zu denken, dies auch bzw. gerade dann, wenn sie sich ihr diametral<br />

gegenüberstellt. Welsch scheint dies, wenn auch nur indirekt, anzudeuten:<br />

98<br />

„Denn der Poststrukturalismus ist eben diejenige <strong>St</strong>römung, die durch den<br />

Gedanken unaufhebbarer Differenz vom <strong>St</strong>rukturalismus – der jede Differenz<br />

auf Einheit hin überschreiten zu können glaubt – sich absetzt. (...) Daher ist<br />

dieser Punkt der Differenz so eminent sensibel, daher war in Foucaults Buch<br />

eine gewaltige Spannung angelegt.“ 43<br />

5.2.3 Zusammenfassung<br />

Damit lässt sich zusammenfassen: Pluralität und Relativität setzen auf den<br />

verschiedenen Ebenen der Zusammenhänge ihre Akzente. Während die Pluralität<br />

ihren Schwerpunkt im Entdeckungszusammenhang findet und von<br />

dort aus auch den Verwendungszusammenhang in seinen Methoden mitbestimmt,<br />

so setzt die Relativität am Begründungszusammenhang an und<br />

wirkt von dort aus auch auf den Verwendungszusammenhang, indem sie<br />

die dort vermittelten und operationalisierten Inhalte immer unter dem Relativitätsvorbehalt<br />

stellt, damit keinen Absolutheitsanspruch artikuliert.<br />

Insbesondere interessieren die methodischen Konsequenzen, welche sich<br />

durch den Fokus Pluralität, Pluralitätsbejahung und Relativität nachhaltig<br />

etablieren. Wenn hier von einem spezifischen Bezug zum Verwendungszusammenhang<br />

gesprochen wird, dann ist damit der Umgang mit den aus dem<br />

Entdeckungszusammenhang gewonnenen und im Begründungszusammenhang<br />

reflektierten Inhalten gemeint. Die Postmoderne, so das hier vertretene<br />

Verständnis, fokussiert im Besonderen auf die Art und Weise, wie mit Pluralität<br />

oder Relativität in der Praxis umgegangen wird. Es ließe sich somit sagen,<br />

dass die Inhalte der Postmoderne einen immanenten Bezug zum Prozessualen<br />

aufweisen, zum Prozessualen dieses Umgangs. Diese Verbindung<br />

42 Welsch (1993: 141).<br />

43 Ebenda.


von Inhalt und Vollzugsweise ist gegenüber der Moderne – neben der Relativierung<br />

- nach Ansicht des Autors das Neuartige der Postmoderne. 44<br />

Welsch scheint gerade auf diesen Sachverhalt hinzudeuten:<br />

„Die Postmoderne realisiert in der Breite der Wirklichkeit (exoterisch), was<br />

modern zunächst nur spezialistisch (esoterisch) erprobt wurde. Sie ist die<br />

exoterische Alltagsform der einst esoterischen Moderne. Die einschneidende<br />

Pluralität, wie die Postmoderne sie erkennt und vertritt, war als Möglichkeit<br />

sogar schon vor der Moderne entdeckt, kam aber nicht zum Tragen. Es ist bezeichnend,<br />

daß auf einen Kant, der inmitten der Neuzeit die Differenzierung<br />

von Rationalitätstypen schon sehr weit vorangetrieben hatte, die Einheitsprogramme<br />

des Idealismus folgten. Die Moderne des 20. Jahrhunderts hat dann<br />

Finitismus, Heterogenität und Pluralität zunehmend erkannt, aber doch nur<br />

sporadisch zu realisieren vermocht. Erst die Postmoderne macht sich an die<br />

breite Verwirklichung dieses neuen Sinnkonzepts.“ 45<br />

Diese Verbindung führt auf der einen Seite dazu, dass die behandelten<br />

Inhalte (bspw. Pluralität) auf Ebene des Verwendungszusammenhangs die<br />

Art und Weise der Vermittlung, der Umsetzung, mitprägen (bspw. herrschaftsfreier<br />

Diskurs) und führt auf der anderen Seite dazu, dass die Parameter<br />

der Umsetzung, die hier gemachten Erfahrungen und Praktiken, wiederum<br />

die Inhalte modifizieren (Wie ist Pluralität und Handhabung gleichzeitig<br />

zu denken? Heterogenität und Konnexion?). Das bedeutet, dass Inhalt<br />

zum Programm wird, Prozess dagegen zu konstitutivem Inhalt. 46 Die Grenzen<br />

traditioneller Konstitution erodieren.<br />

44 Es würde jedoch zu kurz greifen, Postmoderne stellvertretend für „Umsetzung von<br />

Inhalten“ an sich zu setzen und die Moderne im Gegenzug als frei von der Reflexion<br />

über ihre (moderne) Umsetzung, den modernen Vollzug zu rekonstruieren. Obwohl<br />

sich diese Sichtweise aufdrängen mag, so ist dabei die Gefahr einer vorschnellen<br />

„methodischen Sezierung“ groß. Postmoderne steht nicht ausschließlich für Umsetzung,<br />

so wenig wie Moderne alleinig für substantialistische Inhalte steht. Das würde<br />

der Moderne nicht gerecht, ebensowenig wie der Postmoderne. Letztere wäre festgelegt<br />

auf eine Betrachtung alleinig von Prozessen und damit von Substanz distanziert,<br />

doch stellt sie gerade mit Pluralität und Relativität auch die Substanz der Moderne in<br />

Frage. Damit lässt sich keine qualitative Differenz zwischen Moderne und Postmoderne<br />

ableiten. Dies würde nämlich eine latente Inkommensurabilität implizieren,<br />

welcher hier nicht gefolgt werden soll.<br />

45 Welsch (1993: 83; Fußnoten weggelassen).<br />

46 Diese Auffassung drückt sich in der Verwendung des Begriffs „Programm“ in Bezug<br />

auf die Postmoderne aus. Wie gezeigt, verwendet Habermas den Begriff „Projekt“ in<br />

Bezug auf die Moderne. Ein Austausch dieser Begriffspaare würde sich gegen deren<br />

inhaltliches Selbstverständnis stellen.<br />

99


Im Vergleich mit der Postmoderne konstituiert sich die postmoderne<br />

Moderne also eher als „Reflexionsgebot“, welches in der Aufnahme und<br />

Akzeptanz von pluraler Vielfalt konstruktive Ansätze konzipiert, ohne aber<br />

eine Art „Auflösungslizenz“ zu artikulieren. 47<br />

Weiterführende Frage bleibt, wie der postmodern-moderne Begründungszusammenhang<br />

in seiner inneren <strong>St</strong>urktur, seiner „Kernstruktur“ aussehen<br />

kann, um auf der einen Seite die Parameter Pluralität und Relativität aufzunehmen<br />

und auf der anderen Seite den spezifisch-konstitutiven Rollen der<br />

Zusammenhänge Rechnung zu tragen.<br />

5.3 Der postmodern-moderne Begründungszusammenhang - Einheit<br />

und Vielheit vs. Heterogenität und Konnexion<br />

Im Folgenden wird es nun darum gehen, eine Darstellung der <strong>St</strong>ruktur des<br />

postmodern-modernen Begründungszusammenhangs zu skizzieren.<br />

Ein struktureller Ansatz, der es vermag, Differenz und Diskontinuität schlüssig<br />

darzustellen ist der Ansatz Heterogenität und Konnexion von Deleuze und<br />

Guattari, welcher als Nachfolger der (post)modernen Leitdifferenz Einheit/<br />

Vielheit gelten kann. 48 Was bei Lyotard zu einem unauflösbaren „Widerstreit“<br />

führt49, kann bei Deleuze und Guattari durch die Generierung von Übergängen<br />

zwischen Heterogenitäten aufgelöst werden. Diese Neustrukturierung<br />

moderner Bestimmungen stellt die postmodern-moderne Kernstruktur<br />

dar und liegt der hier entwickelten Argumentation als neuartiges <strong>St</strong>rukturparadigma<br />

zu Grunde. 50 In der postmodernen Moderne stellt sich eine<br />

Situation dar, welche durch viele partielle Teil-Einheiten gekennzeichnet ist,<br />

deren Zusammenfassung die Existenz einer wie auch immer gearteten<br />

Vielheit darstellt. Im Gegensatz zur metaphysischen Metaphorik der Pfahlwurzel,<br />

die die Vielheit im Schoße einer Einheit definiert, und der Metaphorik<br />

der Moderne, die in der büscheligen Wurzel viele autonome<br />

Ursprünge sieht, aber trotz objektiver Pluralisierung eine subjektive Vereinheitlichung<br />

vollzieht, konstruiert die Aktualität die Einheit als Teil der Viel-<br />

47 Welsch (1993: 81).<br />

48 Vgl. Deleuze, G./Guattari, F. (1977): Rhizom, Berlin. Vgl. auch die Rezeption bei<br />

Kirsch (1992: 433ff.).<br />

49 Vgl. Lyotard, J.-F. (1983): Le Différend, Paris; Lyotard (1989).<br />

50 Die Ausführungen in diesem Kapitel stützen sich im Wesentlichen auf Welsch, W.<br />

(1996): Vernunft – die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen<br />

Vernunft, Frankfurt, S. 355ff.<br />

100


heit und beschreibt ihr Konstrukt mit der Metapher des Rhizoms. Dieses<br />

kann in seiner strukturellen Ausprägung am ehesten mit einer Netzstruktur<br />

verglichen werden: Jeder beliebige Punkt kann mit jedem anderen verbunden<br />

werden. Diese allumfassende, aber nicht vereinheitlichende Konnexion<br />

tritt mit dem Begriff der Heterogenität an die <strong>St</strong>elle des Begriffspaares Einheit<br />

- Vielheit.<br />

Deleuze und Guattari haben diese Transformation der Begrifflichkeiten<br />

initiiert und lösen damit die Perspektive der Moderne, die auf absolute<br />

Differenz zielte, ab. Sie vertreten die Konstruktion der ausdifferenzierten<br />

Linien der Entwicklung, die in Koexistenz zu transversalen Verknüpfungen<br />

stehen. Einheit wird als Element der Vielheit rekonstruiert, weil eine alles<br />

umfassende Einheit die Vielheit in ihrem pluralen Charakter ignoriert. Vielheit<br />

kann nicht durch Einheit eliminiert werden; sie ist unabhängig davon<br />

existent. Jede diesem Sachverhalt gegenüber hervorgebrachte Ignoranz führt<br />

unweigerlich zu einer den Anforderungen gegenüber inadäquaten Handhabungskonfiguration,<br />

so die Kritik der Postmoderne an der Moderne. Die<br />

Moderne promovierte die Einheitsidee, die in ihrer <strong>St</strong>ruktur nicht nur einheitlich<br />

war, sondern auch vereinheitlichend wirkte. Das bedeutet, auch wenn<br />

der Entdeckungszusammenhang eine „plurale Sprache“ sprach, so war die<br />

moderne Idee in ihrer Wirkung manipulativ und verband alles zu einem<br />

einheitlichen Ganzen.<br />

Dieses Ganze war beherrscht durch eine scheinbare Homogenität, hatte jedoch<br />

in ihrer Tiefenstruktur nichts von ihrer Pluralität verloren. Hätte sich die<br />

Moderne in ihrer Homogenisierung auf Prozessparameter beschränkt, die<br />

bspw. eine Koordinierung der Pluralität ermöglichen und nicht, wie geschehen,<br />

durch die Homogenisierung an der Oberfläche auch auf die Homogenisierung<br />

in der Tiefe geschlossen, dann wäre es nicht zu diesem Spannungsfeld<br />

gekommen. Die Postmoderne bricht diesen Zirkel auf – wenn man die<br />

Kritische Theorie der Frankfurter Schule mit an den Beginn der Postmoderne<br />

stellt, dann geschieht der Bruch auf Ebene des Verwendungszusammenhangs51<br />

- und hinterfragt in der Folge die „Infrastruktur“ des internen Abbildungsapparates.<br />

51 So äußert sich Maurer, der in der Kritischen Theorie, also genauer in der Dialektik der<br />

Aufklärung durch Horkheimer und Adorno, „die erste deutlichere Gestalt postmoderner<br />

Philosophie“ zu erkennen glaubt. Vgl. Maurer, R. (1986): Moderne oder<br />

Post-Moderne? Ein Resümee, in: Koslowski, P./Spaemann, R./Löw, R. (Hrsg.),<br />

101


Auch Ludwig Wittgenstein und Nelson Goodman nehmen die hier erörterte<br />

Entwicklung einer „neuen Infrastruktur“ des strukturellen Kerns der Bestimmungen<br />

auf. 52 Wittgenstein operiert mit einer Vielheit,<br />

102<br />

„(...) die man nicht zu reiner Heterogenität stilisieren darf, sondern mit Momenten<br />

von Gemeinsamkeit zusammendenken muss - nur dass dabei nicht an<br />

ein einheitliches Wesen, sondern an Überschneidungen zu denken ist, wie<br />

Wittgenstein sie eben durch den Terminus ‘Familienähnlichkeit’ bezeichnet.“<br />

53<br />

In seinem Konzept der Sprachspiele sind solche Gegensätze strukturell miteinander<br />

verbunden und wenn „Wittgenstein dabei von einem „komplizierten<br />

Netz von Ähnlichkeiten“ spricht, „die einander übergreifen und kreuzen“,<br />

so erinnert das nicht von ungefähr an die <strong>St</strong>ruktur des Rhizoms“. 54<br />

Diese Komplementarität kann durch Goodman noch näher spezifiziert werden.<br />

55 Bei ihm emergiert die Vielheit durch die konstruktivistisch-mittelbare<br />

Wirklichkeit und der für Lebewesen unmögliche Zugriff auf selbige. Der<br />

analytischen Philosophie folgend gibt es demnach keine Wirklichkeit außerhalb<br />

von Deutungen; sie bildet die Kontingenz aller angestellten Wirklichkeitsrekurse.<br />

Diese konstruktivistischen Ansätze sollen an dieser <strong>St</strong>elle<br />

zusammenfassend als Ablehnung des Realismus und Annahme des Interpretationismus<br />

wiedergegeben werden. Entscheidend aber, und darin liegt<br />

die Spezifizierung Wittgensteins, ist Goodmans Aussage über die Charakterisierung<br />

der Einheit, welche Welsch wie folgt wiedergibt:<br />

„Die Einheit der vielen Welten bzw. Welt-Versionen ist nicht in einer sie fundierenden<br />

Ordnung begründet oder in einer sie alle übergreifenden inhaltlichen<br />

Synthese zu finden, sondern sie liegt in dem gemeinsamen Charakter<br />

aller Welt-Versionen, Symbolsysteme zu sein. Die Einheit besteht nicht vertikal,<br />

sondern horizontal, nicht material, sondern formal, nicht synthetisch, sondern<br />

konstruktiv bzw. operational. Die vielen Versionen sind zwar inhaltlich nicht<br />

Moderne oder Post-Moderne? Zur Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Weinheim,<br />

S. 277-282, hier S. 282.<br />

52 Wittgenstein, L. (1953): Philosophische Untersuchungen, Oxford; Goodman, N.<br />

(1984): Weisen der Welterzeugung, Frankfurt. Vgl. zur Darstellung der <strong>St</strong>andpunkte<br />

von Wittgenstein und Goodman Welsch (1996: 372ff.).<br />

53 Welsch (1996: 407).<br />

54 Ebenda.<br />

55 Goodman (1984).


auf eine einzige Reihe oder einen gemeinsamen Nenner zu bringen, aber<br />

formal tun sie alle das Gleiche.“ 56<br />

Diese auf den ersten Blick vielleicht wenig befriedigende Einheits-Charakteristik<br />

der Vielfalt stellt letztendlich die ursprünglichste Gemeinsamkeit dar,<br />

den „kleinsten gemeinsamen Nenner“. Im Kontext einer Diskussion um eine<br />

ökonomische Vernunft wird dieser kleinste gemeinsame Nenner wieder aufgenommen<br />

wenn es um die Anschlussfähigkeit von ökonomischer Rationalität<br />

geht. Diese Anschlussfähigkeit stellt eine Weiterentwicklung der Rationalität<br />

dar, die sich einem vernünftigen Gegenüber öffnet. Der vernünftige<br />

Vollzug kann seinerseits die Rationalitäten aufgrund dieses kleinsten gemeinsamen<br />

Nenners miteinander verbinden. Danach sind Rationalitäten,<br />

verkürzt gesagt, Gegenstandsbestimmungen, die rational vollzogen werden<br />

und sich in den unterschiedlichen Rationalitäten auf ihre unterschiedlichen<br />

Gegenstände beziehen. In diesem Vollzug sind sie ähnlich und können, nach<br />

Goodman, somit eine Einheit bilden. Der Vollzug der Vernunft hingegen ist<br />

von grundsätzlich anderer Qualität. Zwar könnte man auch ihn als Gegenstandsbeschreibung<br />

bezeichnen, jedoch sind diese „Gegenstände“ die Rationalitäten<br />

selbst und ihr Verhältnis zueinander. Damit stellt der Vollzug eher<br />

Reflexion dar, die keine eigen formulierten Interessen verfolgt. Ihrer Rolle als<br />

Medium ist hingegen ein Zielpunkt immanent, welcher im Zugang und in<br />

der Vermittlung des Ganzen liegt. Die Konnexion von Heterogenitäten stellt<br />

die notwendige Konsequenz dar, in welcher Weise die Charakteristik der<br />

<strong>St</strong>ruktur zu denken ist. Die Konnexion erhält den Zugang zum Ganzen, die<br />

Heterogenität verdeutlicht die Verfassung des Ganzen. Aus dieser Verfassung<br />

heraus kann Konnexion nur Konnexion sein und keine stärkere Verbindungsform.<br />

Dies wird in der späteren Diskussion wieder aufgenommen. 57<br />

5.4 Subjektive Vernunft vs. objektive Vernunft<br />

Lyotard stellt fest, dass die Moderne gekennzeichnet ist durch „die Zuordnung<br />

des Willens zur Vernunft“ 58. Diese Kennzeichnung zeigt Lyotard bereits<br />

bei Descartes auf, der den Willen als unendliches Vermögen bezeich-<br />

56 Welsch (1996: 380; Hervorhebung im Original).<br />

57 Vgl. hierzu insbesondere Abschn. 6.2.2.<br />

58 Lyotard (1987: 45).<br />

103


net. 59 Die Position bei Lyotard ergibt sich vor allem in der Reflexion des<br />

Kapitalismus, in dem „Waren, Ideologien und Geschichte unendlich weiterentwickelt<br />

und akkumuliert werden“ 60. In dieser Deutung ist der Kapitalismus<br />

eine „Metaphysik des Willens“ 61 und der <strong>St</strong>aat ist Mittler zwischen<br />

Kapital und Gesellschaft.<br />

Auch wenn dies eine sehr pointierte postmoderne <strong>St</strong>ellungnahme ist, so<br />

bleibt doch die Feststellung der Zuordnung von Willen zur Vernunft auch im<br />

Folgenden von Relevanz. Die postmoderne Herausforderung müsste in diesem<br />

Sinne lauten, der durch den subjektiven Willen instrumentalisierten<br />

Vernunft entgegenzutreten und die subjektivistischen Verzerrungen aufzulösen.<br />

Dieses Entgegentreten nimmt in der postmodernen Position relativistische<br />

Züge an. 62 Schon früher hatte Max Horkheimer aufgezeigt, wie eine<br />

Relativierung der subjektivistischen Verzerrung ohne relativistische Zugeständnisse<br />

möglich ist. Dazu trennt Horkheimer Vernunft in subjektive und<br />

objektive Vernunft. 63 Die subjektive Vernunft<br />

104<br />

„(...) hat wesentlich mit Mitteln und Zwecken zu tun, mit der Angemessenheit<br />

von Verfahrensweisen an Ziele, die mehr oder minder hingenommen werden<br />

und sich vermeintlich von selbst verstehen. Sie legt der Frage wenig Bedeutung<br />

bei, ob die Ziele als solche vernünftig sind.“ 64<br />

Die objektive Vernunft hingegen<br />

„(...) zielte darauf ab, ein umfassendes System oder eine Hierarchie alles Seienden<br />

einschließlich des Menschen und seiner Zwecke zu entfalten. Der Grad<br />

der Vernünftigkeit des Lebens eines Menschen konnte nach seiner Harmonie<br />

mit dieser Totalität bestimmt werden.“ 65<br />

Horkheimer fasst das Verhältnis von subjektiver zu objektiver Vernunft wie<br />

folgt:<br />

59 Vgl. hierzu Lyotard (1985: 45f.). Die Bemerkungen zu diesem Thema fallen in einem<br />

Gespräch mit Giairo Daghini, welches mit dem Titel überschrieben ist: „Sprache, Zeit,<br />

Arbeit“.<br />

60 Lyotard (1985: 45).<br />

61 Ebenda.<br />

62 Vgl. hierzu nochmals Abschn. 5.3.<br />

63 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Horkheimer (1967: 15-174).<br />

64 Horkheimer (1967: 15).<br />

65 Horkheimer (1967: 16).


„Was im ersten Teil als subjektive Vernunft bezeichnet wurde, ist jene Einstellung<br />

des Bewußtseins, die sich ohne Vorbehalt der Entfremdung von Subjekt<br />

und Objekt, dem gesellschaftlichen Prozeß der Verdinglichung anpaßt,<br />

aus Furcht, sie verfiele sonst der Unverantwortlichkeit, der Willkür, und<br />

werde zu einem bloßen Gedankenspiel. Die gegenwärtigen Systeme der objektiven<br />

Vernunft stellen auf der anderen Seite Versuche dar, die Auslieferung<br />

des Daseins an Zufall und Ungefähr zu vermeiden.“ 66<br />

Nach Horkheimer schließt dabei die objektive die subjektive Vernunft mit<br />

ein, jedoch nicht notwendigerweise umgekehrt. Beide Formen der Vernunft<br />

haben ihre potentiellen Konflikte: die subjektive Vernunft tendiert zum<br />

„vulgären Materialismus“, die objektive Vernunft hingegen hat eine „Neigung<br />

zur Romantik“. 67 Dabei zieht sich die objektive Konzeption der Vernunft<br />

seit jeher durch die verschiedenen Epochen der Geschichte: von der<br />

Antike bei Platon und Aristoteles, durch die Scholastik bis hin zum deutschen<br />

Idealismus. Dadurch, dass nun seit jüngster Zeit das Subjekt sich der<br />

Vernunft – so Horkheimer im Jahre 1946 - bemächtigt (nicht bedient!), wird<br />

Vernunft subjektivistisch relativiert und individuellen Belegungen preisgegeben.<br />

68 Dass jedoch auf der anderen Seite eine stärkere Betonung der<br />

Vernunft als subjektives Vermögen notwendig ist, scheint vor allem in der<br />

Postmoderne-Debatte ebenso unstrittig. Die Frage bleibt, auf welche Weise<br />

dies geschehen soll, so dass die Vernunft selbst nicht ihre Basis verliert.<br />

Horkheimer kritisiert, dass durch die Subjektivierung der Vernunft diese<br />

nicht länger mehr „ein der Wirklichkeit innewohnendes Prinzip“ 69 ist, sondern<br />

eher ein rein subjektives Vermögen. Nach Horkheimer besteht hierin ein<br />

grundlegender Unterschied. Aus diesem Grunde, aufgrund der Betonung<br />

66 Horkheimer (1967: 162).<br />

67 Ebenda.<br />

68 Die Subjektivierung der Vernunft, Horkheimer sieht diese als Krankheit, entsteht nach<br />

seiner Meinung durch das Verlangen des Menschen, die Natur zu beherrschen und<br />

seine Genesung, die des Menschen, hängt von der Einsicht ab, dass „Geist“ und<br />

„Natur“ zwar nicht eins sind, jedoch „unauflöslich miteinander verbunden sind.“<br />

(Horkheimer 1967: 158). So ist ihre Differenz notwendig, denn Geist ist nicht gleich<br />

Natur, jedoch entsteht diese Differenz in der vernünftigen Reflexion immer in Bezug<br />

auf ihre Komplementarität. „Auf der Einheit von Natur und Geist bestehen, heißt mit<br />

einem ohnmächtigen coup de force aus der gegenwärtigen Situation ausbrechen,<br />

anstatt geistig über sie hinauszugehen in Übereinstimmung mit den Möglichkeiten<br />

und Tendenzen, die ihr innewohnen.“ (Horkheimer 1967: 158). Die Vernunft zeigt<br />

sich in der Abwesenheit von Hierarchie insofern, als dass die Beherrschung nicht eindeutig<br />

von einer Seite über die andere besteht. Dies würde einen Dualismus implizieren<br />

und damit der Komplementarität entgegenstehen.<br />

69 Horkheimer (1967: 16).<br />

105


des subjektiven Vermögens, erscheint es notwendig, den objektiven Bezug<br />

nicht ganz zu verlieren und darauf vornehmlich hinzuweisen. 70<br />

106<br />

„Da die isolierte subjektive Vernunft in unserer Zeit überall triumphiert, mit<br />

fatalen Ergebnissen, muß die Kritik notwendigerweise mehr mit Nachdruck<br />

auf der objektiven Vernunft geführt werden als mit dem auf Überbleibseln<br />

subjektivistischer Philosophie, deren genuine Traditionen im Licht der fortgeschrittenen<br />

Subjektivierung jetzt selbst als objektivistisch und romantisch erscheinen.“<br />

71<br />

Wenn diese Subjektivierung konfliktäre Konstellationen verursacht, dann ist<br />

es an der Vernünftigkeit der Vernunft selbst, diese Konstellationen durch<br />

Reflexion in das Bewusstsein der Menschen zu bringen.<br />

„(...) in solcher Selbstkritik wird Vernunft zugleich sich selbst treu bleiben, indem<br />

sie am Prinzip der Wahrheit festhält, das wir allein der Vernunft verdanken,<br />

und sich an kein sonstiges Motiv wendet.“ 72<br />

Es wird der Unterschied zwischen Postmoderne und der Position von Horkheimer<br />

deutlich: Während Horkheimer die subjektivistischen Pathologien<br />

durch die geläuterte objektive Vernunft zu kompensieren sucht, setzt die<br />

Postmoderne auf eine Relativierung ohne sich dabei einer „vernünftigen“<br />

Größe zu bedienen. Die Postmoderne relativiert die moderne Vernunft und<br />

deren subjektivistische Vereinnahmung ohne substantialistische Kompensation;<br />

Relativismus als Programm. Horkheimer ist von dieser Einstellung<br />

entfernt; er sieht in der reflektierten objektiven und durch die subjektive<br />

Vernunft komplementär ergänzten Vernunft den Ausweg.<br />

Doch lässt er auch keinen Zweifel daran, dass „der Übergang von der objektiven<br />

zur subjektiven Vernunft“ ein „notwendiger historischer Prozeß“ ist -<br />

bei allen Gefahren, die diese Verschiebung mit sich bringt. 73<br />

70 Dass die subjektive Dimension der Vernunft diese Relevanz bekommen hat, liegt nach<br />

Horkheimer an der Schwäche der objektiven Konzeptionen: „Wenn die subjektive<br />

Vernunft in Gestalt der Aufklärung die philosophische Basis von Glaubensüberzeugungen<br />

aufgelöst hat (...), so war sie dazu imstande, weil diese Basis sich als zu<br />

schwach erwiesen hat.“ (Horkheimer 1967: 66).<br />

71 Horkheimer (1967: 163).<br />

72 Horkheimer (1967: 165).<br />

73 Vgl. Horkheimer (1967: 128). Die Rolle der Philosophie beschreibt diesbezüglich<br />

Horkheimer wie folgt: „Erstens: Sie [die Philosophie; T.B.] sollte ihren Anspruch verneinen,<br />

als höchste und unendliche Wahrheit betrachtet zu werden. Immer, wenn ein<br />

metaphysisches System jene Zeugnisse als absolute oder ewige Prinzipien darstellt,


Aus dieser Spannung - der (subjektiven) Bemächtigung der Vernunft vs. der<br />

Vernunft mächtig sein - ist der Ansatz von Horkheimer auch historisch zu<br />

verstehen, der die subjektive Vernunft als notwendig erachtet, sie jedoch<br />

auch als ihre größte Gefahr interpretiert. Ist die Vernunft alleinig bzw. maßgeblich<br />

vom Subjekt abhängig, so ist sie auch maßgeblich seinen Schwächen<br />

ausgeliefert. Die Vernunft „menschelt“. 74<br />

Die spannungsvollen Gegensätze von subjektiver und objektiver Vernunft<br />

sowie Geist und Natur löst Horkheimer jeweils mit der gleichen <strong>St</strong>ruktur auf,<br />

die der Komplementarität. Es ist das eine nicht ohne das andere zu denken<br />

und vice versa. Dabei, und dies betont er mehrmals in seiner Kritik, kann es<br />

nicht darum gehen, diese Komplementarität als Dualismus zu rekonstruieren,<br />

der antagonistisch-substitutiv darauf drängt, die jeweilig gegenüberliegende<br />

Seite zu ersetzen. Dieser Dualismus ist vielmehr notwendiger Schein:<br />

„Denn ganz wie der absolute Dualismus von Geist und Natur ist der von<br />

subjektiver und objektiver Vernunft bloß ein Schein, obgleich ein notwendiger.<br />

Die beiden Begriffe sind in dem Sinn ineinander verflochten, daß die<br />

Konsequenz eines jeden nicht nur den anderen auflöst, sondern auch zu ihm<br />

zurückführt.“ 75<br />

enthüllt es ihre historische Relativität. (...) Zweitens: Es sollte zugestanden werden,<br />

daß die grundlegenden kulturellen Ideen einen Wahrheitsgehalt haben, und Philosophie<br />

sollte sie an dem gesellschaftlichen Hintergrund messen, dem sie entstammen.<br />

Sie bekämpft den Bruch zwischen Ideen und Wirklichkeit.“ (Horkheimer 1967: 169f.).<br />

74 Landmann stellt die Frage: „Ist Vernunft noch das Humanum?“ (Landmann, M.<br />

(1974): Teuer bezahlte Vernunft: Ist Vernunft noch das Humanum?, in: Schatz, O.<br />

(Hrsg.), Was wird aus dem Menschen? Analysen und Warnungen prominenter Denker,<br />

Graz/Wien/Köln, S. 77-107, hier S. 77) und kommt zu dem Schluss, dass die Vernunft<br />

nicht mehr human ist und wir in „ein Zeitalter der transhumanen Vernunft“<br />

(Landmann 1974: 83) treten. Landmann verwendet hier das Präfix „trans“ im Sinne<br />

eines „jenseits“ bzw. eines wortwörtlichen „Übergehens“ des Menschen und seiner<br />

Bestimmungen. Er betont die „Entmachtung“ und „Überspringung“ der Subjektivität<br />

durch die Vernunft, stellt die eine, „gleiche Wahrheit für alle“ der sich „unterscheidenden<br />

Individualität“ entgegen, was dazu führt, dass der „einzelne nur Fall eines<br />

Allgemeinen“ ist. Die „transhumane Vernunft [erstickt] die Spontaneität und nivelliert<br />

die Individualität“. Vgl. hierzu Landmann (1974: 89ff.). Landmann zeigt damit<br />

die Spannung zwischen Teil und Ganzem auf, was auch in dieser Argumentation im<br />

Mittelpunkt steht und in der Diskussion um eine transversale Vernunft noch vielfältig<br />

aufgenommen und erörtert werden wird. Da wird deutlich werden, dass die transhumane<br />

Vernunft der transversalen Vernunft nicht ähnlich ist. Die transversale Vernunft<br />

hat gerade das Verhältnis von Teil und Ganzem im Auge, stellt das Subjekt in<br />

den Mittelpunkt ohne jedoch ins Willkürliche abzudriften. Vgl. hierzu Abschn. 9.2.3.<br />

75 Horkheimer (1967: 163).<br />

107


Auch wenn die Einseitigkeiten zu erklären sind76, so führen sie doch nicht zu<br />

<strong>St</strong>rukturen, die fähig sind, die Realität adäquat abzubilden und damit auch<br />

nicht, sie zu handhaben. 77<br />

In der Betonung objektiver Vernunft findet sich auch die hier entwickelte<br />

Konzeption ökonomischer Vernunft wieder. Dieser Rückbezug ist in der hier<br />

entwickelten Diskussion als das spezifisch postmodern-moderne Element<br />

bezeichnet worden. Dabei muss unterschieden werden zwischen subjektiver<br />

Vernunft und Vernunft als „subjektivem Vermögen“. Letzteres ist konstitutiv<br />

für eine Rückbindung der Postmoderne an die Moderne, erstere beschreibt<br />

eine Reflexionsreferenz von Vernunft. Dieses subjektive Vermögen<br />

hinterfragt die Objektivität und ihre Umsetzung. Sie löst die Objektivität<br />

nicht ab, wie dies in der subjektiven Vernunft angelegt zu sein scheint, sondern<br />

reflektiert sie kritisch. Die Objektivität erfährt in einem solchen subjektiven<br />

Vollzug Veränderungen und kann nicht mehr mit ihrer früheren Verfassung<br />

verglichen werden. Die basalen Inhalte, also der Bezug auf die<br />

Wahrheit bleibt zwar bestehen, doch führen die inhaltlichen Akzentverschiebungen<br />

zu einer Veränderung des <strong>St</strong>atus der subjektiven Vernunft.<br />

Auch Welsch spricht von der Vernunft als einem subjektiven Vermögen. Dem<br />

damit provozierten Relativismus tritt Welsch aber entgegen. Das Scheitern<br />

der Moderne und damit auch der objektiven Vernunft, in der der Einzelne<br />

praktisch nicht eingebunden war, stellt aus Sicht der Postmoderne einen<br />

ebenso weitreichenden Relativismus dar, der sich durch die fehlende Relevanz<br />

subjektiver Reflexion ergab und sich somit absolutistisch von der<br />

Wirklichkeit entfernte. In diesem Sinne spricht sich Welsch für das subjektive<br />

76 Horkheimer beschreibt den Ursprung dieser Einseitigkeit wie folgt: „Solche Hypostasierung<br />

[des einen (Geist) gegen den anderen (Natur); T.B.] geht aus dem grundlegenden<br />

Widerspruch in der Verfassung des Menschen hervor. Auf der einen Seite hat<br />

das gesellschaftliche Bedürfnis, die Natur zu kontrollieren, stets die <strong>St</strong>ruktur und die<br />

Formen des menschlichen Denkens bedingt und so der subjektiven Vernunft den<br />

Primat verliehen. Auf der anderen Seite konnte die Gesellschaft nicht gänzlich den<br />

Gedanken an etwas unterdrücken, das über die Subjektivität des Selbstinteresses hinausgeht,<br />

dem nachzustreben das Selbst nicht umhinkonnte.“ (Horkheimer 1967: 163).<br />

77 „Adäquates Handhaben“ kann nicht bedeuten, dass die Realität vollständig erfasst<br />

wird. Die Adäquanz richtet sich nach dem im aktuellen Zustand bereits Möglichen,<br />

sprich: nach dem aktuellen Erkenntnisstand. Eine Vorgehensweise, die hinter diese<br />

Erkenntnisse zurückfällt, wird hier als nicht adäquat angesehen. Diese Definition von<br />

Adäquanz richtet sich somit nach dem vorliegenden Erkenntnisstand, nicht nach dem<br />

Absoluten, Wahren und ist damit eine relative. In dieser Relativität ist die Wahrnehmung<br />

von Pluralität möglich und damit die Erörterung von Komplementarität und<br />

Substitution.<br />

108


Vermögen der Reflexion als zentralen Vollzug der Vernunft aus. Er versucht<br />

damit die objektive Vernunft durch den „Filter“ der individuellen Reflexion<br />

in seiner Konzeption zu konstituieren. Vernunft ist primär subjektives Vermögen,<br />

doch immer in Bezug auf die objektive Vernunft, über die nicht zu<br />

entscheiden ist. Damit ist der objektiven Vernunft die subjektive Vernunft<br />

zumindest im Vollzug gleichberechtigt an die Seite gestellt. Die Vernunft erfährt<br />

eine „Aufwertung“ durch die reflektierte <strong>St</strong>ärkung der subjektiven<br />

Vernunft und damit des Vollzugs, wenn sich die postmodern-moderne Position<br />

so zusammenfassen lässt. 78<br />

5.5 Zusammenfassung<br />

Es soll im Folgenden versucht werden, die zu der Moderne-Postmoderne-<br />

Debatte skizzierten Überlegungen teils resümierend, teils konkretisierend in<br />

einzelnen Punkten zusammenzufassen:<br />

� Postmoderne kann nur in, mit, wegen und durch Moderne gedacht und<br />

entwickelt werden.<br />

� Moderne und Postmoderne sind weder substitutiv noch komplementär<br />

zueinander. Postmoderne stellt lediglich den Versuch dar, die Moderne<br />

weiterzuentwickeln.<br />

� Die postmoderne Moderne bezieht sich selbst selbstreferentiell in ihren<br />

Gegenstandsbereich mit ein. Postmoderner Anspruch kann nur relativ zum<br />

bereits Bestehenden, der späten Moderne, verstanden werden. Die postmoderne<br />

Moderne stellt damit die logische Konsequenz einer zu Ende gedachten<br />

Postmoderne dar, die auch selbstbezüglich über jeglichen Ausschließlichkeitsanspruch<br />

erhaben ist. 79<br />

78 Die postmoderne Subjektorientierung darf nicht mit einer methodologischen Entscheidung<br />

verwechselt werden, wie sie im Kontext der wirtschaftswissenschaftlichen<br />

Debatte im Methodologischen Individualismus transportiert wurde und wird. Durch<br />

die einseitige Rezeption des Individuums in einer naturalistisch-darwinistischen<br />

Rekonstruktion und ihrer linearen positivistischen Fortschreibung gibt sich die Ökonomie,<br />

als wäre sie natürliche und damit logische Konsequenz menschlichen Verhaltens.<br />

Auf diese Weise versuchte sich die Wirtschaftswissenschaft einer ethischen Reflexion<br />

zu entziehen; sie proklamierte Wertfreiheit. Doch ist diese anthropologische<br />

Interpretation reduktionistisch, welche den Menschen als kulturelles Wesen ignoriert<br />

und nur als rein reaktives Lebewesen deutet. Vgl. zur Kritik des Methodologischen<br />

Individualismus Ulrich (1998: 184ff.).<br />

79 Siehe das bereits angeführte Zitat bei Welsch (1993: 82f.).<br />

109


� Die Postmoderne weist in ihrem Vollzug eine doppelte Reziprozität der<br />

Reflexion ihrer Inhalte auf. Die konstitutiv-epistemische Rolle des Verwendungszusammenhangs<br />

für die Begründungsebene zeigt dies exemplarisch<br />

auf. Bezüglich der Konstituierung der postmodernen Bestimmungen auf Begründungsebene<br />

tritt sie gleichberechtigt neben den Entdeckungszusammenhang.<br />

� Die doppelte Reziprozität der Postmoderne, und damit insbesondere die<br />

Berücksichtigung des Verwendungszusammenhangs, verändert die inhaltlichen<br />

Bestimmungen auf charakteristische Weise: Das Charakteristische des<br />

postmodernen Vollzugs kann nur dann konstitutiv wirken, wenn die Kernstruktur<br />

in der Lage ist, die inhaltliche Impulse von Entdeckungs- und Verwendungszusammenhang<br />

abzubilden, d. h., wenn sie die Fähigkeit und damit<br />

auch Offenheit besitzt, bisher Unbekanntes darzustellen. Dies erfordert<br />

auch eine strukturelle Neuausrichtung, die sich auf Diskontinuität und Differenz<br />

nachhaltig einstellt, damit material-strukturelle Konsequenzen zeitigt.<br />

� Die Postmoderne entwickelt sich sukzessive von ihrer programmatischen<br />

Rolle hin zu einer konstruktiven, jedoch nicht minder kritischen und die<br />

Grundlagen reflektierenden und in Frage stellenden Rolle. Diese neue Rolle<br />

stellt ihre eigene Diskontinuität zur Moderne in den eigenen poststrukturalistischen<br />

Rahmen, in dem die Diskontinuität in ihrem destruierenden Charakter<br />

eine Relativierung erfährt und quasi-kontinuierlich abgebildet werden<br />

kann. Agonistische Dialektik und diametraler Gegensatz wird zur<br />

Konnexion von Heterogenitäten.<br />

� Im Spannungsfeld von Teil und Ganzem, von Einheit und Vielheit wird<br />

die Postmoderne hier als Einlösung der „holistischen Intention“ eben durch<br />

die „plurale Option“ 80 verstanden. Die Vielheit der Einheit als Befund abbilden<br />

zu können, emergiert zur Notwendigkeit und Bedingung einer authentischen<br />

und ganzheitlichen Perspektive nachhaltiger Handhabungskonzeptionen<br />

aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen.<br />

� Die subjektive Vernunft wird hier als der Vernunft immanente Größe<br />

interpretiert. Sie wird der Vernunft nicht hinzugefügt, noch ist sie etwas<br />

anderes als Vernunft. In der neuartigen Etablierung und Betonung der konstitutiven<br />

Rolle subjektiver Vernunft durch Vernunft als subjektives Vermögen<br />

wird, in der hier entwickelten Position, einer überfälligen Sensibilisierung<br />

80 Welsch (1993: 63).<br />

110


dieser in der Geschichte der Vernunft tendenziell eher unberücksichtigten<br />

Dimension der Vernunft das Wort geredet. Jedoch: Die postmodernprogrammatische<br />

Überzeichnung ihrer Bedeutung wird zum einen der<br />

Selbstrelativierung der Postmoderne gegenüber der Moderne nicht gerecht,<br />

zum anderen läuft diese Überzeichnung Gefahr, zu einer Verselbständigung<br />

der subjektiven Vernunft beizutragen und damit die Vernunft als solche<br />

inhaltlich zur Disposition zu stellen, von innen auszuhöhlen. Die subjektive<br />

Vernunft steht in komplementärem Bezug zum Objektiven der Vernunft. Sie<br />

kann nur in diesem Bezug verstanden werden. Damit ist sie in der Lage, den<br />

Einzelnen, das Subjekt, in die „sekundäre“ Konstitution – die primäre ist<br />

von der objektiven Seite immer schon geleistet – einzubeziehen und dadurch<br />

einen Vollzug zu erreichen, welcher objektiv durchwirkt und subjektiv<br />

kritisch reflektiert ist. Es kann auf diese Weise eine inhaltliche Relativierung<br />

erreicht, ein vollständiger Relativismus dagegen aber vermieden werden.<br />

6 Vernunft im Übergang - das Konzept der transversalen<br />

Vernunft<br />

Der folgenden Abhandlung liegt die Intention zugrunde, einen Einblick in<br />

das Konzept der transversalen Vernunft zu geben, wie es Welsch in seinem<br />

Werk „Vernunft – Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der<br />

transversalen Vernunft“ vorstellt. 81 Der Ansatz stellt dabei selbst einen<br />

‚Übergang’ zwischen den heterogenen Ansätzen von Habermas und Lyotard<br />

dar. 82 Welsch weiß die ablehnende Haltung gegenüber Relativismus<br />

(Habermas) und die Bejahung der Differenz (Lyotard) als heterogene<br />

Elemente der Theorien-Vielfalt zu verknüpfen - „so aber, daß diese Übergänge<br />

die Heterogenität nicht tilgen, sondern allererst in der rechten Weise<br />

zur Darstellung bringen“ 83.<br />

81 Vgl. Welsch (1996).<br />

82 Vgl. hierzu Habermas, J. (1983): Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm,<br />

in: ders. (Hrsg.), Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt,<br />

S. 53-126; Lyotard, J.-F. (1982): Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in:<br />

Tumult 4, (1982), S. 131-142.<br />

83 Welsch (1996: 752). Vgl. auch die komprimierte Gegenüberstellung der drei Autoren<br />

bei Kirsch (1992: 448ff.). Das Konzept der Transversalität als die ‚Lehre von den Übergängen’<br />

weist eindeutige Parallelen zu der bereits vorgestellten Konzeption der „Heterogenität<br />

und Konnexion“ nach Deleuze und Guattari (1977) auf. Auch hier geht es<br />

111


Ähnlich zu Welsch, der sich zwischen Postmoderne und Moderne verortet,<br />

stellt die hier skizzierte Position eine Extension dieser mittleren Position<br />

dar. 84 Ob auch die von Welsch ausführlich entwickelte Konzeption der transversalen<br />

Vernunft einen Übergang von Moderne zu Postmoderne bzw. von<br />

der Postmoderne zurück zu der Moderne darstellen kann, wird zu untersuchen<br />

sein. Dieser letzte Schritt von der Postmoderne zu der postmodernen<br />

Moderne ließe sich als Übergang von einer dichotomen Pluralität zu einer<br />

konnektierten Pluralität beschreiben. Netzwerke, Nachhaltigkeit und Globalisierung<br />

- das terminologische Spektrum der Gegenwart deutet auf Übergänge<br />

in jedweder Form hin. Die vernünftige Gestaltung dieser Übergänge<br />

ist gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Eine transversale Vernunft kann hierfür<br />

eine „vernünftige“ Reflexion leisten. Ob sie dieses zu leisten in der Lage ist,<br />

wird in der umfassenden Argumentation geprüft.<br />

Dazu soll eine möglichst übersichtliche und knappe Skizzierung des<br />

Welsch‘schen Ansatzes vorgenommen werden. Hierzu werden drei unterschiedliche<br />

Zugänge gewählt, die jeweils ihre eigene Perspektive und Sichtweise<br />

erzeugen und den Ansatz von verschiedenen Seiten zu beleuchten<br />

helfen. Diese drei Perspektiven umfassen Gegenstandsbestimmungen (Rationalität;<br />

Paradigmen), inhaltliche Verhältnisbestimmungen (Vernunft und Rationalität;<br />

Vernunft und Totalität) und die historisch-begrifflichen Verhältnisbestimmungen<br />

(Paradigma-Begriff nach Kuhn; Vernunft-Begriff nach Kant).<br />

6.1 Zentrale Gegenstandsbestimmungen<br />

Um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, wird zu Beginn der Ausgangspunkt<br />

und die Intention von Welsch zitiert. Welsch schreibt dies als<br />

Reaktion auf die Kritik an seinem Ansatz, welche an späterer <strong>St</strong>elle aufgenommen<br />

werden wird. 85<br />

112<br />

„Als ich in den achtziger Jahren die Vernunftabsagen mancher ‚postmodern‘<br />

genannter Autoren und bald auch etlicher Rationalitätsexklusivisten las, hatte<br />

ich den starken Eindruck, daß sie inmitten aller Polemik gegen Vernunft doch<br />

selbst von so etwas wie Vernunft Gebrauch machten und Gebrauch machen<br />

mußten. Oder daß sie sich immer nur (und oft mit guten Gründen) gegen ein<br />

um die, keineswegs irreversiblen Verknüpfungen von Unterschiedlichem, ohne dabei<br />

eine Synthese zu implizieren bzw. eine Vielheit zu vereinheitlichen.<br />

84 Vgl. hierzu Welsch (1993).<br />

85 Vgl. hierzu Abschn. 7.3.


estimmtes Verständnis von Vernunft wandten, daraus dann aber, das Kind<br />

mit dem Bade ausschüttend, eine Pauschalabsage an Vernunft machten.<br />

Beides ist sachlich unbefriedigend wie logisch falsch. Daher stellte ich mir die<br />

Aufgabe, die Konturen jener Vernünftigkeit herauszuarbeiten, die auch in<br />

solchen Vernunftabsagen wirksam ist. Zugleich sollte es um eine Vernünftigkeit<br />

gehen, die gerade angesichts der Bedingungen, im Blick auf welche diese<br />

Autoren argumentierten, probat sein würde. Diese Bedingungen waren (bei<br />

allen Unterschieden im einzelnen) für die postmodern wie für die rationalitätstheoretisch<br />

orientierten Vernunftkritiker weitgehend die gleichen: es ging<br />

um den Befund einer Vielfalt von Rationalitäten, einer Pluralität von Rationalitätstypen.“<br />

86<br />

Diese Darstellung von Welsch macht deutlich, wo seine Konzeption ansetzt<br />

und wo sie hingeht. Als „Vorwissen“ trägt Welsch folgende Erkenntnisse in<br />

die Diskussion um eine transversale Vernunft. 87<br />

� Jegliche Art von Vernunftkritik muss ihrerseits Anspruch auf Vernünftigkeit<br />

erheben.<br />

� Der Begriff der Vernunft erschöpft sich nicht in der Zweckrationalität von<br />

Systemen (instrumentelle Rationalität).<br />

� Vernunft muss sich begreifen als Handhabung von Pluralität, ohne sie<br />

aufheben zu wollen.<br />

� Atomisierung und Verflechtung sind als logische Sukzession eines durch<br />

die Pluralisierung initiierten Prozesses zu verstehen.<br />

� Die durch die Verflechtung entstehende Unordnung ist durch die Vernunft<br />

nicht zu beseitigen, man hat sich auf sie einzulassen.<br />

� Vernunft hat den Gesamtbereich und das konkrete Verhältnis der Rationalitäten<br />

zueinander zum Thema. Somit stellt eine genaue Analyse der<br />

Realverfassung von Rationalitäten die notwendige Vorbedingung dar, will<br />

man ein adäquates Konzept von Vernunft generieren.<br />

Es wird im Folgenden deutlich werden, dass es in dieser Konzeption vornehmlich<br />

um die strukturelle Verfasstheit von Paradigmen, Rationalität und<br />

Vernunft geht. In dieser <strong>St</strong>rukturanalyse kommen implizit die Verhältnisse<br />

der Gegenstände zueinander zum Ausdruck. Aus Gründen der Übersicht-<br />

86 Welsch, W. (2000b): Unverkürzte Rationalität: mit Vernunft. Über einige Spezifika<br />

vernünftiger Reflexion, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 167-188, hier S. 168.<br />

87 Vgl. zu diesem „Vorwissen“ Welsch (1996), die Seiten 427-438, in denen er auf die<br />

vorherigen Kapitel seines Buches Bezug nimmt. In diesen stellt er die Vernunftkritiken,<br />

seien sie explizit oder implizit, von 11 Philosophen vor und gewinnt dadurch<br />

eine Art <strong>St</strong>atus Quo aktueller Vernunftkritik. Dieser <strong>St</strong>atus Quo fließt in die Überlegungen<br />

zur transversalen Vernunft mit ein.<br />

113


lichkeit wird sich diese Darstellung auf die abstrakte strukturelle Ebene<br />

beschränken; Welsch selbst verlässt nur selten diese Ebene. Es wird sich zeigen,<br />

dass gerade auf dieser abstrakten Ebene die Möglichkeiten der Vergleichbarkeit<br />

gegeben sind; nicht nur zu ähnlichen Konzeptionen, sondern<br />

vor allem auch zu den in Kapitel I beschriebenen aktuellen Herausforderungen.<br />

6.1.1 Die Realverfassung von Rationalitäten<br />

Welsch teilt die Beschreibung der Realverfassung von Rationalitäten in vier<br />

Kapitel, wobei die ersten beiden die <strong>St</strong>ruktur von Rationalitätstypen beschreiben<br />

und die letzten beiden die <strong>St</strong>ruktur von Paradigmen. Diese Zweiteilung<br />

lässt sich am besten nachvollziehen, führt man sich die dahinter stehende<br />

Systematik der Ausdifferenzierung bzw. Pluralisierung von Vernunft<br />

vor Augen, so wie sie von Welsch vertreten wird. Dieser geht davon aus,<br />

dass das moderne Verständnis von Vernunft eine Vielzahl von Rationalitäten<br />

unter dem einen Begriff der Vernunft zu subsumieren vermag. Dies impliziert<br />

keine Vereinheitlichung, sondern eine bloße Zusammenfassung, eine<br />

Verflechtung. 88 Welsch möchte diesen Schritt als Ausdifferenzierung bezeichnen<br />

und so verstanden wissen. Daraufhin folgt die Identifizierung von<br />

mehreren unterschiedlichen Paradigmen auf einem „Rationalitätsterrain“,<br />

welche zu einer „Simultankonkurrenz“ 89 innerhalb der Rationalitätsbereiche<br />

führt. Dies bezeichnet Welsch als zweiten Schritt und als „Pluralisierung im<br />

eigentlichen und terminologischen Sinne“ 90. Dies sei in folgender Abbildung<br />

zusammenfassend dargestellt: 91<br />

88 Bei der Frage, wie diese Vernunft pluraler Rationalitäten zu denken und zu verstehen<br />

ist, verweist Welsch auf die ausführlichere Darstellung bei Wellmer, A. (1985): Zur<br />

Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt,<br />

S. 108f.<br />

89 Welsch (1996: 441).<br />

90 Ebenda.<br />

91 Bevor diese Abbildung den Unmut des Lesers auf sich zieht, sei folgendes angemerkt:<br />

Es gibt sicherlich triftige Gründe des Philosophen Welsch, diese Sachverhalte nicht<br />

graphisch darzustellen. Trotz problematischer Vereinfachungen verspricht sich der<br />

Autor dieser Abhandlung davon einen höheren Grad an Transparenz des Referierten.<br />

Es sei aber darauf hingewiesen, dass diese Abbildung nicht den Anspruch einer<br />

detailgenauen Transformation der Inhalte formuliert, sondern lediglich der unterstützenden<br />

Veranschaulichung dient. Somit mag es nämlich problematisch sein, die Pfeile<br />

der Ausdifferenzierung und Pluralisierung von ein und demselben Ausgangspunkt<br />

starten zu lassen. Auch soll die Pfeilrichtung keine Wertung der zeitlichen Rangordnung<br />

von Vernunft, Rationalitäten und Paradigmen suggerieren.<br />

114


Vernunft<br />

Die zwei Schritte der Pluralisierung<br />

Abb. 3: frei nach Welsch (1996: 441ff.)<br />

Rationalität X<br />

Rationalität Y<br />

Rationalität Z<br />

...<br />

Paradigma Y 1<br />

Paradigma Y 2<br />

Paradigma Y 3<br />

Pluralisierung 1. Schritt 2. Schritt<br />

Ausdifferenzierung Pluralisierung im eigentlichen<br />

und terminologischen Sinne<br />

Diese Darstellung gilt als heuristischer Ausgangspunkt der Überlegungen.<br />

Es wird an späterer <strong>St</strong>elle deutlich werden, dass sie einer Überarbeitung bedürfte,<br />

wollte sie die gesamte Komplexität der Prozesse - insbesondere in<br />

Bezug auf die Rationalitäten bzw. Rationalitätstypen - darstellen.<br />

Um die verschiedenen Rationalitätstypen voneinander zu unterscheiden,<br />

folgt Welsch der Einteilung, welche schon Kant in seiner Dreiheit der Kritiken<br />

andeutete und Habermas in heutiger Zeit aufnimmt und vertritt. Dabei<br />

handelt es sich um die Unterscheidung in kognitive, moralisch-praktische und<br />

ästhetische Rationalität. Diese Einteilung ist vor dem Hintergrund einer jahrhundertelangen<br />

Konfrontation mit einem einheitlichen Vernunftbegriff zu<br />

verstehen und den Bemühungen, diese Einheit zu erfassen. Dazu ist eine<br />

Einteilung als in voneinander zu differenzierende Rationalitätsbereiche als<br />

Schritt der Handhabung von Komplexität zu verstehen; so scheinen „Gegenstandsbereiche“<br />

geschaffen, welche in sich eine Art von Geschlossenheit darstellen<br />

und nach innen homogen wirken, im Außenverhältnis aber abgrenzbar<br />

sind, eine Heterogenität darstellen. Dieser Prozess der Ausdifferenzierung<br />

bedeutete bis dato kurzschlüssig eine „Autonomisierung und Separie-<br />

...<br />

115


ung“ 92, welche aber nach Welsch völlig unbegründet und letztlich nicht<br />

haltbar erscheint. Die Ablösung des Mythos der Wohlordnung durch die<br />

Einteilung in voneinander zu trennende Rationalitäten ist zugunsten einer<br />

Hypothese der rationalen Unordnung (s. u.) längst überfällig. So bedingt nach<br />

Welsch der Ausdifferenzierungsprozess einen Abgleich mit demjenigen, von<br />

dem sich differenziert wird und ein Abgleich impliziert immer eine Art von<br />

(komplementärem) Bezug zueinander. Die so sich differenzierenden Rationalitäten<br />

sind somit nicht derart getrennt, wie das Hyperdifferenz-Theorem<br />

dies impliziert.<br />

116<br />

„Vielmehr bilden sich die Formen der Rationalität von Anfang an gegeneinander<br />

und sind für ihre Eigendefinition auf ihre Kontrahenten angewiesen.<br />

Daher tragen sie von vornherein Bestimmungen des Anderen in sich.“ 93<br />

Aus der Perspektive der entstehenden <strong>St</strong>ruktur lässt sich dies also eher als<br />

Netzwerk verstehen denn als Rationalitäten-Insel (Lyotard) oder -Sektor<br />

(Habermas). 94<br />

6.1.2 Die Pluralisierung von Paradigmen95 Dem ersten Schritt der Pluralisierung (Ausdifferenzierung) folgt der zweite<br />

Schritt, die „Pluralisierung im terminologischen Sinne“, was bedeutet, dass<br />

die Rationalitäten unterschiedliche Paradigmen beherbergen, die sich ihrerseits<br />

- weder in ihrer charakteristischen Ausprägung noch in ihrer spezifischen<br />

Dynamik - mit den gegebenen Bedingungen der ‚Herberge‘ zufrieden<br />

zeigen, sondern die eigenen Bedingungen in Frage stellen, reflektieren und<br />

verändern. Die verschiedenen Paradigmen finden sich in einem Rationalitätstyp<br />

nicht vollständig wieder, sondern sie gehen über die Rationalitätsgrenzen<br />

hinaus, gehen Verbindungen mit anderen Rationalitätstypen und<br />

dort mit anderen Paradigmen ein und erweitern, transzendieren die Grenzen<br />

der eigenen Daseinsbedingung, des spezifischen Rationalitätstyps.<br />

92 Welsch (1996: 442).<br />

93 Welsch (1996: 434).<br />

94 Vgl. zum Netzwerk-Gedanken bezüglich der <strong>St</strong>ruktur der Vernunft Wellmer, A.<br />

(1986): Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik,<br />

Frankfurt, S. 171f., wo Wellmer die Vernunft als „Zusammenspiel partialer<br />

Vernunftmomente“ bezeichnet.<br />

95 Vgl. zu diesem Abschnitt Welsch (1996: 444ff.) im Besonderen und ausführlicher<br />

Welsch (1996: 541ff.).


