30.11.2012 Aufrufe

Wachstum der Wirbelsäule unter normalen und krankhaften ...

Wachstum der Wirbelsäule unter normalen und krankhaften ...

Wachstum der Wirbelsäule unter normalen und krankhaften ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

2<br />

Orthopäde<br />

2002 · 31:2-10 © Springer-Verlag 2002<br />

Zusammenfassung<br />

Das <strong>Wirbelsäule</strong>nwachstum erfolgt ähnlich<br />

dem <strong>der</strong> Extremitäten. Die Dynamik ist<br />

<strong>unter</strong>schiedlich in den einzelnen <strong>Wachstum</strong>szonen<br />

<strong>der</strong> Wirbel. Die neurozentralen<br />

Bogenepiphysen, <strong>der</strong>en <strong>Wachstum</strong> die<br />

Größe des Wirbelkanals bestimmt, sind<br />

bereits embryonal <strong>und</strong> in <strong>der</strong> frühen Kindheit<br />

analog zur Entwicklung des zentralen<br />

Nervensystems äußerst aktiv. Hingegen ist<br />

das enchondrale Höhenwachstum erst nach<br />

<strong>der</strong> Pubertät, bei Jungen erst am Ende des<br />

17. Lebensjahrs abgeschlossen.<br />

Das enchondrale <strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

reagiert empfindlicher auf Störungen<br />

als das periostale Tiefen- <strong>und</strong> Breitenwachstum<br />

<strong>der</strong> Wirbelkörper. Das <strong>Wirbelsäule</strong>nwachstum<br />

ist zwar genetisch determiniert,<br />

wird aber speziell in <strong>der</strong> Adoleszenz beispielsweise<br />

durch die Haltung (Kyphose)<br />

beeinflusst. Dies bietet die Möglichkeit eines<br />

Therapieansatzes bei <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten.<br />

Da die <strong>Wirbelsäule</strong> eine Glie<strong>der</strong>kette<br />

mit 25 Einheiten ist, gibt es weitaus mehr<br />

Möglichkeiten eines kompensatorischen<br />

<strong>Wachstum</strong>s bei kurzstreckigen <strong>Wachstum</strong>sstörungen<br />

als bei den Extremitäten. Die<br />

Gesamtaufrichtungstendenz <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

ist faszinierend.Während des <strong>Wachstum</strong>s<br />

werden Deformitäten in den angrenzenden<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nabschnitten ausgeglichen,<br />

sodass die Augenachse horizontalisiert<br />

bleibt <strong>und</strong> Abweichungen vom Lot nur<br />

selten entstehen.<br />

Die Arbeit beschreibt das physiologische,<br />

makromorphologische <strong>Wachstum</strong> <strong>und</strong><br />

die Wuchsän<strong>der</strong>ungen bei Bestrahlungen<br />

wegen Wilmstumoren, bei <strong>der</strong> Spondylolisthesis,<br />

von Kyphosen <strong>und</strong> von dorsalen<br />

Schlussstörungen <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

J. Pfeil · Orthopädische Klinik im St.Josefs-Hospital Wiesbaden<br />

<strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

<strong>unter</strong> <strong>normalen</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>krankhaften</strong> Bedingungen<br />

Schlüsselwörter<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nwachstum · Strahlenskoliose ·<br />

Spondylolisthesis · Kyphose ·<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nmorphologie<br />

Anatomie <strong>und</strong> Physiologie<br />

des <strong>Wirbelsäule</strong>nwachstums<br />

Die embryonale <strong>Wirbelsäule</strong> wird zunächst<br />

mesenchymal angelegt. Über die<br />

knorpelige Präformierung erfolgt dann<br />

die Ossifikation,die zentral im Wirbelkörper<br />

beginnt (Abb. 1). An den einzelnen<br />

Wirbeln sind anatomisch <strong>unter</strong>schiedliche<br />

<strong>Wachstum</strong>szonen zu beobachten.<br />

Das Höhenwachstum <strong>der</strong> Wirbelkörper<br />

erfolgt enchondral an den<br />

knorpeligen <strong>Wachstum</strong>splatten,die zwischen<br />

dem bereits ossifizierten Wirbelkörper<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> knorpeligen Endplatte<br />

liegen,in <strong>der</strong> die Fasern des Anlus fibrosus<br />

einstrahlen. Die Frage,ob die kraniale<br />

o<strong>der</strong> kaudale <strong>Wachstum</strong>szone einen<br />

größeren Anteil am Höhenwachstum<br />

hat,wurde bereits 1962 von Larsen u.<br />

Nordentoft [10] definitiv beantwortet,<br />

die anhand von <strong>Wachstum</strong>sstillstandslinien<br />

bei temporär schweren Erkrankungen<br />

im Kindesalter die Symmetrie des<br />

<strong>Wachstum</strong>s <strong>der</strong> Deck- <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>platte<br />

nachweisen konnten (Abb. 2).<br />

Im Gegensatz zum enchondralen<br />

Höhenwachstum erfolgt das Tiefen- <strong>und</strong><br />

Breitenwachstum perichondral. Ventral<br />

ist <strong>der</strong> Zuwachs am ausgeprägtesten,<br />

zum Wirbelkanal hin findet kein Tiefenwachstum<br />

statt. Der Wirbelkanal selbst<br />

ist bereits beim Kleinkind annähernd so<br />

groß wie bei Erwachsenen. Dies hängt<br />

mit dem <strong>Wachstum</strong> des Neurokraniums<br />

zusammen,das sich bekannter Weise<br />

(Vergleich zur Schädelgröße) embryonal<br />

sowie im Säuglings- <strong>und</strong> Kleinkindesalter<br />

überproportional entwickelt.<br />

Anatomisch ist das <strong>Wachstum</strong> des<br />

Wirbelbogens sowohl in den neurozentralen<br />

Bogenepiphysen als auch in <strong>der</strong><br />

knorpeligen Zone zwischen den beiden<br />

Wirbelbogenenden (physiologische Spina<br />

bifida im Embryonal- <strong>und</strong> Kleinkindesalter;<br />

Abb. 3) lokalisiert. Hierbei zeigt<br />

die neurozentrale Bogenepiphyse ein<br />

sehr starkes <strong>Wachstum</strong> embryonal <strong>und</strong><br />

im Kleinkindesalter (Abb. 4). Knutsson<br />

[9] sah bis zum 5. Lebensjahr eine stetige<br />

Zunahme <strong>der</strong> Interpedukularkonstanz,die<br />

sich bis zum 10. Lebensjahr<br />

nur noch gering weiter entwickelt <strong>und</strong><br />

dann fast unverän<strong>der</strong>t bleibt. Das enchondrale<br />

<strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong> neurozentralen<br />

Bogenepiphyse ist dementsprechend<br />

bereits beim 5- bis 6-Jährigen weitgehend<br />

abgeschlossen,beim 10-Jährigen<br />

ist diese Epiphyse meistens schon verschlossen.<br />

Dorsal erfolgt <strong>der</strong> Bogenschluss bezogen<br />

auf die gesamte <strong>Wirbelsäule</strong> in<br />

kraniokaudaler Richtung [22]. Der Bogenschluss<br />

von L5 <strong>und</strong> S1 erfolgt erst<br />

postnatal. So fand Fredrickson [5] in einer<br />

Längsstudie von 500 <strong>Wirbelsäule</strong>nges<strong>und</strong>en<br />

bei 6-Jährigen noch einen inkompletten<br />

Bogenschluss von L5 von<br />

18%,bei Erwachsenen nur noch von 7%.<br />

Prof. Dr. J. Pfeil<br />

Orthopädische Klinik, St. Josefs-Hospital<br />

Wiesbaden, Standort Mosbacher Straße 10,<br />

65187 Wiesbaden


Orthopäde<br />

2002 · 31:2-10 © Springer-Verlag 2002<br />

J. Pfeil<br />

Spinal growth un<strong>der</strong> physiological<br />

and pathological conditions<br />

Abstract<br />

Spinal growth is developing analogously to<br />

extremity growth. As the vertebral spine is<br />

built by 25 “vertebral units”there are much<br />

more possibilities of compensatory growth<br />

in short parts of pathologic alterations than<br />

there are in cases of affected extremities that<br />

only show epiphyseal compensations in<br />

metaphyseal or diaphyseal deformities<br />

(such as juvenile fractures).The dynamics of<br />

growth is different in the spine.The neurocentral<br />

epiphysis, basis to seize of spinal<br />

channel, shows very strong dynamics in<br />

embryonal and early childhood growth<br />

corresponding to the development in central<br />

nerve system.Whereas, enchondral height<br />

growth of vertebral bodies does not end<br />

after puberty, in male sex even at about the<br />

age of eighteen.<br />

Enchondral growth of the spine is much<br />

more sensible to affections than periostal<br />

growth.This is analogous in the extremities.<br />

Spinal growth is determined genetically, but<br />

especially in puberty it can be influenced by<br />

the child's posture.This is a therapeutic hint<br />

especially for the period of fast vertebral<br />

growth in puberty.The strong straightening<br />

tendency of spine is fascinating.Thus, in the<br />

period of growth all spinal deformities are<br />

compensated by the vertebral segments<br />

below and above, so that the axis appears in<br />

horizontal line and the spine altogether in<br />

perpendicular position.<br />

Keywords<br />

Spinal growth · Radiologically induced<br />

scoliosis · Spondylolisthesis · Kyphosis ·<br />

Spinal morphology<br />

Abb. 1 � Beginn <strong>der</strong> zentralen Wirbelkörperossifikation.<br />

Radiär um den verknöcherten<br />

Kern sind Blutgefäße angeschnitten<br />

(5. Embryonalmonat)<br />

Das <strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong> Wirbelgelenke<br />

verläuft analog zu dem <strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong><br />

Gelenke <strong>der</strong> Extremitäten. Die Gelenke<br />

werden durch enchondrales <strong>Wachstum</strong><br />

<strong>unter</strong> <strong>der</strong> funktionellen Beanspruchung<br />

in ihrer definitiven Form <strong>und</strong> Größe<br />

ausgebildet. Die Bandscheiben entwickeln<br />

sich aus <strong>der</strong> Chorda dorsalis.<br />

Bereits <strong>der</strong> fötale Nucleus pulposus ist<br />

nicht vaskularisiert. Die Blutgefäße enden<br />

an <strong>der</strong> Außenseite des Anulus fibro-<br />

Abb. 2 � Wirbel in Wirbelbildung<br />

bei einer 26-jährigen Frau, die<br />

im Alter von 5 Jahren an einem<br />

Lungenabszess erkrankt war [10]<br />

sus. Mit <strong>der</strong> Größen- <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e<br />

Breitenzunahme <strong>der</strong> Wirbelkörper<br />

wächst <strong>der</strong> Anulus fibrosus analog. Der<br />

bei <strong>der</strong> Geburt fast die gesamte Bandscheibe<br />

ausfüllende Nucleus pulposus,<br />

in dem nekrotische Reste <strong>der</strong> Kaudalzellen<br />

beim Kleinkind nachweisbar sind,<br />

nimmt in <strong>der</strong> Relation an Größe ab. Der<br />

kindliche Nucleus pulposus wirkt wie<br />

eine prall elastische Kugel <strong>und</strong> überträgt<br />

ventral den axialen Kraftfluss zum überwiegenden<br />

Teil (Abb. 5). Erst im Erwachsenenalter<br />

wird durch degenerative Verän<strong>der</strong>ungen<br />

diese physiologische Funktion<br />

<strong>der</strong> Bandscheiben aufgehoben.<br />

Die Muskulatur des Rumpfes entwickelt<br />

sich analog zu dem <strong>der</strong> Gliedmaßen<br />

[2]. Die <strong>Wirbelsäule</strong> insgesamt<br />

nimmt während des <strong>Wachstum</strong>s an Höhe<br />

<strong>und</strong> Breite zu. Die meisten Daten<br />

stammen aus Längsschnitt<strong>unter</strong>suchungen<br />

mit Messungen <strong>der</strong> Sitz- <strong>und</strong> Stehgröße<br />

[1,4]. Des Weiteren wurden röntgenmorphometrische<br />

Vermessungen<br />

am Einzelwirbel durchgeführt [6]. Alle<br />

Untersuchungen zeigen ähnliche Ergebnisse.<br />

Es besteht eine deutliche zeitliche<br />

Diskrepanz zwischen dem <strong>Wachstum</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>unter</strong>en Extremität <strong>und</strong> dem Rumpfwachstum.<br />

Während vor <strong>und</strong> zu Beginn<br />

<strong>der</strong> Pubertät die <strong>unter</strong>e Extremität eine<br />

maximale <strong>Wachstum</strong>sdynamik hat,setzt<br />

das maximale <strong>Wirbelsäule</strong>nwachstum<br />

etwa 2 Jahre später ein <strong>und</strong> setzt sich um<br />

die gleiche Zeit dann nach Sistieren des<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 3


4<br />

Längenwachstums <strong>der</strong> <strong>unter</strong>en Extremität<br />

fort. Bei Mädchen wird das <strong>Wachstum</strong><br />

des Rumpfes mit dem 10.,bei Jungen<br />

erst mit dem 11. Lebensjahr akzeleriert.<br />

Die Knaben wachsen hingegen<br />

ausgeprägter <strong>und</strong> länger als die Mädchen.<br />

Somit ist das enchondrale <strong>Wachstum</strong><br />

an <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> im Bereich des<br />

Wirbelbogens weit vor dem Abschluss<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 3a–c � Vergleich <strong>der</strong> (axialen) Wirbelanatomie beim 3-jährigen (a) <strong>und</strong> 10-jährigen Kind (b)<br />

mit dem Erwachsenen (c). Zu beachten sind die neurozentralen Bogenepiphysen zwischen<br />

Wirbelkörper <strong>und</strong> -bögen sowie die knorpelige Überbrückung <strong>der</strong> dorsalen Bogenenden<br />

des <strong>Wachstum</strong>s <strong>der</strong> Extremitätenfugen,<br />

das enchondrale Höhenwachstum erst<br />

nach dem Sistieren desselben beendet.<br />

Pathophysiologie<br />

des <strong>Wirbelsäule</strong>nwachstums<br />

Die Form <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> wird durch hereditäre<br />

Faktoren aber auch durch die<br />

Abb. 4a,b � Die neurozentrale<br />

Bogenepiphyse<br />

im axialen (a) <strong>und</strong> sagittalen<br />

(b) Schnitt<br />

funktionelle Beanspruchung während<br />

des <strong>Wachstum</strong>s geprägt. Durch die Vielzahl<br />

<strong>der</strong> einzelnen Wirbel- <strong>und</strong> Bewegungssegmente<br />

sind kompensatorische<br />

<strong>Wachstum</strong>sverän<strong>der</strong>ungen bei lokalisierten<br />

<strong>Wachstum</strong>sstörungen eines <strong>Wirbelsäule</strong>nabschnitts<br />

immer nachweisbar.Die<br />

Kenntnis <strong>der</strong> Pathophysiologie <strong>der</strong> wachsenden<br />

<strong>Wirbelsäule</strong> entsteht demnach<br />

zum einen durch Einzelbeobachtungen<br />

bei Formverän<strong>der</strong>ungen eines <strong>Wirbelsäule</strong>nabschnitts,durch<br />

experimentelle<br />

Untersuchungen,insbeson<strong>der</strong>e aber<br />

durch die Analyse von kindlichen <strong>Wirbelsäule</strong>nerkrankungen<br />

<strong>und</strong> Nach<strong>unter</strong>suchungen<br />

bei therapeutischen Interventionen<br />

an <strong>der</strong> kindlichen <strong>Wirbelsäule</strong>.<br />

Verlaufsbeobachtungen<br />

kindlicher Spondylolisthesen<br />

Spondylolisthesen werden nur beim bidpedal<br />

gehenden Menschen beobachtet.<br />

Beim Neugeborenen sowie bei Kin<strong>der</strong>n,<br />

die nicht zum Laufen gekommen sind,<br />

wurde nie eine Spondylolyse o<strong>der</strong> als<br />

Folge davon eine Spondylolisthesis festgestellt.<br />

So ist die Rate <strong>der</strong> Spondylolyse<br />

während des <strong>Wachstum</strong>s ansteigend [5].<br />

Biomechanisch wird die Spondylolyse<br />

als Ermüdungsbruch des Zwischengelenkstücks<br />

erklärt. Insbeson<strong>der</strong>e Rotationsbewegungen<br />

bei axialen Belastungen,Reklination<br />

<strong>der</strong> lumbalen <strong>Wirbelsäule</strong><br />

werden sowohl experimentell<br />

als auch durch die Beobachtung <strong>der</strong><br />

Häufung <strong>der</strong> Spondylolyse bei Sportarten<br />

mit entsprechen<strong>der</strong> Rückenbelastung<br />

erklärt [8,18,19]. Dasselbe gilt für<br />

Kin<strong>der</strong> mit hochstehenden Hüftluxationen<br />

[25] <strong>und</strong> Kautschukkontorsionisten,<br />

die die Hypermobilität durch Hyperflexion<br />

<strong>der</strong> lumbalen <strong>Wirbelsäule</strong> erreichen.<br />

Auch Erkrankungen mit Verschlechterung<br />

<strong>der</strong> Knochentextur weisen<br />

eine hohe Spondylolyserate auf [25].<br />

Weiterhin ist mehrfach auch auf die erhöhte<br />

Inzidenz <strong>der</strong> lumbosakralen Spina<br />

bifida bei <strong>der</strong> Spondylolyse hingewiesen<br />

worden.<br />

Noch in den 1940er Jahren gab es<br />

keinen Bericht von fortschreitendem<br />

Gleiten zwischen zwei Untersuchungen.<br />

Bereits Neugebauer [12],<strong>der</strong> 1960 publizierte<br />

Einzelfälle mit Progression <strong>der</strong><br />

Spondylolisthesis zusammenfasste,bemerkte,dass<br />

nicht nur ein Ventralgleiten<br />

son<strong>der</strong>n insbeson<strong>der</strong>e eine starke Kippung<br />

(Kyphosierung) im spondylolisthetischen<br />

Segment eintrat (Abb. 6).


Abb. 5 � Kindliche Bandscheibe (11 Jahre)<br />

Darstellung des Nucleus pulposus <strong>und</strong> des Anulus<br />

fibrosus<br />

In eigenen Studien wurden 62 Kin<strong>der</strong>,bei<br />

denen während des <strong>Wachstum</strong>s<br />

eine Spondylolisthesis diagnostiziert<br />

wurde,über durchschnittlich 5 1/2 Jahre<br />

nachbeobachtet. Radiologisch ausgewertet<br />

wurden die Bogenschlussstörungen<br />

L5 <strong>und</strong> S1 sowie die Interartikularportion<br />

(keine Verän<strong>der</strong>ung/Lyse/Elongation/Elongation<br />

mit Lyse). Die Ventralverschiebung<br />

wurde nach Meyerding<br />

<strong>und</strong> Marique gemessen [11]. Die Kyphosierung<br />

des Bewegungssegmentes nach<br />

Boxall et al. [3] sowie nach van Rens <strong>und</strong><br />

van Horn ([17]; Abb. 7). Qualitativ fielen<br />

bei dem seitlichen Strahlengang zwei reproduzierbare<br />

Verän<strong>der</strong>ungen des Sakralplateaus<br />

auf. Die S-Form ist gekennzeichnet<br />

durch eine Ausmuldung des<br />

dorsalen Sakralplateaus bei physiologisch<br />

ventraler Sakralfläche. Die Kuppelform<br />

entsteht durch eine völlige Abr<strong>und</strong>ung<br />

<strong>der</strong> gesamten kranialen Sakralfläche<br />

insbeson<strong>der</strong>e im ventralen Bereich.<br />

Im Verlauf wurde auf das Vorhandensein<br />

dieser qualitativen Merkmale geachtet.<br />

Auffällig war,dass nach Meyerding<br />

I <strong>und</strong> II sich bei 30 Patienten die S-Form,<br />

bei 2 Patienten die Kuppelform <strong>und</strong> bei<br />

15 Patienten eine physiologische Ausgestaltung<br />

des Sakralplateaus zeigten,<br />

während hingegen nach Meyerding III<br />

<strong>und</strong> IV immer eine Kuppelform vorlag.<br />

Bis zu einer Ventralverschiebung von<br />

20% wurde die Kuppelform nie nachgewiesen.<br />

Dementsprechend war die Kuppelform<br />

auch mit einer pathologischen<br />

Kyphosierung im Gleitsegment verb<strong>und</strong>en.<br />

Eine Progredienz im Verlauf wurde<br />

bei einem unauffälligen Sakralplateau<br />

nie,bei <strong>der</strong> S-Form in etwa <strong>der</strong> Hälfte<br />

<strong>der</strong> Patienten,bei <strong>der</strong> Kuppelform immer<br />

beobachtet.Auffällig war bei höher-<br />

gradigen Spondylolisthesen die konstant<br />

nachweisbare hyperkompensatorische<br />

Hyperlordose <strong>der</strong> darüber liegenden<br />

lumbalen <strong>Wirbelsäule</strong> mit vermehrtem<br />

Höhenwachstum („Tonnenwirbel“).<br />

Auch wir fanden eine deutliche Erhöhung<br />

<strong>der</strong> Inzidenz <strong>der</strong> Spina bifida occulta.<br />

Insbeson<strong>der</strong>e bei Elongation <strong>der</strong><br />

Interartikularportion zeigte sich eine<br />

hohe Inzidenz <strong>der</strong> Spina bifida occulta<br />

lumbosakral (48%).<br />

Zusätzlich führten wir funktionsmorphologische<br />

Untersuchungen an<br />

kindlichen <strong>Wirbelsäule</strong>n durch. Hierbei<br />

wurde vor <strong>und</strong> nach iatrogener Durchtrennung<br />

<strong>der</strong> Interartikularportion die<br />

Abb. 6 � Progression einer<br />

Spondylolisthesis zwischen<br />

6 <strong>und</strong> 8 Jahren mit Verän<strong>der</strong>ung<br />

des Sakralplateaus von <strong>der</strong><br />

S- zur Kuppel-Form<br />

Abb. 7a,b � Quantifizierung<br />

<strong>der</strong> Kippung bei<br />

<strong>der</strong> Spondylolisthesis.<br />

a Nach Boxall et al. [3];<br />

b nach van Rens <strong>und</strong><br />

van Horn [17]<br />

Mobilität im Segment <strong>unter</strong>sucht. Bei allen<br />

Präparaten wurde durch die Durchtrennung<br />

<strong>der</strong> Interartikularportion die<br />

Reklinationsfähigkeit (im Gegensatz zur<br />

Inklinationsfähigkeit) vermehrt. Die<br />

Spondylolyse erhöht somit die Mobilität<br />

des Bewegungssegments zu Lasten <strong>der</strong><br />

Stabilität. Ferner fanden wir bei Präparaten<br />

mit noch nicht vorhandenem knöchernen<br />

Bogenschluss (Spina bifida),<br />

dass sich die Mobilität <strong>der</strong> beiden Wirbelbogenenden<br />

zueinan<strong>der</strong> durch die<br />

durchgeführte Spondylolyse vergrößerte.Aus<br />

den klinischen Verlaufsbeobachtungen<br />

<strong>und</strong> den experimentellen Untersuchungen<br />

werden folgende Schlüsse<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 5


6<br />

zur Ätiopathogenese <strong>der</strong> Spondylolisthesis<br />

gezogen:<br />

Die Spondylolyse ist eine postnatale<br />

Erkrankung,die nur beim aufrecht gehenden<br />

Menschen beobachtet wird [13,<br />

16]. Die Spondylolisthesis tritt nur bei<br />

fehlen<strong>der</strong> dorsaler Stabilisierung als Folge<br />

<strong>der</strong> Spondylolyse ein. Bei fehlen<strong>der</strong><br />

dorsaler Stabilisierung (Spondylolyse)<br />

wird die Belastung vermehrt über den<br />

ventralen Pfeiler <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> übertragen<br />

<strong>und</strong> zeigt somit vektoriell eine<br />

axiale als auch eine nach zentral gerichtete<br />

Schubkraft. Nach eingetretener Spondylolyse<br />

erfolgt somit zunächst eine geringe<br />

diskoligamentär begrenzte Ventraldislokation<br />

im Segment. Der kindliche<br />

Nucleus pulposus wirkt wie eine prallelastische<br />

Kugel <strong>und</strong> überträgt die Kräfte auf<br />

die Abschlussplatten. So kommt es zunächst<br />

zur Ausmuldung im dorsalen<br />

Abschnitt <strong>der</strong> Deckplatte des Sakrum<br />

(S-Form) bei gleichzeitiger Abnahme <strong>der</strong><br />

Höhe im dorsalen Bereich von L5,sodass<br />

eine trapezoidförmige Umgestaltung des<br />

5. Lendenwirbels im seitlichen Strahlengang<br />

sichtbar ist (Abb. 8). Diese <strong>Wachstum</strong>sverän<strong>der</strong>ung<br />

bewirkt ein weiteres<br />

Voranschreiten <strong>der</strong> Verkippung/Ventralschiebung<br />

im betroffenen Segment.<br />

Die Progression <strong>der</strong> Spondylolisthesis<br />

ist somit als (pathologische)<br />

<strong>Wachstum</strong>sverän<strong>der</strong>ung des Bewegungssegmentes<br />

– initiiert durch die<br />

Spondylolyse – erklärt.<br />

Die Dynamik ist analog zu dem <strong>Wirbelsäule</strong>nwachstum,wie<br />

es beispielsweise<br />

auch bei Skoliosen beobachtet wird.<br />

Die Progression <strong>der</strong> Spondylolisthesis ist<br />

somit im Wesentlichen auf das <strong>Wachstum</strong>salter<br />

beschränkt.Hingegen sind die<br />

ventralen appositionellen Anbauten,wie<br />

bereits von Wolff [24] <strong>und</strong> Pauwels [15]<br />

beschrieben,im Sinne sek<strong>und</strong>ärer dege-<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

nerativer Verän<strong>der</strong>ungen nicht auf die<br />

<strong>Wachstum</strong>speriode begrenzt.<br />

Die erhöhte Rate des inkompletten<br />

dorsalen Bogenschlusses bei insbeson<strong>der</strong>e<br />

höhergradigen Spondylolisthesen<br />

ist durch die mechanische Instabilität<br />

<strong>und</strong> somit durch die Ossifikationsbehin<strong>der</strong>ung<br />

erklärt. Wiltse et al. [23] <strong>unter</strong>schied<br />

bei kindlichen Spondylolisthesen<br />

zwischen <strong>der</strong> dysplastischen <strong>und</strong> spondylolytisch-isthmischen<br />

Form. Kennzeichnend<br />

für die dysplastische Form<br />

hält er die kuppelförmige Verän<strong>der</strong>ung<br />

des Sakralplateaus <strong>und</strong> <strong>der</strong> Spina bifida,<br />

<strong>der</strong> von ihm auch eine ätiopathogenetische<br />

Bedeutung zugemessen wird. Die<br />

Einteilung von Wiltse orientiert sich somit<br />

an sek<strong>und</strong>ären Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />

Spondylolisthesis. Sie geht vom Endzustand<br />

<strong>der</strong> Morphologie aus,was zu ätiologischen<br />

Fehlschlüssen führt.<br />

Aufgr<strong>und</strong> unserer Untersuchungen<br />

sind die von ihm beschriebenen beiden<br />

Typen ätiopathogenetisch identisch,die<br />

<strong>unter</strong>schiedliche Morphologie ist nur<br />

abhängig vom Zeitpunkt des Beginns<br />

<strong>der</strong> Erkrankung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Tatsache,ob zu<br />

diesem Zeitpunkt <strong>der</strong> Wirbelbogen be-<br />

Abb. 9 � <strong>Wachstum</strong>sstörungen<br />

nach differenzierter<br />

Bestrahlung<br />

langer Röhrenknochen.<br />

(Mod. nach [20])<br />

Abb. 8 � Schematische<br />

Darstellung <strong>der</strong> <strong>Wachstum</strong>sverän<strong>der</strong>ungen<br />

bei<br />

kindlichen Spondylolisthesen<br />

(blau: <strong>Wachstum</strong>shemmung;<br />

grün: appositionelle<br />

Anbauten)<br />

reits komplett ossifiziert ist o<strong>der</strong> nicht<br />

<strong>und</strong> welches „Rest-<strong>Wachstum</strong>spotenzial“<br />

im Segment verbleibt. Nach unserem<br />

Ermessen sollte deshalb nur von <strong>der</strong><br />

kindlichen Spondylolisthesis gesprochen<br />

werden,die Feindifferenzierung<br />

erfolgt durch die Segmentangabe,die<br />

Quantifizierung <strong>der</strong> Spondylolisthesis<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> qualitativen morphologischen<br />

Verän<strong>der</strong>ung im Segment.<br />

Strahlenbedingte<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nverän<strong>der</strong>ungen<br />

Strahleninduzierte Skelettverän<strong>der</strong>ungen<br />

sind in experimentellen Untersuchungen<br />

ausgiebig erforscht. So wies<br />

Rubin et al. [20] experimentell <strong>Wachstum</strong>sstörungen<br />

nach differenzierter Bestrahlung<br />

langer Röhrenknochen nach<br />

(Abb. 9). Hierbei zeigten sich je nach Bestrahlungslokalisation(ganz,Metaphyse,Diaphyse,Epiphyse)<br />

<strong>unter</strong>schiedliche<br />

Muster <strong>der</strong> Beeinflussung des Längen<strong>und</strong><br />

Breitenwachstums in Abhängigkeit<br />

<strong>der</strong> jeweils durch die Strahlung geschädigten<br />

enchondralen o<strong>der</strong> periostalen<br />

<strong>Wachstum</strong>sbereiche. Beim Menschen,<br />

dem einzigen bipedalen Wesen,verbietet<br />

sich allein schon aus ethischen Gründen<br />

eine experimentelle Bestrahlung.<br />

Dennoch bestehen bei Patienten,die wegen<br />

eines Wilms-Tumors – dem dritthäufigsten<br />

kindlichen Tumorgeschehen<br />

– im Rahmen des Therapieprotokolls<br />

einseitig bestrahlt worden sind,ausgiebige<br />

Erfahrungen über die strahleninduzierten<br />

<strong>Wachstum</strong>sverän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong><br />

<strong>Wirbelsäule</strong>.<br />

So haben wir selbst bei 82 Fällen die<br />

entsprechenden <strong>Wachstum</strong>sverän<strong>der</strong>ungen<br />

nachbeobachtet. Von allen Patienten<br />

waren die Strahlungsprotokolle<br />

noch verfügbar,sodass für Lokalisation


<strong>und</strong> Dosierung von exakten Gr<strong>und</strong>lagen<br />

ausgegangen werden konnte (Abb. 10).<br />

Ferner sind durch die Nachkontrollen<br />

von Niere,Milz,i.v.-Urogramm <strong>und</strong><br />

Röngenthorax (Metastasenscreening)<br />

umfangreiche Dokumentationen <strong>der</strong><br />

<strong>Wirbelsäule</strong> vorhanden,sodass morphometrische<br />

Vermessungen im Längsschnitt<br />

möglich sind. Von den Patienten<br />

die im Regelfall im Alter von 2–3 Jahren<br />

mit bis zu 45 Gray als Maximaldosis bestrahlt<br />

worden sind [21],liegen umfassende<br />

Daten <strong>der</strong> durch die Strahlung verän<strong>der</strong>ten<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nabschnitte vor.<br />

Bei <strong>der</strong> Analyse wurde zunächst auf<br />

die qualitative Verän<strong>der</strong>ung des einzelnen<br />

Wirbels im Bestrahlungszentrum<br />

geachtet. Hierbei fanden sich deutliche<br />

<strong>Wachstum</strong>sstillstandslinien [14],die im<br />

Gegensatz zu den bei Bleivergiftungen<br />

gesehenen <strong>Wachstum</strong>sstillstandslinien<br />

kürzer <strong>und</strong> unregelmäßiger sind. Die<br />

Wirbelkörper wachsen trapezoidförmig<br />

mit geringster Höhe ventral <strong>der</strong> bestrahlten<br />

Seite zugewandt. Das erstmalige<br />

Auftreten von röntgenologischen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen sowie die Häufigkeit <strong>der</strong><br />

verän<strong>der</strong>ten Wirbelkörper war in ho-<br />

Abb. 10 � Bestrahlungsplanung<br />

zur Wilms-Tumortherapie;Isodosenberechnung<br />

des ventralen <strong>und</strong><br />

dorsalen Stehfelds, projeziert<br />

auf das a.-p.-Bild<br />

hem Maße abhängig von <strong>der</strong> Nähe zum<br />

Bestrahlungszentrum,das immer auf L2<br />

ausgerichtet war. So traten im Mittel<br />

beim 1.–3. Lendenwirbel sichtbare Verän<strong>der</strong>ungen<br />

erstmalig ca. 1 Jahr nach <strong>der</strong><br />

Bestrahlung auf,während im Randbereich<br />

des Bestrahlungsfelds (TH11 <strong>und</strong><br />

L5) durchschnittlich über 3 Jahre vergingen,bis<br />

entsprechende Verän<strong>der</strong>ungen<br />

erkennbar wurden. In allen Lendenwirbelkörpern<br />

waren strahleninduzierte<br />

Verän<strong>der</strong>ungen nachweisbar.<br />

Die morphometrischen Vermessungen<br />

<strong>der</strong> Einzelwirbel erfolgte <strong>unter</strong> <strong>unter</strong>schiedlichen<br />

Gesichtspunkten. Die<br />

Vermessung <strong>der</strong> thorakalen im Vergleich<br />

zu den lumbalen Wirbeln ergab<br />

keine nachweisbaren Verän<strong>der</strong>ungen.<br />

Somit ist festzustellen,dass die Zytostatikatherapie<br />

wie auch die Tumorerkrankung<br />

per se keinen Einfluss auf das <strong>Wirbelsäule</strong>nwachstum<br />

haben. Im Bereich<br />

<strong>der</strong> Lendenwirbelsäule ist <strong>der</strong> 2. Lendenwirbel,wie<br />

bereits ausgeführt,entsprechend<br />

seiner anatomischen Nähe zur<br />

Niere,immer am stärksten <strong>und</strong> ausgeprägtesten<br />

durch die Bestrahlung verän<strong>der</strong>t.<br />

Daher wurden auch hier die mor-<br />

phometrischen Vermessungen durchgeführt.<br />

Hier fanden sich massive Verän<strong>der</strong>ungen<br />

zum Normalkollektiv,ferner<br />

zu Kin<strong>der</strong>n,die früher o<strong>der</strong> später bestrahlt<br />

worden sind. Insbeson<strong>der</strong>e bei<br />

Frühbestrahlten zeigte sich eine ossäre<br />

Spinalkanalstenose durch die Vermin<strong>der</strong>ung<br />

des enchondralen <strong>Wachstum</strong>s <strong>der</strong><br />

neurozentralen Bogenepiphysen,wohingegen<br />

bei Spätbestrahlten (Diagnosestellung<br />

nach dem 2 1/2sten Lebensjahr)<br />

weitaus weniger Verän<strong>der</strong>ungen zu finden<br />

waren. Die trapezoidförmige Alteration<br />

bei LWK2 ist durch die Beeinflussung<br />

des Höhenwachstums erklärt. Dies<br />

war uniform nachweisbar.<br />

Das <strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong> Bandscheiben ist<br />

weitaus weniger beeinträchtigt. Deshalb<br />

entwickelt sich die für die strahleninduzierte<br />

Skoliose typische kompensatorische<br />

Erhöhung des Zwischenwirbelraums<br />

in Relation zum keilförmig verän<strong>der</strong>ten<br />

Wirbelkörper selbst (Abb.11),sodass – obgleich<br />

eine trapezoide Form vorliegt – zu-<br />

Abb. 11a,b � Kompensation <strong>der</strong> Keilwirbel<br />

durch die asymmetrische Erhöhung des<br />

Zwischenwirbelraums im a.-p.-Röntgenbild (a)<br />

<strong>und</strong> in <strong>der</strong> Schemazeichnung (b)<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 7


8<br />

nächst <strong>der</strong> Skoliosewinkel,<strong>der</strong> hierdurch<br />

vorgegeben ist,geringer ist. Alle im Erwachsenenalter<br />

nach<strong>unter</strong>suchten Patienten<br />

wiesen eine Lumbalskoliose mit Konkavität<br />

zur bestrahlten Seite auf. Der<br />

LWK2 war <strong>der</strong> Scheitelwirbel,<strong>der</strong> 12.BWK<br />

<strong>der</strong> obere <strong>und</strong> <strong>der</strong> 4.Lendenwirbel <strong>der</strong> <strong>unter</strong>e<br />

Neutralwirbel. Dies war unabhängig<br />

vom Ausmaß <strong>der</strong> Skoliose.<br />

Das Ausmaß <strong>der</strong> Skoliose selbst ist<br />

vom Zeitpunkt <strong>der</strong> Bestrahlung abhängig.<br />

So zeigte sich die ausgeprägteste Skoliose<br />

beim jüngsten bestrahlten Kind (Bestrahlungsalter<br />

1/2 Jahr),das bei einem COBB-<br />

Winkel von 60° im Alter von 13 Jahren als<br />

einziges spondylodesiert wurde. Wegen<br />

<strong>der</strong> zunächst kompensatorisch relativen<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 12 �„Iatrogener, skoliogener“ Beinlängenausgleich bei Strahlenskoliosen anhand<br />

<strong>der</strong> indirekten Beinlängenmessung am Beckenkamm<br />

Abb. 13 � Fünfbogiges, sagittales<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nprofil bei strahlentherapierten<br />

Wilms-Tumorpatienten<br />

Erhöhung des Zwischenwirbelraums entwickelt<br />

sich eine nennenswerte Skoliose,<br />

die erst Jahre nach Abschluss <strong>der</strong> Bestrahlung<br />

erkennbar wird. Daher sind bei diesem<br />

Patientenkollektiv langfristige Kontrollen<br />

prinzipiell notwendig.Die Progredienz<br />

<strong>der</strong> aktinogenen Skoliose ist annähernd<br />

vergleichbar mit <strong>der</strong> idiopathischer<br />

Skoliosen.<br />

Da <strong>der</strong> Beckenkamm mit im Bestrahlungsfeld<br />

liegt,ist folglich dort das<br />

<strong>Wachstum</strong> gleichermaßen reduziert.<br />

Teilweise differiert die Beckenkammhöhe<br />

in Relation zur unbestrahlten Seite<br />

bis zu 4 cm. Daher kann es geschehen,<br />

dass irrtümlicherweise ein die Skoliose<br />

verstärken<strong>der</strong> Beinlängenausgleich ver-<br />

ordnet wird bei indirekter Beinlängenbestimmung<br />

am Beckenkamm (Abb. 12).<br />

Im seitlichen Profil entsteht durch die<br />

trapezoidförmig Verän<strong>der</strong>ung im Bestrahlungsbereich<br />

immer eine pathologische<br />

lumbale Kyphose <strong>und</strong> – aufgr<strong>und</strong><br />

des kompensatorischen <strong>Wachstum</strong>s – eine<br />

tiefthorakale Lordose. Die sagittale<br />

Form <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> ist somit fünfbogig<br />

(Abb. 13).<br />

Die Inzidenz <strong>der</strong> Spina bifida nach<br />

<strong>Wachstum</strong>sabschluss war deutlich erhöht<br />

(5. Lendenwirbel 33% gegenüber<br />

7% Normalkollektiv,sakral 93% gegenüber<br />

18%). Durch die Beeinträchtigung<br />

des enchondralen <strong>Wachstum</strong>s war die<br />

„Durchossifzierung“ des Bogens ausgeblieben.<br />

Zusammenfassend ist zu bemerken,<br />

dass die enchondrale Ossifikation analog<br />

zu den bei den Extremitäten gef<strong>und</strong>enen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen stärker durch die<br />

Bestrahlung beeinflusst wird als das periostale<br />

<strong>Wachstum</strong>. Das Bandscheibenwachstum<br />

wird durch die Bestrahlung<br />

weniger beeinträchtigt,sogar kompensatorisch<br />

vermehrt <strong>und</strong> führt zur partiellen<br />

Kompensation <strong>der</strong> statischen Deformität.<br />

Kyphosen<br />

Die Differenzierung zwischen physiologischen<br />

<strong>und</strong> pathologischen Formen ist<br />

bei Kyphosen schwieriger,da ja physiolo-


gischer Weise eine Kyphose im thorakalen<br />

Bereich besteht <strong>und</strong> somit <strong>der</strong> Übergang<br />

zur pathologischen Entwicklung<br />

nur fließend definiert werden kann. Anguläre<br />

o<strong>der</strong> arkuläre Kyphosen im Kindesalter<br />

können von <strong>unter</strong>schiedlicher<br />

Ätiologie sein,beginnend bei juveniler<br />

Osteoporose <strong>und</strong> Spondylitiden,seltener<br />

traumatischen Ereignissen bis zur häufigen<br />

Erkrankung des M. Scheuermann.<br />

Bei angulären Kyphosen ist immer<br />

ein kompensatorisch vermehrtes Höhenwachstum<br />

<strong>der</strong> angrenzenden nicht<br />

durch die Pathologie beeinflussten <strong>Wirbelsäule</strong>nabschnitte<br />

sichtbar. Bei reversiblen<br />

Osteopathien,insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong><br />

juvenilen Osteoporose,ist im Gegensatz<br />

zum Erwachsenen bei Verbesserung <strong>der</strong><br />

Stoffwechselsituation immer ein reaktives<br />

Mehrwachstum bis hin zur vollständigen<br />

Kompensation <strong>der</strong> Deformität zu<br />

beobachten,da die Erkrankung selbst<br />

die <strong>Wachstum</strong>szonen nicht zerstört<br />

(Abb. 14).<br />

Interessant ist die Verlaufsbeobachtung<br />

nach <strong>der</strong> Korrektur kindlicher Kyphosen.<br />

Erfolgt eine Kyphosenkorrektur<br />

erst nach Ende des <strong>Wachstum</strong>s mit alleiniger<br />

dorsaler Instrumentation,kommt<br />

es regelmäßig durch die auf Dauer ausbleibende<br />

ventrale Abstützung zum Implantatversagen(Spondylodeseverfahren).<br />

Hingegen ist bei Instrumentation<br />

im <strong>Wachstum</strong>salter gr<strong>und</strong>sätzlich ein<br />

vermehrtes ventrales Nachwachsen „in<br />

die Lücke hinein“ zu beobachten. Hierbei<br />

ist zu beachten,dass insbeson<strong>der</strong>e<br />

bei Jungen aufgr<strong>und</strong> des erst spät endenden<br />

Höhenwachstums <strong>der</strong> Wirbel-<br />

säule bei dorsaler Aufrichtung <strong>der</strong> Instrumentation<br />

bis zum 17-Jährigen noch<br />

<strong>der</strong> Effekt des Nachwachsens <strong>der</strong> Wirbelkörper<br />

eintreten kann [7].<br />

Spina bidifa<br />

Der Begriff <strong>der</strong> Spina bifida wird <strong>unter</strong>schiedlich<br />

angewendet. Als radiologischer<br />

Bef<strong>und</strong> in <strong>der</strong> konventionellen<br />

Bildgebung wird das Fehlen <strong>der</strong> knöchernen<br />

Überbrückung <strong>der</strong> dorsalen<br />

Wirbelbogenanteile gesehen. Diese sagt<br />

nichts über die Ätiologie,Pathogenese<br />

<strong>und</strong> klinische Bedeutsamkeit dieses „Bef<strong>und</strong>es“<br />

aus.Vergleichende anatomische<br />

Studien zwischen <strong>der</strong> Spina bifida aperta<br />

mit dem viel häufigerem isolierten radiologischen<br />

Bef<strong>und</strong> <strong>der</strong> fehlenden knö-<br />

Abb. 15a–c � Differenzierung<br />

<strong>der</strong> Spina bifida occulta<br />

im Röntgenbild. a klaffend,<br />

b angenähert, c überlappend<br />

Abb. 14 � Röntgenverlauf einer<br />

juvenilen Osteoporose. Rückgang<br />

<strong>der</strong> Fisch- <strong>und</strong> Keilwirbelbildung nach<br />

Besserung <strong>der</strong> Stoffwechselsituation<br />

im Verlauf<br />

chernen Überbrückung zeigen einen<br />

prinzipiellen Unterschied. Bei <strong>der</strong> Spina<br />

bifida aperta liegt während <strong>der</strong> Embryonalentwicklung<br />

gleichzeitig eine Fehlbildung<br />

des Neuralraums vor.Die Bogenenden<br />

sind divergierend. Im postnatalen<br />

<strong>Wachstum</strong> besteht keinerlei Chance,dass<br />

diese Bogenenden „zueinan<strong>der</strong> finden“.<br />

Ist <strong>der</strong> Wirbelkanal knorpelig dorsal<br />

geschlossen,d. h. die Bogenenden<br />

sind konvergierend zueinan<strong>der</strong> ausgerichtet,erfolgt<br />

meist durch enchondrales<br />

<strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong> „Bogenschluss“. Dies erklärt<br />

den Rückgang des radiologischen<br />

Bef<strong>und</strong>es <strong>der</strong> Spina bifida bei epidemologischen<br />

Längsschnitt<strong>unter</strong>suchungen<br />

von Kin<strong>der</strong>n. Pathomorphologisch ist<br />

somit eine klare Differenzierung zur<br />

Spina bifida aperta gegeben.<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 9