Es ließe sich einwenden, dass eine Neubestimmung der Extension der Rationalität<br />

noch nicht an deren Grundfesten rüttelt, selbige also nicht grundlegend<br />

in Frage stellt; ganz im Gegenteil: eine Ausweitung könnte eher mit<br />

einer <strong>St</strong>ärkung des jeweiligen Rationalitätstyps in Verbindung gebracht werden,<br />

als mit Schwächung durch Infragestellung. Doch Welsch geht auch in<br />

diesem Punkt weiter. So beschränkt sich bei ihm der Einfluss der Paradigmen<br />

auf die Rationalität nicht auf die Extension derselben, sondern setzt<br />

sich auch mit der inneren Verfassung und Methodik der Rationalität auseinander.<br />

So wie Paradigmen auch nicht nur Extension, nur Grenzziehung bedeuten,<br />

sondern Kriterien und Methodiken generieren, prüfen und vertreten,<br />

so ist deren Interaktion mit der Bedingung der Rationalität nicht nur äußerlicher,<br />

sondern auch und vor allem innerlicher Natur. Es entsteht eine Dialektik<br />

zwischen Paradigma und Rationalität, deren Charakteristik die formale<br />

und innere Verfasstheit beider Seiten evolviert.<br />

Durch die Verflechtung zwischen Paradigmen unterschiedlicher Rationalitätstypen<br />

entsteht zudem nicht nur innerhalb einer Rationalität die prozessuale<br />

<strong>St</strong>ruktur einer Methoden- und Theorien-Dialektik seiner Teile; es<br />

kommen auch die Beziehungen der Rationalitäten zueinander durcheinander.<br />

Diese „Unordentlichkeitswirkungen“ 96 sind aber keineswegs zu verwechseln<br />

mit Bereichen irrationaler Prozesse, sondern sind ganz im<br />

Gegenteil aus der Entwicklung der Rationalitäten selbst zu erklären. So ist<br />

die Auflösung der eigenen Grenzen aus Sicht der Rationalität rational<br />

rekonstruierbar; es handelt sich somit um „rationale Unordentlichkeit“ 97 und<br />

ist aus diesem Grund auch zentral relevant aus der Perspektive eines<br />

vernunftkritischen Ansatzes.<br />

Darüber hinaus kann es nach Welsch im Zuge der Verflechtungen zu gefestigten<br />

Verbindungen zwischen Paradigmen kommen, welche in ihrer<br />

<strong>St</strong>ruktur quer zu den Rationalitätsbereichen liegen und lateral sich ins Ganze<br />

der Rationalität erstrecken. Durch eine Bewährung im Ganzen kann es zu<br />

einer Etablierung dieser Paradigmenverbände kommen, so dass unterschiedliche<br />

Versionen des Ganzen entstehen. Das Ganze der Rationalität<br />

wird auf diese Weise perspektivisch unterschiedlich konstruiert und rekonstruiert<br />

und erscheint zudem plural konstituiert. Diese plurale Konstitution<br />

ist schon im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung der Vernunft in<br />

96 Welsch (1996: 445).<br />

97 Welsch (1996: 447; Hervorhebung im Original).<br />

117


Rationalitäten angeklungen, erfährt aber durch diese Paradigmenbetrachtung<br />

eine neue Qualität. Es ist nun nicht mehr die Methodik der Komplexitätshandhabung,<br />

welche Pluralität identifiziert und durch eine Teilung gerecht<br />

zu werden versucht, sondern jetzt ist es eine eigen initiierte Dynamik,<br />

welche von innen Pluralität selbstorganisatorisch und eigensinnig erzeugt.<br />

Diese eigengesetzliche Dynamik fordert einen phänomenologischen <strong>St</strong>atus<br />

der Autonomie und operationale Geschlossenheit ein. 98<br />

Zusammenfassend besteht die Pluralisierung der Paradigmen aus drei<br />

Aspekten:<br />

� Die Konfliktlage konkurrierender Paradigmen<br />

� Die Verflechtungen zwischen Rationalitätsbereichen<br />

� Unterschiedliche Konstruktionen des Ganzen<br />

Sie stellen die charakteristischen Parameter der rationalen Unordentlichkeit der<br />

Rationalität dar. Diese rationale Unordentlichkeit gilt es, nach Welsch, „als<br />

Realverfassung der Rationalität zu erkennen“ 99.<br />

Es zieht sich diese Bestandsaufnahme struktureller Verflechtungen auch<br />

durch die einzelnen diskursiven Konstitutionsprozesse der Rationalitätstypen<br />

hindurch. So muss man sich gleichsam in der Frage nach Grenzen von<br />

Rationalitätstypen mit der Frage der Unterscheidung bzw. eindeutiger<br />

Zuordnung von Diskursen auseinandersetzen. Um nicht den gesamten<br />

Argumentationsstrang nachzuzeichnen, sei an dieser <strong>St</strong>elle zusammenfassend<br />

referiert, dass Welsch eine trennscharfe Differenzierung der Diskurse<br />

(ästhetisch, moralisch-praktisch, kognitiv-instrumentell) ablehnt. Er beschreibt<br />

und belegt in einer genaueren Analyse der Referenzbereiche der<br />

einzelnen Diskursarten, wie sich die These der Verflechtung im Gegensatz<br />

zum Trennungstheorem größerer Plausibilität erfreuen kann. 100 Dabei stellt<br />

er bezüglich der Referenzbereiche fest, dass keine der drei Diskursarten sich<br />

alleinig auf ihren jeweiligen Bereich bezieht, sondern immer auch Elemente<br />

98 Diese beiden Parameter, Autonomie und operationale Geschlossenheit, ergeben sich<br />

aus der Feststellung, dass Pluralität selbstorganisatorisch entsteht. Diese Form der<br />

Genese produziert und reproduziert diese beiden Parameter, da sie zu ihrem Fortbestand<br />

beitragen, quasi automatisch im Prozess der Autopoiese. Dies kann an dieser<br />

<strong>St</strong>elle nicht näher ausgeführt werden. Es sei dabei verwiesen u. a. auf Probst (1987),<br />

Krohn/Küppers (1990). Hier werden die Zusammenhänge von Eigengesetzlichkeit,<br />

Selbstorganisation und Autopoiese detaillierter erläutert.<br />

99 Welsch (1996: 446).<br />

100 Vgl. zu der Analyse der Diskursarten Welsch (1996: 461-539).<br />

118


aus anderen Bereichen ‚importiert‘ und somit Verflechtungen erzeugt. Der<br />

ästhetische Diskurs beispielsweise<br />

„(...) ist kein rein ästhetischer, sondern von seiner Grundschicht her immer<br />

auch schon ein moralisch-praktischer Diskurs. Autonomieforderung, Gestaltungsgebot<br />

und Freiheitsstatus sind ihm von dorther eingeschrieben. Noch in<br />

der Zieldoppelung, die für ihn charakteristisch ist – im Oszillieren zwischen<br />

Kunstpurismus und Lebensdienlichkeit -, wirkt diese moralische Grundierung<br />

nach.“ 101<br />

Ähnlich verhält es sich auch mit den anderen beiden Diskursarten. In dem<br />

Verflechtungsbefund gilt es zudem, sich gegen andere charakteristische Verbindungstypen<br />

abzugrenzen. So stand und steht die Majorisierung einer<br />

Diskursart durch eine andere dem Heterogenitätstheorem entgegen, denn<br />

was inkommensurabel zueinander ist, kann auch nicht durch einander ersetzt<br />

bzw. teilweise substituiert werden. Die Verflechtungsthese hebt diesen<br />

Widerspruch zwar auf, ist selbst aber deutlich von der Majorisierung zu<br />

unterscheiden. Denn Letztere kennt das plurale Gleichgewicht nicht und ein<br />

möglichst ganzheitliches und ausgewogenes Annähern an Sachverhalte kann<br />

danach nur aus der Perspektive eines Favoriten geschehen, welcher die übrigen<br />

ausblendet. 102<br />

Im Gegensatz zu der Verfasstheit der Paradigmenverflechtungen rekurriert<br />

Welsch bei der Beschreibung der Verfasstheit der Diskursverflechtungen auf<br />

den Wittgensteinschen Terminus der „Familienähnlichkeit“. 103 Diese bildet<br />

den Referenzpunkt der Kohärenz der Diskursarten, hebt dabei aber deren<br />

Differenzierungspotential zueinander nicht vollständig auf. Somit bleibt<br />

nachvollziehbar, von unterschiedlichen Diskursarten zu sprechen, jedoch<br />

nicht in einer Art und Weise, welche Separation und Inkommensurabilität<br />

101 Welsch (1996: 527).<br />

102 Welsch referiert zu dieser Thematik besonders prominente Majorisierungen. So zum<br />

Beispiel das Primat des Erkennens bei Sokrates, welches die Kultur der Dominanz des<br />

Kognitiven aussetzt und welches nach Nietzsche („das mörderische Princip“; 1872)<br />

zum Untergang der antiken Tragödie geführt hat. Vgl. Nietzsche, F. (1872): Die<br />

Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders. (1980), Sämtliche Werke,<br />

Kritische <strong>St</strong>udienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Colli, G./Moutinari, M., Bd. I,<br />

München, S. 9-156, hier S. 85. Auch bei Hegel lässt sich anfangs eine ästhetische Majorisierung<br />

identifizieren (Hegel: Mythologie der Vernunft), welche später zu einer<br />

kognitiven Majorisierung mutierte (Hegel: Ästhetik), zitiert nach Welsch (1996: 530ff.).<br />

103 Vgl. Wittgenstein, L. (1984): Philosophische Untersuchungen, in: ders. (1984), Werkausgabe,<br />

Bd. I, Frankfurt, S. 225-580, zitiert nach Welsch (1996: 396ff.).<br />

119


der Diskurse impliziert. Genauer expliziert sich die Art der Zuordnung der<br />

Diskursarten zueinander genealogisch:<br />

120<br />

„Der neue Kandidat hat seine Konturen durch Bezugnahme auf vorhandene<br />

Bestände des Diskurses gewonnen, hat sich mit deren Hilfe ausgezeugt.“ 104<br />

Damit ist nicht gesagt, dass den Diskursarten ein ‚Wesen‘ gemeinsam sein<br />

muss, auch müssen sie nicht allesamt nur ein einziges Merkmal teilen, sondern<br />

gemeinsam ist ihnen die Zuordnung zu der jeweiligen Gruppe. Für den<br />

Zusammenhang des Ganzen kann es sogar von Vorteil sein, wenn nicht nur<br />

ein einziges Merkmal alles zusammenhält. Denn bei Wegfall dieses Merkmales<br />

wäre gleich das Ganze gefährdet. So sind Schnittmengen, welche von<br />

Diskursart zu Diskursart, von Diskursversion zu Diskursversion variieren<br />

oftmals stabiler, da bei Ausfall bzw. Defektion einer Schnittmenge das Ganze<br />

als Zusammenhang nicht grundsätzlich zur Disposition steht. Die Vielfalt<br />

und Heterogenität der Verbindungen macht eine ebenso heterogene wie vielfältige<br />

Defektionsstruktur notwendig, welche schon an sich nur schwer vorstellbar<br />

ist, jedoch in der Wahrscheinlichkeit der Deckungsgleichheit mit der<br />

realen Schnittmengenstruktur nahezu gegen Null geht. 105 Es bleibt festzustellen,<br />

dass die konvergente Wirkung dieses Zuschreibungsmodus über<br />

heterogene Schnittmengen konstitutiv für die Familienähnlichkeit der Diskursarten<br />

wirkt.<br />

6.2 Zentrale Verhältnisbestimmungen<br />

Neben die Gegenstandsbestimmungen stellen sich die Verhältnisse als zentral<br />

charakteristische Parameter einer Konzeption. Im Folgenden werden<br />

zwei relevante, weil die Konzeption von Welsch zentral charakterisierende<br />

Verhältnisbestimmungen erläutert.<br />

6.2.1 Vernunft und Rationalität<br />

Der Versuch, Vernunft und Rationalität voneinander, miteinander oder gegeneinander<br />

zu differenzieren, ist an dieser <strong>St</strong>elle als eine Annäherung zu<br />

104 Welsch (1996: 536).<br />

105 So auch Wittgenstein (1984: I, 278, zitiert nach Welsch 1996: 538): „(...) die <strong>St</strong>ärke des<br />

Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern<br />

darin, daß viele Fasern einander übergreifen.“


verstehen, welche zum Ziel hat, aus den Erkenntnissen über das Verhältnis<br />

von Rationalitäten zueinander Rückschlüsse auf die Verfasstheit von Vernunft<br />

zu ziehen. Zusätzlich ist für die weitere Argumentation relevant, die<br />

Möglichkeit einer Transformation bzw. Transzendenz der ökonomischen<br />

Rationalität in eine ökonomische Form von Vernunft zu prüfen. Die Verschränkung<br />

und Unterschiedenheit von Vernunft und Rationalität stellen<br />

sich wie folgt dar. 106<br />

Nach Welsch lassen sich Vernunft und Rationalität nicht vollständig voneinander<br />

separieren. Ihre Reflexionstätigkeit ist nicht grundlegend verschieden,<br />

doch ist sie in „Ausrichtung und Funktion“ 107 zu differenzieren. Dabei<br />

scheint eine gewisse Figur der Umklammerung der Rationalität durch die<br />

Vernunft durchzuscheinen, ohne aber zu implizieren, dass die Rationalität<br />

ein Teil der Vernunft ist. Die Umklammerung kommt nämlich eher einer<br />

Klammerung gleich, die die Verhältnisse der Rationalitätstypen zueinander<br />

beschreibt und handhabt. Die Vernunft ist damit nicht Meta-Rationalität,<br />

kann also nicht hierarchisiert werden und ist in ihrem ‚Wesen‘ der ausgewogenen<br />

Ganzheitlichkeit per se nicht vergleichbar mit der Rationalität. Welsch<br />

fasst dies wie folgt zusammen:<br />

„Beider [Rationalität und Vernunft; T.B.] Unterschied kann pauschal folgendermaßen<br />

angegeben werden: es ist die Funktion von Rationalität, sich auf<br />

Gegenstände zu beziehen; die von Vernunft hingegen, sich auf Rationalität<br />

und Vernunft zu beziehen. Die Operationen der Vernunft sind Operationen<br />

zweiter, die der Rationalität solche erster <strong>St</strong>ufe. Gleichwohl bedeutet dies nur,<br />

daß Vernunft und Rationalität zu unterscheiden, nicht aber, daß sie zu trennen<br />

sind. Vernunft und Rationalität stellen im Grunde dasselbe reflexive Vermögen<br />

dar - nur in unterschiedlicher Ausrichtung und Funktion. Mit dem Ausdruck<br />

‚Rationalität‘ verweisen wir auf seine gegenstandsthematisierenden, mit dem<br />

Ausdruck ‚Vernunft‘ auf seine rationalitäts- und selbstbezogenen Leistungen.“<br />

108<br />

Somit treffen Rationalitäten Gegenstandsaussagen und konstituieren Bereiche,<br />

innerhalb derer sie ihre Kriteriensätze und Methoden entfalten. Die Gegenstandsaussagen<br />

beziehen sich dabei weder explizit auf das Verhältnis der<br />

106 Vgl. zum Folgenden Welsch (1996: 635ff.).<br />

107 Welsch (1996: 635).<br />

108 Welsch, W. (2000a): Vernunft und Übergang - das Konzept der transversalen Vernunft,<br />

in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 79-91, hier S. 87; Hervorhebungen im Original; Fußnoten<br />

weggelassen.<br />

121


Rationalitäten zueinander noch ist ihr Bereich der gesamte Bereich der Rationalitäten.<br />

Vernunft dagegen ist vornehmlich durch das „Vermögen der<br />

Selbstreflexion“ 109 gekennzeichnet. Diese Reflexion bezieht sich im Gegensatz<br />

zur Gebietsorientierung der Rationalität auf Totalität; die Vernunft<br />

122<br />

„(...) will alles in den Blick nehmen, immer noch einen Schritt weiter gehen,<br />

sie will herausfinden, wie die Dinge im letzten zusammenhängen.“ 110<br />

Abgesehen davon, dass die Vernunft selbst wohl nicht Akteur ihrer selbst ist,<br />

also auch nichts „wollen“ kann, sondern dies durch das Individuum geschieht,<br />

präsentiert sie sich in einem Zugang zu den Reflexionsobjekten, der,<br />

neben den Objekten selbst, die Zusammenhänge der Objekte zueinander<br />

thematisiert. 111 Dieses perspektivenüberschreitende Vermögen thematisiert<br />

somit auch die Möglichkeit der Konnexion von Bereichen. Vernunft ließe<br />

sich als dasjenige identifizieren, welches Heterogenität und Konnexion zusammendenkt<br />

und nicht nebeneinander. Der transversale Charakter wäre<br />

auf dieser Ebene das tatsächliche Verbinden von heterogener Verfasstheit<br />

und multipler Verflechtung. Dies bedeutet im Welsch’schen Ansatz, dass<br />

nicht nur Verflechtung von Rationalitäts-, Diskurs- oder Paradigmenversionen<br />

gedacht wird, sondern dass darüber hinaus die Pluralität dieser<br />

Teile, welche Verflechtungen eingehen, mit eben dieser Verflechtung zusammengedacht<br />

wird.<br />

Wie schon angedeutet, thematisiert die Vernunft das Verhältnis der Teile des<br />

Ganzen. Hiermit ist das Verhältnis - als prozessuale Dimension einer wie<br />

auch immer gearteten Handhabung einer wie auch immer gearteten Umwelt<br />

- mit dem pluralen <strong>St</strong>atus des Gegenstandes - als Dimension der Verfasstheit<br />

der wie auch immer gearteten <strong>St</strong>ruktur eines wie auch immer gearteten Ganzen<br />

- in Beziehung gesetzt. <strong>St</strong>atus und Prozess stehen in einer Relation des<br />

Ganzen – auch wenn dieses ‚Ganze‘ selbst nur eine Relation seinerseits darstellt.<br />

Eine wie auch immer geartete Vernunft ist in diesem Sinne die Handhabung<br />

paradoxaler Komplementaritäten, die in ihrer Differenzierung verbinden,<br />

die in ihrer Bewegung Kontinuität suchen, die in ihrer Totalität relativ<br />

und plural sind.<br />

109 Welsch (2000a: 80).<br />

110 Welsch (2000a: 87).<br />

111 Eine Kritik an der Personifizierung von Vernunft wird an späterer <strong>St</strong>elle aufgenommen.<br />

Vgl. Abschn. 9.2.3.


Neben der unterschiedlichen Vollzugs- und Bezugscharakteristik von Vernunft<br />

und Rationalität ist deren Mengenstatus zu klären. Während Totalitätsbzw.<br />

Bereichsorientierung prozessuale Bestimmungen sind, ist deren jeweiliger<br />

<strong>St</strong>atus in ihrer Lokalität, in ihrer inhaltlichen Extension bislang unterterminiert<br />

- insbesondere im Verhältnis zueinander. Welsch möchte hier mit<br />

einem, nach seiner Meinung, traditionellen Missverständnis aufräumen, welches<br />

die Vernunft als Meta-Rationalität konzipierte. Dies ergab sich aus der<br />

traditionellen Vernunftkonzeption, die der Vernunft einer inhaltlichen Bestimmung<br />

zugeführt hatte, einem „Satz fundamentaler und inhaltlicher<br />

Prinzipien (...), der ihr die Dekretierung einer Meta-Ordnung für alle Gegenstände<br />

und für all unser Verstehen und Begreifen ermöglichte“ 112. Diese traditionelle<br />

Interpretation verfehlt den Begriff der Vernunft und dessen Charakteristik<br />

„in grundsätzlicher Weise“ 113.<br />

Wie verhält sich jedoch nun die Vernunft zu der Rationalität, wenn sie nicht<br />

über ihr steht? Nach Welsch ist die Vernunft immer schon in der Rationalität<br />

enthalten, da sich die Rationalität derselben „logischen Prinzipien bedient,<br />

die wir zuvor als <strong>St</strong>rukturen der Vernunft identifiziert haben“ 114. Aufgrund<br />

dieser Überschneidung in den formalen Vollzügen schließt Welsch, dass<br />

Vernunft ein „immanentes und notwendiges Moment von Rationalität“ 115 ist.<br />

Somit können also beiden dieselben formalen Logiken zugeschrieben<br />

werden, und die Unterscheidung zwischen ihnen bezieht sich auf die<br />

Differenz in der Perspektive, wie bereits oben schon erwähnt.<br />

„In gewissem Sinne beginnen die Aufgaben der Vernunft dort, wo die Interessen<br />

der Rationalität enden. Während Rationalitätstypen ihr Verhältnis zu<br />

anderen Typen und Gebieten nur sekundär und in strategischer und selbstsichernder<br />

Absicht ins Auge fassen, widmet Vernunft sich genuin der Frage<br />

nach dem Verhältnis der diversen rationalen Formen – und zwar in einem<br />

Geist fortgesetzter Klärung und vorbehaltloser Gerechtigkeit.“ 116<br />

Unklar bleibt, warum der Inhalt von Vernunft rein formaler Natur sein soll,<br />

wenn als Inhalt gerade dasjenige beschrieben wird, was von der Rationalität<br />

aufgrund ihrer durch den Bereich beschränkten Perspektive nicht mehr er-<br />

112 Welsch (2000a: 86).<br />

113 Ebenda.<br />

114 Welsch (2000a: 87).<br />

115 Ebenda.<br />

116 Ebenda.<br />

123


fasst werden kann. Somit scheint doch ein Inhalt der Vernunft bestehen zu<br />

bleiben. Dieser Inhalt ist aber qualitativ unterschiedlich zu den Inhalten der<br />

Rationalität. Dies ist Ansatzpunkt für die spätere kritische Reflexion. 117<br />

Zusammenfassend, wenn auch weder umfassend noch abschließend, lassen<br />

sich die Welsch‘schen Differenzierungen von Vernunft und Rationalität mit<br />

Keller beschreiben:<br />

124<br />

„Die Unterscheidung zwischen Rationalität und Vernunft wird von Welsch<br />

auf verschiedene Weise getroffen: (1) Vernunft ist selbstbezogen, während<br />

Rationalität objektbezogen ist. Die Funktion ist es, das Denken auf sich selbst<br />

und auf seine Prinzipien zu beziehen, während die Funktion der Rationalität<br />

es ist, Gegenstände begrifflich zu erfassen. (2) Vernunft ist rein formal, während<br />

Rationalität inhaltsbezogen ist. (3) Vernunft ist totalitätsbezogen, während<br />

Rationalität auf einen begrenzten Gegenstand oder Bereich von Gegenständen<br />

bezogen ist.“ 118<br />

6.2.2 Vernunft und Totalität<br />

Wie Welsch ausführt, gibt es erste Anzeichen für eine Infragestellung der<br />

(totalitären) Einheitsidee bereits bei Platon. 119 Dieser richtete seine Aufmerksamkeit<br />

in seiner Spätphilosophie auf Ideenverhältnisse, die beschreiben<br />

sollten, welche Grundtypen in der Betrachtung von Gemeinsamkeit und<br />

Unterschied vorliegen. Neben dem Verhältnis der Durchgängigkeit (eine Idee<br />

wird von einer anderen durchdrungen), dem Verhältnis der Komplexion (eine<br />

Idee umfasst mehrere andere) und dem Verhältnis der Konstellation (mehrere<br />

Ideen konstituieren eine andere) trifft Platon auf das Verhältnis der Heterogenität<br />

(die Ideen haben aufgrund des Grades ihrer Unterschiedlichkeit keine<br />

Gemeinsamkeiten). Dies zieht die Konsequenz nach sich, dass in diesen<br />

Fällen auch bei vorhandener Einheitsintention die Ideen nicht zusammengeführt<br />

werden können, somit auch keinen gemeinsamen Ideenstrang<br />

bilden. Welsch vergleicht die Ideen und deren <strong>St</strong>ruktur-Befund mit seinem<br />

Befund der Paradigmen, wie zuvor bereits ausgeführt wurde. 120 Welsch fasst<br />

dies wie folgt zusammen:<br />

117 Vgl. Abschn. 7.3.1.<br />

118 Keller, P. (2000): „Ist die Vernunft noch zu retten?“, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 108-110,<br />

hier S. 108.<br />

119 Die Ausführungen zu dieser Fragestellung beziehen sich überwiegend auf Welsch<br />

(1996: 637ff.).<br />

120 Siehe hierzu Abschn. 6.1.2 und bei Welsch (1996: 642, Fußnote 8).


„Nicht Einheit also ist das letzte Pensum des Platonischen Philosophen -<br />

dieses alte, parmenideische Einheitspathos läßt er vielmehr hinter sich -, und<br />

nicht Sophistik ist sein Schicksal - vor dieser, die nur für Unkundige der Dialektik<br />

zum Verwechseln ähnlich sieht, bewahrt ihn sein differenziertes<br />

Bestimmungsvermögen -, sondern der „rein und recht Philosophierende“<br />

führt die <strong>St</strong>ruktur des Ganzen als eine <strong>St</strong>ruktur mannigfaltiger Unterscheidungen<br />

und Verflechtungen vor Augen.“ 121<br />

Auch d’Alembert, der Wissen systemisch rekonstruiert, muss auf der Suche<br />

nach einem alles übersehenden <strong>St</strong>andpunkt schließlich kapitulieren und feststellen,<br />

dass jeder <strong>St</strong>andpunkt nur eine Perspektive sein kann, nur eine<br />

Sicht. 122 Die Übersicht existiert über Inseln im Ozean, nicht über deren Verbindungen<br />

unter dem Meeresspiegel. So bleibt eine Perspektive immer der<br />

Willkür verhaftet, der Willkür ihrer Auswahl als Ausgangspunkt. 123 Alle<br />

unterschiedlichen Perspektiven weisen dabei <strong>St</strong>ärken und Schwächen auf,<br />

und es scheint keine auffindbar, die die <strong>St</strong>ärken aller anderen in sich vereint,<br />

ohne dies auf Kosten von Schwächen bewerkstelligen zu können.<br />

Auch Wittgenstein scheint, so Welsch, in den Kanon der Perspektivenvielfalt<br />

einzustimmen. Die von unterschiedlichen Philosophen im Laufe der Jahrhunderte<br />

angefertigten „Landschaftsskizzen“ des vermeintlich Realen kommen<br />

nur in ihrer Gesamtheit, quasi als übereinander gelegte Folien, dem Tatsächlichem<br />

nahe; sie vermögen in ihrer Ansammlung dem Betrachter „ein<br />

Bild der Landschaft“ 124 zu vermitteln.<br />

121 Welsch (1996: 642f.).<br />

122 Vgl. hierzu d’Alembert/Diderot et al. (1989: 53f.). Auch Barthes deutet die Frage des<br />

Ganzen und des Zugangs zu diesem in Bezug auf das literarische Herzstück der<br />

Französischen Revolution an: „Die Enzyklopädie hört nicht auf, eine pietätslose Fragmentierung<br />

der Welt vorzunehmen, aber was sie an der Grenze dieses Bruchs findet,<br />

ist nicht der gänzlich reine Urzustand der Ursachen. Das Bild zwingt sie meistens,<br />

einen eigentlich unverständigen Gegenstand wieder zusammenzusetzen; ist die erste<br />

Natur einmal aufgelöst, taucht eine andere Natur hervor, ebenso geformt wie die<br />

erste. Mit einem Wort: das Aufbrechen der Welt ist unmöglich: Ein Blick genügt - der<br />

unsrige - damit die Welt immerwährend vollständig ist.“ (Barthes, R. (1989): Bild,<br />

Verstand, Unverstand, in: d‘Alembert/Diderot (1989), S. 30-49, hier S. 48; Hervorhebung<br />

im Original; ursprünglich entnommen aus: Barthes, R./Seguin, J.P./Mauzi, R.<br />

(1964): L’Univers de L’Enzyklopédie, Paris).<br />

123 Auch Habermas deutet eine „rekontextualisierende Vernunftkritik“ (Habermas 1998:<br />

222) in ihren Grenzen der immanenten Kritik: „Wenn es jedoch keine Vernunft gibt,<br />

die ihren eigenen Kontext übersteigen kann, wird auch der Philosoph, der dieses Bild<br />

vorschlägt, keine Perspektive für sich in Anspruch nehmen dürfen, die ihm einen solchen<br />

Überblick erlaubt.“ (Habermas 1998: 223).<br />

124 Wittgenstein (1984: 231f., zitiert nach Welsch 1996: 646).<br />

125


Kant bezeichnet Einheit als subjektives Bedürfnis, nicht als objektives Faktum.<br />

Zwar stellt Kant als Subjekt nicht das Individuum vor, sondern es ist<br />

die Vernunft selbst, welche die Einheit anstrebt. In der „Methodenlehre“ der<br />

Kritik der reinen Vernunft entwickelt Kant eine Symbiose aus Architektonik<br />

und Vernunft, aus System und Vernunft, wodurch jegliche Vernunftannäherung<br />

einem Einordnungsschritt in die (Einheits-)Architektur gleichkommt.<br />

Jedoch, und dies ist aus Perspektive der Welsch’schen Konzeption besonders<br />

interessant, sind auch bei Kant Anzeichen dafür zu finden, dass zum einen<br />

das Interesse der Vernunft nach Einheit selbst wiederum der Reflexion durch<br />

die Vernunft unterliegt und zum anderen daraus folgend, dass die prinzipielle<br />

Möglichkeit einer Integration von Vielheit in eine Vernunftskonzeption<br />

damit nicht ausgeschlossen werden kann. So würde eine Vernunftentwicklung<br />

um ihrer selbst Willen das Telos von Vernunft, die Wahrheit, konterkarieren.<br />

Das Vernunftinteresse „Einheit“ ist somit durch die letztliche Reflexion<br />

am Gedanken der Wahrheit, der authentischen Wahrnehmung von<br />

Realem, relativiert und kann situativ der Vernunft selbst und ihrem Telos<br />

untergeordnet werden.<br />

Diese Relativierung des Interesses der Vernunft ergibt sich stringent, insbesondere<br />

in postmoderner Auffassung, aus der „Maxime der Selbsterhaltung<br />

der Vernunft“ 125. Die Befolgung dieser Maxime soll eine Selbstzerstörung<br />

durch den Selbstzweck unmöglich machen. Es ist der Zielpunkt der Vernunft<br />

in der Wahrheit wohl absolut, jedoch die Vernunft selbst als Weg zur Erfassung<br />

nur „relativ absolut“, nämlich in dem Grade, in dem eine Annäherung<br />

an die Wahrheit gelingt. Dieses jedoch kann nicht zweifelsfrei festgestellt<br />

werden. Welsch hilft sich mit der terminologischen und damit auch semantischen<br />

Differenzierung eines „Ausgriffs aufs Ganze“ statt eines „Zugriffs“. 126<br />

In dieser Unterscheidung nämlich wird dem Paradoxon Rechnung getragen -<br />

und dies berührt den methodisch kritischen Kern der Totalitätsdebatte -,<br />

welches zwischen zwei Unmöglichkeiten generiert wird, nämlich<br />

126<br />

„(...) zwischen der logischen Unmöglichkeit einer Einschränkung des Ganzheitsanspruchs<br />

und der faktischen Unmöglichkeit eines Zugriffs aufs Ganze.<br />

Diesem Dilemma ist nur zu entkommen, wenn es eine Weise des Ausgriffs<br />

aufs Ganze gibt, die nicht von der Art eines Zugriffs ist. (...) Daher gehört zu<br />

Vernunft stets die Doppelfigur von Ausgriff aufs Ganze und Wissen darum,<br />

125 Kant, „Was heißt: sich im Denken orientieren?“, A 329, zitiert nach Welsch (1996: 653);<br />

Hervorhebungen im Original.<br />

126 Welsch (1996: 662).


daß dieses Ganze nicht handhabbar, nicht besetz- und besitzbar, nicht positiv<br />

zu kanonisieren ist. Fällt eines der beiden Momente weg, so verkehrt Vernunft<br />

sich in Unvernunft, und aus der Berufung auf Vernunft geht eine Praxis der<br />

Unvernunft hervor.“ 127<br />

So stellt sich die Vernunft selbst nicht als das Ganze, das Allumfassende dar,<br />

als Garant des Absoluten, sondern als Zugang, als Konnektion zum Absoluten,<br />

von welchem die Vernunft nie Teilhaberin werden kann, sondern immer<br />

nur Teilnehmerin in Form einer Ahnung vom Absoluten bleibt.<br />

Welsch beschreibt die vermeintlich zentralen Aspekte dieses paradigmatischen<br />

Wandels von Einheit zur Vielheit auch in der Frage nach einer <strong>St</strong>ruktur<br />

und Verfassung der Vernunft durch „Diversität als Signatur des Ganzen“<br />

128 und „Bejahung letzter Vielheit“ 129. Die Diversität als kognitiver Parameter<br />

auf der einen Seite beschreibt die neuartige Antwort auf die Frage<br />

nach der Ganzheit, nach Totalität. Es muss die „Entkoppelung von Ganzheitsfrage<br />

und Einheitsantwort“ 130 erreicht bzw. ergänzt werden durch<br />

„(...) die positive Formel „Verkoppelung von Ganzheitsfrage und Vielheitsauskunft“.<br />

Ganzheit bleibt die unverzichtbare Perspektive der Vernunft. Aber<br />

heute führt deren Verfolgung auf <strong>St</strong>rukturen der Diversität.“ 131<br />

Es ergibt sich daraus eine Verschiebung der Einheit auf die Ebene der pluralen<br />

Teile. Man könnte insofern antworten, dass die Ganzheitsfrage in<br />

modernem Sinne nur auf Ebene der Rationalitäten und deren Einheit beantwortet<br />

werden kann. Einheit bedeutet dann die Einheit der Rationalitäten als<br />

Teile eines vielfältigen Ganzen. Auf Ebene der Vernunft muss man sich mit<br />

der Diversität auseinanderzusetzen.<br />

Die „Bejahung letzter Vielheit“ ist weit mehr als nur eine Geschmacksfrage.<br />

Die Attraktivität von Einheit durchzieht die ganze Menschheitsgeschichte<br />

und steht in direktem Zusammenhang mit der Suche nach Orientierung,<br />

nach Kontinuität, nach Erfass- und Verstehbarem. Dort, wo nach Einheit gesucht<br />

wird, dort entwickeln sich Eigendynamiken, so dass auch diejenigen<br />

Dinge, die vielleicht von der Norm abweichen mögen, unter dem Blick-<br />

127 Ebenda.<br />

128 Welsch (1996: 659ff.).<br />

129 Welsch (1996: 662ff.).<br />

130 Welsch (1996: 660).<br />

131 Ebenda.<br />

127


winkel der Einheit in die Masse eingegliedert werden. Dies findet immer<br />

dann allgemeine Unterstützung, wenn<br />

� diese Abweichungen in expliziter Minorität auftreten und<br />

� die Eingliederung dieser Elemente einen zu vertretenden Anpassungsgrad<br />

derselben nicht überschreitet.<br />

Schon hier ist die Frage nach dem Kriterium der Vertretbarkeit vor die unlösbare<br />

Asymmetrie der Betroffenenzahl zur Gesamtzahl gestellt. Auch<br />

wenn die Minorität die Anpassung als nicht vertretbar einstuft, so wird sie<br />

sich aufgrund ihres Minderheitenstatus in einer demokratischen Ordnung<br />

mit demokratischen Entscheidungsprozessen nicht durchsetzen können.<br />

Dies öffnet der Exploitation von Einheit und den damit verbundenen gesellschaftlichen<br />

und individuellen Dimensionen Tür und Tor; die geschichtlichen<br />

Inzidenzien zeigen das deutlich und haben insbesondere nach der erneuten<br />

Erschütterung durch den 2. Weltkrieg dazu geführt, dass dem Einzelnen,<br />

und damit dem einzelnen Element des Ganzen (Gesellschaft bzw.<br />

Menschheit) in seinem Beitrag zur Pluralität ein höherer <strong>St</strong>ellenwert beigemessen<br />

wurde. Die Betonung von Vielfalt wird wieder zum Politikum. Vor<br />

allem die Frankfurter Schule hat diese Intentionen aufgenommen und in<br />

ihren sozialwissenschaftlichen <strong>St</strong>udien elaboriert.<br />

128<br />

„In der Tat sind wir heute – oft wohl noch zögerlich, aber doch zunehmend<br />

verbreitet – auf dem Weg, eine derartige emotionale Umstellung zu vollziehen.<br />

Wir finden uns nicht nur gehalten, zum Ideal letzter Einheit auf Distanz<br />

zu gehen und uns mit letzter Unüberschaubarkeit zu befreunden, sondern wir<br />

tun dies de facto immer stärker und zunehmend selbstverständlich. Weithin<br />

gilt unsere Suche und Aufmerksamkeit Phänomenen der Diskontinuität, Ambivalenz<br />

und Ungewißheit, der Aufdeckung von Abweichungen und Alternativen,<br />

den Hinweisen auf offene Ränder.“ 132<br />

Durch diese geschichtliche Konkretisierung und theoretische Verdichtung<br />

ergeben sich aus der programmatischen Perspektive für die Vernunft Aufgaben,<br />

die mit der Verhinderung von Überstrapazierung bzw. Instrumentalisierung<br />

des Einheitsgedankens auf Kosten von Toleranz, Integration und<br />

Partizipation zu tun haben. Vernunft hat sich als Vermögen auszuformen,<br />

„das im Medium der Vielheit zu operieren und Lösungen zu finden erlaubt“<br />

133. Die Legitimation einer aktuellen Vernunftkonzeption muss sich an<br />

132 Welsch (1996: 667).<br />

133 Welsch (1996: 668).


ihrer Leistungsfähigkeit in der pluralen Wirklichkeit messen lassen, an der<br />

Fähigkeit, (kognitive) Voraussetzung für einen sinnvollen und gerechten<br />

Ausgleich von verschiedenartigen und in sich einheitlichen Elementen einer<br />

Vielfalt des Ganzen zu schaffen und zu etablieren. 134 Dabei kann in diesem<br />

Zusammenhang nur die Ebene der prinzipiellen kognitiven und emotiven<br />

Öffnung und Sensibilisierung für die Relevanz von Toleranz und Bejahung<br />

von Vielfalt angesprochen werden.<br />

Welsch spricht von der „Vernunft als Korrektiv der Formen der Rationalität“<br />

und meint damit in Bezug auf einzelne Paradigmen zum einen die<br />

„beschränkte Selbstauffassung“ und zum anderen das „unbeschränkte<br />

Selbstbewußtsein“. 135 Bei der Selbstauffassung der Paradigmen, Geltung nach<br />

innen, besteht der Verdacht der reduktionistischen Selbstwahrnehmung, d. h.<br />

es wird die eigene Komplexität nicht ausreichend wahrgenommen, sei es<br />

unbewusst oder bewusst. Das führt dazu, dass oftmals das eigene (paradigmatische)<br />

Potential nicht erkannt und ausgeschöpft wird, da das<br />

(reduktionistische) Bild nach außen auch wieder reduktionistisch nach innen<br />

wirkt. So wird das eigentlich Komplexe durch seine simplifizierende<br />

Darstellung nach außen tatsächlich simpel. Die Reduktion kann darauf<br />

zurückgeführt werden, dass Paradigmen vornehmlich um das Verfolgen der<br />

„intentio recta“ 136 bemüht sind. In ihrer Spezifikation, in ihrer fokussierenden<br />

Verengung liegt einerseits die Bedingung des Potentials und der Produktivität<br />

von Paradigmen begründet, andererseits aber bedarf es der Verflechtung<br />

dieser Spezifikation mit anderen Spezifikationen, was nur selten<br />

von Paradigmen geleistet wird. Die Spezifikation geht auf Kosten der Adap-<br />

134 Ähnlich auch Jameson, F. (1986b): Postmoderne - Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus,<br />

in: Huyssen, A./Scherpe, K.R. (Hrsg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen<br />

Wandels, Reinbek bei Hamburg, S. 45-102, hier S. 99f., zitiert nach Welsch (1993:<br />

157ff.). Welsch gibt Jameson diesbezüglich wie folgt wieder: „So wie es durch Ausbildung<br />

neuer Organe und Wahrnehmungsformen gelingen könnte, sich im postmodernen<br />

Hyperraum neu zu orientieren, so vermöchten eventuell neue, vernetzungserfahrene<br />

Denkformen im planetarischen Raum des multinationalen Kapitalismus einen<br />

neuen <strong>St</strong>andort zu begründen, der seinerseits neue Handlungsmöglichkeiten freisetzte.“<br />

(Welsch 1993: 158). Diese vernetzungserfahrenen Denkformen sind diejenigen,<br />

die die Pluralität, „Die Neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas, J. (1985): Die Neue<br />

Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt) überbrücken helfen.<br />

135 Welsch (1996: 673).<br />

136 Welsch (1996: 674).<br />

129


tion, der Fokus steht im kompetitiven Verhältnis zur Verflechtung, es wird<br />

Inkommensurabilität zwischen den Paradigmen erzeugt. 137<br />

Das überzogene Selbstbewusstsein bezieht sich auf die Geltung nach außen in<br />

Relation zu anderen Paradigmen. Die eigene Geltung wird tendenziell überschätzt,<br />

da der Blick nicht in dem Grade nach außen gerichtet ist, wie er zu<br />

einer annähernd authentischen Auffassung des Umfeldes und des eigenen<br />

<strong>St</strong>atus notwendig wäre. <strong>St</strong>att dessen wird überwiegend nach innen geschaut<br />

und der innere <strong>St</strong>atus in die scientific community projiziert. Die Überschätzung<br />

ist selbst schon eine logische Konsequenz der defizitären Wahrnehmung<br />

des Umfeldes, da zum einen die Relationen der eigenen Forschungstätigkeit<br />

verloren gehen und zum anderen auch die fruchtbare kritische<br />

Auseinandersetzung mit umliegenden oder auch diametral entgegengesetzten<br />

Ansätzen ungenutzt bleibt.<br />

Eine gewisse Form von absolutistischer Prägung kann Folge dieser fehlenden<br />

Auseinandersetzung sein. Ausschließlichkeitsansprüche werden auch nach<br />

außen hin formuliert, welche einen Dialog mit anderen, ähnlich operierenden<br />

Paradigmen nahezu unmöglich machen. Vernunft hat in dieser Charakteristik<br />

der Paradigmen die Aufgabe, für die eigene Komplexität, aber auch<br />

die Komplexität des Ganzen zu sensibilisieren.<br />

7 Transversale Vernunft in der kritischen Reflexion<br />

Die kritische Reflexion einer so umfangreichen und umfassenden Konzeption,<br />

wie sie Welsch vorstellt, steht vor dem grundsätzlichen Problem der<br />

Komplexität und damit auch vor der Frage der Selektion. Um möglichst<br />

übersichtlich der Forderung nach einer repräsentativen Darstellung des Reflexionsspektrums<br />

nachkommen zu können, werden im Folgenden historische<br />

und aktuelle Ansätze und Positionen der Welsch’schen Konzeption gegenübergestellt.<br />

138 Diese Gegenüberstellung verspricht, hilfreich in Bezug auf<br />

137 Vgl. nochmals Abschn. 5.3, wo die Konzeption der Heterogenität und Konnexion von<br />

Deleuze und Guattari Parallelen zur Welsch’schen Konzeption aufweisen kann und<br />

Elemente seiner Vernunftkonzeption widerspiegelt.<br />

138 Es versteht sich, dass die Kritik klassischer Ansätze an der Welsch’schen Konzeption<br />

in anderer Form geschieht, als die Skizzierung direkter aktueller Reaktionen auf die<br />

transversale Vernunft; klassische Ansätze können in ihrer Kritik nur hypothetisch<br />

entwickelt werden. Welsch selbst hat umfangreiche Analysen bezüglich der Bezüge<br />

zu anderen Ansätzen durchgeführt; auf diese sei sich hier hauptsächlich bezogen.<br />

130


die historische Einordnung aber auch auf eine begriffliche Schärfe zu sein.<br />

Die aktuellen zentralen Charakteristika sind dem Diskussionsbeitrag „Vernunft<br />

und Übergang - Zum Konzept der transversalen Vernunft“ in der<br />

Fachzeitschrift Ethik und Sozialwissenschaften (EuS), Jg. 11 (2000), Heft 1,<br />

entnommen. Auch die nachfolgende kritische Auseinandersetzung lehnt sich<br />

vor allem an die Kritik und ihre Replik an, die als Reaktion auf den Beitrag<br />

von Welsch in der selbigen Fachzeitschrift erfolgte. 139<br />

7.1 Historisch-begriffliche Verhältnisbestimmungen<br />

Durch die Auseinandersetzung mit profilierten Positionen kann die<br />

Welsch’sche Konzeption im Folgenden an Schärfe gewinnen. Insbesondere<br />

der zu Beginn aufgenommene Paradigma-Begriff wird durch die Auseinandersetzung<br />

mit der Kuhnschen Konzeption inhaltlich an Profil gewinnen.<br />

Ferner geht es darum, eine wie auch immer zu beschreibende Art von Weiterentwicklung<br />

der philosophischen wie auch wissenschaftstheoretischen<br />

Forschung durch den Welsch’schen Ansatz transparent zu machen. Dies<br />

kann nur über eine Integration in den Kontext historischer Erkenntnisprozesse<br />

erfolgen.<br />

Welsch sieht die postmoderne Zersplitterung der einheitlichen Moderne als<br />

fraktale Dichotomie seiner Teile, die auf historische Trennungsvorgänge<br />

rückführbar ist. Identifizierte Inkommensurabilitäten, konstruktivistische<br />

Geschlossenheit proklamieren die Unmöglichkeit von Konnexion, von Übergängen.<br />

In diesem Spannungsfeld von Heterogenität und Konnexion transportiert<br />

Welsch den Übergangsgedanken. Trennung versus Übergang generiert<br />

plural-konstruktive Bezugsrahmen, in welchen Welsch seine Konzeption<br />

entwickelt. Aus diesem Grunde sind die folgenden Abgrenzungen letztlich<br />

eine Demonstration nicht nur historischer und postmoderner Trennungsüberzeugung,<br />

sondern vor allem Vorstellung und Abgleich des reflektierten<br />

Übergangs. In der Auseinandersetzung mit dem Vernunft-Begriff bei<br />

Kant können die Anschlüsse und die Neuerungen bezüglich der Bestimmungen<br />

von Vernunft aufgezeigt werden.<br />

139 Auf allgemeine Darstellungen der transversalen Vernunft bei anderen Autoren kann<br />

nicht explizit eingegangen werden. Sofern sie keine überwiegend kritische Position<br />

einnehmen, werden sie hier „übergangen“. Ausgewählte Rezeptionen sind bspw.<br />

Sandbothe (1998: 77ff.); Wiesmann, D.H. (1989): Management und Ästhetik, München,<br />

S. 242ff.; Kirsch (u. a. 1992).<br />

131


7.1.1 Paradigma-Begriff nach Kuhn 140<br />

In der Welsch’schen Wiedergabe lässt sich der Kuhnsche Paradigma-Ansatz<br />

wie folgt charakterisieren: Der Paradigma-Begriff folgt einer dualen Differenzierung,<br />

welche man zum einen als rational-strukturell und zum anderen<br />

als exemplarisch charakterisieren könnte. Die rational-strukturelle Interpretation<br />

des Paradigma-Begriffs weist auf die Vorstellung einer unter dem Paradigma-Begriff<br />

subsumierten Konstellation von Meinungen, Werten und<br />

Methoden hin, welche in ihrer umfassenden Bedeutung leitend für das Denken<br />

und Handeln der sich in diesem Paradigma bewegenden Individuen<br />

sind. Der exemplarische Charakter weist hingegen auf ein Verständnis hin,<br />

welches das Paradigma als spezifische Problemlösungsstruktur interpretiert,<br />

die in ihrer Charakteristik zwar auch geleitet ist von Meinungen, Methoden<br />

und Werten, jedoch nur und im Besonderen in dieser spezifischen situationsabhängigen<br />

Problemstruktur zum Tragen kommt. 141 Diese zweite Semantik<br />

hebt sich deutlich von der ersten ab. Welsch vertritt den <strong>St</strong>andpunkt, dass<br />

diese zweite Semantik als ein Teil der ersten Interpretation gesehen werden<br />

kann. Damit hätte die exemplarische Deutung ihre Eigenständigkeit im Sinne<br />

einer Gleichwertigkeit zur rational-strukturellen Semantik eingebüßt.<br />

Auch Kuhn schränkt die exemplarische Bedeutung des Paradigma-Begriffs<br />

ein, lässt sie aber bestehen. Dies kann nach der Welsch’schen Konzeption<br />

nicht gelten, weil diese den Paradigma-Begriff unbedingt an den Rationalitätsbegriff<br />

angeschlossen sieht und als Resultante des zweiten Pluralisie-<br />

140 Grundsätzlich stützt sich die folgende Darstellung auf Kuhn, Th.S. (1977): Neue<br />

Überlegungen zum Begriff des Paradigmas, in: ders. (1977), Die Entstehung des<br />

Neuen. <strong>St</strong>udien zur <strong>St</strong>ruktur der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt, S. 389-420, Kuhn<br />

(1976), Kuhn (1979) und die Rezeption bei Welsch (1996: 543ff.) und Lueken (1992:<br />

118ff.).<br />

141 Diese spezifische Differenzierung ergibt sich aus dem spezifischen Forschungsinteresse<br />

von Welsch, stellt aber keine allgemein gängige Differenzierung dar. Da die Darstellung<br />

bei Kuhn vielfältige und zum Teil sich partiell widersprechende Charakterisierungen<br />

liefert, ist ein genaues Fassen der Definition nur schwer möglich. Masterman<br />

(1974) hat aus diesem Grund sich die Mühe gemacht, die unterschiedlichen Semantiken<br />

in drei Kategorien zu unterteilen. Diese Kategorien unterscheiden sich inhaltlich<br />

und differenzieren den Paradigmabegriff nach Kuhn. Masterman unterscheidet<br />

die Dimensionen metaphysisch (Glaubenssätze etc.), soziologisch (Gewohnheiten,<br />

Gemeinsamkeiten etc.) und konstruiert (konkretes Musterbeispiel). Lueken (1992: 119)<br />

schlägt vor, den Begriff „konstruiert“ durch „instrumentell“ zu ersetzen. Diese inhaltlichen<br />

Differenzierungen zeigen deutlich das „Gegengewicht“ zu einer rein phänomenologischen<br />

<strong>St</strong>rukturanalyse, wie Welsch sie vornimmt. Vgl. Masterman, M.<br />

(1974): Die Natur eines Paradigmas, in: Lakatos, I./Musgrave, A. (Hrsg.), Kritik und<br />

Erkenntnisfortschritt, Braunschweig, S. 59-88, zitiert nach Lueken (1992: 118f.).<br />

132


ungsschrittes identifiziert. Wäre das Paradigma exemplarisch zu verstehen,<br />

so implizierte dieser Pluralisierungsschritt gleichzeitig einen kategorialen<br />

Schritt. Die Qualität einer Rationalität wäre mit einer exemplarisch verstandenen<br />

Paradigmen-Konstruktion nicht vergleichbar, weil Letzterer die Reichweite<br />

eines situationsunabhängigen Handlungs- und Denkmusters fehlt.<br />

Demnach könnte aufgrund dieser kategorialen Asymmetrie nicht von einem<br />

zweiten Pluralisierungsschritt gesprochen werden, sondern es läge eine<br />

interne Differenzierung der Rationalität vor. Welsch baut aber grundsätzlich<br />

den Paradigmenbegriff in der Weise auf, dass eine Pluralisierung des Rationalitätsbereichs<br />

erfolgt, welche von diesem Bereich eben nicht definitorisch<br />

vereinnahmt wird, sondern über diesen hinausgeht. Es entstehen Paradigmen-Verknüpfungen<br />

beinahe unabhängig von den Grenzen der jeweilig<br />

betroffenen Rationalitäten. Die Paradigmen sind bei Welsch mehr noch als<br />

die Rationalitäten Gegenstände des Interesses. Sie sind die eigentlichen<br />

transversalen Aktionsparameter; von ihnen gehen die transversalen Prozesse<br />

aus. Als elementarer Bestandteil von Transversalität können sie nicht situationsspezifisch<br />

bedingt sein, da sie überdauernd zu einer wie auch immer<br />

gearteten Konzeption von Vernunft beitragen. Diese Konzeption hat eben<br />

nicht diese situationsspezifische Charakteristik, wie es relational-konstruktivistisch<br />

denkbar wäre, sondern sie zeichnet sich durch ihre Unabhängigkeit<br />

aus. Welsch schlägt in Abgrenzung zu der Kuhnschen Konzeption folgendes<br />

vor: 142<br />

Nebeneinander von unterschiedlichen Paradigmen: Die diachrone Perspektive<br />

von Kuhn in Bezug auf die existenzielle Charakteristik von Paradigmen ist<br />

aufgrund heutiger Erkenntnis durch eine synchrone zu ersetzen, zumindest<br />

doch zu ergänzen. Das heißt, Paradigmen folgen nicht notwendigerweise<br />

aufeinander, sondern sind auch parallel existent, auch in ein und derselben<br />

Rationalität. Dabei ist nicht nur eine zeitliche Überschneidung aufeinanderfolgender<br />

Paradigmen angesprochen, sondern eine wirkliche Koexistenz<br />

gemeint. Diese Koexistenz impliziert eine Vergleichbarkeit von existenten<br />

Paradigmen, welche per definitionem vergleichbar sind, aber insbesondere<br />

in ihrer rational-strukturellen Dimension als parallel existent zu interpretieren<br />

sind. Dies bedeutet, dass nicht nur per Zufall exemplarische Paradigmen<br />

gleichzeitig in unterschiedlichen Situationen zur Anwendung gelangen,<br />

sondern, und das unterstreicht einmal mehr die Gewichtung der ratio-<br />

142 Vgl. zum Folgenden Welsch (1996: 542ff.).<br />

133


nal-strukturellen Semantik der Paradigmen, dass sich unterschiedliche Paradigmen<br />

gleichzeitig entwickeln und in reziprokem Miteinander parallel<br />

weiterentwickeln und ausdifferenzieren. 143 Hierbei ist notwendigerweise von<br />

einem Konkurrenzverhalten auszugehen, welches alleinig die Substitution<br />

des Konkurrenten anzustreben trachtet. Es ist auch ein produktives, den<br />

Konkurrenten in seinem (inhaltlich wie strukturellem) Wert akzeptierendes<br />

Verhalten denkbar.<br />

Die relevante Forschergruppe kann sehr klein sein: Diese Welsch’sche Implikation<br />

ergibt sich zwingend aus der vorherigen Annahme der synchronen Perspektive<br />

in Bezug auf die Existenz und Wirksamkeit von Paradigmen. Wenn<br />

nämlich von einer Synchronität ausgegangen wird, kann sich per definitionem<br />

nicht die ganze scientific community der Rationalität in einem einzigen<br />

Paradigma betätigen; dann wäre ein parallel existierendes Paradigma nicht<br />

denkbar, weder theoretisch noch praktisch. So räumt auch Kuhn in seiner<br />

tendenziell diachronen Perspektive ein, dass das entstehende Paradigma<br />

nicht notwendigerweise vom gesamten wissenschaftlichen <strong>St</strong>ab mitgetragen<br />

werden muss, um existent und wirksam zu sein. 144 Zum anderen ist diese<br />

Annahme auch aus Sicht des rational-strukturellen Verständnisses von Paradigmen<br />

von Bedeutung. Wäre nämlich ein exemplarisches Verständnis<br />

dominant, dann ist die Annahme einer partiellen Akzeptanz im relevanten<br />

Rationalitätsbereich nicht sonderlich erwähnenswert. Denn ein situatives<br />

Anwendungsmuster ist in Bezug auf deren Promotoren fast gar nicht anders<br />

als partiell denkbar. Die Situationsabhängigkeit - und damit deren stark<br />

kurzfristiger Charakter - ist im Ganzen nicht operationalisierbar. Insofern ist<br />

die Annahme und das Vertreten der These einer nur partiellen Unterstützung<br />

eines Paradigmas durch eine der vielen Forschergruppen eine zentrale<br />

Annahme, welche den pluralen und synchronen Gedanken postmoderner<br />

<strong>St</strong>rukturauffassung in die Diskussion hineinträgt.<br />

Die rational-strukturelle Bedeutung der Paradigmen tritt gegenüber der exemplarischen<br />

in den Vordergrund: Wie bereits angedeutet, ist nach Welsch ein Para-<br />

143 Siehe hierzu insbesondere die Beschreibung der Verhältnisse der Paradigmen zueinander<br />

bei Welsch (1996: 562ff.). In dieser Darstellung wird die Charakteristik des Miteinander<br />

deutlich vermittelt. Es entsteht aufgrund der Paradigmenpluralisierung<br />

rationale Unordentlichkeit nicht nur binnensektoriell, also innerhalb eines Rationalitätsbereichs,<br />

sondern vor allem auch transsektoriell; diese Beobachtung trifft Welsch in<br />

Bezug auf den Verflechtungsbefund der unterschiedlichen Diskursarten. Vgl. hierzu<br />

nochmals Abschn. 6.1.2.<br />

144 Vgl. Kuhn (1979: 205).<br />

134


digma mehr als nur eine exemplarische Anwendung, mehr als eine konkrete<br />

Problemlösung. Wie zuvor schon ausgeführt, ergäbe sich ein methodisches<br />

Problem der Subsumption dieser exemplarischen Bedeutung unter die rational-strukturelle<br />

Semantik. Ein gleichzeitiges Bestehen dieser Interpretationen<br />

nebeneinander ist somit nach Welsch nicht vertretbar. Die Kuhnsche Konzeption<br />

scheint den Welsch’schen Schritt schon vorzuzeichnen, indem sie die<br />

„Musterbeispiele“ nicht autoritativ, sondern pragmatisch versteht145, jedoch<br />

ist auch die Welsch‘sche Fokussierung auf die rein rationale <strong>St</strong>ruktur des<br />

Paradigmas nur bedingt nachvollziehbar. Führte man sich vor Augen, in<br />

welchem Maße „Musterbeispiele“, also herausragende, die scientific community<br />

erschütternde wissenschaftliche Forschungsarbeiten dazu führen können,<br />

einen Richtungswechsel des weiteren wissenschaftlichen Progresses<br />

tatsächlich herbeizuführen, dann stellen diese Impulse ein wichtiges und<br />

wirksames Komplement zu den strukturellen Verschiebungen dar. 146<br />

Bei Welsch tritt das Paradigma als Ergebnis des zweiten Pluralisierungsschrittes<br />

neben die Rationalitäten und ist in der Lage, deren Prozesse und<br />

Entwicklungen näher zu beschreiben und zu differenzieren. Durch ein solches<br />

Paradigmen-Verständnis kristallisiert sich zunehmend deren zentrale<br />

Relevanz für die Welsch’sche Konzeption heraus. Sie sind die Vehikel der<br />

Transversalität, sie sind die aktionalen Parameter.<br />

7.1.2 Exkurs: Die Überwindung des Trennungstheorems des Rationalismus<br />

Im Folgenden wird das Trennungstheorem des Rationalismus im Ansatz von<br />

Welsch reflektiert. Vor diesem Hintergrund wird die Position einer Transversalität<br />

deutlicher.<br />

(Descartes)<br />

Descartes begann, die verknüpfte Realität platonischer und aristotelischer<br />

Beschreibungen aufzubrechen. 147 Die Antike hatte es noch als eine der höchsten<br />

Errungenschaften eines Philosophen angesehen, wenn dieser in der Lage<br />

145 Vgl. hierzu Welsch (1996: 546; Fußnote 13).<br />

146 Es sind bspw. in Abschnitt 5.2 u. a. die Arbeiten zu Autopoiese und Selbstorganisation<br />

aufgeführt worden. In diesem Zusammenhang wurde auch die Bedeutung von<br />

sogenannten „Bifurkationen“ in systemischer Entwicklung herausgestellt. In diesen,<br />

über das System, hier also Rationalitätsbereich, hinausweisenden Impulsen kommt<br />

ein Element des Übergangs zum Ausdruck, welches nach Meinung des Verfassers<br />

konstitutive Funktion annehmen kann.<br />

147 Vgl. auch hierzu u. a. die Darstellung bei Welsch (1996: 766ff.).<br />

135


war, Verknüpfungen zwischen Heterogenem, Überschneidungen von Differentem<br />

zu identifizieren, zu erzeugen, zu kultivieren oder sogar auch zu<br />

verwenden. Diese Art der Verwendung kann als ein Beschreiten der Brücke,<br />

des Übergangs zwischen Ufern unterschiedlicher Provenienz interpretiert<br />

werden. Sich in diesem kurzen, dafür aber um so diffiziler darstellenden<br />

Gang zu üben und zu beweisen, erschien in der damaligen Zeit als praxeologische<br />

Essenz wissenschaftlichen Fortschritts. Das <strong>St</strong>ehenbleiben bei der<br />

Herausarbeitung von Seinstypen und deren analytische Darstellung konnte<br />

nicht als ganzheitlicher Prozess wissenschaftlichen Forschens akzeptiert<br />

werden. Dagegen wurde in der Neuzeit die erste <strong>St</strong>ufe der Herausarbeitung<br />

von Differenzierungen wieder stärker betont, ohne welche die präzise<br />

Wissenschaft nicht möglich schien. Die Ausdifferenzierungen in den Professionen,<br />

in den Berufen, führte auch zu einer Trennung der Inhalte.<br />

Descartes‘ Zweisubstanzenlehre, welche sich durch die Trennung von Geist<br />

(res cogitans) und Leib bzw. materieller Wirklichkeit (res extensa) explizierte,<br />

trennt hierbei das rational erfassbare Quantitative von dem nur sinnlich<br />

erfahrbaren Qualitativen. 148 Die Realität nach Descartes impliziert diese beiden<br />

Extensionen. Die Vernunft des Menschen in dieser dualistischen Konzeption<br />

ist nach Descartes eine Verstandestätigkeit, welche sich durch<br />

Fokussierung auf das Klare und Evidente als einziger Garant der Wahrheit<br />

darstellt. Der Kantischen Konzeption ist hierbei schon der Weg bereitet, da<br />

durch die Entgeistigung der physischen Welt der Körper als eine den Naturgesetzen<br />

ausgesetzte Entität begriffen wird, wohingegen der Geist das Privileg<br />

der Freiheit genießt.<br />

(Pascal)<br />

Auch Pascal hat dieses Cartesische Trennungstheorem aufgenommen und<br />

zudem weitergeführt. Der Mensch sieht sich in seinen Fähigkeiten, aber auch<br />

in seiner gleichzeitigen Niedrigkeit als Zwischenwesen, gleich weit von Tier<br />

148 Diese Unterscheidung ließe sich auch vergleichen mit der Atomlehre von Demokrit<br />

(um 460-370 v. Chr.), welcher die Atomlehre des Leukipp in ein System des Materialismus<br />

überführte. In diesem sind die aus den Atomkomplexen bestehenden Dinge<br />

bestimmt einerseits durch primäre Eigenschaften (Raumerfüllung, Trägheit, Dichte<br />

etc.) und andererseits durch sekundäre Eigenschaften (Farbe, Geruch, Geschmack<br />

etc.). Deutlich ist hier die Analogie zu Descartes zu erkennen, wobei die primären<br />

Eigenschaften die quantitative und die sekundären die qualitative Beschaffenheit der<br />

Realität darstellen. Vgl. zur Darstellung von Demokrits Aussagen bspw. Löbl, R.<br />

(1976): Demokrits Atome, Bonn.<br />

136


und Engel entfernt, ist ihnen aber auch gleich nah. Pascal schafft ein System<br />

von Ordnungen (Liebe–Geist-Fleisch), zwischen welchen nichts weniger als<br />

eine „unendliche Distanz“ 149 existiert. Zudem besteht die Möglichkeit einer<br />

eindeutigen Zuordnung der Elemente zu den Ordnungen. Demzufolge wird<br />

alles Seiende aufgeteilt und kann ab dato nicht mehr zueinander in Beziehung<br />

gesetzt werden. Diese Konzeption stellt in dieser Interpretation das<br />

Trennungstheorem in extenso dar. Nach Welsch ist diese radikale Trennung<br />

so nicht haltbar: „Es scheint unmöglich, Verhältnisbehauptungen gänzlich zu<br />

vermeiden“ 150. Es ist nur schwer vorstellbar, dass sich Ordnungen ausdifferenzieren,<br />

ohne sich voneinander zu differenzieren. Der Differenzierungsprozess<br />

impliziert ein Gegenüber, welches als Referenz den komparatistischen<br />

Prozess der Differenzierung konstituiert. Zudem ist in einer selbstreferentiellen<br />

Perspektive die Charakterisierung einer Ordnung aus ihr selbst<br />

heraus, d. h. ohne eine andere Ordnung zu bemühen, umfassend nur schwer<br />

vorstellbar, denn es ist nicht einsehbar, aus welcher Ordnung heraus die Zuordnung<br />

der Elemente geschehen könnte.<br />

(Leibniz)<br />

Auch Leibniz kann letztlich keine befriedigende Antwort auf die Frage nach<br />

einer schlüssigen Konzeption der Trennung finden. Obgleich er um den<br />

Erweis von Kongruenzen zwischen den verschiedenen Ordnungen bemüht<br />

ist, ist sein Konzept der prästabilisierten Harmonie nicht nur für Welsch wenig<br />

überzeugend. Diese Harmonie beschreibt das Zusammenspiel von Monaden<br />

(Kraftpunkte) 151, welche individuell sind, sich gegenseitig wahrnehmen.<br />

Jedoch kann aus ihnen weder eine Bestimmung oder Substanz heraus noch<br />

herein gelangen. Dennoch ist dieser Leibnizsche Übergang zwischen den<br />

Monaden möglich. In ihren Bewegungen (Perzeptionen) können die Monaden<br />

zwar nicht direkt aufeinander reagieren („fensterlos“), jedoch sind sie unbewusst<br />

miteinander verbunden - durch göttliche Einrichtung.<br />

Dieser Übergang ist also weder eine bewusst geschaffene Verbindung zur<br />

Synchronisation der individuellen Dynamiken, noch geht Leibniz davon aus,<br />

149 Welsch (1996: 768).<br />

150 Welsch (1996: 769).<br />

151 Die Monade ist die Leibnizsche Antwort auf die res extensa von Descartes. Nach<br />

Leibniz ist die Substanz nicht ausdehnbar, sonst wäre sie teilbar. Aus diesem Grunde<br />

schlägt Leibniz einen Kriteriumswechsel vor, welcher nicht die extensa der Substanz<br />

sondern die Kraft als Wirkung der Substanz zum maßgeblichen Parameter substantieller<br />

Charakteristik erhebt.<br />

137


dass hier ein permanenter Synchronisationsprozess stattfindet. 152 Der Sachverhalt<br />

der Harmonisierung, welche im Voraus eine Art von <strong>St</strong>abilität aufweist,<br />

drückt hierbei den Wunsch nach der Überwindung der Cartesischen<br />

Trennung von Leib und Seele aus. Damit sind Leib und Seele durch eine Entsprechung<br />

der Eigengesetzlichkeit gekennzeichnet, welche die Koordinations-<br />

und Harmonisierungsfunktion zu erfüllen in der Lage ist. Nach<br />

Leibniz wurden also diese beiden Monaden, wie die anderen auch, von Gott<br />

so geschaffen, dass sie trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Verschiedenheit,<br />

ihrer Inkommensurabilität zueinander in Einklang gebracht werden<br />

können. Irdische (monadische) Heterogenitäten können somit nur durch<br />

überirdische, göttliche Übergänge überwunden werden. Es entsteht ein<br />

System der prästabil-harmonisierten Einheiten, welches die fraktale Pluralität<br />

dichotomer Vielheiten in ein Netz der göttlichen Entsprechung von<br />

Eigengesetzlichkeiten transformiert und auf diese Weise das Leib-Seele-<br />

Problem löst. 153 Die Überwindung geschieht durch transzendentalen Verweis<br />

und ist aus dieser Perspektive somit von anderen Konzepten grundsätzlich<br />

zu unterscheiden. 154<br />

7.1.3 Vernunft-Begriff nach Kant<br />

Es wäre ein kühnes Unterfangen, in der hier gebotenen Kürze mit dem<br />

Anspruch auftreten zu wollen, eine angemessene Darstellung, eine Skizzierung<br />

der Kantischen Vernunft-Konzeption leisten zu wollen. Das Folgende<br />

kann nur als ein eklektischer Umriss verstanden werden, welcher sich auf<br />

152 Im Bild oder Gleichnis zweier Uhren, welche stellvertretend für Leib und Seele stehen,<br />

versucht Leibniz dieses transparent zu explizieren. Man könnte die beiden Uhren<br />

nachträglich miteinander verbinden oder aber sie einer perfekt aufeinander abgestimmten<br />

Eigengesetzlichkeit überlassen („deus ex machina“). Letzteres entspricht<br />

der Leibnizschen Überzeugung.<br />

153 Die Betonung der Eigengesetzlichkeit geschieht bei Leibniz nur in der Weise der göttlichen<br />

Fügung. Doch sei an dieser <strong>St</strong>elle angemerkt, dass ein System von identifizierten<br />

Eigengesetzlichkeiten (ohne Betonung göttlicher Fügung) als vielversprechender<br />

und deswegen auch hier hervorgehobener Ansatz für die letztliche Aufhebung des<br />

Trennungstheorems gelten kann.<br />

154 So wie die Vernunft- und Tatsachenwahrheiten bei Leibniz unterschieden werden, so<br />

trennt er auch die Zweckursachen (Seele) von den Wirkursachen (Körper) und konzipiert<br />

eine Reiche-Trennung, welche jedoch harmonisch überwunden werden kann<br />

(s. o.). Analog harmoniert das Reich der Natur mit dem Reich der Gnade durch die<br />

dreiwertige Begründung (moralisch, physisch, metaphysisch) der Rechtfertigung<br />

Gottes angesichts des Übels der Welt. Es wird an späterer <strong>St</strong>elle noch auf diese transzendentalen<br />

Verweise einzugehen sein. Vgl. Abschn. 11.1.<br />

138


diejenigen Punkte konzentriert und beschränkt, die die Welsch’sche Konzeption<br />

von der Kantischen differenzieren.<br />

Die Welsch‘sche Konzeption baut im Wesentlichen auf der Metapher der<br />

Einheit und Vielheit auf. Entlang dieser Unterscheidung verkörpert die Vernunft<br />

immer noch den Einheitsgedanken pluraler Wirklichkeit. Nur ist die<br />

Einheitsidee auf andere Weise verwirklicht, als es bis dato gedacht und konzipiert<br />

war. Dabei ist nicht nur die Verfasstheit der Vernunft von einer unterschiedlichen<br />

Charakteristik als bisher konzipiert, auch der Prozess der<br />

Vereinheitlichung unterscheidet sich grundlegend von bisherigen Überlegungen.<br />

Kurz gesagt kann also einerseits ein grundlegender Verständniswandel<br />

von der Verfasstheit von Vernunft und andererseits eine Betonung<br />

des Prozesses festgestellt und als wesentliche Neuerungen identifiziert<br />

werden.<br />

Die Kantische Konzeption sieht sich mit einer ähnlichen Heterogenität der<br />

pluralen Elemente der Realität konfrontiert. Während aber Welsch von der<br />

Rationalitäten-Vielfalt spricht und rhizomatische Wucherungen handhabt, ist die<br />

Kantische Position von bipolarem Charakter, wenn nicht gar monopolar.<br />

Denn das menschliche Wesen konstruiert sich in und gegenüber der Natur.<br />

Dabei wird die Konstruktion der Dualität des Menschen als Gegenüber zur<br />

Natur erst ermöglicht, wenn sich der Mensch seiner Vernunft bedient und<br />

sich auf diese Weise der deterministischen Gesetzmäßigkeiten naturhafter<br />

Prozesse und Abläufe entledigen kann. Hier ist die Pflicht das Medium der<br />

Befreiung. Dieses Medium ersetzt die Willkür der empirischen Bestimmung<br />

durch eine selbstbestimmte Sukzession der Prozessschritte. Das Handeln des<br />

Menschen ist auf diese Weise bestimmt durch moralische Gesetze, welche<br />

der Vernunft entspringen und damit einen direkten Bezug zur selbigen aufweisen;<br />

auf der einen Seite steht die Natur mit ihrer rein zufälligen empirischen<br />

Bestimmung, auf der anderen Seite steht die Pflicht, welche durch den<br />

Bezug auf die Vernunft ein Befreiungspotential aufweist.<br />

Das Trennungsparadigma ist also an ganz anderer <strong>St</strong>elle entwickelt, als die<br />

Welsch’sche Konzeption es wahrnimmt. Auch lässt die Welsch’sche Konzeption<br />

gegenüber Kant eine Hierarchisierung der Vernunft vermissen, die<br />

auf eine unterschiedliche Intention der Verfasser schließen lässt. Bei Kant<br />

kann die Vernunft einer Befreiung gleichgesetzt werden, die einer Überwindung<br />

der evolutorischen Kreisläufe gleichkommt und damit die Unterordnung<br />

der Natur unter die menschliche Vernunft andeutet. Bei Welsch hingegen<br />

lässt sich keine explizite Verbindung der Vernunft mit einer Art von<br />

139


Herrschaft ausmachen. Die Vernunft entsteht aus der individuellen Einsicht,<br />

die Vernunft als notwendig ansieht. Es ist dies die Notwendigkeit von Übergang<br />

und damit sichtbar gemachter Ganzheitlichkeit. Diese Einsicht setzt<br />

sich nicht gegen etwas durch, sondern entsteht zwingend. Die Kantische<br />

Charakteristik der Überwindung scheint in dieser Form Voraussetzung der<br />

Welsch’schen Konzeption zu sein. Welsch thematisiert diese ursprüngliche<br />

Dualität nicht explizit, setzt sie jedoch implizit als überwunden voraus. In<br />

dieser Differenz wird die historische Bedingtheit von Konzeptionen um Vernunft<br />

deutlich; sie sind zum großen Teil immer auch als Produkt des aktuellen<br />

gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Spannungsfeldes zu interpretieren.<br />

Aus dieser historischen Perspektive ließe sich die Welsch’sche Konzeption<br />

als ein wie auch immer gearteter Fortschritt der Kantischen Konzeption<br />

einstufen, welcher über die Mensch-Natur-Dualität hinaus die aktuellen<br />

Spannungen aufzunehmen in der Lage ist. Diese Spannungen kommen<br />

überwiegend in der Moderne-Postmoderne-Debatte zur Sprache.<br />

Wie aus dieser Darstellung sukzessive transparent wird, zieht sich der Unterschied<br />

in Bezug auf die Geltungsansprüche der Ansätze durch die gesamten<br />

Konzeptionen hindurch. So schreitet Kant von einer schwächer ausgeprägten<br />

Entdeckungs- und Entstehungsebene (Dualität) zu einer normativen<br />

Begründungsebene, welches Implikationen für den Verwendungszusammenhang<br />

beinhaltet. Dagegen ist bei Welsch die Entdeckungsebene stark<br />

ausgeprägt (postmoderne Deskriptivität), wobei die beiden nachfolgenden<br />

Ebenen eher unterbestimmt bleiben. Insbesondere der Begründungszusammenhang<br />

trägt phänomenologischen Charakter, was einer <strong>St</strong>ringenz der<br />

Begründungsstruktur nicht immer zuträglich erscheint. 155<br />

Kant führt aus, was einen möglichen Übergang zwischen seinen heterogenen<br />

Polen betrifft, dass der eine Pol, die Natur und deren Gesetzmäßigkeiten, auf<br />

zwei verschiedene Arten der menschlichen Vernunft zugänglich werden<br />

kann. Zum einen kann dieses teleologisch begründet werden, zum anderen<br />

ästhetisch. 156 Dabei stellen diese verschiedene Arten mehr als reine Wegbe-<br />

155 Insbesondere vor dem Hintergrund des Befundes aus dem Abschnitt 5 bezüglich der<br />

zentralen Charakteristika der postmodernen Moderne - nämlich die immanente Verknüpfung<br />

von Entdeckungs- und Verwendungszusammenhang nicht nur phänomenologisch,<br />

sondern vor allem auch konzeptionell - scheint die Welsch’sche Konzeption<br />

der hier entwickelten Debatte in diesen Punkten nachzustehen.<br />

156 Vgl. hierzu ausführlicher Welsch (1996: 770ff.). Im teleologischen Entdeckungszusammenhang<br />

verbinden sich die sukzessive identifizierten Naturgesetze quasi zu einem<br />

Gesetzeszusammenhang per se. Jeder Schritt der (naturwissenschaftlichen) Erkennt-<br />

140


schreibungen dar. Sie sind Formen der Explizierung der Zweckmäßigkeit<br />

von Natur für das Vernunftinteresse. Die Autonomie der Vernunft scheint<br />

durch diese Verbindung der Zweckmäßigkeit zumindest teilweise aufgehoben.<br />

Die Zweckmäßigkeit selbst jedoch stellt nur in dem Sinne ein konstitutives<br />

Prinzip dar, als dass sie rein regulativ wirkt. 157 Dieses stellt u. a. die<br />

tiefere Begründung einer letztendlichen Trennung zwischen Natur und der<br />

Freiheit durch Pflicht dar. Denn würde sich die Vernunft konstitutiv auf die<br />

Natur stützen, wäre eine Trennungsthese nicht haltbar. So referiert Kant,<br />

dass hier lediglich von Entsprechungen ausgegangen werden kann, welche<br />

keinesfalls Verbindungen oder Brücken darstellen. 158 Rein logisch kann eine<br />

Befreiung aus einem Konstitut nur teilweise zutreffen, vollständig ist sie aber<br />

undenkbar, da sie sich der eigenen maßgeblichen Referenz entledigen<br />

würde. So bleiben Natur und Freiheit in Entsprechungen einander nah, doch<br />

nicht verbunden.<br />

Als Gemeinsamkeit oder Entsprechung mit der Kantischen Konzeption kann<br />

die Beantwortung der Frage nach der Verortung des Vollzugs von Vernunft bei<br />

Welsch interpretiert werden. 159 So folgt Welsch der identifizierten Nähe von<br />

Transversalität und Subjektivität160 und folgert daraus, dass Vernunft in ihrer<br />

transversalen Konzeption als „Kompetenz von Subjekten“ 161 zu verstehen ist.<br />

Im Gegensatz zu früheren Vernunftkonzeptionen, welche Vernunft als<br />

Metagebilde über alles verstanden haben, die in ihrer Omnipräsenz gleichzeitige<br />

Unabhängigkeit vom Ganzen beansprucht, oder eine Art objektiver<br />

Vernunft, die subjektunabhängig existent ist und zu der ein Zugang gefun-<br />

nis kann in einem umfassenden Kontext verortet und integriert werden. So fügt sich<br />

mit dem Ziel der vollendeten Vollendung eins zum anderen und er- und enthält<br />

antizipatorisch-teleologische Sinnhaftigkeit. Der Glaube an eine wie auch immer geartete<br />

Einheit scheint nach Welsch darin zum Ausdruck zu kommen. Es bewegt sich<br />

alle Erkenntnis auf einen vollendeten Zusammenhang hin. Zum anderen kann auf<br />

Ebene des Entdeckungszusammenhangs die Erfahrung des Naturschönen als zweckmäßig<br />

für das Vernunftinteresse angesehen werden, da das menschliche Erkenntnisvermögen<br />

in Einklang und Übereinstimmung mit der Natur erfahren wird. Somit<br />

kann auf teleologische und ästhetische Weise eine Entsprechung von Natur- und<br />

Freiheitsbegriff auch von Kant identifiziert werden, wobei aber die Verbindung weit<br />

weniger stark ist, als sie Welsch interpretiert.<br />

157 Vgl. Welsch (1996: 771).<br />

158 Vgl. Welsch (1996: 772).<br />

159 Vgl. zum Folgenden Welsch (1996: 933ff.).<br />

160 Vgl. hierzu näher das XIV. Kapitel bei Welsch (1996: 829ff.). Hier legt Welsch dar,<br />

dass transversale Vernunft für die innere <strong>St</strong>ruktur der Subjektivität unabdingbar ist.<br />

Das wird an späterer <strong>St</strong>elle explizit aufgenommen. Vgl. Abschn. 9.2.3.<br />

161 Welsch (1996: 953).<br />

141


den werden muss, ist die transversale Vernunft eine zentral subjektabhängige<br />

Größe, die eine Fähigkeit „sich inmitten einer Vielfältigkeit in Übergängen<br />

bewegen zu können“ 162 zum Ausdruck bringt.<br />

Wie an späterer <strong>St</strong>elle noch näher auszuführen sein wird, schließen sich an<br />

diese individualistische Perspektive von Vernunft Implikationen, wie auch<br />

Fragen an. So legt Welsch dar, dass<br />

� Vernunft nicht bestimmten Rationalitäten zugeschrieben werden kann, so<br />

wie Rationalitäten weit verbreitet in „Institutionen, Diskursarten und gesellschaftlichen<br />

Praktiken“ 163 verortet werden.<br />

� als Konsequenz aus dem individualistischen Ansatz man besser von Vernünftigkeit<br />

anstatt von Vernunft sprechen sollte, da Vernünftigkeit „eine<br />

Weise des Umgangs von Subjekten mit den Formen der Rationalität“ 164 beschreibt<br />

und dieses begründet mit der Aussage: „Vernünftigkeit lässt sich<br />

letztlich nicht objektiv implementieren, sondern nur subjektiv praktizie-<br />

ren“ 165.<br />

� diese Konzeption an die Kantische anschlussfähig bleibt, da auch dieser<br />

die Anwendung der Vernunft durch Subjekte betont, aus welcher heraus ein<br />

weiter Wirkungskreis erreicht werden kann.<br />

� in dieser spezifischen Koppelung von Vernunft und Subjektivität das charakteristische<br />

Freiheitspotential von Vernunft-Anwendung konstituiert ist,<br />

auf das auch Kant hinweist.<br />

Die zentrale Implikation scheint zu sein, dass durch diese Konzeptionierung<br />

von Vernunft nicht ihrer Exklusivität, sondern ihrer Inklusivität das Wort<br />

geredet wird. Denn im Gegensatz zu einer objektiven oder subjektunabhängigen<br />

Konzeption der Vernunft, welche das Individuum gegenüberliegend<br />

zu sich selbst positioniert, somit eine Partizipation des Subjekts an Vernunft<br />

nur mittelbar möglich ist, da sich das System durch Exklusion etabliert, so<br />

transportiert die Welsch’sche Konzeption eher eine Aufforderung zur Teilnahme,<br />

einen Inklusionscharakter. 166 Die Ermutigung fügt sich harmonisch<br />

in den Gedanken der Befreiung ein, der bei Kant entwickelt wurde. Die<br />

Welsch‘sche „Befreiung“ bezieht sich nicht auf den naturellen empirischen<br />

Zwang und die Emanzipation des Subjekts hiervon durch Vernunft, sondern<br />

162 Welsch (1996: 934).<br />

163 Ebenda.<br />

164 Welsch (1996: 934f.).<br />

165 Welsch (1996: 935).<br />

166 Vgl. insbesondere hierzu Welsch (1996: 938ff.).<br />

142


auf die Befreiung des Denkens der Moderne in ihrem positivistischen<br />

Zwang. Der Dogmatismus, der das Subjekt im Verwendungszusammenhang<br />

übergeht, weicht einer Ermutigung des Einzelnen in seinem Denken über<br />

Rationalität und die Verfasstheit von Vernunft. Die Kantische Befreiung entfaltet<br />

sich in dem Spannungsfeld von Natur und Vernunft, die Welsch’sche<br />

Freiheit hingegen promoviert im Spannungsfeld von Befund (Pluralität,<br />

Grenzenlosigkeit, Verflechtung) und dogmatischer Lehre (Bereichsdenken,<br />

Beherrschungsdenken, rationale Differenzierung) die Emanzipation des<br />

Subjekts.<br />

Zur Differenzierung von Kantischer und Welsch‘scher Konzeption kann bis<br />

hierher festgehalten werden, dass ihnen der individualistische Ansatz als<br />

zentrales Charakteristikum gemein ist. 167 Von diesem her leiten sich Konzeptionsparameter<br />

ab, welche darzustellen Aufgabe des Kapitels war. In der<br />

Gewichtung der Zusammenhänge von Begründung und Verwendung lassen<br />

sich Unterschiede erkennen. Da jedoch die Vernunftkonzeptionen von Kant<br />

und Welsch zeitlich auseinanderliegen, ist es einleuchtend, dass die Kantische<br />

Unterscheidung: Natur-Mensch zum Zeitpunkt der Welsch’schen Konzeption<br />

nicht im Mittelpunkt des Interesse steht. Vielmehr scheint diese<br />

Frage überwunden bzw. gehandhabt. In dem Welsch’schen Fokus auf Rationalitäten<br />

tritt die Mensch-Mensch-Relation in Bezug auf eine Annäherung an<br />

eine Vernunftkonzeption in den Vordergrund. Somit ist eine Vergleichbarkeit<br />

der Konzeptionen in ihrer Aussagekraft hinsichtlich dieser Verschiebung<br />

einzuschränken.<br />

7.2 Leere und Positionsungebundenheit - zentrale Charakteristika transversaler<br />

Vernunft<br />

Im Folgenden wird zu zeigen sein: Das Potential der transversalen Vernunft<br />

ist dessen (inhaltliche) Leere und dessen Positionsungebundenheit. Diese<br />

beiden Bestimmungen machen den bedingungslosen Perzeptionscharakter dieser<br />

Vernunft aus, d. h., in ihrer Aufnahme und Handhabung von Inhalten ist<br />

diese Vernunft weder an vorbestimmte Inhalte noch an spezifische Positionen<br />

gebunden – so die Konzeption der transversalen Vernunft. Dadurch<br />

167 Auch wenn die Kantische Konzeption aus dem Trennungstheorem entwickelt wurde,<br />

kann dies als Entsprechung gewertet werden.<br />

143


ist eine voraussetzungsfreie Berücksichtigung der pluralen <strong>St</strong>ruktur als Realverfassung<br />

der Rationalität möglich.<br />

(Leere)<br />

Die „Leere“ der Vernunft bezieht sich auf inhaltliche, materiale Prinzipien,<br />

nicht jedoch auf formale Prinzipien. Welsch konkretisiert dies:<br />

144<br />

„Gleichwohl ist Vernunft nicht einfachhin leer. Zwar ist sie frei von allen inhaltlichen<br />

Prinzipien, aber ihr sind formale Prinzipien zu eigen: die logischen<br />

Prinzipien. Diese bilden das genuine Instrumentarium der Vernunft. Vernunft<br />

verfügt über operative Grundsätze wie beispielsweise das Widerspruchsprinzip<br />

und elementare Kategorien wie Identität und Differenz, Einzelheit,<br />

Vielheit und Totalität, Beharren und Veränderung, Grund und Folge, Möglichkeit<br />

und Notwendigkeit, Einheitlichkeit, Partikularität, Widerspruch, Kohärenz<br />

und dergleichen. Die Vollzüge der Vernunft erfordern das Innehaben<br />

dieser logischen Prinzipien (der operativen Grundsätze wie der Elementarbegriffe)<br />

und bringen jeweils einige davon zur Anwendung. Vernunft ist ein<br />

wesentlich logisches Vermögen.“ 168<br />

Diese Freiheit von materialen Prinzipien veranlasst Welsch dazu, von einer<br />

Reinheit der Vernunft zu sprechen. 169 Diese Form von Objektivität verleiht<br />

der Vernunft eine „Souveränität und Universalität“ 170, denn sie ist nicht inhaltlich<br />

„vorbelastet“, kann frei wählen und entscheiden, was nach gewissen<br />

Regeln abläuft, die formale Prinzipien genannt werden.<br />

„Anders als diese [Positionen; T.B.], ist sie nicht an bestimmte Inhalte (Überzeugungsgeflechte,<br />

historische <strong>St</strong>andards, eine bestimmte Weltsicht oder dergleichen)<br />

gebunden. Vernunft ist von solch inhaltlichen Prämissen frei. Vernunft<br />

scheint eigentümlich rein zu sein – und anders nicht Vernunft sein zu<br />

können.“ 171<br />

168 Welsch (2000a: 84; Fußnoten weggelassen).<br />

169 Es sei an dieser <strong>St</strong>elle die Kritik von Kettner vorgezogen, der bemerkt, dass die Kohärenz<br />

„aus der formalen („logischen“) Reinheit“ ausschert, denn es „muß klar sein, daß<br />

Kohärenz (ähnlich übrigens wie der Begriff der Relevanz) überhaupt kein formallogisches<br />

(= in allen möglichen Welten gültiges) Verhältnis bezeichnet“ (Kettner, M.<br />

(2000): Wie leer und rein ist die transversale Vernunft?, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 110-112,<br />

hier S. 111). Welsch (2000b: 178) gesteht in seiner Replik hier eine Verwechslung mit<br />

dem Begriff der „Konsistenz“ ein.<br />

170 Welsch (2000a: 84).<br />

171 Ebenda.


Die Festlegung des Vernunftinhalts durch „formale Prinzipien“ kann als der<br />

kleinste gemeinsame Nenner gelten, auf den man sich bei aller Kritik an dem<br />

traditionellen Vernunftbegriff anscheinend einigen kann. Jedoch kann man<br />

sich nicht darauf einigen, ob dies der einzige Inhalt der Vernunft ist. Nach<br />

Meinung des Verfassers ist die Reinheitsthese in dem Sinne zu verstehen,<br />

dass zwar die Reinheit der Vernunft in der Praxis sehr unrealistisch ist, jedoch<br />

eine solche Feststellung nicht davon abhält, an der Reinheit der reinen<br />

Vernunft an sich festzuhalten. Die praxeologische Unzulänglichkeit des Vermögens<br />

widerlegt noch nicht deren konzeptionellen und theoretischen Zugang.<br />

Welsch stellt zudem fest, dass gerade in Bezug auf die „Verunreinigungen“<br />

die Vernunft ein Potential besitzt, das eine „Selbstpurifikation“ bewirkt.<br />

„(...) wo immer ihr Reinheitscharakter faktisch getrübt ist, wird sie [die Vernunft;<br />

T.B.] darauf drängen, solche Trübungen zu beseitigen. Selbstpurifikation<br />

ist ein Vollzugsimperativ der Vernunft. (...) Vernunft ist de facto nicht<br />

immer reine Vernunft, aber sie ist idealiter ein Vermögen der Reinheit und<br />

praktisch ein Vermögen der Selbstpurifikation.“ 172<br />

Welsch lehnt also den Verweis auf die faktische Unreinheit mit der dynamischen<br />

Komponente eines Imperativs ab. Er stellt hierbei die prozessuale<br />

Tendenz heraus anstatt eines faktischen <strong>St</strong>atus. 173 Die Vernunft ist rein, weil sie<br />

danach strebt. Sie besitzt die „Fähigkeit“, das Potential zu dieser Reinheit, in<br />

diesem Sinne ist die reine Vernunft zu verstehen.<br />

„Zusammengenommen bedeutet dies: Da Vernunft erstens über die erforderlichen<br />

Unsauberkeitserkennungsmittel verfügt, da zweitens die Erkenntnis<br />

des Grundes eines Defizits die logische Möglichkeit seiner Beseitigung impliziert,<br />

und da der Vernunft drittens der Imperativ zur Beseitigung solcher Unreinheiten<br />

eingebaut ist, vermag sie faktische Unreinheiten nicht nur zu erkennen,<br />

sondern arbeitet diese – wo eine wirkliche Praxis von Vernunft gegeben<br />

ist – auch ab.“ 174<br />

172 Welsch (2000a: 85).<br />

173 Vgl. zu einer expliziten Auseinandersetzung mit dem Prozessualen Heintel, P. (2000):<br />

Vernunft als Prozeßbegriff, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 104-106.<br />

174 Welsch (2000a: 85).<br />

145


(Positionsungebundenheit)<br />

Zu dieser Diskussion über die Reinheit der Vernunft gehört auch das Merkmal<br />

der Positionsungebundenheit. Ähnlich wie die Reinheit über den Vollzug<br />

der Vernunft als Vermögen deutlich wurde, gewinnt auch die Positionsungebundenheit<br />

in der Betrachtung des Vollzuges an Profil. Auch<br />

Welsch diskutiert die Ungebundenheit eng an der Praxis der Interpretation,<br />

die einer vernünftigen Reflexion unterzogen wird. In dieser Praxis werden<br />

die Möglichkeiten des Umgangs mit einem Einwand gegen die eigene Position<br />

exemplifiziert. Um den Anderen in seinem Einwand zu verstehen und<br />

diesen konstruktiv in die eigene Position einfließen zu lassen, ist das zumindest<br />

teilweise Verlassen der eigenen Position notwendige Voraussetzung.<br />

Dies relativiert den eigenen <strong>St</strong>andpunkt und bewirkt eine Öffnung gegenüber<br />

der anderen Position. Welsch nennt diesen Prozess das „sich-in-die-<br />

Position-des-anderen-hineinversetzen“ und die Betrachtung der eigenen<br />

Position mit den Augen des Anderen „reziproke Interpretation“. 175 Ähnlich<br />

zu dem Idealiter der Reinheit ist wohl nun auch die weitergehende Frage<br />

nach der völligen Überwindung der eigenen Position in der Auseinandersetzung<br />

mit anderen Positionen zu verstehen. Weder das Besinnen auf die<br />

Gemeinsamkeiten, noch die Einnahme einer dritten Position ist dabei für<br />

Welsch eine praktikable Lösung. 176 Es ist vielmehr der Vollzug der Abwägung<br />

dieser verschiedenen Lösungsansätze selbst, welcher als vernünftiger<br />

Vollzug bezeichnet werden könnte. In dem Vergleich von reziproker Interpretation,<br />

wechselseitiger Repräsentation, Schnittmengen-Identifikation oder<br />

der Einnahme einer dritten Position geschieht bereits eine Ablösung von<br />

einer Position. Die Logik der Positionalität hat vor Augen geführt, dass die<br />

Reflexion über diese Logik eine Abstraktion und damit auch neutrale Reflexion<br />

etablieren kann. 177 Welsch bestätigt also die faktische Möglichkeit einer<br />

Positionsungebundenheit. Aufgrund der Tatsache, dass all diese Abstraktionen<br />

und Reflexionen nie vollständig von ihrer Position des reflektierenden<br />

Subjekts getrennt werden können, so die Kritiker, ergeben sich vielfältige<br />

Fragestellungen. 178<br />

175 Welsch (2000a: 82).<br />

176 Vgl. hierzu Welsch (2000a: 82f.).<br />

177 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass nicht jeder Abstraktionsprozess auch<br />

automatisch zu einer Positionsungebundenheit führt.<br />

178 Vgl. hierzu den folgenden Abschnitt 7.3. Hier werden auch die anderen Bestimmungen<br />

kritisch reflektiert, sofern von deren Erörterung Aufschlüsse über eine Entwicklung<br />

ökonomischer Vernunft erwartet werden.<br />

146


7.3 Aktuelle kritische Reflexion<br />

Die folgende Skizzierung der Kritik greift aus den vielfältigen Aspekten zum<br />

einen die zentralen Bestimmungen der transversalen Vernunft auf und zum<br />

anderen skizziert sie exemplarisch eine zentrale Verhältnisbestimmung, das<br />

Verhältnis von Vernunft zu Rationalität. Den Abschluss bildet die Erörterung<br />

von Vernunft als (subjektives) Vermögen, was auch den Übergang zum<br />

dritten Kapitel darstellt.<br />

7.3.1 Die Reinheit der Vernunft als Selbstpurifikationsdynamik –<br />

vernünftige Grenzen<br />

Wie bereits ausgeführt, sieht Welsch die Vernunft als frei von Inhalten;<br />

lediglich die formalen Prinzipien der Logik stellen die innere Verfassung der<br />

Vernunft dar, doch die sind Form, nicht Inhalt. 179 Eine Vielzahl der Kritiker<br />

spricht sich gegen diese Leere aus, so auch Pothast:<br />

„Die Vernunft auf „die logischen Prinzipien“ vereidigt zu sehen und auf sonst<br />

nichts, macht sie (erstens) für die Rolle, die sie nach Welsch spielen soll, untauglich,<br />

und beraubt sie (zweitens) der Möglichkeit, gerade da tätig zu werden,<br />

wo die gegenwärtig dominante Theorie der Rationalität – als rational<br />

choice theory in Fragen von Handeln und Erkennen – eine eigenständige Instanz<br />

von Vernunft als dringendes Desiderat ausweist (wie der gleiche Bereich<br />

auch von alters her eine Domäne von Vernunft gewesen ist – trotz stark<br />

divergierender Vernunftauffassungen im einzelnen). (...) Wo die philosophische<br />

Gegenwart nach Vernunft vielfach fragt, ja ihre Tätigkeit einfordert (...),<br />

kann eine inhaltsleere und auch am Erwerb eigener Inhalte gar nicht interessierte<br />

Vernunft wenig beitragen, weil eben jene eigenen Inhalte (mindestens<br />

Verfahren zum Erwerb eigener Inhalte) es sind, nach denen verlangt<br />

wird. (...) Dieses Feld klassischer Vernunfttätigkeit, logisch angesiedelt vor<br />

aller Rationalität, wird preisgegeben durch eine prinzipienlose und ausdrücklich<br />

als inhaltsleer konzipierte Vernunft. Wenn die Vernunft in diesem Bereich<br />

nur übergeht, vermittelt, Reinheit anstrebt usw., aber von sich her insbesondere<br />

über Leitvorstellungen rechten Handelns unter Menschen gar nichts<br />

mehr sagen kann und will, ist sie nur noch ein Klärungsorgan nach Prinzipien<br />

einer irgendwie implantierten Logik, ein Klärungsorgan ohne essentiellen Be-<br />

179 Neben eine Unterterminierung der logischen Prinzipien bei Welsch tritt die allgemeine<br />

Problematik, aufgrund der langen Entwicklungsgeschichte und der Vielzahl<br />

der bereitgestellten Interpretationen logischer Prinzipien eine „Dekretierung“<br />

(Pothast 2000: 136) derselben durchführen zu wollen. Das würde „in die Theorie einer<br />

explizit positionsungebundenen Vernunft ein radikal dogmatisches Moment einführen,<br />

das zum Selbstbild einer solchen Vernunft in krassem Widerspruch stände.“<br />

(Pothast, U. (2000): Eine neue Vernunft und alte Probleme, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 135-<br />

137, hier S. 136).<br />

147


148<br />

zug zu menschlichem Leben und ohne Verwurzelung in diesem. Sie könnte<br />

über kurz oder lang leicht durch eine „Vernunft“ der Geräte, die logische<br />

Operationen viel schneller durchführen können als lebende Personen, ersetzt<br />

werden.“ 180<br />

Führt man den Gedanken der Inhaltsleere konsequent weiter, so ließe sich<br />

der freie Raum im Inneren der Vernunft nahezu beliebig besetzen. Doch eine<br />

Beliebigkeit, eine Willkür kann nicht vernünftige Intention sein, sondern<br />

kommt eher dem Mechanismus ökonomischer Rationalität gleich.<br />

So stellt sich allgemein die Frage, ob bzw. wie es möglich ist, ein inhaltlich<br />

überladenes, ein substantialistisches Programm, so wie es die Moderne aus<br />

Sicht der Postmoderne darstellt, in einen Zustand zu überführen, welcher zu<br />

einem differenzierteren Umgang, einem reflektierten Zugang zu den Gegenständen<br />

zurückfindet. Den modernen Inhalten eine postmoderne Inhaltsleere<br />

entgegenzustellen, führt die qualitative Diskrepanz von Form (logische Prinzipien)<br />

und Inhalt vor Augen. Auch wenn sich die Leere als dialektisches<br />

Pendant zu einer Überladung aufdrängt, so würde eine völlige Abkehr von<br />

jeglichem Inhalt bedeuten, dass die Chance vertan wird, den bisherigen<br />

Vernunft-Verzerrungen ein qualitatives Äquivalent entgegenzustellen. Die<br />

angestrengte Dialektik führte sich ad absurdum zugunsten einer neuen rein<br />

substantialistischen Dominanz, die aufgrund mangelnder Alternative entsteht.<br />

181 Die Postmoderne kommt um ein Mindestmaß an Inhalt nicht herum,<br />

will sie nicht denen vollständig das Feld überlassen, die abzulösen sie angetreten<br />

ist. Hug/Perger artikulieren diesen Gedanken wie folgt:<br />

„Deshalb sind wir dagegen, die Vernunft in erster Linie als ein logisches Vermögen<br />

auszuzeichnen. Die Logik ist ein Set von Werkzeugen und wie alle anderen<br />

Werkzeuge kann sie erst dann zum Einsatz kommen, wenn Ideen als<br />

verfolgenswert erscheinen. Mit einem Wort, ihr Platz ist in der zweiten Linie.<br />

180 Pothast (2000: 136).<br />

181 Ist nicht vielmehr die potentielle Disposition aller Inhalte qualitatives Gegenstück zu<br />

dem, was vorher war? Die Moderne ist ja nicht revisionsbedürftig in Bezug auf die<br />

Inhalte an sich; vielmehr sind es die Konsequenzen des rationalen Vollzugs in allen<br />

Zusammenhängen, die Eigendynamik, das Verhältnis der Kräfte, welche Verzerrungen<br />

generierten und sich dadurch kontinuierlich von dem Tatsächlichen entfernten.<br />

Auf diese Weise verfremdete sich die ursprüngliche und nachvollziehbare Intention<br />

der Moderne. Die angemessene Gewichtung der Inhalte, der umsichtige Umgang mit<br />

ihnen und ihre nachhaltige Umsetzung würde demnach ein qualitatives Gegenstück<br />

darstellen; ein Gegenstück, welches nicht programmatisch-kurzweilig auftritt, sondern<br />

die Grundlage eines nachhaltigen Konzepts im Sinne der Lebensdienlichkeit bilden<br />

kann.


Räumen wir ihr und insbesondere ihren Grundsätzen zur Herstellung von<br />

Einheit und Widerspruchsfreiheit, oberste Priorität ein, dann gibt es im Denken<br />

nur mehr ein Ziel: die Allgemeingültigkeit jedes Denkaktes. Genau diese<br />

Form von Rationalität hat in vielen besonderen Situationen großen Schaden<br />

angerichtet. Sie müssen wir in Frage stellen, um überhaupt so etwas wie<br />

transversale Vernunft möglich zu machen.“ 182<br />

Widersprechen die invasiven Inhalte der formalen Logik nicht, so sind sie<br />

grundsätzlich als Inhalt von Vernunft vorstellbar, so die hier angedeutete<br />

Implikation. Nach Ansicht des Verfassers ist dies mitursächlich für die momentane<br />

inhaltliche Rückbindung der Postmoderne. Die postmoderne Moderne<br />

sucht nach einem inhaltlichen Äquivalent zur substantialistischen Moderne<br />

und versucht die postmoderne inhaltliche Leere zu überwinden.<br />

Identifizierte man die Welsch’sche Konzeption als rein postmodernes Anliegen,<br />

so mag es nicht verwundern, wenn die Konsequenzen einer hierfür eintretenden<br />

Vernunft inhaltliche Leere und Positionsungebundenheit lauten. Angetreten,<br />

um totalitär substantialistische Inhaltssysteme abzulösen, um für die<br />

plurale Wirklichkeit zu sensibilisieren, um für deren Selbständigkeit einzutreten,<br />

um dem bis dahin machtlosen, weil sich von der Masse abhebenden<br />

Anderen, dem „Abwegigen“ zur sozialen Rehabilitierung zu verhelfen.<br />

Jedoch, und dies wurde zu Beginn der Auseinandersetzung zitiert, wäre die<br />

Interpretation der Konzeption der transversalen Vernunft als rein postmodernes<br />

Programm unzutreffend. Welsch tritt mit seiner Konzeption auch<br />

der oft überzogenen postmodernen Kritik an universellem Geltungsanspruch<br />

entgegen; dies ist aus seiner Position zwischen Moderne und Postmoderne<br />

nur konsequent. Auch der Widerstand gegen allzu rationalistische Beschränkungen<br />

der von den „Rationalitätsapologeten“ 183 vertretenen Positionen<br />

spricht „die gleiche Sprache“, nämlich die des postmodernen Modernen.<br />

Unterstützt wird diese These durch die jüngsten Äußerungen von Welsch:<br />

„In gewissem Sinne beginnen die Aufgaben der Vernunft dort, wo die Interessen<br />

der Rationalität enden. Während Rationalitätstypen ihr Verhältnis zu<br />

anderen Typen und Gebieten nur sekundär und in strategischer und selbstsichernder<br />

Absicht ins Auge fassen, widmet Vernunft sich genuin der Frage<br />

182 Perger, J./Hug, T. (2000): Transversale als ‚reine‘ Vernunft? Ein Plädoyer für die Relativierung<br />

des Reinheitsgebots, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 132-134, hier S. 133; Hervorhebung<br />

im Original.<br />

183 Welsch (2000a: 79).<br />

149


150<br />

nach dem Verhältnis der diversen rationalen Formen – und zwar in einem<br />

Geist fortgesetzter Klärung und vorbehaltloser Gerechtigkeit.“ 184<br />

Der „Geist vorbehaltloser Gerechtigkeit“ lässt erahnen, dass auch die Vernunft,<br />

die Welsch beschreibt, jenseits der formalen Prinzipien zusätzlich von<br />

Inhalten besetzt ist. In seiner Replik konkretisiert Welsch seine Vorstellung<br />

einer Leere und Positionsungebundenheit von Vernunft. Zusammen stellen<br />

diese Bestimmungen die Reinheit der Vernunft dar. Die Reinheit ist nicht<br />

Faktum, sondern Zielpunkt einer „Purifikationsdynamik“.<br />

„Entscheidend scheint mir allerdings zu sein, daß wir beim Begriff ‚Vernunft‘<br />

eine Purifikationsdynamik im Sinn haben müssen - oder andernfalls nicht<br />

wirklich von Vernunft sprechen. Wer sich in Vernunftfragen dieser Purifikationsdynamik<br />

nicht aussetzt, operiert nicht im Sinn von Vernünftigkeit (...). -<br />

Ich vertrete also auch in Sachen Reinheit keine substantialistische, sondern<br />

eine prozessualistische Position.“ 185<br />

Diese „prozessualistische Position“ von Welsch kommt jedoch nach Ansicht<br />

des Verfassers ohne eine „inhaltliche Minimallösung“ nicht aus. Wenn<br />

Welsch von einer Purifikation spricht, so setzt er Unreinheit voraus. Man<br />

müsse sich klarmachen, „daß es, genau betrachtet, eine wahrhaft neutral und<br />

rein operierende Vernunft wohl gar nicht gibt“ 186. Die Reinheit als unerreichbarer<br />

Zielpunkt wird auch von Leoprechting expliziert:<br />

„Mithin kann es praktisch keine reine Vernunft und ausschließlich formale<br />

Vernunft geben. Allenfalls kontrafaktisch ließe sich eine reine Vernunft denken:<br />

Als Ideal, als Ansporn und als analytische Konstruktion. Daher müßte die<br />

transversale Vernunft auch noch etwas bescheidener werden, als sie durch<br />

ihre Selbstbeschränkung auf Formalität ohnehin schon ist.“ 187<br />

Es ist, und dies ist in den meisten Kritiken missverstanden worden, und auch<br />

bei Welsch wird dies in dieser Deutlichkeit nicht ganz klar, diese Reinheit<br />

eher in ihrer asymptotischen Dynamik zu verstehen. 188<br />

184 Welsch (2000a: 87).<br />

185 Welsch (2000b: 177).<br />

186 Welsch (2000a: 84).<br />

187 Leoprechting (2000: 120; Hervorhebungen im Original).<br />

188 Die „tatsächliche Unreinheit“ deutet bereits an, inwieweit Vernunft nach Welsch auch<br />

als subjektives Vermögen zu verstehen ist, als eine personale Fähigkeit, die in ihrer<br />

Charakteristik immer schon eine Entwicklung darstellt und nicht zu tatsächlicher<br />

Reinheit gelangen kann. In diesem Kontext ist die Reinheit der Vernunft ein Ziel-


Vor dem Hintergrund einer prozessualen Konzeption der Reinheit gestaltet<br />

sich auch die Bestimmung der Positionsungebundenheit von Vernunft different.<br />

Nach Meinung des Verfassers kann diese Bestimmung auch nur im<br />

Sinne einer dynamischen Konzeption verstanden werden. Keller bezweifelt,<br />

„daß wir je in der Lage sind, uns von allen Positionen loszulösen“ und stellt<br />

weiter fest:<br />

„Wir können uns vielleicht von jeder einzelnen Position im Prinzip nacheinander<br />

losmachen, aber wir können uns nicht einmal im Prinzip von allen<br />

Positionen loslösen.“ 189<br />

Wenn Welsch bezüglich der intersubjektiven Kommunikation behauptet:<br />

„Innere Kommunikation ist eine Bedingung äußerer Kommunikation“ 190,<br />

dann stellt er sich damit gegen Habermas und auch gegen diskursethische<br />

Positionen, die eine Überwindung der subjektiven Vernunft vorgeben. 191 In<br />

Bezug auf eine Positionsungebundenheit setzt dies, wie bereits geschildert,<br />

ein über die eigene Position hinausgehendes Vermögen voraus, welches<br />

Welsch in dem Vollzug der Reflexion der unterschiedlichen Positionen zu<br />

erkennen glaubt. 192 Welsch verbindet auf diese Weise eine Philosophie des<br />

Subjekts, die nie vollständig objektiv überwunden werden kann, mit anscheinend<br />

objektiven Bestimmungen der Leere und Positionsungebundenheit. Er<br />

wendet sich gegen die Auflösung der subjektiven Vernunft, entwickelt jedoch<br />

eine vollständige Hintergehbarkeit der eigene Position. Diese Gegensätze<br />

in einem Ansatz zusammenzuführen, erscheint paradox. So auch<br />

Schlüter-Knauer:<br />

punkt des vernünftigen Vollzugs, dem man sich nähert, je weiter diese Entwicklung<br />

vorangeschritten ist.<br />

189 Keller (2000: 108).<br />

190 Welsch (2000a: 81).<br />

191 Vgl. hierzu Welsch (2000a: 90; Fußnote 4): „Damit wende ich mich natürlich insbesondere<br />

gegen Habermas‘ Zurückweisung und vorgebliche Überwindung subjektiver<br />

Vernunft. Die „kommunikationstheoretische Wende“ kann der „Philosophie des<br />

Subjekts“ schwerlich, wie Habermas meint, ein Ende setzen - sie bedarf ihrer.“ Welsch<br />

setzt jedoch nicht subjektive Vernunft mit innerer Kommunikation gleich. Ihm geht es<br />

im Wesentlichen darum, aufzuzeigen, dass ein Vorhaben, „die individuelle Dimension<br />

vollständig in der sozialen aufgehen zu lassen“ (Welsch 2000a: 90; Hervorhebung<br />

vom Verfasser), scheitern muss, dass die soziale Dimension nicht an die <strong>St</strong>elle der individuellen<br />

treten kann; beide Seiten sind komplementäre Teile eines Ganzen.<br />

192 So Welsch (2000a: 83): „Die Reflexion von Positionen und deren Relationen erfolgt<br />

durch ein selbst nicht positionsgebundenes Vermögen“.<br />

151


152<br />

„Trotz aller gutwillig angestrebten Positionsneutralität der Argumentationspraxis<br />

bleibt aber die eigene ‚Position‘ grundsätzlich unhintergehbar -<br />

denn sie ist die Kehrseite der erkenntniskritischen Darstellung (...) und liegt<br />

schon im Geltendmachen von Argumenten überhaupt.“ 193<br />

Dagegen schlägt sie eine regulative Idee vor,<br />

„(...) die auch über ein mögliches oder unmögliches Ende der Unsauberkeit<br />

(...) mangels der Möglichkeit an positivem Wissen (...) über die Erreichbarkeit<br />

keine Aussage macht und so Methodenfehler meiden möchte.“ 194<br />

Schärfer äußern sich u. a. Wuchterl, für den „jeder konkrete Umgang mit den<br />

formalen Prinzipien und Kategorien“ eine „philosophische Position“ darstellt<br />

und mit der „anvisierten Reinheit und Positionsungebundenheit nichts zu<br />

tun“ hat195, Topitsch kommentiert diese Bestimmung mit den Worten „Ein<br />

schöner Traum (...)“ 196 und auch Perger/Hug setzen der Ungebundenheit<br />

das affektiv-emotionale Moment eines jeden Übergangs zwischen verschiedenen<br />

Bezugsrahmen und Rationalitätsformen entgegen. 197 Der bei Welsch<br />

anscheinende Widerspruch löst sich nur auf, wenn die Positionsungebundenheit<br />

in ihrer Purifikationsdynamik gedacht wird, also prozessual anstatt<br />

substantiell. 198 Dann steht der „Rest“ subjektive Vernunft einem „Rest“ Unreinheit<br />

der Vernunft gegenüber. In dieser asymptotischen Dynamik, die die<br />

subjektive und die objektive Seite der transversalen Vernunft bestimmt, löst<br />

193 Schlüter-Knauer, C. (2000): Die ‚Neue Mitte‘ der Vernunft, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 147-<br />

149, hier S. 148.<br />

194 Schlüter-Knauer (2000: 148).<br />

195 Vgl. Wuchterl, K. (2000): Transversale Vernunft - eine ästhetische Illusion, in: EuS, Jg.<br />

11, H. 1, S. 162-164, hier S. 164; Hervorhebungen im Original.<br />

196 Topitsch, E. (2000): Gelungene Reanimation?, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 156-157, hier<br />

S. 157.<br />

197 Vgl. Peger/Hug (2000: 132). Weiter meinen Perger/Hug (2000: 132): „Es scheint, daß<br />

ein Konzept transversaler Vernunft, das auf dem Ausklammern von Inhalten und<br />

Affekten besteht, im Vollzug die Probleme paradoxerweise erst produziert, für dessen<br />

Lösung es sich hält.“ Welsch entgegnet: „(...) So klingt mir der Ruf nach Gefühl in<br />

Vernunftdingen in dieser Form zu feuilletonistisch, philosophisch müßte schon gezeigt<br />

werden, inwiefern Gefühlscharakter den Vernunftbestimmungen innerlich sind,<br />

und diesbezüglich bin ich recht skeptisch. Daß zu uns Menschen auch Gefühle gehören,<br />

reicht jedenfalls noch nicht aus, um zu behaupten, daß das Spezifikum vernünftiger<br />

Tätigkeit durch Gefühlsbindungen bestimmt wäre oder durch Gefühlsbetonung<br />

besser verstanden werden könnte.“ (Welsch 2000b: 186; Endnote 42; Hervorhebung<br />

im Original).<br />

198 In einem solchen Verständnis scheint es auch möglich, dass sich diese affektiv-emotionalen<br />

Momente daran „beteiligen“.


sich der Gegensatz auf - irgendwo im „Übergang“ zwischen ihnen. Dies verdeutlicht<br />

die zentrale Bestimmung, die die transversale Vernunft durchzieht:<br />

Es ist dies - verkürzt - die Differenzierung zwischen den theoretischen Zielen<br />

und dem praktischen Vermögen. Nur so ist eine Leere und Positionsungebundenheit<br />

mit einem subjektiven Vermögen zusammenzudenken, so die hier<br />

entwickelte Rekonstruktion des Welsch’schen Ansatzes. Die bewusste Konfrontation<br />

mit dieser Spannung, die bewusste Auseinandersetzung mit<br />

scheinbaren Paradoxien zeichnet diese Konzeption aus und verdeutlicht ihre<br />

Offenheit und Bestimmtheit gleichermaßen.<br />

7.3.2 Totalität, Vernunft, Rationalität - zentrale Verhältnisbestimmungen<br />

in der Kritik<br />

Wie bereits ausgeführt, unterscheiden sich nach Welsch Rationalität und<br />

Vernunft in ihren Funktionen: Die Rationalität bezieht sich auf Gegenstände,<br />

die Vernunft hingegen bezieht sich auf Rationalität und Vernunft, also auch<br />

auf sich selbst. Sie ist in dieser Selbstreflexion kategorial von der Rationalität<br />

zu unterscheiden. 199<br />

Die Kritik an der Unterscheidung von Rationalität und Vernunft bezieht sich<br />

vornehmlich auf die Frage nach der Notwendigkeit und überhaupt nach der<br />

Möglichkeit derselben. Nicht selten wurde auch eine Trennung in die Differenzierung<br />

hineingelesen. 200 In seiner Replik stellt Welsch nochmals deutlich<br />

199 Vgl. hierzu nochmals die Ausführungen in Abschn. 6.2.1. Es wird nochmals deutlich,<br />

dass im Mittelpunkt der Betrachtung die Differenz von Rationalität und Vernunft<br />

steht, da dies eine der Hauptbestimmungen des Welsch’schen Ansatzes ist. Auch<br />

wenn die ökonomische Rationalität in Abschnitt 1 analysiert worden ist, so geschah<br />

dies exemplarisch. Eine eigene Analyse von Rationalität an sich würde vom eigentlichen<br />

Fokus fortführen, auch wenn diese Analyse von Rationalität Parallelen zu dieser<br />

Argumentation aufzeigt. Vgl. hierzu insbesondere Will (1996), der die Komplementarität<br />

von deduktiver und pragmatischer Rationalität hervorhebt und in der Betonung<br />

von pragmatischer Rationalität der Welsch’schen Subjektorientierung nahe ist. Und<br />

auch die Aussage von Gert (1996), dass Irrationalität basaler ist als Rationalität, zeigt<br />

Parallelen auf zu einer grundsätzlichen Infragestellung von Rationalität und damit<br />

auch zu der Welsch’schen Interpretation der qualitativen Differenz von Rationalität<br />

und Vernunft. Vgl. Will, F.L. (1996): Pragmatische Rationalität, in: Apel/Kettner<br />

(1996), S. 296-317; Gert, B. (1996): Substantielle Rationalität, in: Apel/Kettner (1996), S.<br />

318-348.<br />

200 Die vielfältige Kritik an der Differenzierung und Unterscheidung soll nicht im Einzelnen<br />

dargestellt werden - dies würde von dem eigentlichen Fokus wegführen. Häufig<br />

beruht sie auch auf ungenauer Lektüre des Ansatzes, zum Teil ist sie nicht schlüssig<br />

oder schlägt nur Akzentverschiebungen vor. Zu der Kritik vergleiche bezüglich einer<br />

fehlenden Notwendigkeit der Unterscheidung Fischer (2000: 93), Givsan (2000: 97ff.);<br />

die Unmöglichkeit einer Unterscheidung vertreten Franzen (2000: 95), Keller (2000:<br />

153


heraus, dass es bezüglich des Verhältnisses von Vernunft und Rationalität<br />

nicht um eine Trennung, sondern lediglich um eine Unterscheidung geht. 201<br />

154<br />

„Es besteht zwar eine funktionsspezifische Unterscheidbarkeit, aber keine<br />

Trennbarkeit beider (...); vielmehr sind ‚Vernunft‘ und ‚Rationalität‘ als Bezeichnungen<br />

für unterschiedliche Operationstypen innerhalb unseres reflexiven<br />

Vermögens aufzufassen (...), wobei diese Operationstypen aufeinander<br />

angewiesen sind und in einem Passungsverhältnis zueinander stehen (...).“ 202<br />

Entscheidend ist zudem, und das bleibt im Kontext der Differenzierung von<br />

Rationalität und Vernunft zu wenig berücksichtigt, dass Vernunft durch<br />

ihren Bezug auf die Verhältnisse der Rationalitäten untereinander auf das<br />

Totale ausgreift. Insofern ist eine Diskussion um die Differenz von Vernunft<br />

und Rationalität nicht zu lösen von der Frage nach dem Verhältnis der Vernunft<br />

zur Totalität. In dem Bezug zur Totalität zeigt sich die inhaltliche und<br />

damit nicht nur operationale (!) Differenz von Vernunft und Rationalität. Die<br />

Vernunft unterscheidet sich grundsätzlich von der Rationalität durch ihren<br />

spezifischen Zugang zum Totalen; die Rationalität stellt hingegen den spezifischen<br />

Zugang zum Partialen dar. 203 Die von Welsch geforderte Differenzierung<br />

(und nicht Trennung) steht aus diesem Grund vor einer Zerreißprobe.<br />

108f.), Kleinmann (2000: 112f.), Wittwer (2000: 161f.), Wuchterl (2000: 163f.) und<br />

Wüstehube (2000: 164ff.).<br />

Vgl. hierzu Fischer, P. (2000): Im Schatten der Postmoderne, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 93-<br />

94; Givsan, H. (2000): Eine fragwürdige Verteidigung der „Vernunft“, in: EuS, Jg. 11,<br />

H. 1, S. 97-99; Franzen, W. (2000): Vernunft, Rationalität, Reinheit, in: EuS, Jg. 11, H. 1,<br />

S. 94-97; Kleinmann, B. (2000): Vernunft im Übergang, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 112-114;<br />

Wittwer, H. (2000): Wider den neuen Purism der Vernunft, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 161-<br />

162; Wüstehube, A. (2000): Rationalität versus Vernunft - Ein müßiger <strong>St</strong>reit, in: EuS,<br />

Jg. 11, H. 1, S. 164-166.<br />

201 Die Differenzierung findet sich auch in der Psychologie wieder und dort in der Konzeption<br />

der Metakognition. Diese Konzeption unterscheidet „Rationalität und Vernunft<br />

als Operationen erster und zweiter Ordnung.“ (Kraak, B. (2000): Forderungen an vernünftiges<br />

Denken, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 116-117, hier S. 116). Vgl. hierzu bspw.<br />

Weinert, F.E./Kluwe, R.H. [Hrsg.] (1984): Metakognition, Motivation und Lernen,<br />

<strong>St</strong>uttgart, und die bei Kraak (2000) angegebene Literatur.<br />

202 Welsch (2000b: 170).<br />

203 In diesem Sinne greift die Aussage von Glasersfeld zu kurz: „Vernunft ist nicht zuständig<br />

für, was man denkt, sondern für, wie man denkt. Das scheint mir eine wichtige<br />

Feststellung.“ (Glasersfeld, E.v. (2000): Ratio rediviva, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 99;<br />

Hervorhebungen im Original). Wenn man dies auf eine Kurzformel bringen möchte,<br />

dann ließe sich vielleicht sagen, dass es darauf ankommt wie was und was wie zu<br />

denken ist. Eine Ausschließlichkeit des ‚was‘ gegenüber dem ‚wie‘ zeigt nur die<br />

neuartige Akzentuierung, jedoch nicht die Komplexität des Zugangs.


Argumentiert man konsequent auf Grundlage der nicht vollständigen Leere<br />

und Positionsungebundenheit aus der vorherigen Erörterung, so ergibt sich<br />

auch hier eine stärkere Differenz, als dies Welsch vorgibt. 204 Auch wenn<br />

diese Reinheit in einer Purifikationsdynamik angestrebt wird, so ist die tatsächliche<br />

Differenz zwischen Vernunft und Rationalität durch diesen kleinen,<br />

aber relevanten Unterschied geprägt. 205 Eine Trennung macht auch dies<br />

nicht notwendig, aber genauso wenig ist die kategoriale Differenz in eine<br />

Differenz der Operationstypen auflösbar.<br />

Auch wenn die Inhalte nur asymptotisch zurückgedrängt werden, so ist<br />

Vernunft doch nicht länger mehr das Universale selbst, sondern stellt den<br />

spezifischen Zugang zu diesem dar. Luckner kann in diesem Zusammenhang<br />

auch Parallelen zu Hegel aufzeigen:<br />

„In der Transversalität der Vernunft - ihrer Dialektik - liegt, dass sie schon<br />

durch das Schaffen eines Übergangs von einer (Verstandes-)Sphäre zur nächsten<br />

auf die Ganzheit ausgreift, aus der heraus die einzelnen Sphären allererst<br />

herausdifferenziert sind. Das heißt aber auch, dass es diese Totalität strenggenommen<br />

nicht schon gibt, bevor die Vernunft tätig wird. Die Totalität wird<br />

vielmehr durch den Gang der Vernunft erzeugt (...) und sie ist nicht durch<br />

grundlegende und fundamentale Prinzipien schon abgesteckt (denn von wem<br />

auch?). Auch bei Hegel ist die Totalität, auf die die Vernunft wesentlich bezogen<br />

ist, nicht schon gegeben, wie man immer wieder fälschlicherweise unterstellt,<br />

und von daher seine Philosophie alles andere als ein philosophischer<br />

Totalitarismus. Das, womit Verstand bzw. die vielen Rationalitäten nur rechnen,<br />

das Allgemeine, wird von der Vernunft erzeugt. Vernunft ist damit die<br />

„sich in sich entwickelnde Totalität“ und nicht etwa schon eine fixfertige, die<br />

von einem unausgewiesenen god’s eye view beschrieben werden könnte.“ 206<br />

Über die Charakteristik als ‚Zugang‘ hinaus zeigt sich hier ein weiterer zentraler<br />

Punkt, denn neben der Rolle des Mediums wird die Rolle des „Erzeugers“<br />

deutlich: Durch die mediale Vermittlung wird Totalität erzeugt, die<br />

zuvor nicht bestand. Die phänomenologische Gesamtheit ist existent, der<br />

204 Vor diesem Hintergrund sind auch die vielen kritischen <strong>St</strong>immen bezüglich einer<br />

Trennung nachzuvollziehen, denn diese Trennungscharakteristik wird implizit in der<br />

Welsch’schen Argumentation mitgetragen und vermittelt.<br />

205 Es scheint sich diese Differenz auch nicht aufzulösen, würde die Reinheit erreicht<br />

werden und damit auch die inhaltliche Leere: Der Ausgriff aufs Gesamte bleibt „unhintergehbare“<br />

Differenz.<br />

206 Luckner, A. (2000): Transversale Vernunft. Oder: Wolfgang Welschs Übergang ins<br />

dialektische Denken, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 123-126, hier S. 124; Hervorhebungen im<br />

Original; Fußnoten weggelassen.<br />

155


ewusste Zugang dazu, die Totalität, wird erzeugt. 207 Die transversale Vernunft<br />

steht somit zwischen Universalem und Partialem als Medium. Diese<br />

spezifische Zwischenrolle wiederum kann nur in einer asymptotisch-dynamischen<br />

Leere und Positionsungebundenheit gedacht werden, will das Medium<br />

nur Medium, reines Medium sein. 208<br />

In dem Fokus der transversalen Vernunft stehen diejenigen Inhalte, die<br />

zwischen diesen Gegenständen zu finden sind und ihre Beziehung zueinander<br />

beleuchten. Die Klärung der Inhalte jenseits der Inhalte der Gegenstände<br />

ist Vollzug der Vernunft und konstituiert sich aus der Einsicht in die<br />

Notwendigkeit der Klärung; der Klärung der Verhältnisse zueinander. Aus<br />

der konkreten Betrachtung der Vollzüge zeigt sich auf ähnliche Weise die<br />

Unterstützung der Vermutung einer nicht vollständig „leeren“ Vernunft.<br />

Im Blick auf eine Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität hat der<br />

Bezug zum Totalen und Partialen und die qualitative Differenz zwischen<br />

beiden eine zentrale Bedeutung. Die Rationalität bezieht sich auf die eigenen<br />

Inhalte. Diese sind zwar von zentraler Relevanz für den eigenen Bereich,<br />

darüber hinaus können sie jedoch keine Relevanz erreichen, wenn nicht<br />

deren Anschlussfähigkeit in irgendeiner Art und Weise hergestellt werden<br />

kann. Die Relevanz bleibt ohne diesen Anschluss Bereichsrelevanz. Dies<br />

kann sich im Wesentlichen aus zwei Gründen ändern und zu qualitativen<br />

Spannungen führen. Zum einen, dies wurde aus anderer Perspektive in Abschnitt<br />

2.4 bereits angedeutet, ist der real arbeits- und lebensweltliche Befund<br />

ein Verflechtungsbefund, trotz aller Autonomisierungsbemühungen seitens<br />

des Systems. Zum anderen kommt es dazu, dass die auf das Partiale<br />

bezogene Rationalität auf das Totale ausgreift, welches bereits mit dem Term<br />

207 Welsch (1996: 922f.) weist in diesem Zusammenhang auf die Russellsche Antinomie<br />

hin: „Die Russellsche Antinomie besteht darin, daß die Menge all derjenigen Mengen,<br />

die sich selbst nicht enthalten, genau dann, wenn sie sich nicht enthält, sich selbst<br />

enthalten muß, daß sie sich hingegen dann, wenn sie sich enthält, nicht enthalten<br />

kann.“ Das bedeutet, dass Aussagen über das Ganze „selbstinklusiv“ sein müssen, die<br />

jedoch gerade in eine Paradoxie, hier Antinomie führt. Vernunft als Ausgriff auf das<br />

Ganze kann damit nur asymptotisch und prozessual verstanden werden. In dieser<br />

Charakteristik bleibt Vernunft jedoch immer spezifiziert durch ihren spezifischen Zugang<br />

und ihre spezifische Referenz.<br />

208 Die Vernunft als Vermittler erinnert wiederum an Hegel, der diese Vermittlungstätigkeit<br />

mit dem Begriff „dialektische Natur der Vernunft“ belegte. Vgl. Hegel, G.W.F.<br />

(1970): Werke in zwanzig Bänden, Band 4, Frankfurt, S. 87, zitiert nach Luckner (2000:<br />

123).<br />

156


Kolonialisierung belegt wurde. 209 In beiden Fällen kommt das sich auf das<br />

Partiale beziehende mit dem Totalen in Berührung, was automatisch zu einer<br />

Überforderung des Partialen führt; jedoch nur dann, wenn sich das Partiale<br />

berufen fühlt, selbst auf das Gesamte auszugreifen. In dem hier beschriebenen<br />

Zusammenhang wird der ökonomischen Rationalität dieser Ausgriff<br />

vorgeworfen.<br />

Pointiert formuliert, konstruiert in diesem Fall das Partiale das Totale. Vor diesem<br />

Hintergrund gewinnen die Begriffe der Kolonialsierung und der Verdinglichung<br />

erneut an Profil. Wenn man sich beispielsweise die Gegenstandsbestimmung<br />

der Rationalität vergegenwärtigt, die über die gegenständliche<br />

Bestimmung nicht hinausgehen kann, dann lässt sich ausmalen, in welcher<br />

Weise die rationale Wahrnehmung die komplexe Verflechtung partialisiert<br />

und zu handhabbaren Paketen zusammenschnürt.<br />

Dieser Befund nun kann aus der Rationalität heraus nur schwerlich wahrgenommen<br />

werden; dazu bedarf es der Außenperspektive; aus dieser werden<br />

die diskrepanten Konstellationen deutlich. Wie auch Welsch selbst andeutet,<br />

werden die Gegenstände in der Rationalität, die das eigene Verhältnis zu anderen<br />

Rationalitäten thematisieren, „nur sekundär und in strategischer und<br />

selbstsichernder Absicht“ 210 bewegt, wenn überhaupt. 211 Die Vernunft hingegen<br />

kann mit ihren „Gegenständen“ nur schwerlich eine strategische Position<br />

einnehmen, da kein Gegenüber existiert und auch keine genuin eigenen,<br />

d. h. von den Gegenständen unterschiedlichen Intentionen. Jedoch müssen<br />

sich diese Einstellungen nicht notwendigerweise entgegenstehen.<br />

Der Blick der Vernunft auf die Verhältnisse der Rationalitäten wohnt eine<br />

Intention inne, die nicht notwendigerweise auf eine Verständigung der Rationalitäten<br />

abzielt, jedoch aber auf eine Sensibilisierung für die Differenzen<br />

und deren Auswirkungen auf das Ganze. Aus dieser Sensibilisierung kann<br />

die Einsicht in die Notwendigkeit eines Abgleichs zwischen den Rationalitäten<br />

entstehen. In dieser „Einsicht in die Notwendigkeit eines Abgleichs“ kann<br />

eine Bedingung der Möglichkeit von Verständigung gesehen werden; auf der<br />

Grundlage dieser Verständigung wäre Problemhandhabung möglich. In<br />

dieser Einsicht der Notwendigkeit und nicht in der Forderung des konkreten<br />

209 Vgl. Abschn. 3.3.<br />

210 Welsch (2000a: 87).<br />

211 Es ließe sich in Anlehnung an Habermas die Rationalität als strategisch-orientiert beschreiben,<br />

die Vernunft hingegen als verständigungsorientiert. Das wird an späterer<br />

<strong>St</strong>elle nochmals aufgenommen. Vgl. hierzu Abschn. 10.2.<br />

157


Vollzuges definiert sich zum einen die relative (nicht vollständige) Positionsungebundenheit<br />

und zum anderen die relative Leere der Vernunft. Hierin<br />

liegt die spezifische Leistung einer hier entwickelten und durch die transversale<br />

Vernunft wesentlich durchwirkten Vernunftcharakteristik.<br />

8 Fazit<br />

In Rückbesinnung auf die Ausgangsfrage, ob und wie eine Weiterentwicklung<br />

ökonomischer Rationalität zu ökonomischer Vernunft möglich ist, ist<br />

hier festzuhalten, dass eine solche Weiterentwicklung aufgrund der kategorialen<br />

Differenz von Rationalität und Vernunft nicht möglich ist. Diese kategoriale<br />

Differenz verlangt die Adaption an die Welsch’sche Konzeption; danach<br />

ist ein evolutorischer Übergang zwischen diesen nicht vorgesehen.<br />

Jedoch, dies konnte durch Reflexion aufgedeckt werden, bestehen für die<br />

Rationalität Möglichkeiten der Weiterentwicklung. In der Diskussion haben<br />

sich diese Möglichkeiten aus zwei Perspektiven dargestellt.<br />

(Systemisch)<br />

Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität in einer systemtheoretischen<br />

Rekonstruktion bedeutet die Überwindung ihrer systemischen<br />

Grenzen. Die Bifurkation als paradigmatischer Entwicklungssprung bringt<br />

dies zum Ausdruck. In diesem Sinne ist die Weiterentwicklung ein bifurkativer<br />