10<br />

Abb. 16 � Morphologisches Präparat (6. Embryonalmonat)<br />

einer Spina bifida aperta.<br />

Die beiden Wirbelbogenenden (Pfeile) gehen<br />

divergierend vom Wirbelkörper ab<br />

Interessant ist die pathoanatomische<br />

Feindifferenzierung <strong>der</strong> radiologischen<br />

„Spina bifida occulta“. Ihr Erscheinungsbild<br />

kann eine klaffende, eine angenäherte<br />

o<strong>der</strong> eine überlappende Form<br />

aufweisen (Abb. 15).<br />

So fanden wir regelmäßig bei Patienten,die<br />

wegen eines Wilms-Tumors<br />

strahlentherapiert worden waren,im<br />

Bestrahlungsbezirk entwe<strong>der</strong> die klaffende<br />

o<strong>der</strong> angenäherte Form,wohingegen<br />

bei <strong>der</strong> kindlichen Spondylolisthesis<br />

die überlappende Form zahlenmäßig<br />

deutlich überwog.<br />

Dies lässt sich durch die <strong>unter</strong>schiedliche<br />

Ursache erklären. Bei <strong>der</strong><br />

Bestrahlung wird das enchondrale<br />

<strong>Wachstum</strong> gestört,eine mechanische Alteration<br />

des Wirbelbogens per se liegt<br />

aber nicht vor,sodass lediglich die knöcherne<br />

„Durchossifizierung“ des Wirbelbogens<br />

dorsal ausbleibt.<br />

Hingegen führt die Spondylolyse zu<br />

einer ausgeprägten mechanischen Instabilität<br />

im dorsalen Bogenbereich [16].<br />

Die mechanische Instabilität führt zu<br />

Verschiebungen <strong>der</strong> beiden Bogenenden<br />

zueinan<strong>der</strong>. Dies entspricht röntgenmorphologisch<br />

<strong>und</strong> pathoanatomisch<br />

<strong>der</strong> überlappenden Form <strong>der</strong> „Spina bifida<br />

occulta“.<br />

Fazit für die Praxis<br />

Die <strong>Wachstum</strong>sdynamik <strong>der</strong> einzelnen<br />

<strong>Wachstum</strong>szonen an <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> ist sehr<br />

<strong>unter</strong>schiedlich.Während die neurozentrale<br />

Bogenepiphyse, die für die Größe des Wirbelkanals<br />

maßgebend ist, eine hohe <strong>Wachstum</strong>sdynamik<br />

embryonal <strong>und</strong> in <strong>der</strong> frühkindlichen<br />

Entwicklung korrespondierend<br />

zum zentralen Nervensystem in dieser Zeitperiode<br />

zeigt, sistiert dieses <strong>Wachstum</strong> sehr<br />

früh. Hingegen ist das enchondrale Höhen-<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

wachstum in den <strong>Wachstum</strong>szonen <strong>der</strong> Wirbelkörperabschlussplatten<br />

von an<strong>der</strong>er Dynamik<br />

mit einem Maximum während <strong>und</strong><br />

auch noch nach <strong>der</strong> Pubertät, die beim Jungen<br />

erst etwa mit dem abgeschlossenen<br />

17. Lebensjahr endet.<br />

Das enchondrale <strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

ist sensibler für Störungen als das periostale<br />

Breiten- <strong>und</strong> Tiefenwachstum. Dies<br />

ist anlog zu den Extremitäten.<br />

Die Verän<strong>der</strong>ungen nach Bestrahlungen<br />

im Bereich <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> im Rahmen einer<br />

Wilms-Tumortherapie zeigen ein uniformes<br />

Bild <strong>der</strong> Skolioseentwicklung mit Scheitelwirbel<br />

L2, gleichzeitig Kyphosierung durch<br />

die trapezoidförmige Konfiguration, die entsprechend<br />

<strong>der</strong> Strahlenfeldposition ein <strong>Wirbelsäule</strong>nwachstum<br />

zeigt, das mit kleinster<br />

Höhe ventral <strong>und</strong> zur Bestrahlungsseite hin<br />

ausgerichtet ist. Auch das enchondrale dorsale<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nwachstum wird stark beeinträchtigt.<br />

So kommt es bei frühkindlichen<br />

Betrahlungen durch die Behin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

neurozentralen Bogenepiphyse zur Spinalkanalstenose<br />

<strong>und</strong> zum Ausbleiben <strong>der</strong> Durchossifizierung<br />

des dorsalen Wirbelbogens.<br />

Bei <strong>der</strong> Spondylolisthesis wird die Pathogenese<br />

durch initial pathologisches<br />

<strong>Wachstum</strong> des Segments <strong>und</strong> daraus resultierende<br />

Spondylolyse erklärt. Differenziert<br />

wird zwischen dem häufigen isolierten radiologischen<br />

Bef<strong>und</strong> <strong>der</strong> Spina bifida occulta,<br />

einer Ossifikationsstörung <strong>der</strong> zueinan<strong>der</strong><br />

konvergierend angeordneten dorsalen Wirbelbogen<br />

mit knorpeliger Überbrückung<br />

ohne klinische Relevanz <strong>und</strong> <strong>der</strong> Spina bifida<br />

aperta mit divergierenden dorsalen Wirbelbogen,<br />

mit Neuralraumdefekt <strong>und</strong> ohne<br />

Überbrückung (Abb. 16).<br />

Universelles Prinzip bei kurzsegmentalen<br />

Deformitäten <strong>der</strong> kindlichen <strong>Wirbelsäule</strong><br />

ist das kompensatorische <strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong> angrenzenden<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nabschnitte. So werden<br />

fast alle Deformitäten <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>,<br />

die im <strong>Wachstum</strong>salter vorhanden sind, respektive<br />

entstehen, durch kompensatorisches<br />

<strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong> darüber <strong>und</strong> dar<strong>unter</strong><br />

liegenden <strong>Wirbelsäule</strong>nabschnitte so ausgeglichen,<br />

dass die Augenachse horizontalisiert<br />

<strong>und</strong> die <strong>Wirbelsäule</strong> als Ganzes in sich im Lot<br />

steht.<br />

Literatur<br />

1. An<strong>der</strong>son M, Hwang SC, Green WT (1965)<br />

Growth of the normal trunk in boys and girls<br />

during the second decade in life.<br />

J Bone Joint Surg Am 47: 1554–1563<br />

2. Bompais H, Hannecke V, Michel P, Copin H,<br />

Mayoux-Benhamou MA, Pompidou A,<br />

Barbet JP (1999) Growth of spinal muscles in<br />

the human fetus. Morphologie 83: 15–17<br />

3. Boxall D, Bradford DS,Winter RB, Moe JH (1979)<br />

Management of severe spondylolisthesis in<br />

children and adolscents. J Bone Joint Surg Am<br />

61: 479–495<br />

4. Duval-Beaupère G, Combes J (1971) Segments<br />

supérieurs et inférierus au cours de la croissance<br />

physiologique des filles.<br />

Arch Franc Péd 28: 1057–1071<br />

5. Fre<strong>der</strong>ickson BE, Baker D, Mcholick HA,Yuan JP,<br />

Lubicky JP (1984) The natural spondylolysis<br />

and spondylolisthesis. J Bone Joint Surg Am<br />

66: 699–707<br />

6. Freiwald M (1978) Biometrik <strong>der</strong> wachsenden<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>. Dissertation, Heidelberg<br />

7. Griss P, Pfeil J (1983) Aufrichtungsoperationen<br />

bei juvenilen Kyphosen. Z Orthop 121: 665–674<br />

8. Jackson DW,Wiltse LL, Cirincione RJ (1976)<br />

Spondylolysis in the female Gymnast.<br />

Clin Orthop 117: 68–73<br />

9. Knutsson F (1961) Growth and differentiation of<br />

the postnatal vertebra.Acta Radiol 55: 401–408<br />

10. Larsen HE, Nordentoft EL (1962) Growth of the<br />

epiphyses and vertebrae. Acta Orthop Scand<br />

32: 210–217<br />

11. Marique P (1951) Spondylolisthesis.<br />

Acta Chir Belg Suppl 3<br />

12. Neugebauer H (1960) Fortschreitendes<br />

Wirbelgleiten. Z Orthop 92:223–388<br />

13. Niethard FU, Pfeil J (1985) Untersuchungen<br />

zur Entstehung von Spondylolisthese.<br />

Orthop Praxis 10:779–784<br />

14. Ogden JA (1984) Growth slowdown and arrest<br />

lines. J Pediatr Orthop 4: 409–415<br />

15. Pauwels F (1958) Funktionelle Anpassung<br />

des Knochens durch Längenwachstum.<br />

Verh Dtsch Orthop Ges 45:34–56<br />

16. Pfeil J (1988) <strong>Wachstum</strong> <strong>der</strong> Lendenwirbelsäule<br />

<strong>unter</strong> physiologischen <strong>und</strong> pathologischen<br />

Bedingungen. Hippokrates, Stuttgart<br />

17. Rens JG van, Horn JR van (1982) Long-term results<br />

in lumbosacral interbody fusion for spondylolisthesis.Acta<br />

Orthop Scand 53: 383–392<br />

18. Rompe G, Dreyer J (1972) <strong>Wirbelsäule</strong>nschäden<br />

bei Speerwerfern. Z Orthop 110:745–746<br />

19. Rompe G, Krahl H (1975) Spondylolyse durch<br />

Leistungssport – Sporttauglichkeit bei<br />

Spondylolyse? Orthop Praxis 4:219–223<br />

20. Rubin P, Andrew R, Swarm R, Gumb H (1959)<br />

Radiation induced dysplasis of bone.<br />

AJR Am J Radiol 82:206–216<br />

21. Scheibel P (1985) Verän<strong>der</strong>ungen am Skelett<br />

<strong>unter</strong> Behandlung von Wilms-Tumoren im<br />

Kindesalter. Dissertation, Heidelberg<br />

22. Töndury G (1958) Entwicklungsgeschichte <strong>und</strong><br />

Fehlbildung <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>. Die <strong>Wirbelsäule</strong> in<br />

Forschung <strong>und</strong> Praxis, Bd 7. Hippokrates,<br />

Stuttgart<br />

23. Wiltse LL, Newman PH, Macnab J (1976)<br />

Classification of spondylosis and spondylolisthesis.<br />

Clin Orthop 117:23–29<br />

24. Wolff J (1899) Die Lehre von <strong>der</strong> functionellen<br />

Knochengestalt.Virchows Arch Path Anat<br />

155: 257–315<br />

25. Zippel H (1980) Wirbelgleiten im Lendenbereich.<br />

Barth, Leipzig


Orthopäde<br />

2002 · 31:11-25 © Springer-Verlag 2002<br />

Zusammenfassung<br />

Obwohl seit <strong>der</strong> Antike praktiziert, ist die<br />

konservative Behandlung von <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten<br />

bis auf den heutigen Tag<br />

umstritten. Am Beispiel <strong>der</strong> idiopathischen<br />

Skoliose <strong>und</strong> <strong>der</strong> Scheuermann-Kyphose<br />

wird die historische Entwicklung <strong>der</strong> konservativen<br />

Therapie <strong>unter</strong> beson<strong>der</strong>er Berücksichtigung<br />

<strong>der</strong> Orthetik <strong>und</strong> Physiotherapie<br />

dargestellt. Es ist dabei erstaunlich, wie früh<br />

bereits wesentliche <strong>und</strong> noch heute gültige<br />

Prinzipien konservativer Behandlung erarbeitet<br />

wurden <strong>und</strong> wie viele <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen<br />

Behandlungskonzepte schon im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

beachtliche Vorläufer aufweisen.<br />

Anhand <strong>der</strong> bisherigen Erkenntnisse<br />

<strong>und</strong> eigener Erfahrungen werden Indikation,<br />

Durchführung <strong>und</strong> realistische Möglichkeiten<br />

<strong>der</strong> aktuellen konservativen Behandlung<br />

bei idiopathischer Skoliose <strong>und</strong> Scheuermann-Kyphose<br />

aufgezeigt.<br />

Schlüsselwörter<br />

<strong>Wirbelsäule</strong> · Idiopathische Skoliose ·<br />

Scheuermann-Kyphose · Spontanverlauf ·<br />

Konservative Therapie · Korsettbehandlung ·<br />

Medizingeschichte<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

T. Böni 1 · K. Min 1 · F. Hefti 2<br />

1 Orthopädische Universitätsklinik Balgrist, Zürich<br />

2 Kin<strong>der</strong>orthopädische Universitätsklinik Basel<br />

Idiopathische Skoliose<br />

<strong>und</strong> Scheuermann-Kyphose<br />

Historische <strong>und</strong> aktuelle Aspekte<br />

<strong>der</strong> konservativen Behandlung<br />

Konservative Behandlung<br />

<strong>der</strong> idiopathischen Skoliose<br />

Die Wirksamkeit <strong>der</strong> konservativen Behandlungsmaßnahmen<br />

bei <strong>der</strong> idiopathischen<br />

Skoliose ist nicht erst in jüngster<br />

Zeit Gegenstand heftiger Diskussionen.Nicht<br />

einmal das Korsett als tragen<strong>der</strong><br />

Pfeiler <strong>der</strong> konservativen Skoliosebehandlung<br />

ist davon ausgenommen.<br />

Bereits 1908 hat Alfred Schanz (1868–<br />

1931) – ein führen<strong>der</strong> Vertreter <strong>der</strong> deutschen<br />

Orthopädietechnik – diesen Sachverhalt<br />

angesprochen <strong>und</strong> zu erklären<br />

versucht:„Wenn man die Geschichte dieser<br />

Skoliose studiert, so sieht man, dass<br />

<strong>der</strong> orthopädische Apparat seit langer<br />

Zeit eine große Rolle spielt.Es sind im<br />

Laufe <strong>der</strong> Zeit eine Unzahl von Konstruktionen<br />

gegeben worden mit Variationen<br />

in allen nur erdenklichen Richtungen.Trotzdem<br />

sind die Orthopäden<br />

niemals zu einer einheitlichen Wertschätzung<br />

dieser Apparate gekommen.<br />

Man findet vielmehr zu allen Zeiten Diskussionen<br />

über die Zweckmäßigkeit <strong>der</strong><br />

Apparate in <strong>der</strong> Skoliosetherapie überhaupt,<br />

<strong>und</strong> ebensolche Diskussionen<br />

über die einzelnen Apparate.Die Ursache<br />

für diese ganz auffällige Erscheinung<br />

liegt darin, daß man die ganze Frage<br />

nicht systematisch angegriffen hat,<br />

son<strong>der</strong>n daß man immer nur aus einzelnen<br />

Beobachtungen einzelnen Versuchen<br />

<strong>und</strong> einzelnen Resultaten verallgemeinernde<br />

Schlüsse zog.So mußte man<br />

nach den Zufallsverschiedenheiten <strong>der</strong><br />

Gr<strong>und</strong>lagen zu verschiedenen Folgerungen<br />

gelangen“ [69].<br />

Verstand Schanz <strong>unter</strong> systematisch,<br />

„daß man aus <strong>der</strong> Pathologie <strong>der</strong><br />

Skoliose die allgemeinen Indikationen<br />

ableitet <strong>und</strong> daß man sich fragt, … wie<br />

weit diese mit den Hilfsmitteln <strong>der</strong> orthopädischen<br />

Technik zu lösen sind“<br />

[69] <strong>und</strong> nicht etwa – wie heutzutage gefor<strong>der</strong>t<br />

– ein die Kriterien <strong>der</strong> Evidence<br />

Based Medicine (EBM) erfüllendes Studienkonzept<br />

– so hat seine For<strong>der</strong>ung<br />

nach einer systematischen Klärung <strong>der</strong><br />

Zweckmäßigkeit von Korsettbehandlungen<br />

nichts an Aktualität eingebüßt [22].<br />

Was für die Korsettbehandlung zutrifft,<br />

gilt in noch weit ausgeprägterem Maße<br />

für die krankengymnastische Skoliosetherapie.Hier<br />

fehlen systematische Studien<br />

weitgehend.Einzig über die Elektrostimulation<br />

konnte in <strong>der</strong> Zwischenzeit<br />

Klarheit gewonnen werden, sie hat<br />

sich nicht als wirksam erwiesen.<br />

Historische Entwicklung<br />

<strong>der</strong> krankengymnastischen<br />

Skoliosetherapie<br />

Die in <strong>der</strong> Antike zur Ausbildung eines<br />

wohlgeformten <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>en Körpers<br />

gepflegte Gymnastik wurde bereits im<br />

Vorfeld <strong>der</strong> Aufklärung von Nicolas An-<br />

Dr.Thomas Böni<br />

Orthopädische Universitätsklinik Balgrist,<br />

Forchstraße 340, CH-8008 Zürich, Schweiz<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 11


12<br />

Orthopäde<br />

2002 · 31:11-25 © Springer-Verlag 2002<br />

T. Böni · K. Min · F. Hefti<br />

Idiopathic scoliosis and Scheuermann's<br />

kyphosis. Historical aspects and current<br />

trends in the nonoperative treatment<br />

Abstract<br />

Although in practice since antiquity the nonoperative<br />

treatment of spinal deformities<br />

is still controversial. Giving preference to<br />

orthotic treatment and physiotherapy the<br />

historical development of nonoperative<br />

treatment will be demonstrated by the<br />

examples of idiopathic scoliosis and<br />

Scheuermann's kyphosis. It is surprising how<br />

early essential and still valuable principles of<br />

nonoperative treatment had been acquired<br />

and how many of the present-day concepts<br />

have remarkable forerunners in the 19th<br />

century.<br />

In the light of previous knowledge and<br />

personal experience the indication, practice<br />

and realistic capabilities of mo<strong>der</strong>n nonoperative<br />

treatment of idiopathic scoliosis and<br />

Scheuermann's kyphosis are pointed out.<br />

Keywords<br />

Spine · Idiopathic scoliosis ·<br />

Scheuermann's kyphosis · Natural history ·<br />

Nonoperative treatment · Orthotic treatment ·<br />

Medical history<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 1 � Um die Jahrhun<strong>der</strong>twende prägte die „Medico-Mechanik“<br />

das Bild <strong>der</strong> Skoliosebehandlung. Hier die Ansicht des großen<br />

Übungssaales <strong>der</strong> Anstalt Balgrist in Zürich mit ihrer Abteilung für<br />

redressierende Bewegungsapparate. Wilhelm Schulthess (1855–1917),<br />

<strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Klinik, hat die meisten <strong>der</strong> hier abgebildeten –<br />

heute nicht mehr erhaltenen – aktiven <strong>und</strong> passiven Bewegungsapparate<br />

selbst entwickelt (Archiv Balgrist)<br />

dry (1658–1742) zur Vorbeugung <strong>und</strong> Behandlung<br />

von Körperdeformitäten empfohlen<br />

[4].Die angegebenen Übungen<br />

zielten eher auf eine allgemeine Kräftigung<br />

<strong>und</strong> Haltungskorrektur <strong>und</strong> dürfen<br />

noch nicht als spezifische Skoliosegymnastik<br />

angesprochen werden.Erst<br />

zu Beginn des 19.Jahrhun<strong>der</strong>ts finden<br />

wir Hinweise für eine gezielte krankengymnastische<br />

Behandlung <strong>der</strong> idiopathischen<br />

Skoliose.John Shaw (1791–1827)<br />

hielt regelmäßig <strong>und</strong> korrekt ausgeführte<br />

Krankengymnastik für die wirksamste<br />

Behandlungsmethode bei leichten<br />

Skoliosen.Bei ausgeprägteren Deformitäten<br />

sei sie zwar noch immer nützlich,<br />

eine Heilung könne aber nicht mehr bewirkt<br />

werden [75].Charles Gabriel Pravaz<br />

(1791–1853) verhalf <strong>der</strong> Krankengymnastik<br />

zu einem festen Platz in <strong>der</strong><br />

Skoliosebehandlung <strong>und</strong> entwickelte dazu<br />

spezielle Behandlungsgeräte [63].<br />

Jacques-Mathieu Delpech (1777–1832),<br />

[20] <strong>und</strong> Guillaume Jalade-Lafond<br />

(1805), [44] gaben hilfreiche Illustrationen<br />

für die Durchführung <strong>der</strong> empfohlenen<br />

Skolioseübungen.<br />

Einen maßgeblichen Einfluss auf<br />

die weitere Entwicklung <strong>der</strong> Skoliosegymnastik<br />

übte Pehr Hendrick Ling<br />

(1776–1839), <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> auf mechanische<br />

Hilfsmittel verzichtenden<br />

schwedischen Heilgymnastik, mit<br />

seinen <strong>unter</strong> Anleitung des Arztes<br />

o<strong>der</strong> Krankengymnasten ausgeführten<br />

„Wi<strong>der</strong>standsbewegungen“ aus.H.W.<br />

Berend, Moritz Michael Eulenburg<br />

(1811–1887), George H.Taylor (1821–1896)<br />

<strong>und</strong> Mathias Roth (1819–1891) machten<br />

sich um die Verbreitung <strong>und</strong> Weiterentwicklung<br />

des Lingschen Systems verdient.Mit<br />

Jonas Gustav Wilhelm Zan<strong>der</strong><br />

(1835–1920), dem Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Medico-Mechanik,<br />

nahm die apparative Behandlung<br />

Einzug in die Skoliosegymnastik.Seine<br />

verschiedenen, nach wissenschaftlichen<br />

Prinzipien entwickelten<br />

Apparate ermöglichten es ihm, in seinem<br />

Institut mehrere Skoliosepatienten<br />

gleichzeitig zu behandeln.Zahlreiche,<br />

z.T.hochdifferenzierte Apparate zur aktiven<br />

<strong>und</strong> passiven Skoliosetherapie<br />

wurden um die Jahrhun<strong>der</strong>twende von<br />

August Ludwig Karl Wullstein (1864–<br />

1930), [88] <strong>und</strong> Wilhelm Schulthess<br />

(1855–1917), [73] entwickelt.<br />

Die in Präzisionsarbeit ausgeführten<br />

redressierenden Bewegungsapparate<br />

mit ihren Skalen gestatteten dem<br />

Hilfspersonal im Übungssaal (Abb.1),<br />

ohne großen Zeitaufwand die individuelle<br />

Ausgangsposition für jeden Skoliosepatienten<br />

einzustellen.Sie erlaubten<br />

die Durchführung gezielter aktiver bzw.<br />

passiver, isometrischer bzw.nicht isometrischer<br />

Wi<strong>der</strong>standsbewegungen in<br />

eng umschriebenen <strong>Wirbelsäule</strong>nabschnitten.Die<br />

aufwendige <strong>und</strong> kostenintensive<br />

maschinelle Orthopädie konnte<br />

sich in <strong>der</strong> Skoliosegymnastik nicht<br />

dauerhaft durchsetzen.Die einfache aktive<br />

Skoliosegymnastik konnte ihr Feld<br />

behaupten.Die „selbsttätige Redressionsbehandlung“<br />

<strong>der</strong> Skoliose wurde<br />

erstmals von Adolf Lorenz (1854–1946)<br />

in seiner 1886 erschienen Monographie<br />

„Pathologie <strong>und</strong> Therapie <strong>der</strong> seitlichen<br />

Rückgratsverkrümmung (Scoliosis)“


Abb. 2 � Ambroise Paré (1500–1590), dem wohl bedeutendsten<br />

französischen Chirurgen <strong>der</strong> Renaissance, verdanken wir die erste<br />

Abbildung eines Skoliosekorsetts. Sein „Corselet pour dresser un corps<br />

tortu“ ist aus dünnem Eisen gefertigt <strong>und</strong>, um es leichter zu machen,<br />

mit Löchern versehen. Er legte Wert darauf, dass das Korsett gut<br />

angepasst <strong>und</strong> gepolstert wird, um nicht zu verletzen <strong>und</strong> verlangte,<br />

dass es im <strong>Wachstum</strong>schub alle 3 Monate gewechselt werden soll,<br />

um nicht zu schaden [60]<br />

[50] propagiert <strong>und</strong> 1905 von Albert<br />

Hoffa (1859–1907) wie<strong>der</strong> aufgenommen.Auch<br />

die passive manuelle Redressionsbehandlung<br />

<strong>der</strong> Skoliose geht auf<br />

Lorenz zurück <strong>und</strong> wurde von Hoffa in<br />

Form <strong>der</strong> „Umkrümmungsübungen“<br />

weitergeführt.<br />

Einen an<strong>der</strong>en Weg in <strong>der</strong> Skoliosegymnastik<br />

beschritt Rudolf Klapp<br />

(1873–1949) mit dem nach ihm benannten<br />

„Kriechverfahren“ [46], das ursprünglich<br />

zur Mobilisierung versteifter<br />

Skoliosen gedacht war <strong>und</strong> durch die<br />

Ausübung im Kreis mit Tiefer- <strong>und</strong> Höherstellen<br />

einzelner Extremitäten eine<br />

asymmetrische Kräftigung <strong>der</strong> Rückenmuskulatur<br />

<strong>und</strong> eine Torsionswirkung<br />

auf die <strong>Wirbelsäule</strong> anstrebte.<br />

Die an Erfindungen überaus reiche<br />

<strong>und</strong> maßgeblich von Ärzten getragene<br />

Phase <strong>der</strong> Skoliosegymnastik um die<br />

Jahrhun<strong>der</strong>twende machte <strong>unter</strong> dem<br />

Einfluss <strong>der</strong> Röntgendiagnostik einer<br />

zunehmenden Ernüchterung <strong>und</strong> Resignation<br />

Platz.Die krankengymnastische<br />

Behandlung wurde nun zunehmend<br />

nichtärztlichen Therapeuten überlassen<br />

<strong>und</strong> von diesen zu mehr o<strong>der</strong> weniger<br />

geschlossenen Systemen ausgebaut.Auf<br />

Moritz Hermann Gocht (1869–1938) <strong>und</strong><br />

seine noch in Schweden ausgebildete<br />

Krankengymnastin Frau Gessner gehen<br />

die vor dem Zweiten Weltkrieg in <strong>der</strong><br />

Berliner Charité entwickelten, damals<br />

nicht publizierten „Korrekturübungen<br />

nach Gocht-Gessner“ zurück.Das Prinzip<br />

wurde von den Krankengymnastinnen<br />

Hilda Mater <strong>und</strong> Heidi Martens weiterentwickelt<br />

<strong>und</strong> erst 1999 von <strong>der</strong> Phy-<br />

siotherapeutin Edeltraud Dieffenbach<br />

einer breiteren medizinischen Oeffentlichkeit<br />

zugänglich gemacht [23].Auch<br />

das von Luise <strong>und</strong> Egon von Nie<strong>der</strong>höffer<br />

[58] entwickelte Behandlungskonzept<br />

gründet, wie dasjenige von Gocht-<br />

Gessner, in <strong>der</strong> schwedischen Heilgymnastik.Als<br />

Behandlungsansatz wurde<br />

die konkavseitige, als überdehnt <strong>und</strong><br />

schwächer beurteilte „Quermuskulatur“<br />

aufgefasst, die es durch gezielte isometrische<br />

Übungen anzugehen galt.Dieses<br />

Konzept wurde in <strong>der</strong> Folge von E.<br />

Becker [8] weiter ausgebaut.<br />

Ebenfalls ein eigenständiges krankengymnastischesSkoliosetherapiekonzept<br />

entwickelte Martha Scharll nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg in München<br />

[70].Sie löste sich vom nicht erreichbaren<br />

Behandlungsziel <strong>der</strong> Krümmungskorrektur<br />

<strong>und</strong> strebte einen bef<strong>und</strong>orientierten<br />

Ausgleich <strong>der</strong> seitenungleichen<br />

Haltungs- <strong>und</strong> Bewegungsmuster<br />

an.Ihr Behandlungskonzept wurde vom<br />

Arzt Michael Weber <strong>und</strong> <strong>der</strong> Krankengymnastin<br />

Susanne Hirsch weiterentwickelt<br />

<strong>und</strong> ausgebaut [81].<br />

Wohl am bekanntesten im deutschsprachigen<br />

Raum wurde die von Katharina<br />

Schroth (1894–1985) 1924 erstmals<br />

mitgeteilte „Atmungs-Orthopädie Original<br />

Schroth“.Bereits <strong>der</strong> Titel ihrer<br />

Erstveröffentlichung „Die Atmungs-Kur<br />

– Leitfaden zur Lungengymnastik“ [72]<br />

weist auf die zentrale Rolle <strong>der</strong> Atmung<br />

bei <strong>der</strong> Skoliosegymnastik hin.Durch<br />

den „Dreh-Atem“, das gezielte konkavseitige<br />

Einatmen ins Rippental, gelingt<br />

eine aktive Selbstkorrektur <strong>der</strong> skolioti-<br />

schen Fehlhaltung, d.h.des noch beweglichen<br />

Anteils <strong>der</strong> seitlichen bzw.rotatorischen<br />

Deformität.<br />

Die Schroth-Therapie wurde stetig,<br />

zuerst durch Katharina Schroth selbst,<br />

später durch ihre Tochter Christa Lehnert-Schroth<br />

[48] <strong>und</strong> ihren Enkel, den<br />

Arzt Hans-Rudolf Weiss, weiterentwickelt.Sie<br />

versteht sich heute als dreidimensionale<br />

Skoliosebehandlung, die auf<br />

sensomotorischen <strong>und</strong> kinästhetischen<br />

Prinzipien beruht.Das Behandlungsprogramm<br />

beinhaltet die Korrektur <strong>der</strong><br />

skoliotischen Haltung <strong>und</strong> die Korrektur<br />

des skoliotischen Atemmusters <strong>unter</strong><br />

Zuhilfenahme von propriozeptiven<br />

<strong>und</strong> exterozeptiven Reizen sowie <strong>der</strong><br />

Spiegelkontrolle.Das aus zahlreichen –<br />

wie in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Korsettbehandlung<br />

– mit <strong>der</strong> Beckeneinstellung beginnenden<br />

Übungen bestehende Therapiesystem<br />

ist systematisch aufgebaut <strong>und</strong><br />

verfügt über eine eigene Nomenklatur.<br />

Die Erlernung <strong>der</strong> später selbständig<br />

durchführbaren Schroth-Therapie erfolgt<br />

ambulant o<strong>der</strong> stationär <strong>unter</strong> Anleitung<br />

von speziell dafür ausgebildeten Physiotherapeutinnen.Neben<br />

Motivation, Disziplin,<br />

einem Mindestmaß an intellektuellen<br />

Fähigkeiten sowie <strong>der</strong> Bereitschaft,<br />

ein Gefühl für den eigenen Körper zu entwickeln,stellt<br />

die Eigenverantwortlichkeit<br />

des Skoliosepatienten eine wichtige Voraussetzung<br />

für diese Therapie dar.Sie<br />

kann auch in einem geeigneten Korsett<br />

(CTM, CBW), durch Atmen in die Freiräume<br />

hinein, ausgeführt werden.<br />

Neben diesen klassischen kranken<br />

gymnastischen Übungssystemen<br />

(Schroth, Gocht-Gessner, v.Nie<strong>der</strong>höffer,<br />

Scharll) kommen auch die in Anlehnung<br />

an die entwicklungskinesiologische<br />

Therapie von Vaclav Vojta [79]<br />

durch P.Hanke [33] enwickelte E-Technik<br />

(Reflexkriechen, Reflexumdrehen)<br />

sowie die PNF (propriozeptive neuromuskuläre<br />

Fazilitation), [77] bei <strong>der</strong><br />

idiopathischen Skoliose zur Anwendung.Diese<br />

Verfahren zielen auf eine reflektorische<br />

Anbahnung bzw.Aktivierung<br />

korrigieren<strong>der</strong> – neuer o<strong>der</strong> verlorengegangener<br />

– Bewegungsmuster <strong>und</strong><br />

sind weitestgehend auf die Mitarbeit des<br />

Therapeuten angewiesen.<br />

Historische Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Korsett- <strong>und</strong> Gipsbehandlung<br />

In <strong>der</strong> medizinischen Literatur <strong>der</strong> Antike<br />

<strong>und</strong> Spätantike suchen wir vergeblich<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 13


14<br />

nach Hinweisen auf Rumpforthesen zur<br />

Skoliosebehandlung.Einzig bei Paulos<br />

von Aegina (7.Jahrhun<strong>der</strong>t) werden in<br />

Lib.VI Cap.117 „Über die Wirbel des<br />

Rückgrats“ [61] gepolsterte Latten <strong>und</strong><br />

eine Bleiplatte im Zusammenhang mit<br />

<strong>der</strong> Skoliose erwähnt: „dass man bei<br />

Skoliose ähnlich wie bei Lordose <strong>und</strong><br />

Kyphose eine Zusammenschnürung<br />

<strong>und</strong> eine Zusammenpassung bewerkstelligen<br />

<strong>und</strong> alsdann Holzlatten, drei<br />

Finger breit, etwas länger als die Länge<br />

<strong>der</strong> Verkrümmung beträgt, mit Leinen<br />

<strong>und</strong> Werg gepolstert auf die Wirbel legen<br />

<strong>und</strong> zweckentsprechend festbinden<br />

könne.Man gebe eine leichte Nahrung.<br />

Wenn dennoch Spuren des Buckels zu-<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 3 � a Jean André Venel (1740–1791), hier im Alter von 50 Jahren,<br />

gründete 1780 das erste orthopädische Spital <strong>der</strong> Welt in Orbe (Schweiz)<br />

<strong>und</strong> bot seinen Skoliosepatienten ein umfassendes Behandlungskonzept<br />

(Physiotherapie, Korsett, Streckbett), (Stich von Wilhelm Bock).<br />

b Venel's „appareil du jour“ verfügte als erstes Skoliosekorsett neben<br />

Mechanismen für die Extension <strong>und</strong> Translation über eine spezielle<br />

Vorrichtung zur Derotation [78]. c Einziges erhalten gebliebenes,<br />

wahrscheinlich auf Venel's Nachfolger <strong>und</strong> Neffe Pierre Frédéric Jaccard<br />

(1768–1820) zurückgehendes „Corset redresseur“ mit dem in <strong>der</strong> Mitte<br />

des Korsetts angebrachten Derotationsmechanismus (Medizinhistorisches<br />

Museum <strong>der</strong> Universität Zürich). d Nicht nur das Prinzip <strong>der</strong><br />

Derotation geht auf Venel zurück, mit seinem „lit à extension“ schuf<br />

er auch das erste Streckbett zur Skoliosebehandlung [78]<br />

rückbleiben, so soll man lange Zeit erschlaffende<br />

<strong>und</strong> erweichende Umschläge<br />

zugleich mit den angedrückten Latten<br />

anwenden.Einige haben auch eine<br />

Platte von Blei in Anwendung gezogen.“<br />

Aus dem Sinnzusammenhang <strong>der</strong><br />

Textstelle ist jedoch <strong>unter</strong> Skoliose eher<br />

eine infolge plötzlicher Gewalteinwirkung<br />

entstandene Seitverkrümmung als<br />

eine Deformität zu verstehen.Dies entspricht<br />

durchaus <strong>der</strong> hippokratischen<br />

Tradition, in <strong>der</strong> die seitliche Verkrümmung<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> bei den Verrenkungen<br />

abgehandelt wird.Für die medizinischen<br />

Autoren des Mittelalters ist die<br />

orthetische Behandlung <strong>der</strong> Skoliose kein<br />

Thema.Erst in <strong>der</strong> Neuzeit, <strong>und</strong> mit kei-<br />

nem Geringeren als Ambroise Paré<br />

(1500–1590), findet das Korsett Eingang<br />

in die Behandlung <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten.Im<br />

17.Buch seiner Chirurgie<br />

(1575/1579), [60], das den „Behelfen <strong>und</strong><br />

Kunstgebilden zum Ausgleich natürlicher<br />

o<strong>der</strong> durch Unfall entstandener Mängel“<br />

gewidmet ist, handelt das 8.Kapitel „Von<br />

denjenigen die verkrümmt sind <strong>und</strong> ein<br />

verbogenes Rückgrat haben“.<br />

Für die Behandlung <strong>der</strong> – hauptsächlich<br />

bei Mädchen zu beobachtenden<br />

– seitlichen Verbiegung <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

in Form des Buchstabens S empfiehlt er<br />

sein „Korsett um einen krummen Körper<br />

aufzurichten“ (Abb.2): „Um ein solches<br />

Gebrechen wie<strong>der</strong>herzustellen


Abb. 4 � a Der Wunsch nach einer flexiblen Skolioseorthese ist alt. Im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

wurden bereits zahlreiche Lösungsvorschäge vorgelegt wie die abgebildete, von Barwell<br />

1877 in London angegebene <strong>und</strong> nach ihm benannte „dorso lumbar bandage“ [29].<br />

b Die mo<strong>der</strong>ne flexible Skolioseorthese von Rivard <strong>und</strong> Coillard (SpineCor, Fa. Biorthex)<br />

knüpft an die Tradition <strong>der</strong> im 19. Jahrun<strong>der</strong>t entwickelten Skoliosebandage von Barwell,<br />

Sayre <strong>und</strong> Fischer an (Fa. Biorthex)<br />

o<strong>der</strong> zu verbergen, läßt man Korsette<br />

aus dünnem Eisen tragen, die mit Löchern<br />

versehen sind, damit sie nicht zu<br />

schwer wiegen <strong>und</strong> die so gut angepaßt<br />

<strong>und</strong> gepolstert sind, daß sie keineswegs<br />

verletzen: diese sollen oftmals gewechselt<br />

werden <strong>und</strong> bei denen die wachsen,<br />

müssen sie alle drei Monate gewechselt<br />

werden, mehr o<strong>der</strong> weniger, sowie man<br />

sieht, dass es nötig ist: weil an<strong>der</strong>nfalls,<br />

anstelle dass man etwas Gutes tut, tut<br />

man etwas Schlechtes“ [60].<br />

Die von Francis Glisson (1597–1677)<br />

in „De rachitide“ (1650) angegebene<br />

Schwinge o<strong>der</strong> Schwebe („English<br />

swing“,„escarpolette anglaise“) zur korrigierenden<br />

Extensionsbehandlung <strong>der</strong><br />

rachitischen Skoliose [31] wurde später<br />

zum festen Bestandteil verschiedener<br />

Apparate zur Behandlung <strong>der</strong> idiopathischen<br />

Skoliose.Jean-André Venel (1740–<br />

1791), (Abb.3a), <strong>der</strong> 1780 die erste orthopädische<br />

Klinik <strong>der</strong> Welt in Orbe<br />

(Schweiz) gründete, gelang in seiner<br />

„Description de plusieurs nouveaux moyens<br />

mécaniques, propres à prévenir,<br />

borner et même corriger, dans certains<br />

cas, les corbures latérales et la torsion de<br />

l'épine du dos“ (1788), [78] ein konzeptioneller<br />

Durchbruch in <strong>der</strong> Korsettkonstruktion.Sein<br />

Korsett („appareil du<br />

jour“), (s.Abb.3b, c) verfügte, neben einer<br />

Extensionsvorrichtung für den Kopf<br />

<strong>und</strong> die Axillen sowie translatorisch wirkenden<br />

Pelotten, erstmals über einen in<br />

die letzteren integrierten Derotationsmechanismus<br />

zur Korrektur <strong>der</strong> Torsion<br />

(s.Abb.3d).<br />

Venel [78] darf zu Recht als Vater<br />

des Derotationsgedankens in <strong>der</strong> Skoliosenbehandlung<br />

bezeichnet werden.Er<br />

war <strong>der</strong> festen Überzeugung, dass die<br />

Skoliosebehandlung keine Unterbrechung<br />

dulde <strong>und</strong> entwickelte deswegen<br />

das erste Streckbett („lit à extension“)<br />

zur Skoliosebehandlung, seinen „appareil<br />

de nuit“.Mit seinem Korsett <strong>und</strong><br />

Streckbett, stets ergänzt durch Bewegungsübungen<br />

<strong>und</strong> passive Applikationen,<br />

erzielte Venel für seine Zeit beachtliche<br />

Resultate.<br />

Kaum mehr zu überblicken sind die<br />

im 19.Jahrhun<strong>der</strong>t vorgeschlagenen<br />

Korsette <strong>und</strong> portablen Apparate zur<br />

Skoliosebehandlung.Neben heute grotesk<br />

anmutenden Konstruktionen, wie<br />

dem Apparat von Brown (1848), [29], finden<br />

sich textile <strong>und</strong> semirigide Orthesen<br />

– wie die Bandagen von Barwell<br />

(1877,) [29], (Abb.4a) o<strong>der</strong> den Apparat<br />

von Dürst (1857), [29] – die durchaus als<br />

Vorläufer <strong>der</strong> heute wie<strong>der</strong> auf großes<br />

Interesse stoßenden dynamischen<br />

Skolioseorthesen, wie dem „Dynamic<br />

Brace“ von Rivard <strong>und</strong> Coillard (Spine-<br />

Cor, Fa.Biorthex), (s.Abb.4b) o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

dynamischen Skolioseorthese in offener<br />

Rahmenkonstruktion nach Veldhuizen<br />

(TriaC, Fa.Sporlastic), bezeichnet werden<br />

dürfen.<br />

Nach <strong>der</strong> Erfindung <strong>der</strong> Gipsbinde<br />

durch Antonius Mathysen (1805–1878)<br />

im Jahre 1851, fand die Gipstechnik noch<br />

im gleichen Jahrhun<strong>der</strong>t Eingang in die<br />

Skoliosebehandlung.Zu den Pionieren<br />

des redressierenden Gipsverbandes zählen<br />

neben Lewis Albert Sayre (1820–<br />

1900), <strong>der</strong> den Gips im Stehen <strong>unter</strong> Extension<br />

(Glisson- <strong>und</strong> Achselschlinge)<br />

1877 [68] anlegte, Alfred Schanz (1868–<br />

1931), <strong>der</strong> den Seriengips einführte, August<br />

Ludwig Karl Wullstein (1864–1930),<br />

<strong>der</strong> 1902 einen speziellen Behelf zum<br />

Anlegen des Gipses im Sitzen (Wullstein-Apparat)<br />

entwickelte <strong>und</strong> Edville<br />

Gerhardt Abbott (1870–1938), <strong>der</strong> das<br />

Anlegen des Gipses im Liegen in einem<br />

eigens dazu entwickelten Rahmengestell<br />

(Abbott-Tisch) 1911 [1] bevorzugte.<br />

Der „turnbuckle cast“ (Umkrümmungs-Quengelgips)<br />

wurde 1924 von Robert<br />

Williamson Lovett (1859–1924) <strong>und</strong><br />

Brewster <strong>und</strong> erneut 1953 von Risser [66]<br />

empfohlen.Die Idee des seriellen Gipses<br />

wurde 1948 von von Lackum [80] mit dem<br />

„surcingle cast“, 1958 von Risser mit seinem<br />

„localizer cast“,einer Weiterentwicklung<br />

des „turnbuckle cast“, mit zusätzlichem<br />

lateralem Druck zur Redression,<br />

<strong>und</strong> 1964 von Yves Cotrel [54] mit seinem<br />

„plâtre EDF“ (Extensions-Derotations-<br />

Flexions-Gips) wie<strong>der</strong> aufgenommen.<br />

1958 schlugen Stagnara u.Perdriolle<br />

[76] den „plâtre à tendeurs“, den sogenannten<br />

Extensions-Quengel-Gips, vor.<br />

Durch eine Spindel ermöglichte er eine<br />

kontinuierliche Streckung <strong>und</strong> Umbiegung<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>.Die mo<strong>der</strong>ne Korsettbehandlung<br />

wurde von Blount <strong>und</strong><br />

Schmidt mit dem erstmals 1946 für die<br />

postoperative Stabilisation entwickelten<br />

Milwaukee-Korsett eingeleitet.In den<br />

50er Jahren fand es dann Eingang in die<br />

konservative Skoliosebehandlung [11].<br />

Das auf einer Beckenfassung mit deutlicher<br />

Bauchpresse zur Extension <strong>und</strong><br />

Entlordosierung aufbauende Milwaukee-Korsett<br />

kombiniert die ursprünglich<br />

passive distrahierende – später aktive<br />

extendierende – Wirkung eines Halsrings<br />

(Kinnanlage, Okzipitalpelotte) mit<br />

<strong>der</strong> redressierenden Wirkung von lumbalen<br />

<strong>und</strong> thorakalen Pelotten bzw.Achselschlingen.Durch<br />

den Halsring ist es<br />

als einziges Skoliosekorsett für die Behandlung<br />

von idiopathischen hochthorakalen<br />

Skoliosen (Skoliosescheitel höher<br />

als Th6) geeignet.1950 stellte Stagnara<br />

das Lyoner-Korsett vor.Die auch als<br />

Stagnara-Korsett bezeichnete Skolio-<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 15