Reflexionsprozess, welcher in der Lage ist, den systemischen Eigensinn<br />

und die Eigengesetzlichkeit an Konzeptionen des Gemeinsinns und der<br />

„Gemeingesetzlichkeit“ anzubinden. In dieser Anbindung kommt die Offenheit<br />

zum Ausdruck, die die eigenen Kategorien zur Disposition zu stellen in<br />

der Lage ist.<br />

(Kommunikativ)<br />

Der bifurkativen Entwicklung aus systemtheoretischer Perspektive entspricht<br />

auf Ebene der kommunikationstheoretischen Analyse der Übergang, d. h. die<br />

Konnexion von strategischer und verständigungsorientierter Einstellung.<br />

Diese Einstellung transportiert die wechselseitige Anerkennung der Akteure<br />

in eine offene, weil dem „besseren“ Argument sich fügende kommunikative<br />

Interaktion und Sozialität. Sie vollzieht die Anbindung der strategisch-orien-<br />

158


tierten Positionen an eine gemeinschaftlich verständigungsorientierte Position.<br />

Es wird deutlich, wie beide Perspektiven aufeinander verweisen und verwiesen<br />

sind. Diese Transzendierung der eigenen Grenzen bedeutet nicht nur<br />

eine Verschiebung der Grenzen, sondern eine qualitative Veränderung der<br />

Beschaffenheit, der Verfassheit der Grenzen selbst.<br />

Auch wenn die (ökonomische) Rationalität die Vernunft selbst nicht erreicht<br />

bzw. nicht erreichen kann, so kann sie doch eine vernünftige Entwicklung<br />

durchschreiten, deren Zielpunkt die Anschlussfähigkeit an Vernunft ist.<br />

Die transversale Vernunft wirkt zwischen den Rationalitäten. Ihr „Erfolg“<br />

hängt jedoch im Wesentlichen von den Rationalitäten und deren „Offenheit“<br />

ab, den transversalen Weg vorzubereiten und nach Kräften zu unterstützen.<br />

Selbst beschreiten kann die Rationalität diesen Weg nicht, dies ist Vollzug<br />

der Vernunft. Doch kann sie dem vernünftigen Wanderer die Tür öffnen und<br />

eine Herberge geben, ihm zuhören und sich davon überzeugen lassen, dass<br />

es vernünftig sei, eine wahrhaftige Gemeinschaft in der Handhabung der<br />

Probleme zu bilden.<br />

159


III Balance von Arbeit und Leben - Ökonomische<br />

Vernunft in theoretischer und praktischer Reflexion<br />

Dieses abschließende Kapitel zeigt Möglichkeiten der Weiterentwicklung<br />

bzw. Öffnung ökonomischer Rationalität auf. Dazu werden Parameter einer<br />

ökonomischen Vernunft entwickelt, diese werden einer ethischen Reflexion<br />

zugeführt, um zum Abschluss im Kontext der Unternehmung wirtschaftsethische<br />

Implikationen für die Wirtschaftspraxis und deren Konzepte<br />

ableiten zu können. Zu Beginn sei hierzu das Spannungsfeld rekapituliert,<br />

aus dem die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der ökonomischen<br />

Rationalität heraus entstanden ist. Diese Notwendigkeit wird dann im<br />

Folgenden mit den Impulsen aus der Erörterung der transversalen Vernunft<br />

zusammengebracht. Hieraus ergeben sich Impulse für eine Vernunft in der<br />

postmodernen Moderne, für eine ökonomische Vernunft und für die<br />

konkrete Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität.<br />

9 Vernunft in der postmodernen Moderne - Hinführung zu<br />

160<br />

einer ökonomischen Vernunft<br />

Wie aufgezeigt werden konnte, ist vor dem Hintergrund der Welsch’schen<br />

Konzeption und der hier vorgestellten Rekonstruktion derselben keine<br />

Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität zu einer Form von<br />

Vernunft möglich. 1 Demzufolge ist die hier entwickelte Konzeption von<br />

Vernunft - und in der Konkretion von ökonomischer Vernunft - als Bezugsrahmen<br />

einer Form von Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität zu<br />

verstehen. Dieser Bezugsrahmen dient der ökonomischen Rationalität als<br />

Orientierungs- und Referenzsystem, an dem sich die ökonomische Rationalität<br />

ausrichtet, will sie eine Weiterentwicklung im starken Sinne vollziehen.<br />

Die nachfolgende Skizzierung der ethischen Konzeption stellt den konsequenten<br />

Schritt einer wirtschaftsethischen Analyse dar, die darauf abzielt,<br />

1 An späterer <strong>St</strong>elle wird hierzu aufgezeigt, dass die Diskussion um eine ökonomische<br />

Vernunft zuallererst eine Diskussion um Vernunft an sich verlangt. Diese Vernunft an<br />

sich kann ihrerseits Aufschlüsse darüber liefern, welche Implikationen Vernunft im<br />

Kontext von ökonomischer Vernunft aufweist. Vgl. hierzu Abschn. 9.2.1.


die erarbeiteten postmodern-modernen Bestimmungen von Rationalität,<br />

Vernunft und Ethik im Kontext der Unternehmung zu reflektieren, Impulse<br />

systematisch aufzunehmen und organisationstheoretische Implikationen zu<br />

diskutieren. Dafür ist eine Deutung der individuellen ethischen Reflexionen,<br />

der Subjektorientierung der Welsch’schen Konzeption in die intersubjektiven<br />

Bezüge einer sozialen Gemeinschaft zu überführen, um anschlussfähig zu<br />

sein an das soziale System „Unternehmung“. Diese Überführung geschieht<br />

im Rahmen der ethischen Reflexion.<br />

9.1 Rekapitulation der Notwendigkeit einer Weiterentwicklung<br />

ökonomischer Rationalität<br />

Eine Reflexion von ökonomischer Rationalität wird im Blick auf die aktuelle<br />

Praxis aus zwei unterschiedlichen Perspektiven dringlich und notwendig:<br />

Zum einen sind es die bei Sennett dargestellten Analysen, die diese Notwendigkeit<br />

unterstützen. Dazu wurde in Abschnitt 2.1.1 die Globalisierung in<br />

ihren charakteristischen Phänomenen nachgezeichnet. In ihrer Komplexität<br />

und Unübersichtlichkeit stellt die Pluralisierung der Lebenswirklichkeit die<br />

Menschen vor neue Herausforderungen. Einher geht die vor allem arbeitsweltliche<br />

Flexibilisierung mit einer ökonomischen Dynamisierung, die -<br />

losgelöst von jeglicher lebensweltlicher Reflexion - ins gesellschaftliche Abseits<br />

driftet und beinahe zwingend die „lebensweltliche Revolte“ provoziert.<br />

2 Auch wenn sich die Dynamik und Flexibilisierung aus dem ökonomischen<br />

System heraus entwickelt und auch vornehmlich für dieses bestimmt<br />

ist, so erscheint es naiv anzunehmen, dass die dadurch beeinflussten <strong>St</strong>rukturen<br />

und Zusammenhänge sich nur auf das ökonomische System beschränken.<br />

Vielmehr ist es gerade der lebensweltliche, der individuell-intrasubjektive<br />

Kontext von Persönlichkeit und Identität, der diese Sprache des „Turbo-<br />

2 Die Globalisierungsgegner formieren sich auf dem gesamten Globus in zunehmendem<br />

Maße. Die Form des Protests eskaliert, wenn die „Mächtigen“ dieser Welt zu<br />

Weltwirtschaftsgipfeln zusammenkommen, um globale Entscheidungen zu treffen –<br />

leider zunehmend auch gewalttätig (in Genua, September 2001, war das erste Todesopfer<br />

zu beklagen). Aufgrund der komplexen Semantik und auch überwiegend unscharfer<br />

Verwendung des Begriffs „Globalisierung“ lässt sich auch die Gegenbewegung<br />

nicht thematisch konkretisieren, was dazu führt, dass sich zuweilen unter den<br />

so genannten Globalisierungsgegnern recht abstruse Anliegen tummeln und damit<br />

eine m.E. so notwendige thematisch konzertierte Aktion nahezu unmöglich machen.<br />

161


Kapitalismus“ mit seinen „Speed-Parolen“, „Fusionen“, „Burn-Outs“ und<br />

„Inkubatoren“ nur zögerlich handhaben und kompensieren lernt.<br />

Sennett zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass eine Form von Erfahrungsfraktale,<br />

wie sie auch Lübbe skizziert, in zweifacher Weise relevant wird:<br />

Zum einen ist es die Handlungsfraktale in den arbeitsweltlichen Prozessen, die<br />

seit der Industrialisierung diskutiert wird, die den Blick für das Gesamte des<br />

Hergestellten und damit den Sinn des eigenen Tuns versperrt, da der<br />

Einzelne nur in einen Bruchteil des gesamten Prozessablaufes durch seinen<br />

Arbeitsbeitrag integriert ist. 3 Zum anderen führt die Kurzfristigkeit der<br />

Arbeitsverhältnisse zu einer Bereicherung, aber auch Fragmentarisierung der<br />

lebensweltlichen Erfahrung. Die kurze Verweildauer eines Arbeitnehmers in<br />

einer Unternehmung führt zu einer Arbeitskultur, die weniger durch Vertrauen<br />

und Loyalität als vielmehr durch Wettbewerb und strategische<br />

Mikropolitik gekennzeichnet ist. Das Verhältnis zu den ständig wechselnden<br />

Arbeitgebern nimmt aus Sicht des Arbeitnehmers mehr und mehr den Charakter<br />

einer „lebenslangen Probephase“ an. Es muss ständig neu eine Identität,<br />

ein <strong>St</strong>atus, ein <strong>St</strong>anding im sozialen Gefüge der Unternehmung aufgebaut<br />

werden. 4 Da eine Probephase durch die besondere Anstrengung, die<br />

Übererfüllung des Arbeitnehmers gekennzeichnet ist, entspricht dies einer<br />

latenten Ausbeutung.<br />

In der jeweiligen Lebenspraxis ist der ständige Wohnsitzwechsel - abgesehen<br />

von oft zahlreichen Geschäftsreisen - eine besondere Herausforderung für<br />

Familie bzw. für den Erhalt eines Freundeskreises. Das soziale Netz verlagert<br />

sich in das virtuelle Netz, kommuniziert über E-Mail und lernt, auf persönliche<br />

face-to-face Kontakte zu verzichten. Wie Sennett deutlich hervorhebt,<br />

kann die Flexibilisierung zu einer Erosion der Charaktere führen, die nur<br />

noch kurzfristig denken und handeln. Kontinuitätserfahrung wird seltener<br />

3 Vgl. Lübbe, H. [Hrsg.] (1982): Der Mensch als Orientierungswaise? Ein interdisziplinärer<br />

Erkundungsgang, Freiburg/München.<br />

4 Man kommt nicht umhin, bei diesen Interpretationen realsoziologischer Konsequenzen<br />

auf die Differenzierung zwischen unterschiedlichen Berufsgruppen, Branchen<br />

und Hierarchiestufen hinzuweisen. So scheint es plausibel, dass derjenige, dessen Fähigkeiten<br />

eher Wissen als spezifische Fertigkeiten sind, aufgrund des höheren Abstraktionsgrades<br />

einfacher unterschiedlich „einsetzbar“ ist, somit vermutlich auch<br />

weniger Probleme mit häufiger wechselnden Arbeitgebern hat. So ist Unternehmensberatung<br />

auf der ganzen Welt in ihren Inhalten und Methoden relativ homogen im<br />

Gegensatz zum Arbeiter in der Fertigung, der wohl niemals auf die gleichen Arbeitsschritte<br />

beim Wechsel seines Arbeitsplatzes trifft. Dies deutet eine soziale Diskriminierung<br />

an.<br />

162


und der Aufbau einer zusammenhängenden Lebenserzählung – zentraler<br />

Baustein einer Identitätskonstituierung – zunehmend schwieriger. Das bedeutet,<br />

dass zu der Fraktale innerhalb der Arbeit - und dem damit einhergehenden<br />

Sinnverlust - eine Fraktale außerhalb der Arbeit bzw. zwischen<br />

Lebens- und Arbeitswelt entsteht, die lebensweltliche und soziale Mechanismen<br />

unterläuft und von innen aushöhlt.<br />

Zum anderen tritt zu diesem Befund die Perspektive der technologischen<br />

Ermöglichung von Informationsvermittlung und Kommunikation. Dieser<br />

technologische Fortschritt revolutioniert vor allem die Arbeitswelt in ihren<br />

Möglichkeiten der Datenübermittlung, aber auch darüber hinaus. Voß verdeutlicht<br />

in seiner <strong>St</strong>udie, dass die Grenzen von Leben und Arbeit erodieren.<br />

Auch wenn diese Erosion nicht unbedingt durch die räumliche Nähe von<br />

Leben und Arbeit erzeugt wird, wie dies noch in der vorindustriellen<br />

Arbeitswelt der Fall war, so kann die räumliche Distanz einfacher und<br />

direkter überwunden werden. 5 Darüber hinaus erhöhen sich die Möglichkeiten,<br />

auch zeitlich Grenzen zu überschreiten, ganz gleich, ob dies die globale<br />

„rund-um-die-Uhr-Produktion“ ist oder im individuellen Kontext der<br />

geschäftliche Anruf am Wochenende bei der Bergwanderung mit der Familie.<br />

Zeitliche und räumliche Relativierung bedeutet für die Ebene der unterschiedlichen<br />

Rationalitäten von System und Lebenswelt eine Durchlässigkeit,<br />

die vermehrt zu Überlagerungen führt. In den skizzierten Beobachtungen<br />

5 Wie bereits angedeutet wurde, ist ein Vergleich mit früheren Konstellationen von<br />

Arbeit und Leben aufschlussreich, jedoch nach der hier vertretenen Auffassung nur<br />

eingeschränkt aussagekräftig. Man mag bezüglich der Identitätserosion einwenden,<br />

dass gerade die vielfältige und wechselnde Herausforderung zu einer wiederholten<br />

Prüfung und Selbstreflexion und damit <strong>St</strong>abilisierung der Identität führen kann. Dergleichen<br />

ließe sich über den Vergleich von vorindustriellen und jetzigen, nachindustriellen<br />

Arbeits- und Lebensformen sagen: Die Erosion von Grenzen führt den Einzelnen<br />

in die Bedingungen zurück, mit denen seine Vorfahren zum Ende des 19. Jahrhunderts<br />

konfrontiert waren. Vgl. dazu Abschn. 1.1. Hierbei ist jedoch selten das gesamte<br />

Set der Situationsbedingungen in Betracht gezogen worden, sondern jeweils<br />

nur einzelne Aspekte. Wie aber auch die hier skizzierte Konstellation von Globalisierung<br />

und Technologie aufzuzeigen versucht, ist die aktuelle Situation vor allem durch<br />

die Komplexität der Herausforderungen gekennzeichnet, die durch das Wechselspiel<br />

von unterschiedlichen Parametern erzeugt wird. Gerade dieses reziproke Beeinflussungsverhältnis<br />

ist es, welches die jetzige Situation von den Situationen früherer Tage<br />

grundlegend unterscheidet und aus diesem Grunde nur eine beschränkte Vergleichbarkeit<br />

ermöglicht. Die vermutete Überforderung des Individuums in der Postmoderne<br />

gründet sich vornehmlich auf diese Beobachtung der unübersichtlichen Pluralität<br />

und Dynamik.<br />

163


wird eine tendenziell einseitige Assimilation der Lebenswelt an das System<br />

vermutet, also eine Überlagerung der Lebenswelt durch das System, die anhand<br />

unterschiedlicher Eskalationsstufen beschrieben werden kann.<br />

Es ergibt sich nach dem Befund der Identitätserosion aufgrund von Fraktale<br />

eine weitere Perspektive der Grenzerosion, die ersteren Befund bezüglich der<br />

Dringlichkeit einer erneuten Reflexion der ökonomischen Rationalität im<br />

Sinne einer Neukonzeptualisierung von ökonomischer Vernunft unterstützt.<br />

In Kapitel II wurden darauffolgend die theoretischen Bedingungen einer<br />

Neukonzeptualisierung ökonomischer Vernunft ausgelotet. Grundsätzliche<br />

aktuelle theoretische Determination stellte darin die Postmoderne in ihren<br />

charakteristischen Befunden dar. Eine Konzeptualisierung hat sich somit<br />

nicht nur den praktischen Befunden der Identitäts- und Grenzerosion zu<br />

stellen, sondern zudem postmoderne Parameter der Pluralisierung und Verabschiedung<br />

der Vereinheitlichung einzubeziehen. Exemplarisch für eine<br />

Berücksichtigung der postmodernen Bestimmungen wurde der Ansatz von<br />

Welsch vorgestellt. In dieser Neukonzeptualisierung von Vernunft als transversalem<br />

Vollzug finden sich die postmodernen Bestimmungen deutlich<br />

wieder, die in einem postmodern-modernen Bezugsrahmen reflektiert wurden.<br />

Der Charakter des Transversalen der Welsch’schen Vernunft ließe sich<br />

wie folgt beschreiben:<br />

Dort, wo nichts ist, ist doch immer Übergang, Austausch und Abgleich. Dort, und<br />

nur dort, vollzieht sich die Grundlage der Bestimmung des Ganzen, welches sonst<br />

als Ganzes nicht bezeichnet werden könnte. Die Gesamtheit entsteht zwischen den<br />

Rationalitäten – und nur dort.<br />

Auf diesem schmalen Grad, der sich von dem breiten Weg der Moderne und<br />

ihrer propagierten Sicherheit grundsätzlich unterscheidet, bewegt sich die<br />

postmoderne Moderne in ihrem Zugang zu Vernunft. Der schmale Grad hält<br />

zu kontinuierlicher Nachjustierung und Reflexion an. Die Vernunft, die nicht<br />

<strong>St</strong>ärke mit Kritikresistenz verwechselt, sondern die in der selbstbezüglichen<br />

Infragestellung und Flexibilität durch grundsätzliche Offenheit Größe zeigt<br />

und beweist, das ist die Vernunft, die sich nicht totalitär über alles stellt,<br />

sondern vermittelnd zwischen alles. Dadurch, dass sie zwischen Allem steht,<br />

konstituiert sich ihr universaler Charakter; ihren totalitären dagegen legt sie<br />

ab.<br />

Damit jedoch die Flexibilität der grundsätzlichen Offenheit, damit der<br />

schmale, jedoch feste Grad nicht zum Drahtseilakt wird, dafür benötigt der<br />

Vollzug der Vernunft eine eindeutige Orientierung, die Welsch in dem<br />

164


formalen Inhalt (Logik) verwirklicht sieht. Von der Welsch‘schen Position<br />

wurde aber im Laufe der Diskussion abgewichen bzw. die Position wurde in<br />

eine spezifische Richtung interpretiert. Die bei Welsch beschriebene Leere<br />

der Ver-nunft wird als asymptotischer Prozess verstanden, welcher die<br />

Vernunft inhaltlich „auf das Nötigste“ reduziert. Dieses Nötigste wurde mit<br />

der Einsicht in die Notwendigkeit der Genese von Vergleichbarkeit, von<br />

Anschlussfähigkeit der Gegenstände der Vernunft, den Rationalitäten,<br />

beschrieben. In dieser inhaltlichen Bestimmung widerspricht die Vernunft<br />

weder den Rationalitäten in ihren Gegenständen, noch ist dies mit den Bestimmungen<br />

der Moderne vergleichbar. In der Einsicht in die Notwendigkeit<br />

findet sich keine inhaltliche Bestimmung, in welcher Weise sich die Gegenstände<br />

der Vernunft zueinander verhalten, nur dass sie sich zueinander<br />

verhalten. Die Vernunft ist zwischen den Positionen einem Medium gleich,<br />

durch das die Positionen in ihren <strong>St</strong>ellungnahmen „hindurchfließen“. Dieses<br />

Medium ist insoweit normativ, als dass es die Vermittlung als notwendig, als<br />

vernünftig erachtet. Moderne Totalität und Einheit wird in dieser Vernunft<br />

durch Universalität ersetzt, die in der Konnexion von Heterogenitäten<br />

besteht.<br />

9.2 „Vernünftige“ Bausteine - eine Skizzierung der Verhältnisbestimmungen<br />

In einem letzten Schritt ist es nun notwendig, die Konzeption von Vernunft<br />

in dieser Argumentation zu umreißen und Möglichkeiten von Vernunft im<br />

Kontext der Ökonomie in Theorie und Praxis auszuloten, um daraus Bedingungen<br />

der Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität erörtern zu<br />

können.<br />

9.2.1 Vernunft und Ökonomische Vernunft<br />

Bisher hat die Diskussion auf Vernunft abgestellt, ohne eine nähere Analyse<br />

bezüglich des Gegenstandsbereichs der Ökonomie explizit nachzuvollziehen<br />

bzw. in diese Analyse zu integrieren. Dies hat vor allem folgenden Grund:<br />

Der Terminus „ökonomische Vernunft“ ist bisher in dieser Argumentation<br />

eher vermieden worden, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.<br />

Da der wesentliche Impuls für diese Argumentation aus dem Ansatz von<br />

Welsch gewonnen wurde, steht auch die gesamte Arbeit in dieser „Tradition“.<br />

Da ein wesentlicher Teil seines Ansatzes die Differenzierung zwischen<br />

165


Rationalitäten und Vernunft darstellt, legt eine Vernunft, die sich einem<br />

(rationalen) Bereich verschreibt, die Vermutung nahe, sie vollzöge einen<br />

Rückschritt. Dieser Rückschritt bestünde in einer Verengung der Vernunft<br />

auf einen Rationalitätsbereich, was zwingend implizieren würde, dass die<br />

Vernunft ihre Differenzierung gegenüber der Rationalität verlieren würde,<br />

da die Vernunft sich gerade zwischen den Rationalitäten lokalisiert und sich<br />

keiner Position verschreiben kann. Nach Welsch ist somit der Begriff der<br />

„ökonomischen Vernunft“ nicht eindeutig und eher irreführend.<br />

Um eine Diskussion über ökonomische Vernunft zu führen, ist es somit notwendig,<br />

über Vernunft an sich zu sprechen und sich nicht einer wie auch<br />

immer gearteten Einschränkung von dieser zu verschreiben. Diese Einschränkung<br />

ist theoretisch nicht haltbar, da auch ökonomische Vernunft<br />

Vernunft ist und nicht eine reduzierte Form davon. Von einer Vernunft zu<br />

sprechen, die ökonomisch sein soll, kann in der hier vertretenen Position und<br />

im Anschluss an Welsch nur in dem Sinne verstanden werden, dass dies ein<br />

Vermögen darstellt, welches in seinem Vollzug vornehmlich den ökonomischen<br />

Gegenstand (Singular!) reflektiert. In diesem Sinne ist sie somit keine<br />

Vernunft, die ökonomisch ist, sondern Vernunft, die sich auf die Ökonomie<br />

bezieht.<br />

Ökonomische Vernunft rekurriert dabei auf denselben theoretischen Rahmen<br />

wie die Vernunft an sich. Hierin unterscheidet sie sich nicht und kann sich<br />

auch nicht unterscheiden, sonst wäre sie Rationalität oder „halbe“ Vernunft.<br />

Von der ökonomischen Rationalität hebt sie sich qualitativ in der Weise ab,<br />

indem sie nicht die einzelnen Gegenstände und ihre Zusammenhänge untereinander<br />

thematisiert, sondern den gesamten Gegenstand der Ökonomie,<br />

also die Ökonomie in ihrer rationalen Gesamtheit zu erfassen sucht und darüber<br />

hinaus speziell diese Gesamtheit zu anderen Gesamtheiten in Beziehung<br />

setzt. 6 Ökonomische Vernunft unterscheidet sich von der Vernunft<br />

lediglich in ihrem „Anwendungsrahmen“, was bedeutet, dass ökonomische<br />

Vernunft den Vollzug der Vernunft vor allem im Rahmen der Ökonomie<br />

beleuchtet und reflektiert. In diesem Anwendungsfokus, in diesem spezifischen<br />

Vollzugsrahmen kann sie sich nicht von der Vernunft an sich separieren,<br />

sondern rekurriert auf sie. Die Referenz der ökonomischen Vernunft<br />

bleibt die Vernunft an sich und diese Referenz kann durch nichts einge-<br />

6 In dieser Betrachtung der Übergänge zwischen Rationalitäten kam der zentrale „Charakterzug“<br />

der Welsch‘schen Vernunft zum Vorschein, mit dem Unterschied, dass<br />

nicht spezifische Rationalitäten im Vordergrund standen.<br />

166


schränkt werden. In diesem Sinne erscheint es nachvollziehbar, weshalb<br />

auch in diesem Argumentationskontext die Konzentration vor allem auf die<br />

Vernunft an sich erfolgte, da sie das eigentliche Referenzzentrum darstellt;<br />

der Schritt in einen spezifischen Vollzug stellt sozusagen den praktischen<br />

Teil der theoretischen Analyse dar. In diesem Fall soll, obwohl dies theoretisch<br />

missverständlich erscheint, an dem Begriff der ökonomischen Vernunft<br />

festgehalten werden, um den spezifischen Fokus herauszustellen. Es ist dies<br />

ein Vollzug der Vernunft, der einen Ausschnitt des gesamten vernünftigen<br />

Vollzuges darstellt und folgt damit einer exemplarischen Methode, nicht<br />

einer reduktionistischen. Die ökonomische Vernunft prüft im Speziellen die<br />

Beziehungen des ökonomischen Gegenstandes zu anderen Gegenständen.<br />

Nachdem die Konzeption von Welsch beschrieben ist, kann nun dieser<br />

Begriff eingeführt, aus der Literatur aufgenommen und vor dem Hintergrund<br />

der hier entwickelten Vernunft-Konzeption reflektiert und weiterentwickelt<br />

werden. Dazu sollen im Folgenden relevante Eckpunkte der hier<br />

entwickelten Vernunft-Konzeption dargestellt werden. Das Profil dieser<br />

Konzeption wird durch die Gegenüberstellung von unterschiedlichen<br />

Bestimmungen innerhalb und außerhalb der Vernunft gewonnen.<br />

9.2.2 Vernunft und Ethik der Ökonomie<br />

Es ist bereits angeklungen: Die Hauptbestimmungen der Vernunft, die Leere<br />

und Positionsungebundenheit, sind nach der hier vertretenen und von anderen<br />

Autoren vertretenen Meinung nicht in der Art und Weise haltbar, wie<br />

sie Welsch in seinem Ansatz ausführt. Jedoch muss in Bezug auf eine zu<br />

skizzierende Ethik klargestellt werden, dass, interpretiere man diese Hauptbestimmungen<br />

der Vernunft als Idealiter, als heuristische Ausgangspunkte<br />

und nicht als faktische Realität der Vernunft – sofern damit Welsch nicht<br />

vollkommen widersprochen ist –, gerade in dieser Dynamik zu Leere und<br />

Positionsungebundenheit das zentrale Charakteristikum einer aktuellen<br />

Konzeptualisierung von Vernunft zum Ausdruck kommt, das gerade hierdurch<br />

ihren universalen Anspruch in irgendeiner Weise zu behaupten<br />

trachtet. Während nun die ökonomische Vernunft, in Anlehnung an Welsch,<br />

das In-Beziehung-setzen der ökonomischen Rationalität mit anderen Rationalitäten<br />

zueinander zum Programm hat, geht die Ethik der Ökonomie<br />

darüber hinaus und schreibt dieser Verhältnisbestimmung eine normative<br />

Notwendigkeit zu. Diese ethische Notwendigkeit geht über die Normativität<br />

der Vernunft hinaus, denn sie thematisiert das „Wie“ des Verhaltens<br />

167


zueinander. Die Ökonomie hat im vernünftigen Vollzug nicht nur eine<br />

grundsätzliche Anschlussfähigkeit „erworben“, sondern zudem einen spezifischen<br />

Zugang zum Gesamten. Im „ethischen Vollzug“ wird dieser Zugang<br />

konsequent in eine Setzung überführt, die das Gesamte in einer sozialen<br />

Solidargemeinschaft rekonstruiert und mit normativen Bezügen belegt. Die<br />

Verhältnisbestimmung ist nicht mehr deskriptiver Abgleich, sondern<br />

normative Entscheidung über Prioritäten. Es kristallisiert sich die „ökonomische<br />

Vernunft“ als notwendige, jedoch nicht als hinreichende Bedingung<br />

einer Ethik der Ökonomie heraus. Die hinreichende Bedingung ethischer<br />

Vollzüge erfordert weitere Voraussetzungen auf Ebene des Verwendungs-<br />

zusammenhangs. 7<br />

9.2.3 Vernunft und Subjektorientierung - Vernunft als Vermögen<br />

Die subjektive Perspektive kann als zentrales methodisches Bindeglied zwischen<br />

der hier entwickelten ökonomischen Vernunft und einer Ethik in der<br />

Postmoderne gesehen werden und damit die Relevanz der transversalen<br />

Vernunft für eine aktuell zu entwickelnde bzw. anzugleichende wirtschaftsethische<br />

Position unterstreichen. In den Bestimmungen der transversalen<br />

Vernunft stellt Welsch diese subjektive Perspektive heraus. Die Verbindung<br />

von Vernunft mit dem handelnden Subjekt hat Welsch dazu veranlasst, von<br />

Vernunft als einem Vermögen zu sprechen. 8 Vernunft tritt hiermit aus dem<br />

7 Der Verwendungszusammenhang spricht das moralische Subjekt und seine Fähigkeiten<br />

an. Ähnlich formuliert Kraak (2000: 116) in Bezug auf die Vernunft als Vermögen,<br />

was im Folgenden aufgenommen werden wird: „Wobei wohl klar ist, daß die<br />

Fähigkeit, vernünftig zu denken, eine notwendige Bedingung ist, aber keine zureichende,<br />

denn es muß die Bereitschaft, der Wille, die Kriterien vernünftigen Denkens<br />

auch anzuwenden, hinzukommen.“ Kraak bezieht sich dabei auch auf Salomon,<br />

G./Globerson, T. (1987): Skill May Be not Enough: The Role of Mindfulness in Learning<br />

and Transfer, in: International Journal of Educational Research, Jg. 11, S. 623-637.<br />

8 Kleinmann kritisiert diesbezüglich, dass sich Welsch darüber hinaus zu einer „Personifikation<br />

der Vernunft“ hinreißen lässt, indem er die Vernunft dieses oder jenes tun<br />

lässt. Damit indiziere und suggeriere Welsch „ein Verständnis von Vernunft, das<br />

diese als transindividuelles Agens konzipiert, als eine dynamische Entität, deren Wirkung<br />

durch das Handeln der menschlichen Subjekte hindurchgreift.“ (Kleinmann<br />

2000: 113). Ähnlich äußern sich auch Franzen (2000: 95f.) und Vester, H.-G. (2000):<br />

Kontexte der transversalen Vernunft, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 157-159, hier S. 157f.<br />

Welsch entgegnet hier, dass „Substantialisierungen, Hypostasierungen und Reifikationen“<br />

(Welsch 2000b: 170) fernzuhalten sind und gibt damit den Kritikern recht. In<br />

diesem Sinne wäre es besser von ‚Vernünftigkeit‘ anstatt von ‚Vernunft‘ zu sprechen,<br />

da das Vermögen ‚Vernunft‘ „nicht von der Art eines Bestandes“ ist, „sondern es<br />

bezeichnet ein Vermögen im wörtlichen Sinne, und das heißt: eine Kompetenz, ein<br />

Können.“ (Welsch 1996: 934). Vester kritisiert zudem, dass nicht klar sei, von wessen<br />

168


ein objektiven <strong>St</strong>atus mit objektiven Inhalten heraus und wird maßgeblich<br />

als ein durch das Subjekt Vollzogenes verstanden. Die letztliche Einheit des<br />

Subjekts ist es, die auch die Vernunft mit einer Einheitsdynamik konfrontiert.<br />

Dabei ist auch diese „Einheit“ des Subjekts plural. 9 Nach Welsch konstituieren<br />

zwei Ursachen diese Pluralität des Subjekts:<br />

� Zum einen präsentieren sich in der Identitätskonfiguration des eigenen<br />

„Ichs“ alternative Lebenswelten als mögliche Konfigurationsparameter, die<br />

in ihrer Optionalität ein undefinierbares pluralistisches Potential eigener<br />

Lebensweltlichkeit darstellen. 10 Dies bedeutet die Fortsetzung der externen<br />

Pluralisierung in einer internen Abbildung.<br />

� Zum anderen werden innere Potentialitäten durch die Erfahrung äußerer<br />

Pluralität freigesetzt. Es kommt zur inspirativen Mobilisierung bis dato<br />

zurückgehaltener, die eigene Lebenswelt konfigurierender Kreativität.<br />

„Das Leben der Subjekte wird daher heute in zweifachem Sinn zu einem<br />

„Leben im Plural“. Erstens im Außenbezug: Man lebt innerhalb eines durch<br />

Pluralität geprägten Feldes sozialer und kultureller Möglichkeiten und muss<br />

sich in dieser Pluralität bewegen und zurechtfinden. Zweitens im Innenbezug:<br />

Das Subjekt verfügt in sich über mehrere Entwürfe, die es gleichzeitig realisieren<br />

oder nacheinander durchlaufen kann. Sowohl jene äußere wie diese<br />

innere Pluralität erfordern einen hohen Grad an Übergangsfähigkeit. Das ist<br />

der Grund, warum Transversalität heute zu einer Elementarbedingung nicht<br />

bloß äußerer Handlungskompetenz, sondern auch innerer Identität wird.“ 11<br />

Im Lichte konstruktivistischer Realitätskonstruktionen der Individuen liegt<br />

der Ursprung der Pluralität des Subjekts im Prozess der Konstruktion, also<br />

Vermögen hier gesprochen wird; Vermögen „des Organismus, des Menschen, des<br />

Denkens, des Geistes, der Philosophie oder von kollektiven Gebilden?“ (Vester 2000:<br />

157f.). Welsch differenziere hier nicht. Es scheint nach Meinung des Verfassers jedoch<br />

nicht plausibel, wie eine solche Differenzierung sinnvoll durchführbar wäre.<br />

Vermögen wird an späterer <strong>St</strong>elle mit dem Begriff der Fähigkeit zusammengebracht;<br />

dies mag den Bezug deutlich machen. Vgl. hierzu Abschn. 12.4.<br />

9 Zu der folgenden Darstellung vgl. überwiegend Welsch (1996: 829ff.).<br />

10 Parallelitäten zu der Ausdifferenzierung von Lebens- und Sprachformen im Kontext<br />

der Lebenswelt sind hier unverkennbar: „Das ist die scharfe, die uns inzwischen völlig<br />

auf den Leib gerückte Form der Pluralität: Den Subjekten ist eine Mehrzahl von<br />

Konzeptionen oder Lebensformen gleichermaßen vertraut, in ihrer Legitimität einsichtig<br />

und in ihren Gehalten zustimmungsfähig, so daß sie sich in derselben Situation<br />

mal so und mal anders verhalten können - aber jeweils mit gleich guten Gründen.<br />

Pluralität ist intern zu einer <strong>St</strong>andardsituation geworden.“ (Welsch 1996: 832; Fußnoten<br />

weggelassen).<br />

11 Welsch (1996: 831).<br />

169


der Wahrnehmung selbst begründet. In diesem Sinne ist das Subjekt in seiner<br />

genuinen Konstruktionsleistung selbst Teil der „objektiven“ Pluralität, als<br />

welches es zur internen Pluralisierung anderer Subjekte beiträgt. Das Subjekt<br />

ist also in seiner charakteristischen epistemologischen Kontingenz selbst<br />

Ursache und Wirkung seiner inneren Pluralität.<br />

Wenn die Identität eines Subjekts mit irgendeiner Form von Einheit in Beziehung<br />

steht, dann folgt diesem die Frage nach der Handhabung von Vielheit.<br />

Valéry (1952) versucht, das alte Subjektmodell in „der traditionellen Doppelung<br />

von transzendentalem und empirischem Subjekt“ 12 im Sinne einer pluralen<br />

Subjektivität zu modifizieren und schlägt vor, die einzelnen Ich-<br />

Formen als Subsubjekte eines alles beobachtenden und reflektierenden<br />

Hypersubjekts zu konstruieren. 13 Dieses Modell ist aus der Welsch’schen<br />

Perspektive nicht nachvollziehbar, da letztlich die Einheit über der Vielheit<br />

konstruiert wird, was die innere Pluralität zum wirkungslosen Faktum degradiert.<br />

Dagegen konzipiert Welsch die Möglichkeit einer Ganzheit der<br />

Identität in der Fähigkeit, zwischen den verschiedenen Perspektiven, welche<br />

die Identität konstituieren, wechseln zu können und sich dabei bewusst zu<br />

sein, jeweils nur aus einer Perspektive zur Zeit als partielle Identität agieren<br />

zu können.<br />

170<br />

„Ganzheit gibt es, wenn überhaupt, nur im Übergang zwischen den Perspektiven<br />

und im Bewußtsein, daß jeweils andere Teile verschattet werden und<br />

daß es vermutlich auch Subjektanteile gibt, die in keiner dieser Perspektiven<br />

angemessen aufscheinen.“ 14<br />

In der weiteren Konsequenz führt dies zu der Aussage, dass die Transversalität<br />

zur „Elementarbedingung von Subjektivität“ emergiert, da der kompetente<br />

Umgang mit ihr über die Kohärenz der Identität entscheidet. 15<br />

12 Welsch (1996: 842).<br />

13 Vgl. hierzu Valéry, P. (1952), Moi, in: ders. (Hrsg.), Lettres a Quelques-uns, VII. Brief,<br />

Paris, S. 20-22.<br />

14 Welsch (1996: 846).<br />

15 Die Konzeption von Welsch kann hier nicht en detail wiedergegeben werden. Im<br />

Überblick umfasst die Konzeption Welschs (1996: 849-852) sechs Momente: Die beschriebenen<br />

Subjektanteile sind (1) von innen durch Überschneidungen, Anschlüsse<br />

und Interdependenzen verbunden, welche durch (2) wechselseitige Affizierbarkeit<br />

charakterisiert sind; gemeinsam ist ihnen demnach eine spezifische (3) Färbung, die<br />

sich durch alle Teile der Subjektivität hindurch zieht und ihnen einen „Individualitätsindex“<br />

verleiht, der sich mit der Zeit im Sinne einer Persönlichkeitsentwicklung<br />

auch verändern kann. Ferner ist die (4) Kompetenz relevant, mit der Pluralität der


„Erst durch Transversalität wird unter Pluralitätsbedingungen geglückte<br />

Subjektivität und Individualität möglich. Transversalität schützt vor den Gefahren<br />

der Entfremdung und Zersplitterung der Existenz, und sie befreit von<br />

der Ohnmächtigkeit gegenüber perfekt elaborierten Teilrationalitäten. Sie eröffnet<br />

Chancen gelingender Praxis wie gelingender Identität.“ 16<br />

Diese intraindividuelle Betrachtung knüpft an die Analysen Sennetts an, der<br />

die Identität durch die ständig wechselnden Bedingungen dahintreiben sah,<br />

ohne Halt und Orientierung (drift). 17 Mit diesem transversalen Vermögen,<br />

welches zwischen den Identitäten Brücken schlägt, wäre die Möglichkeit<br />

einer Kompensation dieses Befundes angedeutet. Dieses „Brückenbauen“<br />

schafft eine Konnexion der Heterogenitäten, ein Netz von unterschiedlichen<br />

Identitäten. Doch auch dieses innere Netz ist herausgefordert, wenn seine<br />

Sinn-Referenz verloren geht. Die Erfahrung von Sinnhaftigkeit wurde in der<br />

aktuellen Lebenswirklichkeit in Frage gestellt. Aufgrund von technologischer<br />

(Expertokratie), formal-ökonomischer (Quantifizierung) und prozessualer<br />

(Handlungsfraktale) Abstraktion wird es zunehmend schwerer, einen Überblick<br />

zu behalten. 18 Dies kann auch nicht die intraindividuelle Transversalität<br />

kompensieren. Jedoch kann eine innere Identitäten-Verknüpfung einen notwendigen<br />

Beitrag leisten, die äußeren - auch sozialen - Bezüge zu handhaben.<br />

Festzuhalten bleibt, dass die Vernunft ihren Vollzug über das Subjekt als das<br />

Vermögende findet. 19 Vernunft als Vermögen ist auch eng mit subjektiver<br />

Vernunft verbunden, die Horkheimer als dasjenige bezeichnet, welches Ver-<br />

Anteile umgehen zu können, sie zu steuern, um sie gezielt einsetzen zu können, wobei<br />

diese Kontrolle als „immanentes Vermögen der Subjektivität“ den Anteilen „inhärent“<br />

ist. Entscheidend bei der Bildung von Kompetenz ist die (5) Durchlässigkeit der<br />

Subjektanteile. Sie entscheidet über das Ausmaß der Kompetenz des Subjekts. Die (6)<br />

transversale Vernunft schließlich macht sich diese durch eine transversale <strong>St</strong>ruktur<br />

gekennzeichnete Subjektivität zunutze und kann als „genuiner Verwirklichungsmodus“<br />

der „Elementarstruktur“ bezeichnet werden.<br />

16 Welsch (1996: 852).<br />

17 Vgl. Abschn. 2.2.<br />

18 Vgl. zu der „entmündigenden Expertokratie“ vor allem die Darstellungen bei Illich<br />

(1978: 30ff. und 65ff.).<br />

19 Insbesondere die Positionsungebundenheit ist vor diesem subjektiven Hintergrund<br />

nicht überzeugend haltbar, was in Abschn. 7.3.1 dargestellt wurde. Die Ausschließlichkeit<br />

von Subjekt und Positionsungebundenheit lässt der kritischen Reflexion die<br />

Wahl. Wie aufgezeigt, sei der methodische Zugang der Subjektorientierung als eine<br />

Bestimmung der Vernunft stärker gewichtet.<br />

171


nunft instrumentalisiert und relativiert und damit ihres eigentlichen Potentials<br />

beraubt. Die hier strapazierte Subjektorientierung versteht sich ausschließlich<br />

in der Dialektik und Ergänzung zur objektiven Vernunft. Dieser<br />

Bezug ist ihr immanent. Vernunft wird hier in ihrer objektiven und subjektiven<br />

Dimension komplementär rekonstruiert. Beide Dimensionen sind notwendige<br />

Bestandteile des Einen. Der objektive Bezug wird durch die subjektive<br />

Reflexion revitalisiert und gewinnt in dieser kritischen, aber auch „unreinen“<br />

Reflexion an Überzeugungskraft.<br />

9.2.4 Vernunft als notwendige Bedingung des ethischen Vollzugs<br />

Vernunft ist Notwendigkeit des ethischen Vollzugs, also des ethischen Reflexionsprozesses.<br />

Sie schafft die notwendigen Voraussetzungen, nämlich die<br />

Vergleichbarkeit durch das In-Beziehung-zueinander-setzen der Rationalitäten.<br />

Ohne diese geschaffene Transversalität wäre der ethische Vollzug auf<br />

seinen eigenen Gegenstandsbereich beschränkt, was im Falle einer Ethik der<br />

Ökonomie Moralökonomie wäre. Dabei stellt die Tendenz zur Leere und<br />

Positionsungebundenheit, nach der hier vertretenen Auffassung, ein spezifisches<br />

Moment der Notwendigkeit des Vollzugs dar. 20 Es ist diese Tendenz<br />

zur Neutralität, die zwei Notwendigkeiten zu verbinden weiß:<br />

� Zum einen ist es das Faktum der nicht vollständig entleerten Vernunft,<br />

das einen inhaltlichen Anknüpfungspunkt für die Konzeption einer Ethik<br />

bietet, denn ein „auf das Notwendigste“ beschränkter Inhalt lässt Raum für<br />

eine normative Setzung durch die ethische Reflexion. Gemeinsam ist beiden<br />

diese Einsicht in die Notwendigkeit der Konnexion von Rationalitäten, also<br />

die Einsicht in die Notwendigkeit des Ausgriffs aufs Ganze. Dies ist „Endpunkt“<br />

der Vernunft und „<strong>St</strong>artpunkt“ des ethischen Vollzugs.<br />

� Zum anderen, und dies zeichnet eine auch postmoderne Konzeption im<br />

Kern aus, stellt sich Vernunft nicht in ihrem Totalitätsanspruch dar, welcher<br />

die Universalität mit einem inhaltlichen Machtanspruch verbindet, sondern<br />

versucht, eine möglichst weite, inhaltliche Offenheit zu erlangen, die sich in<br />

den „Dienst“ einer normativen Konzeption zu stellen vermag. Die Einsicht<br />

in die Notwendigkeit der Verknüpfung ausdifferenzierter Rationalitäten geschieht<br />

zur Erlangung des Kriteriums der Universalisierbarkeit „vernünftiger“<br />

Ansprüche. Dies ist nicht Gegenstand der Ethik, sondern zählt zu<br />

20 Zu den Hauptbestimmungen und der hier vertretenen Position vergleiche nochmals<br />

Abschn. 7.2. In dieser Weise ist die hier vorgestellte Konzeption ökonomischer Vernunft<br />

zu verstehen.<br />

172


ihren Voraussetzungen. Dieser vernünftige Vollzug zur Universalisierbarkeit<br />

ist keine Setzung, sondern Integration und Übergang und damit charakteristisch<br />

für die Neukonzeptualisierung der Vernunft. In ihrem Ausgriff<br />

aufs Ganze tritt sie in einen offenen Dialog mit diesem Ganzen. Eine Ethik<br />

der Postmoderne kann sich in ihrer normativen Setzung nur auf Grundlage<br />

einer so verstandenen und zustandegekommenen offenen Totalität der<br />

Vernunft vollziehen. Auch die Tendenz der „Selbstpurifikation“, die sich in<br />

ihrer Dynamik einer substantialistischen Konzeption diametral entgegenstellt,<br />

lässt Raum für eine ethische Setzung, die in kollektiven Entscheidungsprozessen<br />

diskursiv gefunden wird. Die hinreichende Bedingung<br />

kann Vernunft für eine Ethik nicht stellen, jedoch kann sie diese (notwendig)<br />

vorbereiten. 21<br />

9.3 Verhältnisbestimmungen postmodern-moderner Vernunft - ein Fazit<br />

Das Profil der hier entwickelten Verhältnisbestimmungen postmodernmoderner<br />

Vernunft kann Aufschlüsse über die Konzeptualisierung einer<br />

ökonomischen Vernunft liefern. Die Bestimmungen und die Ausblicke einer<br />

Konkretisierung in Form einer ökonomischen Vernunft können wie folgt<br />

zusammengefasst werden:<br />

� Eine postmodern-moderne Vernunft ist nur in der Referenz auf Vernunft<br />

überhaupt sinnvoll. Sie stellt somit keinen eigen zu definierenden<br />

Teilbereich der Vernunft dar.<br />

� Ökonomische Vernunft zeichnet sich durch ihren spezifischen ökonomischen<br />

Bezug aus. Sie stellt den spezifisch ökonomischen Vollzug von Vernunft<br />

dar.<br />

� Ökonomische Vernunft ist keine höherentwickelte ökonomische Rationalität.<br />

Ihr Vollzug kann jedoch dazu führen, dass die ökonomische Rationalität<br />

sich weiterentwickelt und Anschlussfähigkeit erwirbt.<br />

21 Zu den hinreichenden Bedingungen eines ethischen Vollzugs vgl. den Abschn. 12, in<br />

dem die situativen und persönlichen Bedingungen beschrieben werden.<br />

173


� Diese Anschlussfähigkeit bedeutet hier konkret eine kategoriale <strong>St</strong>rukturveränderung<br />

der ökonomischen Rationalität, die anderen Rationalitäten die<br />

Möglichkeit bietet, mit deren Gegenstandsbeschreibungen Einzug in die<br />

ökonomische zu halten und somit zu einer Erweiterung der ökonomischen<br />

Perspektive beizutragen. Diese Sensibilisierung der Rationalität, die sich in<br />

einer strukturellen Öffnung ausdrückt, ist dabei notwendige Bedingung für<br />

das Wirksamwerden von ökonomischer Vernunft.<br />

� Die postmodern-moderne Vernunft selbst sensibilisiert für die Notwendigkeit<br />

der Verknüpfung von Rationalitäten. In der Einsicht in die Notwendigkeit<br />

der Verknüpfung können Moderne und Postmoderne sich komplettieren,<br />

Heterogenität und Konnexion zugleich gedacht werden.<br />

� In der tatsächlichen Verknüpfung der ökonomischen Rationalität mit anderen<br />

Rationalitäten kann die zentrale Konsequenz des Vollzugs ökonomischer<br />

Vernunft gesehen werden. Diese Konsequenz wird insbesondere<br />

durch eine normative Setzung der unterschiedlichen Perspektiven erreicht,<br />

die das zentrale Charakteristikum einer weiterführenden Ethik darstellt.<br />

� Ökonomische Ethik ist in diesem Sinne der auf der ökonomischen Vernunft<br />

- ihrer notwendigen Bedingung - aufbauende und konsequent weiterführende<br />

Vollzug, der sich aus einem Vergleich der ökonomischen Rationalität<br />

mit anderen Rationalitäten ergibt. Ist die vernünftige Anschlussfähigkeit<br />

geschaffen, so wird der interne Anspruch der ökonomischen Rationalität<br />

durch die anderen Rationalitäten relativiert und ein Abgleich mit deren<br />

(eben auch relativen) Bestimmungen erreicht.<br />

10 Ökonomische Vernunft – der wirtschaftsethische Bezug<br />

In der Folge werden die zuletzt aufgeführten Bestimmungen ökonomischer<br />

Vernunft und ihrem Umfeld (ökonomische Rationalität, ökonomische Ethik<br />

und postmoderne Moderne) vor dem Hintergrund ähnlicher Konzepte aus<br />

der wissenschaftlichen im Allgemeinen und aus der wirtschaftsethischen<br />

Literatur im Speziellen reflektiert. Diese Überlegungen fließen zum Abschluss<br />

dieses Kapitels in konkrete Impulse für die Weiterentwicklung einer<br />

ökonomischen Rationalität ein.<br />

174


10.1 Ökonomische Vernunft - Profilierung und Positionierung in der<br />

aktuellen Diskussion<br />

Um eine genauere Vorstellung von dem zu erlangen, was hier unter ökonomischer<br />

Vernunft verstanden wird, ist es hilfreich, ausgesuchte andere Positionen<br />

aus der wissenschaftlichen Debatte aufzugreifen und Gemeinsamkeiten<br />

und Unterschiede zu identifizieren. Auf diese Weise kann eine Einordnung<br />

der hier entwickelten Konzeption gelingen und zudem versucht<br />

werden, Anschluss an diese Debatte herzustellen. Einige der Positionen, die<br />

im Folgenden nicht explizit in den thematisch pointierten Vergleich einfließen,<br />

werden kurz kommentiert, u. a. auch deswegen, um darzulegen, aus<br />

welchen Gründen sie - neben Gründen der Übersichtlichkeit - unberücksichtigt<br />

bleiben. 22<br />

Das Werk von André Gorz, „Kritik der ökonomischen Vernunft“, ist bereits<br />

explizit bezüglich der Analyse der ökonomischen Rationalität aufgenommen<br />

worden. 23 Seine <strong>St</strong>udien betreffen eher die ökonomische Rationalität und die<br />

Arbeitsgesellschaft, wie auch der Untertitel zu erkennen gibt. Er trifft keine<br />

explizite Unterscheidung zwischen Rationalität und Vernunft, sondern lässt<br />

diese implizit in seiner Argumentation zum Tragen kommen. Wenn er die<br />

Bestimmungen der Rationalität den aktuellen individuellen und gesellschaftlichen<br />

Herausforderungen gegenüberstellt, dann zeigt er auf, wo die<br />

ökonomische Rationalität „unzulänglich“ bezüglich der sie umgebenden<br />

Probleme ist. Insofern trifft auch Gorz, wie hier, eine qualitative Unterscheidung<br />

von Rationalität zu Vernunft, doch entsteht, also emergiert diese qualitative<br />

Unterscheidung und wird nicht explizit thematisiert. Das Entstehen<br />

dieser Differenz bei Gorz ist zu Beginn der hier vorgelegten Argumentation<br />

aufgenommen worden und diente zur Sensibilisierung zum einen für die<br />

Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität,<br />

zum anderen für eine qualitative Differenzierung von ökonomischer Rationalität<br />

zu ökonomischer Vernunft. Die auch bei Gorz angesprochenen Befunde<br />

der Entdinglichung durch die neuen Technologien und die gleichzeitige<br />

Verdinglichung an sich entdinglichter Gegenstände (Raum, Zeit,<br />

Sprache) wären wohl kaum ohne diese Erweiterung abzubilden.<br />

22 Zudem werden hier vornehmlich diejenigen Arbeiten betrachtet, die den Begriff der<br />

ökonomischen Vernunft (bzw. Rationalität) explizit im Titel führen.<br />

23 Gorz (1998). Vgl. auch Abschn. 1.3.<br />

175


Helmut Kaiser prüft „Die ethische Integration ökonomischer Rationalität“<br />

und sieht in dieser Figur das von ihm entwickelte wirtschaftsethische Verständnis<br />

begründet, „bei dem humane Aspekte und die Sachlogik der ökonomischen<br />

Rationalität integriert werden“ 24. Damit soll „die Gleichwertigkeit<br />

von Ethik und Ökonomie (...) sowie deren unauflösbarer Zusammenhang“<br />

zum Ausdruck gebracht werden. 25 Wie in der hier entwickelten Konzeption<br />

bereits zum Ausdruck kam, kann dem unauflösbaren - weil immanenten -<br />

Zusammenhang von so genannten „ethischen Aspekten“ innerhalb der Ökonomie<br />

zugestimmt werden, obgleich diese Formulierung mehr Unschärfe<br />

produzieren mag, als sie vorgibt zu kompensieren. Der Gleichwertigkeit von<br />

Ethik und Ökonomie jedoch kann aufgrund der qualitativen Differenz ihrer<br />

Vollzugscharakteristik nicht zugestimmt werden, weder im Begründungsnoch<br />

im Verwendungszusammenhang. Wenn auch nur in einer Fußnote und<br />

beinahe unkommentiert, so bezieht sich Kaiser doch auch auf die Position<br />

von Höffe (1984), der in seiner „Rationalität zweiter <strong>St</strong>ufe“ ähnliches beschreibt,<br />

wie es in der Reflexion von Rationalitäten als dem hier interpretierten<br />

Vernunft-Vollzug angedeutet wurde; dies vermittelt eine Ahnung<br />

qualitativer Differenz. Höffe äußert sich in seinem Kapitel „Sittlichkeit als<br />

Eudaimonie und Autonomie“ genauer:<br />

176<br />

„Letztlich kann man vom menschlichen Handeln nicht deshalb sagen, es sei<br />

gelungen, weil es beliebige Ziele und Zwecke verfolgt, diese aber auf rationalem<br />

Wege erreicht. Gelungen ist das Handeln nur dort, wo - in einer zweiten<br />

<strong>St</strong>ufe von Rationalität - die Ziele, die man verfolgt, im Sinnhorizont der<br />

Eudaimonie stehen. Mithin läßt sich die Sittlichkeit als Rationalität des Handelns<br />

begreifen.“ 26<br />

24 Kaiser, H. (1992): Die ethische Integration ökonomischer Rationalität: Grundelemente<br />

und Konkretion einer „modernen“ Wirtschaftsethik, Bern/<strong>St</strong>uttgart/Wien, S. 272.<br />

25 Kaiser (1992: 272). Vgl. hierzu auch Kaiser (1992: 44f.), wo er die Gleichwertigkeit zu<br />

skizzieren versucht, jedoch nach Ansicht des Autors nicht genau spezifiziert, was er<br />

mit „Gleichwertigkeit“ meint. Es liegt nach der <strong>St</strong>udie seiner Ausführungen die Vermutung<br />

nahe, dass sich Kaiser hierbei auf den Verwendungszusammenhang beschränkt<br />

und dem in diesem Zusammenhang entwickelten Zusammenspiel von Ethik<br />

und Ökonomie; dabei scheinen seine eigenen Begründungsdiskurse nicht konsequent<br />

auf den von ihm behandelten Argumentationsgegenstand „durchzuwirken“.<br />

26 Höffe, O. (1984): Sittlichkeit als Rationalität des Handelns?, in: Schnädelbach (1984),<br />

S. 141-174, hier S. 170.


Es wird bei Höffe deutlich, wie und in welchem Maße er für eine über die<br />

„normale“ Rationalität hinausgehende Denkweise und einen ebensolchen<br />

Begründungshorizont plädiert. Auch wenn diese Erweiterungsform der<br />

ökonomischen Rationalität bei Kaiser selbst nicht im Mittelpunkt steht, so<br />

wird doch ihre Anlage und Voraussetzung vorbereitet. Ist der Zielpunkt<br />

dieser Bemühungen im Ansatz unterterminiert, so wird die Entwicklung des<br />

Gegenstandes „ökonomische Rationalität“ fehlgeleitet - so zumindest die<br />

Auffassung des Autors. Aus diesem Grund ist in der hier vorgestellten Konzeption<br />

das Hauptaugenmerk auf die Bestimmungen dieses Zielpunktes gerichtet<br />

worden.<br />

Auch bei Hans-Joachim <strong>St</strong>adermann, „Ökonomische Vernunft: wirtschaftswissenschaftliche<br />

Erfahrung und Wirtschaftspolitik in der Geschichte“, geschieht<br />

keine explizite Auseinandersetzung mit dem Begriff der Vernunft,<br />

und, nach Meinung des Verfassers, zudem auch keine implizite Auseinandersetzung.<br />

Der Term wird hier zwar auch im Sinne einer Reflexion der<br />

Ökonomie verstanden, doch geht es vornehmlich um eine vernünftige Umsetzung<br />

ökonomischer Erkenntnisse. Dies könnte man auch unter dem Begriff<br />

der (ökonomischen) Professionalisierung subsumieren. 27 Trotz der Ansätze<br />

einer grundlegenden Reflexion verharrt die Analyse auf der ökonomischen<br />

Ebene:<br />

„Unter den gegebenen Umständen ist die Wirtschaftswissenschaft aufgerufen,<br />

genau das zu tun, was sie in den letzten Jahrzehnten zumeist vermieden hat:<br />

Die institutionelle Ordnung, in der sich Wirtschaft realisiert, einer radikalen<br />

Untersuchung zu unterziehen, nicht, um sie zu stürzen, wie das die Absicht<br />

der Kapitalismuskritik der 70er Jahre war, sondern vor allem, um sie zu begreifen<br />

und die in ihr möglichen <strong>St</strong>euerungsleistungen richtig einzuschätzen.<br />

(...) Wenn nicht Traumtänzer und Phantasten, sondern Realisten die ökonomische<br />

Vernunft wieder in Frage stellen, wird man auch erkennen, wie die Hilflosigkeit<br />

der Wirtschaftswissenschaft gegen die beiden großen Herausforderungen<br />

der Gegenwart, Massenarbeitslosigkeit und Schutz der Regenerationskraft<br />

der Natur, überwunden werden kann.“ 28<br />

27 Vgl. zur Semantik des Begriffs der „Professionalisierung“ Kirsch, W. (1998): Evolutionäre<br />

Organisationstheorie: Fortsetzung eines Projekts der Moderne mit anderen<br />

(postmodernen?) Mitteln - Entwürfe zu einem Buchprojekt, unveröff. Arbeitspapier,<br />

München, S. 52ff.<br />

28 <strong>St</strong>adermann, H.-J. (1987): Ökonomische Vernunft: wirtschaftswissenschaftliche Erfahrung<br />

und Wirtschaftspolitik in der Geschichte, Thüringen, S. 8.<br />

177


Die Vernunft der Ökonomie bezieht sich hier auf die Bereiche, in denen die<br />

Ökonomie ökonomisch nicht erfolgreich ist. Die außerökonomischen Ansprüche<br />

verlieren sich in Generalisierungen und emanzipieren sich damit<br />

nicht aus ihrer eher symbolischen Rolle. Es scheint zudem für <strong>St</strong>adermann<br />

nur <strong>St</strong>ärkung oder <strong>St</strong>urz in Frage zu kommen, was wirtschaftsethischen Ansätzen<br />

nicht gerecht werden kann - doch vielleicht sind mit „Traumtänzer<br />

und Phantasten“ gerade Wirtschaftsethiker gemeint? Unter diesen Voraussetzungen<br />

ist eine über die ökonomische Rationalität hinausgehende Perspektive,<br />

außer in den Vor- und Schlussbemerkungen, nicht zu entdecken.<br />

Dies trifft sich somit auch nicht mit dem hier vertretenen Verständnis einer<br />

Reflexion und ihren manifest-materialen Konsequenzen für den eigenen<br />

Gegenstandsbereich.<br />

Die Arbeit „Ökonomische Rationalität und gesellschaftliches System“ von<br />

Jürgen Freimann liegt seit dem Jahre 1977 vor und ist in dieser Arbeit vor<br />

allem zu Beginn in die Auseinandersetzung mit der ökonomischen Rationalität<br />

eingeflossen. 29 Bei seiner Analyse der ökonomischen Rationalität identifiziert<br />

Freimann, wie auch in dieser Arbeit, Defizite, wenn es darum geht,<br />

das wirtschaftliche Handeln im gesellschaftlichen System zu reflektieren.<br />

Während Freimann eine makrosoziale Ebene wählt und in Ansätzen die<br />

unterschiedlichen systemischen Parameter und deren Auswirkungen erörtert,<br />

geschieht dies in dieser Arbeit in Bezug auf den mikrosozialen Bereich,<br />

auf das einzelne Individuum und dessen Lebenswelt. Zudem rekonstruiert<br />

Freimann die ökonomische Rationalität als Handlungsrationalität und deckt<br />

in einer gründlichen Aufarbeitung derselben die defizitären Momente auf.<br />

Diese genaue Analyse hat in dem hier entwickelten Kontext geholfen, die<br />

materiellen Ursachen der phänomenologischen Befunde detaillierter zu bestimmen,<br />

obwohl der Schwerpunkt eher auf den darauf folgenden phänomenologischen<br />

Bestimmungen lag. Freimann leistet eine Verbindung zwischen<br />

wirtschaftlichem Denken und Handeln und den beide umgebenden<br />

makrosozialen Bedingungen, die in einem reziproken Beeinflussungsverhältnis<br />

zueinander stehen. Er kann auf diese Weise aufzeigen, wie eine<br />

Erweiterung der ökonomischen Rationalität zu denken ist, die sich auch aus<br />

den gesellschaftlichen und systemischen Bedingungen herauslösen kann.<br />

Liegt bei ihm der Fokus auf dieser Verbindung, so liegt er in diesem Kontext<br />

29 Vgl. hierzu vor allem Abschn. 1.2.<br />

178


explizit auf der Möglichkeit der Weiterentwicklung, die dadurch aber auch<br />

Schwächen bezüglich der makrosozialen Bedingungen und deren Berücksichtigung<br />

in Kauf nehmen muss.<br />

Ausgesuchte, in der wissenschaftlichen Debatte vorgelegte Konzeptionen<br />

werden im Folgenden unter einem jeweiligen thematischen Schwerpunkt mit<br />

der hier entfalteten Konzeption in Beziehung gesetzt. Die thematischen<br />

Schwerpunkte sind so gewählt, dass sie die wesentlichen Differenzpunkte zu<br />

den jeweiligen Konzeptionen aufzeigen können. 30<br />

10.1.1 Ökonomische Vernunft vs. Ökonomische Vernunft31 Wenn Ulrich die Transformation der ökonomischen Vernunft beschreibt, dann<br />

scheint er ökonomische Vernunft vorauszusetzen und damit dasjenige,<br />

welches in dieser Argumentation nicht als Tatsachenbeschreibung, sondern<br />

als ein qualitativ zu erreichendes Ziel gekennzeichnet wird. Ulrich stellt diesen<br />

scheinbaren Widerspruch gleich zu Beginn richtig:<br />

„Die konzeptionelle Schlüsselidee der vorliegenden Arbeit kann im Versuch<br />

gesehen werden, die grosse sozialökonomische Transformation im Sinne<br />

Polanyis mit der von Apel auf den Begriff gebrachten Transformation der<br />

Philosophie systematisch und wechselseitig zu vermitteln, um auf dem so zu<br />

gewinnenden kulturgeschichtlich-evolutionären Hintergrund eine zukunftsträchtige<br />

kritisch-normative Rekonstruktion des ökonomischen Rationalitätsund<br />

Fortschrittsverständnisses zu beginnen.“ 32<br />

Es geht bei Ulrich somit um eine Rekonstruktion der ökonomischen Rationalität,<br />

die einfließt in eine Konzeption von ökonomischer Vernunft, welche<br />

sich ihrerseits dem „transformativen Programm“ anderer Untersuchungsbereiche<br />

anzuschließen versucht. Zentraler Befund bei Ulrich ist die „Herauslösung<br />

der ökonomischen Rationalität aus den praktischen Kriterien des<br />

guten Lebens der Menschen“ 33. Die Rationalisierung der modernen Indust-<br />

30 Der Verfasser ist sich der Tatsache bewusst, dass diese Art der Auseinandersetzung<br />

den einzelnen Positionen in keiner Weise gerecht werden kann. Die hier gewählte<br />