16<br />

seorthese verfügt über eine Bauchpresse<br />

zur Extension sowie neben Freiräumen<br />

über großflächige Druckpelotten zur<br />

Translation <strong>und</strong> Derotation.Da die Freiräume<br />

nicht konsequent gegenüber den<br />

Druckpelotten angebracht sind, übt dieses<br />

Korsett teilweise eine komprimierende<br />

Wirkung aus <strong>und</strong> gestattet kein aktives<br />

Ausweichen in die Freiräume hinein.<br />

In den 70er Jahren entwickelten<br />

Hall, Watts <strong>und</strong> Miller am Boston Children's<br />

Hospital das Boston-Korsett als<br />

vorwiegend <strong>der</strong>otierende, in verschiedenen<br />

Größen erhältliche, vorgefertigte<br />

Modulorthese [32].Neben einer Bauchpresse<br />

zur Extension werden einklebbare<br />

Pelotten zur Derotation <strong>und</strong> Translation<br />

eingesetzt.Die Möglichkeit <strong>der</strong><br />

Schaffung von Freiräumen gegenüber<br />

den Pelotten ist beschränkt.<br />

1970 stellte Chêneau erstmals ein<br />

aktives Skoliosekorsett vor.Er verzichtete<br />

dabei auf eine ausgeprägte Bauchpresse<br />

zur Extension <strong>und</strong> Delordosierung<br />

<strong>der</strong> Lendenwirbelsäule <strong>und</strong> betonte die<br />

Schaffung von Freiräumen für die aktive<br />

Wegbewegung von den Druckpelotten.Dieses<br />

Korsett, von Chêneau bis auf<br />

den heutigen Tag ständig weiterentwickelt,<br />

fand als CTM (Chêneau-<br />

Toulouse-Münster)-Korsett Verbreitung<br />

<strong>und</strong> wurde seither wie<strong>der</strong>holt modifiziert<br />

(Rahmouni, Rigo, Weiss).<br />

1982/83 versuchten Eichler <strong>und</strong> Rexing<br />

[26] die Prinzipien von Chêneau mit<br />

denjenigen des Boston-Korsetts zu verbinden<br />

<strong>und</strong> entwickelten das CBW<br />

(Chêneau-Boston-Wiesbaden)-Korsett.<br />

Neben einer individuellen Bauchpresse,<br />

dorsalem Verschluss <strong>und</strong> zusätzlich einklebbaren<br />

Druckpelotten zur Derotation<br />

<strong>und</strong> Translation (Boston),verfügt es über<br />

konsequent gegenüber den Pelotten angebrachte<br />

Freiräume zur aktiven Korrektur<br />

(Chêneau) <strong>und</strong> legt beson<strong>der</strong>es Gewicht<br />

auf die Einstellung des sagittalen Profils.<br />

Weniger Verbreitung in Europa fand das<br />

in den 70er Jahren von Bunnell am Wilmington<br />

Children’s Hospital in Delaware<br />

entwickelte Wilmington-Korsett [16].Das<br />

Korsett wird nach einem in korrigierter<br />

Stellung im Cotrel- bzw.Risser-Rahmen<br />

abgenommenen Gipsabdruck gefertigt.<br />

Starke Extension, Derotation <strong>und</strong> Kompression<br />

bewirken eine passive Korrektur,<br />

Freiräume fehlen gänzlich.<br />

Als Alternative zu den bisher angeführten<br />

Ganztagskorsetten,entwickelten<br />

Reed u.Hooper seit 1978 den Charleston-<br />

Bending-Brace (CBB) als Nachtorthese.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Angestrebt wird eine massive Korrektur<br />

(75%), wenn möglich gar eine Überkorrektur<br />

<strong>der</strong> Primärkrümmung durch Fixierung<br />

in Seitneigung (Bending).Derotierende<br />

Pelotten o<strong>der</strong> Freiräume sind<br />

nicht vorgesehen, auf die Gefahr einer<br />

Zunahme von Sek<strong>und</strong>ärkrümmungen<br />

muss beson<strong>der</strong>s geachtet werden.<br />

Historische Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Elektrostimulation<br />

Bereits 1856 berichtete X.Seiler [74] über<br />

seine in Paris durchgeführten Behandlungen<br />

von <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten<br />

mit galvanischem Strom.Nachdem es<br />

Olsen et al.[59] um die Mitte <strong>der</strong> 70er<br />

Jahre gelang, durch elektrische Stimulation<br />

implantierter Elektroden im Tierversuch<br />

Skoliosen zu erzeugen <strong>und</strong> zu<br />

korrigieren, stellten 1979 Bobechko et al.<br />

[12] ein implantierbares System für den<br />

Einsatz am Menschen vor.Wegen zahlreicher<br />

technischer Probleme fand es<br />

keine weitere Verbreitung.Erst die Entwicklung<br />

seitlicher transkutaner Elektrostimulation<br />

in den 80er Jahren durch<br />

Axelgaard u.Brown [6] <strong>und</strong> Mc Cullough<br />

[52], welche eine aktive Kontraktion <strong>der</strong><br />

konvexseitigen Rumpfmuskulatur durch<br />

konvexseitiges Anbringen <strong>der</strong> Elektroden<br />

am oberen <strong>und</strong> <strong>unter</strong>en Ende <strong>der</strong><br />

Hauptkrümmung bewirkte, löste einen<br />

regelrechten Boom <strong>der</strong> Elektrotherapie<br />

in <strong>der</strong> Skoliosebehandlung aus.Die Behandlung<br />

wurde nach mehreren Multicenterstudien<br />

von <strong>der</strong> FDA zugelassen.<br />

Bereits 1987 erfolgten jedoch erste Meldungen<br />

über Therapieversager <strong>und</strong> die<br />

Methode geriet rasch in Misskredit.<br />

Aktuelle konservative Behandlung<br />

<strong>der</strong> idiopathischen Skoliose<br />

Die primären Ziele <strong>der</strong> konservativen<br />

Behandlung umfassen die:<br />

● Verlangsamung <strong>der</strong> Progredienz,<br />

● Verhin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Progredienz,<br />

● Korrektur <strong>der</strong> bestehenden Krümmung<br />

(Initialkorrektur, Langzeitkorrektur).<br />

Zum Erreichen <strong>der</strong> primären Behandlungsziele<br />

stehen folgende konservative<br />

Behandlungsmaßnahmen zur Diskussion:<br />

● krankengymnastische Skoliosetherapie<br />

(Physiotherapie),<br />

● Korsett- bzw.Gipsbehandlung,<br />

● (Elektrostimulation).<br />

Aktuelle krankengymnastische<br />

Skoliosetherapie (Physiotherapie)<br />

Ungezielte physiotherapeutische Maßnahmen<br />

haben heute keinen Platz mehr<br />

in <strong>der</strong> konservativen Skoliosebehandlung.Korrektur-,<br />

Aufbau- <strong>und</strong> Atemübungen<br />

sollen individuell, d.h.bef<strong>und</strong>orientiert,<br />

für jeden Skoliosepatienten<br />

festgelegt <strong>und</strong> systematisch erlernt werden.Für<br />

die mo<strong>der</strong>ne krankengymnastische<br />

Skoliosetherapie ist die Korsettbehandlung<br />

integraler Bestandteil des<br />

konservativen Behandlungskonzepts.<br />

Sie trägt diesem Umstand durch die<br />

krankengymnastischen Übungen im<br />

Korsett Rechnung.Es stehen heute verschiedene<br />

spezifische krankengymnastische<br />

Skoliosebehandlungskonzepte<br />

zur Verfügung, die diese Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

erfüllen:<br />

● Skoliosetherapie nach Schroth<br />

(Weiterentwicklung nach Lehnert-<br />

Schroth [48] <strong>und</strong> Weiss/Rigo [82]),<br />

● Skoliosetherapie nach Gocht-<br />

Gessner (Weiterentwicklung nach<br />

Dieffenbach [23]),<br />

● Skoliosetherapie nach Scharll<br />

(Weiterentwicklung nach Weber u.<br />

Hirsch [81]),<br />

● Skoliosetherapie nach v.Nie<strong>der</strong>höffer<br />

[58],<br />

● Skoliosetherapie auf entwicklungskinesiologischer<br />

Gr<strong>und</strong>lage<br />

(E-Technik) nach Hanke [33],<br />

● Skoliosetherapie auf sensomotorisch-kinästhetischer<br />

Gr<strong>und</strong>lage<br />

(PNF-Technik= propriozeptive neuromuskuläre<br />

Fazilitation), [77].<br />

Die krankengymnastische Behandlung<br />

<strong>der</strong> idiopathischen Skoliose stellt hohe<br />

Anfor<strong>der</strong>ungen an den Therapeuten <strong>und</strong><br />

erfor<strong>der</strong>t deshalb eine spezielle Ausbildung<br />

<strong>und</strong> Erfahrung in den angeführten<br />

Behandlungsmethoden.Auch vom Patienten<br />

wird bei <strong>der</strong> Erlernung <strong>und</strong> bei <strong>der</strong><br />

konsequenten selbständigen Fortführung<br />

dieser Skoliosetherapien ein hoher<br />

Einsatz erwartet.Er ist nur durch Disziplin<br />

<strong>und</strong> Übernahme von Selbstverantwortung<br />

zu leisten.Ist die Diagnose einer<br />

idiopathischen Skoliose gestellt, hat<br />

u.E.die Physiotherapie bei den nachstehenden<br />

Indikationen ihren festen Platz<br />

im konservativen Therapieplan.


Indikation zur krankengymnastischen<br />

Skoliosetherapie<br />

● Verbesserung <strong>der</strong> skoliotischen Haltung<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> allgemeinen Körperhaltung,<br />

● Kräftigung <strong>der</strong> Rumpf- <strong>und</strong> Körpermuskulatur,<br />

● Entlordosierung,<br />

● Verbesserung <strong>der</strong> Herz-Kreislauf<strong>und</strong><br />

Lungenfunktion,<br />

● För<strong>der</strong>ung des Körper- <strong>und</strong> Selbstbewusstseins,<br />

Entwicklung einer<br />

positiven Krankheitseinstellung,<br />

● Unterstützung <strong>und</strong> Überwachung<br />

einer Korsettbehandlung,<br />

● Schmerzbehandlung.<br />

Resultate <strong>der</strong> krankengymnastischen<br />

Skoliosetherapie<br />

Die Krankengymnastik als alleinige<br />

konservative Behandlungsmaßnahme<br />

vermag die Progression <strong>der</strong> Skoliose<br />

nicht zu verhin<strong>der</strong>n <strong>und</strong> schon gar nicht<br />

Abb. 5 � a Mo<strong>der</strong>nes Derotations- <strong>und</strong> Translationskorsett<br />

mit kompensatorischen Freiräumen<br />

(1 dorsale Derotationsanlage mit zusätzlich<br />

kyphosieren<strong>der</strong> Wirkung, 2 ventrale Stabilisierungspelotte,<br />

medial des Humeruskopfes,<br />

3 laterale Achselanlage, 4 dorsolaterale<br />

Thorakalpelotte, 5 ventrale Derotationspelotte,<br />

6 ventrale <strong>unter</strong>e Sternalpelotte, 7 lumbale<br />

Derotationspelotte, 8 asymmetrische Bauchpresse,<br />

9 Glutealanlage, 10 Trochanteranlage),<br />

(Balgrist Tec). b Gleiche Orthese wie in a am<br />

Patienten. Man beachte die Freiräume links<br />

thorakal <strong>und</strong> rechts lumbal sowie das korrekte<br />

Körperlot in <strong>der</strong> Frontalebene (Balgrist Tec)<br />

die Skoliose langfristig zu korrigieren.<br />

Dies ist in erster Linie darauf zurückzuführen,<br />

dass die Einwirkungszeit <strong>der</strong> aktiven<br />

<strong>und</strong> passiven korrigierenden Kräfte<br />

bei <strong>der</strong> Physiotherapie viel zu kurz ist.<br />

Klassische Skoliosetherapien, wie<br />

die dreidimensionale Skoliosebehandlung<br />

nach Schroth, sind bei sehr intensiver<br />

Anwendung kurzfristig wirksam,<br />

z.B.während eines mehrwöchigen stationären<br />

Aufenthalts (mit mehreren<br />

St<strong>und</strong>en Therapie täglich), die Progredienz<br />

geht aber nach Beendigung <strong>der</strong><br />

Intensivtherapie weiter.Es sind uns keine<br />

gut dokumentierten Studien bekannt,<br />

die die Wirksamkeit <strong>der</strong> Physiotherapie<br />

zur Verhin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Progredienz<br />

<strong>der</strong> Skoliose belegen.Einzelne<br />

Studien stellen hingegen die Wirkung<br />

<strong>der</strong> Physiotherapie generell in Frage [17,<br />

30].Es ist daher sorgfältig darauf zu<br />

achten, dass durch die ausschließliche<br />

Anwendung <strong>der</strong> Skoliosegymnastik<br />

nicht <strong>der</strong> Zeitpunkt zur Indikation an<strong>der</strong>er,<br />

effektiverer Behandlungsmaß-<br />

nahmen (Korsett, Operation) verpasst<br />

wird.<br />

Aktuelle Skoliosekorsett-<br />

<strong>und</strong> Gipsbehandlung<br />

Die Korsett- bzw.Gipsbehandlung ist die<br />

einzige nicht operative Skolioseherapie,<br />

für die ein wissenschaftlicher Wirksamkeitsnachweis<br />

vorliegt.Die Wirksamkeit<br />

<strong>der</strong> Korsett- bzw.Gipsbehandlung hängt<br />

von folgenden Faktoren ab:<br />

● Deformierende Kraft – abhängig<br />

vom:<br />

– <strong>Wachstum</strong>spotential <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>,<br />

– Ausmaß <strong>der</strong> Deformität;<br />

● Flexibilität bzw.Rigidität <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>;<br />

● angewandte korrigierende Kraft –<br />

abhängig von:<br />

– Stärke,<br />

–Ort,<br />

–Richtung,<br />

–Zeitdauer.<br />

Bei ausgeprägten Krümmungen (Cobb-<br />

Winkel >55°) ist die Extension wirksamer<br />

als die Translation.<br />

Funktionsweise mo<strong>der</strong>ner<br />

Skoliosekorsette<br />

Bei mo<strong>der</strong>nen Skoliosekorsetten bzw.<br />

-gipsen kommen – häufig kombiniert –<br />

folgende 4 Wirkprinzipien zur Anwendung:<br />

● Extension (aktiv/passiv): mittels<br />

Halsring <strong>und</strong> Bauchpresse (z.B.Milwaukee-Korsett;<br />

Extensions-Spindel-<br />

Gips nach Stagnara);<br />

● Translation (aktiv/passiv): durch<br />

seitliche Druckpelotten nach dem 3-<br />

Punkte-Prinzip <strong>und</strong> korrespondierenden<br />

Freiräumen [z.B.Chêneau<br />

(CTM/CBW)-Korsett, Boston-Korsett];<br />

● Derotation (aktiv/passiv): durch dorsale<br />

bzw.ventrale Druckpelotten in<br />

<strong>der</strong> gleichen Transversalebene <strong>und</strong><br />

korrespondierenden Freiräumen<br />

[z.B.Chêneau (CTM/CBW)-Korsett,<br />

Boston-Korsett (Freiräume beschränkt)];<br />

● Kompression: ohne o<strong>der</strong> mit ungenügenden<br />

aktiven o<strong>der</strong> passiven<br />

Ausweichmöglichkeiten in entsprechende<br />

Freiräume (z.B.Wilmington-<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 17


18<br />

Korsett, Lyoner- bzw.Stagnara-<br />

Korsett, Cotrel-Gips);<br />

● passive Umkrümmung des Rumpfes<br />

zur Gegenseite: durch Überkorrektur<br />

[z.B.Charleston-Bending-Brace;<br />

Umkrümmungsgips (turnbucklecast)<br />

nach Risser].<br />

Das Milwaukee-Korsett war primär als<br />

passiv extendierendes Korsett konzipiert<br />

[11].Ein Halsring mit Kinn- <strong>und</strong> Nackenanlage<br />

war durch einen ventralen <strong>und</strong> 2<br />

dorsale Stäbe mit einem Beckenkorb verb<strong>und</strong>en.Die<br />

Stäbe wurden elongiert, bis<br />

eine passive Extension zustande kam.Die<br />

Kinnanlage führte zu Druckstellen <strong>und</strong><br />

Kieferdeformitäten.In den 70er Jahren<br />

wurde deshalb <strong>der</strong> Kinn- <strong>und</strong> Nackenring<br />

nur noch zur Mahnwirkung eingesetzt,<br />

um die aktive Aufrichtung zu erzwingen<br />

(<strong>der</strong> Patient soll sein Kinn aktiv 1–2 cm<br />

von <strong>der</strong> Kinnanlage abheben können).<br />

Bei den meisten idiopathischen Adoleszentenskoliosen<br />

ist <strong>der</strong> Einsatz extendieren<strong>der</strong><br />

Kräfte vom Ansatz her problematisch,<br />

da dadurch das sagittale Profil<br />

weiter abgeflacht <strong>und</strong> die bereits vorhandene<br />

Lordosetendenz verstärkt wird.Es<br />

ist daher nicht erstaunlich, dass die Resultate<br />

nach <strong>der</strong> Behandlung mit weniger<br />

extendierenden Korsetten (z.B.Boston-<br />

Korsett) besser sind, als diejenigen mit<br />

dem Milwaukee-Korsett [55].Mit seinem<br />

von weitem sichtbaren Halsring, <strong>der</strong> sich<br />

auch <strong>unter</strong> Klei<strong>der</strong>n nicht verstecken<br />

lässt, wird das Milwaukee-Korsett heute<br />

kaum mehr akzeptiert.Nur bei hochthorakalen<br />

Skoliosen (Scheitelwirbel >Th6)<br />

kann es noch indiziert werden.<br />

Komprimierende Korsette (Wilmington-Korsett,<br />

Lyoner- bzw.Stagnara-<br />

Korsett) verwenden wir nicht bzw.nicht<br />

mehr, da sie die Lungenfunktion stark<br />

beeinträchtigen <strong>und</strong> zu unerwünschten<br />

Deformierungen des Rippenthorax führen.Die<br />

Resultate sind zudem weniger<br />

überzeugend als diejenigen nach Behandlung<br />

mit dem Boston-Korsett [2, 7].<br />

Wir bevorzugen Korsette, die translatierende<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong>otierende Druckpelotten<br />

aufweisen <strong>und</strong> ihnen gegenüber<br />

korrespondierende Freiräume verfügen<br />

(Abb.5a, b).Solche Korsette sind das<br />

Chêneau (CTM/CBW)-Korsett [42] <strong>und</strong><br />

das Boston-Korsett [32].Eine einfache<br />

Thorakalkrümmung wird dabei durch<br />

translatierende Pelotten nach dem 3-<br />

Punkte-Prinzip redressiert: <strong>der</strong> bis an<br />

den Scheitel heranreichenden konvexseitigen<br />

Thorakalpelotte stehen zwei<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

konkavseitige Gegenpelotten, eine oberhalb<br />

(Achselanlage) <strong>und</strong> eine <strong>unter</strong>halb<br />

(Lumbalpelotte) gegenüber.Um das 3-<br />

Punkte-Prinzip bis auf das Beckenniveau<br />

fortzusetzen (sog.4-Punkte-Prinzip)<br />

ist eine konvexseitige Trochanterfassung<br />

notwendig.Die Derotation wird<br />

durch eine dorsale Komponente <strong>der</strong><br />

konvexseitigen Thorakalpelotte sowie<br />

eine konkavseitig auf gleicher Höhe angebrachte<br />

ventrale Anlage bewirkt.<br />

Um die <strong>der</strong>otierende Wirkung sicherzustellen,<br />

sind umgekehrt gerichtet<br />

Anlagen auf Schulter- <strong>und</strong> Beckenniveau<br />

notwendig.Um ein aktives <strong>und</strong> passives<br />

Ausweichen zu ermöglichen, sind alle<br />

nicht zur Anbringung von translatierenden,<br />

<strong>der</strong>otierenden <strong>und</strong> entlordosierenden<br />

Pelotten benötigten Räume freizuhalten<br />

(im Boston-Korsett nur beschränkt<br />

erfüllt).Die Derotation wirkt<br />

sich jedoch stärker auf den Rippenbuckel<br />

[83] als auf die Skoliose [84] aus.<br />

Über die dynamischen Skolioseorthesen<br />

(SpineCor, TriaC), die bei Cobb-<br />

Winkeln von 15–30° bzw.15–35° indiziert<br />

werden, liegen erste positive Behandlungsergebnisse<br />

vor, aber noch nicht genügend,<br />

unabhängig von den Entwicklern<br />

erhobene Daten, um ihre Wirksamkeit<br />

abschließend beurteilen zu können.<br />

Die Behandlung mit geschlossenen<br />

redressierenden Gipskorsetten gewährleistet<br />

eine optimale Tragdauer, was die<br />

Wirksamkeit günstig beeinflusst.Die<br />

meisten Gipskorsette wirken jedoch<br />

komprimierend, was die Lungenfunktion<br />

beeinträchtigt <strong>und</strong> Thoraxdeformitäten<br />

verursachen kann.Die Akzeptanz<br />

ist heute praktisch nicht mehr gegeben.<br />

Eine Indikation für serielle Redressionsgipse(z.B.Extensions-Derotations-Flexionsgips<br />

nach Cotrel) sehen wir gelegentlich<br />

noch bei kleinen Kin<strong>der</strong>n mit<br />

ausgeprägten Deformitäten, bei denen<br />

ein Aufschub <strong>der</strong> Operation aus <strong>Wachstum</strong>sgründen<br />

erwünscht ist.<br />

Indikation zur<br />

Skoliosekorsettbehandlung<br />

Ein Korsettbehandlung ist nach unserer<br />

Meinung angezeigt, wenn folgende Voraussetzungen<br />

erfüllt sind:<br />

● idiopathische Skoliose mit einem<br />

Cobb-Winkel >20°,<br />

● nachgewiesene Progredienz (Zunahme<br />

des Cobb-Winkels >5° zwischen 2<br />

Röntgenkontrollen),<br />

● noch vorhandene <strong>Wachstum</strong>spotenz<br />

(Risser 30°<br />

<strong>und</strong> noch vorhandener <strong>Wachstum</strong>spotenz<br />

stellen wir die Indikation auch ohne<br />

nachgewiesene Progredienz.<br />

Wir sind mit <strong>der</strong> Indikation zur<br />

Korsettbehandlung zurückhalten<strong>der</strong> als<br />

an<strong>der</strong>e Autoren.Dies deshalb, weil Korsettwirkung<br />

bei Krümmungen mit einem<br />

Cobb-Winkel


50 Patienten mit Boston-Korsett wurden<br />

ohne Wissen <strong>der</strong> Patienten Silberplättchen<br />

in die Korsette eingebaut.Diese<br />

Plättchen oxydieren <strong>unter</strong> Körperkontakt<br />

<strong>und</strong> ermöglichen es, die Kontaktzeit<br />

<strong>und</strong> damit die Tragzeit sehr genau zu bestimmen.Die<br />

effektive Tragzeit <strong>der</strong> Korsette<br />

betrug 17% <strong>der</strong> verordneten Zeit.<br />

Diese Untersuchung wirft ein kritisches<br />

Licht auf alle Studien, die von einer zuverlässigen<br />

Korsetttragzeit ausgehen<br />

<strong>und</strong> stellt die Wirksamkeit <strong>der</strong> Korsettbehandlung<br />

wegen schlechter Compliance<br />

in Frage.In diesem Zusammenhang<br />

zeigte eine Studie [2], dass das Korsett<br />

bei Teilzeit-Tragen fast so effizient<br />

ist, wie wenn es ganztags angelegt ist.<br />

Noch mehr als bei thorakalen Skoliosen<br />

sollte bei lumbalen Skoliosen auf<br />

eine konsequente Korsettbehandlung<br />

gedrängt werden, da hier die operative<br />

Therapie keine befriedigende Alternative<br />

bietet.<br />

Resultate <strong>der</strong><br />

Skoliosekorsettbehandlung<br />

Die Korsettbehandlung vermag die Progredienz<br />

aufzuhalten, die Skoliose jedoch<br />

nicht auf Dauer zu korrigieren.Die<br />

anfängliche Vermin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Krümmung<br />

geht nach Absetzen <strong>der</strong> Behandlung<br />

nach <strong>Wachstum</strong>sabschluss wie<strong>der</strong><br />

verloren.Bei konsequentem Tragen des<br />

Korsetts darf man dem Patienten in Aussicht<br />

stellen, dass seine Skoliose dauerhaft<br />

so bleibt, wie sie zu Beginn war.Allerdings<br />

hat das Korsett diese Wirksamkeit<br />

nur bis zu einem Krümmungswinkel<br />

von ca.40°.Unsere eigene Untersuchung<br />

an 29 Patienten mit Skoliosen<br />

zwischen 25° <strong>und</strong> 40° <strong>und</strong> Behandlung<br />

mit verschiedenen Korsetten (Milwaukee,<br />

Chêneau, Boston) zeigte, dass es<br />

anfänglich zu einer Verbesserung des<br />

Skoliosewinkels kommt.Bei Absetzen<br />

des Korsetts ist <strong>der</strong> Cobb-Winkel immer<br />

noch etwas kleiner als bei Behandlungsbeginn.Zwei<br />

Jahre nach Behandlungsabschluss<br />

entspricht er wie<strong>der</strong> dem Ausgangswinkel.Die<br />

Studie umfasste nur<br />

Patienten, die gemäß eigenen Angaben<br />

das Korsett konsequent getragen hatten.<br />

Keine dieser Patienten o<strong>der</strong> Patientinnen<br />

musste operiert werden.<br />

Untersuchungen über die Behandlung<br />

mit dem Boston-Korsett bestätigen,<br />

dass die Progredienz bei guter Compliance<br />

in 95% <strong>der</strong> Fälle verhin<strong>der</strong>t werden<br />

kann [27, 57].Nach dem Absetzen muss<br />

mit einer Zunahme des Winkels um etwa<br />

5° gerechnet werden [56].Die Resultate<br />

<strong>der</strong> Behandlung mit dem Bostonresp.Chêneau<br />

(CTM/CBW)-Korsett sind<br />

besser als diejenigen mit dem Milwaukee-Korsett<br />

[25, 37, 42, 55].<br />

Die Resultate mit dem komprimierenden<br />

Wilmington-Korsett vermögen<br />

vergleichsweise nicht zu überzeugen [2,<br />

62].Eine groß angelegte Studie <strong>der</strong> „Scoliosis<br />

Research Society“ zeigte bei 286<br />

Mädchen mit idiopathischer Adoleszentenskoliose<br />

eine „Versagensquote“ <strong>der</strong><br />

unbehandelten Skoliosen von 52%, <strong>der</strong><br />

mit Elektrostimulation therapierten von<br />

63% <strong>und</strong> <strong>der</strong> mit Korsett behandelten<br />

von 36% [57].<br />

Diese <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Arbeiten wurden<br />

von Dickson u.Weinstein kritisch beleuchtet<br />

[22].Sie kamen zum Schluss,<br />

dass die bisherigen Studien den Beweis<br />

<strong>der</strong> Wirksamkeit <strong>der</strong> Korsettbehandlung<br />

ungenügend liefern, da sie nicht<br />

kontrolliert <strong>und</strong> randomisiert durchgeführt<br />

wurden, wobei es allerdings fragwürdig<br />

ist, ob eine <strong>der</strong>artige Randomisierung<br />

angesichts <strong>der</strong> offensichtlichen<br />

Wirksamkeit <strong>der</strong> Korsett-Therapie<br />

ethisch zulässig ist.Die Evidenz <strong>der</strong><br />

Wirksamkeit <strong>der</strong> Korsettbehandlung<br />

leidet sicher <strong>unter</strong> dem schwer kontrollierbaren<br />

Problem <strong>der</strong> Compliance.<br />

Winter <strong>und</strong> Lonstein haben sich kürzlich<br />

zu diesem Dilemma wie folgt geäußert<br />

[86]: „Die Effektivität <strong>der</strong> Korsettbehandlung<br />

steht heute außer Frage.<br />

Nicht alle Patienten profitieren davon.<br />

Dies sollte uns aber nicht davon abhalten,<br />

allen Patienten diese Möglichkeit<br />

anzubieten.Es ist besser, wenn man es<br />

ohne Erfolg versucht hat, als wenn man<br />

es gar nicht probiert hat.Die Korsettbehandlung<br />

kann somit die Anzahl <strong>der</strong><br />

schweren Deformitäten mit <strong>der</strong> Notwendigkeit<br />

<strong>der</strong> chirurgischen Behandlung<br />

vermin<strong>der</strong>n“.<br />

Weiter gilt es bei <strong>der</strong> Korsettbehandlung<br />

zu beachten, dass:<br />

● das Korsett während <strong>der</strong> Tragzeit zu<br />

einer Verschlechterung <strong>der</strong> Lungenfunktion<br />

führt, die sich jedoch nach<br />

Absetzen des Korsetts sehr schnell<br />

wie<strong>der</strong> erholt [65];<br />

● das Korsett die Rotation <strong>der</strong> Wirbelkörper<br />

[84] <strong>und</strong> die Lordose nicht zu<br />

korrigieren vermag [85];<br />

● die Rückenoberfläche (d.h.<strong>der</strong> Rippenbuckel)<br />

etwas besser korrigiert<br />

wird als die Skoliose selbst [83].<br />

Tragdauer des Skoliosekorsetts<br />

Das Korsett muss bis <strong>Wachstum</strong>sabschluss<br />

(Risser IV) konsequent Tag <strong>und</strong><br />

Nacht, d.h.während 22–23 h/Tag, getragen<br />

werden.Da die psychologische Belastung<br />

durch die Korsettbehandlung<br />

sehr groß ist, braucht <strong>der</strong> Patient eine<br />

gute Führung <strong>und</strong> Begleitung.Nur wenn<br />

alle Beteiligten (Patient, Eltern, Arzt,<br />

Physiotherapeutin, Orthopädietechniker<br />

<strong>und</strong> Lehrer) vom Sinn <strong>der</strong> Behandlung<br />

überzeugt sind, besteht Aussicht<br />

auf Erfolg.Das Korsett darf nur für<br />

sportliche Aktivitäten o<strong>der</strong> während <strong>der</strong><br />

Physiotherapie ausgezogen werden.<br />

Sport darf uneingeschränkt betrieben<br />

werden.<br />

Die Korsettbehandlung muss immer<br />

von einer gezielten Skoliosegymnastik<br />

begleitet werden.Durch das Korsett<br />

kommt es zur Atrophie <strong>der</strong> paravertebralen<br />

Muskulatur, welche weniger Haltearbeit<br />

zu leisten hat <strong>und</strong> die Lungenfunktion<br />

im Korsett ist eingeschränkt.<br />

Dem muss durch Skoliosegymnastik,<br />

Schwimmen <strong>und</strong> Sport <strong>und</strong> entgegen<br />

gewirkt werden.Die Frage <strong>der</strong> Korsettentwöhnung<br />

wurde bisher nicht wissenschaftlich<br />

geklärt.Wir sind <strong>der</strong> Ansicht,<br />

dass sie nicht generell notwendig ist.Wir<br />

plädieren für eine Intensivierung <strong>der</strong><br />

Skoliosetherapie (muskulärer Aufbau)<br />

im Hinblick auf die Korsettentwöhnung<br />

<strong>und</strong> empfehlen die schrittweise Entwöhnung<br />

des Korsetts bei Vorliegen einer<br />

muskulären Insuffizienz o<strong>der</strong> bei Auftreten<br />

von Schmerzen nach dem Ablegen<br />

des Korsetts.<br />

Elektrostimulation<br />

Die Elektrostimulation kann mit implantierten<br />

[87] o<strong>der</strong> oberflächlichen<br />

Elektroden [15] durchgeführt werden.<br />

Die Stimulation erfolgt nachts.Während<br />

die Initiatoren über gute Resultate berichteten,<br />

wurde in an<strong>der</strong>en Untersuchungsserien<br />

eine Progredienz bei 27%<br />

[3], 50% [24] o<strong>der</strong> gar 86% [2] ermittelt.<br />

Eine multizentrische Studie [57] zeigt,<br />

dass im Gegensatz zur Korsettbehandlung<br />

die Elektrostimulation den Spontanverlauf<br />

nicht beeinflusst.Unsere eigenen<br />

beschränkten Erfahrungen weisen<br />

in gleiche Richtung.Von insgesamt<br />

12 Patienten mussten 4 wegen Progredienz<br />

operiert werden.Solche Zahlen<br />

sind nicht akzeptabel, da sie dem Spontanverlauf<br />

entsprechen.Durch die Sti-<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 19


20<br />

mulation <strong>der</strong> dorsalen Muskulatur verstärken<br />

wir die Lordose, was nicht erwünscht<br />

ist.Die Elektrostimulation hat<br />

die in sie gesetzten Erwartungen nicht<br />

erfüllt <strong>und</strong> ist keine wirksame Alternative<br />

zur Korsettbehandlung; wir haben sie<br />

daher verlassen.<br />

Klinische <strong>und</strong> radiologische<br />

Kontrolle <strong>der</strong> konservativen<br />

Skoliosebehandlung<br />

Bei klinischem Verdacht auf Skoliose<br />

soll eine Ganzwirbelsäulenaufnahme im<br />

Stehen in p.a. <strong>und</strong> seitlichem Strahlengang<br />

angefertigt werden.Liegt <strong>der</strong><br />

Cobb-Winkel 20°, empfehlen<br />

wir vor dem pubertären <strong>Wachstum</strong>sschub<br />

6-monatliche, im pubertären<br />

<strong>Wachstum</strong>sschub 3-monatliche klinische<br />

Kontrollen.Ein Röntgenbild fertigen<br />

wir auch hier nur an, wenn die klinischen<br />

Parameter den Verdacht einer<br />

Progredienz nahelegen.Bei wechselnden<br />

Untersuchern ist hier im pubertären<br />

<strong>Wachstum</strong>sschub eine jährliche radiologische<br />

Kontrolle ratsam.Wird eine<br />

Korsettbehandlung indiziert, muss das<br />

Korsett nach Fertigstellung klinisch <strong>und</strong><br />

radiologisch kontrolliert werden.<br />

Bei <strong>der</strong> klinischen Kontrolle ist darauf<br />

zu achten, dass:<br />

● die Pelotten <strong>und</strong> Freiräume dem<br />

Krümmungsmuster entsprechend<br />

korrekt plaziert sind,<br />

● das Korsett keine scharfen Kanten<br />

aufweist,<br />

● <strong>der</strong> Beinausschnitt genügend weit<br />

ist, um ein bequemes Sitzen ohne<br />

Abschnürung <strong>der</strong> Beine o<strong>der</strong> Hochschieben<br />

des Korsettes zu ermöglichen,<br />

● <strong>der</strong> Pelottendruck satt, aber nicht zu<br />

stark ist (die Hautrötung <strong>unter</strong> <strong>der</strong><br />

Druckpelotte sollte 15 min nach <strong>der</strong><br />

Korsettentfernung abblassen),<br />

● das Korsett im Gesäßbereich nicht zu<br />

kurz (hochschieben des Korsetts<br />

beim Gehen durch die Glutealmuskulatur)<br />

o<strong>der</strong> zu lang (hochschieben<br />

des Korsetts beim Sitzen durch die<br />

Sitzfläche) ist,<br />

● bei Mädchen die Mammae freigelegt<br />

sind,<br />

● die Achselanlage genügend Spielraum<br />

für den M.pectoralis major<br />

<strong>und</strong> den M.latissimus dorsi zulässt<br />

<strong>und</strong> keine Kompressionserscheinungen<br />

an Gefäßen <strong>und</strong> Nerven des<br />

Arms verursacht,<br />

● sofern notwendig, die Scapula so<br />

weit gefasst wird, dass sie bei Armbewegungen<br />

nicht über den Korsettrand<br />

gleitet,<br />

● <strong>der</strong> Patient im Lot steht o<strong>der</strong> eine<br />

vorbestehende Lotdekompensation<br />

nicht verschlechtert wird.<br />

Bei <strong>der</strong> radiologischen Kontrolle im<br />

Korsett (Abb.6) ist darauf zu achten,<br />

dass:<br />

● die Pelotten vorgängig markiert<br />

wurden,<br />

● die Pelottenlage korrekt ist,<br />

● eine Korrektur <strong>der</strong> Krümmung erzielt<br />

wurde (prognostisch günstige<br />

Korrekturen von 50% können meist<br />

nur bei flexiblen Krümmungen erzielt<br />

werden, bei rigiden Krümmungen<br />

sind Korrekturen von 20–30%<br />

realistisch).<br />

Klinische Kontrollen sollen während <strong>der</strong><br />

gesamten Zeit <strong>der</strong> Korsettbehandlung<br />

alle 3 Monate durchgeführt werden (am<br />

Korsett sollten dabei Tragspuren erkennbar<br />

werden!).Korsettfreie radiologische<br />

Kontrollen sollen dabei im pubertären<br />

<strong>Wachstum</strong>sschub alle 6 Monate,<br />

spätestens jedoch jährlich (nur p.a.)<br />

vorgenommen werden.<br />

Konservative Therapie<br />

<strong>der</strong> Scheuermann-Kyphose<br />

Das Krankheitsbild <strong>der</strong> „Kyphosis dorsalis<br />

juvenils“ wurde erstmals 1921 [71]<br />

vom dänischen Orthopäden <strong>und</strong> Radiologen<br />

Holger Werfel Scheuermann<br />

(1877–1960) beschrieben <strong>und</strong> als „Osteochondritis<br />

deformans juvenilis dorsi“<br />

von an<strong>der</strong>en Kyphoseformen abgegrenzt.Nachdem<br />

seine Dissertation zu<br />

diesem Thema abgelehnt wurde, verlieh<br />

ihm die gleiche Universität im 80.Le-


ensjahr die Ehrendoktorwürde.Das<br />

Resumé seiner gr<strong>und</strong>legenden Arbeit ist<br />

konzis: „Kyphosis dorsalis juvenilis, die<br />

sogenannte Lehrlingskyphose o<strong>der</strong><br />

muskuläre Kyphose, beruht nach meiner<br />

Anschauung auf einem Leiden in den<br />

<strong>Wachstum</strong>slinien <strong>der</strong> Wirbelkörper zwischen<br />

Corpus <strong>und</strong> <strong>der</strong> Epiphysierung,<br />

nicht, wie angenommen, auf einer Insuffizienz<br />

<strong>der</strong> Rückenmuskulatur“ [71].<br />

Obwohl die Krankheit bereits vor<br />

ihrer Beschreibung durch Scheuermann<br />

existiert hat, ist ihre Abgrenzung von an<strong>der</strong>en,<br />

früher häufigen Kyphoseformen<br />

wie <strong>der</strong> Tbc-Spondylitis (Malum Potti)<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Rachitis in historischen Behandlungsberichten<br />

oft nicht zuverlässig<br />

möglich.Konservative Kyphosebehandlung<br />

hat sich vor 1921 nicht auf die<br />

Scheuermann-Kyphosen beschränkt.<br />

Historische Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Physiotherapie<br />

bei Scheuermann-Kyphose<br />

Die Krankengymnastik <strong>der</strong> Kyphose<br />

zielt seit Nicolas Andry (1658–1741) [4]<br />

auf eine aktive Haltungskorrektur durch<br />

Übungen.Albert Hoffa (1859–1907) hält<br />

dazu in seinem 1891 erschienen „Lehrbuch<br />

<strong>der</strong> orthopädischen Chirurgie“<br />

[39] fest: „Die Behandlung hat in erster<br />

Linie gegen die Energielosigkeit <strong>der</strong> Patienten<br />

anzukämpfen.Die Kin<strong>der</strong> müssen<br />

es durch eine geradezu pädagogische<br />

Erziehung lernen, ihre Rückenmuskel<br />

wie<strong>der</strong> dem Einfluße ihres Willens<br />

zugänglich zu machen.Dazu eignet sich<br />

vorzüglich die sogenannte „moralische“<br />

Methode <strong>der</strong> Gymnastik … <strong>und</strong> wir<br />

wenden diese deshalb auch stets zunächst<br />

an, indem wir dabei möglichst<br />

das ästhetische <strong>und</strong> das Ehrgefühl des<br />

Kindes zu heben suchen.Unterstützt<br />

wird das Erwachen <strong>der</strong> Willenskraft<br />

durch eine zweckmäßig geleitete Gym-<br />

Abb. 7 � Für Albert Hoffa<br />

(1859–1907), <strong>der</strong> <strong>der</strong> sogenannten<br />

„moralischen Gymnastik“ große<br />

Bedeutung beimaß, hatte die<br />

Kyphosegymnastik „in erster Linie<br />

gegen die Energielosigkeit des<br />

Patienten anzukämpfen“. Dazu<br />

empfahl er die hier wie<strong>der</strong>gegebene,<br />

nicht eben in komfortabler<br />

Ausgangsstellung durchzuführende<br />

Übung für die Rückenstrecker [39]<br />

nastik.Hier kommen einmal die Übungen<br />

in Betracht, welche direct eine Kräftigung<br />

<strong>der</strong> Rücken- <strong>und</strong> Nackenmuskulatur<br />

bewirken, das sind die Schwimmübungen,<br />

die Rumpfdrehungen <strong>und</strong> das<br />

Rumpfstrecken (Abb.7), während die<br />

Beine auf einer Polsterbank fixiert sind<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Kopf mit nach unten gerichtetem<br />

Gesicht möglichst hoch gehalten<br />

wird“.<br />

Wie die Skoliosegymnastik erhielt<br />

auch die Kyphosegymnastik wichtige<br />

Impulse von <strong>der</strong> schwedischen Heilgymnastik,<br />

so durch die gezielten Wi<strong>der</strong>standsbewegungen.Die<br />

Grenzen <strong>der</strong><br />

Kyphosegymnastik hat Hoffa bereits<br />

deutlich aufgezeigt: „Gymnastik <strong>und</strong><br />

Massage wende ich für sich alleine nur<br />

dann an, wenn die Kin<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> ersten<br />

Untersuchung auf eine dahin gerichtete<br />

Auffor<strong>der</strong>ung sich ganz gerade stellen<br />

<strong>und</strong> ihre Schultern völlig zurücknehmen<br />

können.Kann dies nicht geschehen, liegen<br />

also schon Contracturen <strong>der</strong> Weichteile<br />

an <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

vor, so müssen diese gedehnt <strong>und</strong><br />

die <strong>Wirbelsäule</strong> erst mobilisiert werden,<br />

ehe die krankengymnastischen Übungen<br />

erfolgreich von Statten gehen können“<br />

[39].<br />

Hierzu dienen ihm dann Hangübungen<br />

an Schweberingen, Suspensionen<br />

im Sayreschen Rahmen (Selbstextension<br />

mit <strong>der</strong> Glisson-Schlinge) <strong>und</strong><br />

aktive o<strong>der</strong> passive Umkrümmungsübungen<br />

am Lorenz-Wolm-Apparat.<br />

Auch die Kyphose wurde in <strong>der</strong> Ära <strong>der</strong><br />

„Medico-Mechanik“ um die Jahrhun<strong>der</strong>twende<br />

zum Objekt ausgeklügelter<br />

aktiver <strong>und</strong> passiver Bewegungsapparate.Diese<br />

wurden wie bei <strong>der</strong> Skoliosebehandlung<br />

rasch wie<strong>der</strong> verlassen <strong>und</strong><br />

machten erneute <strong>der</strong> aktiven haltungskorrigierenden<br />

Krankengymnastik<br />

Platz.Wahrscheinlich wegen <strong>der</strong> geringeren<br />

Komplexität <strong>der</strong> Deformität ist es<br />

nie zur Ausbildung spezieller physiotherapeutischer<br />

Schulen o<strong>der</strong> Behandlungskonzepte<br />

für die Scheuermann-Kyphose<br />

gekommen.Die meisten mo<strong>der</strong>nen<br />

Behandlungsprinzipien wurden <strong>der</strong><br />

Skoliosegymnastik entnommen <strong>und</strong> für<br />

die Scheuermann-Kyphose angepasst.<br />

Historische Entwicklung<br />

<strong>der</strong> Korsett- <strong>und</strong> Gipsbehandlung<br />

bei Scheuermann-Kyphose<br />

Einen frühen orthopädischen Apparat,<br />

das sog.„Creutz“ hat Lorenz Heister<br />

(1683–1758) in seiner „Chirurgie“ von<br />

1719 [38] zur Behandlung des „hohen<br />

Rückens“ o<strong>der</strong> „Buckel“ empfohlen:„Zu<br />

dem End hat man auch gegen den<br />

Buckel ein beson<strong>der</strong>es eisernes Instrument<br />

in Form eines Creutzes erdacht<br />

(Abb.8), welches man auf den Rückgrad<br />

gehörig appliciret, <strong>und</strong> um den Leib,<br />

Hals <strong>und</strong> Schultern fest macht, so hält<br />

solches den Rückgrad beständig gerad,<br />

<strong>und</strong> verhin<strong>der</strong>t, daß sich <strong>der</strong>selbe nicht<br />

weiter biegen könne: worauf endlich bey<br />

den Kin<strong>der</strong>n wie<strong>der</strong>um verwächset, was<br />

ungleich gewesen, o<strong>der</strong> man verhin<strong>der</strong>t<br />

doch, daß <strong>der</strong> Schade nicht größer <strong>und</strong><br />

heßlicher werde“.<br />

Dass sich <strong>unter</strong> einem Buckel auch<br />

eine Skoliose verstecken kann, macht<br />

Heister mit seiner Definition deutlich:<br />

„Einen Buckel nennet man eine Verdrehung<br />

des Rückgrads, wenn <strong>der</strong>selbe entwe<strong>der</strong><br />

zu viel rückwerts, vorwerts, o<strong>der</strong><br />

auf eine Seite verdrehet ist“.Das später<br />

nach ihm benannte „eiserne Kreuz“<br />

blieb also nicht <strong>der</strong> Kyphosebehandlung<br />

vorbehalten.Einen eher <strong>der</strong> Vorbeugung<br />

als <strong>der</strong> Behandlung einer etablierten Kyphose<br />

dienenden Behelf hat Nicolas Andry<br />

(1658–1741) mit seiner auf den Tanzlehrer<br />

Prion zurückgehenden „Mentonnière“<br />

angegeben [4]: „Dieses Mittel<br />

bestehet in einem Kinnblech, welches,<br />

von vorne durch zween nach Art eines<br />

Zigzags gebogene Drähte von Messing<br />

<strong>unter</strong>stützet, welche es berühret, <strong>und</strong><br />

mit den beyden Enden auf dem Rande<br />

des Gewölbes <strong>der</strong> Schnürbrust ruhet,<br />

das Kinn umarmet, <strong>und</strong> es ohne die geringste<br />

Gewallt in die Höhe zurück<br />

stößt“.<br />

Andry's Kinnstütze hat später Eingang<br />

ins Milwaukee-Korsett gef<strong>und</strong>en.<br />

Bereits bei Jean Louis Petit (1674–1750)<br />

findet sich <strong>der</strong> Prototyp <strong>der</strong> noch heute<br />

im Handel erhältlichen einfachen Mahnbandage,bestehend<br />

aus einem achterför-<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 21


22<br />

Abb. 8 � Lorenz Heister (1683–1758) hat<br />

das „Creutz“ nicht erf<strong>und</strong>en, aber populär<br />

gemacht. Es darf als Vorläufer aller späteren<br />

Geradhalter bezeichnet werden.<br />

Die Gebrauchsanleitung lautet lapidar:<br />

„Das Creutz AAAA wird auf den Rücken, <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Ring BB um den Hals applicirt: die Riemen CC<br />

aber werden um die Aerme, <strong>und</strong> das <strong>unter</strong>e<br />

Band um den Leib geb<strong>und</strong>en“ [38]<br />

mig um die Schultern geschlungenen<br />

Bandes,dessen Kreuzungspunkt auf dem<br />

Rücken liegt.Zahlreich variiert, u.a.von<br />

Brünninghausen, Saveur-Henri Victor<br />

Bouvier (1799–1877) <strong>und</strong> Karl Hermann<br />

Schildbach (1824–1888),wurde die Schulterretraktion<br />

Bestandteil vieler Korrektionsapparate<br />

[39].<br />

Dem Prinzip des Heister-Kreuzes,<br />

allerdings ohne Halsband, entsprechen<br />

die Geradhalter von Le Bellequie,Wendschuh<br />

<strong>und</strong> Teufels Modell „Aufrecht“<br />

[39].Eine rückwärts fe<strong>der</strong>nde Rückenschiene<br />

mit redressienden Thorakalpelotten<br />

<strong>und</strong> einem gut ausgearbeiteten<br />

Hüftkorb scheint erstmals Banning entwickelt<br />

zu haben.Einen gewissen Gegenhalt<br />

im Bereich des Abdomens weisen<br />

erstmals die Korsette von Max Dolega<br />

(1864–1899) <strong>und</strong> Hoffa, <strong>der</strong> das Hessing-<br />

Korsett mit einer rückwärts fe<strong>der</strong>nden<br />

Rückenschiene kombinierte [39].Die fe<strong>der</strong>nde<br />

Rückenschiene wurde von Nyrop<br />

durch eine eigentliche Fe<strong>der</strong> ersetzt [39].<br />

Dem Umstand, dass die Aufrichtung<br />

<strong>der</strong> Scheuermann-Kyphose, beson-<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

<strong>der</strong>s wenn sie rigide ist, oft nur eine Verstärkung<br />

<strong>der</strong> Lendenlordose bewirkt,<br />

hat 1921 erstmals L.Aubry [5] Rechnung<br />

getragen <strong>und</strong> Georg Hohmann legt beson<strong>der</strong>es<br />

Gewicht auf diesen kritischen<br />

Punkt bei <strong>der</strong> Korsettkonstruktion: „Ist<br />

dagegen die R<strong>und</strong>rückenbildung fixiert<br />

… so reicht einmal eine solche<br />

Gurtbandage („Mahnbandage“) nicht<br />

aus, an<strong>der</strong>erseits würde dieselbe nur bewirken,<br />

daß <strong>der</strong> Oberkörper im ganzen<br />

wegen <strong>der</strong> vorhandenen Steife <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>nkrümmung<br />

nach rückwärts<br />

gezogen <strong>und</strong> dadurch das Hohlkreuz<br />

vermehrt wird, ohne daß eine Abflachung<br />

<strong>der</strong> Rückenkrümmung geschieht.<br />

Um eine Korrekturwirkung durch direkten<br />

Pelottendruck auf die Krümmung<br />

auszuüben, muß man von einer festen<br />

Basis ausgehen, d.h.man muß mit einem<br />

breiten, festen Ring aus Stahlblech<br />

das Becken fassen <strong>und</strong> die meist vorhandene<br />

Lendenlordose auszugleichen versuchen,<br />

indem man den vorgestreckten<br />

Leib mit einer Leibbinde gegen diese<br />

Beckenfixierung heranzieht“ [41].<br />

Das Prinzip <strong>der</strong> Entlordosierung<br />

<strong>der</strong> Lendenwirbelsäule liegt auch dem<br />

1958 von Kurt J.Becker [9] vorgestellten<br />

„aktiven bzw.kombiniert zweiteilig<br />

aktiv-passiven“ Reklinationsgips bzw.<br />

-korsett zugr<strong>und</strong>e.Durch die Fixation<br />

<strong>der</strong> entlordosierten Lendenwirbelsäule<br />

im Gips o<strong>der</strong> Aluminium-Walkle<strong>der</strong>-<br />

Korsett wird <strong>der</strong> Patient, um geradeaus<br />

sehen zu können, gezwungen, sich im<br />

Oberkörper aufzurichten o<strong>der</strong> die Hüften<br />

<strong>und</strong> Knie zu beugen.Dem 3-Punkte-<br />

Prinzip folgend ist <strong>der</strong> Druck ventral im<br />

Bereich des Abdomens <strong>und</strong> dorsal kranial<br />

unmittelbar <strong>unter</strong>halb des Kyphosescheitels<br />

<strong>und</strong> kaudal über dem Sakrum<br />

am größten, hier können denn auch<br />

Druckstellen auftreten.Durch Einschränkung<br />

<strong>der</strong> Zwerchfellatmung aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> kräftigen Bauchpresse wird<br />

die Thoraxatmung forciert <strong>und</strong> zur Extension<br />

genutzt.Bei ungenügen<strong>der</strong> aktiver<br />

Aufrichtung, sei es wegen Steifigkeit<br />

<strong>der</strong> Kyphose o<strong>der</strong> muskulärer Schwäche,<br />

wird <strong>der</strong> Gips durch einen „Gipskummet“<br />

ergänzt, um damit einen horizontalen<br />

Zug nach dorsal über die Schultern<br />

hinweg auf das Brustbein auszuüben<br />

<strong>und</strong> so die Kyphose passiv zu redressieren.Ein<br />

verstellbares Reklinationskorsett<br />

mit Sternalpelotte hat Georg Hohmann<br />

(1880–1970) schon 1941 [41] angegeben.Dieses<br />

Konzept wurde von Ludwig<br />

Wergenz weiterentwickelt.<br />

Die Gipsbehandlung <strong>der</strong> Scheuermann-Kyphose<br />

wurde in den 50er Jahren<br />

durch P.Stagnara mit seinem „Corset<br />

plâtré en deux temps“, seinem im Abbott-Cotrel<br />

Rahmen angelegten „Corset<br />

plâtré en un temps“ sowie seinem „Corset<br />

plâtré d'élongation“ geför<strong>der</strong>t.Als<br />

Korsett favorisierte er die 1958 ausgereifte<br />

„Orthèse lyonnaise bivalve pour cyphose“.In<br />

den Vereinigten Staaten wurde<br />

<strong>der</strong> „Risser-Gips“ <strong>und</strong> in den späten<br />

50er Jahren das mit einer dorsomedialen<br />

Pelotte versehene „Milwaukee-Korsett“<br />

für die Behandlung <strong>der</strong> Scheuermann-Kyphose<br />

übernommen.<br />

Aktuelle konservative Behandlung<br />

bei Scheuermann-Kyphose<br />

Es stehen folgende Möglichkeiten zur<br />

Verfügung:<br />

● Physiotherapie,<br />

● Korsett- <strong>und</strong> Gipsbehandlung.<br />

Aktuelle Physiotherapie<br />

bei Scheuermann-Kyphose<br />

Bei Morbus Scheuermann mit einer teilfixierten<br />

Kyphose ist eine krankengymnastische<br />

Kyphosetherapie angezeigt<br />

<strong>und</strong> die Indikationen entsprechen denen<br />

<strong>der</strong> Skoliosegymnastik.Bei einer<br />

Korsettbehandlung ist sie obligat.Angaben<br />

für differenziertes Übungsprogramm<br />

finden sich bei Lehnert-Schroth<br />

u.Weiss [49].Beson<strong>der</strong>e Beachtung ist –<br />

wie bei <strong>der</strong> Skoliosetherapie – <strong>der</strong><br />

Beckenausgangsstellung zu schenken,<br />

um eine Zunahme <strong>der</strong> Lendenlordose<br />

durch aktiv aufrichtende Übungen für<br />

die Brustwirbelsäule zu vermeiden.Verkürzungen<br />

<strong>der</strong> ischiokruralen Muskulatur,<br />

<strong>der</strong> lumbalen Streckmuskulatur, des<br />

M.pectorsalis major <strong>und</strong> minor sowie<br />

<strong>der</strong> Nackenstrecker sollen gezielt angegangen<br />

werden.Ru<strong>der</strong>n, Fahrradfahren<br />

mit Rennlenkern <strong>und</strong> Gewichtheben<br />

sind ungeeignete Sportarten für Patienten<br />

mit Scheuermann-Kyphose [35].<br />

Aktuelle Korsett- <strong>und</strong> Gipsbehandlung<br />

bei Scheuermann-Kyphose<br />

Für die Behandlung von thorakalen<br />

Scheuermann-Kyphosen im Korsettindikationsbereich<br />

sind Mahnbandagen, die<br />

die Schultern retrahieren, ungenügend.<br />

Zur wirksamen orthetischen Behandlung<br />

sind entwe<strong>der</strong> aufrichtende Korsette bzw.


Abb. 9 � Mo<strong>der</strong>ne Reklinationsorthese für die Behandlung einer<br />

thorakalen Scheuermann-Kyphose nach dem 4-Punkte-Prinzip.<br />

Die Lendenwirbelsäule wird durch die Bauchpresse (1) <strong>und</strong> die beiden<br />

dorsalen Pelotten am Sakrum (2) <strong>und</strong> <strong>unter</strong>halb des Kyphosescheitels<br />

(3) in kyphotischer, bzw. entlordosierter Stellung nach dem 3-Punkte-<br />

Prinzip fixiert. Auf dieser Basis aufbauend wird die Kyphose durch<br />

die thorakale Anlage (4) redressiert <strong>und</strong> die Versorgung zum 4-Punkte-<br />

Prinzip ergänzt (Balgrist Tec)<br />

Gipse nach dem 3- bzw.4-Punkte-Prinzip<br />

[40], [z.B.nach Becker, Hepp-Kurda, Habermann,<br />

Gschwend-Bähler, Wergenz,<br />

Orthèse lyonnaise bivalve nach Stagnara,<br />

Balgrist-Korsett (Abb.9)] o<strong>der</strong> extendierende<br />

Korsette bzw.Gipse mit einem<br />

Halsring (z.B.Milwaukee-Korsett,Corset<br />

plâtré d'élongation nach Stagnara [76])<br />

notwendig.Entscheidend ist dabei immer,<br />

dass <strong>der</strong> Gips bzw.<strong>der</strong> Gipsabdruck<br />

in maximaler Kyphosierung <strong>der</strong> Lendenwirbelsäule<br />

angefertigt wird.Dorsal darf<br />

das Korsett kranial nur bis maximal an<br />

den Kyphosescheitel heranreichen, kaudal<br />

muss es das Sakrum mitfassen.<br />

Durch diese Delordosierung <strong>der</strong><br />

Lendenwirbelsäule wird <strong>der</strong> Oberkörper<br />

des Patienten <strong>und</strong> damit sein Schwerpunkt<br />

nach vorne verlagert.Der Patient<br />

muss jetzt seine Brustwirbelsäule aktiv<br />

aufrichten, um nicht nach vorne zu kippen<br />

o<strong>der</strong> den Blick vom Boden heben zu<br />

können.Ist <strong>der</strong> Patient mit dieser 3-<br />

Punkte-Fixation <strong>der</strong> Lendenwirbelsäule<br />

in <strong>der</strong> Lage, seine Kyphose aktiv aufzurichten<br />

<strong>und</strong> aufgerichtet zu halten – was<br />

meist nur bei flexibleren Krümmungen<br />

leistungsfähiger Rückenmuskulatur <strong>der</strong><br />

Fall ist – braucht er keine zusätzliche,<br />

passiv redressierende Sternal- bzw.Thorakalpelotte<br />

nach dem 4-Punkte-Prinzip.<br />

Bei rigiden thorakalen Scheuermann-Kyphosen<br />

empfehlen wir vor <strong>der</strong><br />

Korsettversorgung wie Stagnara nach<br />

intensiver mobilisieren<strong>der</strong> Physiotherapie<br />

eine Serie von 2–3 Redressionsgipsen<br />

(z.B.Corset plâtré en deux temps<br />

o<strong>der</strong> en un temps nach Stagnara).Anstelle<br />

<strong>der</strong> Korsettbehandlung kann auch<br />

eine Gipsbehandlung nach den gleichen<br />

Prinzipien erfolgen.Der besseren Compliance<br />

steht hier eine deutlich schlechtere<br />

Akzeptanz gegenüber.<br />

Bei <strong>der</strong> thorakolumbalen <strong>und</strong> bei<br />

<strong>der</strong> lumbalen Form des Morbus Scheuermann<br />

ist ein lordosierendes Korsett<br />

nach dem 3-Punkte-Prinzip (z.B.Bivalve<br />

nach Stagnara, Jewett, Vogt <strong>und</strong> Bähler<br />

[40]) angezeigt.Hier muss also, im Gegensatz<br />

zur thorakalen Kyphose,die Lendenwirbelsäule<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> thorakolumbale<br />

Übergang lordosiert werden.Da die Prognose<br />

dieser Krankheitsformen in bezug<br />

auf spätere chronische Rückenschmerzen<br />

ungünstig ist,empfehlen wir hier wegen<br />

<strong>der</strong> besseren Compliance auch die<br />

Anfertigung eines lordosierenden Gipskorsetts<br />

im ventralen Durchhang.Damit<br />

kann es bei genügen<strong>der</strong> verbleiben<strong>der</strong><br />

<strong>Wachstum</strong>spotenz gelingen,das Sagittalprofil<br />

wie<strong>der</strong> herzustellen.<br />

Funktionsweise mo<strong>der</strong>ner<br />

Kyphosekorsette<br />

Bei mo<strong>der</strong>nen Kyphosekorsetten bzw.<br />

-gipsen kommen folgende Wirkprinzipien<br />

zur Anwendung:<br />

● Extension (aktiv/passiv): mit Halsring<br />

<strong>und</strong> Bauchpresse, zusätzliche<br />

dorsale Pelotte auf Höhe des Kyphosescheitels<br />

(z.B.Milwaukee-Korsett,<br />

Corset plâtré d'élongation nach<br />

Stagnara);<br />

● Translation (aktiv/passiv): mit einer<br />

ventralen Bauchanlage <strong>und</strong> je einer<br />

dorsalen Pelotte <strong>unter</strong>halb des<br />

Kyphosescheitels <strong>und</strong> über dem Sakrum<br />

(nach dem 3-Punkte-Prinzip)<br />

zur teilaktiven Aufrichtung <strong>der</strong><br />

Brustwirbelsäule o<strong>der</strong> mit einer zusätzlichen<br />

ventralen Sternal- bzw.<br />

Thoraxpelotte (nach dem 4-Punkte-<br />

Prinzip) zur passiven Aufrichtung<br />

<strong>der</strong> Brustwirbelsäule (z.B.Reklinationskorsett<br />

bzw.-gips nach Becker,<br />

Hepp-Kurda, Habermann,<br />

Gschwend-Bähler, Wergenz, Orthèses<br />

lyonnaise bivalve nach Stagnara,<br />

Balgrist-Korsett (s.Abb.9).<br />

Indikation <strong>der</strong><br />

Kyphosekorsettbehandlung<br />

Eine Korsettbehandlung ist nach unserer<br />

Meinung angezeigt, wenn folgende<br />

Voraussetzungen erfüllt sind:<br />

● thorakale Scheuermann-Kyphose:<br />

sagittaler Cobb-Winkel >50° bei<br />

noch nicht abgeschlossenem <strong>Wachstum</strong><br />

(Risser


24<br />

Compliance, d.h.das Korsett muss tatsächlich<br />

getragen werden.Erfahrungsgemäß<br />

ist dies selten in genügendem<br />

Ausmaß <strong>der</strong> Fall.Nach <strong>Wachstum</strong>sabschluss<br />

zeigen bei guter Compliance 2/3<br />

<strong>der</strong> Patienten eine Besserung, 1/3 sind<br />

unverän<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> verschlechtert [34, 67].<br />

Es gibt Daten dafür, dass die Korsettbehandlung<br />

bei Scheuermann-Kyphosen<br />

mit einem sagittalen Cobb-Winkel<br />

>60° nicht mehr wirksam ist [67].<br />

Unseres Erachtens ist die Korsettbehandlung<br />

bei teilrigiden Kyphosen mit<br />

einer passiven Korrigierbarkeit von ca.<br />

40% bis zu einem sagittalen Cobb-Winkel<br />

von 75° vertretbar, sofern am kaudalen<br />

Krümmungsende keine Retrolisthesen<br />

vorliegen.<br />

Tragedauer des Kyphosekorsetts<br />

Die Tragedauer eines Kyphosekorsetts<br />

ist zu Beginn wie die des Skoliosekorsetts<br />

ganztags, d.h.während 22–23 h am<br />

Tag.Im Gegensatz zur idiopathischen<br />

Skoliose kann bei <strong>der</strong> Scheuermann-Kyphose<br />

nach erfolgreicher Aufrichtung<br />

<strong>und</strong> mit fortschreiten<strong>der</strong> Knochenreife<br />

die Tragezeit reduziert <strong>und</strong> das Korsett<br />

teilzeitlich getragen werden.Eine Reduktion<br />

<strong>der</strong> Tragezeit ist bei guter Compliance<br />

in <strong>der</strong> Regel nach 1 Jahr möglich.<br />

Klinische <strong>und</strong> radiologische Kontrolle<br />

<strong>der</strong> konservativen Behandlung<br />

<strong>der</strong> Scheuermann-Kyphose<br />

Für die Indikationsstellung zur Korsettbehandlung<br />

werden Röntgenbil<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

ganzen <strong>Wirbelsäule</strong> im a.-p.- <strong>und</strong> seitlichen<br />

Strahlengang benötigt.Nach Fertigstellung<br />

des Korsetts muss dessen<br />

Wirkung radiologisch im seitlichen Bild<br />

(bei einer dorsalen Pelotte <strong>unter</strong>halb des<br />

Kyphosescheitels mit vorgängiger Markierung)<br />

kontrolliert werden.Anschließend<br />

erfolgen klinischen Kontrollen alle<br />

3 Monate.Die Kyphosemessung erfolgt<br />

am stehenden Patienten in entspannter<br />

Ruhehaltung <strong>und</strong> aktiver Aufrichtung,<br />

wozu sich die Verwendung eines<br />

Kyphometers o<strong>der</strong> die Aufzeichnung<br />

des Sagittalprofils z.B.mit <strong>der</strong> „medimouse“<br />

(Fa.idiag) empfiehlt.Radiologische<br />

Kontrollen sollen bei fehlen<strong>der</strong> Kyphoseverlaufsmessung<br />

halbjährlich (nur<br />

im seitlichen Strahlengang), ansonsten<br />

jährlich bis zur Korsettentwöhnung<br />

durchgeführt werden.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Literatur<br />

1. Abbott EG (1911) Simple, rapid and complete<br />

reduction of deformity in fixed lateral curvature<br />

of the spine. NY Med J 93: 1217<br />

2. Allington NJ, Bowen JR (1996) Adolescent<br />

idiopathic scoliosis.Treatment with the<br />

Wilmington brace. A comparison of full-time<br />

and part-time use. J Bone Joint Surg Am<br />

78: 1056–1062<br />

3. Anciaux M, Lenaert A,Van Beneden ML,<br />

Blonde W,Vercauteren M (1991) Transcutaneous<br />

electrical stimulation (TCES) for the<br />

treatment of adolescent idiopathic scoliosis:<br />

preliminary results. Acta Orthop Belg<br />

57: 399–405<br />

4. Andry N (1744) Orthopädie. Rüdiger, Berlin<br />

5. Aubry M (1921) Ein einfacher Geradhalter<br />

für R<strong>und</strong>rücken. Münch Med Wochenschr<br />

24: 740–742<br />

6. Axelgaard J, Brown JC (1983) Lateral electrical<br />

surface stimulation for the treatment of progressive<br />

idiopathic scoliosis. Spine 8: 242–260<br />

7. Bassett GS, Bunnell WP, Mac Ewen GD (1986)<br />

Treatment of idiopathic scoliosis with the<br />

Wilmington brace. Results in patients with<br />

a twenty to thirty-nine-degree curve.<br />

J Bone Joint Surg Am 68:602–605<br />

8. Becker E (1971) Skoliose- <strong>und</strong> Diskopathiebehandlung.<br />

Fischer, Stuttgart<br />

9. Becker KJ (1958) Über die Behandlung jugendlicher<br />

Kyphosen mit einem aktiven bzw. einem<br />

kombinierten zweiteiligen aktiv-passiven<br />

Reklinationskorsett. Z Orthop 89: 464–75<br />

10. Beumer D Götze H-G (1975) Redressierende<br />

Rumpfgipsverbände zur Behandlung <strong>der</strong><br />

Skoliose. Lohmann, Neuwied<br />

11. Blount WP, Schmidt AC, Bidwell RG (1958)<br />

Making the Milwaukee brace.<br />

J Bone Joint Surg Am 40: 523–530<br />

12. Bobechko WP, Herbert MA, Friedman HG (1979)<br />

Electrospinal instrumentation for scoliosis.<br />

Current status. Orthop Clin North Am<br />

10: 927–941<br />

13. Bradford DS, Moe JH, Montalvo FJ,Winter RB<br />

(1974) Scheuermann's kyphosis and ro<strong>und</strong>back<br />

deformity. Results of Milwaukee brace<br />

treatment. J Bone Joint Surg Am 56: 740–758<br />

14. Braunewell A, Dehe W, Schmitt E, Mentzos S<br />

(1987) Psychodynamische Aspekte von<br />

Korsettbehandlung bei Jugendlichen.<br />

Z Orthop 125: 132–134<br />

15. Brown JC, Axelgaard J, Howson DC (1984)<br />

Multicenter trial of a noninvasive stimulation<br />

method for idiopathic scoliosis. A summary<br />

of early treatment results. Spine 9: 382–387<br />

16. Bunnell WP, MacEven D, Jayakumar S (1980)<br />

The use of plastic jackets in the non-operative<br />

treatment of idiopathic scoliosis.<br />

J Bone Joint Surg Am 62: 31–38<br />

17. Carman D, Roach JW, Speck G,Wenger DR,<br />

Herring JA (1985) Role of exercises in the<br />

Milwaukee brace treatment of scoliosis.<br />

J Pediatr Orthop 5: 65–68<br />

18. Chêneau J, Schaal A (1985) Handbuch zur<br />

Herstellung <strong>und</strong> Benutzung des C.T.M.<br />

(Chêneau-Toulouse-Münster) Korsetts.<br />

Selbstverlag,Toulouse<br />

19. Cotrel Y Morel G (1964) La technique de l'E.D.F.<br />

dans la correction des scolioses.<br />

Rev Chir Orthop 50: 59<br />

20. Delpech J (1828) De l'orthomorphie par<br />

rapport à l'espèce humaine. Gabon, Paris<br />

21. Di Raimondo CV, Green NE (1988) Brace-wear<br />

compliance in patients with adolescent<br />

idiopathic scoliosis. J Pediatr Orthop<br />

8: 143–146<br />

22. Dickson RA,Weinstein SL (1999) Bracing<br />

(and screening) – yes or no?<br />

J Bone Joint Surg Br 81: 193–198<br />

23. Dieffenbach E (1999) Skoliosebehandlung.<br />

Physiotherapie nach dem Prinzip Gocht-<br />

Gessner <strong>und</strong> bei Korsettversorgung.<br />

Urban&Fischer, München Jena<br />

24. Durham JW, Moskowitz A,Whitney J (1990)<br />

Surface electrical stimulation versus brace<br />

in treatment of idiopathic scoliosis. Spine<br />

15: 888–892<br />

25. Edelmann P (1992) Brace treatment in<br />

idiopathic scoliosis. Acta Orthop Belg<br />

58 [Suppl 1): 85–90<br />

26. Eichler J, Rexing F (1984) Erste klinische Erfahrungen<br />

mit dem CBW-Korsett. MOT 3: 77–82<br />

27. Emans JB, Kaelin A, Bancel P, Hall JE, Miller ME<br />

(1986) The Boston bracing system for<br />

idiopathic scoliosis. Follow-up results in<br />

295 patients. Spine 11: 792–801<br />

28. Fallstrom K, Cochran T, Nachemson A (1986)<br />

Long-term effects on personality development<br />

in patients with adolescent idiopathic scoliosis.<br />

Influence of type of treatment. Spine<br />

11: 756–758<br />

29. Fischer E (1885) Geschichte <strong>und</strong> Behandlung<br />

<strong>der</strong> seitlichen Rückgratsverkrümmung<br />

(Skoliose). Ein neues Verfahren zu ihrer<br />

Heilung. Schmidt, Strassburg<br />

30. Focarile FA, Bonaldi A, Giarolo MA, Ferrari U,<br />

Zilioi E, Ottaviani C (1991) Effectiveness of<br />

non-surgical treatment for idiopathic scoliosis.<br />

Overview of available evidence. Spine<br />

16: 395–401<br />

31. Glisson F (1650) De rachitide, sive morbo<br />

puerii, qui vulgo The Rickets dicitur tractatus.<br />

Du-Gardi, London<br />

32. Hall JH, Miller ME, Shumann W, Stanish W<br />

(1975) A refined concept in the orthoptic<br />

management of scoliosis. Orthot Prothetics<br />

19: 7–15<br />

33. Hanke P (1983) Skoliosebehandlung auf<br />

entwicklungskinesiologischer Gr<strong>und</strong>lage in<br />

Anlehnung an die Vojta-Therapie. Diskussionsreihe<br />

„Krankengymnastische Skoliosetherapie“<br />

<strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaft Atemtherapie im ZVK<br />

34. Hefti F, Jani L (1981) Behandlung des Morbus<br />

Scheuermann mit dem Milwaukee-Korsett.<br />

Z Orthop 19: 185–192<br />

35. Hefti F, Morscher E (1985) Die Belastbarkeit<br />

des wachsenden Bewegungsapparates.<br />

Schweiz Z Sportmed 33: 77–84<br />

36. Hefti F (1987) Morbus Scheuermann.<br />

Ther Umsch 44: 764–770


37. Heine J, Götze HG (1985) En<strong>der</strong>gebnisse<br />

<strong>der</strong> konservativen Behandlung <strong>der</strong> Skoliose<br />

mit dem Milwaukee-Korsett. Z Orthop<br />

123: 323–337<br />

38. Heister L (1719) Chirurgie. Hoffmann,<br />

Nürnberg<br />

39. Hoffa A (1891) Lehrbuch <strong>der</strong> orthopädischen<br />

Chirurgie. Enke, Stuttgart<br />

40. Hohmann D, Uhlig R (1990) Orthopädische<br />

Technik. Enke, Stuttgart<br />

41. Hohmann G (1941) Orthopädische Technik.<br />

Bandagen <strong>und</strong> Apparate, ihre Anzeige <strong>und</strong> ihr<br />

Bau. Aus Klinik <strong>und</strong> Werkstatt. Enke, Stuttgart<br />

42. Hopf C, Heine J (1985) Langzeitergebnisse <strong>der</strong><br />

konservativen Behandlung <strong>der</strong> Skoliose mit<br />

dem Chêneau-Korsett. Z Orthop 123: 312–322<br />

43. Houghton G (1987) Persönliche Mitteilung<br />

44. Jalade-Lafond G (1827) Recherches pratiques<br />

sur les principales difformités du corps humain<br />

et sur les moyens d'y remédier. Baillière, Paris<br />

45. Kahanovitz N,Weiser S (1989) The psychological<br />

impact of idiopathic scoliosis on the<br />

adolescent female. A preliminary multi-center<br />

study. Spine 14: 483–485<br />

46. Klapp R (1907) Funktionelle Behandlung<br />

<strong>der</strong> Skoliose. Fischer, Jena<br />

47. Krahe T, Zielke K (1986) Vergleich <strong>der</strong> Lordosierungseffekte<br />

an <strong>der</strong> Brustwirbelsäule durch<br />

Verwendung des Milwaukee- <strong>und</strong> des<br />

Gschwend-Korsettes bei Skoliosen <strong>und</strong><br />

Kyphosen. Z Orthop 124: 613–618<br />

48. Lehnert-Schroth CH (2000) Dreidimensionale<br />

Skoliosebehandlung. Urban&Fischer, München<br />

49. Lehnert-Schroth CH,Weiss H-R (1992)<br />

Krankengymnastische Behandlung bei Morbus<br />

Scheuermann. In: Weiss H-R (Hrsg) Korsettversorgung,<br />

krankengymnastische Skoliosebehandlung,<br />

krankengymnastische Behandlung<br />

<strong>und</strong> M. Scheuermann.<strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten,<br />

Bd 2: Beiträge zu Therapie <strong>und</strong> Rehabilitation<br />

in Klinik <strong>und</strong> Praxis. Fischer, Stuttgart<br />

50. Lorenz A (1886) Pathologie <strong>und</strong> Therapie<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong> seitlichen Rückgratverkrümmungen<br />

(Scoliosis). Höl<strong>der</strong>,Wien<br />

51. MacLean WE Jr, Green NE, Pierre CB, Ray DC<br />

(1989) Stress and coping with scoliosis:<br />

psychological effects on adolescents and their<br />

families. J Pediatr Orthop 9: 257–261<br />

52. McCullough NC III (1987) Nonoperative<br />

treatment of idiopathic scoliosis using surface<br />

electrical stimulation. Spine 11: 802–804<br />

53. Miller JA, Nachemson AL, Schultz AB (1984)<br />

Effectiveness of braces in mild idiopathic<br />

scoliosis. Spine 9: 632–635<br />

54. Moe JH,Winter RB, Bradford DS, Lonstein JE<br />

(1978) Scoliosis and other spinal deformities.<br />

Saun<strong>der</strong>s, Philadelphia London<br />

55. Montgomery F,Willner S (1989) Prognosis<br />

of brace-treated scoliosis. Comparison of the<br />

Boston and Milwaukee methods in 244 girls.<br />

Acta Orthop Scand 60: 383–385<br />

56. Montgomery F,Willner S, Appelgren G (1990)<br />

Long-term follow-up of patients with adolescent<br />

idiopathic scoliosis treated conservatively:<br />

an analysis of the clinical value of progression.<br />

J Pediatr Orthop 10: 48–52<br />

57. Nachemson AL, Peterson LE (1995) Effectiveness<br />

of treatment with a brace in girls who<br />

have adolescent idiopathic scoliosis.<br />

J Bone Joint Surg Am 77: 815–822<br />

58. Nie<strong>der</strong>höffer L v (1955) Die Behandlung von<br />

Rückgratverkrümmungen (Skoliose). Staude,<br />

Berlin<br />

59. Olsen GA, Rosen H, Stoll S, et al (1975) The use<br />

of muscle stimulation for inducing scoliotic<br />

curves: A preliminary report. Clin Orthop<br />

113: 198–211<br />

60. Paré A (1575/79) D'adiouster ce qui defaut.<br />

In: Oeuvres compl.Vol II Liv 17 Ed.<br />

Malgaigne J-F (1840). Baillières, Paris<br />

61. Paulos von Aegina (1914) Des besten Arztes<br />

sieben Bücher. Brill, Leiden<br />

62. Piazza MR, Bassett GS (1990) Curve progression<br />

after treatment with the Wilmington<br />

brace for idiopathic scoliosis. J Pediatr Orthop<br />

10: 39–43<br />

63. Pravaz C-G (1827) Méthode nouvelle pour le<br />

traitement des déviations de la colonne<br />

vertébrale. Gabon, Paris<br />

64. Rä<strong>der</strong> K (1987) Die Behandlung des Morbus<br />

Scheuermann mit dem aktiv-passiven Aufrichtungskorsett<br />

nach Gschwend. Z Orthop<br />

125: 358–362<br />

65. Refsum HE, Naess-Andresen CF, Lange JE<br />

(1990) Pulmonary function and gas exchange<br />

at rest and exercise in adolescent girls with<br />

mild idiopathic scoliosis during treatment with<br />

Boston thoracic brace. Spine 15: 420–423<br />

66. Risser JC, Lau<strong>der</strong> CH, Norquist DM, Craig WA<br />

(1953) Three types of Body Cast.<br />

Instruct Course AAOS 10: 131<br />

67. Sachs B, Bradford D,Winter R. Lonstein J, Moe J,<br />

Wilson S (1987) Scheuermann's kyphosis.<br />

Follow-up of Milwaukee-brace treatment.<br />

J Bone Joint Surg Am 69: 50–57<br />

68. Sayre LA (1877) Spinal disease and spinal<br />

curvature.Their treatment by suspension<br />

and the use of the plaster of Paris bandage.<br />

Smith El<strong>der</strong>, London<br />

69. Schanz A (1908) Handbuch <strong>der</strong> orthopädischen<br />

Technik für Aerzte <strong>und</strong> Bandagisten.<br />

Fischer, Jena<br />

70. Scharll M (1958) Die Krankengymnastik in <strong>der</strong><br />

Skoliosebehandlung. Z Krankengym 12: 193<br />

71. Scheuermann HW (1921) Kyphosis dorsalis<br />

juvenilis. Z Orthop 41: 305–317<br />

72. Schroth K (1924) Die Atmungskur – Leitfaden<br />

zur Lungengymnastik. Zimmermann, Chemnitz<br />

73. Schulthess W (1906) Die Pathologie <strong>und</strong><br />

Therapie <strong>der</strong> Rückgratsverkrümmungen.<br />

In: Joachimsthal G (Hrsg) Handbuch <strong>der</strong> orthopädischen<br />

Chirurgie. Fischer, Jena<br />

74. Seiler X (1856) Dilatation artificielle du thorax,<br />

et traitement des déviations de la colonne<br />

vertébrale, pour une nouvelle méthode<br />

d'appliquer le courant d'induction galvanique.<br />

Bull Acad R Méd Belg 16: 69–74<br />

75. Shaw J (1823) On the nature and treatment<br />

of the distorsion to which the spine and the<br />

bones of the chest are subject with an inquiry<br />

into the merits of the several modes of practice<br />

which have hitherto been followed in the<br />

treatment of distorsion. Longman, London<br />

76. Stagnara P, Perdriolle R (1958) Elongation<br />

vertébrale continue par plâtre à tendeurs.<br />

Rev Orthop 44: 57–74<br />

77. Sullivan P, Markos P, Minor MA (1985) PNF –<br />

Ein Weg zum therapeutischen Üben. Propriozeptive<br />

neuromuskuläre Fazilitation: Therapie<br />

<strong>und</strong> klinische Anwendung. Fischer, Stuttgart<br />

78. Venel JA (1788) Description de plusieurs nouveaux<br />

moyens mécaniques. Mourer, Lausanne<br />

79. Vojta V (1974) Die cerebralen Bewegungstörungen<br />

im Säuglingsalter. Frühdiagnose <strong>und</strong><br />

Frühtherapie. Enke, Stuttgart<br />

80. Von Lackum HW (1948) The surgical treatment<br />

of scoliosis. Instruct Course AAOS 5: 236<br />

81. Weber M, Hirsch S (Krankengymnastik bei<br />

idiopathischer Skoliose. Bef<strong>und</strong>aufnahme,<br />

Prinzip <strong>und</strong> Behandlung nach Martha Scharll.<br />

Fischer, Stuttgart<br />

82. Weiss HR, Rigo M (2001) Bef<strong>und</strong>gerechte<br />

Physiotherapie bei Skoliose. Pflaum, München<br />

83. Weisz I, Jefferson RJ, Carr AJ,Turner-Smith AR,<br />

McInerney A, Houghton GR (1989) Back shape<br />

in brace treatment of idiopathic scoliosis.<br />

Clin Orthop 240: 157–163<br />

84. Willers U, Normelli H, Aaro S, Svensson O,<br />

Hedl<strong>und</strong> R (1993) Long-term results of Boston<br />

brace treatment on vertebral rotation in<br />

idiopathic scoliosis. Spine 18: 432–435<br />

85. Willner S (1984) Effect of the Boston thoracic<br />

brace on the frontal and sagittal curves of the<br />

spine. Acta Orthop Scand 55: 457–460<br />

86. Winter RB, Lonstein JE (1997) To brace or not to<br />

brace: the true value of school screening.<br />

Spine 22: 1283–1284<br />

87. Wright J, Herbert MA,Velazquez R, Bobechko<br />

WP (1992) Morphologic and histochemical<br />

characteristics of skeletal muscle after longterm<br />

intramuscular electrical stimulation.<br />

Spine 17: 767–770<br />

88. Wullstein L (1902) Die Skoliose in ihrer<br />

Behandlung <strong>und</strong> Entstehung nach klinischen<br />

<strong>und</strong> experimentellen Studien. Z Orthop 10: 177<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 25


26<br />

Orthopäde<br />

2002 · 31:26-33 © Springer-Verlag 2002<br />

Zusammenfassung<br />

Die Hauptindikation zur operativen Behandlung<br />

von idiopathischen Skoliosen <strong>und</strong><br />

Scheuermann-Kyphosen ist die Kosmetik.<br />

Allerdings sind auch Schmerzen bei Skoliosepatienten<br />

häufiger zu finden, <strong>und</strong> bei<br />

hochgradigen Deformitäten eine Einschränkung<br />

<strong>der</strong> Lungenfunktion, beson<strong>der</strong>s wenn<br />

schwere Skoliosen bereits im Alter von<br />

5 Jahren bestanden („early onset“). Skoliosen<br />

<strong>unter</strong> 30° nehmen im Erwachsenenalter<br />

nicht zu, jene zwischen 50° <strong>und</strong> 75° werden<br />

in den 40 Jahren nach <strong>Wachstum</strong>sabschluss<br />

um durchschnittlich 25° zunehmen. Bei<br />

juvenilen Kyphosen ist die Progression im<br />

Erwachsenenalter nicht gut dokumentiert.<br />

Ziel <strong>der</strong> operativen Behandlung ist es,<br />

die Progression zu stoppen, das <strong>Wachstum</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> zu lenken, o<strong>der</strong> eine Korrektur<br />

<strong>und</strong> Fusion zu erzielen durch Instrumentation<br />

<strong>und</strong> Knochentransplantate. Das wird<br />

erreicht durch die Korrekturprinzipien <strong>der</strong><br />

Kompression, Distraktion, Derotation <strong>und</strong><br />

Translation.<br />

Die zur Korrektur angewandten Kräfte<br />

werden durch Verankerungsteile (Pedikelschrauben,Wirbelkörperschrauben,<br />

Haken,<br />

sublaminäre Drahtcerclagen) auf die <strong>Wirbelsäule</strong><br />

übertragen. Je höher die Korrekturkräfte<br />

sind, desto höher ist die erreichte<br />

Korrektur, desto höher ist aber auch das Risiko<br />

<strong>der</strong> Fraktur <strong>und</strong> des Ausrisses von Implantaten.<br />

Durch Mobilisation kann die Steife reduziert<br />

werden, <strong>und</strong> es kann bei gleichen<br />

Kräften eine bessere Korrektur erzielt werden.<br />

Die besten Mobilisationstechniken sind die<br />

Bandscheibenexzision, die Entfernung <strong>der</strong><br />

Wirbelgelenke <strong>und</strong> Techniken zur Mobilisation<br />

des Thorax.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

M. Krismer · H. Behensky · B. Frischhut · C.Wimmer · M. Ogon<br />

Orthopädische Universitätsklinik Innsbruck<br />

Operative Therapie von<br />

idiopathischen Skoliosen<br />

<strong>und</strong> juvenilen Kyphosen<br />

Schlüsselwörter<br />

Skoliose · Kyphose · Morbus Scheuermann ·<br />

Operative Korrektur · Mobilisationstechniken<br />

Indikationsstellung<br />

Idiopathische Skoliosen <strong>und</strong> juvenile<br />

Kyphosen sind in <strong>der</strong> bei weitem überwiegenden<br />

Mehrzahl <strong>der</strong> Fälle Erkrankungen,<br />

welche den Patienten kosmetisch<br />

beeinträchtigen. Schwere Störungen<br />

<strong>der</strong> Lungenfunktion treten bei hochgradigen<br />

Skoliosen ein, welche vor dem<br />

5. Lebensjahr auftreten („early onset“).<br />

Bis zum Alter von 5 Jahren bildet sich<br />

das Lungenparenchym aus, eine Störung<br />

in diesem Alter führt irreversibel zu weniger<br />

Lungenvolumen. Diese Patienten<br />

versterben früher als <strong>der</strong> Bevölkerungsdurchschnitt<br />

an Erkrankungen wie Cor<br />

pulmonale o<strong>der</strong> Pneumonien [3]. Skoliosen,<br />

welche nach dem 5. Lebensjahr<br />

auftreten („late onset“), können mit einer<br />

mäßigen restriktiven Ventilationsstörungen<br />

einhergehen, welche jedoch<br />

erst über Cobb 90° ein Ausmaß erreichen,<br />

welches Beruf o<strong>der</strong> Alltagsleben<br />

stört.<br />

Die meisten Patienten mit idiopathischen<br />

Skoliosen, welche sich operieren<br />

lassen, haben zum Zeitpunkt <strong>der</strong><br />

Operation eine normale Lungenfunktion<br />

[27].Allerdings zeigt eine Studie, dass<br />

Skoliosepatienten noch 25 Jahre nach<br />

<strong>der</strong> Behandlung eine bessere Atemfunktion<br />

haben als vor Therapie [21]. Über<br />

restriktive Ventilationsstörungen bei juvenilen<br />

Kyphosen (M. Scheuermann) ist<br />

wenig bekannt. Zumindest bei älteren<br />

Patienten verschlechtert eine Kyphose<br />

die Lungenfunktion [26]. Patienten mit<br />

Scheuermann-Kyphosen mit einem<br />

Scheitelwirbel Th8 <strong>und</strong> höher <strong>und</strong> einer<br />

Krümmung von mehr als 100° Cobb haben<br />

eine restriktive Lungenfunktionsstörung<br />

[19].<br />

Bei idiopathischen Skoliosen wird<br />

kontrovers diskutiert, ob Schmerzen<br />

häufiger auftreten als in <strong>der</strong> Normalbevölkerung.<br />

In einer großen Studie wurde<br />

bei 2441 Kin<strong>der</strong>n mit idiopathischer<br />

Skoliose eine Kreuzschmerzprävalenz<br />

von 23% gef<strong>und</strong>en [5]. Dies entspricht<br />

ungefähr <strong>der</strong> Prävalenz von Rückenschmerzen<br />

bei Kin<strong>der</strong>n in Querschnitt<strong>unter</strong>suchungen.<br />

Patienten mit thorakolumbalen<br />

<strong>und</strong> lumbalen idiopathischen<br />

Skoliosen haben deutlich häufiger<br />

(Punktprävalenz 68% bei Skoliosen,<br />

35% bei Kontrollen) <strong>und</strong> mehr<br />

(Schmerzskala 3,2 zu 1,9 bei möglichen<br />

Werten bis 10) Schmerzen als eine vergleichbare<br />

Kontrollgruppe [24]. Rotationsolisthesen<br />

<strong>der</strong> Lendenwirbelsäule<br />

entwickeln sich häufig bei Lumbalskoliosen.<br />

Diese sind eindeutig mit<br />

Schmerzen assoziiert [28]. Bei Skoliosepatienten<br />

wird auch ein erhöhtes Ausmaß<br />

an degenerativen Verän<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Lendenwirbelsäule gef<strong>und</strong>en, sowohl<br />

bei operierten als auch bei konservativ<br />

behandelten Patienten [7].<br />

Univ. Prof. Dr. Martin Krismer<br />

Orthopädische Universitätsklinik,<br />

Anichstraße 35, 6020 Innsbruck/Österreich


Orthopäde<br />

2002 · 31:26-33 © Springer-Verlag 2002<br />

M. Krismer · H. Behensky · B. Frischhut<br />

C.Wimmer · M. Ogon<br />

Operative treatment of idiopathic<br />

scoliosis and juvenile kyphosis<br />

Abstract<br />

Indication for operative treatment of idiopathic<br />

scoliosis and juvenile kyphosis is<br />

mainly cosmetic.There is also a higher incidence<br />

of pain in scoliosis patients, and reduced<br />

pulmonary function in severe deformity,<br />

especially in severe deformities present<br />

at the age of 5 years (early onset). Scoliotic<br />

curves of less than 30° will not progress in<br />

adults, whereas curves of 50–75° will further<br />

progress a mean of 25° during 40 years.<br />

Progression in adults with juvenile kyphosis<br />

is not well documented.<br />

Operative treatment aims to stop<br />

progression, to control spinal growth, or to<br />

perform correction and fusion by spinal instrumentation<br />

and bone grafts.These goals<br />

can be achieved either by an anterior, a posterior,<br />

or a combined approach. Correction<br />

principles are compression, distraction,<br />

<strong>der</strong>otation and translation.<br />

The forces applied by correction are<br />

transferred by fixation devices (pedicle<br />

screws, anterior screws, hooks, sublaminar<br />

wires) to the spine.The higher correction<br />

forces are, the higher is the correction<br />

achieved, but also the risk of fracture and torn<br />

out implants. Mobilisation reduces rigidity<br />

and allows to achieve a better correction with<br />

equal forces.The best mobilisation techniques<br />

are disc excision, facet joint removal, and<br />

techniques to mobilise the thorax.<br />

Keywords<br />

Scoliosis · Kyphosis · Scheuermann’s disease ·<br />

Fixation devices<br />

Im Vergleich von 76 Scheuermann-<br />

Patienten (im Mittel 71°) mit 34 Kontrollpatienten<br />

wurden keine signifikanten<br />

Unterschiede bezüglich Krankenstandtage<br />

durch Kreuzschmerzen,Aktivitäten<br />

des täglichen Lebens, Selbstbewusstsein,<br />

Schmerzmedikamente <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Inzidenz von Spondylolisthesen gef<strong>und</strong>en<br />