Darstellung differenziert bewusst nicht in Pro und Kontra, in Übereinstimmungen<br />

und Differenzen, da zum einen diese Kategorisierung nicht immer eindeutig zu treffen<br />

ist und zum anderen dem Entwicklungsstrang der Konzeption gefolgt werden<br />

soll, um so ein besseres Verständnis der Argumentation zu erlangen.<br />

31 Dieser Abschnitt bezieht sich vornehmlich auf die Arbeit von Peter Ulrich (1993).<br />

32 Ulrich (1993: 14; Hervorhebung im Original).<br />

33 Ulrich (1993: 11).<br />

179


iegesellschaft hat von den „authentischen lebensweltlichen Bedürfnissen der<br />

Menschen“ 34 weggeführt und wäre somit als ökonomische Vernunft in der<br />

„systematischen Wiederankoppelung der ökonomischen Rationalisierungsdynamik<br />

an die externalisierten Kriterien lebenspraktischer Vernunft“ 35 zu<br />

verstehen. So konstatiert Ulrich auch bezüglich einer aktuellen Verwendung<br />

der Begrifflichkeit „ökonomische Vernunft“, dass diese Verwendung derzeit<br />

nur „ironisch“ 36 anmuten könne.<br />

Neben einer breiten und fundamentalen Übereinstimmung zwischen der<br />

Ulrichschen und der hier entwickelten Argumentation, die vielfach deutlich<br />

geworden ist, bestehen Verschiebungen in der thematischen Akzentuierung,<br />

die vor allem auf die phänomenologische Methode, die explizite Postmoderne-Betrachtung<br />

und den Fokus auf die Welsch‘sche Konzeption dieser<br />

Arbeit zurückzuführen sind. Durch diese Verschiebungen können auf der<br />

einen Seite aktuelle Befunde neuartiger Kolonialisierung diskutiert werden<br />

und auf der anderen Seite kann eine theoretische Einbindung in die aktuelle<br />

Debatte um Postmoderne, Vernunft und Anerkennung vollzogen werden.<br />

Die wesentliche Implikation, die aus diesen Verschiebungen resultiert und<br />

zu einem Unterschied der beiden Konzeptionen führt, zeigt sich auf Ebene<br />

des Verwendungszusammenhangs: Ulrich argumentiert eng an den materialen<br />

Voraussetzungen der ökonomischen Rationalität und gelangt zu dem<br />

„Programm der kommunikativ-ethischen Vernunft“ 37, während in der hier<br />

vorgelegten Abhandlung die rationalen Voraussetzungen des Diskurses den<br />

Endpunkt der Verwendung darstellen. Insofern stellen Ulrichs und diese<br />

Arbeit Komplemente dar, keinesfalls Substitute. Es ließe sich diese Arbeit als<br />

Differenzierung des Zwischenschritts auf dem Weg zu einem „idealen Diskurs“<br />

identifizieren, den Ulrich in seiner Konzeption in Bezug auf die politischdemokratischen<br />

Entscheidungsstrukturen aufgreift und entwickelt. Im<br />

Weiteren kann aufgrund der unterschiedlichen perspektivischen Akzente in<br />

dieser Arbeit auch nicht die politische Ebene in dem Maße reflektiert werden,<br />

wie dies bei Ulrich geschieht. 38 Die konkrete Ausgestaltung verharrt in<br />

den Einstellungen zueinander.<br />

34 Ebenda.<br />

35 Ulrich (1993: 12).<br />

36 Ebenda.<br />

37 Ulrich (1993: 269ff.).<br />

38 Dies geschieht bei Ulrich (1993) vor allem in Teil III, S. 341-474.<br />

180


In diesem Sinne ist die hier entwickelte Position der Ulrichschen Position<br />

verschieden und doch gleich. Der scheinbar paradoxe Titel dieses Unterkapitels<br />

möchte auf diese Feststellung hinweisen – gleich und doch ungleich.<br />

Daran soll zudem deutlich werden, inwieweit eine genaue und detaillierte<br />

Erläuterung der verwendeten Terminologie und ihrer Semantik notwendig<br />

ist, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede differenziert identifizieren zu<br />

können. Es sind oftmals gerade diese neuartigen Akzente, die von außen, in<br />

der Terminologie beispielsweise, nicht immer offensichtlichtlich sind.<br />

10.1.2 Ökonomische Vernunft und Pragmatismus39 Der Instrumentalisierungsvorwurf greift insbesondere dort, wo ökonomische<br />

Rationalität sich vornehmlich aus strategisch-instrumenteller Absicht öffnet.<br />

In diesem Zusammenhang wurde abgelehnt, dies in eine Beschreibung der<br />

Wirksamkeit von ökonomischer Vernunft zu integrieren.<br />

So werden beispielsweise Ethik-Siegel vergeben, die ganze Unternehmen zu<br />

„moralischer Immunität“ verhelfen, von diesen Unternehmen jedoch vornehmlich<br />

aus Zwecken der Reputation und des Marketing angestrebt werden.<br />

Man verspricht sich dadurch eine höhere Akzeptanz im Markt und<br />

damit eine <strong>St</strong>ärkung der eigenen Wettbewerbsposition. 40<br />

Diese Dynamik macht auch nicht Halt vor den wissenschaftlichen Expertisen<br />

zum Thema Wirtschaftsethik. Wieland beispielsweise weist zwar darauf hin,<br />

dass seine Instrumentierungsbemühungen nicht Instrumentalisierungsbemühungen<br />

gleichzusetzen sind, jedoch fehlt bis dato die explizite Begründung,<br />

dass seine Bemühungen nicht letztlich darauf hinauslaufen. Er entwirft<br />

das Modell der „Governanceethik“, das „die Analyse der Funktionen<br />

39 Dieser Abschnitt bezieht sich vornehmlich auf den Beitrag von Josef Wieland (2001).<br />

40 Es scheint beinahe überflüssig zu erwähnen, dass nicht dieser Effekt an sich abgelehnt<br />

wird. Ganz im Gegenteil: Es kann dies elementar wichtiger Bestandteil sein, um einen<br />

ethischen Reflexionsprozess innerhalb der ökonomischen Rationalität, innerhalb einer<br />

Unternehmung anzustoßen. Die Instrumentalisierung wird hierbei als Initiator in<br />

Kauf genommen. Es lässt sich dies mit dem Ausspruch: „Ethik muss nichts kosten!“<br />

beschreiben. Wenn jedoch die ökonomische Rentabilität einziges Fundament der ethischen<br />

Maßnahme bleibt, dann verfehlt dies den Inhalt, den ethischen Gehalt und<br />

scheint, nach der hier vertretenen Meinung, keine nachhaltigen Chancen auf Bestand<br />

bzw. keine nachhaltigen Chancen auf Effekt, also Überzeugung und Einsicht selbst im<br />

ökonomischen Kontext zu haben. Die ethische Maßnahme hat sich über kurz oder<br />

lang auf ihren Selbstzweck zurückzuziehen, sonst verlässt sie ihre „Core Competence“.<br />

Dies lässt sich mit dem Satz: „Aber Ethik kann bzw. darf was kosten!“ umschreiben.<br />

181


und Wirkungen von Moralregimes innerhalb der Führung, <strong>St</strong>euerung und<br />

Kontrolle von wirtschaftlichen Transaktionen“ 41 darstellt. Dies impliziert:<br />

182<br />

„Tugenden, Werte, Moral und Ethik werden in diesem Kontext als individuelle<br />

oder organisationale Ressourcen und Kompetenzen verstanden, die als<br />

Elemente der formalen und informalen Regimes zur Führung, <strong>St</strong>euerung und<br />

Kontrolle von Transaktionen der Organisation und ihren Mitgliedern zur Verfügung<br />

stehen.“ 42<br />

Nicht allein die funktionale Zusammenfassung von Moral und Ethik, sondern<br />

vielmehr die „Transformation“ von Ethik zu einer Ressource ökonomischer<br />

Transaktionen steht im grundsätzlichen Widerspruch zu der hier vorgestellten<br />

Konzeption. Wenn nicht diese spezifische Ressource notwendigerweise<br />

zu einer grundlegenden Relativierung und damit zu einer möglichen<br />

Transzendierung des ökonomischen Systems führt, dann kann der Instrumentalisierungsvorwurf<br />

nicht abgewendet werden. Wieland bestätigt<br />

diesen Eindruck an späterer <strong>St</strong>elle, wo er sich eindeutig gegen jegliche Hierarchisierung<br />

zwischen Ökonomie und Ethik ausspricht. 43 Im Kontext der<br />

Governanceethik folgt bei Wieland beispielsweise:<br />

„Während die ökonomische Leitcodierung direkt auf die Transaktionskosten<br />

wirkt (steigende/sinkende Transaktionskosten), zielt die moralische Codierung<br />

auf den Aufbau eines Reputationskapitals, das über die Fähigkeit, Bereitschaft<br />

und Chancen der Kooperation vermittelt auf die Kooperationsrente<br />

wirkt (...)“ 44<br />

An diesem Ausschnitt wird deutlich, dass die moralische Dimension der<br />

Handlungen in die ökonomische Kalkulation eingerechnet wird und sich ihr<br />

damit unterordnen muss. Auch wenn die Kooperationsrente „nicht mit<br />

„Gewinn“ oder „Profit“ verwechselt werden darf“ 45, ist eine ökonomische<br />

Abwägung moralischer Größen nicht von der Hand zu weisen, an denen<br />

auch eine Unsicherheit der Erträge (welche Erträge sind eigentlich sicher?)<br />

und den daraus notwendig werdenden Vorab-Investitionen (welche Investi-<br />

41 Wieland (2001: 15).<br />

42 Ebenda.<br />

43 Im genauen Wortlaut: „Die Governanceethik lehnt sowohl eine hierarchische als auch<br />

eine duale Ordnung des Verhältnisses von Ökonomie und Ethik ab.“ (Wieland 2001:<br />

19).<br />

44 Wieland (2001: 21).<br />

45 Wieland (2001: 22).


tionen werden im nachhinein geleistet?) nichts ändern. Letztlich müssen im<br />

Ansatz von Wieland „alle in einer Unternehmung existierenden und relevanten<br />

Entscheidungslogiken sich an ihren ökonomischen Folgen bewerten<br />

lassen“ 46, was einem Primat der Quantifizierung entspricht und damit gerade<br />

der Wielandschen Ablehnung jeglicher Hierarchie zwischen Ökonomie<br />

und Ethik widerspricht. 47 Denn damit ist eine normative Setzung der ökonomischen<br />

Rationalität über die Ethik beschrieben, von der sich Wieland<br />

doch eigentlich distanziert. 48<br />

Die hier vorgestellte Konzeption geht hingegen davon aus, dass die ökonomische<br />

Vernunft die Einsicht in die Öffnung der ökonomischen Rationalität<br />

generieren kann, was letztlich auch die Möglichkeit einer normativen<br />

Setzung nicht genuin ökonomischer Kriterien im ökonomischen Kontext<br />

vorbereitet. Diese normative Setzung entspricht dann einer hierarchischen<br />

<strong>St</strong>ruktur, wie sie Wieland ablehnt. Wenn also eine Berücksichtigung ethischer<br />

Reflexionen im ökonomischen Kontext stattfindet, so führt dies in der<br />

hier entwickelten Argumentation zu einer Transzendierung der ökonomischen<br />

Rationalität und damit auch zur In-Relation-Setzung derselben. Dies<br />

kommt einer Relativierung ihres Anspruches gleich.<br />

Nach dem Verständnis des Autors geht es Wieland jedoch vornehmlich<br />

darum, eine praktische Umsetzung ethischer Reflexionen im ökonomischen<br />

Kontext zu erreichen. Die Legitimation seiner Methode nährt sich somit aus<br />

der Überlegung (verkürzt gesprochen): „Was nützt Wirtschaftsethik dem<br />

46 Wieland (2001: 32).<br />

47 Wie aufgezeigt, führt ein Primat der Quantifizierung durch den reduktionistischen<br />

Charakter langfristig zu einer Norm gegenüber jeglichem Bereich, der dieser Quantifizierung<br />

nicht entspricht. Vgl. Abschn. 3.1. Diese Normierung wäre nicht problematisch,<br />

wenn die Ökonomie nicht eine solche Dominanz besäße, wie in heutiger Zeit.<br />

48 Wieland stellt diesbezüglich den Homannschen und den eigenen Ansatz als komplementäre<br />

Ansätze dar, übersieht aber dabei die normativen Implikationen seines eigenen<br />

Ansatzes: „Während die Governanceethik nun nach organisationsökonomischen<br />

Antworten auf die moralökonomischen Integrationsprobleme funktionaler Differenzierung<br />

sucht, stellt die „Wirtschaftsethik mit ökonomischer Methode“ auf den philosophischen<br />

Aspekt der Möglichkeit von Normativität ab. Ich verstehe sie daher als<br />

eine „philosophische Wirtschaftsethik mit ökonomischer Methode“ und damit als eine zur<br />

Governanceethik komplementäre Forschungsrichtung (Wieland 2001: 25; Hervorhebungen<br />

im Original). Wenn bei Homann die Normativität im theoretischen Ansatz,<br />

im ökonomischen Paradigma angelegt ist, so „schleicht“ sie sich bei Wieland „von<br />

hinten“, durch die theoretischen Implikationen seiner Instrumentierung, in seine<br />

Konzeption ein. Insofern können die beiden Ansätze vor diesem Hintergrund als<br />

„komplementär“ bezeichnet werden. Vgl. zu Wieland ausführlicher Wieland, J.<br />

(1999): Die Ethik der Governance, Marburg.<br />

183


Menschen, wenn sie nicht wirksam wird?“ Im Gegensatz dazu ließe sich hier,<br />

wie bei Ulrich, auch formulieren: „Was nützt Wirtschaftsethik dem Menschen,<br />

wenn sie letztlich nur Ökonomik ist?“ Während also bei Wieland die Legitimation<br />

seines Ansatzes in der Argumentation von den tatsächlichen Resultaten,<br />

vom Pragmatismus her geführt wird, wird bei Ulrich, wie auch hier, die<br />

Legitimation über den Ansatz selbst begründet. Denn eine Wirtschaftsethik,<br />

die in ihrem Vollzug im ökonomischen Kontext zuweilen zwar moralisch als<br />

„gut“ zu bewertende Resultate hervorbringt, ist in ihrem Ansatz nicht<br />

zwangsläufig ausreichend fundiert begründet.<br />

Letztlich ließe sich behaupten, dass sich diese Ansätze nicht unbedingt<br />

widersprechen müssten, da der eine (Wieland) primär den Verwendungszusammenhang<br />

betrachtet, der andere (Ulrich) dagegen primär den Begründungszusammenhang.<br />

Wenn diese Betrachtung jedoch dazu führt, dass die<br />

Argumentation nicht auch die anderen Ebenen in die Reflexion einbezieht,<br />

dann kann es zu Verzerrungen kommen. Die Begründung der Verwendung<br />

durch die Verwendung greift demnach - nach Ansicht des Verfassers - bei<br />

Wieland zu kurz.<br />

Wieland selbst äußert sich kritisch gegenüber der Unterbelichtung des Verwendungszusammenhangs<br />

bei den „begründungsorientierten“ Ansätzen:<br />

184<br />

„An dieser <strong>St</strong>elle zeigt sich nach meiner Überzeugung eine fundamentale<br />

Schwäche der strikt „antiinstrumentellen“ Diskursethik, nämlich ihr institutionelles<br />

und organisatorisches Defizit. Dieses Defizit zu überspringen mit<br />

dem Hinweis auf ein Instrumentalisierungsverbot der Ethik, mag zwar im<br />

Nirwana konsequenzenlos bleiben, in einer anwendungsorientierten Ethik<br />

wie der Wirtschafts- und Unternehmensethik jedoch nicht. Die Instrumentierung<br />

moralischer Ansprüche an wirtschaftliche Transaktionen ist hier Bedingung<br />

der Möglichkeit.“ 49<br />

Dagegen wird die „Bedingung der Möglichkeit“ in diesem Zusammenhang<br />

in der Einsicht in die Notwendigkeit der Verknüpfung von Heterogenitäten, also im<br />

Vollzug ökonomischer Vernunft gesehen, was vielleicht nicht praktisch klingt,<br />

jedoch durch die tiefe Verankerung erheblich nachhaltigere Effekte auf<br />

Ebene des Verwendungszusammenhanges zu zeitigen in der Lage scheint,<br />

als eine Verwendungsorientierung, die sich durch sich selbst zu begründen<br />

sucht.<br />

49 Wieland (2001: 23).


Bezüglich des Ansatzes von Wieland muss somit festgehalten werden: Die<br />

Fokussierung auf organisatorische Umsetzung von ethischer Reflexion im<br />

ökonomischen Kontext befreit Wieland nicht von der Frage des hierarchischen<br />

Verhältnisses von Ökonomie und Ethik, auch wenn er dies suggeriert.<br />

Die Art der Umsetzung lässt nämlich ihrerseits Schlüsse auf dieses Verhältnis<br />

zu und diese Schlüsse weisen in Richtung einer Vereinnahmung der<br />

Ethik für ökonomische Zwecke.<br />

10.1.3 Vernunft der Ökonomie vs. Ökonomische Vernunft50 Elke Mack widmet sich in ihrer Arbeit „Ökonomische Rationalität: Grundlage<br />

einer interdisziplinären Wirtschaftsethik?“ einer ähnlichen Thematik,<br />

wie es in diesem Argumentationskontext geschieht. Dabei jedoch, und das<br />

wird bei genauerer Betrachtung des Titels bereits deutlich, steht bei ihr die<br />

ökonomische Rationalität als potentieller Kandidat, die notwendigen Übergänge<br />

zu vollziehen, im Mittelpunkt des Interesses. In diese Rolle kann die<br />

ökonomische Rationalität selbst gar nicht gelangen, so die hier vertretene<br />

Meinung, denn dies obliegt dem Vollzug der Vernunft. Wohl aber kann sie<br />

die „notwendigen Vorbereitungen treffen“. Ihr strategischer Charakter und<br />

die ihr eigene Gegenstandsbeschreibung kann nicht die Voraussetzungen<br />

erfüllen, zwischen den Bereichen zu vermitteln. Es bedarf einer Außenperspektive,<br />

deren Interesse nicht ein eigenes ist, sondern das ihrer Gegenstände:<br />

der Außenperspektive der ökonomischen Vernunft. Nur aus ihr ist,<br />

so die Meinung des Verfassers, eine Form der Wirtschaftsethik zu entwikkeln.<br />

Diese hier getroffene Differenz zwischen Rationalität und Vernunft<br />

steht im Gegensatz zu der Mackschen Auffassung:<br />

„Wenn jedoch die Verbindung zwischen Philosophie und Ökonomik hergestellt<br />

werden soll, ohne daß eine Disziplin die andere domestiziert, so kann<br />

das nur durch eine gleichrangige Integration von praktischer Vernunft und<br />

ökonomischer Rationalität geschehen. Jene Gleichrangigkeit wird in diesem<br />

Fall allerdings nicht dadurch systematisch deutlich gemacht, daß unterschiedliche<br />

Rationalitätstypen nebeneinander stehen, sondern durch die Ein-<br />

50 Dieser Abschnitt bezieht sich vor allem auf die Dissertation von Mack, E. (1994): Ökonomische<br />

Rationalität - Grundlage einer interdisziplinären Wirtschaftsethik?, Berlin.<br />

Der Gebrauch des Begriffs „Ökonomische Vernunft“ ist in seiner Missverständlichkeit<br />

in dieser Argumentation bereits angedeutet worden. Vgl. hierzu Abschn. 9.2.1. Danach<br />

müsste es korrekt „Vernunft der Ökonomie“ heißen. In Bezug auf Mack wird<br />

insbesondere diese Unterscheidung virulent, da hier nach Meinung des Verfassers<br />

eine ökonomisch verkürzte Vernunft vorliegt.<br />

185


186<br />

heit eines nachmetaphysischen Vernunftbegriffs, der sich in praktischer Vernunft<br />

und deren Ausdifferenzierung, nämlich in ökonomischer Rationalität,<br />

ausdrückt.“ 51<br />

Bereits an dieser <strong>St</strong>elle (das Kapitel heißt „Methodische Grundorientierung“)<br />

muss aus der hier entwickelten Perspektive der Macksche Ansatz als Überforderung<br />

der ökonomischen Rationalität gedeutet werden, da diese eine<br />

„Ausdifferenzierung“ praktischer Vernunft darstellt. Wenn der Vollzug der<br />

Vernunft auf Übergänge abzielt, dann muss der Vollzug ökonomischer<br />

Rationalität in Bezug auf Gegenstand (Gegenstände innerhalb vs. Übergänge<br />

zwischen) und Einstellung (strategische vs. verständigungsorientierte) als<br />

qualitativ Anderes davon unterschieden werden. Durch diese Differenzierung<br />

und den damit betonten qualitativen Unterschied sind Konnexionen<br />

zwischen Rationalität und Vernunft nicht zwangsläufig unmöglich, eine<br />

Gleichsetzung jedoch schon.<br />

Die Macksche „Gleichrangigkeit“ von Ökonomik und Philosophie zielt dagegen<br />

auf eine Negierung einer qualitativen Differenz ab. So ist auch eine<br />

Rekonstruktion der praktischen Vernunft durch ökonomische Rationalität<br />

möglich:<br />

„Da diese Arbeit sich als ökonomische versteht, welche die vermeintlichen<br />

Grenzen ihrer Disziplin im Hinblick auf die Ethik bewußt zu überschreiten<br />

sucht, wird praktische Vernunft soweit wie möglich mittels ökonomischer<br />

Rationalität rekonstruiert werden.“ 52<br />

Diese Rekonstruktion kann aus Sicht der hier entwickelten Position nur als<br />

„Domestizierung“ verstanden werden. Oder wie Mack am Ende der Arbeit<br />

schreibt:<br />

„Das Anliegen dieser Arbeit über ökonomische Rationalität lag darin, einen<br />

Versuch der interdisziplinären Verständigung zwischen Ethik und Ökonomik<br />

zu unternehmen, um auf dieser Basis eine ökonomisch akzeptanzfähige Wirtschaftsethik<br />

zu entwickeln.“ 53<br />

Aufgrund des beschränkten Abbildungsraumes der ökonomischen Rationalität<br />

kommt eine ökonomische Rekonstruktion praktischer Vernunft einer<br />

51 Mack (1994: 11; Fußnoten weggelassen).<br />

52 Mack (1994: 12; Hervorhebung im Original).<br />

53 Mack (1994: 195; Hervorhebung vom Verfasser).


Vereinheitlichung gleich, die zwar vorgibt, im Interesse der Vernunft zu<br />

handeln („pragmatische Reduktion“), jedoch – bewusst oder unbewusst –<br />

diese ökonomisch umdeutet.<br />

10.2 Impulse für eine Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität –<br />

Verknüpfungsvorbereitung<br />

Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität wurde in der Öffnung<br />

der Rationalität gesehen und diese Öffnung wiederum wurde als das Erreichen<br />

von Anschlussfähigkeit beschrieben. Die Einsicht in die Notwendigkeit,<br />

diesen <strong>St</strong>atus zu erreichen, wurde als Konsequenz des Vollzugs der Vernunft<br />

bezeichnet. Ökonomische Vernunft kann also initiieren, dass sich die ökonomische<br />

Rationalität nicht nur öffnet, sondern auch eine „Ahnung“ davon<br />

entwickelt, dass diese Öffnung in einem weiteren Zusammenhang steht und<br />

ihr damit eine Art von Notwendigkeit anhaftet. 54 Diese rationale Ahnung geht<br />

über eine bloß reale (authentische) Öffnung hinaus und bereitet die vernünftige<br />

Einsicht vor. Öffnung, Ahnung und Einsicht stehen damit in einer Sukzession,<br />

die die ökonomische Rationalität bis zur Ahnung beschreiten kann. Diese<br />

Ahnung „reicht aus“, um sich vom vernünftigen Vollzug, der seinerseits die<br />

Einsicht in sich trägt, weiterentwickelt zu werden.<br />

10.2.1 Öffnungen ökonomischer Rationalität<br />

In der konkreten ökonomischen Konstellation kommen Öffnungen ökonomischer<br />

Rationalität vor, die unterschiedliche Grade bezüglich ihrer „Tiefe“<br />

aufweisen. So kann unterschieden werden zwischen einer Öffnung der ökonomischen<br />

Rationalität, die a) eher instrumentellen Charakter hat und einer<br />

solchen, die b) Selbstzweck an sich darstellt. 55<br />

54 Ähnlich dem Vorwurf, mit dem Welsch konfrontiert wurde, dass bei ihm Vernunft<br />

wie eine Person auftrete, ließe sich dies nun auch bezüglich der oben getroffenen<br />

Aussage anführen. Zur Klarstellung sei bemerkt: Wenn die Rationalität gleich einer<br />

Person behandelt wird, also beispielsweise das Vermögen besitzt, eine Einsicht in bestimmte<br />

Sachverhalte zu erlangen, so ist damit gemeint, dass deren <strong>St</strong>ellvertreter -<br />

dies kann letztlich ein jeder sein -, deren subjektive Akteure diese Einsicht erlangen<br />

und ihre Denkweisen anderen Denkweisen gegenüber öffnen. Um jedoch nicht auf<br />

die subjektive Ebene gehen zu müssen, wird die Rationalität scheinbar personalisiert,<br />

was jedoch theoretisch, und dessen ist sich der Autor bewusst, einen Rückschritt bedeuten<br />

würde, da gerade die Rationalität nicht subjektgebunden ist.<br />

55 Es sind hier Parallelen zu den Kategorisierungen von Habermas bezüglich der unterschiedlichen<br />

Orientierungen (Erfolgs- und Verständigungsorientierung) identifizierbar.<br />

In gewisser Weise thematisiert Habermas, gleich der hier vorgestellten Konzeption,<br />

Einstellungen der Aktoren bzw. Akteure in der Vorbereitung und Begleitung der<br />

187


ad a): Dieser Fall der Öffnung muss nicht bedeuten, dass tatsächlich über die<br />

eigenen rationalen Grenzen hinaus vollzogen wird. Die Öffnung hat eher<br />

strategischen Charakter und nur so lange Bestand, solange diese Öffnung<br />

von Nutzen für die ökonomische Rationalität selbst ist; letztlich verstärkt sie<br />

diese nur. Einsicht und Notwendigkeit sind dann nur in Bezug auf die eigenen<br />

Absichten relevant. Wenn die Ökonomie feststellt, dass sie mit ihren Annahmen<br />

und Methoden nicht mehr ausreichend komplex die Umwelt darstellen<br />

kann, dann versuchen die Akteure des ökonomischen Systems neue<br />

Inhalte aufzunehmen, indem sie diese in die ökonomische Sprache übersetzen.<br />

Zielpunkt ist dabei die rein ökonomische Zwecksetzung, das bedeutet,<br />

die <strong>St</strong>eigerung der ökonomischen Effektivität und Effizienz. Diese Form der<br />

„Öffnung“ bleibt der instrumentellen Rationalität verhaftet und festigt ihre<br />

eigene Position.<br />

ad b): Anders dagegen die Form der Öffnung, die in verständigungsorientierter<br />

Absicht vorgenommen wird. Diese Öffnung geschieht vornehmlich<br />

aus dem Gedanken heraus, dass eine Verknüpfung der unterschiedlichen<br />

Bereiche den tatsächlichen Problemstrukturen in der realen Umwelt näher<br />

kommt, nicht, um ausschließlich den eigenen Bereich zu stärken. Übergänge<br />

zwischen den Bereichen stehen wegen ihrer Rolle und der damit verbundenen<br />

Authentizität der Wahrnehmung auf Ebene des Entdeckungszusammenhangs<br />

tendenziell dem Kriterium der Lebensdienlichkeit nahe. Diese<br />

Lebensdienlichkeit konkretisiert sich hier in der Adäquanz von Problem- zu<br />

Handhabungskomplexität: Die Öffnung der ökonomischen Rationalität entspricht<br />

der tatsächlichen Verflechtung von System und Lebenswelt. Sie ist<br />

damit die Bedingung der Möglichkeit einer Ahnung um die Notwendigkeit<br />

von Verknüpfung. Diese Ahnung kann innerhalb der ökonomischen Rationalität<br />

durch Reflexion generiert werden, um sich dann in einem weiteren<br />

Schritt dem Vollzug der Vernunft zu stellen. Der Inhalt der Vernunft,<br />

nämlich die Einsicht in die Notwendigkeit der tatsächlichen und dauerhaften<br />

Verknüpfung von Rationalitäten, scheint damit in die Rationalität hineinzuwirken.<br />

Dieses „Hineinwirken“ von Vernunft in die Rationalität geschieht<br />

188<br />

tatsächlichen Kommunikation. Da es in diesem Kontext um Rationalitäten und Vernunft<br />

geht, also eher um die Bedingungen von Kommunikation, entsteht keine vollständige<br />

Überschneidung – ähnlich zu der Ulrichschen Position – des Objektgegenstandes,<br />

jedoch sind in dem Punkt der Einstellungen zueinander Äquivalente zu entdecken.<br />

Vgl. hierzu vor allem Habermas, J. (1981a): Theorie des kommunikativen<br />

Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung,<br />

Frankfurt.


zwar aus der funktionalen Perspektive normativ, entbehrt jedoch, entgegen<br />

der üblichen Normativität, eigener inhaltlicher Interessen. Ihr Interesse ist<br />

die Verknüpfung in Bezug auf das Ganze, nicht als <strong>St</strong>ellvertreter des Ganzen.<br />

Diese Form der Öffnung hängt nicht primär von ökonomischen Kalkulationen<br />

ab, sondern etabliert sich unabhängig davon als über die rein ökonomische<br />

Rationalität hinausgehende Bestimmung derselben. In diesem Sinne<br />

ist sie Selbstzweck. 56<br />

Die tatsächliche Verknüpfung kann als Konsequenz aus einer solchen Öffnung<br />

folgen. Entscheidend ist jedoch vorerst, dass prinzipiell Verknüpfung<br />

möglich wird. Diese Möglichkeit legitimiert sich nicht unbedingt durch ihre<br />

tatsächliche Umsetzung, denn bereits die Vorbereitung auf eine mögliche<br />

Verknüpfung zeitigt materiale Konsequenzen in der Binnen-<strong>St</strong>ruktur einer<br />

Rationalität. Diese Phase der Vorbereitung vermittelt eine Ahnung darüber,<br />

was potentiell in die eigenen Prozesse tatsächlich zu integrieren ist. 57 Die<br />

(nachhaltige) Öffnung stellt sich also als prinzipiell unabhängig von ihrer<br />

weiteren „Verwendung“ dar.<br />

Dieser zweite Typ der Öffnung soll im Folgenden in seinen Konsequenzen<br />

für die Bestimmungen ökonomischer Rationalität erörtert werden.<br />

10.2.2 Legitimation nach innen und außen<br />

Die Öffnung der ökonomischen Rationalität ist vornehmlich durch die damit<br />

geschaffene Voraussetzung für eine Vernunft der Ökonomie legitimiert. Dies<br />

stellt die Legitimation nach außen dar. Zusätzlich zu dieser Legitimation nach<br />

56 Implizit angesprochen ist hier, wie auch an anderer <strong>St</strong>elle, ein Gedanke der Nachhaltigkeit,<br />

der sich in einer normativen Semantik lokalisiert. Was auf den ersten Blick<br />

anmutet, als wäre nur die zeitliche Dimension der Überdauerung angesprochen, erscheint<br />

auf den zweiten Blick als Andeutung einer weitergehenden Konnotation. So<br />

ließe sich diese Öffnung in ihrer Einsicht und ihrer (zeitlichen) Nachhaltigkeit mit<br />

dem (normativen) Begriff der Nachhaltigkeit zusammenbringen, doch würde das an<br />

dieser <strong>St</strong>elle zu weit führen.<br />

57 Bspw. kann davon ausgegangen werden, dass zu Beginn der Alternativ-Bewegung<br />

und in den nachfolgenden Jahren sich die Unternehmen darauf vorbereitet haben,<br />

zum Zeitpunkt X auf entsprechende gesetzliche Vorschriften innerbetrieblich und<br />

ohne nennenswerte Schädigung der Rentabilität der Geschäftstätigkeiten reagieren zu<br />

können. Auch wenn die Verknüpfung noch nicht existent ist, so wird sie im Zuge der<br />

unternehmerisch-strategischen Planung bereits antizipiert. Dieses Vorgehen korrespondiert<br />

eng mit den Prozessen der Unternehmensrationalität, da sie Voraussetzung<br />

und Bedingung der Handlungen darstellen. An dieser <strong>St</strong>elle wird nochmals deutlich,<br />

dass diese Reaktion der Öffnung nicht notwendigerweise auch Vorbereitung einer ökonomischen<br />

Vernunft darstellen muss. Die Öffnung kann aus rein betriebswirtschaftlich-rationalen<br />

Gründen entschieden und umgesetzt werden.<br />

189


außen tritt die Legitimation nach innen, innerhalb der ökonomischen Rationalität.<br />

Diese besteht darin, dass eine umfassende Erfassung der im ökonomischen<br />

Kontext zu behandelnden Größen der Präzision und Vorhersagbarkeit<br />

ökonomischer Kalkulation zugute kommt. Die grundsätzliche Legitimation<br />

nach außen kann sich mit dieser internen Legitimation in dem<br />

Punkt verbinden, wo eine genauere Kalkulation zu einer Erhöhung der<br />

Lebensdienlichkeit des Wirtschaftens beiträgt. Die innere und äußere Referenz<br />

sind gleichzeitig erreichbar. Dabei behält die äußere Legitimation das<br />

Primat – jedoch in enger Verbindung zu der inneren Referenz. 58<br />

In der Legitimation nach innen spielt die Quantifizierung und deren formales<br />

Primat die zentrale Rolle. Die numerische Darstellungsform erhöht die<br />

Praktikabilität von Wirtschaftsprozessen bzw. ermöglicht diese zum Teil erst.<br />

Diese Form stellt die zentrale Formgrundlage dar. Durch ihre Abstraktion<br />

läuft sie Gefahr, ökonomisch direkt und ökonomisch indirekt relevante<br />

Inhalte reduktionistisch zu behandeln bzw. gar nicht erst wahrzunehmen.<br />

Dies wirkt auf die ökonomische Rationalität zurück. Insbesondere im wirtschaftlichen<br />

Kontext geht es immer auch zentral um Menschen und deren<br />

Lebenspläne. Sie finden jedoch als solche keinen Einzug in die ökonomische<br />

Form, es sei denn, sie erweisen sich als relevanter Faktor, der den Unternehmenserfolg<br />

beeinflusst und selbst dann scheint ihre Erfassung rudimentär.<br />

So entsteht in der Ökonomie ein generelles Handhabungsmuster, das die<br />

Gegenstände auf eine einfache Formel bringt, mit ihnen rechnet, Ergebnisse<br />

präsentiert, um dann später festzustellen, dass aufgrund der starken<br />

Vereinfachung durch numerische Form das Problem entweder gar nicht oder<br />

nur ungenügend gehandhabt wurde. Es entstehen Prozess-Schleifen, die<br />

nicht selten infinitiven Charakter annehmen. Zudem treten zu den alten,<br />

aber neu aufbrechenden Problemen neuartige Konflikte hinzu, die erst durch<br />

die unvollständige bzw. fahrlässig identifizierte Problemstellung entstanden<br />

58 Die Einwände gegen dieses Primat von anderer Seite sind bereits angedeutet worden.<br />

Es sei an dieser <strong>St</strong>elle nochmals deutlich gemacht: Das Primat der (politischen) Ethik<br />

steht dem Wirtschaften weder inhaltlich noch kategorisch per se entgegen. Was hier<br />

als „enge Verbindung“ bezeichnet wird, versucht auszudrücken, dass sich die Zielräume<br />

von Wirtschaft und Lebensdienlichkeit überschneiden. So ist es im Interesse<br />

des Arbeitnehmers, dass seine lebensweltlichen Bedürfnisse in Abstimmung mit den<br />

wirtschaftlichen Interessen (und das bedeutet „ökonomischer Verträglichkeit“) befriedigt<br />

werden, denn: einen Teil seiner lebensweltlichen Bedürfnisse sind wirtschaftlicher<br />

Natur. Durch diese Überschneidung entsteht ein natürliches Komplement des<br />

politisch-ethischen Primats, das das Individuum auch an seine ökonomische, wenn<br />

auch derivative Existenz rückbindet.<br />

190


sind. Am Beispiel des reziproken Loyalitätsverlusts zwischen Arbeitgeber<br />

und Arbeitnehmer ist dies an früherer <strong>St</strong>elle bereits veranschaulicht<br />

worden. 59<br />

Systemexterne Inhalte haben es insbesondere dann schwer, ökonomische Beachtung<br />

zu finden, wenn ihre ökonomische Relevanz nicht direkt ersichtlich<br />

scheint. So äußert sich Wieland beispielsweise:<br />

„Leitcodierung besagt vielmehr, dass alle in einer Unternehmung existierenden<br />

und relevanten Entscheidungslogiken sich an ihren ökonomischen Folgen<br />

bewerten lassen müssen.“ 60<br />

Was ist jedoch zu tun, wenn manche Größen bezüglich ihrer ökonomischen<br />

Folgen partout nicht bewertet werden können? 61 Kann dieses Nadelöhr ihnen<br />

damit die Berechtigung der Berücksichtigung absprechen, insbesondere<br />

dann, wenn sie die eigenen Arbeitnehmer betreffen?<br />

Es besteht auch die Gefahr, dass das eigene Können überschätzt wird. Dann<br />

wird zwar übersetzt, jedoch nur äußerst ungenügend; dies kann als „Reduktionismus“<br />

bezeichnet werden. Karl Homann sieht in diesem „Können“<br />

einen Zustand, der früher oder später überwunden werden kann. 62 Dort, wo<br />

die (ökonomische) Überwindung noch nicht ganz geglückt ist, äußert<br />

Homann sich bezüglich seines eigenen Ansatzes folgendermaßen:<br />

„Wenn in diesem Forschungsprogramm Moral in terms of economics rekonstruiert<br />

wird („Übersetzung“), dann handelt es sich nicht um einen „Reduktionismus“,<br />

sondern um eine strikt problemabhängige, nämlich auf das Implementierungsproblem<br />

zugeschnittene „pragmatische Reduktion“. In einer<br />

als konstruktivistisch ausgewiesenen Methodologie ist diese Reduktion legitim,<br />

weil und sofern sie um ihren Sinn und ihre Grenzen weiß. In diesem<br />

Verständnis wird Moral zu einer Kurzformel langer ökonomischer Kalkula-<br />

59 Siehe dazu Abschn. 2.2.<br />

60 Wieland (2001: 32; Hervorhebung vom Verfasser).<br />

61 Ein Nicht-Können wird häufig mit dem Verweis auf die mit den komplexen Übersetzungsleistungen<br />

anfallenden hohen Kosten begründet. Nach der hier vertretenen Ansicht<br />

jedoch sind diejenigen Kosten, die aufgrund der nicht umsichtigen Erfassung<br />

und Berücksichtigung der betreffenden Inhalte in der Folge entstehen, um ein Vielfaches<br />

höher zu veranschlagen als die Übersetzungs- bzw. Öffnungskosten.<br />

62 Diese Aussage ist einem Vortrag vom 12. Oktober 2000 in München frei entnommen,<br />

der in Boysen (2001) skizziert und diskutiert wird. Vgl. Boysen, T. (2001): Wirtschaftsethik<br />

- (K)ein Widerspruch in sich?, in: ForumTTN, Jg. 5, H. 1, S. 46.<br />

191


192<br />

tionen, gewissermaßen zu einer Art Zweitcodierung, mit der man sich begnügen<br />

kann, solange sie wirksam ist.“ 63<br />

Ähnlich wie Wieland versucht Homann zum einen, Legitimität durch den<br />

Verweis auf die Praktikabilität des Reduktionismus zu erreichen. Nicht zufällig<br />

sprechen beide tendenziell eher von „Moral“ als von „Ethik“. Es ist<br />

nicht von der Hand zu weisen, dass die tatsächliche „Verwendung“ als<br />

Kriterium der Legitimität eines Ansatzes herangezogen werden kann, jedoch<br />

kann sie nicht zur dominanten bzw. entscheidenden theoretischen Bestimmung<br />

werden.<br />

Zum anderen akzeptiert Homann den Reduktionismus, wenn der Akteur<br />

darum weiß. Dieser Ansatz wäre grundsätzlich anschlussfähig an die hier<br />

vorgestellte Konzeption: Das Bewusstmachen der Reduktion zieht jedoch -<br />

nach hier vertretener Auffassung - eine weiterführende Konsequenz nach<br />

sich, nämlich die Einsicht in die Notwendigkeit der Öffnung ökonomischer<br />

Rationalität gegenüber anderen Rationalitäten. Dies wurde als das „Hindurchwirken<br />

der ökonomischen Vernunft in die Rationalität hinein“ bezeichnet,<br />

bei der Letztere eine Ahnung der Notwendigkeit erlangen kann.<br />

Homann schließt dieses jedoch aus:<br />

„Genuine Normativität spielt für die positive Ökonomik eine bedeutende<br />

Rolle, sofern sie deren Paradigma bestimmt. Normative Leitideen der Tradition<br />

bestimmen so Fragestellung, Grundbegriffe und Design der positiven<br />

Ökonomik, nicht jedoch ihre Inhalte. „Werte“, „Pflicht“ und „Sollen“ haben in<br />

der positiven Ökonomik keinen Platz, aber sie bzw. die damit angedeuteten<br />

Probleme bestimmen das ganze Paradigma dieser positivistischen Forschung.“<br />

64<br />

Dies wurde bereits an früherer <strong>St</strong>elle kommentiert. 65 Homann sieht bereits im<br />

Paradigma der Ökonomik die Ethik verwirklicht. Durch diese „Auslagerung“<br />

der Ethik in die Voraussetzungen ist eine explizite Behandlung derselben<br />

im ökonomischen Vollzug nicht mehr notwendig. In diesem Sinne<br />

kann die positive Ökonomik frei sein von Werten und Normen. Die Verwirklichung<br />

der Ethik im Paradigma der Ökonomik wird jedoch in dieser<br />

Argumentation nicht gesehen.<br />

63 Homann (2001: 38; Fußnoten weggelassen). Der Begriff „pragmatische Reduktion“<br />

geht auf Suchanek (1994) zurück.<br />

64 Homann (1997: 38).<br />

65 Vgl. die Einleitung in Kapitel II.


Es lässt sich festhalten: Das Wissen um die eigene „pragmatische Reduktion“<br />

allein reicht nicht aus, um die daraus entstehenden Defizite handhaben zu<br />

können, sondern es gilt, Wege aufzuzeigen, wie diesen Defiziten begegnet<br />

werden kann. Wieland und Homann sehen beide keinen wirklichen Handlungsbedarf,<br />

der sich aus der – wenngleich bewussten – Reduktion ergeben<br />

könnte. Die Praktikabilität überkompensiert die damit verbundenen Reduktionismen,<br />

wie es scheint. 66 Jedoch, und dies stellt den zentralen Kritikpunkt aus<br />

der hier vertretenen Sicht dar, werden die Reduktionismen nachhaltig in<br />

Kauf genommen, es geschieht weder eine wirksame Aufarbeitung der einmal<br />

ausgeschlossenen bzw. scheinbar übersetzten Inhalte, noch führt man sich<br />

den Abstraktionsprozess in seiner inhaltlichen Konsequenz vor Augen.<br />

Letzteres bleibt der Soziologie, Philosophie, Theologie und anderen Disziplinen<br />

vorbehalten.<br />

10.2.3 Nicht-Numerisches als alternative Form<br />

Die zweite Form der Öffnung, die Anknüpfung vorbereitet und damit nachhaltig<br />

wirksam ist, folgt der Überzeugung, dass die ökonomische Rationalität<br />

in ihrer ausdifferenzierten Spezifizierung, so wie sie momentan „vorliegt“,<br />

eine stark asymmetrische Problem-Handhabungsstruktur erzeugt. Das bedeutet,<br />

dass sie andere Probleme generiert, während sie ihre eigenen zu lösen<br />

sucht. Dies ist an sich nichts Außergewöhnliches, da die Folgen einer Handlung<br />

oftmals außerhalb desjenigen Bereichs auftreten, in dem sie entstanden<br />

sind. Dies ist in den einleitenden Kapiteln ausführlich zum Ausdruck gekommen.<br />

Doch ist bezüglich der ökonomischen Rationalität diese Diskrepanz<br />

aufgrund ihrer Omnipräsenz, aber nicht Omnipotenz besonders evident.<br />

Die Öffnung begründet sich in ihrer Notwendigkeit vor allem dadurch, dass<br />

die weitreichenden, freilich von der Ökonomie überwiegend nicht intendierten,<br />

so doch nicht minder zu verantwortenden negativen Folgen für<br />

Natur und Gesellschaft systematisch in die eigene Rationalität zu integrieren<br />

sind. Dabei reicht es nicht aus, „Übersetzungsleistungen“ zu vollziehen, da<br />

diese letztlich doch im ökonomischen Sinne und zu ihren Zwecken gesche-<br />

66 Es ist dies keine neue Diskussion, die sich vor allem im Kontext um den homo oeconomicus<br />

entfaltet hat. Entscheidend scheinen dabei die Meinungen an dem Punkt<br />

auseinanderzugehen, wo die Folgen der Verwendung dieser Verhaltensheuristik eingeschätzt<br />

werden. Bei den Kritikern erfüllt diese Heuristik die Rolle und Funktion eines<br />

Menschenbildes und wirkt damit fundamental orientierend auf den Menschen<br />

zurück.<br />

193


hen. Vielmehr ist der eigene Rationalitätsrahmen, der eigene „Horizont“<br />

grundsätzlich zu reflektieren und zu erweitern, zu öffnen. Dies führt im Blick<br />

auf das Primat der ökonomischen Messbarkeit, der pragmatischen Quantifizierung,<br />

zu Konzepten, die antizipativ, somit im eigenen Ansatz schon, eine<br />

über den eigenen Rahmen hinausgehende Handhabungsstruktur anlegen.<br />

Im Wesentlichen bedeutet dies eine Grammatik zu etablieren, die Nicht-<br />

Numerisches im ökonomischen Kontext pragmatisch abbilden kann. Dies<br />

ließe sich – im Welsch‘schen Sinne – als „neues“ ökonomisches Paradigma<br />

bezeichnen, das Numerisches und Nicht-Numerisches in demselben<br />

ökonomischen Kontext parallel zueinander und in Konkretion und<br />

Pragmatik absolut gleichberechtigt bewegt. 67 Dabei wird das Nicht-Numerische<br />

in seiner Form belassen und damit das Primat der Quantifizierung ökonomischer<br />

Rationalität rational transzendiert. In diesem Zusammenhang<br />

scheint dies der einzige und nachhaltig wirksame Weg, um den vielfältigen<br />

und zum Teil noch gar nicht abschätzbaren Folgen der ökonomischen Reduktion<br />

adäquat begegnen zu können.<br />

In gewisser Weise versucht Wieland - bewusst oder unbewusst - in seiner<br />

funktionalen Erfassung von Moral in wirtschaftlichen Transaktionen genau<br />

dieses zu verfolgen: die Darstellung der Moral im Kontext der Wirtschaft,<br />

ohne dies gleich numerisch erfassen zu wollen. Die Darstellung geschieht als<br />

Funktion. 68 Jedoch legen die weiteren Ausführungen und die ganze Konzeption<br />

die Vermutung nahe, dass die nicht-numerische Darstellung vorwiegend<br />

aus praktischen Gründen geschieht, da sich die Größen nun mal nicht<br />

ganz so problemlos in Zahlen „übersetzen“ lassen, wie eine spezifische<br />

Marktgröße, Auftragsbestände oder strategische Kennzahlen. Die weitere<br />

Behandlung dieses Nicht-Numerischen aber unterscheidet sich von der Behandlung<br />

des Numerischen nicht; das Nicht-Numerische zeitigt keine<br />

methodische Konsequenz.<br />

67 Es ist bereits seit einigen Jahren eine Sensibilisierung für so genannte „soft-factors“<br />

auf den Weg gebracht. Die Ökonomie hat erkannt, dass dort Größen in „ihrem“ Bereich<br />

existieren, die bis dato nicht oder nur ungenügend inhaltlich Einzug in die ökonomische<br />

Kalkulation gefunden haben. Diese „<strong>St</strong>örgrößen“ verhindern genaue Prognosen<br />

über den Geschäftsverlauf und sind somit geschäftsschädigend, wenn sie unberücksichtigt<br />

bleiben – polemisch formuliert. So machte sich die Ökonomie - bis dahin<br />

noch soziales „Entwicklungsland“ - auf, um diese Größen zu erfassen und zu beeinflussen.<br />

Sehr bald wird auch erkannt, dass eine Berücksichtigung beiden Seiten<br />

hilft, dem Einzelnen (Arbeitnehmer) und dem Ganzen (Unternehmung) – mehr oder<br />

weniger direkt.<br />

68 Vgl. hierzu Wieland (2001: 8ff.).<br />

194


Ein solch „neues“ Paradigma des Nicht-Numerischen würde über die Transzendierung<br />

der Quantifizierung hinaus die Reflexion über Sinn und Zweck<br />

des Wirtschaftens „reanimieren“. Solange nämlich der Zweck in den Zahlen<br />

als Selbstzweck aufgeht, wird der eigentliche inhaltliche Zweck bzw. Sinn aus<br />

den Augen verloren. Das bedeutet ökonomisch, dass auch dasjenige in der<br />

ökonomischen Rationalität abgebildet wird, welches keinen direkten<br />

ökonomischen Bezug aufweist und nicht notwendigerweise quantifizierbar<br />

sein muss. 69 Die Abkehr von der Zahl gibt den Blick frei auf außerökonomische<br />

Zielvorstellungen, die nicht unbedingt konträr, also kontraproduktiv<br />

zu der ökonomischen Zielsetzung laufen müssen, sondern diese aus anderen<br />

Perspektiven anreichern. Die zentrale „andere Perspektive“ ist in Bezug auf<br />

die ökonomische Rationalität die Lebenswelt. Die ist zwar seit jeher existent<br />

im ökonomischen System, doch praktisch nicht relevant, das heißt nicht<br />

richtungsweisend. So sehr auch Wieland dieser Prioritätenfrage aus dem<br />

Weg zu gehen versucht: Sein maßgebliches Kriterium stellt das ökonomische<br />

Kriterium dar.<br />

10.3 Zusammenfassung<br />

Die Weiterentwicklung im starken Sinne lässt sich somit, auch in Reflexion<br />

der Bestimmungen einer Vernunft der Ökonomie, in folgenden Punkten zusammenfassen:<br />

� Eine Öffnung, die sich der Weiterentwicklung im starken Sinne verpflichtet,<br />

verzichtet im eigenen Interesse auf traditionelle Übersetzungsleistungen.<br />

� Eine solche Öffnung wählt die Konnexion von Heterogenitäten, nicht die<br />

Übernahme zum Zwecke der Vereinheitlichung.<br />

� Sie sieht im spezifisch Anderen den Schlüssel zu eigener Transzendenz.<br />

� Die Transzendenz konstituiert ihre Relationalität und fordert ihre Relativierung.<br />

� In dieser rationalen Transzendenz erkennt die ökonomische Rationalität<br />

ihren eigentlichen Beitrag zum Ganzen.<br />

69 Damit sei nicht impliziert, dass die Ökonomie angehalten ist, alles abzubilden. Es<br />

geht hier lediglich um diejenigen „Gegenstände“, welche einen direkten oder indirekten<br />

Bezug zu der wirtschaftlichen Tätigkeit aufweisen.<br />

195


11 Postmoderne Ethik 70 - der Übergang zum Anderen<br />

Bis vor kurzem war es noch undenkbar, Postmoderne und Ethik auch nur in<br />

einem Atemzug zu nennen. Es deuten sich in der jüngsten wissenschaftlichen<br />

Diskussion Auflösungserscheinungen dieses klassischen Antagonismus<br />

an. 71 Diese Entwicklung manifestiert sich vor allem in zwei zentralen<br />

Merkmalen:<br />

Zum einen ist das, was sich momentan als Postmoderne präsentiert, nicht<br />

mit dem zu vergleichen, was Postmoderne seit den 60er Jahren als Antipode<br />

zur Moderne beschrieb. Als dialektisch-historischer Entwicklungsbefund<br />

zeichnete sich die Postmoderne vor allem in ihrem Abgrenzungscharakter<br />

zur Moderne aus. Als Gegenpol war sie in ihren Anfängen zu verstehen, zu<br />

einem komplementären Pol hat sie sich entwickelt.<br />

Zum anderen hat sich innerhalb dieser Entwicklung inhaltlicher Redefinition<br />

von Postmoderne ein intersubjektivitätstheoretischer Ansatz herauskristallisiert,<br />

der über die ursprüngliche Metaphysikkritik hinausgeht. Auf der<br />

Suche nach dem Nicht-Berücksichtigten, dem Ignorierten von pluralen<br />

Phänomenen treten scheinbar unwillkürlich Subjekte und ganze soziale<br />

Gruppen – zudem latent normativ - in den Gesichtskreis der Moderne-Postmoderne-Debatte.<br />

Es ließe sich von einer „normativen Subjektivierung“ der<br />

beinahe schon zwanghaften postmodernen Indifferenz bezüglich politischethischer<br />

Aspekte sprechen. 72<br />

70 Der Begriff „Postmodern“ wird im Spannungsfeld zur Moderne rekonstruiert, so wie<br />

es in der Argumentation entwickelt wurde. „Postmoderne“ bedeutet damit immer<br />

eine postmoderne Moderne. Der Einfachheit halber und um den programmatischen<br />

Charakter der Postmoderne auch in der postmodernen Moderne zu betonen, wird im<br />

Folgenden oft nur von „Postmoderne“ gesprochen. Wenn damit die „reine“ Postmoderne<br />

gemeint ist, dann wird dies explizit durch einen Zusatz wie „radikal“ o. ä.<br />

kenntlich gemacht. Einige der zitierten Autoren verwenden diesen Term vielfach<br />

synonym zu einer postmodernen Moderne.<br />

71 Vgl. dazu die jüngere Literatur wie z. B. Bernstein (1991), Critchley, S. (1992): The<br />

Ethics of Deconstruction. Derrida and Lévinas, Oxford; White, S.K. (1991): Political<br />

Theory and Postmodernism, Cambridge; Benjamin, A. [Hrsg.] (1992): Judging Lyotard,<br />

London/New York, zitiert nach Honneth (2000a: 133).<br />

72 Historisch ist dieser extrem deskriptive Zugang der Postmoderne als Antwort auf den<br />

„zwanghaften Universalismus der Moderne“ (Honneth 2000a: 133) und der damit<br />

verbundenen metaphysischen Normativität zu interpretieren. Wie bereits angedeutet,<br />

eliminiert sich im Zuge der Integration von Moderne in die Postmoderne bzw. vice<br />

versa der extreme programmatische Charakter der Postmoderne von selbst und entwickelt<br />

sich zu einer gemäßigteren Position.<br />

196


Honneth fasst die neuartige Auseinandersetzung der Postmoderne folgendermaßen:<br />

„Von der Idee einer moralischen Berücksichtigung des Besonderen, des Heterogenen,<br />

nimmt daher auch die Ethik der Postmoderne heute ihren theoretischen<br />

Ausgang; nicht anders als die ungeschriebene Moraltheorie Adornos<br />

kreist sie um die Vorstellung, daß sich erst im angemessenen Umgang mit<br />

dem Nicht-Identischen der Anspruch menschlicher Gerechtigkeit erfüllt.“ 73<br />

Honneth deutet hier bereits dasjenige Spannungsfeld an, in dem sich die<br />

Diskussion um eine Ethik der Postmoderne entfalten wird: Das Kriterium der<br />

Gerechtigkeit steht in dialektisch-produktiven Verhältnis zu dem Grundsatz der<br />

Gleichbehandlung.<br />

In dieser Argumentation konnte aufgezeigt werden, dass die ökonomische<br />

Vernunft in Richtung einer Ethik der Ökonomie weist. 74 Für eine solche stellt<br />

sie notwendige Voraussetzung dar. Welsch selbst macht dies deutlich:<br />

„Diese Implikationen [ethische; T.B.] scheinen mir äußerst wichtig. Sie bedeuten,<br />

daß unseren Begründungs- und Rechtfertigungsvollzügen ethische<br />

Forderungen eingebaut sind - daß es eine epistemische Ethik gibt. Deren ausführliche<br />

Darstellung wäre ein lohnendes Unternehmen.“ 75<br />

73 Honneth (2000a: 134).<br />

74 So äußert sich auch Kreß: „Aus der Perspektive der Sozialethik gesagt, besteht die<br />

Bedeutung eines solchen prozessualen oder prozeduralen Vernunftbegriffes darin,<br />

daß er mit dem Leitbild der aktiven ethischen Toleranz bzw. dialogischen Toleranz<br />

korrespondiert.“ (Kreß, H. (2000): Transversale Vernunft in ihrer Abhängigkeit von<br />

ethischen Voraussetzungen, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 117-119, hier S. 117f.).<br />

Ähnlich auch Rehmann-Sutter: „Der Schluß, den man m.E. ziehen müßte, den Welsch<br />

hier aber zumindest nicht explizit zieht, ist, daß die Kriterien für die Evaluation verschiedener<br />

Vernunftkonzeptionen ethische Kriterien mit einschließen. Es geht nicht<br />

nur um korrekte Selbstdarstellung und kohärente Exposition, sondern um die Angemessenheit<br />

einer Selbstkonzeption in pragmatischer Hinsicht hier und jetzt.“ (Rehmann-Sutter,<br />

C. (2000): Kathartik der Vernunft?, in: EuS, Jg. 11, H. 1, S. 137-139, hier S.<br />

137; Hervorhebung im Original).<br />

Baumann (1995: 33) spricht von der „moralischen Unsicherheit“ in der Postmoderne.<br />

Schon früher hatte Gehlen der Kultur der Postmoderne eine „reizvolle Unverantwortlichkeit“<br />

attestiert. Vgl. Gehlen, A. (1963c): Über kulturelle Kristallisation, in:<br />

ders. (1963a), S. 311-328, hier S. 325. In Bezug auf die IuK-Technologien ist dies mit<br />

der sich öffnenden Schere zwischen den Fähigkeiten des Menschen in der heutigen<br />

technologischen Welt und der zeitlichen und räumlichen Distanz zu den Folgen<br />

unserer in Handlungen umgesetzten Fähigkeiten beschrieben worden. Vgl. hierzu<br />

Abschn. 2.3.<br />

75 Welsch (2000b: 175).<br />

197


Eine ethische Reflexion hat sich mit den tatsächlichen Gegebenheiten auseinanderzusetzen<br />

und damit neben den notwendigen auch die hinreichenden<br />

Bedingungen zu betrachten. Diese setzen sich aus den äußeren (materiellen<br />

und sozialen) Bedingungen des Subjekts (Fraktale, Entgrenzung, Erosion,<br />

Macht etc.) und den inneren Bedingungen des Subjekts, den Potentialen und<br />

Möglichkeiten (Bewusstsein, Mut, Überzeugung etc.) zusammen. 76 Im Folgenden<br />

wird es darum gehen, Möglichkeiten des ethischen Vollzugs unter<br />

den aktuellen äußeren Bedingungen und ihren Implikationen auszuloten.<br />

Dabei soll das Subjekt als solches und in seiner direkten Sozialität in den<br />

Mittelpunkt gestellt werden. 77 Neben die intraindividuellen Herausforderungen<br />

treten dabei die Herausforderungen reflektierter Intersubjektivität.<br />

Wesentlicher Befund für eine Reflexion über die Möglichkeiten eines ethischen<br />

Vollzugs ist die „Unsichtbarkeit“ der Kolonialisierung. Die ökonomische<br />

Rationalität erreicht durch ihre Reduktion und Verdinglichung auch<br />

in lebensweltlichen Bezügen, dass der Maßstab jeglicher kritischer Reflexion<br />

selbst erodiert und damit auch eine hinreichende Bedingung des ethischen<br />

Vollzuges. 78 Die äußeren Befunde der Entgrenzung und Fraktale haben zudem<br />

zu einer Form von Orientierungslosigkeit des Einzelnen in seinen inne-<br />

76 Auf die inneren Bedingungen (Fähigkeiten) wird in Abschnitt 12 in Bezug auf die<br />

Unternehmung eingegangen.<br />

77 In dem am Ende zu analysierenden Kontext der inneren Verfassung der Unternehmung<br />

soll hier eine ethische Analyse vornehmlich als eine „philosophische Bemühung<br />

um den Menschen“ verstanden werden, wie Buch über die Ethik Nicolai Hartmanns<br />

schreibt, auch wenn sich vielfältige andere Bezüge gleichwertig stellen mögen.<br />

Vgl. hierzu Buch, A.J. (1982): Wert – Wertbewußtsein – Wertgeltung: Grundlagen und<br />

Grundprobleme der Ethik Nicolai Hartmanns, Bonn, S. 219. Wenn es Hartmann<br />

darum geht, die „Bedeutsamkeit des Menschen als sittliches Wesen herauszustellen,<br />

d. h. der Person mit ihrer Freiheit und Wertträgerschaft als Vermittler der in den<br />

Werten als Prinzipien gesehenen und von diesen ausgehenden Sollensforderungen<br />

ins Reale“ (Buch 1982: 219; Endnoten weggelassen), so trifft sich dies mit dem intersubjektiven,<br />

sozialen Kontext der Unternehmung. Ergänzt wird dieser anthropologische<br />

Grundzug durch die Darstellung intersubjektiver Verwiesenheit im folgenden<br />

Kapitel. Hartmann bezeichnete dies damals als „Rehabilitation des Menschen“<br />

(Hartmann, N. (1962): Ethik, 4. Aufl., Berlin, S. 170).<br />

78 In Abschnitt 3.3 ist deutlich geworden, dass die ökonomische Rationalität durch ihre<br />

lebensweltliche Dominanz selbst dem lebensweltlichen Gegenüber sukzessive das<br />

kritische Potential entzieht - das Potential des sensiblen Wahrnehmens, genauen Differenzierens<br />

und offenen Kritisierens. Diese Erosion wird zudem durch die kommerzialisierte<br />

Gesellschaft tagtäglich reproduziert. Die Arbeitsgesellschaft konstituiert<br />

den Zirkel aus Erwerbsarbeit und Konsum, welcher auch die Fragen des sozialen<br />

<strong>St</strong>atus entscheidet. Deutlich wird dies bspw. an dem Marken-Kult der Jugend, der in<br />

den 80er Jahren intensiv einsetzte. Vergleiche hierzu insbesondere die pointierten Beschreibungen<br />

bei Klein (2001). Vgl. auch Abschn. 2.1.<br />

198


en Bedingungen geführt, die bis in die lebensweltlichen Tiefenstrukturen<br />

hineinreicht. Und gerade von hier aus nimmt ethischer Vollzug seinen Ausgangspunkt,<br />

aus den unmittelbaren lebensweltlichen Bezügen des Einzelnen.<br />

Wird die Vernunft - wie aufgezeigt - als Vermögen bzw. Fähigkeit rekonstruiert,<br />

so ist dies übertragbar auf die Konzeptualisierung eines Vollzugs<br />

der Ethik. Ethischer Vollzug ist dann auch als individuelle Fähigkeit zu ethischer<br />

Reflexion zu rekonstruieren. Und diese Fähigkeit ist auf ihre äußeren<br />

und in der Folge auch inneren Bedingungen angewiesen.<br />

Der Vollzug der transversalen Vernunft hat bereits angedeutet, welchen<br />

Charakter ein solcher ethischer Vollzug besitzt. Die inneren und äußeren Bezüge<br />

stehen in wechselseitiger Austauschbeziehung und bedeuten in einer<br />

Subjektorientierung die inter- und intrasubjektiven Verhältnisse. Damit stellt<br />

sich die zentrale individuelle Herausforderung für die Entwicklung „ethischer<br />