[19]. Einige Patienten wiesen jedoch<br />

geringe neurologische Ausfälle auf.<br />

Die Progression einer idiopathischen<br />

Skoliose im Kindesalter ist abhängig vom<br />

Krümmungsausmaß <strong>und</strong> <strong>der</strong> körperlichen<br />

Reife.Skoliosen <strong>unter</strong> 30° Cobb sind<br />

im Erwachsenenalter nicht progredient,<br />

Krümmungen zwischen 50° <strong>und</strong> 75°<br />

Cobb nehmen jedoch in den 40 auf den<br />

<strong>Wachstum</strong>sabschluss folgenden Jahren<br />

um weitere 25° Cobb zu [28, 29]. Krümmungen<br />

über Cobb 50° nach <strong>Wachstum</strong>sabschluss<br />

erreichen somit ein Ausmaß<br />

von ca. 75°. Für juvenile Kyphosen gibt es<br />

nur wenige Berichte <strong>und</strong> keine systematische<br />

Untersuchung über die Progredienz.<br />

In einem Bericht über 11 Fälle, die eine<br />

Korsettbehandlung nicht durchführten,<br />

war nur einer progredient.Allerdings bestehen<br />

Fallberichte über deutliche Krümmungszunahmen<br />

[30].<br />

Abb.1 � Links: Abstützspan mit autologer<br />

Fibula bei Kyphose. Der Raum zwischen<br />

Fibula <strong>und</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> muss mit Knochenmaterial<br />

aufgefüllt werden, z. B. mit<br />

Rippenteilen, welche über den vor<strong>der</strong>en<br />

Zugang gewonnen wurden. Rechts:<br />

Abstützspan mit autologer, vaskularisierter<br />

Rippe, welche über den thorakalen<br />

Zugang gewonnen <strong>und</strong> aus dem Thorax<br />

in die abstützende Position gedreht wird<br />

Von diesen Einschränkungen abgesehen<br />

bilden die meisten idiopathischen<br />

Adoleszentenskoliosen <strong>und</strong> juvenilen<br />

Kyphosen, wie eingangs festgehalten, ein<br />

kosmetisches Problem. Dieses ist jedoch<br />

häufig erheblich. Daher besteht verbreitet<br />

die Meinung, dass idiopathische Skoliosen<br />

über Cobb 50° operiert werden<br />

sollten. Bei Skoliosen zwischen 40° <strong>und</strong><br />

50° sollte in Abhängigkeit von <strong>der</strong> zu erwartenden<br />

Progression die Indikation<br />

zur Operation gestellt werden [12]. Zu<br />

ergänzen wäre, dass kosmetisch beson<strong>der</strong>s<br />

ungünstige Skoliosen, z. B. bei sehr<br />

ausgeprägter Lordose, auch bei geringeren<br />

Cobb-Winkeln operiert werden sollten.<br />

Für Kyphosen ist es schwieriger eindeutige<br />

Empfehlungen zu geben. Juvenile<br />

Kyphosen über 70° Cobb stellen jedoch<br />

unseres Erachtens eine Operationsindikation<br />

dar, wenn lumbale<br />

Schmerzen vorliegen o<strong>der</strong> ein durch die<br />

kosmetische Beeinträchtigung bedingter<br />

Leidensdruck besteht.<br />

In einer idealen Arzt-Patienten-Beziehung<br />

sollten die therapeutischen Ziele<br />

von Arzt <strong>und</strong> Patient möglichst übereinstimmen.<br />

Der Arzt kennt die Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Grenzen <strong>der</strong> von ihm be-<br />

Abb. 2 � Links: Korrektur durch Instrumentation<br />

ohne (konkavseitige) Fusion<br />

mit subkutanem Harrington-Stab. Der<br />

Stab steht kranial über den Haken hinaus,<br />

um weitere Distraktionen ohne Stabwechsel<br />

zu ermöglichen.<br />

Rechts: Korrektur durch Luque trombone.<br />

Es werden 2 Stäbe posaunenartig so gebogen,<br />

dass sie teilweise überlappen <strong>und</strong><br />

mit zunehmendem Körperwachstum<br />

auseinan<strong>der</strong> gleiten. Die Korrektur erfolgt<br />

durch Translationskräfte, welche<br />

über sublaminäre Drahtcerclagen die<br />

<strong>Wirbelsäule</strong> an die Stäbe annähern<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 27


28<br />

herrschten Therapien <strong>und</strong> muss dem<br />

Patienten zu realistischen Erwartungen<br />

verhelfen. Bei idiopathischen Adoleszentenskoliosen<br />

<strong>und</strong> juvenilen Kyphosen<br />

hat <strong>der</strong> Patient ein erhebliches kosmetisches<br />

Problem, welches operativ behandelt<br />

werden kann. Die Operation<br />

birgt Risiken bis hin zur Querschnittläsion.<br />

In dieser Situation sieht <strong>der</strong> Patient<br />

folgende Ziele einer Operation:<br />

◗ Gutes kosmetisches Ergebnis,<br />

„unauffällig werden“.<br />

◗ Kein bleiben<strong>der</strong> Schaden.<br />

◗ Normales Leben so schnell wie<br />

möglich wie<strong>der</strong> aufnehmen<br />

(Beruf, Freizeit).<br />

◗ Keine starken Schmerzen<br />

perioperativ.<br />

An diesen Kriterien wird <strong>der</strong> Patient den<br />

behandelnden Arzt messen.Ärzte neigen<br />

dazu,mehr operationsbezogene Kriterien<br />

in den Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> ihrer Berichte zu<br />

stellen wie Cobb-Winkel <strong>und</strong> Korrektur<br />

<strong>der</strong>selben, Dekompensation, Derotation,<br />

Blutverlust.<br />

Die kosmetische Zielsetzung bedeutet,<br />

körperlich unauffällig zu werden.<br />

R<strong>und</strong>rücken, Rippenbuckel, einseitiger<br />

Schulterhochstand, Taillenasymmetrie<br />

werden vom Patienten versteckt. Das<br />

Schwimmbad wird gemieden, die Kleidung<br />

<strong>unter</strong> <strong>der</strong> Zielsetzung ausgewählt,<br />

den körperlichen Makel zu verbergen.<br />

Ein Eingriff ist dann erfolgreich, wenn<br />

<strong>der</strong> eigene Körper wie<strong>der</strong> als herzeigbar<br />

<strong>und</strong> unauffällig angesehen wird.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 3a, b � Röntenbild vor (a) <strong>und</strong><br />

nach (b) Durchführung einer konvexseitigen<br />

Epiphysiodese <strong>und</strong> dorsalen<br />

Fusion sowie Instrumentation<br />

mit Luque trombone<br />

Komplikationen werden vom Patienten<br />

in Kauf genommen, solange kein<br />

bleiben<strong>der</strong> Schaden entsteht. Die Querschnittläsion<br />

o<strong>der</strong> die Leberzirrhose<br />

durch Hepatitis C als Folge eines operativen<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>neingriffs mit kosmetischer<br />

Indikationsstellung sind jedoch<br />

so schwerwiegend, dass Aspekten <strong>der</strong><br />

Sicherheit Priorität eingeräumt werden<br />

muss.<br />

Ein normales Leben soll rasch wie<strong>der</strong><br />

aufgenommen werden. Postoperativ<br />

soll ein Bewegungsumfang vorliegen, <strong>der</strong><br />

Alltagsbewegungen erlaubt. Durch die<br />

operative Versteifung langer Abschnitte<br />

<strong>der</strong> Brust- <strong>und</strong> Lendenwirbelsäule wird<br />

die Rumpfrotation (<strong>unter</strong>e Brustwirbelsäule)<br />

<strong>und</strong> die Rumpfseitneigung (Lendenwirbelsäule)<br />

meist erheblich eingeschränkt.<br />

Glücklicherweise ist jedoch<br />

die Rumpfvorbeuge die wichtigste Alltagsbewegung,<br />

<strong>und</strong> eine Einschränkung<br />

dieser Bewegung in <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

Abb. 4 � Die Form <strong>der</strong> Wirbelkörper<br />

bleibt bei <strong>der</strong> Korrektur unverän<strong>der</strong>t,<br />

nur die Stellung <strong>der</strong> Wirbel zueinan<strong>der</strong><br />

wird verän<strong>der</strong>t<br />

kann meist durch die Hüften kompensiert<br />

werden. Der Patient erwartet, nach<br />

2–3 Monaten Schule o<strong>der</strong> Beruf wie<strong>der</strong><br />

aufnehmen zu können.<br />

Operationsverfahren<br />

Operationen zur Behandlung idiopathischer<br />

Skoliosen <strong>und</strong> juveniler Kyphosen<br />

können drei <strong>unter</strong>schiedliche Ziele verfolgen<br />

[16]:<br />

◗ Erhalten des Status quo (Progression<br />

verhin<strong>der</strong>n),<br />

◗ <strong>Wachstum</strong> lenken,<br />

◗ Korrigieren <strong>und</strong> Korrektur halten.<br />

Ein Erhalten des Status quo ohne angestrebte<br />

Korrektur ist nur dann erstrebenswert,<br />

wenn eine Korrektur ein erhebliches<br />

Risiko darstellt. Dies kann bei<br />

kongenitalen <strong>und</strong> iatrogenen Deformitäten<br />

sehr wohl <strong>der</strong> Fall sein. Im Zusammenhang<br />

mit idiopathischen Skoliosen<br />

ist diese Zielsetzung unerheblich, kann<br />

aber bei Kyphosen eine Rolle spielen.<br />

Erhalten des Status quo<br />

Das Erhalten des Status quo ist dann indiziert,<br />

wenn eine progrediente Deformität<br />

nur mit erheblichem Risiko durch<br />

eine Operation korrigiert werden kann.<br />

Eine Risiko-Nutzen-Analyse, welche<br />

Gegenstand eines Gesprächs zwischen<br />

Arzt, Patient <strong>und</strong> Angehörigen ist, kann<br />

zum Ergebnis kommen, dass ein Stopp<br />

<strong>der</strong> Progredienz ohne wesentliche Korrektur<br />

erstrebenswerter ist als eine Korrektur<br />

mit hohem Risiko. Ein solches<br />

Vorgehen ist bei kongenitalen Deformitäten<br />

häufig sinnvoll, bei idiopathischen<br />

Skoliosen fast nie indiziert, <strong>und</strong> bei einer<br />

Scheuermann-Kyphose nur dann zu<br />

erwägen, wenn jene so hochgradig ist,


Abb.5 � Schematische Zeichnung eines Skoliosewirbels<br />

<strong>der</strong> Brustwirbelsäule. Der Pedikel ist<br />

auf <strong>der</strong> Konvexseite kräftiger, das Wirbelgelenk<br />

auf <strong>der</strong> Konkavseite, die intrinsische Rotation<br />

ist gut erkennbar (aus: C. Nicoladoni (1882)<br />

Die Torsion <strong>der</strong> skoliotischen <strong>Wirbelsäule</strong>.<br />

Ferdinand Enke, Stuttgart)<br />

dass eine Aufrichtung wegen <strong>der</strong> bestehenden<br />

Verkürzung ventraler Strukturen<br />

wie Thorax, Bauchmuskulatur, innerer<br />

Organe nicht möglich ist. Die Abstützung<br />

kann durch eine autologe Fibula<br />

o<strong>der</strong> eine vaskulär gestielte Rippe erfolgen<br />

([15]; Abb. 1).<br />

Bei Patienten mit großem <strong>Wachstum</strong>spotenzial<br />

ist ein Abstützspan gefährlich.<br />

Erfolgt die gewünschte Fusion<br />

des Abstützspans mit <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>,<br />

<strong>und</strong> wächst die <strong>Wirbelsäule</strong> weiter, entsteht<br />

eine sehnenartige Struktur, welche<br />

die <strong>Wirbelsäule</strong> in eine zunehmende<br />

Kyphose zwingt.<br />

<strong>Wachstum</strong> lenken<br />

Im Prinzip kann <strong>Wachstum</strong> gelenkt werden<br />

durch ventrale <strong>und</strong> dorsale Eingriffe,<br />

einseitig o<strong>der</strong> beidseitig, je nach zugr<strong>und</strong>eliegen<strong>der</strong><br />

Deformität. Bei einem<br />

einseitigen ventralen Eingriff wird ein<br />

Stück <strong>der</strong> Bandscheibe mit Apophyse<br />

entfernt <strong>und</strong> durch Knochenspäne ersetzt.<br />

Dies kann auch thorakoskopisch<br />

erfolgen [9, 25]. Bei einem dorsalen einseitigen<br />

Eingriff werden die Wirbelgelenke<br />

im zu behandelnden Abschnitt <strong>der</strong><br />

<strong>Wirbelsäule</strong> teilweise reseziert <strong>und</strong> dann<br />

Knochenspäne angelagert. Bei kleinen<br />

Kin<strong>der</strong>n wird Bankknochen verwendet.<br />

Einzelne Publikationen berichten,<br />

dass bei kleinen Kin<strong>der</strong>n mit infantilen<br />

Skoliosen eine kombinierte ventrale <strong>und</strong><br />

dorsale konvexseitige operative Reduktion<br />

des <strong>Wachstum</strong>spotenzial zu einer<br />

langfristigen Korrektur o<strong>der</strong> zumindest<br />

zum Halten <strong>der</strong> Krümmung führt [1, 13].<br />

An<strong>der</strong>e Publikationen zum Teil mit größerem<br />

Patientengut berichten, dass nur<br />

eine zusätzliche Korrektur durch Instrumentation<br />

ohne Fusion ausreichend effektiv<br />

ist [18, 23]. Wir empfehlen daher<br />

bei Skoliosen die Kombination von Instrumentation<br />

<strong>und</strong> konvexseitiger Fusion<br />

ventral <strong>und</strong> dorsal, wobei in begründeten<br />

Fällen (Kyphose o<strong>der</strong> Lordose)<br />

nur ventral o<strong>der</strong> nur dorsal fusioniert<br />

wird. Die Instrumentation kann durch<br />

Distraktion mit einem Stab-Haken-Konstrukt<br />

erfolgen, wobei durch Ausspreizen<br />

o<strong>der</strong> Nachdrehen von Muttern alle<br />

4–6 Monate je nach Korrekturverlust eine<br />

erneute Distraktion erfolgt. Bei diesem<br />

Verfahren erfolgt alle 4–6 Monate<br />

eine Operation mit relativ kleinem Zugang<br />

(ca. 4 cm Inzision), ungefähr alle<br />

2 Jahre wird ein Stabwechsel durchgeführt.<br />

Zur Vorbeugung einer Hakendislokation<br />

ist eine permanente Korsettversorgung<br />

nötig.<br />

Alternativ, <strong>und</strong> unserer Meinung<br />

nach effektiver, ist eine Konstruktion<br />

mit Luque trolley o<strong>der</strong> Luque trombone<br />

(Abb. 2 <strong>und</strong> 3), bei <strong>der</strong> die häufigen Reoperationen<br />

zum Nachspannen entfallen.<br />

Hier kann ein Stab o<strong>der</strong> können<br />

2 Stäbe, welche mit Drahtcerclagen fi-<br />

Abb. 6a, b � Technik zur Rippenbuckelresektion <strong>und</strong> zur Anhebung des<br />

Rippentals. a Bei <strong>der</strong> Rippenbuckelresektion wird <strong>der</strong> Rippenstumpf<br />

mit einem kräftigen, nicht resorbierbaren Faden mit dem Querfortsatz<br />

verknüpft. b Bei <strong>der</strong> Anhebung des Rippentals wird die Rippe über den<br />

implantierten Stab gehoben <strong>und</strong> auf diesem mit Naht befestigt. Die<br />

Rippe bekommt Anschluss an die zur Fusion angelegten Knochenspäne.<br />

Beide Verfahren helfen auch bei thorakalen Skoliosen den Thorax zu<br />

mobilisieren<br />

xiert sind, mit dem Längenwachstum<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> entlang <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

gleiten. Wichtig ist, bei <strong>der</strong> Präparation<br />

<strong>der</strong> Konkavseite dorsal die <strong>Wirbelsäule</strong><br />

nicht zu denudieren, son<strong>der</strong>n im<br />

Gegensatz zur sonst üblichen Präparationstechnik<br />

die autochthone Muskulatur<br />

wirbelsäulennah zu durchtrennen. Dennoch<br />

kommt es nicht selten zu ungewünschten<br />

Fusionen. Bei Komplikationen<br />

stellt die Entfernung <strong>der</strong> Cerclagen<br />

ein Gefahrenpotenzial dar. Kürzlich<br />

wurde über eine größere Serie berichtet<br />

[23], bei <strong>der</strong> die Cobb-Winkel von<br />

durchschnittlich 65° nach 5 Jahren auf<br />

35° reduziert <strong>und</strong> dann gehalten werden<br />

konnten.<br />

Korrigieren <strong>und</strong> Korrektur halten<br />

Da das Gr<strong>und</strong>prinzip <strong>der</strong> Korrektur einer<br />

deformierten <strong>Wirbelsäule</strong> abweicht<br />

von jenen Korrekturprinzipien, die bei<br />

langen Röhrenknochen zur Anwendung<br />

gelangen, ist ein Hinweis darauf an dieser<br />

Stelle nötig. Verfahren zur Verän<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Wirbelform sind in Erprobung,<br />

aber nicht im klinischen Einsatz. Daher<br />

ist eine Voraussetzung aller <strong>der</strong>zeit üblichen<br />

Korrekturverfahren, dass die bei<br />

idiopathischen Skoliosen <strong>und</strong> juvenilen<br />

Kyphosen immer verän<strong>der</strong>te Wirbel-<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 29


30<br />

Abb. 7 � Die Abszisse zeigt die erzielte Korrektur. 100% bedeutet<br />

eine <strong>Wirbelsäule</strong> mit normaler Form, 0% die Ausgangssituation.<br />

Die Ordinate zeigt die zunehmend angewandte Kraft („load-displacement-curve“).<br />

Bei zu hoher Kraft tritt <strong>der</strong> Riss von Bän<strong>der</strong>n,<br />

ein Ausriss von Haken o<strong>der</strong> Schrauben, bzw. eine Fraktur ein.<br />

Dadurch erfolgt eine sprunghafte Verlagerung<br />

form nicht korrigiert wird, son<strong>der</strong>n nur<br />

die Stellung <strong>der</strong> Wirbel zueinan<strong>der</strong><br />

(Abb. 4). Da die Stellung <strong>der</strong> Wirbel zueinan<strong>der</strong><br />

durch Bandscheiben, Bän<strong>der</strong>,<br />

Wirbelgelenke, Muskeln <strong>und</strong> Brustkorb<br />

gehalten wird, wird das Ausmaß <strong>der</strong><br />

Korrektur davon abhängen, ob diese<br />

Strukturen im Rahmen <strong>der</strong> Korrektur<br />

nur in ihre Endlage bewegt o<strong>der</strong> aber<br />

operativ durchtrennt, reseziert, mobilisiert<br />

werden. Keilresektionsverfahren<br />

wie die „eggshell procedure“ bilden eine<br />

Ausnahme, werden aber bei idiopathischen<br />

Skoliosen <strong>und</strong> juvenilen Kyphosen<br />

in den seltensten Fällen zur Anwendung<br />

kommen.<br />

Die Deformität <strong>der</strong> Wirbelkörper<br />

kann erheblich sein. Juvenile Kyphosen<br />

sind definiert durch eine Keilform <strong>der</strong><br />

Wirbelkörper, entwe<strong>der</strong> 3 Wirbelkörper<br />

mit mindestens 5° Keilform, o<strong>der</strong> ein<br />

Wirbel mit mindestens 10°. Bei Skoliosewirbeln<br />

besteht eine starke intrinsische<br />

Rotation, welche auch von kranial<br />

nach kaudal bis zu 6° pro Wirbel zu o<strong>der</strong><br />

abnehmen kann ([17]; Abb. 5).<br />

Mobilisationstechniken<br />

Am effektivsten erfolgt eine Mobilisation<br />

über Entfernung von Bandscheiben.<br />

Juvenile Kyphosen sind oft recht flexibel.<br />

Zeigt jedoch eine Röntgenaufnahme<br />

<strong>der</strong> Brustwirbelsäule seitlich im Liegen<br />

bei Lagerung des Scheitelwirbels auf einer<br />

Rolle, dass keine wesentliche Korrektur<br />

erzielt wird, so kann durch Resektion<br />

<strong>der</strong> ventralen Bandscheibenanteile<br />

<strong>und</strong> Lig. longitudinale anterius eine sehr<br />

effektive Korrektur erreicht werden.<br />

Hochgradige Kyphosen sind allerdings<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

auch durch die erworbene rigide Thoraxform<br />

schwer zu korrigieren. Bei Skoliosen<br />

können vor<strong>der</strong>e Korrekturverfahren<br />

häufig eine ausgezeichnete Korrektur<br />

<strong>und</strong> sogar eine Überkorrektur erreichen,<br />

weil die Bandscheiben dort entfernt<br />

werden <strong>und</strong> somit eine effektive<br />

Mobilisation im Verfahren inkludiert ist.<br />

Durch Thorakoskopie kann eine<br />

Mobilisation mit geringerer Invasivität<br />

erfolgen als bei offener Thorakotomie.<br />

Bei Skoliosen muss nur <strong>der</strong> konvexe Anteil<br />

des Diskus entfernt werden. Bei Skoliosen<br />

<strong>unter</strong> 70° ist dies selten nötig, bei<br />

Skoliosen über Cobb 90° liegt die <strong>Wirbelsäule</strong><br />

so knapp <strong>unter</strong> <strong>der</strong> Brustwand,<br />

dass nicht genügend Raum für eine thorakoskopische<br />

Mobilisation zur Verfügung<br />

steht. In diesem Indikationsbereich<br />

ist das Verfahren effektiv <strong>und</strong><br />

leicht durchführbar [20]. Bei juvenilen<br />

Kyphosen sind die Bandscheiben sehr<br />

schmal, <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>e Anteil des Diskus<br />

muss auch auf <strong>der</strong> dem Zugang abgewandten<br />

Seite entfernt werden. Hier er-<br />

Abb. 8 � Durch Kompression eines<br />

dorsalen Instrumentariums erfolgt<br />

dorsal eine Verkürzung <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

<strong>und</strong> damit die Korrektur einer<br />

Kyphose<br />

scheint uns ein offener Zugang zielführen<strong>der</strong>.<br />

Bei schweren thorakalen idiopathischen<br />

Skoliosen verhin<strong>der</strong>t die Rigidität<br />

des Thorax häufig eine ausreichende<br />

Korrektur. Hier kann durch Durchtrennen<br />

<strong>der</strong> Rippen auf <strong>der</strong> Seite des Rippentals<br />

<strong>und</strong> Anheben des Thorax auf<br />

den zur Instrumentation verwendeten<br />

dorsalen konkaven Stab nach Beendigung<br />

<strong>der</strong> Korrektur eine Mobilisation<br />

erfolgen, ebenso durch Rippenbuckelresektion<br />

(Abb. 6).Allerdings sind <strong>der</strong>artige<br />

Eingriffe mit einer Reduktion <strong>der</strong> Vitalkapazität<br />

verknüpft <strong>und</strong> sollten bei<br />

grenzwertiger Atemfunktion nicht zur<br />

Anwendung kommen.<br />

Das Korrekturausmaß ist abhängig<br />

von <strong>der</strong> Flexibilität <strong>der</strong> Krümmung <strong>und</strong><br />

dem Ausmaß sowie <strong>der</strong> Richtung <strong>der</strong><br />

angewandten korrigierenden Kräfte. Die<br />

korrigierenden Kräfte können nicht beliebig<br />

erhöht werden, da die Verbindung<br />

zwischen dem zur Korrektur verwendeten<br />

Instrumentarium <strong>und</strong> den Wirbeln<br />

nicht beliebige Kräfte verträgt. Somit<br />

kann zwar durch Wahl stabiler Verbindungen<br />

zwischen Instrumentarium <strong>und</strong><br />

Wirbeln, wie dies vor allem auch Pedikelschrauben<br />

darstellen, das Ausmaß<br />

<strong>der</strong> angewandten Kraft erhöht <strong>und</strong> somit<br />

auch die Korrektur verbessert werden.Alternativ<br />

kann durch Mobilisation<br />

bei niedrigeren Kräften ebenfalls mehr<br />

Korrektur erzielt werden (Abb. 7).<br />

Korrekturmechanismen<br />

Die Korrektur kann in dreierlei Richtung<br />

erfolgen. Kompression hat den Vorteil,<br />

dass zumindest bei idiopathischen<br />

Skoliosen <strong>und</strong> juvenilen Kyphosen keine<br />

Dehnung des Rückenmarks eintritt,<br />

das neurologische Risiko somit gering


ist. Bei juvenilen Kyphosen ermöglicht<br />

die dorsale Kompression eine effektive<br />

Korrektur (Abb. 8). Ist die Krümmung<br />

sehr rigide, wird eine ventrale Mobilisation<br />

durch Entfernung <strong>der</strong> vor<strong>der</strong>en Anteile<br />

<strong>der</strong> Bandscheiben sinnvoll sein. Bei<br />

idiopathischen Skoliosen hat nur die<br />

Korrektur durch Kompression von ventral<br />

Bedeutung erlangt. Zwar stand bei<br />

Harrington-Instrumentarium ein Kompressionsinstrumentarium<br />

von dorsal<br />

zur Verfügung, die Hauptkorrektur erfolgte<br />

aber über Distraktion.<br />

Die Kompression ist bei <strong>der</strong> ventralen<br />

Korrektur von Skoliosen ein wesentliches<br />

Korrekturprinzip, welches bei den<br />

Verfahren nach Dwyer [8] <strong>und</strong> Zielke<br />

[31] sowie den daraus abgeleiteten Verfahren<br />

zur Anwendung kommt. Mit <strong>der</strong><br />

Korrektur <strong>der</strong> Seitkrümmung ist dabei<br />

immer auch eine Kyphosierung verb<strong>und</strong>en,<br />

was in <strong>der</strong> Lendenwirbelsäule nicht<br />

erwünscht ist. Durch Verwendung von<br />

ausreichend hohen Knochentransplantaten<br />

o<strong>der</strong> Implantaten kann dieser Effekt<br />

vermieden werden (Abb. 9). Neben<br />

<strong>der</strong> Kompression steht ventral noch <strong>der</strong><br />

Korrekturmechanismus <strong>der</strong> Derotation<br />

zur Verfügung, auf den später eingegangen<br />

wird.<br />

Die Distraktion war <strong>der</strong> erste Korrekturmechanismus,<br />

<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Instrumentation<br />

von Skoliosen zur Anwendung<br />

kam in Form <strong>der</strong> Haken-Stab-Instrumentation<br />

von Harrington [10]. Die<br />

Distraktion <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> ist mit einer<br />

Distraktion des Myelons vergesellschaftet,<br />

somit mit einem erhöhten neurologischen<br />

Risiko. Je geringer das Ausmaß<br />

<strong>der</strong> Krümmung, desto weniger effizient<br />

ist das Korrekturprinzip <strong>der</strong> Distraktion.<br />

Bei größeren Krümmungen nimmt<br />

die Effizienz deutlich zu. Das Prinzip <strong>der</strong><br />

Abb. 9 � Über ein Hypomochlion<br />

wird von ventral komprimiert <strong>und</strong><br />

dadurch die Skoliose korrigiert.<br />

Voraussetzung ist ein biegsamer<br />

Stab, <strong>der</strong> zunächst entsprechend<br />

<strong>der</strong> Skoliose gebogen ist, sich aber<br />

im Laufe <strong>der</strong> zunehmenden Kompression<br />

begradigt<br />

Distraktion wird auch bei Abstützspänen<br />

(Abb. 10) verwendet, wenngleich<br />

meist mit dem Ziel, im Sinne <strong>der</strong> Risikovermin<strong>der</strong>ung<br />

nur so stark zu distrahieren,<br />

dass <strong>der</strong> Abstützspan sicher verankert<br />

bleibt.<br />

Bei <strong>der</strong> dorsalen Instrumentation<br />

von Skoliosen sollte die Distraktion wegen<br />

des höheren neurologischen Risikos<br />

nicht zur Anwendung kommen. Als zusätzliches<br />

Korrekturprinzip ist die Distraktion<br />

jedoch weit verbreitet <strong>und</strong><br />

sinnvoll.<br />

Abb.10a, b � Korrektur<br />

einer Skoliose durch<br />

Distraktion, <strong>unter</strong> Verwendung<br />

von 2 distrahierenden<br />

Stäben,<br />

wobei allerdings<br />

durch die Annäherung<br />

<strong>der</strong> beiden Distraktionsstäbe<br />

auch das<br />

Prinzip <strong>der</strong> Translation<br />

zur Anwendung kam<br />

Die Derotation wurde als Korrekturprinzip<br />

von Cotrel u. Dubousset ausschließlich<br />

für Skoliosen eingeführt [6].<br />

Die Idee beruht auf <strong>der</strong> Beobachtung,<br />

dass bei idiopathischen Skoliosen <strong>der</strong><br />

Brustwirbelsäule regelmäßig im Apexbereich<br />

eine Region mit vermin<strong>der</strong>ter<br />

Kyphose o<strong>der</strong> sogar Lordose (Hypokyphose)<br />

zu beobachten ist. Es bestand<br />

nun die Vorstellung, die Deformität in<br />

<strong>der</strong> Frontalebene, die skoliotische Seitneigung,<br />

in die Sagittalebene zu rotieren<br />

<strong>und</strong> somit eine erwünsche Kyphose zu<br />

schaffen (Abb. 11). Der Korrekturmechanismus<br />

ist genauso effizient wie jener<br />

<strong>der</strong> Translation. Krümmungen über<br />

Cobb 70° können schlecht versorgt werden,<br />

weil diese Krümmungen einerseits<br />

zu rigide sind, an<strong>der</strong>erseits die an die<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nkrümmung angeglichene<br />

Biegung des Stabes zu stark ist, um<br />

sie in eine Kyphose <strong>der</strong> Brust- o<strong>der</strong><br />

Lordose <strong>der</strong> Lendenwirbelsäule umzuwandeln.<br />

Werden CT-Bil<strong>der</strong> prä- <strong>und</strong> postoperativ<br />

genau analysiert, so zeigt sich,<br />

dass keine echte Derotation eintritt in<br />

dem Sinn, dass <strong>der</strong> apikale Wirbel gegen<br />

die Endwirbel korrigierend verdreht<br />

wird, wohl aber eine komplexe Transla-<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 31


32<br />

tion <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> in das Körperzentrum<br />

<strong>und</strong> nach dorsal im Sinne einer<br />

Kyphosierung ([14]; Abb. 11). So wird<br />

auch ein Rippenbuckel durchaus kosmetisch<br />

verbessert, da eine thorakale Hypokyphose<br />

diesen beson<strong>der</strong>s betont,<br />

<strong>und</strong> diese korrigiert werden kann. In<br />

den nicht rigiden Abschnitten <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

werden die angewandten Rotationskräfte<br />

eher wirken. Dies führt insbeson<strong>der</strong>e<br />

bei rechtskonvexen thorakalen<br />

Skoliosen mit lumbaler Gegenkrümmung<br />

zum Phänomen <strong>der</strong> Dekompensation.<br />

Dabei wird die Lendenwirbelsäule<br />

ungenügend korrigiert, <strong>und</strong> es entsteht<br />

meist eine Verlagerung des C7-Lots<br />

nach rechts [4].<br />

Bei Korrekturen vom vor<strong>der</strong>en Zugang<br />

wird ebenfalls das Korrekturprinzip<br />

<strong>der</strong> Derotation verwendet [11]. Da es<br />

auf einem relativ starrem Stab beruht,<br />

entstehen häufig Probleme mit <strong>der</strong> Rotation<br />

eines stark vorgebogenen Stabes.<br />

Das Verfahren hat aber den Vorteil, dass<br />

im Gegensatz zur Kompression vom<br />

ventralen Zugang belastungsfähige Stäbe<br />

verwendet werden können, welche eine<br />

korsettfreie Nachbehandlung erlauben,<br />

so wie dies auch für dorsale Instrumentationen<br />

<strong>der</strong> Fall ist. Auch kommt<br />

dieses Prinzip bei den ersten Versuchen<br />

<strong>der</strong> thorakoskopischen Instrumentation<br />

von Skoliosen zur Anwendung.<br />

Der Korrekturmechanismus <strong>der</strong><br />

Translation kann auf <strong>unter</strong>schiedliche<br />

Weise erfolgen. <strong>Wirbelsäule</strong>nabschnitte<br />

können in Richtung eines Stabes gezogen<br />

werden, <strong>der</strong> an Endwirbeln <strong>der</strong> Krümmung<br />

befestigt ist <strong>und</strong> entsprechend <strong>der</strong><br />

gewünschten Form <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> vorgebogen<br />

ist.O<strong>der</strong> ein Stab wird an einem<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nabschnitt befestigt <strong>und</strong><br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 11 � Derotationsmanöver nach Cotrel <strong>und</strong> Dubousset. Der konkave Stab wird<br />

an die <strong>Wirbelsäule</strong>nkrümmung angeglichen. Die Krümmung wird aus <strong>der</strong> Frontalebene<br />

in die Sagittalebene gedreht. Aus <strong>der</strong> skoliotischen Seitneigung entsteht<br />

eine erwünschte Kyphose<br />

dann an einen an<strong>der</strong>en angenähert<br />

(Abb. 12). Da die Translation zu keiner<br />

wesentlichen Dehnung des Myelons<br />

führt,ist sie relativ risikoarm.Da auch bei<br />

Fixation bei<strong>der</strong> Endwirbel weniger Kräfte<br />

auf nicht fusionierte Anteile <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

wirken, scheint die Dekompensation<br />

seltener vorzukommen. Somit erscheint<br />

die Derotation als ideales Korrekturprinzip<br />

in <strong>der</strong> dorsalen Instrumentation<br />

von idiopathischen Skoliosen.<br />

Bei juvenilen Kyphosen wird ebenfalls<br />

meist von dorsal das Korrekturprinzip<br />

<strong>der</strong> Translation angewandt. Meist<br />

werden die kranialen Abschnitte <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

mit einem Stab verb<strong>und</strong>en, <strong>der</strong><br />

die zu erzielende sagittale Krümmung<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> vorgibt.Dieser Stab wird<br />

dann an die kaudalen Krümmungsabschnitte<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> angenähert <strong>und</strong><br />

mit ihnen verb<strong>und</strong>en (Abb. 13).<br />

Fixation eines Stabes an <strong>der</strong><br />

<strong>Wirbelsäule</strong><br />

Fast alle vor<strong>der</strong>en <strong>und</strong> hinteren Implantate<br />

zur Korrektur von juvenilen Kypho-<br />

Abb. 12 � Verschiedene<br />

Möglichkeiten <strong>der</strong> Korrektur<br />

durch Translation.<br />

Die Ringe symbolisieren<br />

fixierende Implantate<br />

wie Haken, Schrauben o<strong>der</strong><br />

Cerclagen<br />

sen <strong>und</strong> idiopathischen Skoliosen bestehen<br />

aus einem o<strong>der</strong> zwei Stäben. Diese<br />

werden mit <strong>unter</strong>schiedlichen Implantaten<br />

mit <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> verb<strong>und</strong>en.<br />

Dorsal sind folgende Fixationen häufig:<br />

◗ Sublaminäre Drahtcerclagen,<br />

◗ Pedikelschrauben,<br />

◗ Haken von oben: am Proc. transversus,<br />

an <strong>der</strong> Lamina,<br />

◗ Haken von unten: an <strong>der</strong> Lamina, im<br />

Gelenk, den Pedikel fassend,<br />

◗ Hakenklammern: monosegmental,<br />

bisegmental.<br />

Jedes dieser Implantate kann für bestimmte<br />

Zugrichtungen <strong>und</strong> Konditionen<br />

ideal sein, für an<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong> nicht.<br />

Haken sind leicht zu fixieren <strong>und</strong> relativ<br />

risikoarm, sie können aber zum Beispiel<br />

bei einem Derotationsmanöver Richtung<br />

Myelon gedreht werden o<strong>der</strong> bei<br />

<strong>der</strong> translatorischen Annäherung eines<br />

Stabes an die <strong>Wirbelsäule</strong> bei juvenilen<br />

Kyphosen Richtung Myelon gedrückt<br />

werden.<br />

Pedikelschrauben sind fast universell<br />

einsetzbar. Kräfte können besser als<br />

mit Haken übertragen werden, was zu<br />

besserer Korrektur führt [2]. Seit kurzem<br />

erscheinen auch Berichte, die zeigen,<br />

dass diese selbst bei Kin<strong>der</strong>n während<br />

des <strong>Wachstum</strong>s ohne Problem verwendet<br />

werden können <strong>und</strong> kein Fehlwachstum<br />

des Wirbels induzieren. Wegen<br />

des gerade in <strong>der</strong> Brustwirbelsäule<br />

oft sehr geringen Pedikeldurchmessers<br />

werden sie jedoch häufiger in <strong>der</strong> Lendenwirbelsäule<br />

verwendet. Fehlplatzierte<br />

Pedikelschrauben verursachen häufig<br />

neurologische Ausfälle.<br />

Bei vor<strong>der</strong>en Instrumentationen<br />

stehen nur Wirbelkörperschrauben zur<br />

Verfügung. Sollen die maximal anwendbaren<br />

Korrekturkräfte erhöht werden,


so kann eine Doppelschraubenkonstruktion<br />

gewählt werden, welche die<br />

Ausreiß- <strong>und</strong> Scherkräfte um ca. 1/3 anheben<br />

lässt [22].<br />

Fazit für die Praxis<br />

Der Behandler idiopathischer Skoliosen<br />

<strong>und</strong> juveniler Kyphosen muss sich bewusst<br />

sein,dass er großteils kosmetische Probleme<br />

behandelt, manchmal vergesellschaftet<br />

mit Schmerz. Das Operationsverfahren<br />

muss mit Augenmaß gewählt werden, um<br />

das Risiko in einer günstigen Relation zum<br />

Operationsziel zu halten. An<strong>der</strong>erseits darf<br />

das Operationsziel des besseren kosmetischen<br />

Resultats nicht aus den Augen verloren<br />

werden.<br />

Literatur<br />

1. Andrew T, Pigott H (1985) Growth arrest for<br />

progressive scoliosis. Combined anterior and<br />

posterior fusion of the convexity.<br />

J Bone Joint Surg Br 67: 193–197<br />

2. Barr SJ, Schuette AM, Emans JB (1997) Lumbar<br />

pedicle screws versus hooks: results in double<br />

major curves in adolescent idiopathic scoliosis.<br />

Spine 22: 1369–1379<br />

3. Branthwaite MA (1986) Cardiorespiratory<br />

consequences of unfused idiopathic scoliosis.<br />

Br J Dis Chest 80: 360–369<br />

4. Bridwell KH, McAllister JW, Betz RR, Huss G,<br />

Clancy M, Schoenecker PL (1991) Coronal<br />

decompensation produced by Cotrel-Dubousset<br />

„<strong>der</strong>otation“ maneuver for idiopathic right<br />

thoracic scoliosis. Spine 16: 769–777<br />

Abb. 13 � Der Stab wird proximal<br />

durch Hakenklammern befestigt.<br />

Seine Biegung gibt die antizipierte<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nform vor. Der Stab wird<br />

an Pedikelschrauben angenähert<br />

5. Cordover AM, Betz RR, Clements DH, Bosacco SJ<br />

(1997) Natural history of adolescent<br />

thoracolumbar and lumbar idiopathic scoliosis<br />

into adulthood. J Spinal Dis 10: 193–196<br />

6. Cotrel Y, Dubousset J, Guillaumat M (1988)<br />

New universal instrumentation in spinal surgery.<br />

Clin Orthop 227: 10–23<br />

7. Danielsson AJ, Nachemson AL (2000)<br />

Radiological findings and curve progression<br />

twenty two years after treatment for adolescent<br />

idiopathic scoliosis – comparison of brace and<br />

surgical treatment and with a matching<br />

control group of straight individuals. Book of<br />

Abstracts, Scoliosis Research Society Annual<br />

Meeting, Cairns, p 56<br />

8. Dwyer AF, Newton NC, Sherwood AA (1969)<br />

An anterior approach to scoliosis. A preliminary<br />

report. Clin Orthop 62: 192–202<br />

9. Gonzalez BI, Fuentes CS, Avila JMM (1995)<br />

Anterior thoracoscopic epiphysiodesis in the<br />

treatment of crankshaft phenomenon.<br />

Eur Spine J 4: 343–346<br />

10. Harrington PR (1962) Treatment of scoliosis.<br />

Correction and internal fixation by spine<br />

instrumentation. J Bone Joint Surg Am<br />

44: 591–610<br />

11. Hopf CG, Eysel P, Dubousset J (1997) Operative<br />

treatment of scoliosis with Cotrel-Dubousset-<br />

Hopf instrumentation. New anterior spinal<br />

device. Spine 22: 618–628<br />

12. Hopf C (2000) Kriterien zur Behandlung<br />

idiopathischer Skoliosen zwischen 40° <strong>und</strong><br />

50°. Operative vs. Konservative Therapie.<br />

Orthopäde 29: 500–506<br />

13. Kieffer J, Dubousset J (1994) Combined anterior<br />

and posterior convex epiphysiodesis for<br />

progressive congenital scoliosis in children<br />

aged < or = 5 years. Eur Spine J 3: 120–125<br />

14. Krismer M,Bauer R,Sterzinger W (1992) Scoliosis<br />

correction by Cotrel-Dubousset instrumentation.<br />

The effect of <strong>der</strong>otation and three dimensional<br />

correction. Spine 17: 263S–269S<br />

15. Krismer M, Bauer R (1989) Die operative<br />

Behandlung <strong>der</strong> Kyphose <strong>unter</strong> beson<strong>der</strong>er<br />

Berücksichtigung <strong>der</strong> ventralen<br />

Spanabstützung. Orthopäde 18: 134–141<br />

16. Krismer M, Bauer R,Wimmer C (1998)<br />

Die operative Behandlung <strong>der</strong> idiopathischen<br />

Skoliose. Orthopäde 27: 147–157<br />

17. Krismer M, Chen AM, Steinlechner M, Haid Ch,<br />

Lener M,Wimmer C (1999) Measurement of<br />

vertebral rotation: a comparison of two methods<br />

based on CT-scans. J Spinal Dis 12: 126–130<br />

18. Marks DS, Iqbal MJ,Thompson AG, Piggott H<br />

(1996) Convex spinal epiphysiodesis in the<br />

management of progressive infantile idiopathic<br />

scoliosis. Spine 21: 1884–1888<br />

19. Murray PM,Weinstein SL, Spratt KF (1993) The<br />

natural history and long-term follow-up of<br />

Scheuermann kyphosis. J Bone Joint Surg Am<br />

75: 236–248<br />

20. Newton PO,Wenger DR, Mubarak SJ, Meyer RS<br />

(1997) Anterior release and fusion in pediatric<br />

spinal deformity.A comparison of early outcome<br />

and costs of thoracoscopic and open<br />

thoracotomy approaches. Spine 22: 1398–1406<br />

21. Pehrsson K, Danielsson A, Nachemson A (2000)<br />

Pulmonary function in patients with adolescent<br />

idiopathic scoliosis 25 years after surgery or<br />

start of brace treatment. Book of Abstracts,<br />

Scoliosis Research Society Annual Meeting,<br />

Cairns, p 102<br />

22. Ogon M, Haid Ch, Krismer M, Sterzinger W,<br />

Bauer R (1996) Comparison between singlescrew<br />

and triangulated, double-screw fixation<br />

in anterior spine surgery: a biomechanical test.<br />

Spine 21: 2728–2734<br />

23. Pratt RK,Webb JK, Burwell RG, Cummings SL<br />

(1999) Luque trolley and convex epiphysiodesis<br />

in the management of infantile and juvenile<br />

idiopathic scoliosis. Spine 24: 1538–1547<br />

24. Ramirez N, Johnston CE, Brown RH (1997) The<br />

prevalence of back pain in children who have<br />

idiopathic scoliosis. J Bone Joint Surg Am<br />

79: 364–368<br />

25. Rothenberg S, Erickson M, Eilert R et al. (1998)<br />

Thoracoscopic anterior spinal procedures<br />

in children. J Pediatr Surg 33: 1168–1170<br />

26. Teramoto S, Suzuki M, Matsuse T et al. (1998)<br />

Influence of kyphosis on the age-realted decline<br />

in pulmonary function.<br />

Nippon Ronen Igakkai Zasshi 35: 23–27<br />

27. Vedantam R, Crawford AH (1997) The role of<br />

preoperative pulmonary function tests in<br />

patients with adolescent idiopathic scoliosis<br />

un<strong>der</strong>going posterior spinal fusion. Spine<br />

22: 2731–2734<br />

28. Weinstein SL,Ponseti IV (1983) Curve progression<br />

in idiopathic scoliosis. J Bone Joint Surg Am<br />

65: 447–455<br />

29. Weinstein SL (1989) Die idiopathische<br />

Adoleszentenskoliose. Häufigkeit <strong>und</strong><br />

Progression unbehandelter Skoliosen.<br />

Orthopäde 18: 74–86<br />

30. Wenger DR, Frick SL (1999) Scheuermann<br />

kyphosis. Spine 24: 2630–2639<br />

31. Zielke K (1982) Ventrale Derotationsspondylodese.<br />

Behandlungsergebnisse<br />

bei idiopathischen Lumbalskoliosen.<br />

Z Orthop 120: 320–329<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 33


34<br />

Orthopäde<br />

2002 · 31:34-43 © Springer-Verlag 2002<br />

Zusammenfassung<br />

Angeborene Fehlbildungen <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

entstehen in <strong>der</strong> Regel als (toxische) Schädigung<br />

während <strong>der</strong> Schwangerschaft, es gibt<br />

aber auch einzelne hereditäte Formen. Das<br />

Vorhandensein von multiplen Anomalien<br />

weist auf diese Ätiologie hin. Assoziierte<br />

Anomalien sind häufig, wobei vor allem an<br />

die spinale Dysraphie zu denken ist, welche<br />

in ca. 20–30% vorkommt. Auch Synostosen<br />

<strong>der</strong> Rippen sind von Bedeutung. Daneben<br />

sind Herzfehler, Sprengelsche Deformität,<br />

Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, Längsdefekte<br />

<strong>der</strong> Extremitäten, Klumpfüße o<strong>der</strong> Talus<br />

verticalis oft mit kongenitalen Skoliosen<br />

assoziiert.Wir <strong>unter</strong>scheiden Anlagestörungen,<br />

Segmentationsstörungen <strong>und</strong> kombinierte<br />

Formen. Die Art <strong>der</strong> Fehlbildung<br />

bestimmt den Spontanverlauf: Bei einem<br />

Halbwirbel ist mit einer Zunahme <strong>der</strong> Skoliose<br />

um 0–2° pro Jahr zu rechnen, bei zwei<br />

gleichseitigen Halbwirbeln mit 2–3° pro<br />

Jahr, bei einer einseitigen unsegmentierten<br />

Spange mit ca. 5° pro Jahr <strong>und</strong> bei <strong>der</strong> Kombination<br />

einer einseitigen unsegmentierten<br />

Spange mit einem gegenseitigen Halbwirbel<br />

mit 10° pro Jahr. Bezüglich <strong>der</strong> Therapie sind<br />

konservative Maßnahmen in <strong>der</strong> Regel<br />

unwirksam. Ein Gr<strong>und</strong>prinzip <strong>der</strong> Behandlung<br />

von kongenitalen Anomalien ist, dass<br />

die chirurgische Therapie möglichst erfolgen<br />

sollte, bevor die Deformität nicht mehr<br />

akzeptabel ist, da Korrekturen schwierig <strong>und</strong><br />

risikoreich sind. Folgende Operationsverfahren<br />

können angewendet werden: Dorsale<br />

<strong>und</strong>/o<strong>der</strong> ventrale Fusion mit o<strong>der</strong> ohne<br />