Fähigkeit“ als Reflexion und Revitalisierung des Übergangs zu sich<br />

selbst und - in der Folge - des Übergangs zum Anderen. 79<br />

Im Folgenden werden die intersubjektiven Verhältnisse im Mittelpunkt<br />

stehen; sie sind Teil der äußeren Bedingungen des Subjekts. Grundbestimmung<br />

einer Ethik stellt dieses intersubjektive Verhältnis dar. In der intersubjektiven<br />

Verwiesenheit werden die direkten sozialen Bezüge in ihrem ethischen<br />

Gehalt deutlich. Darauf aufbauend werden die Beziehungen zwischen<br />

den intra- und intersubjektiven Bezügen beleuchtet, welche in besonderem<br />

Maße von den hier skizzierten Befunden einer Postmoderne durchdrungen<br />

sind. Den Abschluss bildet die Zusammenführung der inter- und intrasubjektiven<br />

Perspektive in einer Konzeptuierung von Gemeinschaft.<br />

11.1 Intersubjektive Verwiesenheit - ethische Grundbestimmung<br />

Rendtorff beschreibt die Verwiesenheit als zwingende Folge eines „Gegebensein<br />

des Lebens“, das die Grundsituation der Ethik in ihrer inneren Logik<br />

79 Das Individuum findet sich in einer Sozialität immer schon vor und setzt sich mit<br />

dieser auseinander. Diese Auseinandersetzung setzt notwendigerweise eine Auseinandersetzung<br />

mit sich selbst voraus. Der Weg zu gelingender Sozialität führt also<br />

über die eigene Persönlichkeit, die eigene Individualität, die eigene Identität, so die<br />

hier vertretene Annahme. Dies ist an früherer <strong>St</strong>elle in Bezug auf Identität bereits angesprochen<br />

worden. Vgl. hierzu Abschn. 9.2.3.<br />

199


darstellt. 80 Aus dieser inneren Verfasstheit entwickelt sich in der Konsequenz<br />

die Einsicht, „daß ein gegebenes Leben in seinem Vollzug das Leben anderer<br />

betrifft“ 81, denn keiner lebt aus sich selbst.<br />

Der Ausgangspunkt des Gegebenseins ist theologisch, aber auch phänomenologisch<br />

herleitbar. Die Herleitung verwehrt sich somit einer rein theologischen<br />

Argumentation. 82 Sie folgt der Überzeugung, dass die „Ethik als<br />

Theorie der Lebensführung“ 83 zu verstehen sei. In diesem Sinne dient die<br />

Theorie dazu, den Bezugsrahmen des Lebens in seiner Form und Orientierungsfunktion<br />

zu identifizieren, zu fixieren und zu reflektieren. Die Grundelemente<br />

dieses Bezugsrahmens der ethischen Lebensführung sieht Rendtorff<br />

in dem a) „Gegebensein des Lebens“, b) der „Forderung, Leben zu geben“<br />

und c) in der „Reflexivität des Lebens“. 84 Die Einstellung zum Leben als etwas,<br />

das dem Einzelnen gegeben wurde, differiert von der Überzeugung eines<br />

sich „aktiven Nehmens“ und der Formulierung von Ansprüchen hieraus.<br />

200<br />

„Nicht, was alles überhaupt möglich sein und getan werden könnte, ist das<br />

Thema der Ethik der Lebensführung, sondern das, was in einem gegebenen<br />

Leben verantwortet werden kann. Damit wird keineswegs einer Beschränkung<br />

der ethischen Einbildungskraft das Wort geredet. Vielmehr wird auf<br />

diese Weise zur Geltung gebracht, daß alles Wollen und Sollen durch das Gegebensein<br />

das Lebens vermittelt ist. Erst durch diese Vermittlung erhält es eine<br />

ethische Qualifikation.“ 85<br />

Diese, wenn auch schwer zu fassende Differenzierung führt zu einer Verantwortung<br />

gegenüber dem eigenen Gegebensein. Der Mensch findet sich<br />

selbst immer schon in einer Lebensweltlichkeit vor, er ist sozusagen in das<br />

Leben „hineingeworfen“. Es ist nicht möglich, das eigene Sein vor dessen<br />

tatsächlicher lebensweltlichen Existenz in irgendeiner Weise selbst zu beeinflussen.<br />

Somit bezieht sich alles das, was „gewollt“ und „gesollt“ werden<br />

kann, nicht nur auf sich selbst, sondern von Beginn an auf etwas von sich<br />

80 Vgl. hierzu wie zum Folgenden Rendtorff, T. (1980): Ethik. Grundelemente, Methodologie<br />

und Konkretionen einer ethischen Theologie, Bd. I, <strong>St</strong>uttgart u. a., S. 31ff. Die<br />

Ausführungen müssen in diesem Argumentationskontext stark verkürzt ausfallen.<br />

81 Rendtorff (1980: 45).<br />

82 Die qualitative Differenz zwischen Philosophie und Theologie kann, muss aber nicht<br />

zum Geltungsausschluss des jeweils anderen führen. Der Verweis auf eine phänomenologische<br />

Interpretation sei in dieser Weise verstanden.<br />

83 Rendtorff (1980: 31).<br />

84 Ebenda; Hervorhebungen im Original.<br />

85 Rendtorff (1980: 32; Hervorhebungen durch den Verfasser).


selbst Verschiedenes, Differenzierbares. Diesen Bezug zeichnet das eigene<br />

Leben in seiner Grundverfassung aus. Dies impliziert in einer ethischen<br />

Lebensgestaltung die Offenheit und Akzeptanz, das Gegebensein des Lebens<br />

wahrzunehmen und zu begreifen. 86 Die Konsequenz, mit der diese Implikation<br />

auftritt, begründet in der Verbindung mit der Unendlichkeit des Anderen,<br />

der zwingend zu dem Gegebensein dazugehört, die ethische Qualität in<br />

der „horizontalen Dimension“, im Hier und Jetzt der Lebensgestaltung. Was<br />

in der „Vertikalen“, ob transzendent oder phänomenologisch, die innere Begründung<br />

konstituiert, wird nach außen durch die lebensweltliche Verwiesenheit<br />

auf komplementäre Weise ergänzt. Denn erst in dieser Komplettierung<br />

ergibt sich der konsistente Rahmen eigener Lebensgestaltung in Bezug<br />

auf das eigene und „andere“ Wesen. Das Bindeglied zwischen Innen und<br />

Außen, zwischen der elementaren Voraussetzung und dem sich betätigenden<br />

Leben, benennt Rendtorff mit der Aussage, dass die Gestaltung des<br />

eigenen Lebens in einer ethisch reflektierten Weise das Geben des Lebens des<br />

Anderen bedeutet. Der bereits entwickelte Begriff der „Verwiesenheit“<br />

kommt somit in dem zweiten Grundelement, dem „Leben geben“ zum Ausdruck.<br />

„Das eigene Leben bestimmt und bewirkt in seinem tätigen Vollzug immer<br />

auch Leben für andere. Wir sind und gestalten für andere eine Welt des<br />

Lebens.“ 87<br />

Obwohl das eigene Leben unausweichlich in Beziehung zum Leben anderer<br />

steht, wird es allgemein als grundsätzliche Offenheit und freie Entscheidung<br />

des Einzelnen verstanden, sich zu dieser Beziehung zu verhalten oder auch<br />

nicht. Aus ethischer Perspektive jedoch ist diese Freiheit nur scheinbar. Es<br />

kann niemand vermeiden, sich zu dieser Beziehung zu verhalten. 88 Die Lossagung<br />

von jeglicher Verantwortung überhaupt übersieht die Evidenz dieser<br />

Grundstruktur für das tätige Leben. Eine bewusste Verweigerung von<br />

Verantwortungsübernahme hingegen trägt die Evidenz in sich, drängt aber<br />

86 Zum wiederholten Male wird deutlich, inwiefern der Vollzug ethischer Reflexion von<br />

dem ersten Schritt der unvoreingenommenen, deskriptiven, offenen, sorgfältigen<br />

Wahrnehmung des personalen oder situativen Anderen abhängt.<br />

87 Rendtorff (1980: 45; Hervorhebungen im Original).<br />

88 In dieses Beziehungsgeflecht sind selbstverständlich nicht nur menschliche Wesen<br />

einbezogen, sondern jegliches Leben, sei es menschlicher, tierischer oder pflanzlicher<br />

Natur.<br />

201


auf eine Klärung der Frage der Zuständigkeiten. Diese Zuständigkeitsdebatte<br />

steht mit dem Schlagwort „gesellschaftliche Verantwortung“ neben<br />

anderen Fragen im Mittelpunkt auch wirtschaftsethischer Reflexionen. Es ist<br />

diese Verbindung von deontologischer Begründung und praxeologischem<br />

Bezug, die Prinzipien und Verantwortung in einer Systematik integriert. Dies<br />

beschreibt Ulrich wie folgt:<br />

202<br />

„Auch Verantwortungsethik ist, wenn der Begriff mehr als ein rhetorisches<br />

Symptom für „gesinnungslosen“ Opportunismus sein soll, nur als deontologisch<br />

fundierte, prinzipienorientierte Verantwortungsethik zu haben.“ 89<br />

Das deontologische Moment ist dabei eingebettet in eine begründete Sukzession,<br />

die eine ungefilterte Pflichtenethik vor dem Hintergrund des intersubjektiven<br />

Charakters der Lebensweltlichkeit reflektiert. Der reflektierte Durchgriff<br />

von Grundbedingungen unseres Daseins in das alltägliche Handeln,<br />

diese eingeforderte Konsequenz stellt sich auch für jede Deskription einer<br />

Vernunft-Konzeption. Die Kompetenz, die sich durch die Einsicht in die<br />

Grundstruktur des Lebens und ihrer Folgerungen bildet, die sich durch den<br />

Vollzug der „Reflexivität des Lebens“ 90, das dritte Grundelement ethischer<br />

Lebensführung nach Rendtorff, entwickelt, kann sich ihrerseits nicht aus<br />

ihrer charakteristischen Konstellation lösen: als individuelle Kompetenz<br />

steht sie in der intersubjektiven Verwiesenheit der gesellschaftlichen Gemeinschaft<br />

und stellt somit potentiell auch die Kompetenz des Anderen dar.<br />

Die eigene Erweiterung steht dabei nicht in substitutiver Beziehung zum<br />

Anderen, so dass sich damit dessen Raum, dessen Leben notwendig verengen<br />

würde, sondern kann in ihrer „Bewusstseinserweiterung“ die Freiheit<br />

des Anderen ausweiten. Diese Systematik kann treffend beschrieben werden<br />

durch die „Freiheit der Vergegenwärtigung“. Die Reflexion der eigenen<br />

Bedingtheit, im Sinne einer intersubjektiven Bezogenheit, baut Unsicherheit<br />

ab und Vertrauen auf. 91 In ihrer Orientierungsleistung trägt sie zur Lebens-<br />

89 Ulrich (1998: 74; Hervorhebung im Original).<br />

90 Rendtorff (1980: 62).<br />

91 Analog hierzu ließe sich beispielsweise im Unternehmen die Funktion der „Organisation“<br />

beschreiben. Organisation koordiniert die einzelnen Funktionsbereiche,<br />

stimmt sie aufeinander ab, reduziert damit Reibungsverluste und schafft Freiheit,<br />

denn Routine muss nicht jeden Tag aufs Neue erfunden werden. Vgl. zu der Funktion<br />

von Routine die Ausführungen in Abschn. 2.2.


ewältigung bei und eröffnet neue Möglichkeiten der Gestaltung. 92 Diese<br />

Möglichkeiten eröffnen sich nämlich dann, wenn die „Grundelemente der<br />

ethischen Lebensführung“ 93 gehandhabt, von dem Einzelnen „beherrscht“<br />

werden. Selbst wenn die tatsächliche Lebenswirklichkeit zu permanenten<br />

reflexiven Korrekturen „nötigt“, d. h. der Andere verändert beispielsweise<br />

sein Verhalten, so führt diese Reflexion zu einer „Professionalisierung“ der<br />

Lebensführung, die es erlaubt, über das reine Verhalten hinaus zu gestalten.<br />

Die Gestaltung erfolgt nicht ab einer bestimmten <strong>St</strong>ufe, jedoch, die Gestaltung<br />

entwickelt freie, kommunizierbare Teile, die in die intersubjektive<br />

Aktion, in die Interaktion, in den Diskurs „eingebracht“ werden können. 94<br />

In Bezug auf die Überlegungen zu Voraussetzungen diskursethischer Konzeptionalisierungen<br />

ließe sich somit neben die inhaltliche Überzeugung zur<br />

Wahrnehmung des Anderen die Kompetenz der ethischen Lebensführung<br />

stellen, welche weder von der Überzeugung völlig unabhängig auftritt, noch<br />

eine „intellektuelle Diskriminierung“ fördert. Der Prozess der Einsicht und<br />

die Erlangung von Kompetenz der ethischen Lebensführung basiert gleichermaßen<br />

auf reflexiv-kognitiven und intuitiv-emotionalen Parametern,<br />

wobei zwischen diesen keine qualitative Differenzierung existiert. 95 Die<br />

92 Die „Orientierungsbedürftigkeit des Lebens“ (Rendtorff 1980: 63) tritt im Dialog mit<br />

der „Fülle des Lebens“, mit dem individuellen Möglichkeitsraum auf. Dabei wird<br />

dem Individuum „die Subjektstellung des Menschen in seiner Welt bewußt“ (Rendtorff<br />

1980: 63), in seinem Kontingenz-, aber auch Potentialcharakter. In dieser<br />

„Spange“, in der das Subjekt Objekt seiner eigenen Beobachtung ist, gilt es sich zu lokalisieren,<br />

zu orientieren, was sich vornehmlich in der „Sprachlichkeit des Lebens“<br />

ausdrückt (Rendtorff 1980: 63; Hervorhebung im Original). In dieser Form kann sich<br />

Reflexivität artikulieren und gleichsam vermitteln. Dies verdeutlicht sich in der Diskursethik.<br />

Folgt man Rendtorff, so impliziert die Freiheit des Einzelnen die „Abhängigkeit<br />

von Kommunikation“ (Rendtorff 1980: 64; Hervorhebungen im Original). Damit<br />

kann der Einzelne in der Kommunikation seinen individuellen Möglichkeitsraum erweitern,<br />

seine „Dispositionsmöglichkeiten“ (Rendtorff 1980: 64) transzendieren.<br />

93 Rendtorff (1980: 31).<br />

94 Diese „frei kommunizierbaren Teile“ können auch als Zeichen einer „Kommunikationsfähigkeit“<br />

(Rendtorff 1980: 64; Hervorhebung im Original) bezeichnet werden, die<br />

als Teil der Reflexivität des Lebens und der Lebensführung hilft, diese in das direkte<br />

Verhältnis zu anderen Lebensentwürfen zu stellen und damit einen „sozialen<br />

Abgleich“ zu ermöglichen.<br />

95 Dies bedeutet, dass das „Mischungsverhältnis“ der Determinanten des Generierungsprozesses<br />

beliebig ausfallen kann. Ferner kann sich die Konzeption von Kompetenz<br />

nur als graduelle Konzeption verstehen, die nicht zwischen „Kompetenz“ und<br />

„Nicht-Kompetenz“, sondern zwischen „mehr“ und „weniger“ unterscheidet.<br />

203


Komplementarität aus prinzipieller und okkasioneller Rationalität stellt sich<br />

in die Systematik einer Ethik der Postmoderne. 96<br />

11.2 Übergang zum Selbst - zum Anderen<br />

Der Befund der Entgrenzung thematisiert die Möglichkeiten eines „Für-sichseins“<br />

des Einzelnen. 97 Aufgrund der Proliferation ökonomisch-systemischer<br />

Koordination in die lebensweltlichen Bezüge hinein entwickelt sich diese<br />

Selbstkontrolle zu einer lebensweltlichen Autonomie gegenüber dem System.<br />

Die eigenen Grenzen, in denen eine Identitätserfahrung trotz defizitärer<br />

Materie (fraktale Sinnstruktur) zu konstruieren versucht wird, müssen sich<br />

nach außen profilieren, obwohl die innere Referenz nicht hergestellt werden<br />

kann. Die Möglichkeit des „Für-andere-seins“ wird hier nicht nur von innen<br />

ausgehöhlt, sondern zudem von außen aufgebrochen. Wenn die äußere Referenz<br />

stabile Bezüge aufweisen würde, dann ließe sich die innere Erosion<br />

kompensieren. Zwar treten neue Bezüge hinzu (globale Kommunikation),<br />

jedoch weisen sie in ihrer Charakteristik qualitative Differenzen - und wenn<br />

man will: Defizite - auf, treten sie den Vergleich zu den herkömmlichen<br />

Bezügen (regionale bzw. lokale Kommunikation) an. Die neuen kommunikativen<br />

Möglichkeiten können diese nur zum Teil kompensieren. Die Entgrenzung<br />

kann somit dazu führen, dass eine zentrale Bestimmung moralischen<br />

Handelns, die gelingende Selbstkontrolle, vereinnahmt und instrumentalisiert<br />

wird und damit nicht mehr im Dienst des Einzelnen steht. Da<br />

zudem der innere Kern seinerseits erodiert, findet sich kein wirksamer<br />

Parameter einer Selbstbestimmung.<br />

In Bezug auf die soziale gemeinschaftliche Ebene bedeutet dies, dass ohne<br />

eine individuelle Selbstreflexion das Einlassen auf eine gemeinsame, soziale<br />

Reflexion, die die Beziehung zum Anderen zum Gegenstand hat, unwahr-<br />

96 Vgl. hierzu die Spinnersche „Doppel-Vernunft“ bspw. die „Fallstudien“ bei Spinner,<br />

H.F. (1994): Der ganze Rationalismus einer Welt von Gegensätzen: Fallstudien zur<br />

Doppelvernunft, Frankfurt. Die Komplementarität von prinzipieller und okkasioneller<br />

Vernunft zeichnet sich implizit in den hier behandelten Begriffspaaren ab. In<br />

diesem Sinne ist der Übergang in der transversalen Konzeption bei Welsch Programm,<br />

aber auch Konsequenz der Konzeption. System-Lebenswelt, Symmetrie-<br />

Asymmetrie, Dynamik-Routine stehen in inhaltlicher Nähe zu der Spinnerschen Konzeption.<br />

97 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Tugendhat, E. (1979): Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung:<br />

Sprachanalytische Interpretation, Frankfurt.<br />

204


scheinlich scheint. Der Übergang zum anderen Individuum, die interindividuelle<br />

bzw. intersubjektive Transversalität, setzt die intraindividuelle Transversalität,<br />

den intraindividuellen Übergang voraus98, den Übergang zum<br />

Anderen in einem Selbst. 99 Mag dieses Andere Spiegelbild des nicht-eigenen<br />

Anderen sein oder mehr ein dialektisches Spiegelbild des Eigenen darstellen,<br />

so besitzt doch die Auseinandersetzung mit diesem inneren Anderen eine<br />

über die reine Symbolik hinausreichende, soziale und auch ethische Bedeutung.<br />

Diese innere Spiegelung ist dabei aber weder notwendige noch hinreichende<br />

Bedingung moralischen Handelns. Das bedeutet zum einen, dass<br />

auch ohne die gelingende innere Kontrolle moralisches Handelns möglich ist<br />

und zum anderen, dass eine gelingende innere Kontrolle, ein wirkliches<br />

„Für-sich-sein“ nicht notwendigerweise zu moralischem Handeln führen<br />

muss. Hier wird jedoch die These vertreten, dass gelingendem „Für-sichsein“<br />

konstitutive Bedeutung in Bezug auf moralisches Handeln zukommt. 100<br />

Diese Bedeutung wächst dem „Für-sich-sein“ direkt und in ihrer Rückkoppelung<br />

zu:<br />

� Einerseits generiert die „Selbstbeherrschung“ die Selbst-Akzeptanz bzw.<br />

Selbstachtung, die Annahme des eigenen Selbst, aus der heraus die An-<br />

98 Auf die intraindividuelle Transversalität nach Welsch (1996: 829ff.) wurde bereits<br />

eingegangen. Vgl. hierzu Abschn. 9.2.3.<br />

99 Dieser Ausdruck lehnt sich an Ricoeur, P. (1996): Das Selbst als ein Anderer, München,<br />

an. Ricoeur bezeichnet eine „ethische Ausrichtung“ als eine „Ausrichtung auf das<br />

„gute Leben“ mit Anderen (autrui) und für sie in gerechten Institutionen“ (Ricoeur 1996:<br />

210; Hervorhebungen im Original). Diese Definition kann als konsequente Fortführung<br />

einer Vernunft des Übergangs (Welsch) gewertet werden; sie schreibt die<br />

Einsicht in die Notwendigkeit des Übergangs auf der intersubjektiven Ebene normativ<br />

fort.<br />

100 Die folgende Beherrschung des Selbst bedeutet in dem Sinne keine zusätzliche Kontrolle,<br />

sondern eine zusätzliche Befreiung, die den Einzelnen befreit von äußerem<br />

Zwang. Im Kontext der Ökonomie ist dies der ökonomische Sachzwang. In Anlehnung<br />

an Marcuse beschreibt Habermas zweckrationales Handeln „seiner <strong>St</strong>ruktur<br />

nach als Ausübung von Kontrolle“ (Habermas, J. (1970): Technik und Wissenschaft<br />

als ‚Ideologie‘, 4. Aufl., Frankfurt, S. 49ff.). Die Technik als Medium der Zweckrationalität<br />

steht bei Marcuse im Mittelpunkt des Beherrschungsverhältnisses: „Nicht erst<br />

die Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und über<br />

den Menschen), methodische, wissenschaftliche, berechnete und berechnende Herrschaft.<br />

Bestimmte Zwecke und Interessen der Herrschaft sind nicht erst ‚nachträglich‘<br />

und von außen der Technik oktroyiert – sie gehen schon in die Konstruktion des<br />

technischen Apparates selbst ein; die Technik ist jeweils ein geschichtlich-gesellschaftliches<br />

Projekt; in ihr ist projektiert, was eine Gesellschaft und die sie beherrschenden<br />

Interessen mit den Menschen und den Dingen zu machen gedenken.“ (Marcuse,<br />

H. (1965): Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, in: Kultur<br />

und Gesellschaft II, Frankfurt, S. 46).<br />

205


nahme und Akzeptanz des Anderen erwachsen kann. Die Erfahrung der<br />

Selbstachtung ermöglicht die Weitergabe dieser Erfahrung. Dies bezieht sich<br />

zum einen auf die Akzeptanz des Anderen und zum anderen auf die Weitergabe<br />

der Selbstachtung. 101<br />

� Andererseits wird die „Selbstbeherrschung“ durch die Erfahrung der<br />

Akzeptanz durch Andere generiert. Konstitutiver Teil des Für-sich-seins ist<br />

die äußere, die soziale Akzeptanz. Auf diese Weise, in einer Rückkoppelungsschleife,<br />

rekonstruiert und rekonstituiert sich die Akzeptanz des Anderen<br />

durch die Erfahrung der Akzeptanz seiner selbst. Man lässt dem Anderen<br />

das zukommen, was man selbst erfahren hat.<br />

Diese Bedeutung des intraindividuellen Übergangs für den ethischen Vollzug<br />

in der Intersubjektivität zeigt die ethische Relevanz der bisher dokumentierten<br />

und interpretierten Befunde. Diese Befunde nämlich stellten im<br />

Wesentlichen eine intraindividuelle Herausforderung dar. Es soll nun im<br />

Folgenden versucht werden aufzuzeigen, wie sich das intersubjektive Verhältnis<br />

in der aktuellen Situation darstellt. Die zentrale intersubjektive<br />

Herausforderung, die immanent-komplementär mit den intraindividuellen<br />

Herausforderungen verwoben ist, stellt sich in der Einsicht dar, die Akzeptanz<br />

des Anderen von einer symmetrischen <strong>St</strong>ruktur zu lösen. Diese Relativierung<br />

der Notwendigkeit von Symmetrie lässt sich nach Honneth als das<br />

Andere der Gerechtigkeit bezeichnen.<br />

Die universalistische Idee der Gleichbehandlung, die bisher die Moderne<br />

geprägt hat, erweitert sich in der Folgezeit um den Gedanken der Solidarität.<br />

Dieser Gedanke scheint sich jedoch nicht auf der gleichen universalistischen<br />

101 So bspw. auch Honneth, A. (2000a): Das Andere der Gerechtigkeit: Aufsätze zur<br />

praktischen Philosophie, Frankfurt, S. 182ff. Dieser referiert die unterschiedlichen<br />

Aspekte der Selbstbeziehung. Mit Selbstbeziehung ist „stets das Bewußtsein oder das<br />

Gefühl gemeint, das eine Person von sich selber in Hinblick darauf besitzt, welche<br />

Fähigkeiten und Rechte ihr zukommen“ (Honneth 2000a: 182). Die einzelnen Formen<br />

kommen in den folgenden Begriffen zum Ausdruck: „Selbstvertrauen“ (nach Erikson,<br />

E.H. (1980): Identity and Lifecycle, New York) bezeichnet die „Sicherheit über den<br />

Wert der eigenen Bedürftigkeit“ (Honneth 2000a: 182), „Selbstachtung“ oder<br />

„Selbstrespekt“ (nach Dillon, R.S. [Hrsg.] (1995): Dignity, Character and Self-Respect,<br />

New York/London) eine „Art von Sicherheit über den Wert der eigenen Urteilsbildung“<br />

(Honneth 2000a: 183) und schließlich das „Selbstwertgefühl“ (Tugendhat, E.<br />

(1993): Vorlesungen über Ethik, Frankfurt, S. 57f.), das eine „Art von Sicherheit über<br />

den Wert der eigenen Fähigkeiten“ (Honneth 2000a: 183) vermittelt. Auch Honneth<br />

zeigt die zentrale Rolle der Selbstbeziehung im Kontext von „Anerkennung“ (des<br />

Anderen) auf.<br />

206


Geltungsebene zu etablieren, da ihm in seiner Voraussetzung „etwas<br />

abstrakt Utopisches“ 102 innewohnt. Vielmehr vermag es dem moralischen<br />

Prinzip der Fürsorge in seiner Einseitigkeit ein Komplement zur Seite zu<br />

stellen, das eine Anbindung an die moderne Auffassung der Gleichbehandlung<br />

sucht. Die Gleichbehandlung als Prinzip kann in diesem Sinne nur aufgehen,<br />

wenn auch die Objekte der „Behandlung“ den gleichen <strong>St</strong>atus aufweisen.<br />

Jenseits der Habermasschen Gleichberechtigung in der kommunikativen<br />

Gemeinschaft ist eine relationale Form der Gleichbehandlung ein Ansatz,<br />

der der postmodernen Pluralität im Ansatz Rechnung zu tragen versucht.<br />

Die einheitlichen Vorstellungen der Moderne verlassend, entwickelt<br />

sich somit eine Handhabungsform, die zwar dem Gerechtigkeitscharakter<br />

der Gleichbehandlung folgt, dies jedoch von einer der Moderne differenten<br />

Rezeption des Gegenüber entwickelt. Sofern von einer aktiven Rezeption des<br />

Gegenüber in der Moderne aus postmoderner Sicht überhaupt gesprochen<br />

werden kann, ist die Pluralitäts- und Heterogenitätserfahrung für die Redefinition<br />

des Gleichheitsgrundsatzes konstitutiv. Während die Moderne eher<br />

dem Grundsatz gefolgt ist, dass einem jeden von uns die gleiche Behandlung<br />

zusteht, obgleich wir mit unterschiedlichen Ausstattungen und Profilen auftreten,<br />

so wäre die postmoderne Rekonstruktion eine Befürwortung der<br />

Gleichbehandlung, gerade weil wir unterschiedlich sind. Diese Differenz<br />

ließe sich als aktive oder bewusste Toleranz bezeichnen, wohingegen die<br />

Moderne eher von einer geduldeten Toleranz getragen war. Die Duldung<br />

(bzw. die Nicht-Duldung!) geschah aus der rationalen Vernunft heraus, aus<br />

der Einheitsorientierung, in der das Einzelne dem Gesamtziel untergeordnet<br />

war - ihr fehlte das okkasionell-affektive Moment. 103 Die ethisch-postmoderne<br />

Wende läge in der Transformation der rationalen Vernunft in die<br />

innere Überzeugung einer ethischen Norm.<br />

102 Honneth (2000a: 169).<br />

103 Vgl. zu diesem Moment insbesondere Spinner, H.F. (1982): Ist der kritische Rationalismus<br />

am Ende?: Auf der Suche nach den verlorenen Maßstäben des Kritischen Rationalismus<br />

für eine offene Sozialphilosophie und kritische Sozialwissenschaft, Weinheim/Basel,<br />

S. 86ff., Spinner (1994) und Lyotard, J.-F. (1998): Postmoderne Moralitäten,<br />

Wien. Habermas kritisiert das affektive Moment, sofern es emotiv-affektive Dimension<br />

annimmt. Es besteht die Gefahr eines affektgestützten Partikularismus, der die<br />

Grundlage der Wahrheitssuche, die Suche nach den Gründen verzerren könnte. Vgl.<br />

hierzu Habermas, J. (1991): Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt, S. 58ff.<br />

207


Dieses Moment der Aktivität ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der „Aktivitätsorientierung<br />

der neuzeitlichen Moral“ 104. Im Gegenteil: die aktive Toleranz<br />

geschieht, in Anlehnung an White, in einer differenzierten und differenzierenden<br />

Distanz. White bezieht sich seinerseits auf Denkansätze, die er<br />

bei Nietzsche, Heidegger und Adorno findet. 105 Ob es die Heideggersche<br />

„Gelassenheit“ oder die „mimetische Reaktion“ bei Adorno ist - die Aussagen<br />

beschreiben eine ähnliche Überzeugung: Das Handlungssubjekt ist in<br />

seiner Fähigkeit der Wahrnehmung anderer Subjekte und deren Einstellungen<br />

eingeschränkt, sofern ein wie auch immer gearteter Druck für den Handelnden<br />

existiert. 106 Der Andere wird nicht mehr als „bloßes Objekt der moralischen<br />

Pflichterfüllung“ 107 wahrgenommen, sondern in seiner individuellen<br />

charakterlichen und charakteristischen Differenzierung erfasst. 108 Es<br />

scheint die Einsicht in die Notwendigkeit der Öffnung und Sorgfalt in der<br />

Rezeption des Anderen verloren gegangen zu sein. Wie bereits angedeutet,<br />

ist dies zumindest zu einem gewichtigen Teil auf den Zielpunkt der Moderne<br />

zurückzuführen, der in der Einheit als Selbstzweck gesehen werden kann.<br />

104 Honneth (2000a: 144f.).<br />

105 Vgl. hierzu White (1991: 21f.).<br />

106 Vgl. hierzu auch die Rezeption bei Habermas (1998: 210ff.) und bei Wellmer (1985).<br />

107 Honneth (2000a: 145).<br />

108 Auch die Diskursethik nimmt diesen Aspekt des „sich Entledigen von Handlungsdruck“<br />

auf. Apel und Habermas beschreiben in den <strong>St</strong>udien zur Diskursethik, dass<br />

diese zeitweilige Distanzierung von Handlungszwang zu einer effektiveren Umsetzung<br />

des diskursethischen Ideals beiträgt. Der ursprünglichen diskursethischen Intention,<br />

den Kantischen Ansatz intersubjektiv zu ergänzen, wird somit nicht nur in<br />

der Form, sondern auch im Wesen Rechnung getragen. Vgl. hierzu Habermas (1981a:<br />

437f.) und Apel, K.-O. [Hrsg.] (1976): Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt. In<br />

ähnlicher Form beschreibt dies auch Kirsch in seiner Kommunikationsanalyse für den<br />

ökonomischen Kontext. Vgl. hierzu Kirsch (1992: 82ff.) und Kirsch, W. (1996): Wegweiser<br />

zur Konstruktion einer evolutionären Theorie der strategischen Führung: Kapitel<br />

eines Theorieprojektes, Herrsching, S. 389ff. Hier wird eine solche Situation als<br />

„handlungsentlasteter Interaktionszusammenhang“ bezeichnet. Dabei wird der Andere<br />

jenseits seiner hierarchischen Position und der sich hieraus ergebenden Rolle<br />

wahrgenommen. Aus wirtschaftsethischer Perspektive ergibt sich eine über die ökonomische<br />

Rationalität hinausreichende Analyse: Mit dieser Identifikation eines<br />

handlungsentlasteten Interaktionszusammenhangs eng verbunden ist der Bezugsrahmen<br />

der Wirtschaftssubjekte. Dieser konstituiert sich aus der ökonomischen Rationalität<br />

heraus und schafft eine Kultur des Handelns, die auf ökonomische Ziele<br />

ausgerichtet ist. Der durch den systemischen Kontext (Markt) erzeugte Sachzwangcharakter<br />

dieser Kultur generiert einen permanenten Druck zur Handlungsaktivität,<br />

die „Überleben“ sichert, so die ökonomistische Sichtweise. Außerhalb dieses Handlungsdrucks,<br />

im so genannten „Kamingespräch“, ist eine völlig unterschiedliche<br />

Kommunikation möglich, die jenseits der ansonsten funktional-instrumentellen intersubjektiven<br />

Verbindung stattfindet.<br />

208


Die „geduldete Toleranz“ hatte hierbei Alibi-Funktion, da eine „aktive Toleranz“<br />

des Anderen in ihrem offenen Charakter nach Auffassung der Moderne<br />

nicht zielführend gewesen wäre. Dies führt zu einem der zentralen<br />

Differenzierungskriterien zwischen Moderne und Postmoderne: Es ist diese<br />

Ergebnisoffenheit, die es der Postmoderne erlaubt, sich eine detailliertere<br />

Wahrnehmung des Anderen zu „leisten“. Wie bereits angedeutet, ist dies<br />

nicht zuletzt eine aus der historischen Erfahrung heraus entstandene Überzeugung.<br />

Die postmoderne Gestaltung der Intersubjektivität zeichnet sich<br />

durch ihren Forumscharakter aus. Die Metapher des „Forums“ findet sich als<br />

komplementärer Gegenpol zu der Metapher des „Faktors“ wieder. Beide<br />

Formen besitzen in ihrem Wesen einen legitimen Anspruch. Das Forum<br />

zeichnet sich durch eine Orientierung an der „idealen Sprechsituation“ aus,<br />

wie sie Habermas (1981) beschrieben hat. In ihr herrschen Prinzipien wie<br />

Akzeptanz, Gleichheit und Gleichberechtigung unter den Aktoren der<br />

Kommunikation. Maßgeblich aber scheint die prinzipielle Ergebnisoffenheit<br />

zu sein, die die diskursiven Beiträge in ihrer inhaltlichen (Meinung) und<br />

formalen (Person) Bedeutung für den Gesamtverlauf der Diskussion gleichberechtigt<br />

berücksichtigt. Der „Faktor“ bezieht seine Legitimation aus der<br />

Notwendigkeit von Konsensorientierung, um als kollektiver Akteur im gesellschaftlichen<br />

Diskurs einen möglichst homogenen Beitrag leisten zu können.<br />

Dieses vielleicht modern, da vereinheitlichend anmutende Element ist<br />

aufgrund seiner zur Moderne differenten Intention von dieser abzuheben. Im<br />

Vordergrund steht nicht wie in der Moderne die Einheit als Selbstzweck, als<br />

per se Legitimes, sondern die Legitimität durch die praxeologische Konse-<br />

quenz. 109<br />

109 Der kollektive Akteur „Diskurs-Gruppe“ beispielsweise ist nicht in diesem Sinne gesellschaftlich<br />

relevant, wenn keine Beiträge zu der gesamtgesellschaftlichen Diskussion<br />

zu erwarten sind. Ihre Bedeutung für den Einzelnen mag sie gewiss haben, jedoch<br />

verlangt die Komplexität des Kommunikationsraumes „Gesellschaft“ nach „akkumulierten“<br />

individuellen Meinungen. Die parlamentarische Demokratie versucht<br />

dieser Tatsache mit ihrem Parteiensystem Rechnung zu tragen. Die Wahrnehmung<br />

des Einzelnen in seiner Einstellung kann also auf gesellschaftlicher Ebene nur in der<br />

organisierten Form (Partikularismus) wahrgenommen werden. Dies legitimiert die<br />

Faktor-Dimension eines kollektiven Akteurs, der zu einer erhöhten Sensibilisierung<br />

für die Andersartigkeit des Anderen beiträgt. Rorty beschreibt diese Sensibilität als<br />

„ästhetische Sensibilität“ und schreibt ihr die Rolle zu, Motor moralischen Fortschritts<br />

zu sein. Vgl. hierzu Rorty, R. (1989): Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt;<br />

Habermas, J. (1999): Die Einbeziehung des Anderen: <strong>St</strong>udien zur politischen Theorie,<br />

Frankfurt.<br />

209


Somit liegt in dem postmodernen Forum der Schwerpunkt auf der Wahrnehmung<br />

der Vielfalt, der pluralen <strong>St</strong>ruktur. Die Moderne steht dieser pluralistischen<br />

Einstellung kritisch gegenüber, da sich durch die plurale Prozesspartizipation<br />

die Prozess- wie auch die Ergebnispromotion im Vergleich<br />

zur Methodik der Moderne diffiziler gestaltet. 110 Aus dieser Perspektive sind<br />

die postmodernen Bemühungen zwar von der Intention her zu legitimieren,<br />

jedoch scheitern sie an dem „Realitäts-Check“. Die Bewährung in der tatsächlichen<br />

Praxis individueller Lebensführung und insbesondere gesellschaftlicher<br />

Lebensweltgestaltung stellt sich aus dieser Perspektive als zentrales<br />

modernes Kriterium dar, an dem sich die Postmoderne messen lassen<br />

muss. Ohne sich auf dieses Kriterium festlegen zu lassen, reagiert die Postmoderne<br />

mit dem Hinweis, dass es grundsätzlich keine Alternative zu der<br />

angestrebten Auflösung moderner Vereinheitlichungen geben kann. Insofern<br />

ist eine Wahrnehmung des Anderen in seiner Andersartigkeit notwendige<br />

Bedingung einer Fortentwicklung. Wie beschrieben, wird das Drängen auf<br />

eine Formulierung auch der hinreichenden Bedingungen stärker. Diese hinreichenden<br />

Bedingungen würden die Aspekte der Prozess- und Ergebnispromotion<br />

berücksichtigen. In dieser neueren Intention sind auch die Bemühungen<br />

um eine postmoderne Ethik zu verstehen. 111<br />

White sieht den Kern einer postmodernen Ethik in dem Erlernen derjenigen<br />

Fähigkeiten begründet, die dazu beitragen, dass zum einen das Heterogene<br />

wahrgenommen und akzeptiert und zum anderen zu dessen Schutz beigetragen<br />

wird. Im Kontext von Ethik und dem intersubjektiven Bezug werden<br />

diese Fähigkeiten als „Tugenden“ bezeichnet und somit die „Idee einer<br />

postmodernen Ethik in Form der Ausarbeitung einer Tugendlehre entfaltet“<br />

112. Honneth identifiziert im Ansatz von White zudem einen komplementären<br />

Charakter in Bezug auf an Kant angelehnte Konzeptionen:<br />

210<br />

„Von hier aus ist nun aber unschwer zu durchschauen, daß die von White<br />

umrissene Ethik nicht eigentlich in einem Gegensatz, sondern in einem Ergänzungsverhältnis<br />

zu jener Moraltheorie steht, die die Intentionen Kants<br />

unter intersubjektivitätstheoretischen Prämissen fortzusetzen versucht.“ 113<br />

110 Vgl. die Ausführungen zu Prozess- und Ergebnispromotion in Entscheidungsprozessen<br />

bei Kirsch (1994: 234ff.).<br />

111 Parallel hierzu ist bereits in Abschn. 5 die wissenschaftstheoretische Diskussion skizziert<br />

worden, in der von einer „Moderne mit postmodernen Mitteln“ gesprochen<br />

wurde.<br />

112 Honneth (2000a: 146).<br />

113 Honneth (2000a: 147).


Somit wird zusätzlich zu dem Sensibilitätsvorhaben die Perspektive einer<br />

überdauernden Veränderung der individuellen Einstellungen zueinander<br />

deutlich. Der kontinuierliche Prozess der Einsicht trägt irreversiblen Charakter;<br />

er führt in der idealen Konsequenz über die individuelle Veränderung<br />

zu einem nachhaltigen Wandel des Miteinanders.<br />

Die von White identifizierten notwendigen Einstellungen („Tugenden“) des<br />

Individuums weisen in ihrer Gesamtheit einen Charakter auf, den White<br />

selbst auch mit dem Begriff der „Fürsorge“ vergleicht. 114 Es bleibt in der<br />

Betrachtung dieser Argumentation zu analysieren, in welcher Art und Weise<br />

die Gleichbehandlung der Moderne eine Modifikation erfährt. Die „Fürsorge“<br />

allein scheint hierfür eine nicht ausreichend ausgewogene Konzeption<br />

darzustellen.<br />

Zunächst einmal ist das Verhältnis zur Diskursethik zu skizzieren. Der<br />

moralische Diskurs in der „idealen Sprechsituation“ scheint nicht voraussetzungsfrei<br />

zu sein. Die Motivation eines jeden Akteurs, der beabsichtigt, sich<br />

in diese Situation zu begeben, konstituiert sich im idealen Fall aus der Überzeugung<br />

der Legitimität der diskursethischen Methode. Diese Legitimität<br />

gründet sich jedoch ihrerseits wieder auf moralische Überzeugungen, die<br />

bereits mit dem universalistischen Gleichheitsprinzip der Moderne und<br />

seiner Weiterentwicklung in der Postmoderne beschrieben wurden. Insofern<br />

hat die individuelle Überzeugung des am moralischen Diskurs Teilnehmenden<br />

auch auf diese Inhalte zu reflektieren. In dieser Annahme der Voraussetzung<br />

der Diskursethik ist das bindende Glied zwischen dem Ansatz von<br />

White und der Diskursethik zu identifizieren. Während die Diskursethik<br />

tendenziell eher auf die Methode fokussiert, beschreibt White die individuellen<br />

Einstellungen, die sich aus dem Kontext der Postmoderne ergeben und<br />

die Einsicht in die Notwendigkeit der Wahrnehmung des Anderen beinhalten,<br />

und ergänzt auf diese Weise, wie auch die hier entwickelte Konzeption,<br />

das diskursethische Programm im Bereich der Voraussetzungen.<br />

White selbst bezieht eindeutig <strong>St</strong>ellung gegen die Habermassche Position<br />

bzw. auch gegen die Behauptung der Moderne, alles in sich abbilden zu<br />

können, und beschreibt dies, teilweise ein wenig polemisch, durch das Erzählen<br />

einer Anekdote:<br />

114 Vgl. hierzu White (1991: 99f.).<br />

211


212<br />

„This point [the belief of the modernists, that the problem of otherness can be<br />

adequately settled within their frameworks; T.B.] came most clearly to me<br />

when I presented a paper on this topic and a staunch Habermasian brushed<br />

my concerns aside with the claim that we could have a virtual, „advocatory<br />

discourses“ in which we represent those others who cannot in some sense<br />

effectively speak for themselves: the insane, children, past generations, future<br />

generations, those who have no sense of political efficacy, and so on. My<br />

answer is that one must certainly try to do this, but in doing it, we must carry<br />

a deeply tragic sense of the inevitable seriousness with which one takes the<br />

responsibility to otherness, one will always be susceptible to a subtle and<br />

blinding overconfidence. The declaration that the problem of otherness is<br />

solved by the use of the mechanism of virtual, advocatory discourses is<br />

perhaps something like a twentieth-century version of Britain’s eighteenthcentury<br />

assertion to the American colonists that they should be satisfied with<br />

virtual representation in Parliament.“ 115<br />

White führt weiter aus, dass er in diesem Zusammenhang zwei Arten der<br />

Rezeption von Sprache unterscheidet. Die eine ist die Interpretation, dass<br />

Sprache Handlungen koordiniert (action-coordinating), die andere sieht<br />

Sprache in ihrem Charakter, den Blick auf die Welt freizugeben (worlddisclosing).<br />

116 Wenn man die postmoderne Position mit der zweiten Art in<br />

Verbindung bringt, die auch an Derrida erinnert, so kommt zum Ausdruck,<br />

für welche Dimension die Postmoderne sich stark macht. 117<br />

Auch wenn der Diskurs als Vollzugsform hier keine explizite Auseinandersetzung<br />

erfährt, so bedeutet dies nicht, dass die hier vorgestellte Position<br />

nicht mit den diskursethischen Positionen kompatibel ist. Die Kompatibilität<br />

kommt in der Einsicht in die Notwendigkeit der spezifischen Wahrnehmung<br />

des Anderen zum Ausdruck. Jedoch beschreiben die Wahrnehmung, also die<br />

Einstellung zum Anderen und die tatsächliche Umsetzung dieser Beobachtungsergebnisse<br />

in der Kommunikation unterschiedliche Prozessstufen.<br />

In diesem Sinne fokussiert die hier entwickelte Position die Einstellung zum<br />

Anderen und bewegt sich damit auf der diskursethischen Voraussetzungsebene.<br />

Als Ausdifferenzierung der Voraussetzung ist sie mit der Diskursethik<br />

immanent verbunden.<br />

Auf dieser „Vorstufe“ des Diskurses greift Honneth auf das allgemein rezipierte<br />

Modell der Rollenübernahme von Mead zurück, das in der postmo-<br />

115 White (1991: 22; Fußnote 18).<br />

116 Vgl. White (1991: 22ff.).<br />

117 Die Kritik von White und die dahinter stehende postmoderne Position hat implizit<br />

auch Einzug in die hier entwickelte Konzeption gefunden.


dernen Sensibilisierung für die Wahrnehmung des Anderen kennzeichnend<br />

geworden ist. 118 In der moralischen Konnotation erscheint die Übernahme<br />

der Rolle des Anderen, um zu einem ausgewogeneren Bild der kommunikativen<br />

Situation zu gelangen, nicht nur als kognitiver, sondern auch als affektiver<br />

Vorgang rekonstruierbar. Die Diskursethik stützt sich überwiegend auf<br />

die kognitive Dimension der wechselseitigen Verständigung mit der Begründung,<br />

den Diskurs nicht von subjektiv affektiven Emotionen abhängig<br />

zu machen. Jedoch ist diese affektive Einstellung der Diskursteilnehmer<br />

nicht nur personenbezogen und bipolar zu verstehen. 119 Sie kann sich genauso<br />

gut auf der „Vorstufe“ der diskursiven Voraussetzungen entwickeln,<br />

auf der die eigentlichen Diskursteilnehmer noch nicht bekannt sind und somit<br />

auch keine individuell personenbezogene Affektion möglich wäre. Der<br />

Charakter der Affektion erhält auf diese Weise einen überindividuellen Inhaltsbezug,<br />

der die Subjektabhängigkeit zumindest auf der Seite des Gegenübers<br />

relativiert. 120<br />

Dies ließe sich in Anlehnung an die hier entfaltete Argumentation als die<br />

Einsicht in die überindividuelle Notwendigkeit der Wahrnehmung des Anderen<br />

beschreiben und stellt auf diese Weise den prinzipiellen Charakter dieser<br />

Art der Affektion heraus. Habermas ist zwar dieser Ebene der Affektion<br />

im Kontext des Diskurses nicht sehr nahe, doch erwähnt er zumindest, „daß<br />

eine universalistische Moral der „Übereinstimmung“ mit postkonventionellen<br />

Bewußtseinsformen bedarf“ 121. Honneth sieht hierin eine Anlehnung der<br />

empirischen Position von Habermas an die normative Deutung, wie sie<br />

White vornimmt, und resümiert:<br />

„(...) was jener [White; T.B.] im Rückgriff auf Heidegger als Fähigkeit zur Vergegenwärtigung<br />

individueller Besonderheiten beschrieben hat, ist ein zentrales<br />

Element der kommunikativen Tugenden, die hier als personale Voraussetzungen<br />

von moralischen Diskursen in Anschlag gebracht werden können.“ 122<br />

118 Vgl. die Ausführungen bei Ulrich (1998: 79ff.). Vgl. hierzu auch Mead, G.H. (1973):<br />

Geist, Identität und Gesellschaft (Chicago 1934), Frankfurt.<br />

119 Dies soll bedeuten, dass eine affektive Einstellung zum einen nicht nur zwischen zwei<br />

Personen entstehen kann, sondern auch zu einer Überzeugung, zu einer „Sache“ entwickelt<br />

werden kann und zum anderen, dass sich die Affektion auf mehrere Personen<br />

in ihrer Bedeutung als Gruppe beziehen kann. Endpunkt wäre im Letzteren die gemeinschaftliche<br />

Gesellschaft - letztlich auch über die nationalen Grenzen hinaus.<br />

120 Dass diese personengebundene Dimension an späterer <strong>St</strong>elle wieder aufgenommen<br />

wird, steht zu dieser Annahme auf der Voraussetzungsebene nicht im Widerspruch.<br />

121 Habermas (1991: 25; Hervorhebungen im Original, zitiert nach Honneth 2000a: 153).<br />

122 Honneth (2000a: 153).<br />

213


Bislang bewegen sich die Argumentationen in der mehr oder minder stringenten<br />

Fortführung der Kantischen Moralphilosophie und dem Gleichheitsprinzip<br />

der Moderne. Angeklungen sind aber bereits die „ästhetische Sensibilität“<br />

(Rorty), die „Fürsorge“ (White) oder der „stumme Widerstreit“<br />

(Honneth in Bezug auf Lyotard), welche scheinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz<br />

harmonieren. Bei einer näheren Betrachtung jedoch fällt auf, dass<br />

insbesondere im Begriff der „Fürsorge“ eine Asymmetrie impliziert ist, die<br />

mit der gerechten Gleichbehandlung der Moderne nicht vollständig in Einklang<br />

zu bringen ist. Wie Honneth ausführt, ist es Derrida, der seinerseits in<br />

Bezug auf Lévinas den bisherigen Erkenntnissen und Fortführungen von<br />

Kant eine qualitativ neuartige, weil die Moderne transzendierende Erkenntnis<br />

hinzufügen kann. Im Anschluss an einen Kernpunkt seiner Forschung,<br />

der „individuellen Besonderheit“, entwickelt Derrida die umfassende Wahrnehmung<br />

des Anderen im Gegensatz zu dem Gleichheitsprinzip der Moderne:<br />

214<br />

„Im Unterschied zu White sieht er [Derrida; T.B.] diese kritische Einsatzstelle<br />

aber nicht dort angelegt, wo in der philosophischen Tradition seit Kant die<br />

moralische Perspektive der Gerechtigkeit ihren Platz hat; seine These ist vielmehr,<br />

daß dem individuellen Subjekt in seiner Differenz zu allen anderen nur<br />

eine moralische Perspektive gerecht zu werden vermag, die sich in einem<br />

Verhältnis der produktiven Entgegensetzung zur Idee der Gleichbehandlung befindet.“<br />

123<br />

Derrida, wie auch Lévinas, geht es darum, die Gerechtigkeit in ihrer Gleichbehandlung<br />

des verallgemeinerten Gegenübers und ihrer fürsorglichen<br />

Ungleichbehandlung des individuellen Gegenübers zu begreifen. Dabei sind<br />

die Ausführungen von Lévinas, der diese Formen der (Un-)Gleichbehandlung<br />

in eine Konzeption von Gerechtigkeit integriert, Ansatzpunkt für<br />

Derridas Bemühungen, der aber das Zusammenspiel der Formen eher dialektisch<br />

interpretiert. Der Freundschaftsbegriff spielt hierbei eine zentrale<br />

Rolle in der Argumentation von Derrida und ist seit jeher von Interesse für<br />

die praktische Philosophie, weil er exemplifiziert, „wie zwei unterschiedliche<br />

Einstellungen der Moral in einem einzigen Sozialverhältnis eine Einheit zu<br />

bilden vermögen“ 124. Es ist dies auf der einen Seite die asymmetrische Verpflichtung,<br />

die sich auf uneingeschränkte Sympathie und Zuneigung grün-<br />

123 Honneth (2000a: 155f.; Hervorhebungen vom Verfasser).<br />

124 Honneth (2000a: 156).


det, nicht nach einer direkten Gegenleistung fragt, und auf der anderen Seite<br />

die reziproke verpflichtende Verflechtung, die die prinzipielle Form<br />

menschlicher Gesamtheit in der direkten Beziehung zwischen zwei Menschen<br />

reflektiert.<br />

In Anlehnung an seine Interpretationen des modernen Rechts begreift Derrida<br />

die Gleichbehandlung des Individuums rechtlich als Chancengleichheit,<br />

die die Freiheit des Individuums im rechtlichen Rahmen betrifft: einem jeden<br />

steht die gleiche, wenn auch begrenzte Freiheit zu. Sobald es aber um die<br />

Rechtsprechung geht, also um die Anwendung des Rechts, bezieht sich<br />

Derrida auf die „Idee einer Gerechtigkeit gegenüber der „Unendlichkeit“ des<br />

konkreten Anderen“ 125. Er verlässt damit auf der Ebene der Anwendung den<br />

Grundsatz der Gleichheit und spricht sich für eine individuelle Behandlung<br />

aus, die sich an der „Unendlichkeit“ des Anderen orientiert. Das bedeutet,<br />

dass das, was für die Kodifizierung auf der verallgemeinerten Ebene gilt, im<br />

konkreten Fall durch die normative Idee der besonderen Wahrnehmung des<br />

Anderen ergänzt werden muss. Diese Differenzierung von Derrida wird in<br />

ähnlicher Form bei Lévinas vorgenommen und geht auch auf diesen zurück.<br />

Lévinas ist trotz oder gerade wegen seiner starken Prägung durch seine<br />

Lehrer Heidegger und Husserl in eine Gegenposition zu der traditionellen<br />

Philosophie und ihrer ontologischen Orientierung getreten. Diese Gegenposition<br />

ist aber eine produktiv-dialektische, die nicht substituiert, sondern<br />

komplementiert. Das Komplement jedoch, das er in Beziehung zu der philosophischen<br />

Ontologie setzt, steht nicht gleichberechtigt neben ihr, sondern<br />

löst die Ontologie in ihrer Vormachtstellung ab. Es ist die Ethik, welcher der<br />

Vorzug gelassen wird, wenn es um die Deutung zwischenmenschlicher Begegnungen<br />

und deren Kommunikation untereinander geht. Lévinas findet<br />

seinen Ausgangspunkt dort, wo angenommen wird, dass jede intersubjektive<br />

Aktion, also das Verhältnis von Menschen zueinander an sich normativ<br />

interpretiert werden kann und muss. Das Normative ergibt sich aus der umfassenden<br />

Betrachtung der konkreten Situation, in der intersubjektiv gehandelt<br />

wird.<br />

Dieses „Erfahrungsfeld des Moralischen“ 126 wäre nur partiell beschrieben,<br />

würde man es bei den Deskriptionen bezüglich eines Grundsatzes der<br />

Gleichheit gegenüber dem verallgemeinerten Anderen bewenden lassen. Die<br />

125 Honneth (2000a: 159).<br />

126 Honneth (2000a: 157).<br />

215


Norm ergibt sich aus der Reflexion der Anwendung: Die moralische Erfahrung<br />

mit dem individuell Anderen vermittelt die Ahnung einer Unendlichkeit<br />

des Gegenübers. Gerade in dem sorgfältigen Erkennen der vielfältigen<br />

Verschiedenheit des Anderen liegt bereits der moralische Vollzug, der sich<br />

durch Reflexion, d. h. in diesem Fall: die Einordnung in ein gemeinschaftliches<br />

Ganzes (solidarische Gemeinschaft), zu einer Ethik entwickeln kann.<br />

Die Einordnung in ein innerweltliches Ganzes dagegen fordert ein adäquates<br />

Äquivalent zu der Unendlichkeit des Anderen; dieses Äquivalent kann nur<br />

in einer unendlichen Bezogenheit auf den Anderen in Form grenzenloser<br />

Fürsorge bestehen.<br />

Zu dem Grundsatz der Gleichbehandlung tritt also der Grundsatz der Fürsorge,<br />

der streng genommen der „traditionellen“ Gleichbehandlung entgegensteht.<br />

Welchem Grundsatz gefolgt werden soll, dies lässt Lévinas einen<br />

imaginären Dritten entscheiden, der die Grundsätze des modernen Rechts<br />

vertritt. Damit drängt das Moment der Gerechtigkeit in die Entscheidungssituation<br />

und kann nur eliminierend auf die Fürsorge wirken und somit die<br />

mühsam entwickelte Argumentation Lévinas zunichte machen. Aus diesem<br />

Grund entscheidet er sich, die Gerechtigkeit als etwas zu beschreiben, was<br />

„stets über die Gerechtigkeit selbst hinaustreibt“ 127. Dies ließe sich derart<br />

deuten, dass die Semantik der Gerechtigkeit in eine neue, in Bezug auf die<br />

Unendlichkeit: transzendentale Qualität überführt wird, in der zwar immer<br />

noch der Grundsatz der Gleichbehandlung wirkt, jedoch neben sich die<br />

asymmetrische <strong>St</strong>rukturcharakteristik der Fürsorge systematisch zu integrieren<br />

weiß. In der Spinnerschen Rationalitäten-Differenz gesprochen, wäre<br />

die Gleichbehandlung somit in der prinzipiellen Rationalität des modernen<br />

Rechts verankert, wohingegen die okkasionelle Rationalität im konkreten<br />

Einzelfall, im konkreten Anderen zum Zuge kommt. In ihrem Geltungscharakter<br />

mögen die Grundsätze differieren (prinzipiell vs. situativ), doch in<br />

ihrem Geltungsanspruch stehen sie in der Postmoderne als komplementäre<br />

Teile gleichberechtigt nebeneinander.<br />

Es ist unter anderem durch die Darstellung der Rendtorffschen Konzeption<br />

deutlich geworden, dass der inhaltliche Dialog nicht nur innerhalb der philosophischen<br />

Disziplin, sondern auch über deren Grenzen hinaus insbesondere<br />

mit der theologischen Disziplin geführt wird. Bei Fragen moralischer Be-<br />

127 Honneth (2000a: 163).<br />

216


gründungen durch Reflexion mögen diese Disziplinen augenscheinlich die<br />

besten Voraussetzungen mitbringen und deren Dialog miteinander ist wohl<br />

selten fruchtbarer gewesen. Auch wenn Derrida zwischen dem Grundsatz<br />

der Gleichbehandlung und dem der Fürsorge als moralische Orientierungen<br />

keine sich aufdrängenden permanenten Verbindungen sieht, so verweist er<br />

doch auf die Möglichkeit eines situativen Perspektivenwechsels, der gewaltsame<br />

Züge tragen mag, jedoch um der Gerechtigkeit Willen zu vollziehen<br />

ist. 128 Aus Sicht des Dekonstruktivismus ist diese Akzeptanz einer nicht nur<br />

identifizierten, sondern auch als Form einer asymmetrischen Verpflichtung<br />

wahrgenommenen Verschiedenartigkeit ein Schritt aus der streng deskriptiven<br />

Position heraus.<br />

11.3 Die andere Gemeinschaft – von der Einstellung zur Anerkennung<br />

des Anderen<br />

Im Blick auf die konkrete, auch diskursive Situation des Sozialen, die vor<br />

allem in der abschließenden Betrachtung des sozialen Systems „Unternehmung“<br />

interessiert, ist eine Spezifizierung bezüglich der Art und Weise der<br />

Berücksichtigung des Nicht-Identischen und dessen Verhältnis zu den unterschiedlichen<br />

kriterialen Grundsätzen notwendig. Was macht nun genau die<br />

personale Heterogenität aus?<br />

Individualität kann sich nach Honneth in der „Singularität des Sprachspiels,<br />

in der unaufhebbaren Differenz aller menschlichen Wesen oder in der konstitutiven<br />

Hilfsbedürftigkeit des einzelnen Menschen“ 129 ausdrücken. Deren<br />

Berücksichtigung kann darum als „erweiterte Form der sozialen Gleichbehandlung,<br />

als <strong>St</strong>eigerung der ethischen Sensibilität oder als asymmetrische<br />

Verpflichtung zwischen Personen“ 130 interpretiert werden. 131 Aus dieser<br />

Differenzierung lässt sich im Vergleich zu den bisher vorgestellten Differenzierungskriterien<br />

in der Postmoderne-Debatte und der Vernunft-Konzeption<br />

von Welsch die letzte Alternative als ein qualitativ Neuartiges identifizieren.<br />

Die Hilfsbedürftigkeit von Menschen, deren Berücksichtigung eine asym-<br />

128 Vgl. die Ausführungen bei Honneth (2000a: 164f.).<br />

129 Honneth (2000a: 134).<br />

130 Ebenda.<br />

131 Auch Tugendhat stellt die Bedeutung der Gemeinschaft für die eigene Identitätskonstruktion<br />

dar und prüft die Aussage, ob „das Individuum sich eigentlich zu sich nur<br />

verhält, indem es sich in einem affirmativen Verhältnis zu seiner Gemeinschaft weiß“<br />

(Tugendhat 1979: 319).<br />

217


metrische Handhabungsstruktur hervorruft, fordert das Prinzip der Gleichbehandlung<br />

dermaßen heraus, dass dieses transzendierend komplettiert<br />

wird. Dass sich kein Paradoxon ergeben muss, wenn man das Prinzip der<br />

Gleichbehandlung einschränken will, soll im Folgenden gezeigt werden. 132<br />

Lyotard kommt, wie bereits erläutert, in seiner sprachwissenschaftlichen<br />

Analyse zu dem Schluss, dass unterschiedliche Diskursarten zueinander inkommensurabel<br />

sind und jeweilige Sätze aus diesen Diskursarten bei ihrem<br />

Aufeinandertreffen einen „Widerstreit“ provozieren. Es ist nicht einmal ein<br />

Vergleich zwischen beiden Sätzen möglich. Folgen sie aufeinander, so eliminiert<br />

der zweite Satz den ersten samt seiner Geltungsansprüche. 133 Durch<br />

den „Re-Import“ des die Diskursarten legitimierenden und anwendenden<br />

Individuums belegt Lyotard die an sich deskriptive Analyse normativ. Individuen<br />

als Träger von Rechten und Ansprüchen machen deutlich, dass eine<br />

Eliminierung von Sätzen einer Ignoranz gleichkommt, einer Unterdrückung<br />

derjenigen, die diese artikuliert haben. <strong>St</strong>ellt sich dann heraus, dass bestimmte<br />

Diskursarten überdurchschnittlich eliminieren, also „überstimmen“,<br />

andere dagegen häufiger überstimmt werden, dann ergibt sich vor dem<br />

Hintergrund der damit einhergehenden Überstimmung des Individuums<br />

und seiner an sich gleichberechtigten Artikulation ein Ungleichgewicht, das<br />

langfristig zum faktischen Ausschluss derselben aus dem gesellschaftlichen<br />

Diskurs führen kann.<br />

Dies beschreibt, wenn auch aus einer anderen Perspektive, die dieser Arbeit<br />

zugrunde liegende These in Bezug auf die ökonomische Rationalität. Die<br />

ökonomische Dominanz in unserer Gesellschaft wird auf diese Weise einer<br />

ethischen Reflexion zugeführt, die postmodernen Parametern Rechnung<br />

trägt. So fordert Honneth mit Bezug auf Lyotard explizit:<br />

218<br />

„(...) weil in unserer Gesellschaft bestimmte Diskursarten, darunter vor allem<br />

die des positiven Rechts und der ökonomischen Rationalität, zu einer institutionell<br />

gesicherten Vorherrschaft gelangt sind, bleiben bestimmte Sprachspiele<br />

132 Dabei sei überwiegend der Argumentation und Darstellung bei Honneth (2000a:<br />

136ff.) gefolgt. Von besonderem Interesse sind jedoch die Parallelen, die sich zu den<br />

vorherigen Kapiteln ergeben.<br />

133 Siehe hierzu die Bemerkungen zur Historie von Honneth (2000a: 138), welcher, mit<br />

Verweis auf Lyotard, Beispiele dieser Eliminierung aufführt. So sind es bspw. die<br />

Holocaust-Überlebenden, die ihre moralischen Ansprüche nur schwerlich artikulieren<br />

können, es sei denn, sie lassen sich auf die Diskursart des formalen Rechts ein. Auch<br />

der Arbeiter wird genannt, der mit seinen Anliegen nur bedingt in der ökonomischen<br />

Rationalität, also der Management-Ebene abbildbar ist.


anderer Geltungsart auf Dauer von der gesellschaftlichen Artikulation ausgeschlossen.<br />

Um diesen „stummen“ Widerstreit der Gefahr des Vergessens zu<br />

entreißen, bedarf es einer politisch-ethischen Haltung, die der sozial verdrängten,<br />

abweichenden Seite zur Artikulation verhelfen kann.“ 134<br />

Die Feststellung, dass die ökonomische Rationalität eine institutionelle Verankerung<br />

erfährt, ist ein Befund, der über die in dieser Argumentation vorgestellten<br />

Befunde hinausgeht. Die institutionelle Integration erst lässt es<br />

legitim erscheinen, von einer systematischen Verdrängung zu reden, wie dies<br />

auch bei Habermas und Ulrich vielfach beschrieben wird. Die daraus resultierende<br />

systematische Spannung gründet sich auf einen Widerspruch gesellschaftlich<br />

geteilter Werte mit den faktisch zur Anwendung gelangten Praktiken.<br />

Demnach konfligiert der Gleichheitsgrundsatz mit einer Form von Gerechtigkeit,<br />

die sich anscheinend eher marktkonform als sozial rekonstruiert. Eine<br />

soziale Form von Gerechtigkeit bezüglich des Gleichheitsgrundsatzes würde<br />

sich in dem Anliegen ausdrücken, „allen Subjekten die gleiche Chance zur<br />

öffentlichen Artikulation ihrer Interessen und Bedürfnisse zu verschaffen“ 135.<br />

Honneth macht damit Anleihen bei einer radikal- bzw. basis-demokratischen<br />

Idee und deren möglichst effektiven Umsetzung im Gesellschaftssystem.<br />

Ähnlich dem republikanischen „Programm“ von Ulrich geht mit diesem Ansatz<br />

die Identifizierung des Einzelnen in seiner Beziehung zum Mitmenschen,<br />

zur Gesellschaft und zum <strong>St</strong>aat einher. In dieser individuellen Lokalisierung<br />

werden Verantwortungs- aber auch Gesinnungssystematiken transparent,<br />

die die gesellschaftliche, soziale und politische Wahrnehmung des<br />

Einzelnen möglich machen. Damit dieser Wahrnehmungsprozess nicht zum<br />

Scheinprozess verkommt, sind Gestaltungsmaßnahmen auf allen staatlichen<br />

Ebenen notwendig, die der Wahrnehmung tatsächliche Möglichkeiten folgen<br />

lassen. Unter Möglichkeiten sind im Zusammenhang der Überlegungen von<br />

Lyotard und seiner Rezeption durch Honneth die Gleichberechtigung der<br />

Diskursarten im gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu verstehen.<br />

Im Gegensatz zu Habermas ist Lyotard in seinen Arbeiten zum postmodernen<br />

Wissen und zur Sprachtheorie der Überzeugung einer deskriptiven und<br />

nicht kritisch-theoretischen Wissenschaftspraxis gefolgt. In diesem Sinne ergäbe<br />

sich trotz der „moralischen“ Aufladung durch den Import von Indivi-<br />

134 Honneth (2000a: 139; Hervorhebungen vom Verfasser).<br />

135 Honneth (2000a: 139).<br />

219


dualrechten, wenn überhaupt, die Konsequenz einer ethischen Sensibilisierung,<br />

die die Asymmetrien transparent macht. Nur schwerlich ließe sich<br />

hieraus ein normatives Konzept entwickeln, wie es Habermas in seiner Diskursethik<br />

umsetzt. Auch wenn sich die Diskursethik von diskreten Werten<br />

und Normen ganz im Kantischen Sinne löst und eine Harmonisierung zwischen<br />

den so heterogenen Auffassungen der individuellen Akteure nur über<br />

ein homogenes Procedere der kommunikativen Interaktion zu erreichen<br />

trachtet, so beinhaltet diese Konzeption doch den dezidierten Versuch, in<br />

einem zumindest partiell normativen Ansatz die (Artikulations)Rechte des<br />

Einzelnen durchzusetzen. Der im Gegensatz zu Kant stark intersubjektive<br />

Charakter des Habermasschen diskursiven Prozesses trägt dem Gleichheitsgrundsatz<br />

in komparativer und normativer Weise Rechnung:<br />

Zum einen trägt der Grundsatz der Gleichheit das komparatistische Element<br />

in sich, denn Gleichheit ist nur festzustellen oder abzulehnen, wenn mit<br />

Nicht-Identischem, also einem beliebigen Anderen verglichen wird. Intersubjektivität<br />

weist somit einen ähnlichen Grad an komparatistischer Aktivität<br />

auf, wie es die Gleichheit implizit fordert. Über diese Wesensverwandtschaft<br />

hinaus scheint jedoch noch eine weitergehende Übereinstimmung<br />

notwendig. Wie mit dem Begriff des „impliziten Forderns“ bereits angedeutet<br />

wurde, ist dem normativistisch-programmatischen Charakter der Gleichheit<br />

Rechnung zu tragen, wenn dieser sich auf das Verhältnis der Menschen<br />

zueinander bezieht und sich am Prozess der Gestaltung eigener Lebensweltlichkeit<br />

und Lebensführung orientiert. Der bloßen Identifikation von Gleichund<br />

Ungleichheit folgt unweigerlich das, was weiter oben bereits mit Möglichkeit<br />

bezeichnet wurde. Diese Möglichkeit bezieht sich auf die tatsächliche<br />

Ausübung von Gleichheit, auf das wirksame Leben von Gleichheit. Die Prozessorientierung<br />

von Habermas kann diesem normativen Charakter zumindest<br />

im Ansatz gerecht werden. Im kategorischen Imperativ von Kant ist dagegen<br />

weder die Intersubjektivität in der Weise angelegt, noch ließe sich behaupten,<br />

dass dieser Imperativ die Beschreibung eines tatsächlichen Prozesses<br />

darstellt. Auch wenn der Kantische Imperativ als Ausgangspunkt<br />

auch für die Habermassche Konzeption dient, so ist erst diese Weiterentwicklung<br />

in ihrer neuartigen Qualität rezipierbar für die hier vorgestellte<br />

Rekonstruktion einer Ethik im Kontext von Postmoderne. Insbesondere die<br />

„transzendierende Idee eines herrschaftsfreien Diskurses“ 136, die als Gel-<br />

136 Honneth (2000a: 141).<br />

220


tungsbedingung von moralischen Normen argumentativ entwickelt wird, ist<br />

durch ihre Nähe zum Gleichheitsgrundsatz anschlussfähig an das „Andere“<br />

der Gerechtigkeit, wie sich auch Habermas ausdrückt. 137<br />

„Solidarität ist für Habermas deswegen die andere Seite der Gerechtigkeit,<br />

weil in ihr sich alle Subjekte wechselseitig um das Wohl des jeweils anderen<br />

bemühen, mit dem sie zugleich als gleichberechtigte Wesen die kommunikative<br />

Lebensform des Menschen teilen.“ 138<br />

Jedoch, und dies wird in diesem Zitat deutlich, bewegt sich Habermas in einem<br />

Zirkel der Voraussetzungen, den auch Honneth anmahnt. Der Zustand<br />

der Gleichberechtigung der „Wesen“ in einer kommunikativen Lebensform<br />

ist ihrerseits wieder an Bedingungen gebunden, die eine Form von Wertegemeinschaft<br />

beschreiben. Die Entstehung einer Wertegemeinschaft wiederum<br />

erfordert einen Prozess der Vergegenwärtigung von Gemeinsamkeiten<br />

mit Anderen, welche Anstrengungen des Erhalts dieser Gemeinschaft<br />

rechtfertigt.<br />

„Nun kann sich ein derartiges Gefühl der sozialen Zugehörigkeit zu einer<br />

gemeinsamen Lebensform überhaupt nur in dem Maße bilden, in dem auch<br />

Belastungen, Leiden und Aufgaben als etwas Gemeinsames erfahren werden;<br />

und weil sich eine derartige Erfahrung gemeinsamer Belastungen und Nöte<br />

wiederum nur unter der Bedingung kollektiver Zielsetzung entwickeln kann,<br />

die Definition solcher Ziele aber allein im Lichte geteilter Werte möglich ist,<br />

bleibt die Entstehung eines Gefühls der sozialen Zugehörigkeit zwangsläufig<br />

an die Voraussetzungen einer Wertegemeinschaft gebunden.“ 139<br />

Folgt man dem Gedanken des „Anderen“ – ob Person, Gerechtigkeit oder<br />

Vernunft – in den weiteren sozialen Rahmen hinein, ergibt sich zumindest<br />

ein zentraler Gedanke, der noch nicht Diskurs selbst ist, doch immanent mit<br />

ihm verbunden. Die beschriebene Sukzession von Ahnung-Einsicht-Setzung<br />

führt von der anderen Seite ebenso auf diesen Gedanken; es ist der Gedanke<br />

der Anerkennung. Anerkennung in der sozialen Gemeinschaft kommt bereits<br />

in materialen Parametern (bspw. kodifiziertes Recht) zum Tragen, ist aber<br />

selbst nicht Diskurs, doch dem Diskurs näher als die hier skizzierte Einstellung<br />

- nicht inhaltlich, sondern prozessual. Honneth selbst entwickelt, in<br />

137 Vgl. hierzu Habermas (1991: 70).<br />

138 Honneth (2000a: 168).<br />

139 Ebenda.<br />

221


einer jüngeren Veröffentlichung, diesen Gedanken aus seinen Überlegungen<br />

der letzten Jahre heraus: 140<br />

222<br />

„An die <strong>St</strong>elle dieser einflussreichen Idee von Gerechtigkeit, die sich politisch<br />

als Ausdruck der sozialdemokratischen Epoche begreifen lässt, scheint nun<br />

seit geraumer Zeit eine neue Vorstellung zu treten, die politisch zunächst viel<br />

weniger eindeutig wirkt: nicht mehr die Beseitigung von Ungleichheit stellt<br />

hier scheinbar das normative Ziel dar, sondern die Vermeidung von Entwürdigung<br />

oder Missachtung, nicht mehr „Gleichverteilung“ oder „Gütergleichheit“<br />

sondern „Würde“ oder „Respekt“ bilden ihre zentralen Kategorien.“ 141<br />

Aus diesen zentralen Kategorien verweist Honneth auf den Begriff der Anerkennung,<br />

der an sich in der praktischen Philosophie nicht neu ist, jedoch<br />

relevante aktuelle Bezüge erfährt. 142 Als Gründe für den aktuell zu beobachtenden<br />

Wandel bietet Honneth zwei alternative Deutungen an:<br />

Zum einen ließe sich der Wandel als Ergebnis einer „politischen Ernüchterung“<br />

143 deuten, die aufgrund der jüngsten Siege konservativer Parteien auf<br />

internationaler Ebene eingetreten ist. Dies hat Hoffnungen auf eine ökonomische<br />

Umverteilung zerstört. Übrig bleibt, zumindest eine „Beseitigung von<br />

Entwürdigung und Missachtung“ 144 zu erreichen.<br />

140 Es sei hier angemerkt, dass die bisher am häufigsten zitierte Quelle von Honneth<br />

(Honneth 2000a) einen Aufsatzband darstellt, aus dem bisher diejenigen Aufsätze zitiert<br />

wurden, die entstehungsgeschichtlich vor dem nun zitierten Aufsatz in demselben<br />

Band liegen. Außerdem wird auf einen ebenso später erschienenen Beitrag verwiesen:<br />

Honneth, A. (2000b): Anerkennung oder Umverteilung? Veränderte Perspektiven<br />

einer Gesellschaftsmoral, in: Ulrich/Maak (2000a), S. 131-150, welcher als Vortrag<br />

von selbigem in einem öffentlichen Zyklus anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der<br />

<strong>Universität</strong> <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong> gehalten wurde. Dieser Vortrag fasst „einige Überlegungen<br />

programmatisch zusammen“, die Axel Honneth „in den letzten Jahren an verschiedenen<br />

Orten systematisch entwickelt“ (Honneth 2000b: 131) hat.<br />

141 Honneth (2000b: 131f.).<br />

142 Honneth selbst zeigt die Verwendung dieses Begriffs bei Fichte und Hegel. Vgl.<br />

hierzu Fichte, J.G. (1971): Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre,<br />

in: Fichte, I.H. (Hrsg.), Fichtes Werke III, Zur Rechts- und Sittenlehre I,<br />

Berlin; Hegel, G.W.F. (1967a): Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur<br />

Philosophie der Natur und des Geistes von 1805-1806, hrsg. von Johannes Hoffmeister,<br />

Hamburg; Hegel, G.W.F. (1967b): System der Sittlichkeit, hrsg. von Georg Lasson,<br />

Hamburg. Vgl. hierzu auch Honneth, A. (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen<br />

Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt. Zu den aktuellen Bezügen vergleiche<br />

die Ausführungen bei Honneth (2000b: 133ff.).<br />

143 Honneth (2000b: 132).<br />

144 Ebenda.


Zum anderen ließe sich der Wandel als Folge einer „<strong>St</strong>eigerung moralischer<br />

Sensibilität“ 145 begreifen; dieser zweiten These folgt Honneth. Die Anerkennung<br />

kann differenziert werden in eine emotionale, rechtlich-politische und<br />

solidarische Anerkennung. 146<br />

„Mit diesen drei Anerkennungsformen sind die moralischen Einstellungen<br />

benannt, die zusammengenommen den <strong>St</strong>andpunkt bilden, dessen Einnahme<br />

die Bedingungen unserer persönlichen Integrität sicherstellt.“ 147<br />

Maak (1999) nimmt diesen Gedanken der Anerkennung auf und führt ihn in<br />

eine Konzeption der Bürgergesellschaft, die ethisch auf den Prozess der<br />

„Anerkennung“ angewiesen ist. Diese Reinterpretation sozialer Gemeinschaft<br />

bezieht sich damit - ähnlich zu der hier vorgestellten Argumentation -<br />

auf Intersubjektivität und deren Implikationen. Jedoch kann der gesamte<br />

intersubjektive Prozess, in dem die Anerkennung an einem spezifischen<br />

Punkt bzw. mehreren Punkten auftaucht, in unterschiedliche Phasen differenziert<br />

werden. Danach steht die hier entwickelte Einstellung phasentechnisch<br />

vor der Anerkennung. Dies führt zu unterschiedlichen Akzentuierungen<br />

in der Maakschen Darstellung zu der hier vorgestellten.<br />

Beiden gemeinsam jedoch ist die Fokussierung auf den Prozess als solchen.<br />

Dieser Prozess steht - in welcher Form auch immer - im Mittelpunkt einer in<br />

Beziehung auf die postmodern-reflektierte Moderne konstituierten Ethik-<br />

Konzeption. Bei einer näheren, vergleichenden Betrachtung ist eine Akzentverschiebung<br />

bezüglich der Phasen feststellbar, die die entscheidende Brücke<br />

zwischen Einstellung und Diskurs darzustellen in der Lage ist. Maak hebt die<br />

Facette der Anerkennung hervor, die nicht in der Voraussetzung verhaftet<br />

ist, sondern einen starken Bezug zum intersubjektiven Verlauf aufweist. Eine<br />

Aussage, die nachvollziehbar ist, jedoch auch zu Missverständnissen führen<br />

kann, zeigt diesen Bezugsverlauf:<br />

„Menschen werden zu Menschen in dem Masse, wie sie Anerkennung erfahren.“ 148<br />

145 Honneth (2000b: 133).<br />

146 Siehe zu der detaillierten Beschreibung dieser unterschiedlichen Anerkennungsdimensionen<br />

Honneth (2000b: 139ff.) oder auch Maak (1999: 82ff.).<br />

147 Honneth (2000a: 187).<br />

148 Maak (1999: 63; Hervorhebungen im Original).<br />

223


Doch: Menschen sind eben gerade unabhängig dessen, was ihnen widerfährt,<br />

Menschen. 149 Maak zeigt jedoch hierdurch - und so sei es im Duktus seiner<br />

Arbeit interpretiert - die konstitutive Rolle der Anerkennung im Kontext von<br />

Menschenwürde und diese ist vornehmlich auch eine tatsächlich-prozessuale.<br />

Auch wenn Maak in Bezug auf die Position von Hegel der Voraussetzungsebene<br />

sehr nahe kommt, bleibt doch der prozessuale Charakter jenseits<br />

der Anfangsbedingungen deutlich zu erkennen.<br />

Die hier vertretene Position ist im Ursprung in den Voraussetzungen einer<br />

Intersubjektivität verhaftet, jedoch handelt es sich eher um eine Perspektive,<br />

die den Prozessbeginn redefinieren möchte. Der Beginn eines Prozesses, der<br />

letztlich zu Anerkennung im Maakschen Sinne führen und der auch den diskursethischen<br />

Weg einschlagen kann, liegt in der Vergegenwärtigung des<br />

Ursprungs, somit zwischen Prozess und Voraussetzung. In diesem Übergang<br />

findet eine Reflexion der Voraussetzung im Blick auf den zu beschreitenden<br />

Weg statt. Die Sensibilisierung einer intersubjektiven Verwiesenheit entsteht<br />

in diesem Übergang von Voraussetzung und Umsetzung. Dieser Übergang<br />

kann am treffendsten mit einer rationalen Öffnung beschrieben werden. Sie ist<br />

nicht nur Erfassung der Voraussetzung, sondern zudem prozessualer Bestandteil,<br />

da die Bindung zurück an die Voraussetzung in dem antizipativen<br />

Bewusstsein der Bindung an die Umsetzung geschieht. Als Bindeglied<br />

nimmt die rationale Öffnung die Rolle ein, die Welsch „seiner“ transversalen<br />

Vernunft zugedacht hat - zumindest in der Ausgangskonzeption. Ob die gelingende<br />

Bindung zwischen Voraus- und Umsetzung auch tatsächlich zu<br />

einer gelingenden Umsetzung im Sinne von tatsächlicher Anerkennung bzw.<br />

Diskurs führt, ist eine Frage, die von der Situation und der Fähigkeit des<br />

Subjekts abhängt (hinreichende Bedingung).<br />

Die rationale Öffnung hat sich in der hier vertretenen Position als notwendige<br />

Bedingung des ethischen Vollzugs zu erkennen gegeben, jedoch nicht<br />

als hinreichende. Es ließe sich auch argumentieren, dass die Frage der tatsächlichen<br />

Umsetzung nicht die gleiche Qualität aufweist wie die Frage der<br />

Reflexion der Voraussetzungen. So kann zumindest die Faktizität die Reflexion<br />

auf der Begründungsebene nicht in Frage stellen. D. h., auch wenn die<br />

Umsetzung nicht gelingt, ist dies nicht ausreichend für eine Widerlegung der<br />

149 Hierauf kann an dieser <strong>St</strong>elle nicht näher eingegangen werden. Vgl. zu dem Komplex<br />

„Menschenwürde“ und die theoretische Fundierung bspw. Knoepffler, N./Haniel, A.<br />

[Hrsg.] (2000): Menschenwürde und medizinethische Konfliktfälle, <strong>St</strong>uttgart.<br />

224


hier vorgestellten Art von Bindung. 150 Umgekehrt jedoch scheint aus dieser<br />

Perspektive eine Umsetzung, die ohne eine derartige Bindung zur Voraussetzung<br />

auskommt, nachhaltig nicht tragfähig zu sein, da sie das Primat der<br />

rationalen Öffnung nicht wahrnimmt. In diesem Sinne ist eine besondere<br />

Betonung der Phase der Faktizität, wie sie bei Maak aus der hier entwickelten<br />

Perspektive erscheint, gegenläufig zu dem hier vertretenen Fokus des<br />

Übergangs, obwohl sich beide Ansätze als prozessual-komplementäre<br />

Bestandteile identifizieren. Eine einseitige Gewichtung stellt sich latent der<br />

Komplementarität entgegen. Die bei Maak diskutierte Begrifflichkeit der<br />

„Anerkennung“ erfährt vor diesem Hintergrund also eine Akzentverschiebung:<br />

Es ist hier das Erkennen der Andersartigkeit verbunden mit dem<br />

Erkennen der Verwiesenheit trotz und gerade wegen der Andersartigkeit.<br />

11.4 Zusammenfassung<br />

Die Vernunft vereinigt sich mit der Ethik in der Postmoderne in der aktiven<br />

Einstellung zur personalen und rationalen Andersartigkeit. Diese Aktivität<br />

geschieht in der gelassenen Distanz, die die differenzierte Rezeption der<br />

Heterogenität ermöglicht, entwickelt aber im Gegensatz zu der streng<br />

deskriptiven postmodernen - und damit aus Sicht einer Ethik eher „passiven“<br />

- Einstellung eine Position, die die Andersartigkeit zueinander in Beziehung<br />

setzt. Diese Beziehung zeichnet sich durch die permanente reziproke<br />

Reflexion über die Verschiedenartigkeit der Akteure aus, deren Position<br />

in der Gestaltung und Begründung des Zueinanders zum Ausdruck<br />

kommt. Die Begründung des Zueinanders ergänzt sich durch die intrapersonale<br />

Beziehung und deren individueller Selbstreflexion. „Das Andere der<br />

Vernunft“ kann seine Begründungsevidenz zu praxeologischer Legitimation<br />

durch die systematische Einbindung des „Das Andere der Gerechtigkeit“<br />

herstellen. Verpflichtungsasymmetrien der Fürsorge sind in dieser dialektisch-produktiven<br />

<strong>St</strong>ruktur darstellbar.<br />

150 Vgl. hierzu auch die Argumentation bei Ulrich, P. (1994): Moderne Wirtschaftsethik -<br />

Moralökonomik oder Kritik der „reinen“ ökonomischen Vernunft?, in: EuS, Jg. 5, H. 1,<br />

S. 78-81, hier S. 79, der den „Sinn universalistischer Normenbegründung“ gerade<br />

darin verwirklicht sieht, dass das „unbedingte Moment“ moralischer Normen auch<br />

gegen ihre „empirischen Durchsetzungsbedingungen“ zur Geltung kommt.<br />

225


In Bezug auf das Verhältnis von Postmoderne und Ethik lässt sich resümierend<br />

festhalten: Der Befund der Postmoderne, die Pluralität, scheint in ihrer<br />

programmatischen Umsetzung eine Fragmentarisierung zu fördern, die zu<br />

manifesten Konsequenzen in unserer Lebenswelt führt. Diese Konsequenzen<br />

sind sowohl struktureller als auch inhaltlicher Natur. Dies reicht vom Verlust<br />

von Kontinuitätserfahrung, über Intransparenz der Erfahrungswelt, Verlust<br />

der Selbstkontrolle bis hin zu moralischen Regeln, die sich zunehmend<br />

schlechter in ein universales Paradigma integrieren lassen. Die Metapher der<br />

Konnexion von Heterogenitäten fügt sich vor diesem Hintergrund in eine<br />

Konzeption der Vernunft für die Postmoderne, die zwischen den ausdifferenzierten<br />

Gegenständen möglichst voraussetzungsfrei zu vermitteln versucht,<br />

die Fraktale verknüpft. Eine so verstandene transversale Vernunft<br />

knüpft ein Sinn-Netz, ein Erfahrungsnetz, das zwar nicht über die Pluralität<br />

hinwegtäuschen kann, das jedoch in der Lage ist, Wege aufzuzeigen, bei denen<br />

es trotz der Unterschiede Anknüpfungspunkte gibt bzw. geben kann.<br />

Der Inhalt (modern-)postmoderner Vernunft manifestiert sich, neben den<br />

formalen Bestimmungen, in der Einsicht in die Notwendigkeit dieser Genese<br />

von Vergleichbarkeit, die zentrale Bestimmung für das Vernunft-Kriterium<br />

„Universalität“ darstellt. Diese Vergleichbarkeit ermöglicht der Ethik eine<br />

vor der Postmoderne-Moderne-Debatte reflektierte normative Setzung, die<br />

Pluralität in ihren sozialen Konsequenzen beschreiben kann.<br />

12 Postmodern-moderne Ethik der Ökonomie und deren<br />

unternehmensethische Implikationen<br />

In einem letzten Schritt soll versucht werden, die postmodern-modernen<br />

Überlegungen zu einer Ethik der Ökonomie in ihren ökonomischen Bestimmungen<br />

zu konkretisieren und im Kontext der Unternehmung zu reflektieren.<br />

151 Es wird für diesen letzten Abschnitt die ethische Reflexion des vor-<br />

151 Dabei wird die Unternehmung vorwiegend systemisch rekonstruiert. Dieser Ansatz<br />

ist der Position der <strong>St</strong>. Galler Schule und der Münchener Schule, hier insbesondere<br />

der Position Werner Kirschs, gleich. Die Position von Kirsch wird im Folgenden noch<br />

ausführlicher behandelt werden. Zu der <strong>St</strong>. Galler Schule vgl. u. a. Ulrich, H./Malik,<br />

F./Probst, G./Semmel, M./Dyllik, T./Dachler, P./Walter-Busch, E. (1984): Grundlegung<br />

einer Theorie der Gestaltung, Lenkung und Entwicklung zweckorientierter<br />

Systeme, Diskussionsbeitrag 4, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>; Ulrich, H. (1971): Der systemorientierte An-<br />

226


herigen Kapitels herangezogen. Sie stellt die konsequente Weiterführung der<br />

hier entwickelten Vernunft-Konzeption dar.<br />

Durch die starke und direkte Verflechtung und Überlagerung von System<br />

und Lebenswelt scheint die Unternehmung als hier zu diskutierender Kontext<br />

geeignet, um Implikationen einer ethischen Reflexion aufzeigen zu können.<br />

152 Die Exemplifizierung der ethischen Reflexion wird in zwei unterschiedlichen,<br />

aber doch miteinander verwobenen organisationstheoretischen<br />

Konzepten aufgezeigt werden. Zum einen ist dies das Konzept der Corporate<br />

Identity bzw. der Unternehmensidentität; die ethische Reflexion setzt genau in<br />

der Differenz dieser beiden Begrifflichkeiten an. Zum anderen sei hieran<br />

anknüpfend die Frage einer Weiterentwicklung der Unternehmung als<br />

Ganzes thematisiert. 153 Doch vorerst seien die Bestimmungen einer postmodern-modernen<br />

Ethik der Ökonomie beschrieben.<br />

12.1 Skizzen einer postmodern-modernen Ethik der Ökonomie<br />

Eine Ethik der Ökonomie beschreibt ein Verhältnis, welches ethische<br />

Ansprüche im Rahmen der Ökonomie artikuliert. Dabei wird in diesem<br />

Argumentationszusammenhang grundsätzlich dem Primat der Ethik gefolgt.<br />

Die postmodern-moderne Betonung liegt dabei jedoch nicht auf der ethischen<br />

Setzung (Vollzugsmoment); sie liegt auf diese ethische Setzung ermöglichenden<br />

und vornehmlich von Seiten der ökonomischen Rationalität<br />

zu erbringenden notwendigen Voraussetzungen. Eine wesentliche Voraussetzung<br />

wurde hier in der Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität<br />

selbst identifiziert. 154 Damit stellt die ethische Setzung logische, letzte Konse-<br />

satz in der Betriebswirtschaftslehre, in: Kortzfleisch, G.v. (Hrsg.): Wissenschaftsprogramm<br />

und Ausbildungsziele der Betriebswirtschaftslehre, Berlin, S. 43-60.<br />

152 So auch Münch (1998: 107): „Das Feld der Berufsarbeit ist Teil des ökonomischen und<br />

Teil des ethischen Feldes, bildet eine Interpenetrationszone und eine Brücke des<br />

wechselseitigen Transports von ökonomischen und ethischen Anforderungen in das<br />

ökonomische und ethische Handeln selbst hinein.“<br />

153 Beide Konzept-Darstellungen werden auf den Ansatz der „Evolutionären Organisationstheorie“<br />

von Werner Kirsch rekurrieren. Bei aller Notwendigkeit zur kritischen<br />

Reflexion und Unterscheidung verspricht dieser Ansatz die meisten Berührungspunkte<br />

mit der hier entwickelten Konzeption.<br />

154 Vgl. hierzu ähnlich auch Ulrich: „Die spezifische, im guten Sinne zeitgemäße, sowohl<br />

von der „angewandten“ Ethik als auch von der heutzutage gelehrten Ökonomik vernachlässigte<br />

Aufgabe von Wirtschaftsethik ist in der philosophisch-ethischen Kritik<br />

der ökonomischen Vernunft oder dessen, was dafür gehalten wird, zu erkennen. Und<br />

das meint: Es ist der normative Gehalt der ökonomischen Rationalität selbst, den es<br />

227


quenz dar, doch ist sie nicht unbedingter Zielpunkt der hier entwickelten<br />

Konzeption. 155 Die kritische Distanz zu einem normativen Vollzug repräsentiert<br />

den postmodernen Tribut, das Einlassen auf diesen Vollzug den modernen<br />

Tribut. In der postmodern-modernen Verbindung steht die Ermöglichung<br />

des Vollzugs im Mittelpunkt.<br />

In der hier entwickelten Argumentation geht es um die ökonomische Rationalität<br />

nicht nur bezüglich ihrer eigenen Verfasstheit, sondern auch bezüglich<br />

ihres Verhältnisses zu anderen Rationalitäten. Dabei wurde festgestellt,<br />

dass eine Weiterentwicklung gerade in der Öffnung gegenüber anderen<br />

Rationalitäten besteht und dies wiederum nicht ohne eine Entwicklung der<br />

eigenen Verfasstheit zu realisieren ist. In diesen charakteristischen Entwicklungsprozessen,<br />

die eigene (rationale) Identität, Öffnung und Verknüpfung<br />

zusammendenken, wird hier der nachhaltig vielversprechendste Weg zur<br />

Wirksamwerdung moralischer Ansprüche innerhalb der Wirtschaft gesehen.<br />

Und wie steht es um die oben genannten ethischen Bestimmungen im ökonomischen<br />

Kontext? Genuiner und damit wesentlicher Akteur der ökonomischen<br />

Rationalität ist das einzelne Individuum. Durch das Individuum wird<br />

die Rationalität in Rahmenordnungen und Anreizsysteme transportiert, von<br />

wo aus die ökonomische Rationalität auf den Einzelnen zurückwirkt, jedoch<br />

immer nur soweit, wie es das einzelne Individuum letztendlich und langfristig<br />

zulässt. 156 Ausgangspunkt hierbei ist, dass der einzelne Wirtschaftsakteur<br />

über die Einsicht in die Begründung der moralischen Ansprüche (Andersartigkeit;<br />

Verwiesenheit) den ökonomisch-rationalen Kontext nachhaltig auf-<br />

ethisch-kritisch zu ergründen und möglicherweise neu zu begründen gilt.“ (Ulrich, P.<br />

(2000a): Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagenreflexion der ökonomischen Vernunft,<br />

in: EuS, Jg. 11, H. 4, S. 555-567, hier S. 555; Hervorhebungen im Original).<br />

155 Vgl. hierzu nochmals Abschn. 10.2.<br />

156 Dabei sei von Zwangs- und quasi Zwangskonstellationen abgesehen. Dass ein Beschäftigungsverhältnis,<br />

vor allem in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, Züge einer solchen<br />

Zwangssituation aufweisen kann, sei dabei nicht ignoriert. Jedoch soll hier davon<br />

ausgegangen werden, dass ein Minimalspielraum der Handlungsmöglichkeit auch<br />

für den Arbeitnehmer besteht. Diese (Rest)Möglichkeit der individuellen Einflussnahme<br />

konstituiert die quasi „lebensweltliche“ Verantwortung des Einzelnen, die, so<br />

gering sie auch angesichts vielfältiger anderer Beeinflussungen werden mag, nicht<br />

eliminierbar ist. Entgegen dem ökonomischen „normativen Individualismus“, der dem<br />

Individuum (bzw. Wirtschaftssubjekt) „keine anderen Rationalitätsansprüche“<br />

zumuten will, „als die kluge Verfolgung der Eigeninteressen“ (Ulrich 2000a: 558;<br />

Hervorhebungen im Original), fordert diese nicht eliminierbare „lebensweltliche“<br />

Verantwortung gerade die Auseinandersetzung mit diesen anderen Rationalitätsansprüchen<br />

bzw. versagt dem Einzelnen die Ignoranz gegenüber diesen Ansprüchen.<br />

228


echen kann. 157 Aufgrund der sich vielfältig entgegenstehenden Bestimmungen<br />

von Ökonomie und Ethik158 sind die Voraussetzungen ethischen<br />

Vollzugs vor allem über die „individuelle Mobilisierung“, nicht zuletzt auch<br />

wegen des eigengesetzlichen Charakters der Ökonomie, zu erreichen. Die<br />

„Mobilisierung“, die „Vitalisierung“ des Einzelnen erfolgt mit dem Ziel, eine<br />

grundsätzliche und dauerhafte Infragestellung der ökonomischen Rationalität<br />

und des ökonomischen Systems zu erreichen und im ökonomischen<br />

Kontext längerfristig zu etablieren. 159 Diese Mobilisierung geschieht vor<br />

allem durch die Explizierung der moralischen Begründungen (Andersartigkeit<br />

und Verwiesenheit). 160<br />

Das spezifisch postmodern-moderne sind die aus dieser Mobilisierung entstehen<br />

<strong>St</strong>rukturen und nachhaltigen Konsequenzen. Die grundsätzliche und<br />

nachhaltige Infragestellung der Ökonomie ermöglicht deren Öffnung und<br />

damit Anschlussfähigkeit an andere Rationalitätsbereiche und letztlich an<br />

postmodern-moderne Vernunft. Die Öffnung bzw. Konnexion harmoniert<br />

mit der Sicherung der Eigenständigkeit bzw. Heterogenität. Die Öffnung<br />

lenkt den Blick auf die Voraussetzungen der ethischen Setzung, nicht auf<br />

deren Vollzug selbst. Diese <strong>St</strong>ruktur setzt bereits auf individueller Ebene<br />

auch im ökonomischen Kontext an.<br />

Bei der Bestimmung einer postmodern-modernen Ethik der Ökonomie im<br />

unternehmerischen Kontext geht es vor allem um solche Fragen,<br />

a) wie sich die aktive Einstellung zur personalen und rationalen Andersartigkeit<br />

im Unternehmenskontext darstellt;<br />

157 Gründe für die Unwirksamkeit moralischer Ansprüche im ökonomischen Kontext<br />

sind bereits in Abschnitt 2.1.2 auf den systemisch-geschlossenen Charakter der ökonomischen<br />

Rationalität zurückgeführt worden. Daneben, aber hier nicht näher behandelt,<br />

lassen sich soziologische (Arbeitsgesellschaft) oder psychologische (Gruppenzwang,<br />

Rollenwechsel, Modelllernen) Ursachen zum Teil anführen und zum Teil<br />

vermuten.<br />

158 Vgl. bspw. die Ökonomismuskritik bei Ulrich (2000a: 559ff.).<br />

159 Es sei nochmals betont, dass dies nicht notwendigerweise die Effektivität und Effizienz<br />

des ökonomischen Vollzuges beeinträchtigen muss, jedoch kann (auch im Sinne von<br />

„dürfen“) es dazu führen.<br />

160 Ulrich antwortet diesbezüglich auf die Frage, wie diese Mobilisierung zu erreichen<br />

ist: „Die Antwort ist, wenn überhaupt, im Selbstverständnis aufgeklärter Bürger zu<br />

finden, also darin, als welche Personen sie sich selbst verstehen und in welcher<br />

Grundhaltung sie ihr Leben führen wollen, um sich selbst „gut finden“ und achten zu<br />

können. Das die personale Identität prägende Ethos impliziert immer auch eine Idee<br />

der moral community, der man sich zugehörig fühlt (soziale Identität).“ (Ulrich 2000a:<br />

565; Hervorhebungen im Original).<br />

229


) was eine gelassene Distanz, die die differenzierte Rezeption der Heterogenität<br />

ermöglicht, im Unternehmenskontext bedeutet und<br />

c) wie eine permanente reziproke Reflexion über die Verschiedenartigkeit der<br />

Akteure im ökonomischen Kontext umzusetzen ist, deren Position in der<br />

Gestaltung und Begründung des Zueinanders zum Ausdruck kommt.<br />

Wie bereits angedeutet, legitimieren sich diese Bestimmungen postmodernmoderner<br />

Ethik grundsätzlich unabhängig von den situativ-lebenspraktischen<br />

Bedingungen. Dagegen ist ihre Konstituierung und Etablierung (Verwendungszusammenhang)<br />

von den jeweilig herrschenden Bedingungen<br />

(beispielsweise: ökonomischer Kontext) abhängig, was wiederum deren<br />

Legitimation und Begründung jedoch nicht antastet. Ob es die Andersartigkeit<br />

oder die intersubjektive Verwiesenheit ist, die diesen Anspruch begründet,<br />

der Anspruch als solcher bleibt bedingungslos wirksam. Bezüglich der<br />

oben genannten Bestimmungen sei dies kurz skizziert:<br />

Ad a) Die aktive Einstellung ist sozusagen eine bewusste Wahrnehmung des<br />

Kollegen nicht nur in seiner Funktion und Rolle, die ihm die Unternehmung<br />

zugedacht hat, sondern immer auch in seinem hierüber hinausgehenden Profil<br />

und seinen Beziehungen (Rechte und Pflichten). Die Wahrnehmung der<br />

Andersartigkeit des Anderen bezieht sich damit vor allem auf die Verschiedenartigkeit<br />

jenseits der ökonomischen (derivativen) Lebenswelt. Dies<br />

bedeutet nicht die „Privatisierung“ der unternehmerischen Öffentlichkeit,<br />

sondern dies bedeutet die Identifikation und Inanspruchnahme des Anderen<br />

in seinen gesellschaftlichen und lebensweltlichen Bezügen. Der „Kollege“ ist<br />

nie nur Arbeitnehmer, also auf die unternehmensinternen Verträge und<br />

Bezüge beschränkt, sondern immer auch sozial und gesellschaftlich verwiesen.<br />

In dieser Wahrnehmung geschieht eine nachhaltige „Transzendierung“<br />

der (rationalen) Grenzen der Unternehmung. Die moralischen Verpflichtungen,<br />

die sich aus der wahrgenommenen Andersartigkeit ergeben, brechen<br />

mit ökonomischen Gerechtigkeiten und Symmetrien und etablieren lebensweltliche<br />

Asymmetrien (Fürsorge) und das „Andere der Gerechtigkeit“<br />

innerhalb und – in der Folge idealerweise auch – außerhalb der Unternehmung.<br />

Ad b) Eine gelassene Distanz trifft innerhalb der Unternehmung auf zwanghafte<br />

Aktivitäts- und kurzfristige Erfolgsorientierung. Ein gemäßigter Voluntarismus<br />

trifft auf ökonomische Machbarkeitsphantasien. Die sich im ökonomischen<br />

System entwickelnde Eigendynamik macht den Einzelnen zum<br />

230


Gefangenen seiner selbst. Der interne Wettbewerb verstärkt sich selbstreferentiell<br />

und zwingt den Einzelnen zur permanenten Erfolgssteigerung.<br />

Eine gelassene Distanz – übrigens in Ergänzung zu der aktiven Einstellung –<br />

erreicht ein Zurücktreten von und sich Herauslösen aus dem <strong>St</strong>rom der<br />

eindimensionalen Erfolgssteigerung und verhilft dem Einzelnen zu einer<br />

differenzierteren Analyse des Geschehens. Eine Öffnung, die sich der<br />

Wahrnehmung der Andersartigkeit verschreibt, die bemüht ist, die offensichtliche<br />

Reduktion aufzulösen, ist nicht ohne eine gelassene Distanz<br />

denkbar, die auch rezipiert und nicht nur (sich) produziert, die auch zuhört<br />

und nicht nur präsentiert. Die gelassene Distanz bricht – ähnlich wie die<br />

aktive Einstellung auf rationaler Ebene – die ökonomische Rationalität nachhaltig<br />

auf Ebene der zeitlich-dynamischen Handlungsorientierung auf, ist<br />

somit als Ergänzung zu der aktiven Einstellung zu sehen.<br />

Ad c) Die permanente reziproke Reflexion über diese Möglichkeiten des<br />

Aufbrechens soll den Übergangs- bzw. „Brückencharakter“ der transversalen<br />

Wirtschaftsethik zum Ausdruck bringen. In der Konsequenz der Vollzüge<br />

der ethischen Bestimmungen im Kontext der Unternehmung, wie sie hier<br />

beschrieben wurden, wird es darum gehen, eine „Kultur der (rationalen)<br />

Übergänge“ zu etablieren. Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität<br />

zu einer Anschlussfähigkeit an postmodern-moderne Vernunft –<br />

beispielsweise durch die oben beschriebenen „Aufbruchsmechanismen“ –<br />

eröffnet einen neuen Interaktionsraum, der zwischen den Rationalitäten liegt.<br />

In diesem Raum geschieht die offene (!) Auseinandersetzung mit „externen“<br />

bzw. eben nicht externen Ansprüchen. Dabei ist diese Etablierung des<br />

Raumes und der darin gestalteten Form des Zueinanders von einem<br />

Commitment der Akteure (hier: „Kollegen“ bzw. Arbeitnehmer und –geber)<br />

abhängig, die nachhaltig das Aufbrechen, die Transzendierung der ökonomisch-rationalen<br />

Grenzen praktizieren.<br />

In den nun folgenden Skizzen unternehmensethischer Implikationen verdeutlicht<br />

die Identitätsbetrachtung insbesondere die ethische Bestimmung<br />

der aktiven Einstellung und damit die Bedeutung dessen, sich selbst und den<br />

Anderen jeweils bewusst aus unterschiedlichen Bezugssystemen zu rekonstruieren.<br />

Dabei steht die Wahrung und „Einbringung“ der eigenen Identität<br />

in die Unternehmung hinein gleichberechtigt neben der Wahrnehmung und<br />

Verknüpfung mit der Identität des Anderen und der Identität der ganzen<br />

Unternehmung. Die darauffolgende Betrachtung von unternehmensinternen<br />

231


Entwicklungsprozessen nimmt im Wesentlichen die ethische Bestimmung<br />

der gelassenen Distanz auf, die sich im gemäßigten Voluntarismus (geplante<br />

Evolution) exemplarisch zeigt: Machbarkeitsphantasien relativieren sich<br />

unter der Einsicht einer Unbeeinflussbarkeit von evolutiven Prozessen und<br />

der Unmöglichkeit umfassender Problemlösung. Im abschließenden Kapitel<br />

einer Fähigkeitenbetrachtung werden Möglichkeiten des gestalteten Zueinanders<br />

(reziproke Reflexion) und damit des nachhaltigen Überschreitens der<br />

ökonomisch-rationalen Grenzen diskutiert.<br />

12.2 Identität und Entwicklung (in) der Unternehmung<br />

Der Kontext der Unternehmung ist durch die Befunde von Voß und Sennett<br />

charakterisiert worden. Der eine Befund der strukturellen (materiellen) Entgrenzung<br />

von Voß zeigte auf, in welchem Maße die Grenze zwischen<br />

Lebens- und Arbeitswelt erodiert und Überschreitungen in beide Richtungen<br />

mehr denn je ermöglicht. Dabei ist festgestellt worden, dass diese erhöhte<br />

Überschreitungsmöglichkeit aufgrund unterschiedlicher aktueller Faktoren<br />

überwiegend nur in eine Richtung „genutzt“ wird, nämlich in Form von<br />

Kolonialisierung und anderer Beeinflussung der Lebenswelt durch die Ökonomie.<br />

Diese strukturelle Entgrenzung führt u. a. zu inhaltlicher (materialer)<br />

Entgrenzung im Kontext Arbeit, die die Identitätserfahrung und –aufbau des<br />

Einzelnen erheblich erschwert, wie der andere Befund von Sennett zeigt. Aus<br />

diesem Grund der inhaltlichen und für den Einzelnen elementaren Implikationen<br />

struktureller Entgrenzung scheint es um so dringlicher, die andere<br />

Richtung der Überschreitung, also in die Arbeitswelt hinein, in Form von<br />

Bewegungen, Beeinflussungen und Bereicherungen auszuloten. Beide Ansätze<br />

konnten aufzeigen, in welcher Weise die äußeren (sachlichen) hinreichenden<br />

Bedingungen ethischen Vollzugs die inneren hinreichenden Bedingungen<br />

herausfordern, strapazieren und überfordern.<br />

Baethge (1991) beschreibt die Richtung in die Arbeitswelt hinein. Er stellt<br />

eine zunehmende normative Subjektivierung der Arbeitsverhältnisse fest. Baethge<br />

zeigt auf, dass das Bedürfnis, seine eigene individuelle Subjektivität in die<br />

Arbeit einzubringen, gestiegen ist. Die Normativität dieses Bedürfnisses ist<br />

232<br />

„(...) im Sinne der Geltendmachung persönlicher Ansprüche, Vorstellungen<br />

und Forderungen in der Arbeit [zu verstehen], im Gegensatz zu solchen<br />

Momenten von Handlungsspielraum und Berücksichtigung persönlicher Be-


dürfnisse, die aus dem funktionalen Interesse des Arbeitsprozesses zugestanden<br />

werden.“ 161<br />

Baethge bezieht sich auf Maccoby, der die Richtung der Wegbeschreitung im<br />

Typus-Begriff eines „self-developer“ zusammenzufassen sucht und damit<br />

vor allem die intellektuelle und kommunikative Emanzipation des Menschen<br />

in der Arbeit meint, die jede Rollen- und nicht rechtfertigbare Machtstruktur<br />

ablehnt und ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Privatleben anstrebt.<br />

162 Dies artikuliert einen neuen Sinnanspruch in der und an die Arbeit,<br />

welcher die Arbeit auf den Prüfstand ihres sinnspendenden Potentials<br />

stellt. 163 Diese Richtung der Überschreitung und deren Möglichkeiten stehen<br />

hinter einer ethischen Reflexion, so wie sie hier rekonstruiert wird. Im Allgemeinen<br />

geht es hierbei um die Emanzipation des Menschlichen in verdinglichten<br />

Zusammenhängen; im Speziellen geht es um gelingende Identitätserfahrung<br />

des Einzelnen in, durch und mit Arbeit. Diese Überschreitungen<br />

können vom Einzelnen ausgehen (Unternehmensidentität), aber auch<br />

institutionalisiert in den Organisationsstrukturen verankert werden (Organi-<br />

sationsentwicklung). 164<br />

161 Baethge (1991: 7; Fußnote 1).<br />

162 Vgl. hierzu Maccoby, M (1989): Warum wir arbeiten: Motivation als Führungsaufgabe,<br />

Frankfurt/New York. Die Ursachen sieht Baethge in unterschiedlichen Faktoren<br />

begründet. Der <strong>St</strong>rukturwandel (hin zur Dienstleistungsgesellschaft und hin zur zunehmenden<br />

Abhängigkeit der Arbeit von Wissen und Qualifikation) generiert eine<br />

Ausdehnung vorberuflicher Sozialisation. Auch bewirkt die Veränderung von Organisationskonzepten<br />

eine Zurücknahme rigider Arbeitsteiligkeit und tendiert zu eher<br />

komplexeren Arbeitsformen. Letztlich entsteht die Zunahme der Erwerbsbeteiligung<br />

von Frauen zu einem historisch spezifischen Zeitpunkt und unter spezifischen Bedingungen.<br />

163 Boes gibt hierbei zu Bedenken, dass bei einer über die „Informationsebene vermittelte<br />

Reflexivität der Arbeit“ im Zeitalter der Informationsgesellschaft die Gefahr besteht,<br />

dass die Informationsebene als einziges Medium der Emanzipation „die Subjekte zu<br />

Agenten ihrer eigenen Unterordnung“ (Boes 1996: 166f.) macht. Die Subjektivierung<br />

läuft damit selbst nach Regeln ab, die abzulösen sie angetreten ist. Vgl. Boes, A.<br />

(1996): Formierung und Emanzipation: Zur Dialektik der Arbeit in der „Informationsgesellschaft“,<br />

in: Schmiede (1996), S. 159-178.<br />

164 In dieser Betrachtung steht der Einzelne idealisiert der ökonomischen Rationalität<br />

gegenüber. Auch wenn der Einzelne immer auch Teil der ökonomischen Rationalität<br />

ist, so wird er hier als Vertreter der „Lebenswelt“, die ökonomische Rationalität als<br />

Vertreter der „Arbeitswelt“ rekonstruiert. Die ökonomische Rationalität sei im Kontext<br />

der Unternehmung als durch die oberen Führungsebenen repräsentiert gesehen.<br />

Dem Verfasser ist bewusst, dass diese Trennung unscharf und idealisiert ist, denn<br />

grundsätzlich repräsentiert ein jeder, der die ökonomische Rationalität konsequent<br />

auch nach innen vertritt, die ökonomische Rationalität selbst; dies geschieht zunächst<br />

233


12.2.1 Identität (in) der Unternehmung - zwischen Unternehmensidentität<br />

und Corporate Identity<br />

Wie bereits angedeutet, soll an dieser <strong>St</strong>elle darauf verzichtet werden, die<br />

Literatur zu diesem Thema zu analysieren; vielmehr sollen - in medias res -<br />

die hier relevanten Gesichtspunkte herausgearbeitet und auf ihre Anschlussfähigkeit<br />

an die hier entwickelte Konzeption überprüft werden. 165 Wird die<br />

Identität einer Unternehmung diskutiert, so ist das Innen- sowie das Außenverhältnis<br />

der Unternehmung gleichermaßen zu untersuchen. Da es in diesem<br />

Kontext primär um den Einzelnen und seine Identitätserfahrung im<br />

einmal unabhängig von der <strong>St</strong>ellung im Unternehmen. Plausibel erscheint es jedoch,<br />

wenn angenommen wird, dass sich diejenigen, die eine ungleich höhere Verantwortung<br />

für die Unternehmung tragen müssen – nicht nur Sach-, sondern vor allem auch<br />

Personalverantwortung – stärker in der Rolle des Verteidigers von ökonomischen<br />

Interessen gestellt sehen, als diejenigen, die sich aufgrund geringerer Entscheidungsbefugnisse<br />

eher mit der Rolle des Betroffenen identifizieren. Letztlich hängt dies immer<br />

von der Person selbst ab, jedoch sei hier diese Verteilung in „Vertreter der ökonomischen<br />

Rationalität – obere Führungsebenen“ und „Betroffene der ökonomischen<br />

Rationalität – untere Ebenen“ idealisiert angenommen.<br />

165 Vgl. zu Unternehmensidentität und Corporate Identity pars pro toto die umfassende<br />

Aufsatzsammlung von Birkigt, K./<strong>St</strong>adler, M.M./Funck, H.J. [Hrsg.] (1995): Corporate<br />

Identity: Grundlagen, Funktionen, Fallbeispiele, 8. Aufl., Landsberg/Lech, und<br />

die dort verarbeitete Literatur. Nicht nur bei Birkigt/<strong>St</strong>adler/Funck, sondern in der<br />

gesamten Literatur zum Thema Unternehmensidentität und Corporate Identity wird<br />

deutlich, dass die Begriffe überwiegend gleichgesetzt werden und eine Identität immer<br />

schon aus der Perspektive des ökonomischen Nutzen rekonstruiert wird. Identität<br />

als Selbstzweck taucht dagegen eher selten auf. Unterschieden wird lediglich in<br />

Corporate Identity und (Corporate) Image, wobei das erste das Selbstbild des Unternehmens<br />

bezeichnet, das zweite dagegen sein Fremdbild. Die Differenzierung ist nur<br />

eine methodische (Innen- und Außenperspektive), aber keine qualitative. Auch Birkigt<br />

et al. sehen die Corporate Identity als „Identititäts-Mix“ (Birkigt/<strong>St</strong>adler/Funck<br />

1995: 18), das sich aus dem Verhalten, der Kommunikation, dem Erscheinungsbild<br />

und eben der Persönlichkeit der Unternehmung zusammensetzt. Jenseits der Zielformulierung<br />

der Unternehmung scheint nichts unternehmensintern existent. Speziell in<br />

diesem Punkt wird sich die hier vorgestellte Skizze von den bisherigen Ansätzen differenzieren<br />

und unterscheiden.<br />

Des Weiteren wird, in Konsequenz zu den vorherigen Ausführungen, auf eine Analyse<br />

der Kommunikationsstrukturen der Unternehmung verzichtet, was jedoch keine<br />

Aussage über deren Relevanz implizieren soll, ganz im Gegenteil: Kommunikation ist<br />

das entscheidende Reproduktionsmedium von Identität - innerhalb und außerhalb der<br />

Unternehmung. Vgl. hierzu bspw. Giddens, A. (1998): The Third Way – The Renewal<br />

of Social Democracy, Cambridge, der zwischen praktischer und diskursiver Reflexion<br />

unterscheidet; in Anlehnung daran auch Kirsch (1998: 211ff.), der die „Unternehmensidentität<br />

als Ergebnis diskursiver Konstruktion“ skizziert. Die vorangegangenen Ausführungen<br />

stellen zusätzliche Impulse und zusätzliche Begründungsargumente für<br />

eine (herrschaftsfreie) Gestaltung von Kommunikation im Kontext der Unternehmung<br />

dar.<br />

234


Umgang mit der ökonomischen Rationalität geht, ist insbesondere das<br />

Innenverhältnis der Unternehmung von Interesse – das Außenverhältnis<br />

kann nur angedeutet werden. Am individuellen Umgang mit der Rationalität<br />

der Unternehmung und am Umgang der Unternehmung mit dem einzelnen<br />

Mitarbeiter hat sich die ökonomische Rationalität zu prüfen. Auch<br />

wenn dies nicht ihren genuinen Gegenstandsbereich darstellt, ist sie doch auf<br />

diesen immanent (moralisch) verwiesen. In dieser Wahrnehmung der Verwiesenheit<br />

liegt der Zielpunkt ihrer Weiterentwicklung.<br />

Dabei muss für die folgende Argumentation hervorgehoben werden, dass<br />

die Ethik der Ökonomie nicht in der Weise verstanden wird, dass sie die<br />

Ökonomie ausschließlich dazu bewegen will, gegen ihre eigene (ökonomische)<br />

Rationalität zu handeln; sie will nur den Ausschluss nicht direkt ökonomie-kompatibler<br />

Inhalte verhindern. 166 Diese Öffnung geschieht in einer<br />

konstruktiven Weise, stellt nicht alles grundlegend in Frage, sondern versucht<br />

eine breitere Basis, einen Konnex zwischen Ökonomie und Gesellschaft<br />

zu erzeugen bzw. wiederherzustellen. Dieser rationale Konnex kommt dabei<br />

beiden Seiten zugute, sofern er ein Konnex und keine Invasion oder Übernahme<br />

darstellt. Eine Eliminierung von System oder Lebenswelt stellt hierbei<br />

keine Alternative dar.<br />

Die Identität der Unternehmung ist in ihrer Tiefenstruktur geprägt von einer<br />

Pluralität der Identitäten ihrer Mitarbeiter. Über dieser <strong>St</strong>ruktur pluraler<br />

Teile liegt ein Koordinationsnetz, das die Aktivitäten des Einzelnen und der<br />

Gruppe in Beziehung setzt zu den Aktivitäten der anderen Mitarbeiter und<br />

zu den übergeordneten Zielen der Unternehmung. Diese Koordination generiert<br />

eine Parallelisierung, eine ähnliche Ausrichtung, eine „Polung“ der<br />

Einzel-Identitäten, die auf diese Weise ein annähernd homogenes Gesamtbild<br />

abgeben. Jedoch gehen die Einzel-Identitäten in der Gesamt-Identität<br />

nicht vollkommen auf, sondern werden zu einem Teil derselben und umgekehrt:<br />

die Gesamt-Identität bildet einen Teil der Einzel-Identität. Die Gesamt-<br />

166 Dies käme einer vollständigen Trennung von Ethik und Ökonomie gleich, was die<br />

These einer wertfreien Ökonomik stützen würde. Jedoch, es kann „das Verhältnis von<br />

Ethik und Ökonomik nicht als Nicht-Verhältnis verstanden werden“ (Enderle, G.<br />

(1988): Wirtschaftsethik im Werden. Ansätze und Problembereich der Wirtschaftsethik,<br />

<strong>St</strong>uttgart, S. 26, zitiert nach Ulrich 1998: 120).<br />

235


Identität soll im Folgenden als Unternehmensidentität bezeichnet werden,<br />

die Einzel-Identität als Mitarbeiteridentität. 167<br />

Diese Identitäten-<strong>St</strong>ruktur besitzt zu einem großen Teil emergenten Charakter,<br />

doch treten beide Seiten, die der Mitarbeiter und die der Unternehmung,<br />

auch mit Interessen und Ansprüchen gegen- und miteinander auf, die im<br />

Zuge der (Vertrags)Beziehung idealerweise ihre Einlösung erfahren. Kirsch<br />

betont im Hinblick auf eine Unternehmensidentität dreierlei: den emergenten<br />

Charakter, die Berücksichtigung des Beobachtungsphänomens und die<br />

Unternehmensidentität als politisches Phänomen. 168 In dieser Argumentation<br />

soll neben der Berücksichtigung von Konstruktionen durch Beobachter vor<br />

allem das „politische Phänomen“ interessieren. Vor der hier entwickelten<br />

Konzeption erscheint jedoch der Begriff des Politischen in diesem Zusammenhang<br />

verkürzt. Vielmehr geht es um die kategoriale Differenz und<br />

Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt, die bei der Frage nach<br />

Identität zusammentreffen und neben rein politischen Prozessen (auf der<br />

Grundlage von expliziten Verträgen durchgeführte Aushandlungsprozesse)<br />

Prozesse der Balance zwischen Arbeit und Leben und den aus ihnen abgeleiteten<br />

Ansprüchen erfordern. Diese Ansprüche weisen eine andere Qualität<br />

von Außenperspektive auf, als dies Kirsch auf Grundlage seines Ansatzes zu<br />

tun in der Lage ist. Dieses „Außen“ der Außenperspektive ist nicht, wie bei<br />

Kirsch, ein rein funktional-methodisches Außen, sondern ein inhaltliches,<br />

normatives Außen, welches das System der Ökonomie einer grundsätzlichen<br />

lebensweltlichen Reflexion zuführt. Das politische Phänomen bei Kirsch wird<br />

167 In diesem Identitätenbild ist bereits deutlich geworden, dass es im Wesentlichen um<br />

Überschneidungsgrade zwischen unterschiedlichen Identitäten geht. Dabei ist es möglich,<br />

dass individuelle Unterschiede zwischen den Mitarbeitern in Bezug auf die<br />

Unternehmung, aber auch zwischen den Unternehmen bezüglich ihrer Mitarbeiter<br />

auftreten. Der eine Mitarbeiter identifiziert sich stärker mit der Unternehmung und<br />

dem anderen Mitarbeiter, der andere weniger, und das eine Unternehmen legt mehr<br />

Wert auf die Identifikation der Mitarbeiter mit den eigenen Produkten und Inhalten,<br />

das andere weniger.<br />

168 Vgl. hierzu Kirsch (1998: 207ff.). Berggold hebt sich deutlich von Kirsch ab, verweist<br />

jedoch auch sehr explizit auf den emergenten Charakter und die methodische Entscheidung<br />

des Beobachters, wenn es um die Analyse der Unternehmensidentität geht.<br />

In vielen Punkten stimmt die hier zu leistende Skizzierung mit der ausführlichen und<br />

komplexen Analyse von Berggold überein – jedoch kann sie an dieser <strong>St</strong>elle keine explizite<br />

Auseinandersetzung erfahren. Vgl. hierzu Berggold, C. (2000): Unternehmensidentität:<br />

Emergenz, Beobachtung und Identitätspolitik: Ansatzpunkte einer organisationstheoretischen<br />

Betrachtung, Berlin.<br />

236


in diesem Argumentationskontext erweitert um die (moralischen) Ansprüche<br />

der „Vertragspartner“, der <strong>St</strong>akeholder.<br />

Es mag aufgrund dieser Unterschiede nicht verwundern, wenn Kirsch seinen<br />

eigenen Ansatz im Vergleich bzw. oder eben gerade nicht im Vergleich zu<br />

dem Ulrichschen Ansatz als „inkommensurabel“ bezeichnet. Auch wenn die<br />

erkenntnis- bzw. „radikalpluralistische“ 169 Perspektive des Kirsch‘schen<br />

Ansatzes in die Richtung einer Überschreitung der eigenen disziplinären<br />

und methodischen Grenzen weist, so scheint deren Überschreitung jedoch<br />

eher im Sinne einer Anreicherung im Gegensatz zu einer grundsätzlichen<br />

Reflexion zu geschehen. Wunderer bezeichnet die Ansätze von Ulrich und<br />

Kirsch als „weitgehend ökonomieunabhängige, sozialwissenschaftlich orientierte<br />

Managementansätze“ 170. Dies mag für den Verwendungszusammenhang<br />

zutreffen, auf Ebene der Begründung jedoch besteht nach Meinung des<br />

Verfassers eine kategoriale Differenz. 171 Vor diesem Hintergrund der Differenz<br />

sind die folgenden Ausführungen zu verstehen. Sie verhindern nicht<br />

169 Vgl. zu dieser Kategorisierung Walter-Busch (1996).<br />

170 Wunderer, R. (1988): Die Betriebswirtschaftslehre als Management- und Führungslehre,<br />

2. ergänzte Aufl., <strong>St</strong>uttgart, S. VI.<br />

171 Es kann an dieser <strong>St</strong>elle (leider) keine ausführliche Auseinandersetzung der beiden<br />

Positionen mit- und/oder gegeneinander erfolgen. Ein „Kernsatz“, der bei Kirsch den<br />

wesentlichen Unterschied zu Ulrich verdeutlicht, lautet: „Mir schwebt demgegenüber<br />

die Bejahung der Komplexität vor. Und dies bedeutet unter anderem, daß ich alle<br />

(auch betriebswirtschaftliche) Traditionen als a priori relevante Kontexte für die Explikation<br />

und Bewältigung von Problemen der Praxis ansehe.“ (Kirsch, W. (2000): Erkenntnispluralistische<br />

Führungslehre: Zum programmatischen Diskurs in der Betriebswirtschaftslehre,<br />

unveröff. Arbeitspapier, München, S. 96). Dieses „a priori“<br />

lässt den postmodernen Charakter der Kirsch’schen Konzeption durchscheinen. Bei<br />

Kirsch ist der Befund der Pluralität normativ und Programm seiner Führungslehre. Im<br />

Vergleich dazu ist in dieser Argumentation die Pluralität in der „Letztbegründung“<br />

deskriptiv zu verstehen. Sie kann nicht in die letzte Begründung normativ<br />

vordringen, wird jedoch, und dies zeichnet eine postmoderne Moderne aus, sehr weit<br />

ins „Innere“ des Begründungszusammenhangs vorgelassen. Gerade in Bezug auf die<br />

Figur des „Anderen“ wird die Pluralität auch als normatives Programm deutlich; die<br />

letzte Norm kann sie jedoch nicht bilden. Auch wenn bei Ulrich dieser hier „praktizierte“<br />

normative Pluralismus nicht explizit „hofiert“ wurde, so stellt er sich, so das<br />

Verständnis des Verfassers, doch als grundsätzlich anschlussfähig an die Ulrichsche<br />

Position dar, sofern es nicht um die Letztbegründung geht. Vgl. zu den beiden Positionen<br />

in ihrem Bezug aufeinander auch Ulrich, P. (1995): Betriebswirtschaftslehre als<br />

praktische Sozialökonomie, in: Wunderer, R. (Hrsg.), Die Betriebswirtschaftslehre als<br />

Management- und Führungslehre, 3., ergänzte Aufl., <strong>St</strong>uttgart, S. 179-204.<br />