Instrumentierung, Epiphyseodesen,Vertebrektomie<br />

von ventral <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> dorsal, Distraktion<br />

mit Halo-Extension, Osteotomien<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

F. Hefti · Kin<strong>der</strong>orthopädische Universitätsklinik, Universitätskin<strong>der</strong>spital bei<strong>der</strong> Basel (UKBB)<br />

Kongenitale Fehlbildungen<br />

an <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

sowie die Durchtrennung <strong>der</strong> fusionierten<br />

Rippen <strong>und</strong> stufenweise Dehnung mit Distraktionsinstrumentarium<br />

(Verfahren nach<br />

Campbell). Die Operationen sind risikoreich,<br />

Indikationsstellung <strong>und</strong> Durchführung benötigen<br />

viel Erfahrung. Heutzutage sollten die<br />

Eingriffe <strong>unter</strong> Überwachung von sensiblen<br />

<strong>und</strong> motorischen evozierten Potentialen<br />

durchgeführt werden. In unserem eigenen<br />

Krankengut überblicken wir 498 Patienten<br />

mit kongenitalen Anomalien <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>.<br />

Bei 143 Patienten wurden Operationen<br />

durchgeführt. Die häufigste Operation war<br />

die Hemivertebrektomie, welche insgesamt<br />

56-mal vorgenommen wurde.<br />

Schlüsselwörter<br />

<strong>Wirbelsäule</strong> · Kongenitale Anomalien ·<br />

Skoliose · Kyphose · Evozierte Potentiale<br />

Angeborene Missbildung des Achsenskeletts<br />

kommen auf einer o<strong>der</strong> mehreren<br />

Etagen vor, sie können zu Achsenabweichungen<br />

in <strong>der</strong> Sagittal- (kongenitale<br />

Kyphosen) wie auch in <strong>der</strong> Frontalebene<br />

(kongenitale Skoliosen) führen,<br />

sowie mit Rotation verb<strong>und</strong>en sein<br />

kann.<br />

Ätiologie<br />

Die meisten angeborenen Fehlbildungen<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> sind während <strong>der</strong><br />

Schwangerschaft erworben. Nur bei etwa<br />

1% <strong>der</strong> Fälle besteht eine Heredität<br />

resp. ein familiäres Auftreten [6, 37]. Bei<br />

den hereditären Formen handelt es sich<br />

meist um multiple Anomalien.<br />

Bei multiplen kongenitalen Anomalien<br />

<strong>der</strong> Wirbelkörper besteht für spätere<br />

Geschwister ein Risiko von 5–10%. Eine<br />

hereditäre Form ist die spondylothorakale<br />

Dysplasie nach Jarcho-Levin [12,<br />

33]. Hier bestehen multiple Segmentationsfehler,<br />

Rippenverschmelzungen <strong>und</strong><br />

auch Segmentaplasien. Diese Krankheit<br />

ist autosomal-dominant vererbbar. Beim<br />

VATER-Syndrom treten ebenfalls hereditär<br />

multiple Missbildungen auf: Nebst<br />

Wirbelmissbildungen sind Analatresie,<br />

tracheoösophageale Fistel, Ösophagusatresie,<br />

Nierenmissbildungen <strong>und</strong> Dysplasie<br />

des Radius vorhanden [13].<br />

Bei <strong>der</strong> überwiegenden Zahl von<br />

angeborenen Fehlbildungen ist als Ursache<br />

eine toxische Schädigung während<br />

<strong>der</strong> Schwangerschaft anzunehmen. Die<br />

Schädigung muss dabei vor dem Stadium<br />

<strong>der</strong> Verknöcherung, d. h. im frühesten<br />

Stadium <strong>der</strong> Verknorpelung o<strong>der</strong><br />

vorher erfolgen [29]. Dies bedeutet, dass<br />

die Schädigung vor <strong>der</strong> 10. Schwangerschaftswoche<br />

stattgef<strong>und</strong>en haben<br />

muss. Je ausgedehnter die Fehlbildung,<br />

desto früher hat die Noxe eingewirkt.<br />

Die meisten Anomalien entstehen wohl<br />

während <strong>der</strong> 5. <strong>und</strong> 6. Schwangerschaftswoche<br />

[19].<br />

Prof. Dr. Fritz Hefti<br />

Kin<strong>der</strong>orthopädische Universitätsklinik,<br />

Universitätskin<strong>der</strong>spital bei<strong>der</strong> Basel (UKBB),<br />

Römergasse 8, 4005 Basel/Schweiz


Orthopäde<br />

2002 · 31:34-43 © Springer-Verlag 2002<br />

F. Hefti<br />

Congenital anomalies of the spine<br />

Abstract<br />

Congenital anomalies of the spine usually<br />

originate in (toxic) disturbances during pregnancy.There<br />

are occasional hereditary types.<br />

These are characterized by the presence of<br />

multiple anomalies. Congenital scolioses are<br />

often associated with other anomalies like<br />

spinal dysraphy (20–30%) and fusion of the<br />

ribs. Furthermore heart defects, Sprengel's<br />

deformity, cleft palates, hemimelias, clubfeet<br />

or congenital vertical talus are frequently<br />

associated with congenital scoliosis.We classify<br />

in failures of formation, segmentation<br />

and combined types.The type of malformation<br />

determines the prognosis. One hemivertebra<br />

is associated with a risk of progression<br />

of 0–2°/year, 2 ipsilateral hemivertebra with<br />

2–3°/year, a unilateral unsegmented bar<br />

with 5°/year and a combination of a unilateral<br />

unsegmented bar with a contralateral<br />

hemivertebra with approximately 10°/year.<br />

Conservative treatment is usually ineffective.<br />

The indication for operative treatment<br />

should be made before the deformity<br />

becomes inacceptable, as a correction is<br />

difficult and dangerous.The following operations<br />

can be carried out: Anterior and/or<br />

posterior fusion with or without instrumentation,<br />

epiphyseodesis, (hemi)vertebrectomies<br />

(with anterior and/or posterior approach),<br />

distraction with a halo, osteotomies,<br />

separation of the fused ribs and gradual distraction<br />

(Campbell's expansion thoracoplasty).The<br />

operations carry significant risks and<br />

the indication to the various treatment modalities<br />

is difficult. Operations should be<br />

made un<strong>der</strong> monitoring of sensory and motor<br />

evoked potentials. From 498 patients<br />

with congenital anomalies of the spine in<br />

our observation we have operated on 143.<br />

Hemivertebrectomies were the most frequent<br />

interventions (56).<br />

Keywords<br />

Spine · Congenital · Scoliosis · Kyphosis ·<br />

Somato-sensory evoked potentials ·<br />

Spinal cord<br />

Assoziierte Missbildungen<br />

Eine Reihe von Fehlbildungen treten gehäuft<br />

zusammen mit Missbildungen <strong>der</strong><br />

<strong>Wirbelsäule</strong> auf:<br />

Fusion <strong>der</strong> Rippen<br />

Die Rippen sind in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Missbildung<br />

häufig miteinan<strong>der</strong> verb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> bilden eine knöcherne Masse. Beson<strong>der</strong>s<br />

typisch ist dies auf <strong>der</strong> Seite eines<br />

unsegmentierten Balkens (s. unten).<br />

Die dadurch gebildete Skoliose hat eine<br />

starke Tendenz zur Progression, auch<br />

massive Lordosierungen im thorakalen<br />

Bereich können dadurch bedingt sein,<br />

insbeson<strong>der</strong>e wenn die Fusion beidseitig<br />

vorhanden ist.<br />

Spinale Dysraphie<br />

Etwa 20% [18] bis 30% [28] <strong>der</strong> Patienten<br />

mit kongenitalen Fehlbildungen weisen<br />

intraspinale Anomalien auf. Am<br />

häufigsten sind intraspinale Fehlbildungen<br />

bei einem einseitigen unsegmentierten<br />

Balken mit gegenseitigem Halbwirbel<br />

im thorakolumbalen Übergangsbereich<br />

(52% Diastematomyelien). Als<br />

intraspinale Missbildungen kommen<br />

vor:<br />

● Diastematomyelie, d. h. intraspinale<br />

Spangenbildung,<br />

● Zysten,<br />

● Teratome,<br />

● Lipome,<br />

Die Diagnosestellung <strong>der</strong> intraspinalen<br />

Missbildungen ist vor operativen Maßnahmen<br />

sehr wichtig. Bei Vorliegen solcher<br />

Anomalien ist die Gefahr des Auftretens<br />

von neurologischen Läsionen<br />

während <strong>der</strong> Operation größer als üblich.<br />

Weitere verknüpfte Missbildungen<br />

Bei etwa einem Drittel <strong>der</strong> Patienten mit<br />

Fehlbildungen <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> bestehen<br />

auch weitere assoziierte Missbildungen<br />

[37]. Herzfehler wurden bei 7%,<br />

eine Sprengel’sche Deformität bei 6%,<br />

Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten bei 4%,<br />

Extremitätenverkürzung bei 4%,<br />

Klumpfüße bei 13% <strong>und</strong> ein Talus verticalis<br />

bei 1% gef<strong>und</strong>en. Daneben kommen<br />

Hypoplasie <strong>der</strong> Mandibula, Nierenaplasie,<br />

Hufeisenniere, Uterusagene-<br />

sie etc. vor. Beson<strong>der</strong>s Anomalien des<br />

Urogenitaltraktes scheinen häufig zu<br />

sein (in gewissen Berichten bis zu 40%;<br />

[9]). Eine ultrasonographische Abklärung<br />

des Abdomens <strong>und</strong> <strong>der</strong> Nieren ist<br />

deshalb bei je<strong>der</strong> kongenitalen Skoliose<br />

notwendig.<br />

Anomalien an <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> (insbeson<strong>der</strong>e<br />

an <strong>der</strong> Halswirbelsäule) kommen<br />

bei folgenden Syndromen gehäuft<br />

vor: Neurofibromatose [39], Larsen-Syndrom<br />

[15], diastrophischer Zwergwuchs<br />

[27], Mukopolysaccharidose [36], spondyloepiphysäre<br />

Dysplasie [1, 2].<br />

Definitionsgemäß ist die Myelomeningozele<br />

stets auch mit einer kongenitalen<br />

Fehlbildung <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> verb<strong>und</strong>en.<br />

Dabei betrifft die Anomalie<br />

meist nicht nur die offenen Bögen, son<strong>der</strong>n<br />

es bestehen in <strong>der</strong> Regel auch mehr<br />

o<strong>der</strong> weniger ausgeprägte Segmentations-<br />

<strong>und</strong> Anlagestörungen im Sinne von<br />

Halb- o<strong>der</strong> Keilwirbeln. Hier handelt es<br />

sich um eine Kombination einer neurogenen<br />

Skoliose aufgr<strong>und</strong> einer vorwiegend<br />

schlaffen Lähmung mit Elementen<br />

einer kongenitalen Skoliose, zudem<br />

kann durch die anatomische Verlagerung<br />

<strong>der</strong> dorsalen Muskulatur nach ventral<br />

eine starke (muskulär bedingte o<strong>der</strong><br />

geför<strong>der</strong>te) Kyphose entstehen.<br />

Vorkommen<br />

Angaben über die Epidemiologie <strong>der</strong><br />

kongenitalen Fehlbildungen <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

sind kaum vorhanden. Dies liegt<br />

vorwiegend daran, dass die Anomalien<br />

in den seltensten Fälle vererblich sind<br />

<strong>und</strong> meist bei <strong>der</strong> Geburt auch noch<br />

nicht entdeckt werden können. In einer<br />

Studie über Schul<strong>unter</strong>suchungen bei<br />

1800 Kin<strong>der</strong>n in England wurden 2 kongenitale<br />

Skoliosen entdeckt [8]. Hieraus<br />

würde sich eine Prävalenz von knapp<br />

1‰ errechnen. Auch wenn dies wahrscheinlich<br />

zu hoch ist, so sind Fehlbildungen<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> doch recht häufig.Viele<br />

von ihnen sind harmlos, verursachen<br />

keine Symptome <strong>und</strong> werden als<br />

Zufallsbef<strong>und</strong>e entdeckt.<br />

Bei Patienten mit Myelomeningozelen<br />

wurde eine Prävalenz <strong>der</strong> Skoliose<br />

in Schweden mit 69% errechnet [26].<br />

Das Vorkommen ist nicht altersabhängig,<br />

son<strong>der</strong>n sie steht im Zusammenhang<br />

mit <strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Lähmung (bei<br />

thorakalem Niveau haben 94% eine Skoliose).<br />

Kyphosen sind wesentlich seltener<br />

<strong>und</strong> werden nur in einer Min<strong>der</strong>heit<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 35


36<br />

<strong>der</strong> Patienten beobachtet. Schwere Lordosen<br />

sind noch seltener <strong>und</strong> können<br />

vor allem iatrogen bei Verwendung eines<br />

thekoperitonealen Shunts auftreten<br />

[20].<br />

Klassifikation<br />

Wir können einerseits nach <strong>der</strong> Gesamtform<br />

klassifizieren:<br />

● Kongenitale Skoliosen,<br />

● kongenitale Kyphosen,<br />

● kombinierte Missbildungen.<br />

Spezialformen:<br />

● Arnold-Chiari-Missbildung,<br />

● Meningomyelozele,<br />

● kongenitale Spondylolisthesis.<br />

An<strong>der</strong>erseits können wir nach Art <strong>der</strong><br />

Missbildung einteilen:<br />

● Anlagestörung,<br />

● Segmentationsstörung,<br />

● kombinierte Missbildungen.<br />

Die Bezeichnung „Klippel-Feil-Syndrom“<br />

sagt nichts aus über die Art <strong>der</strong><br />

Missbildung, son<strong>der</strong>n sie bezeichnet lediglich<br />

die Lokalisation, nämlich die<br />

Halswirbelsäule. Der Begriff ist sehr unspezifisch<br />

<strong>und</strong> beinhaltet sämtliche<br />

ossären Fehlformen im Bereiche <strong>der</strong><br />

Halswirbelsäule. Diese sind oft auch mit<br />

einer Sprengelschen Deformität kombiniert.<br />

Die Beschreibung betraf ursprünglich<br />

die klinische Manifestation<br />

mit kurzem Hals, eingeschränkter Beweglichkeit<br />

<strong>und</strong> tiefem hinterem Haaransatz<br />

[34].<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 1a–e � Formations- bzw. Anlagestörungen. a Keilwirbel; b Halbwirbel; c dorsaler Halbwirbel;<br />

d inkarzerierter Halbwirbel; e Schmetterlingswirbel<br />

Klassifikation nach Lokalisation<br />

<strong>der</strong> Läsion<br />

● Okzipitozervikal (Okziput bis C1),<br />

● zervikal (C2 bis C6),<br />

● zervikothorakal (C7 bis Th1),<br />

● thorakal (Th2 bis Th11),<br />

● thorakolumbal (Th12 bis L1),<br />

● lumbal (L2 bis L4),<br />

● lumbosakral (L5 <strong>und</strong> S1),<br />

● sakral.<br />

Die wichtigste Unterscheidung besteht<br />

zwischen Formationsfehlern (Anlagefehlern)<br />

<strong>und</strong> Segmentationsstörungen.<br />

Formations- (Anlage)fehler<br />

Die Abb. 1 zeigt die verschiedenen Möglichkeiten<br />

von Anlagestörungen.Dabei ist<br />

ein Wirbelkörper jeweils unvollständig<br />

ausgebildet.Ist ein Wirbelkörper einseitig<br />

dysplastisch,spricht man von einem Keilwirbel,<br />

fehlt die eine Seite ganz, spricht<br />

man von einem Halbwirbel. Der Fehler<br />

am Wirbelkörper kann seitlich, dorsal<br />

o<strong>der</strong> ventral liegen. Je nachdem spricht<br />

man von einem seitlichen,ventralen o<strong>der</strong><br />

dorsalen Halbwirbel resp. Keilwirbel.<br />

Fehlt <strong>der</strong> mittlere Abschnitt des Wirbelkörpers,entsteht<br />

ein sogenannter Schmetterlingswirbel.<br />

Der verbleibende Teil des<br />

Wirbelkörpers kann normale <strong>Wachstum</strong>sfugen<br />

aufweisen, er kann aber auch<br />

mit dem benachbarten Segment fusioniert<br />

sein. Man spricht dann von einem<br />

inkarzerierten Halb- bzw. Keilwirbel.<br />

Segmentationsstörungen<br />

Bei Segmentationsstörungen wird <strong>der</strong><br />

Bandscheibenzwischenraum nicht angelegt,<br />

<strong>und</strong> es fehlen dann auch an <strong>der</strong><br />

entsprechenden Stelle die <strong>Wachstum</strong>sfugen.<br />

Fehlt <strong>der</strong> Bandscheibenzwischenraum,<br />

spricht man von einem Blockwirbel<br />

(Abb. 2). Fehlt die Segmentation nur<br />

in einem bestimmten Bereich <strong>der</strong> Wirbelkörper,<br />

so spricht man von einer unsegmentierten<br />

Spange („unsegmented<br />

bar“). Diese Spange kann seitlich, ventral<br />

o<strong>der</strong> dorsal liegen. Meist liegt sie anterolateral.<br />

Die durch den „unsegmented<br />

bar“ verursachte <strong>Wachstum</strong>sstörung<br />

führt deshalb meist auch zu einer Rotation<br />

<strong>der</strong> betroffenen Wirbelkörper.<br />

Problematisch ist die Kombination<br />

mit Fusion <strong>der</strong> Rippen (Abb. 3). Solche<br />

Segmentationsstörungen können, auch<br />

wenn sie weitgehend symmetrisch sind,<br />

zu schweren Beeinträchtigungen führen<br />

wegen <strong>der</strong> Verkleinerung des Thoraxvolumens<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> thorakalen Lordose.<br />

Kombinierte Missbildungen<br />

Nicht selten sind Segmentations- <strong>und</strong><br />

Anlagestörungen kombiniert vorhan-<br />

Abb. 2a–d � Segmentationsstörungen. a Ventrale Spange; b dorsale Spange; c laterale Spange<br />

(„unilateral unsegmented bar“); d Blockwirbel


den. Beson<strong>der</strong>s häufig findet sich ein anterolateraler<br />

„unsegmented bar“ kombiniert<br />

mit einem gegenseitigen Halbwirbel.<br />

Diese Kombination ist prognostisch<br />

ungünstig.Auch an <strong>der</strong> Halswirbelsäule<br />

finden sich im Rahmen des sog. Klippel-<br />

Feil-Syndroms häufig kombinierte Missbildungen<br />

mit dorsalen Spangenbildungen<br />

<strong>und</strong> ventralen Anlagestörungen. Die<br />

Missbildungen können aber auch die<br />

ganze <strong>Wirbelsäule</strong> betreffen.<br />

Kongenitale Kyphosen<br />

Die kongenitale Kyphosen werden eingeteilt<br />

in [23]:<br />

● Typ I. Fehlende ventrale Anlage von<br />

Wirbelkörpern.<br />

● Typ II.Ventrale Segmentationsstörung.<br />

● Typ III. Kombinationsanomalie.<br />

Meningomyelozelen<br />

Die Entwicklung einer <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformität<br />

bei <strong>der</strong> Myelomeningozele wird<br />

normalerweise durch 3 Elemente beeinflusst:<br />

● Asymmetrische Lähmung <strong>der</strong><br />

Muskulatur.<br />

● Verän<strong>der</strong>ter anatomischer Verlauf<br />

<strong>der</strong> Muskulatur.<br />

● Missbildungen <strong>und</strong> Segmentationsstörungen<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>.<br />

Abb. 3 � Computertomogramme<br />

<strong>der</strong> <strong>unter</strong>en BWS mit 3-dimensionaler<br />

Rekonstruktion von hinten bei einem<br />

4 1/2-jährigen Knaben mit Synostosen<br />

<strong>der</strong> Rippen auf beiden Seiten nebst<br />

Segmentationsstörung <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

Durch die schlaffe Lähmung können <strong>der</strong><br />

asymmetrische Muskelzug <strong>und</strong> die Instabilität<br />

eine typische Lähmungsskoliose<br />

verursachen. Entscheidend für das<br />

Ausmaß <strong>der</strong> Skoliose ist vor allem das<br />

Lähmungsniveau. Patienten mit tieflumbalen<br />

Myelomeningozelen entwickeln<br />

selten eine schwere Skoliose, hingegen<br />

ist es bei Patienten mit thorakalem Lähmungsniveau<br />

die Regel. Es ist zu beachten,<br />

dass sich das Lähmungsniveau verän<strong>der</strong>n<br />

kann, insbeson<strong>der</strong>e wenn ein<br />

„tethered-cord-syndrome“ vorliegt.<br />

Dies kann zu einer Verschlimmerung<br />

<strong>der</strong> Parese führen. Dieses Problem muss<br />

frühzeitig operativ angegangen werden.<br />

Eine Verän<strong>der</strong>ung des Lähmungsniveaus<br />

kann auch bei schlecht funktionierendem<br />

Ventil durch erhöhten Druck<br />

im Ventrikelsystem auftreten. Solche<br />

Lähmungen sind dann oft mit einer spastischen<br />

Komponente verb<strong>und</strong>en.<br />

Die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Anatomie <strong>der</strong><br />

Muskulatur kommt durch das nach vorne<br />

Biegen <strong>der</strong> hinten offenen Wirbelbögen<br />

zustande. Dadurch wird die normalerweise<br />

dorsal liegende Muskulatur<br />

ventralisiert <strong>und</strong> wirkt zusätzlich zur<br />

vorhandenen ventralen Muskulatur kyphosierend<br />

statt lordosierend. Der <strong>Wirbelsäule</strong><br />

fehlt also die normale dorsale<br />

Zuggurtung. Solche Patienten können<br />

schwerste Kyphosen entwickeln. Meist<br />

ist die Kyphose bereits bei <strong>der</strong> Geburt<br />

vorhanden, sie ist dann während des<br />

<strong>Wachstum</strong>s weiter progredient. In <strong>der</strong><br />

Regel lässt sich die Haut über <strong>der</strong> Kyphose<br />

beim Verschluss <strong>der</strong> Myelomeningozele<br />

schlecht schließen. Die narbige<br />

Haut liegt direkt auf dem kyphotisch<br />

vorstehenden Knochen, sodass die Patienten<br />

beim Liegen auf dem Rücken<br />

schnell w<strong>und</strong> liegen. Dies kann dann zusätzliche<br />

Probleme verursachen.<br />

Die kongenitalen Missbildungen<br />

<strong>und</strong> Segmentationsstörungen sind bei<br />

allen Myelomeningozelen vorhanden.<br />

Beim offenen Bogen handelt es sich ja<br />

definitionsgemäß bereits um eine Missbildung.<br />

Fast immer sind auch Segmentationsstörungen<br />

vorhanden. Häufig<br />

sind diese symmetrisch <strong>und</strong> nicht allzu<br />

problematisch, außer dass das <strong>Wachstum</strong><br />

in diesem Bereich gestört ist.<br />

Manchmal ist die Segmentationsstörung<br />

aber einseitig. In solchen Fällen kann<br />

sich eine sehr progrediente <strong>und</strong> äußerst<br />

rigide Skoliose entwickeln. Gelegentlich<br />

sieht man auch Halb- <strong>und</strong> Keilwirbel.<br />

Die Progredienz von Skoliosen aufgr<strong>und</strong><br />

von solchen Missbildungen ist meist<br />

nicht allzu groß, dennoch können auch<br />

diese zusätzliche Probleme verursachen.<br />

Tabelle 1 zeigt die Art <strong>der</strong> Fehlbildung<br />

bei 498 von uns seit 1978 beobachteten<br />

Fällen.<br />

Spontanverlauf<br />

Auf Gr<strong>und</strong> einer Verlaufskontrolle bei<br />

242 Patienten mit kongenitalen Skoliosen<br />

wurde folgende durchschnittliche<br />

jährliche Progression festgestellt [18, 22]:<br />

● Keilwirbel: Zunahme 2,5° pro Jahr,<br />

● 1 Halbwirbel: Zunahme 1,9° pro Jahr,<br />

● 2 Halbwirbel: Zunahme 2–3 ° pro<br />

Jahr (im <strong>unter</strong>en BWS-Bereich etwas<br />

mehr),<br />

● „unilateral unsegmented bar“: bis<br />

zum 10. Lebensjahr 2° pro Jahr, später<br />

4° pro Jahr, im mittleren BWS-<br />

Bereich 5° pro Jahr, im thorakolumbalen<br />

Übergangsbereich 6° pro Jahr,<br />

● „unilateral unsegmented bar“ <strong>und</strong><br />

kontralateraler Halbwirbel: Zunahme<br />

10° pro Jahr,<br />

● Blockwirbel: keine progrediente<br />

Deformität.<br />

Tabelle 2 fasst die Prognose <strong>der</strong> einzelnen<br />

Zustände zusammen. Die Abb. 4<br />

<strong>und</strong> Abb. 5 zeigen Beispiele, wie <strong>unter</strong>schiedlich<br />

die Progression <strong>der</strong> Skoliose<br />

je nach zu Gr<strong>und</strong>e liegen<strong>der</strong> Missbildung<br />

sein kann.<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 37


38<br />

Tabelle 1<br />

Art <strong>der</strong> Fehlbildungen (eigene Patienten seit 1978)<br />

Art <strong>der</strong> Fehlbildung(en) Patienten [%]<br />

Einzelne Keil-/Halbwirbel 165 33,1<br />

Mehrere Keil-/Halbwirbel 51 10,2<br />

Block-/Schmetterlingswirbel 69 13,9<br />

Unsegmentierte Spange 52 10,4<br />

Unsegmentierte Spange + gegenseitiger Halbwirbel 27 5,4<br />

Multiple Anomalien 31 6,2<br />

Kongenitale Spondylolisthesis bzw. -ptose 4 0,8<br />

Sakralagenesie 7 1,4<br />

Anomalien bei Myelomeningozele 92 18,5<br />

Total 498<br />

Diagnostik<br />

Die Diagnose wird primär im Säuglingsalter<br />

häufig als Zufallsdiagnose anhand<br />

einer Thorax- o<strong>der</strong> Abdomenröntgenkontrolle<br />

gestellt. Eine äußerlich sichtbare<br />

Deformität ist erst vorhanden,<br />

wenn eine Rotation vorliegt. Rotationen<br />

sind vor allem bei einem anterolateralen<br />

„unsegmented bar“ zu erwarten. Bei<br />

Vorliegen einer thorakalen o<strong>der</strong> lumbalen<br />

Anomalie ist stets auch eine Röntgenabklärung<br />

<strong>der</strong> Halswirbelsäule durchzuführen.<br />

In einer Untersuchung bei 1215<br />

kongenitalen Skoliosen wurde in<br />

298 Fällen (25%) auch ein Klippel-Feil-<br />

Syndrom, d. h. Missbildungen im Bereiche<br />

<strong>der</strong> Halswirbelsäule, gef<strong>und</strong>en [38].<br />

Wichtig sind im Kleinkindesalter<br />

relativ engmaschige Röntgenverlaufskontrollen.<br />

Bis die Progredienz einigermaßen<br />

klar ist, sollte jährlich ein Röntgenbild<br />

angefertigt werden.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Unentbehrlich ist auch eine sorgfältige<br />

neurologische Untersuchung. Besteht<br />

ein Verdacht auf eine neurologische<br />

Läsion, so muss eine MRT-Untersuchung<br />

durchgeführt werden. Diese hat<br />

meistens in Narkose zu erfolgen. Liegt<br />

eine Diastematomyelie o<strong>der</strong> ein „tethered<br />

cord syndrome“ vor, so ist die Beobachtung<br />

<strong>der</strong> Neurologie von beson<strong>der</strong>er<br />

Wichtigkeit. Sobald eine zunehmende<br />

neurologische Läsion festgestellt wird,<br />

muss <strong>der</strong> Patient im Hinblick auf eine<br />

allfällige operative Entfernung <strong>der</strong> spinalen<br />

Anomalie abgeklärt werden.<br />

Wird eine Operationsindikation gestellt,<br />

so muss stets eine MRT-Untersuchung<br />

durchgeführt werden.Im HWS-Bereich<br />

gehört ein (MR-)Angiogramm <strong>der</strong><br />

A. vertebralis zur präoperativen Abklärung.<br />

Im <strong>unter</strong>en BWS-Bereich muss <strong>der</strong><br />

Verlauf <strong>der</strong> Adamkiewiczschen Arterie<br />

bekannt sein (präoperativ ist deshalb vor<br />

einer kombinierten ventralen <strong>und</strong> dorsa-<br />

len Operation stets ein Angiogramm auszuführen).<br />

Die Verletzung dieses Gefäßes<br />

kann zu einer vaskulär bedingten Paraplegie<br />

o<strong>der</strong> Paraparese führen.Allerdings<br />

kommen vaskulär bedingte neurologische<br />

Störungen auch außerhalb des Endstromgebietes<br />

<strong>der</strong> Adamkiewiczschen Arterie<br />

vor. Für die räumliche Beurteilung von<br />

komplexen Missbildungen sind CT-Aufnahmen<br />

mit optischer 3-dimensionaler<br />

Rekonstruktion hilfreich (Abb. 3).<br />

Therapie<br />

Werden kongenitale Kyphosen <strong>und</strong> Skoliosen<br />

behandlungsbedürftig, so steht<br />

als wirksame Therapie einzig die Operation<br />

zur Verfügung. Die Korsettbehandlung<br />

hat keinerlei Einfluss auf die<br />

Progredienz <strong>der</strong> Skoliose. Sie kann allenfalls<br />

zur Beeinflussung einer Gegenkrümmung<br />

indiziert sein. Als operative<br />

Maßnahmen kommen in Frage:<br />

● Einfache dorsale Fusion ohne Instrumentierung,<br />

● kombinierte dorsale <strong>und</strong> ventrale<br />

Spondylodese ohne Instrumentierung,<br />

● Epiphyseodesen ventral <strong>und</strong>/o<strong>der</strong><br />

dorsal,<br />

● Hemivertebrektomie o<strong>der</strong> Resektion<br />

ganzer Wirbelkörper von ventral <strong>und</strong><br />

dorsal,<br />

● „anterior release“, d. h. ventrale<br />

Bandscheibenresektion, evtl. auch<br />

Osteotomie einer Spange,<br />

● Distraktion mit Halo-Extension (ein<br />

Halo ist ein am Schädel transkutan<br />

fest montierter Ring),<br />

● ventrale Aufrichtung mit Kompressionsinstrumentarium,<br />

Tabelle 2<br />

Risiko <strong>der</strong> Progredienz <strong>der</strong> verschiedenen Formen von Missbildungen an <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>. (Mod. nach [18])<br />

Lokalisation Blockwirbel Keilwirbel Halbwirbel Halbwirbel Einseitige Einseitige Spange<br />

einfach doppelt Spange + Halbwirbel auf<br />

Gegenseite<br />

Progression in Grad pro Jahr<br />

Obere BWS


Abb. 4 � Röntgenbil<strong>der</strong> eines lumbalen Halbwirbels ohne Progression: Links im Alter von 1 Jahr,<br />

in <strong>der</strong> Mitte mit 7 Jahren, rechts mit 10 Jahren<br />

● dorsale Aufrichtung mit verschiedenen<br />

Instrumentarien (mit Kompression,<br />

Distraktion, Kyphosierung,<br />

Lordosierung, Derotation),<br />

● Osteotomie bei in starker Fehlstellung<br />

fusionierten Wirbelkörpern,<br />

● Durchtrennung <strong>der</strong> fusionierten<br />

Rippen <strong>und</strong> stufenweise Dehnung<br />

mit Distraktionsinstrumentarium<br />

(Verfahren nach Campbell),<br />

● neurochirurgische Behandlung intraspinaler<br />

Anomalien.<br />

Ein Gr<strong>und</strong>prinzip <strong>der</strong> Behandlung von<br />

kongenitalen Anomalien ist, dass die<br />

chirurgische Therapie möglichst erfol-<br />

Abb. 5 � Röntgenbil<strong>der</strong> eines thorakalen „unilateral unsegmented bar“ mit starker Progression:<br />

Links im Alter von 10 Monaten, in <strong>der</strong> Mitte mit 3 Jahren, rechts mit 5 Jahren<br />

gen sollte, bevor die Deformität inakzeptabel<br />

wird, da Korrekturen schwierig<br />

<strong>und</strong> risikoreich sind. Insbeson<strong>der</strong>e sind<br />

Behandlungen mit einem Disktraktionsinstrumentarium<br />

gefährlich. Auch<br />

diskrete intraspinale Anomalien können<br />

zu neurologischen Läsionen führen. Allerdings<br />

sind Operationsindikationen<br />

lange nicht in allen Fällen zu stellen.Von<br />

498 Patienten in unserer Beobachtung<br />

(seit 1978) haben wir bisher 143 operiert<br />

(28,7%; Tabelle 1 <strong>und</strong> 3).<br />

Bei einer Anomalie mit mäßiger<br />

Progredienz reicht oft eine dorsale o<strong>der</strong><br />

kombiniert dorsale <strong>und</strong> ventrale Fusion<br />

ohne Instrumentierung o<strong>der</strong> allenfalls<br />

<strong>unter</strong> Anwendung eines Kompressionsinstrumentariums.<br />

Im lumbosakralen<br />

Übergangsbereich, bei dorsalen Halbwirbeln<br />

sowie bei Vorliegen eines „unilateral<br />

unsegmented bar“ mit kontralateralem<br />

Halbwirbel ist die Hemivertebrektomie<br />

indiziert.Diese kann gleichzeitig<br />

von ventral <strong>und</strong> dorsal o<strong>der</strong> nur von<br />

dorsal erfolgen. Die Korrektur kann anschließend<br />

von dorsal mit einem Kompressionsinstrumentarium<br />

durchgeführt<br />

werden, wobei zu beachten ist, dass die<br />

Nervenwurzeln auf <strong>der</strong> zu komprimierenden<br />

Seite nicht eingeengt werden<br />

(Abb. 6). Bei sehr kleinen Kin<strong>der</strong>n verwenden<br />

wir im thorakalen <strong>und</strong> lumbalen<br />

Bereich zur Fixation das sog.Cervifix-In-<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 39


40<br />

Tabelle 3<br />

Art <strong>der</strong> Operationen bei eigenen Patienten seit 1978<br />

Art <strong>der</strong> Operation Patienten<br />

strumentarium, welches ursprünglich<br />

zur Verwendung an <strong>der</strong> Halswirbelsäule<br />

von Erwachsenen entwickelt wurde. Beson<strong>der</strong>s<br />

gefährlich ist die Hemivertebrektomie<br />

im Bereiche <strong>der</strong> Halswirbelsäule,<br />

da hier die A. vertebralis die Operation<br />

zusätzlich erschwert (Abb. 7).<br />

Die Aufrichtung einer Sek<strong>und</strong>ärkrümmung<br />

kann <strong>unter</strong> Umständen mit<br />

einem distrahierenden Instrumentarium<br />

erfolgen, allerdings muss mit genügen<strong>der</strong><br />

Sicherheit eine intraspinale Anomalie<br />

ausgeschlossen werden, <strong>und</strong> es<br />

sollte auch <strong>der</strong> fehlgebildete Bereich bereits<br />

solide fusioniert sein.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Vertebrektomie/Hemivertebrektomie 56<br />

Ventral + dorsal 13<br />

Nur von dorsal 43<br />

Spondylodesen ohne Instrumentierung 20<br />

Spondylodesen mit Instrumentierung 39<br />

Osteotomien + Spondylodese mit Instrumentierung 15<br />

Distraktion mit Halo 7<br />

Progressive Distraktion mit internen Implantaten 6<br />

Total 143<br />

Die Behandlung <strong>der</strong> kongenitalen<br />

Kyphosen <strong>und</strong> Skoliosen erfor<strong>der</strong>t eine<br />

große Erfahrung. Einzelne Halbwirbel<br />

haben gr<strong>und</strong>sätzlich eine recht gute Prognose.<br />

Einzig die dorsalen Halbwirbel<br />

sind ungünstig, da sie mit zunehmen<strong>der</strong><br />

Kyphosierung zu einer neurologischen<br />

Läsion führen können. Dies ist die einzige<br />

Anomalie, welche auch ohne intraspinale<br />

Missbildung zu neurologischen<br />

Störungen führen kann. Im lumbalen<br />

Bereich haben sie zudem einen ungünstigen<br />

Einfluss auf das sagittale<br />

Profil. Einzelne dorsale Halbwirbel<br />

müssen deshalb allenfalls durch eine<br />

Abb. 6 � a 8 Monate alter Knabe mit linksseitigem Halbwirbel auf Höhe Th12 <strong>und</strong> gegenseitigem<br />

„unilateral unsegmented bar“. b Im Alter von 3 Jahren. c Mit 5 Jahren <strong>und</strong> 9 Monaten. d 1 Jahr<br />

nach Hemivertebrektomie von ventral <strong>und</strong> dorsal <strong>und</strong> Einsetzen eines Kompressionsstabes auf <strong>der</strong><br />

Konvexseite<br />

Hemivertebrektomie entfernt werden<br />

(Abb. 8).<br />

Das von Campbell entwickelte Verfahren<br />

[4] wird bei Segmentationsstörungen<br />

mit fusionierten Rippen eingesetzt.<br />

Dabei werden die zusammengewachsenen<br />

Rippen durchtrennt <strong>und</strong> es<br />

wird ein Distraktionsinstrumentarium<br />

eingebracht. Mit diesem Implantat wird<br />

in mehreren Schritten <strong>der</strong> Abstand zwischen<br />

den Rippen vergrößert. Wie eine<br />

meiner Mitarbeiterinnen während ihrer<br />

Tätigkeit bei R.M. Campbell feststellen<br />

konnte, wird dabei auch die Länge <strong>der</strong><br />

<strong>Wirbelsäule</strong> im Bereiche <strong>der</strong> Spangenbildung<br />

vergrößert resp. trotz Segmentationsstörung<br />

zum <strong>Wachstum</strong> angeregt<br />

[11].Wir haben an unserer Klinik bereits<br />

eine (limitierte) Erfahrung mit diesem<br />

ausgezeichneten Verfahren.<br />

Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> Behandlung<br />

bei Myelomeningozelen<br />

Konservative Therapie<br />

Skoliosen aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> schlaffen Lähmung<br />

können – sofern sie nicht allzu<br />

ausgeprägt sind – mit Korsetten behandelt<br />

werden. Die Korsettbehandlung ist<br />

vor allem zwischen 20° <strong>und</strong> 40° Cobb-<br />

Winkel wirksam. Die Indikation sollte<br />

aber nur gestellt werden, wenn eine eindeutige<br />

Progredienz vorhanden ist. Für


Abb. 7 � a Konventionelle Tomogramme <strong>der</strong> Halswirbelsäule eines 10-jährigen Mädchens mit<br />

Klippel-Feil-Syndrom mit multiplen Missbildungen <strong>und</strong> massivem Schiefstand des Kopfes;<br />

b 2 Jahre nach Hemivertebrektomie von ventral <strong>und</strong> dorsal <strong>und</strong> Einsetzen einer ventralen Titanplatte<br />

die Behandlung <strong>der</strong> Kyphose sowie <strong>der</strong><br />

durch die kongenitalen Missbildungen<br />

bedingten Skoliose ist die Korsettbehandlung<br />

unwirksam.<br />

Operative Therapie<br />

Auch für die Indikation zur operativen<br />

Behandlung müssen die drei Elemente<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten bei <strong>der</strong><br />

Myelomeningozele separat betrachtet<br />

werden.<br />

Therapie <strong>der</strong> lähmungsbedingten<br />

Skoliose<br />

Für die durch die schlaffe Lähmung bedingte<br />

Skoliose gelten bezüglich des<br />

Schweregrades <strong>und</strong> des Zeitpunktes zur<br />

Operationsindikation gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ähnliche Gr<strong>und</strong>sätze wie bei an<strong>der</strong>en<br />

neurogenen Skoliosen. Problematisch ist<br />

allerdings die Tatsache, dass die Skoliosen<br />

bei Myelomeningozelen meist bis<br />

tieflumbal hinabreichen, an<strong>der</strong>seits die<br />

Beweglichkeit <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> für den<br />

Aktionsradius im Rollstuhl dieser mental<br />

meist wenig beeinträchtigten Patienten<br />

sehr wichtig ist. Ohne lumbale Beweglichkeit<br />

ist es nicht möglich, vom Boden<br />

alleine wie<strong>der</strong> in den Rollstuhl zu<br />

gelangen o<strong>der</strong> Gegenstände aufzuheben.<br />

Die beweglichen Segmente <strong>der</strong> LWS<br />

werden bei diesen Patienten auch stärker<br />

beansprucht als normalerweise.<br />

Schwere Skoliosen müssen wegen <strong>der</strong><br />

Beeinträchtigung <strong>der</strong> Lungenfunktion<br />

[5] trotz des Verlustes <strong>der</strong> Beweglichkeit<br />

operiert werden. Wir befürworten jedoch<br />

die Frühoperation nicht, zumal<br />

heutzutage mit ventralem (o<strong>der</strong> kombiniert<br />

ventralem <strong>und</strong> dorsalem) Vorgehen<br />

(evtl. verb<strong>und</strong>en mit Osteotomien)<br />

auch sehr schwere Skoliosen noch lotgerecht<br />

korrigiert werden können.<br />

Ist es wegen <strong>der</strong> tiefen Lokalisation<br />

<strong>der</strong> Skoliose nicht möglich, mindestens 3<br />

Abb. 8 � a Seitliches<br />

Röntgenbild <strong>der</strong> BWS<br />

eines 15-jährigen<br />

Knaben mit dorsalem<br />

Halbwirbel auf Höhe<br />

Th6 <strong>und</strong> kyphotischem<br />

Knick. b 1 Jahr nach<br />

teilweiser Vertebrektomie<br />

von dorsal <strong>und</strong><br />

dorsaler Aufrichtung<br />

mit dem Universal<br />

Spinal System (USS)<br />

Instrumentarium<br />

bewegliche Segmente zu erhalten, so<br />

warten wir mit <strong>der</strong> Operationsindikation,<br />

bis entwe<strong>der</strong> die Sitzbalance verloren<br />

geht, Schmerzen auftreten (meist<br />

durch Aufliegen <strong>der</strong> Rippen am Beckenkamm)<br />

o<strong>der</strong> die Lungenfunktion beeinträchtigt<br />

ist. Dieser Gr<strong>und</strong>satz gilt natürlich<br />

auch für gehfähige Patienten, da eine<br />

Fusion bis zum Sakrum bei neurologisch<br />

beeinträchtigten Patienten mit hoher<br />

Wahrscheinlichkeit zum Verlust <strong>der</strong><br />

Gehfähigkeit führt.<br />

In <strong>der</strong> Regel sollte ein kombiniertes<br />

Vorgehen von ventral <strong>und</strong> von dorsal<br />

vorgesehen werden. Bei <strong>der</strong> ventralen<br />

Ausräumung <strong>der</strong> Bandscheiben ist zu<br />

beachten, dass hier oft Segmentationsstörungen<br />

vorliegen, welche eventuell<br />

osteotomiert werden müssen. Die dorsale<br />

Instrumentierung ist technisch sehr<br />

anspruchsvoll. Da die Wirbelbögen fehlen,<br />

ist eine segmentale Verdrahtung<br />

nicht möglich. Auch Haken können<br />

nicht verankert werden. Oft sind auch<br />

die Pedikel fehlgebildet, sodass auch die<br />

Verankerung von Schrauben sehr<br />

schwierig ist. Dennoch kann mit <strong>der</strong><br />

Verwendung von Schrauben die beste<br />

Fixation erreicht werden.<br />

Therapie <strong>der</strong> Kyphose<br />

Die operative Behandlung <strong>der</strong> durch den<br />

verän<strong>der</strong>ten Muskelzug bedingten Kyphose<br />

ist ebenso als äußerst schwierig<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 41