237


eine Auseinandersetzung, fordern jedoch signifikante Veränderungen und<br />

Akzentverschiebungen. 172<br />

In Zeiten extrem hoher Fluktuationsraten ist die Rede von einer inneren<br />

Identität der Unternehmung nur bedingt treffend. Nicht nur, dass die<br />

Gesamtheit der Mitarbeiteridentitäten einem absoluten Wandel unterliegt,<br />

der nicht mit natürlichen Entwicklungsprozessen verglichen werden kann;<br />

auch die Bereitschaft des Einzelnen, seine individuelle Identität in die<br />

Gesamtheit einzubringen, schwindet mit Zunahme der Fluktuationsdynamik.<br />

Die Verweildauern der Mitarbeiter werden kürzer, es entsteht ein<br />

kompetitives anstatt eines kollegialen Klimas, das eigene Wissen wird zunehmend<br />

zum internen Wettbewerbsvorteil gegenüber den Mitarbeitern und<br />

der Einzelne schützt sich durch Zurückhalten der eigenen Meinung, eigener<br />

Ideen, eigenem (eventuell mit Risiko verbundenem) Engagement.<br />

Zusätzlich zu dieser Verzerrung, die aufgrund der realen Unternehmensund<br />

Marktverfassung entsteht, führt der Evaluationsprozess zur Erfassung<br />

der Unternehmensidentität zu Verzerrungen, die durch das präformierte<br />

Urteil der Wahrnehmung zustande kommt: Es ist gängige Praxis, den<br />

Evaluationsprozess zur Unternehmensidentität durch die Führungsebenen<br />

bzw. durch die von ihnen bestellten externen Berater durchführen zu lassen.<br />

Ganz gleich, ob dieser Prozess intern oder von extern geleistet wird, er ist<br />

gleichsam durchwirkt von strategisch-ökonomischen Interessen. Eine Identitätserfassung<br />

in einer Unternehmung ist damit immer auch Leitbild-<br />

Entwicklung. Damit geht der reine Analysecharakter der Identifikation verloren.<br />

Wird die Feststellung immer schon mit einer Zielvorstellung verbunden,<br />

so kann niemals das wahrgenommen werden, was existiert, sondern<br />

eher das, was gewünscht ist. Das ökonomische Wunschbild einer Unternehmensrealität<br />

ist jedoch ein zukünftiges, kein aktuelles. 173<br />

Es wird deutlich, dass sich die Unternehmung nicht - und auch nicht vorübergehend<br />

- aus der Erfolgsorientierung lösen kann. Die Wahrnehmung der<br />

Anderen geschieht nicht um derer selbst Willen, sondern immer schon im<br />

Hinblick auf die zu erreichenden ökonomischen Ziele, ist immer schon ge-<br />

172 Als komplementär kann man die Ansätze jedoch nur aufgrund der Unterschiedlichkeit<br />

der durch sie behandelten Themen rekonstruieren; das ist auch der Grund, weshalb<br />

an dieser <strong>St</strong>elle auf die komplexen Ausarbeitungen zu Management-Konzepten<br />

von Kirsch zurückgegriffen wird.<br />

173 Ein „Wunsch“ impliziert die erhoffte Veränderung der bestehenden Tatsachen. In<br />

diesem Sinne kann er nur auf die Zukunft gerichtet und mit dem Bestehenden nicht<br />

identisch sein.<br />

238


äußerter Wunsch anstatt akzeptierende Wahrnehmung. Somit entsteht eine<br />

Corporate Identity, die einen Soll-Charakter in sich trägt, in der sich die einzelnen<br />

Mitarbeiter nur insoweit wiederfinden, wie sie sich den ökonomischen<br />

Zielvorgaben verschreiben. Die Identitätswahrnehmung erfährt eine<br />

Instrumentalisierung. Dies betrifft nicht nur explizite Identitätserfassungsprozesse,<br />

sondern jeglichen Prozess in der Unternehmung, der eine Ist-Analyse<br />

in Bezug auf die Arbeitnehmer durchführt.<br />

Kirsch unterscheidet zwischen Identität und Image, was sich aus seinem<br />

konzeptionellen Ansatz von Außen- und Binnenperspektive ergibt:<br />

„Von der tatsächlichen Identität des Unternehmens ist die möglicherweise erarbeitete<br />

„Corporate Identity“ strikt zu unterscheiden. Die Corporate Identity<br />

(als Erscheinungsbild des Unternehmens im weitesten Sinne) soll die tatsächliche<br />

oder die bei einem vorauseilenden Leitbild gewünschte Identität „mit<br />

unbeirrbar wiederholten stilistischen Mitteln“ nach innen und nach außen<br />

kommunizieren. Letztlich wird mit der Entwicklung einer Corporate Identity<br />

das Ziel verfolgt, einen Fit zwischen der Identität und dem Image des Unternehmens<br />

herzustellen.“ 174<br />

Hier werden die drei Kategorien von „Identität“ einer Unternehmung nochmals<br />

deutlich: Die Unternehmensidentität ist die tatsächliche, doch oftmals<br />

nicht berücksichtigte Identität der Unternehmung, die Corporate Identity<br />

vermittelt zwischen Tatsächlichem und Wahrgenommenem, und das Image<br />

stellt das reine Fremdbild aus der Außenperspektive dar. Das Image hat dabei<br />

höchste strategische Relevanz, da es sich hier um die Reputation des Unternehmens<br />

im Markt und in der Gesellschaft handelt, was in Zeiten erhöhter<br />

Sensibilisierung für außerökonomische Fragestellungen wettbewerbsentscheidend<br />

sein kann. Eine Leitbild-Formulierung ist nie nur Bestandsaufnahme,<br />

sondern immer auch prospektive <strong>St</strong>rategie.<br />

Kirsch verbindet sein Konzept in der Folge mit einer Diskussion um die<br />

Fähigkeiten einer Unternehmung, lehnt dies an das Konzept der „treibenden<br />

Kraft“ von Tregoe und Zimmermann (1981) an und evaluiert mögliche strategische<br />

Potentiale einer Unternehmung. 175 Bereits Hamel und Prahalad<br />

(1990) heben die strategische Bedeutung von Kernprodukten einer Unter-<br />

174 Kirsch (1997: 333).<br />

175 Vgl. Tregoe, B.B./Zimmermann, J.W. (1981): Top Management <strong>St</strong>rategie, Zürich.<br />

239


nehmung hervor; 176 in der Verknüpfung mit „Kernkompetenzen“ 177 kann<br />

dies zu Kräften innerhalb der Unternehmung führen, die in ihrer charakteristischen<br />

Symbiose von innerer Dynamik und äußerem Nachfrage-Sog<br />

(marktwirtschaftliche Relevanz) zur treibenden Kraft, zu treibenden Kräften<br />

der Geschäftstätigkeit evolvieren können. Die Verbindung der Kernkompetenzen<br />

bzw. ihre gezielte Entwicklung mit den Kernprodukten einer Unternehmung<br />

tragen wesentlich zur Identität der Unternehmung bei, so Kirsch.<br />

Verkürzt gesagt, entspricht dieser Zugang der Aussage: „Wir sind, was wir<br />

tun!“ bzw. „Wir sind, was wir gut können!“ und damit einer handlungsorientierten<br />

Identitätsbildung. Der Einzelne wie auch das Gesamte drückt<br />

sich in und durch die Handlungen aus. Die Substanz der Identität, die „materiale<br />

Identität“ ist somit nur mittelbar zu identifizieren. Neben der pragmatistischen<br />

Verzerrung tritt zudem die Verzerrung der quantitativen Darstellungsform<br />

der ökonomischen Rationalität, die nur diejenigen Handlungen<br />

erfasst, die sich in Zahlen niedergeschlagen haben. 178 Die Annahme,<br />

„Wir sind, wer wir sind!“ kann im organisatorischen Kontext als nicht realisierbarer<br />

bzw. auch nicht gewünschter Ansatz zur Erfassung und Definition<br />

von Identität gelten. 179 In diesem Sinne ist eine Erfassung der Unternehmensidentität<br />

in ihrem So-Sein nur bedingt möglich.<br />

176 Vgl. Hamel, G./Prahalad, C.K. (1990): The Core Competences of the Corporation, in:<br />

Harvard Business Review, Mai/Juni 1990, S. 79-91.<br />

177 Kirsch (1997: 341).<br />

178 Ähnliche Feststellungen lassen sich bezüglich der Analyse von Beratungssituationen<br />

machen, insbesondere dann, wenn das zu beratende Unternehmen eine Dienstleistung<br />

anbietet, die entscheidend die Lebensqualität des Kunden beeinflusst. So steht<br />

der externe Berater eines Altenheimes vor der Herausforderung, auch jenseits der von<br />

ihm festgestellten Inhalte der Prozesse (Qualität der Dienstleistung) die Ansprüche<br />

aus der Situation an sich zu erfassen und in eine Effizienzsteigerungskonzeption einfließen<br />

zu lassen. Dies ist dann noch relativ einfach, sofern der „Kunde“ seine Präferenzen<br />

äußern kann, obwohl hier immer noch die aus der Situation entstehenden Ansprüche<br />

zu berücksichtigen sind. Der mit dem herkömmlichen betriebswirtschaftlichen<br />

Instrumentarium arbeitende Berater ist aber spätestens dann überfordert, wenn<br />

sich die Ansprüche nicht in seinem (effizienten) System abbilden lassen. Dies kommt<br />

bspw. dann vor, wenn der „Kunde“ für die erhaltene Dienstleistung finanziell nicht<br />

aufkommen kann oder aber, der „Kunde“, also der Patient, seine Präferenzen nicht<br />

äußern kann. Vgl. hierzu Speck, O. (1999): Ökonomisierung sozialer Qualität: Zur<br />

Qualitätsdiskussion in Behindertenhilfe und Sozialer Arbeit, München/Basel.<br />

179 Auch wenn man nur sagen würde: „Wir sind, was wir sind!“, kann dies entweder als<br />

Banalität abgetan werden, oder aber das „was“ bezieht sich auf die ökonomische<br />

Funktion des Subjekts. Diese wäre anschlussfähig an die ökonomische Rationalität insofern,<br />

als damit der Machtaspekt, die Funktion des Einzelnen, die Legitimation der<br />

240


Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Evaluationsprozess, der zu der<br />

Erfassung der tatsächlichen Unternehmensidentität führt, versucht primär zu<br />

erfassen, also reine Evaluation zu betreiben, nicht strategisch zu entwickeln.<br />

Der systematische Unterschied des Prozesses der Corporate Identity zeigt<br />

sich in dem Handlungsdruck, der aus dem gebotenen Abgleich zwischen<br />

Identität und Image entsteht. Diese Funktion des Abgleichs ist zudem<br />

asymmetrischer Natur, da Ausgangspunkt des Gewünschten selten die<br />

Unternehmensidentität ist, sondern die Kundenwünsche, der Markttrend.<br />

Diese Größen machen den Unternehmenserfolg aus und bestimmen das<br />

systemische Verhalten der Unternehmung. 180 Diese von außen bestimmte<br />

Identität drängt die tatsächliche Identität der Unternehmung in die <strong>St</strong>atistenrolle;<br />

sie hat sich der gewünschten und durch die Corporate Identity vermittelten<br />

Identität anzupassen. Hierbei gehen diejenigen Vorteile für den<br />

Einzelnen und für die Unternehmung verloren, welche entstehen würden,<br />

wenn der Einzelne sich in seiner genuinen Identität im Gesamtkomplex<br />

wiederfände. Dies bedeutet nämlich Identifikation. Die Anpassung an strategisch<br />

vorgeschriebene Identitäten kann hingegen keinen authentischen<br />

Charakter annehmen. 181<br />

In der ethischen Reflexion bedeutet dies, dass das in der postmodernen Ethik<br />

herausgearbeitete zentrale Charakteristikum der Wahrnehmung des Anderen<br />

in seiner Andersartigkeit und die aus dieser Feststellung abgeleitete<br />

eigenen Identität darstellt. Damit bleibt auch dieser Ausdruck im Kontext der Unternehmung<br />

dem ökonomischen Paradigma verhaftet.<br />

180 Das sich hier darstellende Bild ist eines, welches das Unternehmen als reinen Reagierer<br />

interpretiert, als einen Akteur, der dem Sachzwang des Marktes unterworfen ist.<br />

Die Corporate Identity füllt diese Rolle der Anpassung an das Wunschbild des<br />

Marktes bis in die innerste Unternehmensverfassung, die Unternehmensidentität<br />

nämlich, aus. „Subjektivität wird in diesem systemischen Kontext reduziert auf die<br />

richtige Reaktion auf die wechselnden Anforderungen des globalen Marktsystems.<br />

Die Zwecke sind objektiv vorgegeben, was subjektiv übrig bleibt, ist die Wahl der<br />

Mittel, und Horkheimers Ameisenmetapher trifft das System in seinem Kern.“ (Wenzel<br />

1996: 197).<br />

181 Es gibt hierzu unzählige Beispiele. Die C&A-Werbekampagne in den späten 90er Jahren<br />

bspw. vermittelte ein Bild des Unternehmens, welches vorwiegend junges Publikum<br />

ansprach, dem Trend entsprach, diesem sogar vorauseilte. Wenn man jedoch die<br />

C&A-Kaufhäuser betrat, dann war von dieser „hippen“ Kultur nichts mehr zu spüren,<br />

weder in den Produkten, noch in ihrem Erscheinungsbild. Dies liegt nicht nur<br />

daran, dass die Corporate Identity nicht ausreichend in die Unternehmung hinein<br />

vermittelt wurde. Vielmehr lag es daran, dass die tatsächliche Unternehmensidentität<br />

zu weit von dem auf sie projizierten Wunschbild entfernt war - und auch immer noch<br />

ist.<br />

241


Wahrnehmung der Verantwortung gegenüber dem Anderen im Kontext der<br />

Unternehmung nicht bzw. nur ungenügend umgesetzt werden kann. In der<br />

Analyse einer zu definierenden Unternehmensidentität stellt sich die soziale<br />

Identität der Gruppe und die personale Identität des Einzelnen als Voraussetzung,<br />

als Bedingung der Unternehmensidentität dar. Identitätsbildende<br />

Prozesse im unternehmerischen Kontext nehmen ihren Ausgangspunkt bei<br />

der personalen Identität und artikulieren ihre Identitätsansprüche über die<br />

soziale Identität des Einzelnen in der Gruppe. 182<br />

Der hier entwickelte postmodern-ethische Unternehmensidentitätsansatz<br />

beinhaltet, dass die Unternehmensidentität primär keine Soll- sondern eine<br />

Ist-Größe darstellt; eine Ist-Größe, die immer nur eine Annäherung sein<br />

kann, jedoch in ihrem Ansatz sehr viel authentischer ist, als es das strategische<br />

Instrument der Corporate Identity jemals sein kann. Denn in dem strategischen<br />

Ansatz ist die erfolgsorientierte Kommunikation immer schon<br />

dominant gegenüber der verständigungsorientierten. Eine wirkliche Ergebnisoffenheit<br />

des Evaluationsprozesses würde nicht nur dem einzelnen Mitarbeiter<br />

in einem ethisch-postmodernen Sinne der sensiblen Wahrnehmung<br />

des Anderen Rechnung tragen, sondern scheint langfristig auch ökonomisch<br />

nicht nur tragfähig, sondern sogar lohnend.<br />

12.2.2 Von der Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität zu der<br />

Weiterentwicklung der Unternehmung<br />

Um in einem letzten Schritt die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der<br />

gesamten Unternehmung erörtern zu können, sind mögliche Impulse einer<br />

ökonomischen Vernunft, so wie sie hier vorgestellt wurden, zu eruieren.<br />

Dazu sei der bisherige <strong>St</strong>and stichwortartig skizziert und danach Ansatzpunkte<br />

einer Weiterentwicklung diskutiert.<br />

(Rekapitulation)<br />

Die innere strukturelle Verfassung der Unternehmung stellt sich vor dem<br />

Hintergrund des hier skizzierten wirtschaftsethischen Ansatzes als ein<br />

rhizomatisches Geflecht dar. Die Knotenpunkte bilden die einzelnen<br />

Akteure, die Verflechtungen sind die Transaktionen zwischen ihnen. So<br />

182 Auch die gemeinsame Identität gleicht sich permanent mit der personalen Identität<br />

ab, und es werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede identifiziert. Die Corporate<br />

Identity behält auf diese Weise ihren eher artifiziellen Charakter, sie steht dem emergenten<br />

Charakter einer „selbstlosen“ Identitätsbildung entgegen.<br />

242


heterogen die Punkte auch sein mögen, so andersartig, es gibt doch Möglichkeiten<br />

der Konnexion; Konnexionen, die Wahrnehmungen des Anderen in<br />

seiner Andersartigkeit ermöglichen, die Austausch ermöglichen, ohne dass<br />

damit die Heterogenität aufgehoben werden müsste. Konnexion und Verflechtung<br />

entstehen vor dem funktionalen Hintergrund der Organisationstätigkeit.<br />

Ihr Charakter verändert sich, reflektiert man den Wert des Erhalts<br />

der Andersartigkeit, den Wert der Akzeptanz und Toleranz von Differentem,<br />

den ethischen Wert der Anerkennung. Die funktionale Verflechtung erfährt<br />

eine Erweiterung um ihre moralischen intersubjektiven Ansprüche. Diese<br />

Ansprüche artikulieren sich in Begriffen wie Anerkennung, handlungsentlastete<br />

Interaktionszusammenhänge, plurale Einheit und authentische Partizipationsmöglichkeiten.<br />

Dies relativiert den ökonomischen Drang nach<br />

Vereinheitlichung, den Sachzwang, den Pragmatismus, den ökonomischen<br />

Reduktionismus und öffnet den Denkrahmen durch das Aufweisen von<br />

Bezügen, die über diesen Rahmen hinausgehen. Diese Transzendenz führt<br />

nicht zur Eliminierung des engeren Rahmens, sondern trägt zu dessen<br />

verantwortungsvoller Reflexion bei. Die Sicht auf den Gesamtkontext, der<br />

Zugang zum Gesamten stellt auch den Vernunft-Vollzug im ökonomischen<br />

Kontext dar.<br />

(Geplante Evolution – Organisationsentwicklung)<br />

Wie kann eine Unternehmung von einer Weiterentwicklung ökonomischer<br />

Rationalität als Gesamtes profitieren und wie sieht der dafür adäquate organisationstheoretische<br />

Rahmen aus? Das ist die Frage, die im Mittelpunkt dieses<br />

abschließenden Kapitels steht. Dabei entsteht die weitere Frage, wie Vielheit,<br />

Heterogenität oder Inkommensurabilität im organisatorischen Kontext<br />

(und dort im Speziellen mit dem Subjekt als solchem) zu handhaben ist, da<br />

die bloße Kenntnis ihrer Existenz noch keine Operationalisierungsmuster<br />

liefert. 183<br />

183 Die konkreten Operationalisierungsmuster sollen vor einem lebensweltlichen Hintergrund<br />

in Bezug auf den zu konzipierenden wirtschaftsethischen Ansatz entwickelt<br />

werden. Dabei ist dem Autor durchaus bewusst, dass dieser Aspekt nur einer von<br />

vielen ist, die das zentrale Spannungsfeld der „Einheit und Vielheit“ in organisatorischen<br />

Kontexten charakterisieren. Ringlstetter sieht in dem Muster von „Einheit und<br />

Vielheit“ das „Grundmuster konzerntypischer Rahmenkonzepte“ (Ringlstetter 1995:<br />

27ff.). Der Konzern pendelt zwischen Einheits- und Vielheitsorientierung hin und her.<br />

Vgl. auch die graphische Darstellung bei Ringlstetter (1995: 317). Ähnlich auch Go-<br />

243


Eine Entwicklung beschreibt einen Prozess. Im Kontext der Organisation ist<br />

mit dem Begriff der Entwicklung ein Intendiertes und nur selten ein Emergiertes<br />

gemeint. Im organisatorischen Rahmen wird nur wenig dem Zufall<br />

überlassen – dies widerspräche dem ökonomischen Kalkül. In der hier entwickelten<br />

Konzeption ist das evolutionäre Moment einer Entwicklung dem<br />

handlungsentlasteten Interaktionszusammenhang nahe, der mimetischen<br />

Reaktion, der Entschleunigung, der Offenheit für das, was passiert. Insofern<br />

wird es nicht verwundern, wenn in diesem Kontext Organisationsentwicklung<br />

auch als ein Passiertes, ein Evolutives verstanden wird. Die Intention<br />

der Entwicklung wird im organisatorischen Kontext nicht vollständig durch<br />

das evolutionäre Moment aufgehoben; vielmehr ist es so, dass sich das Passieren<br />

innerhalb des Intendierten abspielt, doch kann es auch über deren<br />

Grenzen hinausgehen. Dies könnte beispielsweise bedeuten, dass nicht mehr<br />

ein im Jetzt detailliert definierter Zielpunkt der Entwicklung ausgemacht<br />

bzw. determiniert wird, sondern eine relative Aussage getroffen wird. Die<br />

Relativität kann sich durch mindestens zwei unterschiedliche Bezüge konstituieren.<br />

Zum einen durch eine allgemeinere Form des Zielpunktes, also<br />

keine detailliert ausgearbeitete Zielvorgabe, sondern eher ein Zielkorridor,<br />

eine Vision. Zum anderen kann Relativität durch Relationalität erzeugt werden,<br />

d. h. der Zielpunkt richtet sich vornehmlich nach einer anderen, im<br />

Zeitablauf sich verändernden Größe (BSP-Wachstum, Trends, Wertewandel),<br />

wird somit wesentlich auch zur abhängigen Variable. 184 Die Zielvorstellung<br />

verhält sich dann in Relation zu der Veränderung dieser Größe(n). In dieser<br />

zweiten Form verbinden sich geplante und evolutive Momente in ein und<br />

derselben Konzeption. Kirsch entwickelt diesen Gedanken der Gleichzeitigkeit<br />

von Intention und Evolution in seinem organisationstheoretischen<br />

Ansatz und spricht in diesem Zusammenhang von geplanter Evolution. 185<br />

Diese Fähigkeit, ein Planen und ein Reagieren auf das Umfeld in gleichem<br />

Maße systematisch-organisatorisch umzusetzen, ist innerhalb der Unternehmung<br />

oftmals nicht ausgebildet und stellt eine komplexe Herausforde-<br />

mez, P. (1991): Konzernstrukturen in Bewegung: Neue Trends in der Konzernorganisation,<br />

unveröff. Seminarunterlagen, <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, S. 16.<br />

184 Ziele sind mehr oder minder immer abhängig von den äußeren Bedingungen. Jedoch<br />

stellt es organisationstheoretisch eine andere Qualität dar, ob die Organisation auf die<br />

Bedingungen - neben dem Verfolgen der Zielvorgaben - immer noch zu reagieren hat,<br />

oder ob die Organisation diese Bedingungen in ihrer dynamischen Charakteristik<br />

systematisch einbezieht; dies wird im Folgenden noch deutlicher werden.<br />

185 Vgl. hierzu Kirsch (1991: 266ff.) und Kirsch (1997).<br />

244


ung organisatorischer Fähigkeiten dar. Um eine Ausbildung dieser Fähigkeit<br />

zu erlangen, bedarf es eines Entwicklungsprozesses, der vor allem die<br />

innere Verfassung der Unternehmung, die Rationalität der Unternehmung im<br />

Auge hat. 186<br />

Die herkömmliche Organisationsentwicklung konzentriert sich, wie bereits<br />

erwähnt, auf die intendierte, geplante Entwicklung der Unternehmung.<br />

Auch eine Konzeption, die evolutive Elemente aufnimmt, kommt um den<br />

Anteil an Planung nicht herum; Planung und Evolution verhalten sich in diesem<br />

Kontext komplementär zueinander. In dieser Komplementarität verändert<br />

sich auch das Planungselement selbst. Planung, die in Verbindung mit<br />

Evolutivem gedacht und konzipiert wird, stellt sich anders dar, als die herkömmliche<br />

„<strong>St</strong>absplanung“. Die Integration des evolutiven Elements stellt<br />

nicht nur an sich eine Veränderung zu den herkömmlichen Modellen dar,<br />

auch die weitreichenden Konsequenzen, die diese Integration bspw. auf sein<br />

Komplement „Planung“ zeitigt, unterscheiden die Modelle.<br />

Das Planungselement der Organisationsentwicklung ist transitiv, das evolutive<br />

Element ist intransitiv. Wenn ein Gegenstand entwickelt wird, dann impliziert<br />

dies grundsätzlich andere Kategorien, als wenn sich ein Gegenstand<br />

von selbst entwickelt. Der „Machbarkeitscharakter“ der Planung bedeutet<br />

eine stärkere Involviertheit in jeden Teil des Prozesses. Eine Planung, die sich<br />

komplementär zu evolutiven Elementen konstituiert, kann nicht in der Weise<br />

einer betriebswirtschaftlichen und voluntaristisch-traditionellen Machbar-<br />

186 Diese Rationalität der Unternehmung stellt immer eine Mischform aus systemischen<br />

und lebensweltlichen Rationalitäten dar. Die zu Beginn der Argumentation entwikkelte<br />

Konzeption ökonomischer Rationalität kann hiermit nur bedingt gleichgesetzt<br />

werden. Diese dort skizzierte „reine“ Form stellt eine theoretische Idealisierung dar,<br />

die versuchte, die Gegenstände zu identifizieren und zusammentragen und deren<br />

theoretischen und auch phänomenologischen Ursprung aufzuzeigen. Hier wird dagegen<br />

davon ausgegangen, dass der Kontext der Unternehmung derjenige Bereich ist,<br />

in dem die ökonomische Rationalität zwar dominant ist, aber nicht den einzigen rationalen<br />

Bezugsrahmen darstellt. Kirsch (1996: 357ff.) hat die rationale Gemengelage<br />

der Unternehmung als derivative Lebenswelt bezeichnet und damit darauf hingedeutet,<br />

dass die rationale Verfasstheit der Unternehmung als Lebenswelt interpretiert werden<br />

kann, da sie zum einen lebensweltlich-ähnliche Momente aufweist und zum anderen<br />

immer auch mit lebensweltlicher Rationalität durchsetzt ist. Interessant ist die<br />

Begriffswahl von Kirsch in diesem Zusammenhang deswegen, weil dadurch auch<br />

gleichzeitig ein lebensweltliches Apriori zum Ausdruck kommen kann: Die Unternehmung<br />

kann sich eben nie vollständig gegenüber der Lebenswelt abschotten, sondern<br />

ist immer auf sie angewiesen und letztlich auf sie verwiesen.<br />

245


keitsvorstellung eines okzidentalen Rationalismus verschrieben sein. 187 Vielmehr<br />

verbindet sich eine solche Planung auch in ihrer Determination mit<br />

einer gemäßigten Einstellung, einem gemäßigten Voluntarismus. 188 Planung<br />

geschieht im Bewusstsein auf die nicht vollständig determinierbare zukünftige<br />

Entwicklung. Dieses Bewusstsein beginnt dort, wo der Ist-Zustand festgestellt<br />

wird und endet dort, wo der Zielpunkt bzw. der Zielkorridor festgelegt<br />

wird. Evaluation und Extrapolation bilden den Rahmen jeglicher Entwicklungsmaßnahme.<br />

Ihre Relativierung durch Sensibilisierung für das<br />

Mögliche steht im Zeichen einer postmodern-ethischen Organisations-<br />

theorie. 189<br />

Inhaltlich hat jede Organisationsentwicklungsmaßnahme in der Umsetzung<br />

mit der Evaluation zu beginnen. Ohne eine möglichst authentische Analyse<br />

des Bestehenden laufen neue Entwicklungen Gefahr ins Leere zu laufen.<br />

Wenn nämlich eine Entwicklung nicht dort ansetzt, wo das zu Entwickelnde,<br />

hier: die Unternehmung, sich zu dem Zeitpunkt tatsächlich befindet, so greifen<br />

die Maßnahmen nicht. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass im<br />

Falle einer nur unzureichenden Evaluation die Entwicklungen nicht dasjenige<br />

entwickeln, was tatsächlich einer Entwicklung bedarf. Insbesondere in<br />

der Gewichtung zwischen <strong>St</strong>art- und Zielpunkt unterscheiden sich die herkömmlichen<br />

Konzeptionen von der hier vorgestellten Position. In herkömmlichen<br />

Konzeptionen führt die Machbarkeitsthese dazu, eine allzu detaillierte<br />

187 Vgl. hierzu ausführlicher Kirsch, W. (1984b): Evolutionäres Management und okzidentaler<br />

Rationalismus, unveröff. Arbeitspapier, München.<br />

188 Vgl. hierzu Kirsch, W. (1984a): Wissenschaftliche Unternehmensführung oder Freiheit<br />

vor der Wissenschaft? <strong>St</strong>udien zu den Grundlagen der Führungslehre, 2 Halbbände,<br />

München, S. 605ff., Kirsch (1992: 536ff.) und Kirsch (1994: 228f.). Vgl. zudem Abschn.<br />

5.1. Auch Müller-<strong>St</strong>ewens/Lechner sehen ihren Ansatz, den sie den „General Management<br />

Navigator (GMN)“ nennen, zwischen Determinismus und Voluntarismus<br />

und konzeptualisieren ihre Modelle bewusst in diesem Spannungsfeld. Vgl. hierzu<br />

Müller-<strong>St</strong>ewens, G./Lechner, C. (2001): <strong>St</strong>rategisches Management: Wie strategische<br />

Initiativen zum Wandel führen; der <strong>St</strong>.-Galler-General-Management-Navigator, <strong>St</strong>uttgart.<br />

„Sogar“ Lyotard sieht das Subjekt nicht in einer völligen (postmodernen) Ohnmacht<br />

und äußert sich ähnlich der Position des gemäßigten Voluntarismus: „Das<br />

Subjekt ist also nicht aktiv oder passiv, es ist beides zugleich, aber es ist das eine oder<br />

andere nur insofern, als es - in einem Regelsystem von Sätzen befangen - sich selbst<br />

mit einem Satz eines anderen Regelsystems konfrontiert und, wenn nicht nach den<br />

Regeln ihrer Versöhnung, so doch wenigstens nach den Regeln ihres Konflikts sucht,<br />

das heißt nach seiner immer bedrohten Einheit.“ (Lyotard 1987: 116).<br />

189 Der Begriff „Mögliche“ soll gleichermaßen einen gemäßigten Voluntarismus zum<br />

Ausdruck bringen, wie auch die Möglichkeit der Wahrnehmung der individuellen<br />

Andersartigkeit; somit ist das „Mögliche“ zugleich kontingent als auch transzendent<br />

gedeutet.<br />

246


Evaluation für nicht notwendig zu erachten und dafür eher den Fokus auf<br />

den Zielpunkt zu legen. Vor dem hier entwickelten Verständnis liegt dagegen<br />

der Fokus auf der Erfassung des <strong>St</strong>atus Quo, da sich in der Wahrnehmung<br />

des Bestehenden Vernunft und Ethik der Ökonomie vollziehen können.<br />

Der Zielpunkt dagegen ist maßgeblich von diesem <strong>St</strong>atus Quo abhängig<br />

und daher tendenziell abhängige Variable.<br />

Dieser <strong>St</strong>atus Quo der Unternehmung stellt sich immer auch als Produkt und<br />

Gegenstand der einzelnen Mitarbeiter dar. Wie im Zusammenhang mit der<br />

Unternehmensidentität erörtert wurde, ist diese Identität eine plurale, eine<br />

komplexe. Ein Außerachtlassen dieser Feststellung kann bewusst aus<br />

Kostengründen beispielsweise oder unbewusst aus Glauben an die Kontrollier-<br />

und <strong>St</strong>euerbarkeit der Unternehmung („Machbarkeit“) geschehen.<br />

Aus der hier skizzierten Konzeption bedeutet dagegen ökonomische Vernunft<br />

und ökonomische Ethik, dem Einzelnen Anerkennung im Sinne seiner<br />

ganzheitlichen Berücksichtigung, seiner expliziten Partizipation zuteil werden<br />

zu lassen, insbesondere dann, wenn es um Fragen der Identität geht.<br />

Grundsätzlich ist diese Möglichkeit der Berücksichtigung unternehmensintern<br />

zu schaffen, in einer systematischen, d. h. organisatorisch institutionalisierten<br />

Weise. 190 Eine auf diese Weise gestaltete Entwicklungsmaßnahme<br />

setzt nicht einen inhaltlichen <strong>St</strong>artpunkt, sondern öffnet sich den Inhalten<br />

des <strong>St</strong>artpunktes, die sich aus der Evaluation ergeben. Die Unternehmung ist<br />

heute nicht das, was wir heute aus ihr machen, sondern das, was sie heute<br />

tatsächlich ist. Planung kann erst nach einer Auseinandersetzung mit dem<br />

Tatsächlichen beginnen, nicht davor. Beginnt die Planung mit der Konstruktion<br />

des <strong>St</strong>artpunktes anstatt mit der offenen Erfassung, so hat die Maßnahme<br />

nur bedingt Bezug zu dem, auf was sie sich bezieht, nämlich auf die<br />

Unternehmensidentität und damit auf die Menschen, die in ihr und für sie<br />

arbeiten.<br />

12.3 Implikationen aus ökonomischer Sicht<br />

In Bezug auf die rein ökonomischen Implikationen deutet sich an, dass die<br />

stärkere Berücksichtigung der Evaluation der hier entwickelten Konzeption<br />

190 Damit sei angedeutet, dass sich eine solche systematische Ermöglichung nicht auf die<br />

politisch-korrektive Funktion der Gewerkschaft beschränken kann, sondern seinen<br />

systematischen Einzug in die organisatorischen Prozesse selbst halten muss, um nachhaltig<br />

wirksam sein zu können.<br />

247


zwar aufwendig erscheint, die damit aber mittel- bis langfristigen verbundenen<br />

positiven Effekte diese Aufwände überkompensieren können.<br />

Betrachtet man beispielsweise die prozessuale Ebene organisatorischer<br />

Transaktionsverflechtungen, so ist bei einer Organisationsentwicklungsmaßnahme<br />

die Unterstützung der Prozesspromotoren von zentraler Relevanz für<br />

den Erfolg dieser Maßnahme. Ein Machtpromoter ohne Prozesspromotoren<br />

ist dagegen nahezu machtlos. 191 Die Machtpromotoren sind oftmals die<br />

Ansprechpartner und Supervisoren des Organisationsentwicklungsprozesses;<br />

sie sind verantwortlich für den Gesamtprozess und die Maßnahme als<br />

solche. Die Prozesspromotoren sind Mitarbeiter auf mittlerer Führungsebene,<br />

die Verantwortung für das operative Geschäft tragen, für die operative<br />

Durchführung. In einer näheren Betrachtung ist aber auch jeder<br />

einzelne, von der Maßnahme betroffene Mitarbeiter ein Prozesspromotor.<br />

Die Bedeutung dieser Unterstützung durch die Betroffenen auch auf den<br />

unteren Hierarchiestufen wird oftmals ökonomisch unterbewertet und<br />

menschlich unterschätzt. Sind diese Prozesspromotoren von der Entwicklungsmaßnahme<br />

nicht überzeugt, so kann es zu stillem Boykott, zu Apathie<br />

bereits zu Beginn des Prozesses kommen. „<strong>St</strong>ill“ ist dieser Widerstand, denn<br />

er wird vom Einzelnen nicht explizit artikuliert. So scheint die Entwicklung<br />

aus der Außenperspektive, in diesem Fall die Perspektive der Machtpromotoren,<br />

voranzuschreiten, fällt jedoch nach Beendigung der durchgeführten<br />

Maßnahme in den Ursprungszustand zurück. Der Boykott wird wegen der<br />

<strong>St</strong>ille häufig nicht wahrgenommen. Der Einzelne gibt Unterstützung vor, um<br />

nicht als destruktiver Akteur in progressiven Entwicklungsprozessen aufzufallen<br />

und dadurch eventuelle Nachteile in den Beförderungsrunden hin-<br />

191 Vgl. zu den Begriffen der Promotoren in Entscheidungsprozessen Kirsch (1994:<br />

234ff.). Kirsch betrachtet die Promotionsaktivitäten eines Entscheidungsprozesses und<br />

unterscheidet zwischen Prozess- und Ergebnispromotion, die sich auf eine Episode beziehen<br />

und einer generellen Promotion, die episodenübergreifend ist. Insbesondere in<br />

komplexen Entscheidungsproblemen (so wie die Organisationsentwicklungsmaßnahme)<br />

schützt eine Prozesspromotion den Prozess vor „Versanden“ und „Diffusion“;<br />

die Ergebnispromotion dient vornehmlich der Durchsetzung der Ergebnisse<br />

gegenüber der „Umwelt“, welches beispielsweise auch Gläubiger sein können. Die in<br />

dieser Argumentation zusätzliche Unterscheidung in Machtpromotoren überträgt dies<br />

auf Prozesse im mikropolitisch-organisatorischen Kontext im Allgemeinen. Gerade in<br />

der Frage der Macht in und über Prozesse sind diejenigen, die den Prozess tatsächlich<br />

durchführen, oftmals nicht diejenigen, die Entscheidungsbefugnis (Prozessverantwortung)<br />

haben und vice versa. Dies führt zu Ineffizienzen und sozialen Konflikten,<br />

die charakteristisch sind für Prozesse in Organisationen. Aufgenommen ist diese<br />

Asymmetrie beispielsweise in der Principal-Agent-Theory.<br />

248


nehmen zu müssen. Diese Effekte führen ökonomisch gesehen mittelfristig<br />

zu hohen Aufwänden, denen keine Erträge gegenüberstehen.<br />

Die hier entwickelte Konzeption erfasst dagegen den Einzelnen, sieht ihn<br />

auch als Selbst-Zweck und fördert bewusst Bereiche der evolutionären<br />

Selbstorganisation. In dieser offenen Erfassung des individuellen So-Seins<br />

identifiziert sich der Einzelne als ein selbständiger Teil des Prozesses. Die<br />

Organisationsentwicklungsmaßnahme ist eine Entwicklung, durch die der<br />

Einzelne vornehmlich selbst geht. Aus dem individuell erfahrenen Prozess<br />

entstehen dann vielfältige Impulse für den Gesamtprozess – auch durch die<br />

wechselseitigen interindividuellen Interaktionen. Es können durch die Kombination<br />

von individueller Ansprache und Freiräumen der Selbstorganisation<br />

Eigendynamiken - immer in Bezug auf den Entwicklungsrahmen - entstehen,<br />

die durch die ursprüngliche Maßnahme selbst nicht hervorgebracht<br />

hätten werden können.<br />

12.4 Ökonomische Vernunft als organisationale Fähigkeit<br />

Die Rationalität der Unternehmung bildet den umfassenden organisatorischen<br />

Rahmen einer Diskussion um die innere Verfassung der Unternehmung,<br />

ihre Möglichkeiten der Weiterentwicklung und ihren Bezug zum einzelnen<br />

Mitarbeiter. In ihr ist grundsätzlich angelegt, was in der unternehmerischen<br />

Praxis zur Anwendung gelangt. Dabei stellt die Rationalität der<br />

Unternehmung eine Konkretion der ökonomischen Rationalität dar, die die<br />

allgemeinen ökonomischen Kategorien, Methoden und Darstellungsformen<br />

auf den Kontext der Unternehmung bezieht. Rekonstruiert man diese Rationalität<br />

der Unternehmung in Bezug auf ihre Teilnehmer, so kann von einer<br />

derivativen Lebenswelt der Unternehmung gesprochen werden. 192 In dieser<br />

Lebenswelt werden, wie in der originären Lebenswelt auch, von den Teilnehmern<br />

Fähigkeiten entwickelt, die ihrerseits einer Entwicklung – im transitiven<br />

und intransitiven Sinne – zugänglich sind. Da sie im engen Bezug auf<br />

die Unternehmung, jedoch immer auch durch und mit den Teilnehmern entstehen,<br />

kann man sie als organisatorische Fähigkeiten bezeichnen. 193 Im<br />

192 Vgl. hierzu Kirsch (1996: 357ff.) und Fußnote 186, Kapitel III.<br />

193 Vgl. hierzu Schreiner, G. (1998): Organisatorische Fähigkeiten: Konzeptualisierungsvorschläge<br />

vor dem Hintergrund einer evolutionären Organisationstheorie, München.<br />

Die bei Schreiner sehr komplex entwickelte Konzeption kann an dieser <strong>St</strong>elle nicht<br />

explizit zitiert werden. In der Hauptaussage versteht sich die Analyse der organisato-<br />

249


Folgenden wird es abschließend darum gehen, wie eine vor diesem Hintergrund<br />

verstandene Rationalitäten- und Fähigkeitenentwicklung inhaltlich zu<br />

belegen ist.<br />

Die organisatorische Fähigkeit, die eine planende Evolution, eine Ko-Evolution<br />

umsetzen kann, sensibilisiert die „Membran“, die Außengrenzen der<br />

Unternehmung, macht sie durchlässig und ermöglicht auf diese Weise ein<br />

organisationales Lernen an und mit der Umwelt. Zu dieser Umwelt gehört<br />

auch immer der einzelne Mitarbeiter, denn er bleibt immer auch andersartig,<br />

ist nie vollständig eins mit der derivativen Lebenswelt, immer nur Teil-<br />

Nehmer derselben. Diese Umwelt auch im Inneren des Systems fair, offen,<br />

authentisch und flexibel in die Gesamtorganisation integrieren zu können,<br />

bedarf eines hochsensiblen organisatorischen Fähigkeitenapparates, der sich<br />

auf Grundlage einer Rationalität der Unternehmung entwickeln kann. Wie<br />

jedoch sieht diese Fähigkeit in Bezug auf ihre Grundlage, die Rationalität der<br />

Unternehmung, aus?<br />

Kirsch bezeichnet in seinem Ansatz die organisatorischen Fähigkeiten als<br />

Basisfähigkeiten. Neben der Basisfähigkeit Lernen und der Basisfähigkeit<br />

Handeln scheint vor allem die Basisfähigkeit Responsiveness Charakterzüge<br />

aufzuweisen, die kompatibel mit den hier entwickelten Begriffen sind. Kirsch<br />

beschreibt die Responsiveness wie folgt:<br />

250<br />

„Die Responsiveness einer Organisation ist deren Fähigkeit, die Bedürfnislagen<br />

Betroffener zu erkennen und zu berücksichtigen, geht aber über das<br />

reine Berücksichtigen von Bedürfnissen in einem einzigen Kontext hinaus: In<br />

der Responsiveness eines Systems äußert sich ganz allgemein die Offenheit<br />

bzw. Empfänglichkeit für weitere Lebens- und Sprachformen und letztlich die<br />

Fähigkeit, die Welt auch in anderen, fremden Kontexten zu sehen, wahrzu-<br />

rischen Fähigkeiten bei Schreiner auch und vor allem als „kritische Organisationstheorie“<br />

(Schreiner 1998: 246; Hervorhebungen im Original). Indem sie den<br />

Fortschrittsbegriff in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, versteht sie sich als Fortsetzung<br />

des Projekts der Moderne - jedoch aus pluralistischer und konstruktivistischer<br />

Sicht. Dies hat zur Folge, dass sich hinter dem Fortschrittsverständnis weniger<br />

inhaltliche Dimensionen verbergen, diese aber in ihren Möglichkeiten reflektiert<br />

werden. In diesem Sinne bewegt sich die Analyse bei Schreiner durch den<br />

Gegenstand in einem tendenziell substantiellen Moderne-Verständnis, die Art der<br />

Bewegung geschieht jedoch nach postmodernen Regeln. Insofern ist die Konzeption<br />

bei Schreiner anschlussfähig an die hier entwickelte Konzeption, wobei die inhaltliche<br />

Belegung des Fortschrittbegriffs in dieser Argumentation durch die wirtschaftsethische<br />

Perspektive stärker im Vordergrund steht.


nehmen bzw. zu konstituieren. Damit wird eine kontextspezifische Bedürfnisinterpretation<br />

impliziert, deren Realisation natürlich entscheidend von der<br />

Grammatik bzw. Weltsicht anderer Lebens- und Sprachformen abhängt.“ 194<br />

Die Responsiveness transzendiert den sonstigen Handlungsfokus und<br />

nimmt Einstellungen, Haltungen und Sichtweisen auf, die zwar handlungsrelevanten<br />

Charakter haben, jedoch an sich keine Prozesse darstellen, denen<br />

ein direkter ökonomischer Bezug nachgewiesen werden kann. Im Kontext<br />

einer Erweiterung ökonomischer Rationalität scheint gerade diese Fähigkeit<br />

dasjenige darzustellen, was gemeinhin als „ethische Sensibilisierung“ also:<br />

Sensibilisierung für ethische Fragestellungen nicht nur im organisationalen<br />

Zusammenhang bezeichnet wird. Die Responsiveness stellt damit das Bindeglied<br />

zwischen der Konzeption von Kirsch und dem hier vorgestellten<br />

wirtschaftsethischen Zugang dar.<br />

Jedoch: Aus der hier entwickelten Perspektive stellt die Responsiveness - im<br />

Vergleich zu den Fähigkeiten Lernen und Handeln - qualitativ etwas anderes<br />

dar. Sie wird hier als konstitutive Voraussetzung der beiden anderen Basisfähigkeiten<br />

der Unternehmung reinterpretiert. Der Gleichordnung der<br />

Fähigkeiten bei Kirsch wird demnach nicht gefolgt. Die Differenz in diesem<br />

Punkt ergibt sich hauptsächlich durch die hier entwickelte Perspektive einer<br />

ökonomischen Vernunft und ökonomischen Ethik. In beiden, in Vernunft<br />

und Ethik, ist der Übergang als zentrales Spezifikum herausgestellt worden.<br />

Ob es die rationale Ahnung ist, die vernünftige Einsicht oder die ethische Notwendigkeit<br />

des Übergangs: für den Kontext der Unternehmung bleibt die<br />

Durchlässigkeit der organisatorisch-rationalen Membran diejenige Größe, welche<br />

den bestimmenden Faktor einer organisatorischen Weiterentwicklung darstellt<br />

und damit auch die Handlungs- und Lernfähigkeit der Unternehmung<br />

konstituiert. Diese Membran steht zwischen Innen (Systemlogik in Form von<br />

ökonomischer Rationalität) und Außen (lebensweltliche Rationalität) und<br />

wird in der hier entwickelten Konzeption in beide Richtungen durchlässig.<br />

Die Durchlässigkeit der Membran wird ergänzt durch einen organisatorischen<br />

Kern, dessen Offenheit für Differentes, für den Anderen und seine<br />

Denkweisen konstitutives Merkmal ist, was bedeutet, dass die Impulse von<br />

außen grundsätzlich beliebige Reaktionen im Inneren auslösen können und<br />

194 Kirsch (1997: 351; Hervorhebung im Original; Fußnoten weggelassen).<br />

251


nicht schon immer eine systemäquivalente Umdeutung erfahren. 195 Den<br />

organisatorischen Kern stellt bei Kirsch die Konzeption der „evolutionsfähigen<br />

Unternehmung“ dar. 196 Bei dieser evolutionsfähigen Unternehmung<br />

steht das Bestreben im Vordergrund, „einen Fortschritt in der Befriedigung<br />

der Bedürfnisse und Interessen der vom Handeln der Organisation direkt<br />

oder indirekt Betroffenen zu erzielen“ 197. Diesen Zielpunkt bezeichnet Kirsch<br />

als Fortschrittsmodell. 198 Bevor ein Unternehmen diese <strong>St</strong>ufe erreicht, „überwindet“<br />

es das Instrumentalmodell, in dem die Unternehmung „in allererster<br />

Linie als Instrument zur Durchsetzung von Interessen der primären Nutznießer“<br />

interpretiert wird. Die mittlere <strong>St</strong>ufe stellt das Überlebensmodell dar,<br />

das primär darauf ausgerichtet ist, angesichts aller Veränderungen innerhalb<br />

und außerhalb der Unternehmung den eigenen Bestand zu sichern. Der<br />

Zielpunkt dieser Höherentwicklung der Rationalität der Unternehmung<br />

generiert und reproduziert die Fähigkeiten der Unternehmung, stellt also<br />

deren rationalen Bezugsrahmen, deren Referenz dar. 199<br />

Die evolutionsfähige Unternehmung und ihre Ko-Evolution wird in der hier<br />

entwickelten Konzeption durch den Wechsel zwischen Routine und Flexi-<br />

195 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Unternehmung sich vollständig nach dem richtet,<br />

was die Umwelt, und damit nämlich auch der Markt, vorgibt; dies käme einem Sachzwang<br />

gleich.<br />

196 Wiesmann (1989: 259ff.) sieht enge Verbindungen zwischen der Kirsch’schen Position<br />

und der Position von Welsch, wenn man das Konzept der evolutionsfähigen Unternehmung<br />

betrachtet. Insbesondere die Komplementarität von prinzipieller und okkasioneller<br />

Rationalität, die sich an Spinner anlehnt, entspricht im Welsch’schen System<br />

der Komplementarität von Moderne und Postmoderne. Allerdings bleibt die Analyse<br />

von Wiesmann in ihren Analogien zu ungenau.<br />

197 Kirsch (1997: 653).<br />

198 Das Fortschrittsmodell kann aus der expliziten Betrachtung organisatorischer Fähigkeiten<br />

als kontrafaktisches Modell rekonstruiert werden, da die Feststellung der<br />

Fähigkeit stark beobachterabhängig ist. Schreiner (1998: 240ff.) resümiert vor dem<br />

Hintergrund einer Fähigkeitenbetrachtung, dass es adäquater erscheint, von einer<br />

fortschritssbewussten, anstatt von einer fortschrittsfähigen Unternehmung zu sprechen.<br />

Dies zollt nicht nur dem Ansatz eines gemäßigten Voluntarismus Tribut, sondern<br />

verdeutlicht auch die konsequent postmoderne Rekonstruktion der Moderne.<br />

199 Vgl. hierzu auch Bretz (1988: 321ff.). Unter dem Begriff der „Kultivierung der Intuition“<br />

verbindet Bretz die Sinnmodelle und deren Dynamik mit einer Betrachtung von<br />

linksseitiger (prinzipieller) und rechtsseitiger (okkasioneller) Rationalität und knüpft<br />

damit u. a. auch an die Doppelvernunft nach Spinner (1994) an. Bretz zeigt zudem<br />

auf, in welcher Weise sich in der Höherentwicklung der Unternehmung die Art der<br />

Austauschprozesse und die Komplexitätshandhabungsstrategien ändern und inwieweit<br />

diese wiederum mit der prinzipiellen und okkasionellen Vernunft in Verbindung<br />

stehen. Vgl. insbesondere die graphische Darstellung bei Bretz (1988: 333).<br />

252


ilität maßgeblich charakterisiert gesehen. 200 Die Balance zwischen diesen<br />

Größen ermöglicht wiederum dem Einzelnen, seine Räume der Selbstorganisation,<br />

Räume der Autonomie zu erhalten, eine Form individueller Selbstbestimmung<br />

zu verwirklichen und damit eine Balance zwischen Arbeit und<br />

Leben zu erreichen. 201 Diese Selbstbestimmung stellt einen Teil der Anerkennung<br />

des Einzelnen dar und ermöglicht dessen Selbstachtung. Somit<br />

können diese Methodenübergänge als vernünftige Übergänge interpretiert<br />

werden, auf deren Grundlage eine intersubjektiv-ethische Konsequenz, der<br />

Übergang zum Anderen, rekonstruiert werden kann. Methodenwechsel generieren<br />

eine Art „Schutzraum“, eine spezifische Form von Unternehmenskultur,<br />

in der die individuellen Entscheidungen auch trotz sozialer und<br />

fachlicher Zwänge der Unternehmung faktisch möglich sind. Eine solchen<br />

Übergang in zweifacher Weise zu etablieren, dies stellt sich als eine der zentralen<br />

Herausforderungen der Gestaltung von Unternehmen dar.<br />

200 „Routine“ wurde bereits im Zusammenhang mit der Flexibilisierung näher beschrieben.<br />

Vgl. hierzu Abschn. 2.2. Routine stellt eine „Insel“ im <strong>St</strong>rom der Geschäftigkeit<br />

dar, die immun ist gegen alltäglichen Druck und Hektik. Dieser Raum ist wesentliche<br />

Voraussetzung der Möglichkeit einer Erzählung, einer Identitätsbildung. In dieser<br />

Selbstreflexion identifiziert sich der Einzelne in seinen Erwartungen und Ansprüchen,<br />

aber auch in seinen Fähigkeiten und Beiträgen für die Unternehmung und kann auf<br />

diese Weise reflektierter zu einem gemeinsamen organisatorischen Prozess beitragen.<br />

201 Eine solche Selbstbestimmung beobachtet Voß im Kontext der Unternehmung und<br />

beschreibt dies als eine ideelle oder motivationale Entgrenzung, welche dazu führt,<br />

dass eine gemeinsame (organisationale) Ausrichtung und Orientierung der Mitarbeiter<br />

zur Ausnahme betrieblicher Praxis mutiert. Eine „kognitive Parallelisierung“, welche<br />

noch vor einigen Jahren als Zeichen einer optimal umgesetzten Unternehmenskultur<br />

(in diesem Fall i.S.v. Identifikation mit der Unternehmung gemeint) galt, wird<br />

heute– als eher unkreativ, nicht produktiv und im strategischen Sinne als<br />

problematisch empfunden. Vgl. nach Voß (1998) beispielsweise Clutterbuck,<br />

D./Kernaghan, S. (1995): Empowerment – So entfesseln Sie die Talente ihrer<br />

Mitarbeiter, Landsberg; Herriot, P./Pemberton, C. (1994): Competitive Advantage<br />

Through Diversity. Organizational Learning from Difference, London; Sprenger, R.K.<br />

(1996): Mythos Motivation. Wege aus einer Sackgasse, Frankfurt/New York. Der<br />

Einzelne muss auf dem Wege der Eigenmotivierung eine selbständige Sinnsetzung in<br />

der und in die Arbeit vornehmen, er soll die Charakteristika seiner individuellen<br />

Persönlichkeit wahrnehmen, handhaben und in dieser personalen Differenz zu seinen<br />

Kollegen die Quelle der interpersonalen Produktivität suchen und ausschöpfen.<br />

Differenz wird aus dieser Perspektive nicht destruktiv wahrgenommen, sondern<br />

konstruktiv aufgelöst.<br />

253


254


IV Fazit<br />

Die Argumentation hat versucht, einen Bezugsrahmen aufzuspannen, in<br />

dem sich Rationalität, Vernunft und Ethik der Ökonomie zueinander verhalten.<br />

Dieses Verhaltensmuster ist einerseits geprägt durch qualitative Differenzen,<br />

andererseits gekennzeichnet durch Konnexion dieser Bereiche.<br />

Auch wenn die Weiterentwicklung ökonomischer Rationalität nicht bedeuten<br />

kann, dass aus Rationalität Vernunft wird, so kann doch eine Weiterentwicklung<br />

im starken Sinne, also eine Entwicklung, die ihre eigenen Grenzen<br />

transzendiert, die Konnexion zu Vernunft herstellen und damit teilhaben.<br />

Die Öffnung der eigenen Grenzen setzt eine grundsätzliche (Selbst-)Reflexion<br />

voraus, die sich selbstreferentiell in den eigenen Reflexionsbereich in<br />

fundamentaler, d. h. in einer die eigene Begründung umfassend in Frage<br />

stellenden Weise einbezieht und so die Transformation in einen weiteren,<br />

vernünftigen Kontext vollzieht.<br />

Eine zusätzliche Erweiterung stellt die ethische Reflexion dar, die jedoch<br />

nicht einen derart qualitativen Schritt beschreibt, sondern eine konsequente<br />

Fortführung der vernünftigen Einsicht in die Notwendigkeit von Konnexion,<br />

also von nicht-vereinheitlichender Verbindung darstellt. Diese konsequente<br />

Fortführung vollzieht eine normativ-inhaltliche Setzung der vernünftigen<br />

Einsicht, bleibt jedoch in gleichem Maße der Grundstruktur, der Konnexion<br />

von Heterogenitäten, auch in der Normativität verpflichtet. Dies hat dazu<br />

geführt, dass sich die Normativität nicht durch spezifisch-konkrete Inhalte<br />

konstituiert, sondern auf einer abstrakteren Ebene - und damit partiell losgelöst<br />

von konkreten Inhalten, aber auch von konkretem subjektiven Zugriff<br />

und Willkür - durch die bewusste Wahrnehmung der Andersartigkeit des<br />

Anderen ausdrückt. Hiermit verbunden ist die Notwendigkeit der Gestaltung<br />

von Übergängen.<br />

Im ökonomischen Kontext konstituiert sich der Übergang zum Anderen in<br />

dem Übergang zwischen den Rationalitäten. Dieser Übergang stellt den Anschluss<br />

an eine Vernunft dar, die trotz heterogener Verfasstheit, trotz inhaltlicher<br />

Reduziertheit, Zugang zum Ganzen aufweisen kann. Im Vollzug der<br />

Vernunft wird auch die ökonomische Rationalität in ihrer relativierenden<br />

Relationalität rekonstruiert und damit in Beziehung gesetzt zu den sie umgebenden<br />

Kontexten. Dieser Vollzug bringt die Verwiesenheit der Kontexte<br />

untereinander zum Vorschein und verknüpft auf diese Weise die ökonomische<br />

Rationalität mit dem Kriterium der Lebensdienlichkeit.


In der Argumentation ist deutlich geworden, in welchem Spannungsfeld sich<br />

der Einzelne im ökonomischen Kontext bewegt. Um eine Anschlussfähigkeit<br />

ökonomischer Rationalität zu erlangen, ist der Einzelne als Träger und<br />

Betroffener ökonomischer Rationalität in zweifacher Weise herausgefordert,<br />

die notwendige differenzierte und differenzierende Distanz zu entwickeln,<br />

die eine grundsätzliche Reflexion ermöglicht und auf diese Weise zu einer<br />

tatsächlichen, real-wirksamen Anschlussfähigkeit beitragen kann. Dies<br />

würde einer Art von Autonomie entsprechen, die als „Schutzraum“ von<br />

Seiten der Unternehmung bzw. Gesellschaft institutionalisiert werden kann.<br />

256<br />

„Es sind ja nicht mehr bloß die einzelnen Individuen gefordert, im Sinne ihres<br />

Autonomiezuspruchs von Vernunft als Selbstreflexion Gebrauch zu machen<br />

(auch diese brauchen dafür eine willentliche Entscheidung, von selbst geschieht<br />

auch diese Selbstreflexion nicht so ohne weiteres), eigentlich wären<br />

ganze Systeme gebeten zu überlegen, was sie sind, was sie wollen, und ob wir<br />

wollen, daß sie sind, was sie sind. In diesem Vorgang kollektiver Anstrengung<br />

wird der Imperativ nach transversalem Vernunftgebrauch zu einer<br />

Frage der Organisierbarkeit von Selbst-Systemdifferenz und –transzendenz.“ 1<br />

Diese „kollektive Anstrengung“ weist jedoch immer auch auf den Einzelnen<br />

zurück. Das Subjekt stand als Träger und Betroffener von Rationalität, Vernunft<br />

und Ethik im Mittelpunkt auch dieser Argumentation. In der individuellen<br />

Anstrengung verwirklicht sich die individuelle Autonomie, die der<br />

Einzelne qua Vernunft erfahren und erleben kann. Die individuelle Autonomie<br />

kann der Autonomie des Systems entgegenstehen, wenn ihr <strong>St</strong>atus<br />

durch das System eingeschränkt wird. Gleichzeitig kann auch das System<br />

durch die individuelle Autonomie beschränkt werden. Durch die immanente<br />

Verbindung der individuellen Autonomie mit Vernunft fällt dieser Autonomie,<br />

so auch in der vorgestellten Argumentation, ein prinzipieller Vorrang<br />

gegenüber der Autonomie des Systems zu. Die systemische Autonomie legitimiert<br />

sich vornehmlich durch Rationalität. Polarisiert man dies, so ließe<br />

sich festhalten, dass der Einfluss der individuellen Autonomie auf die<br />

Systemautonomie latent konstruktiv, weil transzendierend wirkt, die<br />

systemische Autonomie latent destruktiv, weil reduktionistisch-kontingent<br />

wirkt.<br />

1 Heintel (2000: 106).


Eine transversale Vernunft im Kontext der Unternehmung weiß, die individuelle<br />

Autonomie in Verbindung zu bringen mit anderen individuellen<br />

Autonomien, ohne dass die Individualität verloren geht, die ökonomische<br />

Ethik weiß, diese Verbindungen zu „nutzen“, ohne dass die Autonomie<br />

verloren geht – Autonomie um ihrer selbst Willen.<br />

Eine ökonomisch-transversale Vernunft weiß, individuelle und systemische<br />

Autonomie zusammenzudenken und den lebensdienlichen Beitrag beider<br />

Autonomien zu identifizieren. Damit steht sie zwischen der Lebens- und<br />

Arbeitswelt. Als transversaler Übergang plädiert sie auf beiden Seiten für<br />

Offenheit und Sensibilisierung. Solange die ökonomische Rationalität nur<br />

disziplinär denkt, aber interdisziplinär handelt, solange läuft sie Gefahr,<br />

überfordert zu sein und solange der Mensch die ökonomische Rationalität<br />

nicht in ihrer defizitären <strong>St</strong>ruktur erkennt, solange läuft er Gefahr, aufgrund<br />

der rationalen Verengung der Lebenswelt durch die ökonomische Rationalität<br />

latent von den übrigen Problemstellungen überfordert zu sein.<br />

257


Literaturverzeichnis<br />

Es werden für folgende Fachzeitschriften Abkürzungen verwendet:<br />

� „Ethik und Sozialwissenschaften“: EuS<br />

� „Berliner Forum zur Wirtschafts- und Unternehmensethik (Hrsg.): Zeitschrift<br />

für Wirtschafts- und Unternehmensethik, Mering“: zfwu<br />

Zuweilen ist der englische Originaltitel zusätzlich zu der deutschen Übersetzung<br />

genannt, wenn sich nach Meinung des Verfassers zu starke inhaltliche<br />

Verzerrungen durch die Übersetzung ergeben bzw. der englische Titel signifikant<br />

aufschlussreicher erscheint. Ebenso ist das Jahr der Ersterscheinung<br />

genannt, wenn sich hier starke Differenzen ergeben.<br />

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Marburg, S. 47-70.<br />

Wittgenstein, L. (1953): Philosophische Untersuchungen, Oxford.<br />

Wittgenstein, L. (1984): Philosophische Untersuchungen, in: ders. (1984):<br />

Werkausgabe, Bd. I, Frankfurt, S. 225-580.<br />

Wittwer, H. (2000): Wider den neuen Purism der Vernunft, in: EuS, Jg. 11,<br />

H. 1, S. 161-162.<br />

Wöhe, G. (1973): Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre,<br />

11. Aufl., München.<br />

Wuchterl, K. (2000): Transversale Vernunft - eine ästhetische Illusion, in: EuS,<br />

Jg. 11, H. 1, S. 162-164.<br />

Wüstehube, A. (2000): Rationalität versus Vernunft - Ein müßiger <strong>St</strong>reit, in:<br />

EuS, Jg. 11, H. 1, S. 164-166.<br />

Wulf, C. (1987): Lebenszeit – Zeit zu leben? Chronokratie versus Pluralität<br />

der Zeiten, in: Kamper/Wulf (1987), S. 266-275.<br />

Wunderer, R. (1988): Die Betriebswirtschaftslehre als Management- und<br />

Führungslehre, 2. ergänzte Aufl., <strong>St</strong>uttgart.<br />

275


Zweck, A. (1993): Die Entwicklung der Technikfolgenabschätzung zum<br />

gesellschaftlichen Vermittlungsinstrument, Opladen.<br />

276


Lebenslauf<br />

1982 – 1991 Kieler Gelehrtenschule, Altsprachl. Gymnasium, Kiel<br />

1991 – 1998 Betriebswirtschaftslehre an der<br />

Christian-Albrechts-<strong>Universität</strong> zu Kiel<br />

<strong>Universität</strong> Osnabrück<br />

Ludwig-Maximilians-<strong>Universität</strong> zu München (Dipl.-Kfm.)<br />

1998 – 2000 Soziologie (Vordiplom) an der<br />

Ludwig-Maximilians-<strong>Universität</strong> zu München<br />

1999 – 2002 Promotion zum Dr. oec.<br />

<strong>Universität</strong> <strong>St</strong>. <strong>Gallen</strong>, Schweiz<br />

1998 – 2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Technik-<br />

Theologie-Naturwissenschaften (TTN), München<br />

Bereich: Wirtschaftsethik<br />

1991 – 2002 Praktika<br />

BDO AG, Kiel<br />

Siemens AG, München<br />

DaimlerChrysler AG, <strong>St</strong>uttgart<br />

Bayrischer Rundfunk, München<br />

Skymore-Productions, New York<br />

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