42<br />

einzuschätzen. Eine Korrektur gelingt<br />

nur durch Kyphektomie mit keilförmiger<br />

Resektion mehrerer Wirbelkörper.<br />

Dabei muss das Rückenmark ausgeschält<br />

<strong>und</strong> von <strong>der</strong> kyphotischen <strong>Wirbelsäule</strong><br />

abgehoben werden. Auch wenn<br />

keine neurologische Restfunktion nachweisbar<br />

ist, so sollte man dennoch das<br />

Rückenmark nicht einfach ligieren, da<br />

<strong>der</strong> Duralsack meist noch eine gewisse<br />

Drainagefunktion aufweist <strong>und</strong> die Gefahr<br />

besteht, dass es zur Druckerhöhung<br />

kommt. Zusammen mit <strong>der</strong> häufig vorhandenen<br />

Arnold-Chiari-Missbildung<br />

kann es zu schweren Komplikationen<br />

kommen.<br />

Mit <strong>der</strong> Keilresektion kann die Kyphose<br />

aufgerichtet werden [14, 16, 21, 31,<br />

32]. Die Fixation erfolgt am besten mit<br />

Schrauben <strong>und</strong> Platten, da dorsal kaum<br />

Platz ist für größere Implantate. Eine<br />

Korrektur <strong>der</strong> Kyphose um 50% bis 60%<br />

ist durchaus möglich. Da allerdings <strong>der</strong><br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Tabelle 4<br />

Zusammenfassende Empfehlungen für die operative Behandlung von<br />

kongenitalen Skoliosen<br />

Anomalie Therapie<br />

Keilwirbel, Blockwirbel, In <strong>der</strong> Regel keine Behandlung<br />

Schmetterlingswirbel<br />

Einfacher seitlicher Halbwirbel In <strong>der</strong> Regel keine Behandlung; lokale vor<strong>der</strong>e <strong>und</strong> hintere<br />

mittlere, <strong>unter</strong>e BWS o<strong>der</strong> LWS Spondylodese nur, wenn eindeutige Progredienz vorhanden;<br />

bei fortgeschrittener Progredienz (Skoliosewinkel >50°) evtl.<br />

auch Hemivertebrektomie<br />

Einfacher dorsaler o<strong>der</strong> Hemivertebrektomie von (ventral <strong>und</strong>) dorsal<br />

dorsolateraler Halbwirbel<br />

mittlere, <strong>unter</strong>e BWS o<strong>der</strong> LWS<br />

Einfacher Halbwirbel HWS, Hemivertebrektomie von ventral <strong>und</strong> dorsal<br />

obere BWS o<strong>der</strong> lumbosakral<br />

Doppelte gegenseitige In <strong>der</strong> Regel keine Behandlung<br />

Halbwirbel, ganze <strong>Wirbelsäule</strong><br />

Doppelte gleichseitige Hemivertebrektomie von ventral <strong>und</strong> dorsal<br />

Halbwirbel, ganze <strong>Wirbelsäule</strong><br />

Einseitige Spange Osteotomie von ventral, evtl. Keilosteotomie, dorsale<br />

Instrumentierung mit evtl. Korrektur<br />

Einseitige Spange <strong>und</strong> Hemivertebrektomie <strong>und</strong> Osteotomie von ventral, dorsale<br />

gegenseitige Halbwirbel Instrumentierung mit evtl. Korrektur. Die Korrektur erfolgt evtl.<br />

mit dem Halo. Dieser wird nach dem „anterior release“ angelegt,<br />

es wird über mehrere Wochen distrahiert, anschließend erfolgt<br />

Fixation in korrigierter Stellung mit dorsaler Instrumentierung<br />

Spangenbildung mit Synostose Durchtrennung <strong>der</strong> Synostosen, stufenweise Dehnung mit<br />

<strong>der</strong> Rippen Distraktionsinstrumentarium (Campbellsches Verfahren)<br />

Intraspinale Missbildung Neurochirurgische Resektion<br />

Muskelzug nicht verän<strong>der</strong>t werden<br />

kann, ist ein späterer Korrekturverlust<br />

nicht ganz auszuschließen. Für den<br />

Hautverschluss kann eine plastische<br />

Deckung nötig werden, z. B. durch einen<br />

Glutaeus-medius-Lappen.<br />

Therapie <strong>der</strong> kongenitalen Anomalien<br />

Skoliosen <strong>und</strong> Kyphosen aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

kongenitalen Missbildungen werden<br />

nach den bereits beschriebenen Gr<strong>und</strong>sätzen<br />

behandelt. Am dringendsten ist<br />

die Operationsindikation bei <strong>der</strong> einseitigen<br />

Spangenbildung, d. h. Segmentationsstörung<br />

(„unilateral unsegmented<br />

bar“) zu stellen. Eine solche Fehlbildung<br />

führt zu einer sehr stark progredienten<br />

Skoliose mit massiver Rotation. Dies<br />

muss frühzeitig angegangen werden. Für<br />

eine Korrektur müssen die unsegmentierten<br />

Elemente osteotomiert werden.<br />

Es muss stets von ventral <strong>und</strong> von dorsal<br />

zugegangen werden, wobei in <strong>der</strong> Regel<br />

nur von dorsal instrumentiert werden<br />

muss. Halb- <strong>und</strong> Keilwirbel sind bezüglich<br />

<strong>der</strong> Progredienz weniger maligne.<br />

Gelegentlich muss aber die Indikation<br />

zu einer Hemivertebrektomie gestellt<br />

werden.<br />

Komplikationsmöglichkeiten<br />

Die gefürchtetste Komplikation <strong>der</strong> operativen<br />

Behandlung ist die Paraplegie.<br />

Diese schwere Komplikation tritt kaum<br />

je durch direkte Verletzung des Myelons<br />

auf. Am gefährlichsten ist die Distraktion<br />

[37]. Besteht eine intraspinale Anomalie<br />

(was in ca. 16% <strong>der</strong> Fälle vorkommt;<br />

[3]), so kann ein Zug auf das<br />

Rückenmark entstehen, was zu einer Parese<br />

o<strong>der</strong> Plegie führen kann. Auch bei<br />

uns sind in <strong>der</strong> Anfangszeit <strong>der</strong> operativen<br />

Behandlung Ende <strong>der</strong> 1960er Jahre<br />

2 vollständige Paraplegien nach Operation<br />

mit dem Harrington-Distraktionsstab<br />

aufgetreten. Inzwischen überblicken<br />

wir ca. 143 operativ behandelte<br />

kongenitale Skoliosen <strong>und</strong> Kyphosen<br />

(Erfassung seit 1978). Dabei ist es zu keiner<br />

weiteren irreversiblen Schädigung<br />

gekommen, jedoch zu 2 Läsionen, die<br />

sich nur teilweise erholt haben. Eine weitere<br />

passagere Paraparese trat auf infolge<br />

Kompression <strong>der</strong> Adamkiewiczschen<br />

Arterie. Das intraoperative Monitoring<br />

wies auf diese Läsion hin. Nach Entfernung<br />

des Kompressionsstabes kam es<br />

bereits intraoperativ wie<strong>der</strong> zur Teilerholung,<br />

nach <strong>der</strong> Operation kam es zur<br />

vollen Remission.<br />

Beson<strong>der</strong>s gefährlich sind kyphotische<br />

Deformitäten. Das Rückenmark<br />

weist am Apex <strong>der</strong> Kyphose oft eine vermin<strong>der</strong>te<br />

Durchblutung auf. Durch das<br />

durch das operative Trauma bedingte<br />

Ödem kann die Gefäßversorgung die<br />

kritische Schwelle <strong>unter</strong>schreiten. Heutzutage<br />

sollten die Eingriffe <strong>unter</strong> Überwachung<br />

von sensiblen <strong>und</strong> motorischen<br />

evozierten Potentialen durchgeführt<br />

werden. Bei kleinen Kin<strong>der</strong>n ist dies beson<strong>der</strong>s<br />

schwierig, da wenig Erfahrungswerte<br />

existieren.<br />

Gefährlich sind auch Vertebrektomien<br />

an <strong>der</strong> Halswirbelsäule, da hier<br />

nicht nur die Verletzung des Rückenmarks,<br />

son<strong>der</strong>n auch diejenige <strong>der</strong><br />

A. vertebralis vermieden werden muss.<br />

Gefäßkomplikationen sind aber in<br />

jedem Abschnitt <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> zu befürchten.<br />

Bei Segmentationsstörungen


fehlt die Beweglichkeit in den entsprechenden<br />

Segmenten. Dies führt zur Verklebung<br />

<strong>der</strong> epiduralen Gefäße mit dem<br />

Knochen. Auch ventral können Gefäße<br />

an den Wirbelkörpern adhärent sein.<br />

Die Präparation <strong>und</strong> Resektion des Knochens<br />

kann äußerst schwierig sein, da<br />

sich die Gefäße nicht ablösen lassen <strong>und</strong><br />

die Blutungen durch die aufgerissenen<br />

Gefäße kaum stillbar sind. In einzelnen<br />

Fällen haben wir kreislaufbedrohende<br />

Blutungen erlebt, einmal kam es gar<br />

zum Tod durch Kreislaufkollaps.<br />

Eine weitere Komplikation ist nach<br />

Durchführung von dorsalen Spondylodesen<br />

bei sehr jungen Patienten das sog.<br />

Crankshaft-Phänomen [35]. Dar<strong>unter</strong><br />

versteht man die Progression <strong>der</strong> Skoliose<br />

inkl. Rotation wegen des Weiterwachsens<br />

<strong>der</strong> Wirbelkörper ventral. Bei jungen<br />

Patienten sollte deshalb nicht eine<br />

alleinige dorsale Spondylodese vorgenommen<br />

werden, son<strong>der</strong>n die Fusion<br />

muss stets kombiniert von ventral <strong>und</strong><br />

dorsal erfolgen, auch wenn nur ein Segment<br />

spondylodesiert wird.<br />

Bei Meningomyelozelen ist das gehäufte<br />

Vorkommen <strong>der</strong> Latexallergie bekannt<br />

[7, 10, 24, 25]. Deshalb sollten latexfreie<br />

Handschuhe <strong>und</strong> Instrumente<br />

verwendet werden. Zu beachten sind<br />

auch stets die Hautkomplikationen wegen<br />

<strong>der</strong> narbig verän<strong>der</strong>ten Haut nach<br />

Verschluss <strong>der</strong> Myelomeningozele <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> fehlenden Sensibilität. Beson<strong>der</strong>e<br />

Beachtung verdient auch das „tetheredcord-syndrome“.<br />

Wird eine Distraktionswirkung<br />

während <strong>der</strong> Operation<br />

bei vorhandenem „tethered-cord-syndrome“<br />

ausgeübt, so kann es zur neurologischen<br />

Verschlechterung kommen<br />

[17]. Auch an<strong>der</strong>e intraspinale Anomalien<br />

wie die Syringomyelie <strong>und</strong> die<br />

Chiari-Malformation sind bei Myelomeningozelen<br />

häufig [30].<br />

Zusammenfassende Empfehlungen<br />

für die operative Behandlung von kongenitalen<br />

Skoliosen sind in Tabelle 4 zusammengestellt.<br />

Diese Prinzipien sind<br />

sehr stark vereinfacht. Im Einzelfall sind<br />

viele Faktoren wie Ausmaß <strong>der</strong> Verkrümmung,<br />

Progredienz, sagittales Profil,<br />

Rotation, Ausprägung <strong>der</strong> Gegenkrümmung,Kompensationsmöglichkeiten,<br />

Lot etc. zu berücksichtigen. Die Indikation<br />

zur richtigen Therapie <strong>und</strong> die<br />

Wahl des besten Zeitpunktes erfor<strong>der</strong>t<br />

viel Erfahrung.<br />

Literatur<br />

1. Bethem D,Winter RB, Lutter L (1980)<br />

Disor<strong>der</strong>s of the spine in diastrophic dwarfism.<br />

J Bone Joint Surg Am 62: 529–536<br />

2. Bethem D,Winter RB, Lutter L, Moe JH,<br />

Bradford DS, Lonstein JE, Langer LO (1981)<br />

Spinal disor<strong>der</strong>s of dwarfism. Review of the<br />

literature and report of eighty cases.<br />

J Bone Joint Surg Am 63: 1412–1425<br />

3. Bradford DS, Heihoff KB, Cohe M (1991)<br />

Intraspinal abnormalities and congenital spine<br />

deformities: A radiographic and MRI study.<br />

J Ped Orthop 11: 36–41<br />

4. Campbell RM, Smith MD, Mayes TE et al. (2001)<br />

The treatment of thoracic insufficiency syndrome<br />

associated with fused ribs and scoliosis.<br />

J Bone Joint Surg Am 83: (in press)<br />

5. Carstens C, Paul K, Niethard FU, Pfeil J (1991)<br />

Effect of scoliosis surgery on pulmonary<br />

function in patients with myelomeningocele.<br />

J Ped Orthop 11: 459–464<br />

6. Connor JM, Conner AN, Connor RA,Tolmie JL,<br />

Yeung B, Goudie D (1987) Genetic aspects of<br />

early childhood scoliosis. Am J Med Genet<br />

27: 419–24<br />

7. D'Astous J, Drouin MA, Rhine E (1992) Intraoperative<br />

anaphylaxis secondary to allergy to<br />

latex in children who have spina bifida.<br />

Report of two cases. J Bone Joint Surg Am<br />

74: 1084–1086<br />

8. Dickson RA, Stamper P, Sharp AM, Harker P<br />

(1980) School screening for scoliosis: cohort<br />

study of clinical course. BMJ 281: 265–267<br />

9. Drvaric DM, Ru<strong>der</strong>man RJ, Conrad RW,<br />

Grossman H,Webster GD, Schmitt EW (1987)<br />

Congenital scoliosis and urinary tract abnormalities:<br />

are intravenous pyelograms necessary?<br />

J Pediatr Orthop 7: 441–443<br />

10. Emans JB (1992) Allergy to Latex in patients<br />

who have myelodysplasia. Current concepts<br />

review. J Bone Joint Surg Am 74: 1103–1109<br />

11. Hell-Vocke AK, Campbell RM (2001) Growth of<br />

the thoracic spine in congenital scoliosis after<br />

expansion thoracoplasty. 20th meeting of the<br />

European Pediatric Orthopedic Society,<br />

Monpellier, 06.04.2001<br />

12. Jarcho S, Levin PM (1938) Hereditary malformations<br />

of the vertebral bodies. Bull John Hopkins<br />

Hosp 62: 215–222<br />

13. Lawhon SM, Mac Ewen GD, Bunnell WP (1986)<br />

Orthopaedic aspects of the VATER association.<br />

J Bone Joint Surg Am 68: 424–429<br />

14. Lintner SA, Lindseth RE (1994) Kyphotic<br />

deformity in patients who have a myelomeningocele.<br />

Operative treatment and long-term<br />

follow-up. J Bone Joint Surg Am 76:1301–1307<br />

15. Lutter LD (1990) Larsen Syndrome: Clinical<br />

features and treatment. A report of two cases.<br />

J Ped Orthop 10: 270–274<br />

16. Martin J, Kumar SJ, Guille JT, Ger D, Gibbs M<br />

(1994) Congenital kyphosis in myelomeningocele:<br />

results following operative and nonoperative<br />

treatment. J Pediatr Orthop 14: 323–328<br />

17. McEnery G, Borzyskowski M, Cox TC, Neville BG<br />

(1992) The spinal cord in neurologically stable<br />

spina bifida: a clinical and MRI study.<br />

Dev Med Child Neurol 34: 342–347<br />

18. McMaster M, Ohtsuka K (1982) The natural<br />

history of congenital scoliosis.<br />

J Bone Joint Surg Am 64: 1128–1147<br />

19. McMaster MJ (1984) Occult intraspinal<br />

anomalities and congenital scoliosis.<br />

J Bone Joint Surg Am 66: 588–601<br />

20. McMaster MJ, Carey RPL (1985) The lumbar<br />

theco-peritoneal shunt syndrome and its<br />

surgical management. J Bone Joint Surg Br<br />

67: 198–203<br />

21. McMaster MJ (1988) The long-term results<br />

of kyphectomy and spinal stabilization in<br />

children with myelomeningocele. Spine<br />

13: 417–424<br />

22. McMaster MJ (1998) Congenital scoliosis<br />

caused by a unilateral failure of vertebral<br />

segmentation with contralateral hemivertebrae.<br />

Spine 23: 998–1005<br />

23. McMaster MJ, Singh H (1999) Natural history<br />

of congenital kyphosis and kyphoscoliosis.<br />

A study of one h<strong>und</strong>red and twelve patients.<br />

J Bone Joint Surg Am 81: 1367–1383<br />

24. Meehan PL, Galina MP, Daftari T (1992) Intraoperative<br />

anaphylaxis due to allergy to latex.<br />

Report of two cases. J Bone Joint Surg Am<br />

74: 1087–1089<br />

25. Meeropol E, Frost J, Pugh L, Roberts J, Ogden JA<br />

(1993) Latex allergy in children with myelodysplasia:<br />

A survey of Shriners Hospitals.<br />

J Ped Orthop 13: 1–4<br />

26. Muller EB, Nordwall A (1992) Prevalence of<br />

scoliosis in children with myelomeningocele in<br />

western Sweden. Spine 17: 1097–1102<br />

27. Poussa M, Merikanto J, Ryoppy S, Marttinen E,<br />

Kaitila I (1991) The spine in diastrophic dysplasia.<br />

Spine 16: 881–887<br />

28. Prahinski JR, Polly DW, McHale KA, Ellenbogen<br />

RG (2000) Occult intraspinal anomalies in congenital<br />

scoliosis. J Pediatr Orthop 20: 59–63<br />

29. Rivard CH, Narbaitz R, Uithoff HK (1979)<br />

Congenital vertebral malformations.<br />

Orthop Rev 8: 135–139<br />

30. Samuelsson L, Bergstrom K,Thuomas KA,<br />

Hemmingsson A,Wallensten R (1987)<br />

MR imaging of syringohydromyelia and Chiari<br />

malformations in myelomeningocele patients<br />

with scoliosis. AJNR Am J Neuroradiol<br />

8: 539–546<br />

31. Sharrard WJW (1968) Spinal osteotomy for<br />

congenital kyphosis in myelomeningocele.<br />

J Bone Joint Surg Br 50: 466–471<br />

32. Sharrard WJW, Drennan JC (1972) Osteotomyexcision<br />

of the spine for lumbar kyphosis in<br />

ol<strong>der</strong> children with myelomeningocele.<br />

J Bone Joint Surg Br 54: 50–60<br />

33. Sklepek J,Vlach O (1990) Spondylothoracic<br />

dysplasia. Acta Chir Orthop Traumatol Cech<br />

57: 313–317<br />

34. Theiss SM, Smith MD,Winter RB (1997)<br />

The long-term follow-up of patients with<br />

Klippel-Feil syndrome and congenital scoliosis.<br />

Spine 22: 1219–1222<br />

35. Terek RM,Wehner J, Lubicky JP (1991) Crankshaft<br />

phenomenon in congenital scoliosis:<br />

a preliminary report. J Ped Orthop 11: 527–532<br />

36. Tolo VT (1990) Spinal deformity in short-stature<br />

syndromes. Instr Course Lect 39: 399–405<br />

37. Winter RB (1983) Congenital deformities of the<br />

spine.Thieme & Stratton, New York<br />

38. Winter RB, Moe JH, Lonstein JE (1984) The<br />

incidence of Klippel-Feil syndrome in patients<br />

with congenital scoliosis and kyphosis.<br />

Spine 9: 363–366<br />

39. Yong-Hing K, Kalamchi A, MacEwen GD (1979)<br />

Cervical spine abnormalities in neurofibromatosis.<br />

J Bone Joint Surg Am 61: 695–699<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 43


44<br />

Orthopäde<br />

2002 · 31:44-50 © Springer-Verlag 2002<br />

Zusammenfassung<br />

Die intraspinalen Missbildungen <strong>und</strong> das<br />

damit verb<strong>und</strong>ene „tethered cord“ (Anheftung<br />

des Rückenmarkes) haben gerade in<br />

den letzten Jahren durch die verbesserte<br />

Bildgebung mittels Kernspintomographie<br />

(MRT) an Bedeutung gewonnen. Orthopädische<br />

Deformitäten wie z. B. Klumpfüße,<br />

Pes equinus, Skoliose, Kyphose, Lordose,<br />

Hüftdislokation o<strong>der</strong> Beinlängendifferenzen,<br />

die früher rein orthopädisch behandelt wurden,<br />

werden nun zunehmend zunächst auf<br />

kongenitale Anomalien <strong>unter</strong>sucht. Je nach<br />

Ergebnis erfolgt zuerst ein neurochirurgischer<br />

Eingriff in Form eines Untetherings<br />

o<strong>der</strong> Myelolyse.<br />

Ziel dieser Arbeit ist es, die intraspinalen<br />

Missbildungen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Bedeutung im<br />

Hinblick auf die Orthopädie genauer zu definieren.<br />

Ferner werden die Indikationen zur<br />

Operation, operative Ziele, Diagnostik <strong>und</strong><br />

Therapie <strong>und</strong> Follow-up diskutiert. Anhand<br />

von Beispielen werden unsere Ergebnisse<br />

gezeigt <strong>und</strong> die Bedeutung interdisziplinärer<br />

Zusammenarbeit herausgestellt.<br />

Schlüsselwörter<br />

Intraspinale Missbildung ·<br />

Tethered Spinal Cord · Skoliose · Untethering<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

H. Bächli 1 · M.Wasner 1 · F. Hefti 2<br />

1 Neurochirurgische Universitätsklinik Basel<br />

2 Kin<strong>der</strong>orthopädische Universitätsklinik, Universitätskin<strong>der</strong>spital bei<strong>der</strong> Basel<br />

Intraspinale Missbildungen –<br />

Tethered Cord Syndrom<br />

Intraspinale Missbildungen wurden<br />

früher als rein neurochirurgisches Problem<br />

angesehen. Die Diagnostik mittels<br />

Myelographie war sehr invasiv <strong>und</strong> wurde<br />

zudem bei Kin<strong>der</strong>n nur ungern angewendet.<br />

Die sich entwickelnden neurologischen<br />

Störungen wurden als unvermeidlich<br />

hingenommen. Äußerlich<br />

sichtbare Defekte wurden aus kosmetischen<br />

Gründen oberflächlich verschlossen,<br />

was z. T. auch lei<strong>der</strong> heute noch <strong>der</strong><br />

Fall ist, orthopädische Deformitäten<br />

korrigiert <strong>und</strong> Blasenstörungen operiert.<br />

Jede Disziplin betrachtete nur ihr<br />

eigenes Krankheitsbild. Mit verbesserter<br />

Bildgebung mittels Computer- <strong>und</strong><br />

Kernspintomographie haben sich nun<br />

völlig neue Horizonte erschlossen <strong>und</strong><br />

wurden Verbindungen zu vorher getrennt<br />

betrachteten Krankheitsbil<strong>der</strong>n<br />

gezogen. Einzelne Steine eines Mosaiks<br />

formten sich plötzlich zu einem gesamten<br />

Bild.<br />

Intraspinale Missbildungen<br />

Definitionsgemäß handelt es sich um<br />

angeborene Missbildungen.<br />

Hierzu gehören:<br />

◗ Meningozele<br />

◗ Myelomeningozele (MMC)<br />

◗ Spina bifida occulta:<br />

– Lipomyelomeningozele (LMMC)<br />

– Diastematomyelie<br />

– Anteriore Meningozele<br />

– Kongenitaler Dermalsinus<br />

– Hypertrophes (pathologisch<br />

verdicktes) Filum terminale<br />

◗ Anorektale <strong>und</strong> urogenitale Anomalien<br />

◗ Kongenitale Zysten: neurenterisch,<br />

arachnoidal, Dermoid<br />

◗ Syringo- <strong>und</strong> Hydromyelie<br />

Tethered Spinal Cord (TSC)<br />

Der Begriff des angehefteten Rückenmarkes,<br />

sog. „tethered spinal cord“<br />

(TSC) wurde erstmals in den Jahren 1891<br />

verwendet. In den folgenden Jahren fand<br />

man heraus, dass das TSC zu einer mechanischen<br />

S treckung des Rückenmarks,<br />

Distorsion <strong>und</strong> Ischämie bei täglichen<br />

Aktivitäten, <strong>Wachstum</strong> <strong>und</strong> Entwicklung<br />

führt. Je nach Dauer <strong>und</strong><br />

Schweregrad <strong>der</strong> Schädigung sind die<br />

entstehenden Defizite bzw. Störungen<br />

reversibel o<strong>der</strong> irreversibel. Beim TSC<br />

werden häufig 2 Begriffe gleichgesetzt,<br />

das „Tight filum terminale“ <strong>und</strong> das<br />

Tight-filum-terminale-Syndrom. Diese<br />

Begriffe sind jedoch nur eine mögliche<br />

Ursache <strong>der</strong> Anheftung.<br />

Das „Tight filum terminale“ kann in<br />

zwei Gruppen <strong>unter</strong>teilt werden. Die erste<br />

Gruppe wird nur klinisch auffällig<br />

durch Inkontinenz, die Bildgebung zeigt<br />

keinen pathologischen Bef<strong>und</strong>. Die<br />

zweite Gruppe, auch als Tight-filum-terminale-Syndrom<br />

bezeichnet, beinhaltet<br />

einen tief stehenden Konus (86% <strong>unter</strong>halb<br />

LW2), ein pathologisch verdicktes<br />

Dr. H. Bächli<br />

Neurochirurgische Universitätsklinik <strong>und</strong><br />

Universitätskin<strong>der</strong>spital bei<strong>der</strong> Basel,<br />

Spitalstr. 21, 4031 Basel, Schweiz


Orthopäde<br />

2002 · 31:44-50 © Springer-Verlag 2002<br />

H. Bächli · M.Wasner · F. Hefti<br />

Intraspinal malformations,<br />

Tethered Cord Syndrome<br />

Abstract<br />

The importance of intraspinal malformations<br />

associated with “tethered cord”(attachment<br />

of the spinal cord) has increased in recent<br />

years, because of better imaging methods<br />

using nuclear magnet resonance (MRI).<br />

Orthopedic malformations such as club feet,<br />

equinus deformity, lordosis, hip dislocation,<br />

kyphosis, and differences of leg lengths,<br />

which up till now have been mostly treated<br />

by orthopedic surgeons, are usually first<br />

examined for congenital anomalies.<br />

According to the results of this examination,<br />

a neurosurgical operation for untethering is<br />

performed.The aim of our study is to define<br />

spinal malformations more exactly and to<br />

elucidate their importance for orthopedics.<br />

In addition, indications for operating, operative<br />

aims, diagnosis, therapy and follow-up<br />

are discussed. Examples of our results are<br />

shown, and the significance for interdisciplinary<br />

cooperation is emphasized.<br />

Keywords<br />

Intraspinal Malformation ·<br />

Tethered Spinal Cord · Scoliosis · Untethering<br />

Tabelle 1<br />

Primäre <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>äre Ursachen des Tethered Spinal Cord<br />

Primäre Ursachen Sek<strong>und</strong>äre Ursachen<br />

Myelomeningozele (MMC) Arachnoiditis<br />

Spinale Lipome Dermoide<br />

Diastematomyelie Vernarbung bei MMC-Verschluss<br />

Anteriore Meningozele Trauma<br />

Dermalsinus<br />

Tight filum terminale<br />

Filum terminale (>2 mm; 29% Fibrolipome)<br />

<strong>und</strong> keinen an<strong>der</strong>en Gr<strong>und</strong> für<br />

ein Tethering. Bei dem TSC <strong>unter</strong>scheidet<br />

man zwischen primären <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ären<br />

Ursachen (Tabelle 1).<br />

Klinische Erscheinungen<br />

Kutane Verän<strong>der</strong>ungen<br />

Diese können in Form einer atypischen<br />

Behaarung (Hypertrichose; Abb. 1),<br />

Hautgrübchen, Dermalsinus (Abb. 2)<br />

auftreten. Aber auch Hämangiome<br />

(Abb. 3), Naevi, Meningozelen, Lipome<br />

(Abb. 4) <strong>unter</strong>schiedlichen Ausprägungsgrades<br />

gehören hierzu.Ausnahme<br />

bildet <strong>der</strong> Pilonidalsinus, <strong>der</strong> nur oberflächig<br />

vorkommt ohne intraspinalen<br />

Bezug sowie präsakrale Teratome. Vor<br />

allem lumbale Hautverän<strong>der</strong>ungen in<br />

<strong>der</strong> Mittellinie sollten bezüglich intraspinaler<br />

Pathologien abgeklärt werden.<br />

Neuroorthopädische Deformitäten<br />

Hierzu gehören Gangstörungen, Hypo-<br />

Hyperreflexie, Paresen, sensible Defizite,<br />

Beinlängendifferenz, Klumpfüße, Pes<br />

equinus, Skoliose, Skoliolordose, Kyphose,<br />

Lordose o<strong>der</strong> Hüftdislokationen, um<br />

nur einige zu nennen.<br />

Urologische Dysfunktionen<br />

Fehlende Blasenkontrolle, Enuresis, rezidivierende<br />

Harnwegsinfekte, Stressinkontinenz<br />

können verdächtig sein auf<br />

ein TSC.<br />

Skoliose <strong>und</strong> TSC<br />

Beson<strong>der</strong>s von orthopädischem Interesse<br />

ist die Rolle des TSC in <strong>der</strong> Entstehung<br />

<strong>der</strong> Skoliose [3]. Mc Lone [9] hat<br />

an operierten MMC-Kin<strong>der</strong>n festge-<br />

stellt, dass 60% sich nach einem Untethering<br />

verbesserten o<strong>der</strong> stabilisierten,<br />

40% waren jedoch weiterhin progredient.<br />

Pierz et al. [10] konnte aufzeigen,<br />

je größer <strong>der</strong> Skoliosewinkel<br />

(>40°), desto geringer die Verbesserungschance.<br />

Die Frage inwieweit die<br />

Abb. 1 � Atypische Behaarung bei<br />

Spina bifida occulta (Hypertrichose)<br />

Abb. 2 � Kutane Verän<strong>der</strong>ungen mit einer<br />

Kombination aus Lipom, Naevus, Dermalsinus<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 45


46<br />

Abb. 3 � Typische mittellinige, lumbale<br />

Hämangiome als Zeichen <strong>der</strong> geschlossenen<br />

spinalen Malformation<br />

Skolioseprogredienz im Zusammenhang<br />

steht mit einer irreversiblen Konus-<br />

bzw. Rückenmarksschädigung<br />

durch verspätetes Untethering kann<br />

zum heutigen Zeitpunkt nicht sicher beantwortet<br />

werden. Es ist jedoch bekannt,<br />

dass die Skolioseentwicklung bei gleichzeitigen<br />

Segmentationsanomalien o<strong>der</strong><br />

Hemivertebrae meist unbeeinflussbar<br />

ist. Nicht abzustreiten ist die Tatsache,<br />

dass vor Aufrichtung einer Skoliose eine<br />

kernspintomographische Abklärung<br />

zum Ausschluss intraspinaler Anomalien<br />

stattfinden soll [4, 14].<br />

Diagnostik TSC<br />

Konventionelles Röntgen<br />

Kongenitale spinale knöcherne Deformitäten<br />

sind bei <strong>der</strong> konventionellen<br />

Röntgenbildgebung in <strong>der</strong> Regel gut zu<br />

erkennen. Prahinski et al. [12] stellte bei<br />

9 von 30 Patienten Anomalien im Spinalkanal<br />

fest <strong>und</strong> nur 3 davon waren im<br />

konventionellen Röntgen <strong>und</strong> klinischer<br />

Untersuchung auffällig.<br />

Ultraschall<br />

Dient als Screeningverfahren zur Erfassung<br />

spinaler Missbildungen speziell bei<br />

Neugeborenen.Vorteil: wenig invasiv [1,<br />

2, 13]. Bei Bestätigung weitere Evaluation<br />

mittels MRT.<br />

MRT<br />

Genaue Darstellung anatomischer<br />

Strukturen mit intra- <strong>und</strong> extraduraler<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Komponente sowie Lage, Höhe <strong>und</strong><br />

Ausdehnung <strong>der</strong> Läsion <strong>und</strong> Beziehung<br />

zu funktionellem Gewebe. Hat die traditionelle<br />

Myelographie inkl. Myelo-CT<br />

bis auf wenige Ausnahmen vollständig<br />

abgelöst.Vorteil: wenig invasiv, geringe<br />

Strahlenbelastung. Gebräuchlich sind<br />

T1- <strong>und</strong> T2-gewichtete Aufnahmen<br />

axial <strong>und</strong> sagittal sowie koronare<br />

Schichtung zur Beurteilung <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>.<br />

SSEP<br />

Funktionelle Prüfung des Rückenmarks<br />

durch Analyse spinaler <strong>und</strong> kortikaler<br />

somatosensorisch evozierter Potenziale.<br />

Dient zur Bestimmung prä-, o<strong>der</strong> postoperativer<br />

Ausfälle <strong>und</strong> Verlaufskontrollen<br />

[6].Wertigkeit intraoperativ abgeleiteter<br />

SSEP noch nicht vollständig geklärt.<br />

Urodynamik<br />

Messverfahren zur Beurteilung <strong>der</strong> Blasen-<br />

<strong>und</strong> Mastdarmfunktion mit Hilfe<br />

von Harnflussmessung (Uroflowmetrie),<br />

Zystomanometrie (Messung intravesikaler<br />

<strong>und</strong> intraabdomineller<br />

Drücke während <strong>der</strong> Speicher- <strong>und</strong><br />

Entleerungsphase), Urethradruckprofil<br />

(Sphinkterotomie), Beckenboden- <strong>und</strong><br />

Spinkter-EMG. Die Urodynamik wird zu<br />

Diagnostik <strong>und</strong> Follow-up beim TSC<br />

eingesetzt, sodass Störungen frühzeitig<br />

identifiziert werden können bevor eine<br />

klinische Manifestation eingetreten ist<br />

[5, 11, 15].<br />

Abb. 5 � Rechts konvexe Skoliose im<br />

Alter von einem Jahr mit Halbwirbel<br />

links auf Höhe BW3 <strong>und</strong> LW4, rechts<br />

auf Höhe BW8 <strong>und</strong> LW3 sowie Spangenbildung<br />

zwischen LW1 <strong>und</strong> LW2<br />

Abb. 4 � Lipomyelomeningozele<br />

mit monströsem subkutanem Lipom<br />

Operationsindikation <strong>und</strong> TSC<br />

Asymptomatisch<br />

Bei Säuglingen <strong>und</strong> Kin<strong>der</strong>n, die völlig<br />

symptomfrei sind, wird ein operativer<br />

Eingriff kontrovers diskutiert. Für ein<br />

prophylaktisches Vorgehen spricht die<br />

Tatsache, dass einmal aufgetretene Defizite<br />

<strong>unter</strong> Umständen irreversibel sein<br />

können [7, 9].Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite sind<br />

die Fallzahlen in <strong>der</strong> Literatur zu klein<br />

<strong>und</strong> die Gruppen zu heterogen, um definitiv<br />

eine Antwort geben zu können.<br />

Symptomatisch<br />

Die Indikation zur Operation ist, insbeson<strong>der</strong>e<br />

bei progredienten Ausfällen,<br />

klar gegeben. Es gilt urologische <strong>und</strong>/


Abb. 6 � Progredienz rechts konvexer Skoliose<br />

im Alter von 5 Jahren mit einem Cobb-Winkel<br />

von 35°<br />

o<strong>der</strong> neuroorthopädische Dysfunktionen<br />

zu verhin<strong>der</strong>n, zum an<strong>der</strong>en die Stabilisierung<br />

<strong>und</strong>/o<strong>der</strong> Regredienz von<br />

Defiziten herzustellen. Kontroversen bestehen<br />

über den genauen Operationszeitpunkt<br />

[8].<br />

Operative Ziele<br />

1. Verhin<strong>der</strong>ung urologischer bzw. neuroorthopädischer<br />

Dysfunktionen.<br />

2. Stabilisierung <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> Regredienz<br />

von Defiziten.<br />

Therapie des TSC<br />

Als Untethering bezeichnet man die Lösung<br />

des angehefteten Rückenmarks.<br />

Im einfachsten Fall ist dies die Durchschneidung<br />

des Filum terminale, welches<br />

intraoperativ wie ein <strong>unter</strong> Zug<br />

stehendes Gummiband nach kranial zurückschnellt.<br />

Schwieriger hingegen ist<br />

z. B. die Myelolyse bei einer Lipomyelomeningozele<br />

(LMMC). Bei den intraspianlen<br />

Lipomen liegen die Nerven typischerweise<br />

im Lipom. Eine vollständige<br />

Entfernung <strong>der</strong> Fettgeschwulst ist<br />

somit nicht möglich. Eine Größenreduktion<br />

wird in <strong>der</strong> Regel durch den<br />

CO2-Laser erreicht <strong>unter</strong> Schonung<br />

neuronaler Strukturen. Mit Hilfe intraoperativ<br />

abgeleiteter evozierter Potenziale<br />

wird versucht, möglichst schonend<br />

vorzugehen.<br />

Bei <strong>der</strong> Diastematomyelie Typ I, bei<br />

<strong>der</strong> ein knöcherner Sporn das Rückemark<br />

in zwei Hemicords teilt, wird eine<br />

Myelolyse durch Spornentfernung <strong>und</strong><br />

Formung eines gemeinsamen Duralschlauches<br />

durchgeführt.<br />

Wichtigstes chirurgisches Prinzip:<br />

Identifizierung normaler Strukturen<br />

<strong>und</strong> Präparation vom Ges<strong>und</strong>en ins<br />

Pathologische.<br />

Follow-up<br />

Postoperativ werden in unserer Klinik<br />

initial 3-monatige Kontrollen (3, 6 <strong>und</strong><br />

12 Monate) durchgeführt, gefolgt von 1jährlichen<br />

Kontrollen inkl. MRT, SSEP<br />

<strong>und</strong> Urodynamik.<br />

Beispiele aus<br />

<strong>der</strong> klinischen Praxis<br />

R.H., w, 5 J.<br />

Anamnese<br />

Im Alter von 1 Jahr Zufallsdiagnose einer<br />

kongenitalen Skoliose mit 4 Halbwirbeln<br />

(Abb. 5), welche im Alter von<br />

5 Jahren eine Progredienz aufweist<br />

(Abb. 6). Zudem fällt <strong>der</strong> Mutter auf,<br />

dass das Einbeinhüpfen rechts schlechter<br />

als links <strong>und</strong> neu ein nächtliches Einnässen<br />

aufgetreten ist.<br />

Abb. 8 � Axiale MRT <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

(T2-gewichtet) zeigt einen normales<br />

Filum terminale<br />

Abb. 7 � Die sagittale MRT <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

(T2-gewichtet) zeigt einen grenzwertig<br />

stehenden Konus auf Höhe LW2. Keine intraspinale<br />

Raumfor<strong>der</strong>ung<br />

Klinischer Bef<strong>und</strong><br />

Thorakale rechts konvexe Skoliose, Einbeinhüpfen<br />

rechts weniger links.<br />

Abklärungen<br />

Rö-LWS, MRT-<strong>Wirbelsäule</strong> (Abb. 7, 8),<br />

SSEP beidseits verlängerte Latenzen<br />

über CZ, abnorme Potenziale bei Reizung<br />

des rechten Fußes.<br />

Diagnose<br />

Tight filum terminale.<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 47


48<br />

Operation<br />

Untethering mittels Filumdurchtrennung.<br />

Verlauf<br />

Einnässen verschw<strong>und</strong>en,Verbesserung<br />

Einbeinhüpfen rechts. Der Effekt auf die<br />

Skolioseentwicklung ist jedoch eher<br />

fraglich, aufgr<strong>und</strong> zusätzlicher ossärer<br />

Deformitäten.<br />

F.B., m, 15 J.<br />

Anamnese<br />

Kongenitaler Klumpfuss links, welcher<br />

im Alter von 2 Wochen gegipst wurde. Im<br />

weiteren Verlauf bildete sich eine Fußnekrose,<br />

operative Revision mit 2,5 Jahren.<br />

Laufen im Alter von 3 Jahren mit Verkürzungshinken<br />

linkes Bein. Deutliche trophische<br />

Störungen am linken lateralen<br />

Fußrand,Analgesie Fußrücken. Im Alter<br />

von 13 Jahren traten neu zunehmende<br />

Knieschmerzen links auf, bei radiologisch<br />

nachgewiesener Kondylendysplasie<br />

links lateral.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 9a–c � Präoperative MRT <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>. a Sagittal, T1-gewichtet: Diastematomyelie Typ I<br />

mit knöchernem Sporn auf Höhe LW1/2. b Axiale MRT, T2-gewichtet: sichtbarer Sporn <strong>und</strong> Teilung<br />

des Myelons in 2 Hemicords, wobei <strong>der</strong> linke schmächtiger ist als <strong>der</strong> rechte. c Axiale MRT sakral,<br />

T2-gewichtet: pathologisch verdicktes Filum terminale<br />

Klinischer Bef<strong>und</strong><br />

Größe 1,39 m, Verkürzungshinken links<br />

(Beinverkürzung um 4 cm), Kniekondy-<br />

len links deutlich verbreitert, trophische<br />

Störungen linker Fuß mit Nekrose,Analgesie<br />

li Fußrücken. ASR <strong>und</strong> PSR links<br />

fehlend, kein Babinski. Reithose frei.<br />

Abklärungen<br />

Rö-LWS mit verbreitertem Interpedikularabstand<br />

ab LW1, unvollständiger Bogenschluss<br />

auf allen Höhen.MRT-<strong>Wirbelsäule</strong><br />

(Abb. 9). SSEP normal bei Reizung<br />

des N.tibialis rechts,links keine Potenziale<br />

erhältlich, Urodynamik unauffällig.<br />

Diagnose<br />

Tethered Cord Syndrom mit Diastematomyelie<br />

Typ I mit verdicktem Filum terminale.<br />

Neurogener Pes equinovarus<br />

adductus supinatus links.<br />

Operation<br />

Spanresektion LW1/2, Myelolyse, Duraerweiterungsplastik,Filumdurchtrennung<br />

sakral (Abb. 10).<br />

Verlauf<br />

Beschwerden im linken Knie deutlich regredient,<br />

Hypalgesie linker Fuß diskret<br />

rückläufig, ansonsten stationäre Verhältnisse.<br />

Abb. 10a,b � Postoperative MRT <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>. a Sagittal (T2-gewichtet) mit Spornresektion<br />

auf Höhe LW1/2 <strong>und</strong> freier Passage. Kein Tethering mehr sichtbar. b Axiale MRT (T2-gewichtet)<br />

auf Höhe LW1/2 mit gemeinsamen Duralschlauch <strong>und</strong> zwei unfixierten Hemicords


Abb. 13 � Axiale sakrale MRT (T2-gewichtet) mit pathologisch verdicktem Filum<br />

terminale <strong>und</strong> offenem Bogenschluss<br />

Abb. 11 � Links konvexe thorakolumbale<br />

Skoliose, Winkel zwischen<br />

BW8 <strong>und</strong> LW4 100°. Unsegmentierte<br />

Spange zwischen BW12 <strong>und</strong> LW3<br />

Abb. 12 � Axiale MRT (T2-gewichtet)<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>, Diastematomyelie<br />

Typ II mit 2 asymmetrischen<br />

Hemicords (links größer rechts)<br />

<strong>und</strong> offenem Bogenschluss<br />

L.B., w, 13 J.<br />

Anamnese<br />

Skolioseprogredienz zwischen dem 6.<br />

<strong>und</strong> 9. Lebensjahr mit zunehmenden<br />

Rückenschmerzen, welche im weiteren<br />

Verlauf unerträglich wurden.<br />

Klinischer Bef<strong>und</strong><br />

Größe 1,40 m, Beckenschiefstand nach<br />

rechts mit Beinverkürzung um 3 cm,<br />

Versteifung im LWS-Bereich, rechtes<br />

Bein hypotrophiert <strong>und</strong> deutlich schwächer<br />

als links, Hypalgesie rechter ventraler<br />

Unterschenkel, PSR rechts fehlend,<br />

Babinski rechts positiv.<br />

Abklärungen<br />

Rö-LWS (Abb. 11) <strong>und</strong> MRT-<strong>Wirbelsäule</strong><br />

(Abb. 12, 13).<br />

Diagnose<br />

Tethered Cord Syndrom mit Diastematomyelie<br />

Typ II mit pathologisch verdicktem<br />

Filum terminale.<br />

Operation<br />

Aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Skolioseprogredienz war<br />

eindeutig die Indikation zur orthopädischen<br />

Aufrichtung gegeben, vorgängig<br />

war jedoch eine Durchtrennung des Filum<br />

terminale notwendig, um eine zusätzliche<br />

Traktion des Rückenmarks<br />

durch die Skolioseaufrichtung zu verhin<strong>der</strong>n.<br />

Demzufolge wurde interdisziplinär<br />

schrittweise operiert:<br />

1. Untethering mit Durchtrennung<br />

Filum terminale sakral.<br />

2. Skolioseaufrichtung von ventral<br />

(4 Monate später).<br />

3. Skolioseaufrichtung von dorsal<br />

(2 Monate später).<br />

Verlauf<br />

Rückenschmerzen verschw<strong>und</strong>en, keine<br />

zusätzlichen neurologische Ausfälle,<br />

Schwäche im rechten Bein regredient.<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 49


50<br />

Fazit für die Praxis<br />

Eine kernspintomographische Abklärung<br />

gehört heute zum goldenen Standard zur<br />

Evaluation von Anomalien im Spinalkanal<br />

speziell bei kongenitalen Skoliosen. Konventionelles<br />

Röntgen o<strong>der</strong> klinische Untersuchung<br />

allein sind unzureichend. Bei<br />

allen Neugeborenen o<strong>der</strong> Säuglingen mit<br />

mittellinigen lumbalen Abnormitäten soll<br />

ein TSC ausgeschlossen werden, wobei<br />

primär ein spinaler Ultraschall als Screening<br />

ausreicht. Bei sek<strong>und</strong>är auftretenden<br />

Fußanomalien, welche bei <strong>der</strong> Geburt<br />

nicht vorhanden waren, insbeson<strong>der</strong>e<br />

Spitzfüße <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> Hohlfüße, sollte stets<br />

an die Möglichkeit einer intraspinalen<br />

Missbildung gedacht werden. Auch Gangstörungen<br />

<strong>und</strong> verzögerte Kontinenzentwicklung<br />

können auf das Vorliegen einer<br />

<strong>der</strong>artigen Läsion hinweisen.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Literatur<br />

1. Avni EF, Matos C, Grassart A, Christophe C,<br />

Pardou A, Baleriaux D (1991) Neonatal<br />

pilonidal sinuses and screening by medullary<br />

ultrasonography: preliminary results. Pediatrie<br />

46: 607–611<br />

2. Boop FA, Russel A, Chadduck WM (1992)<br />

Diagnosis and management of the tethered<br />

cord syndrome. J Ark Med Soc 89: 328–331<br />

3. Bradford DS (1989) Die angeborene Skoliose.<br />

Orthopäde 18: 87–100<br />

4. Bradford DS, Heithoff KB, Cohen M (1991)<br />

Intraspinal abnormalities and congenital spine<br />

deformities: a radiographic and MRI study.<br />

J Pediatr Orthop 11: 36–41<br />

5. De Gennaro M, Lais A, Fariello G, Caldarelli M,<br />

Capozza N,Talamo M, Caione P (1991) Early<br />

diagnosis and treatment of spinal dysraphism<br />

to prevent urinary incontinence. Eur Urol<br />

20: 140–145<br />

6. Kale SS, Mahapatra AK (1998) The role of<br />

somatosensory evoked potentials in spinal<br />

dysraphism – do they have a prognostic<br />

significance? Childs Nerv Syst 14: 328–331<br />

7. Koyanagi I, Iwasaki Y, Hida K, Abe H, Isu T,<br />

Akino M (1997) Surgical treatment supposed<br />

natural history of the tethered cord with occult<br />

spinal dysraphism. Childs Nerv Syst<br />

13: 268–274<br />

8. Liptake GS (1995) Tethered spinal cord:<br />

update of an analysis of published articles.<br />

Eur J Pediatr Surg Suppl 1: 21–23<br />

9. McLone DG, La Marca F (1997) The tethered<br />

spinal cord: diagnosis, significance, and management.<br />

Semin Pediatr Neurol 4: 192–208<br />

10. Pierz K, Banta J,Thomson J, Gahm N, Hartford J<br />

(2000) The effect of tethered cord release on<br />

scoliosis in myelomeningocele.<br />

J Pediatr Orthop 20: 362–365<br />

11. Perez LM, Khoury J,Webster G (1992) The value<br />

of urodynamic studies in infants less than<br />

1 year old with congenital spinal dysraphism.<br />

J Urol 148: 584–587<br />

12. Prahinski JR, Polly DW, McHale KA,<br />

Ellenbogen RG (2000) Occult intraspinal<br />

anomalies in congenital scoliosis.<br />

J Pediatr Orthop 20: 59–63<br />

13. Raghavendra BN, Epstein FJ, Pinto RS,<br />

Subramanyam BR, Greenberg J, Mitnick JS<br />

(1983) The tethered spinal cord: diagnosis by<br />

high-resolution real-time ultraso<strong>und</strong>.<br />

Radiology 149: 123–128<br />

14. Reigel DH,Tchernoukha K, Bazmi B, Kortyna R,<br />

Rotenstein D (1994) Change in spinal curvature<br />

following release of tethered spinal cord<br />

associated with spina bifida. Pediatr Neurosurg<br />

20: 30–42<br />

15. Vernet O, Farmer JP, Houle AM, Montes JL<br />

(1996) Impact of urodynamic studies on the<br />

surgical management of spinal cord tethering.<br />

J Neurosurg 85: 555–559<br />

Fachnachricht<br />

Leitlinien-Recherche-System<br />

von ÄZQ <strong>und</strong> DIMDI<br />

Die Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung, eine<br />

gemeinsame Einrichtung <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esärztekammer<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Kassenärztlichen B<strong>und</strong>esvereinigung<br />

(ÄZQ) entwickelt in Kooperation mit dem<br />

DIMDI ein deutschsprachiges Online-Recherche-<br />

System für Leitlinien in <strong>der</strong> Medizin. Dieses sogenannte<br />

„Leitlinien-RE-SYS“ greift auf Inhalte von<br />

Leitlinien-IN-FO (www.leitlinien.de), dem Online-<br />

Informations- <strong>und</strong> Fortbildungsangebot <strong>der</strong> ÄZQ,<br />

zurück <strong>und</strong> wird u. a. Ergebnisse <strong>der</strong> Clearingverfahren<br />

<strong>der</strong> Leitlinien-Clearingstelle <strong>der</strong> ÄZQ recherchierbar<br />

machen. Es wird in Anlehnung an<br />

das Recherche-System <strong>der</strong> US-Agency For Healthcare<br />

Research and Quality (www.guidelines.gov)<br />

erstellt. Der Zugriff erfolgt über das grips-Suchsystem,<br />

über das die Literaturdatenbanken beim<br />

DIMDI, z.B. Medline, zugänglich sind.<br />

Leitlinien-Re-Sys schafft die Vorausetzungen<br />

für eine Berücksichtigung von guten Leitlinien<br />

in <strong>der</strong> ärztlichen Alltagsroutine <strong>und</strong> ermöglicht<br />

den direkten Vergleich von Leitlinien zu ähnlichen<br />

o<strong>der</strong> gleichen Indikationen.<br />

Zugänge zum System sind möglich<br />

◗ direkt über das DIMDI/kostenfreie Datenbanken/<br />

Qualitätssicherung AQS-ÄZQ/Leitlinien-<br />

Recherche-System<br />

o<strong>der</strong><br />

◗ über http://www.leitlinien.de<br />

(im Frame Leitlinien-Re-Sys anklicken).<br />

Quelle: Informationsvermittlungsstelle<br />

Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung, Köln<br />

Email: info@azq.de<br />

Homepage: http://www.leitlinien.de


Orthopäde<br />

2002 · 31:51-57 © Springer-Verlag 2002<br />

Zusammenfassung<br />

Neurogene <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten<br />

entstehen in erster Linie durch mangelhafte<br />

dynamische Stabilisierung gegen die<br />

Schwerkraft. Mit geringer Häufigkeit treten<br />

sie auf gr<strong>und</strong> übermäßiger einseitiger<br />

Muskelaktivität auf. Rumpfstabilität ist<br />

ebenso wie die Verhin<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> Korrektur<br />

einer Deformität das wesentliche Behandlungsziel.<br />

In leichten Fällen ist die Korsettbehandlung<br />

die Methode <strong>der</strong> Wahl, da sich die Stabilität<br />

mit Zulassen einer Restbeweglichkeit<br />

<strong>und</strong> ausreichen<strong>der</strong> Formkorrektur kombinieren<br />

lässt. Sitzschalen sind für diesen Zweck<br />

weniger geeignet, werden aber generell<br />

besser akzeptiert. In schweren Fällen bringt<br />

die operative Korrektur – trotz großem<br />

Aufwand <strong>und</strong> hoher Komplikationsrate –<br />

gute Ergebnisse, die den Aufwand lohnen.<br />

Schlüsselwörter<br />

<strong>Wirbelsäule</strong> · Neurogene Deformitäten ·<br />

Skoliose · Korsett · Sitzschalen ·<br />

Operative Korrektur · Pflegebedarf ·<br />

Alltagstätigkeiten · Komplikationen<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

R. Brunner · F. Gebhard · Kin<strong>der</strong>orthopädische Universitäts-Klinik Basel<br />

Neurogene <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten<br />

Teil 1: Konservative <strong>und</strong> operative Behandlung<br />

von Deformitäten an <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

Der Begriff „neurogen“ bedeutet, dass<br />

eine Funktionsstörung o<strong>der</strong> Deformität<br />

ihre Ursache in einem neurologischen<br />

Leiden hat. Das Spektrum <strong>der</strong> neurologischen<br />

Leiden reicht von Erkrankungen<br />

des Muskels selbst bis zu zentralen<br />

Hirnläsionen. Entsprechend <strong>unter</strong>schiedlich<br />

sind Symptome <strong>und</strong> Auswirkungen<br />

auf die Funktion des Bewegungsapparats,<br />

die Entwicklung von Deformitäten<br />

ist multifaktoriell [1, 4]. Reine<br />

Myopathien (z. B. Dychenne-Dystrophie)<br />

führen zu einer reinen Muskelschwäche<br />

ohne wesentliche Beeinträchtigung<br />

<strong>der</strong> sensorischen Funktion, während<br />

bei p erip heren Neurop athien<br />

(HSMN) immer eine Kombination bei<strong>der</strong><br />

Störungen vorliegt. Auch sensorische<br />

Störungen können zu <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten<br />

führen [8].<br />

Bei zentralen Läsionen (Schädel-<br />

Hirn-Trauma, Zerebralparese) liegt ein<br />

noch komplexeres Bild vor.Als vorherrschendes<br />

Symptom fällt Spastizität ins<br />

Auge, aber daneben bestehen meist<br />

ebenfalls Muskelschwäche <strong>und</strong> sensorische<br />

Störungen. Computertomographische<br />

Bil<strong>der</strong> von Hirnen nach Asphyxie<br />

o<strong>der</strong> kongenitaler Infektion (Abb. 1) zeigen<br />

eindrücklich, wie nicht nur einzelne<br />

Hirnteile, son<strong>der</strong>n diffuse Zerstörungen<br />

vorliegen. In diesen Fällen wird klar,<br />

dass alle Hirnfunktionen, nicht nur die<br />

offensichtliche Motorik, beeinträchtigt<br />

sein müssen. Beson<strong>der</strong>s bei zentralen<br />

Störungen, die schon früh während <strong>der</strong><br />

Entwicklung des Hirns vorhanden sind,<br />

kommt zu den eigentlichen Funktionsstörungen<br />

noch die Störung des Aufbaus<br />

<strong>der</strong> Funktionen wie Gleichgewicht, Ste-<br />

hen <strong>und</strong> Gehen etc. hinzu. Verschlimmernd<br />

kann zudem eine Störung des<br />

Sehsinnes wirken, da dadurch eine mögliche<br />

Kompensation wegfällt. Damit liegen<br />

bei Kin<strong>der</strong>n nie nur motorische Probleme<br />

vor, wenn sie auch vor<strong>der</strong>gründig<br />

ins Auge springen. Es muss auch immer<br />

die Beeinträchtigung von Sensorik, Entwicklung<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> übrigen Sinnesorgane<br />

mitberücksichtigt werden.<br />

Fehlt einem Patienten z. B. von Beginn<br />

an die Kraft <strong>und</strong> Kontrolle seinen<br />

Oberkörper senkrecht zu halten, so<br />

schwankt <strong>der</strong> Kopf mit den Augen immer<br />

von einer Schieflage in eine an<strong>der</strong>e.<br />

Der Patient wird Mühe haben zu lernen,<br />

was für seine Augen „horizontal“ bedeuten<br />

soll. Er wird deshalb nicht nur seinen<br />

Körper sensorisch nicht kontrollieren<br />

können, son<strong>der</strong>n er wird auch keine<br />

Möglichkeit entwickeln, diesen Mangel<br />

über den Seh- <strong>und</strong> Lagesinn zu kompensieren<br />

(wie ein Tetraplegiker im Sitzen,<br />

dem ja auch die Sensorik am Rumpf<br />

fehlt).<br />

Auch die Muskelspannung darf<br />

nicht als gegeben angenommen werden.<br />

Wird Muskulatur dauernd o<strong>der</strong> häufig<br />

in einer großen Länge belastet, passt<br />

sich die Länge <strong>der</strong> Muskulatur an. Dieses<br />

Phänomen wird beim Dehnen von<br />

Muskulatur ja regelmäßig ausgenutzt.<br />

Hängt nun ein Patient oft schief in seinen<br />

Rückenmuskeln, so adaptiert sich<br />

auch hier die Muskellänge: Die Muskula-<br />

Dr. R. Brunner<br />

Kin<strong>der</strong>orthopädische Universitäts-Klinik,<br />

Römerstraße 8, CH-4005 Basel, Schweiz<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 51


52<br />

Orthopäde<br />

2002 · 31:51-57 © Springer-Verlag 2002<br />

R. Brunner · F. Gebhard<br />

Neurogenic spinal deformities: part I<br />

Abstract<br />

Neurogenic spinal deformities develop<br />

primarily due to insufficient dynamic stabilization<br />

against gravity. Unilateral muscle<br />

overactivity is another but rare cause.The<br />

aim of treatment is to provide stability as<br />

well as to prevent deformity.<br />

In mild cases, the treatment of choice is<br />

a spinal brace because stabilization can be<br />

combined with residual mobility and adequate<br />

correction of shape. Seating shells are<br />

more readily accepted but less appropriate<br />

for this purpose. In severe cases, surgery is a<br />

good option despite the consi<strong>der</strong>able effort<br />

involved and high rate of complications.<br />

Keywords<br />

Spine · Neurogenic deformity · Scoliosis ·<br />

Spinal brace · Seating shell · Spinal surgery ·<br />

Need for care · Daily activities ·<br />

Complications<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 1 � CT-Schnitt eines Hirns mit globaler<br />

Schädigung durch Asphyxie<br />

tur auf <strong>der</strong> Konvexseite wird überlang,<br />

jene auf <strong>der</strong> Gegenseite wird dagegen<br />

kurz. Der spontane Haltetonus wird<br />

dann den Körper nicht mehr gerade halten,<br />

son<strong>der</strong>n die Schiefhaltung tolerieren.<br />

Natürlich kann <strong>der</strong> Patient sich<br />

noch aufrichten, so wie man sich normalerweise<br />

auch reklinieren o<strong>der</strong> zur<br />

Seite neigen kann. Diese willkürliche<br />

Stellung entspricht nicht seiner Haltung,<br />

die sich aus <strong>der</strong> Position, die oft eingenommen<br />

wird, ergibt.<br />

Natürlich kommt die <strong>unter</strong>schiedliche<br />

Muskelkraft, gegeben durch das<br />

neurologische Leiden, noch hinzu: Patienten<br />

mit Myopathien können auch willkürlich<br />

keine Haltekraft leisten, während<br />

bei zentralen Störungen spastische<br />

Kräfte zusätzlich deformierend wirken<br />

können.<br />

Die Tonusstörungen bei Patienten<br />

mit infantilen Zerebralparesen auf einfache<br />

Reflexmuster zu reduzieren, ist<br />

nicht korrekt: Auch das gestörte Hirn<br />

lernt, die Reflexe zu modulieren. Die klinische<br />

Erfahrung zeigt, dass die typischen<br />

Reflexe zwar kurz nach einer<br />

Hirnverletzung vorhanden sind, sich<br />

aber im Verlaufe <strong>der</strong> Jahre verlieren. Bei<br />

Kin<strong>der</strong>n scheinen diese Adaptationsvorgänge<br />

schneller als bei Erwachsenen abzulaufen,<br />

sodass schon im Schulalter<br />

kein „Reflexwesen“ mehr vorliegt <strong>und</strong><br />

die Reflexe sich nicht mehr nachweisen<br />

lassen [1].<br />

Zusammenfassend besteht bei neurogenen<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten eine<br />

ganze Reihe pathogener Faktoren:<br />

● muskuläre Insuffizienz,<br />

● Muskelhypertonus,<br />

● permanente Fehlhaltung,<br />

● Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Muskelruhelänge,<br />

● mangelnde Körperkontrolle,<br />

● fehlende Gleichgewichtsreaktion,<br />

● gestörte Sensorik („Gefühl im<br />

Raum“),<br />

● fehlende Kompensationsmechanismen<br />

zur Gleichgewichtskontrolle<br />

(Störung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Sinne),<br />

● falsches/fehlendes Feedback<br />

„Körperposition – Korrektur“,<br />

● Reflexaktivität.<br />

Bei prophylaktischen wie therapeutischen<br />

Maßnahmen, konservativ wie<br />

operativ, müssen alle diese Faktoren berücksichtigt<br />

werden.<br />

Konservative Behandlung<br />

Die Behandlungsziele müssen neben einer<br />

Korrektur <strong>der</strong> Deformität o<strong>der</strong> Fehlhaltung<br />

auch die funktionelle Stabilisierung<br />

des Rumpfes beinhalten. Da es sich<br />

bei den neurogenen Deformitäten nicht<br />

um eigentliche <strong>Wachstum</strong>sstörungen,<br />

son<strong>der</strong>n um funktionell bedingte, zunächst<br />

flexible <strong>und</strong> erst später steife<br />

Fehlformen handelt, muss die Behandlung<br />

vielmehr in <strong>der</strong> Funktion <strong>und</strong> nicht<br />

als Lagerungsmaßnahme (z. B. nachts)<br />

erfolgen. Die konservative Behandlung<br />

umfasst Physiotherapie, Rumpforthesen<br />

(Korsette) <strong>und</strong> – im weiteren Sinne –<br />

Sitzschalen, wie sie am Ende dieses Artikels<br />

besprochen werden.<br />

Physiotherapie<br />

Mit <strong>der</strong> physiotherapeutischen Behandlung<br />

soll die <strong>Wirbelsäule</strong> beweglich gehalten<br />

werden. Zudem werden die Patienten<br />

angeleitet, wie sie ihren Rumpf<br />

aktiv stabilisieren sollen. Dabei wird<br />

viel Gewicht auf eine ausgeglichene, seitengleiche<br />

Muskelaktivität gelegt. Im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Gesamtbehandlung dieser<br />

oft schwerbehin<strong>der</strong>ten Patienten bleibt<br />

aber insgesamt nur wenig Zeit, wirklich<br />

am Problem Rumpfkontrolle <strong>und</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

zu arbeiten. Der Alltag überwiegt<br />

lei<strong>der</strong> bei weitem, wo die Patienten<br />

in ihrer Fehlhaltung <strong>und</strong> dynamischen<br />

Instabilität bleiben. Damit überwiegen<br />

die deformierenden Faktoren.<br />

Physiotherapie alleine genügt nicht, um<br />

Deformitäten zu verhin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zu<br />

korrigieren.


Rumpforthesen<br />

Rumpforthesen (Korsette) werden oft<br />

zur Behandlung neurogener <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten<br />

eingesetzt. Dabei ist bekannt,<br />

dass Korsette im besten Fall lediglich<br />

eine Progredienz aufhalten, eine bestehende<br />

Deformität aber nicht mehr<br />

korrigieren können [3, 11, 12]. Je besser<br />

sich eine Deformität noch aufrichten<br />

lässt, umso geringer ist die Progredienz<br />

<strong>unter</strong> <strong>der</strong> Korsettbehandlung [14]. Diese<br />

Kenntnis muss eigentlich dazu führen,<br />

möglichst früh mit einer Korsettbehandlung<br />

zu beginnen, wenn spätere<br />

versteifende Operationen umgangen<br />

werden sollen. Oft wird die Behandlung<br />

<strong>der</strong> neurogenen Deformitäten in Analogie<br />

zu den viel häufiger auftretenden<br />

<strong>Wachstum</strong>sstörungen vorgenommen.<br />

Für die <strong>Wirbelsäule</strong> bedeutet dies, dass<br />

Skoliosen ab 25°–30° Cobb-Winkel o<strong>der</strong><br />

Kyphosen ab ca. 60° behandelt werden.<br />

Oftmals wird zudem eine nachgewiesene<br />

Progredienz gefor<strong>der</strong>t. Lei<strong>der</strong> kommt<br />

jeweils eine Entscheidungsphase für die<br />

Eltern <strong>und</strong> Betreuer hinzu, während <strong>der</strong><br />

die <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformität weiter fortschreitet.<br />

Die eigentliche Behandlung<br />

setzt deshalb häufig bei schwereren Deformitäten<br />

– <strong>und</strong> damit eigentlich zu<br />

spät – ein.<br />

Die Entscheidung über die Notwendigkeit<br />

einer Korsettbehandlung auf <strong>der</strong><br />

Basis von Röntgenbil<strong>der</strong>n muss deshalb<br />

in Frage gestellt werden. Röntgenbil<strong>der</strong><br />

sind Momentanaufnahmen, die Haltungsprobleme<br />

schlecht repräsentieren,<br />

da leicht an<strong>der</strong>e, weniger typische Stellungen<br />

eingenommen werden können.<br />

Da gerade neurogene <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten<br />

mit Fehlhaltungen beginnen<br />

<strong>und</strong> keine primäre <strong>Wachstum</strong>sstörung<br />

zugr<strong>und</strong>e liegt, muss die Behandlung<br />

sich viel stärker nach <strong>der</strong> vorherrschen-<br />

Abb. 2 � Flexibles Korsett<br />

zur Seitstabilisierung<br />

den Klinik richten. Wegen ihres neuromuskulären<br />

Leidens können die Patienten<br />

sich nicht aufrecht halten, was<br />

gleichzeitig verhin<strong>der</strong>t, dass sie diese Fähigkeit<br />

überhaupt erlernen. In solchen<br />

Fällen werden oft Sitzschalen angepasst<br />

(s. Teil 3). Diese Sitzschalen – als eine Art<br />

Halbkorsette – stellen einen Kompromiss<br />

dar, den Rumpf <strong>und</strong> damit die <strong>Wirbelsäule</strong><br />

in korrekter Stellung zu halten<br />

<strong>und</strong> gleichzeitig die Patienten möglichst<br />

wenig einzuschränken.<br />

Korsette bieten im Gegensatz zu<br />

Sitzschalen eine bessere Kontrolle über<br />

Rumpf <strong>und</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>. Die stabilisierende<br />

Wirkung ist optimal. Durch die<br />

stabiliserte Rumpfposition durch Sitzo<strong>der</strong><br />

Rumpforthesen verbessern sich die<br />

Kopfhaltung sowie <strong>der</strong> Einsatz <strong>der</strong> Arme<br />

[10].Die Steifigkeit <strong>der</strong> Korsette schränkt<br />

jedoch die motorischen Fähigkeiten <strong>der</strong><br />

Patienten ein <strong>und</strong> verhin<strong>der</strong>t, dass sie<br />

motorische Erfahrungen <strong>und</strong> Fortschritte<br />

machen können. Die Akzeptanz für<br />

einschränkende Korsette ist deshalb oft<br />

erst bei erheblichen Deformitäten gegeben,<br />

wenn eine Behandlung schon<br />

schwierig o<strong>der</strong> kaum mehr möglich ist.<br />

Als weiterer Nachteil von Korsetten<br />

wird oft angeführt, <strong>der</strong> Patient werde<br />

„faul“, hänge sich in sein Korsett <strong>und</strong> die<br />

Muskulatur würde atrophieren. Es ist jedoch<br />

bekannt, dass Belastung wie z. B.<br />

im Gehgips einer Muskelatrophie deutlich<br />

entgegen wirkt [15]. Umgekehrt<br />

passt sich die Muskulatur an ihre neue<br />

Spannung in Überlänge an [6, 13] <strong>und</strong><br />

wird funktionell insuffizient, wenn oft<br />

o<strong>der</strong> dauernd eine Fehlhaltung eingenommen<br />

wird.<br />

Da Sitzschalen auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

den Patienten zwar weniger einschränken<br />

<strong>und</strong> mehr Beweglichkeit lassen,<br />

an<strong>der</strong>erseits aber die Kontrolle <strong>und</strong><br />

Stabilisierung des Rumpfes oft nicht<br />

ausreicht o<strong>der</strong> nur in fixen Positionen<br />

gegeben ist, sind wir in Basel dazu übergegangen,<br />

in solchen Fällen flexible Korsette<br />

abzugeben (Abb. 2). Diese Korsette<br />

stabilisieren die Bewegungen in <strong>der</strong>jenigen<br />

Richtung, die <strong>der</strong> Patient selbst nicht<br />

genügend kontrolliert. Das Korsett übernimmt<br />

die fehlende dynamische muskuläre<br />

Stabilisation. Damit bleibt dem Patienten<br />

die Beweglichkeit, die er selbst<br />

kontrolliert, erhalten. Die Akzeptanz solcher<br />

Korsette ist wesentlich höher, denn<br />

sie schränken kaum mehr ein. Wir passen<br />

sie an, wenn offensichtlich wird, dass<br />

ein Patient eine Haltung nicht (mehr)<br />

kontrollieren kann, unabhängig vom<br />

Röntgenbild. Es bleibt zu <strong>unter</strong>suchen,<br />

inwieweit sich mit dieser früh einsetzenden<br />

Maßnahme langfristig schwere Deformitäten<br />

<strong>und</strong> letztendlich operative<br />

Korrekturen vermeiden lassen.<br />

Im Gegensatz zu skoliotischen Haltungen<br />

lassen sich Fehlhaltungen in <strong>der</strong><br />

Sagittalebene viel schlechter behandeln,<br />

da hier die funktionellen Maßnahmen<br />

schneller eingeschränkt sind. Auf eine<br />

konsequente Lordosierung <strong>der</strong> Lumbalwirbelsäule<br />

verzichten wir, da sich die<br />

Lordose ohne intermittierende Kyphosierung<br />

fixieren kann <strong>und</strong> fixierte Hyperlordosen<br />

schmerzhaft werden können.Wenn<br />

im Sitzen dieser Abschnitt <strong>der</strong><br />

<strong>Wirbelsäule</strong> kyphosiert wird, so wird<br />

doch im Stehen <strong>und</strong> v. a. auch im Liegen<br />

praktisch immer eine Lordosehaltung<br />

eingenommen,da oft auch die Streckung<br />

<strong>der</strong> Hüftgelenke eingeschränkt ist.Damit<br />

wird eine Wechsellagerung erreicht <strong>und</strong><br />

die Deformierung in die eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Richtung verhin<strong>der</strong>t. Schwere Hyperkyphosen<br />

schränken aber meist <strong>der</strong>art<br />

stark funktionell ein (indem <strong>der</strong> Patient<br />

seinen Kopf nicht mehr genügend anheben<br />

kann), dass in diesen Fällen Korsette<br />

meist gut toleriert werden, auch wenn<br />

sie unbeweglich als starre Rahmen angefertigt<br />

wurden.Problematisch bleiben lediglich<br />

die hoch thorakalen Hyperkyphosen,<br />

die es unmöglich machen, dass<br />

<strong>der</strong> Blick geradeaus gerichtet werden<br />

kann. Hier sind aber we<strong>der</strong> Sitzschalen<br />

noch Korsette irgend einer Art suffiziente<br />

Behandlungsmittel.<br />

Ergebnisse nach operativer<br />

Korrektur<br />

Bei schweren Deformitäten von neurogenen<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten werden<br />

in aufrechter Haltung des Rumpfes<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 53


54<br />

Abb. 3 � Patient mit Zerebralparese, Thorax<br />

liegt auf dem Becken auf<br />

die Kräfte im Korsett durch Verformung<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> auf die Rän<strong>der</strong> des<br />

Korsettes übertragen. Dies führt zu<br />

Druckstellen.Wird an diesen Stellen das<br />

Korsett nachgebessert, d. h. geweitet, so<br />

sinken die <strong>Wirbelsäule</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Rumpf<br />

weiter ein. Neue Druckstellen entstehen<br />

<strong>und</strong> eine weitere Dekompensation ist die<br />

Folge. Der Prozess kommt zum Stillstand,<br />

sobald <strong>der</strong> Thorax mit seinen<br />

Rippen am Becken aufliegt (s. Abb. 3).<br />

Dies führt zu Schmerzen, die Sitzfähigkeit<br />

geht verloren <strong>und</strong> die Pflege wird<br />

wesentlich erschwert. Spätestens in dieser<br />

Situation sind die Grenzen <strong>der</strong> konservativen<br />

Therapie erreicht. Derart<br />

schwere Krümmungen führen auch zu<br />

einer Beeinträchtigung <strong>der</strong> pulmonalen<br />

wie kardialen Funktion. Das gilt in gleichem<br />

Maße für die neurogenen <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten<br />

in <strong>der</strong> Sagittalebene.<br />

Zusätzlich können Patienten mit Kyphosen<br />

den Kopf nicht mehr aufrecht<br />

halten <strong>und</strong> nicht mehr mit ihrem Umfeld<br />

kommunizieren. Die Nahrungsaufnahme<br />

wird erschwert.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich wird zwischen gehfähigen<br />

<strong>und</strong> nichtgehfähigen Patienten<br />

<strong>unter</strong>schieden, wenn die Indikation zur<br />

operativen Korrektur gestellt <strong>und</strong> ihr<br />

Ausmaß festgelegt wird. Beim gehfähigen<br />

Patienten werden folgende Ziele angestrebt:<br />

● Korrektur <strong>der</strong> Verkrümmung,<br />

● Verhin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Progredienz,<br />

● Verhin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Dekompensation.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Für den nichtgehfähigen Patienten geht<br />

es um folgende Ziele:<br />

● Erhaltung <strong>der</strong> Sitzfähigkeit,<br />

● Verbesserung <strong>der</strong> Dekompensation,<br />

● Verbeserung <strong>der</strong> Pflegefähigkeit,<br />

● Vermeidung von Schmerzen,<br />

● Stabilisation <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>,<br />

● Korsettfreiheit.<br />

Da Skoliosen in erster Linie bei Patienten<br />

mit schweren neurologischen Leiden<br />

vorkommen [1, 9], werden in Studien<br />

hauptsächlich nicht gehfähige Patienten<br />

erfasst. Ziel dieser Untersuchung war es<br />

herauszufinden, inwieweit <strong>der</strong> Patient<br />

sowie das pflegerische <strong>und</strong> das soziale<br />

Umfeld von einem operativen Eingriff<br />

profitieren.<br />

Material <strong>und</strong> Methode<br />

Patienten<br />

Von 1992–1998 wurden am Universitätskin<strong>der</strong>spital<br />

bei<strong>der</strong> Basel 66 Patienten<br />

wegen neurogener Skoliosen operiert; 42<br />

Fragebögen erhielten wir zur Auswertung<br />

zurück (Rücklaufquoe 63,6%): 33 Patienten<br />

litten an einer infantilen Zerebralparese<br />

(Abb. 3).Weiterhin wurden 3 Patienten<br />

mit Myelomeningocele (Spina bifida,<br />

MMC) <strong>unter</strong>sucht, 2 mit einer Duschenne-Muskeldystrophie,<br />

weitere 2 mit einem<br />

Rett-Syndrom, 1 Patientin mit einer<br />

Poliomyelitis <strong>und</strong> 1 Patient mit einer spinalen<br />

Muskelatrophie Typ II (Tabelle 1).<br />

Das Durchnittsalter lag zum Zeitpunkt<br />

des Eingriffs bei 16,35 (11–24) Jahren. Bei<br />

Patienten mit infantiler Zerebralparese<br />

betrug <strong>der</strong> Cobb-Winkel <strong>der</strong> Hauptkrümmung<br />

präoperativ durchschnittlich<br />

89,76° (42°–140°), postoperativ lag er bei<br />

56,88° (im Durchschnitt 30°–98°).<br />

Die Krümmungen waren 4-mal<br />

thorakal, 20-mal thorakolumbal <strong>und</strong> 16mal<br />

lumbal, 28-mal rechts konvex <strong>und</strong><br />

12-mal links konvex; 2-mal bestand zusätzlich<br />

eine kyphotische Deformität;<br />

27-mal erfolgte lediglich eine dorsale, 14mal<br />

eine zweizeitige ventrodorsale <strong>und</strong><br />

einmal eine ventrale Korrektur. 30-mal<br />

wurde die <strong>Wirbelsäule</strong> mit dem Spinefix-Instrumentarium<br />

mit Luque-Drähten<br />

korrigiert; 8-mal kamen das Spinefix-Instrumentationen<br />

allein <strong>und</strong> 3-mal<br />

die Galveston-Technik zur Anwendung.<br />

Bei 14 Patienten fand ein zweizeitiges<br />

Vorgehen statt. 6 Patienten erhielten vor<br />

<strong>der</strong> definitiven dorsalen Spondylodese<br />

ein ventrales Release; 5 Patienten wurden<br />

in erster Sitzung mit dem Zielke-Instrumentarium<br />

von ventral aufgerichtet<br />

<strong>und</strong> 5 Patienten erhielten eine ventrale<br />

Spondylodese ohne ventrale Instrumentation.<br />

In 1 Fall wurde lediglich ventral<br />

korrigiert <strong>und</strong> die Dwyer-Instrumentationstechnik<br />

angewandt (Abb. 4, 5).<br />

Fragebogen<br />

Die „funktionelle Unabhängigkeitsskala“<br />

FIM (functional independence measures)<br />

ist eine <strong>der</strong> meist benutzten Instrumente,<br />

um das Ausmaß einer Behin<strong>der</strong>ung<br />

<strong>und</strong> die daraus resultierende Abhängigkeit<br />

quantitativ <strong>und</strong> qualitativ<br />

festzustellen. Die FIM-Skala entstand<br />

1986 nach mehreren Forschungsarbeiten,<br />

die vom Amerikanischen Kongress<br />

<strong>der</strong> Rehabilitationsmedizin <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Amerikanischen Akademie <strong>der</strong> Physikalischen<br />

Medizin <strong>und</strong> Rehabilitation in<br />

Auftrag gegeben wurde. Diese Skala<br />

kann das Ausmaß einer Behin<strong>der</strong>ung<br />

sowie Rehabilitationsziele erfassen. In<br />

ihrer Originalform besteht sie aus<br />

18 Punkten mit einer 7-stufigen Skala.<br />

Zum Ausfüllen werden ca. 20–30 min<br />

benötigt. Später hinzugekommen ist die<br />

FAM-Skala (functional assessment measures),<br />

welche die sozialen Interaktionen<br />

bewertet. Wir haben anhand <strong>der</strong><br />

FIM- <strong>und</strong> FAM-Skala einen Fragebogen<br />

mit 15 Punkten erarbeitet:<br />

1. Musste nach <strong>der</strong> ersten Operation<br />

nochmals operiert werden?<br />

2. Sind Schmerzen vor <strong>der</strong> Operation<br />

vorhanden gewesen <strong>und</strong> diese nach<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>nopertion besser<br />

geworden?<br />

3. Wie viele Physiotherapiekonsultationen<br />

bestanden vor <strong>und</strong> nach <strong>der</strong><br />

Operation?<br />

Tabelle 1<br />

Operiertes Patientengut am<br />

Universitäts-Kin<strong>der</strong>spital (n=66)<br />

Operiertes Patientengut n<br />

CP <strong>und</strong> Skoliose 33<br />

MMC 3<br />

Duchenne 2<br />

Rett-Syndrom 2<br />

Polio 1<br />

Spinale Muskelatrophie II 1


4. Hat sich die Operation auf den<br />

Schlafrhythmus ausgewirkt?<br />

5. Wie hat sich die Mobilität verän<strong>der</strong>t?<br />

Im Einzelnen; freies Gehen,<br />

Mobilität innerhalb <strong>der</strong> Wohnung,<br />

Transfer <strong>und</strong> keine Fortbewegung.<br />

Hier sollten die Hilfsmittel angeben<br />

werden – prä- <strong>und</strong> postoperativ.<br />

6. Wie haben sich folgende Funktionen<br />

postoperativ verän<strong>der</strong>t: Treppensteigen,<br />

Stehen, Sitzen, Liegen,<br />

Waschen, Essen, Toilettengang sowie<br />

die allgemeine Beweglichkeit?<br />

7. Hat sich die Pflege vereinfacht?<br />

8. Wie viele Pflegepersonen wurden prä<strong>und</strong><br />

werden postoperativ benötig?<br />

9. Kann <strong>der</strong> Patient nach <strong>der</strong> Operation<br />

aktiver bei seiner Versorgung<br />

mithelfen?<br />

10.Welche Funktionen haben am meisten<br />

von <strong>der</strong> Operation profitiert?<br />

11. Welche Funktionen haben durch die<br />

Operation am meisten gelitten?<br />

12. Ist das subjektive, allgemeine Befinden<br />

durch die Operation verbessert<br />

worden?<br />

13. Hat sich die Häufigkeit von Korsettanpassungen<br />

seit <strong>der</strong> Operation verän<strong>der</strong>t?<br />

14. Konnte eine Reduktion von Lungenentzündungen<br />

erreicht werden?<br />

15. Würden sich die Patienten, Eltern<br />

o<strong>der</strong> Pflegekräfte in gleicher Situation<br />

nochmals für die Operation<br />

entscheiden?<br />

Aus den Akten <strong>der</strong> Patienten wurden<br />

eventuelle Komplikationen <strong>und</strong> Reoperationen<br />

entnommen <strong>und</strong> mit den Angaben<br />

<strong>der</strong> Patienten aus den Fragebögen<br />

verglichen.<br />

Resultate<br />

Abb. 4 � Lumbal linkskonvexe<br />

Skoliose mit 67° nach Cobb bei<br />

einem Patienten mit Zerebralparese<br />

Eine Revisionsoperation erfolgte in<br />

13 Fällen; 4 Eingriffe ergaben sich auf-<br />

Abb. 5 � Postoperatives Bild,<br />

Zielke- <strong>und</strong> Spinefix-Instrumentarium<br />

kombiniert mit dem<br />

Luque-Verfahren<br />

gr<strong>und</strong> von Stabbruch <strong>und</strong> Dekompesation;<br />

3 Revisionen erfolgten durch ein<br />

Druckulkus aufgr<strong>und</strong> eines prominenten<br />

Stabendes proximal. Eine ventrale<br />

Spondylodese musste wegen progredienter<br />

Krümmung kranial <strong>der</strong> Spondylodese<br />

erfolgen. Insgesamt erfolgten 2<br />

Infekte mit Metallentfernungen. Eine<br />

weitere Instrumentation <strong>und</strong> ein proximaler<br />

Hakenausriss mussten mit einer<br />

zweiseitigen Revisionsoperation therapiert<br />

werden.<br />

Reduziert man die Rate <strong>der</strong> Komplikationen<br />

auf jene in unserem Fragebogen<br />

<strong>und</strong> durch unsere Akten bestätigte<br />

Revisionsoperationen, kann eine allgemeine<br />

Reoperationsrate von 30% (13 von<br />

42) angegeben werden.<br />

Nach unserem Aktenstudium<br />

decken sich die Angaben größtenteils.<br />

Eine <strong>der</strong> Revisionsoperationen erfolgte<br />

erst nach Eintreffen <strong>der</strong> Fragebögen im<br />

Februar 2001. Ein oberflächiger Frühinfekt<br />

konnte mit einer Antibiotikatherapie<br />

erfolgreich therapiert werden. Damit<br />

liegt die allgemeine Komplikationsrate<br />

bei 35% (15 von 42).<br />

Auswertung des Fragebogens<br />

Die Tabelle 2 gibt einen Überblick <strong>der</strong><br />

Resultate des Fragebogens in Bezug auf<br />

die prä- wie postoperativen Schmerzangaben,<br />

die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Physiotherpiekonsultationen,<br />

des Schlaf-<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 55


56<br />

Tabelle 2<br />

Resultate des Fragebogens<br />

rhythmus, <strong>der</strong> Mobilität, <strong>der</strong> Pflege, des<br />

allgemeinen Befindens nach <strong>der</strong> Operation,<br />

des Auftretens von Pneumonien<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> Korsettbedürftigkeit.<br />

Keine bis fast keine Än<strong>der</strong>ungen<br />

zeigten sich am Mobilitätszustand <strong>der</strong><br />

Patienten; 52% (22 von 42) wurden aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Operation korsettfrei o<strong>der</strong><br />

mussten weniger Anpassungen vornehmen<br />

lassen.<br />

Tabelle 3 zeigt im Einzelnen die Verän<strong>der</strong>ung<br />

für Treppensteigen, Stehen,<br />

Sitzen, Liegen, Waschen, Hygiene <strong>und</strong><br />

die allgemeine Beweglichkeit. Dabei ergab<br />

sich beim Sitzen eine Verän<strong>der</strong>ung,<br />

die mit „besser“ beschrieben <strong>und</strong> von<br />

36% <strong>der</strong> Patienten sogar „deutlich besser“<br />

beschrieben wurde. Das Liegen<br />

wurde von 42% (18 von 42) <strong>der</strong> Patienten<br />

mit „besser“ (Kategorie 1–3) eingestuft.<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Schmerzen Ja Nein Keine Angabe<br />

Präoperativ 19 21 2<br />

Postoperativ 17 10 15<br />

Keine Än<strong>der</strong>ung Verbesserung Verschlechterung Keine Angabe<br />

Physiotherapie 32 9 1<br />

Schlafrhythmus 27 11 2 2<br />

Mobilität 40 1 1<br />

Pflege 23 14 5<br />

Mithilfe des Patienten 34 5 3<br />

Allgemeines Befinden 7 30 4 1<br />

Pneumonien 26 5 2 9<br />

Keine Än<strong>der</strong>ung Kein Korsett Weniger Anpassungen Keine Angabe<br />

Korsettversorgung 9 18 4 11<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Anzahl <strong>der</strong> Pflegepersonen<br />

prae- <strong>und</strong> postoperativ<br />

Tabelle 3<br />

Verän<strong>der</strong>ungen des Mobilitätszustands<br />

In einem einzigen Fall verringerte sich<br />

die Anzahl <strong>der</strong> Pflegekräfte. Durchschnittlich<br />

werden 1–2 Pflegekräfte benötigt.<br />

Funktionen,<br />

die am meisten profitiert haben<br />

Hier waren seitens <strong>der</strong> Patienten<br />

Mehrfachnennungen möglich: 15-mal<br />

konnten die Patienten besser sitzen,<br />

5-mal erleichterte sich die Pflege,<br />

5 Patienten gaben „besser essen“ an,<br />

4-mal profitierte die Atmung des Patienten,<br />

2-mal konnten die Patienten<br />

besser stehen <strong>und</strong> 4-mal erfolgten<br />

keine Angaben; 7 Patienten gaben<br />

keine Verbesserung von Funktionen<br />

an.<br />

Funktionen,<br />

die am meisten gelitten haben<br />

22-mal trat postoperativ keine Einschränkung<br />

<strong>der</strong> Funktionen auf; 8-mal<br />

wurde die Aufrichtung <strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e<br />

die Versteifung als schlechtere Beweglichkeit<br />

angesehen. Die Nahrungsaufnahme<br />

(Essen <strong>und</strong> Trinken) verschlechterte<br />

sich einmal nach dem Eingriff.<br />

10 Patienten machten hierzu keine Angaben.<br />

In gleicher Situation nochmals<br />

für die Operation entschieden<br />

88% (37 von 42) aller operierten <strong>und</strong> befragten<br />

Patienten würden sich <strong>unter</strong><br />

gleichen Umständen erneut für die<br />

Durchführung <strong>der</strong> Operation entscheiden;<br />

4 <strong>der</strong> Patienten bzw. <strong>der</strong> Betreuer<br />

würden sich für den durchgeführten<br />

Eingriff nicht noch einmal entscheiden;<br />

2 Patienten machten hierzu keine Angabe.<br />

Fazit für die Praxis<br />

Durch eine operative Skolioseaufrichtung<br />

(Abb. 4, 5) können in Bezug auf den Aufwand<br />

von Pflege <strong>und</strong> Physiotherapie keine<br />

nennenswerten Verän<strong>der</strong>ungen erreicht<br />

werden. Die Anzahl <strong>der</strong> Pflegekräfte <strong>und</strong><br />

orthopädischen Rehabilitationsmittel<br />

bleibt nach einem <strong>Wirbelsäule</strong>neingriff<br />

gleich. Eine Verbesserung <strong>der</strong> Mobilität <strong>der</strong><br />

Patienten kann nicht erwartet werden.<br />

Auch Cassidy et al. [2] fanden objektiv im<br />

Vergleich zwischen operierten <strong>und</strong> nichtoperierten<br />

Patienten keine Unterschiede.<br />

Die präoperativ angestrebten Ziele wie<br />

Korsettfreiheit, balanciertes Sitzen <strong>und</strong><br />

Mobilitätszustand Treppen- Stehen Sitzen Liegen Waschen Essen Toilette Allgemeine<br />

steigen Beweglichkeit<br />

1 deutlich besser 1 1 14 6 3 5 2 2<br />

2 besser 1 8 8 6 2 4 4<br />

3 etwas besser 4 4 2 2 2 5<br />

4 keine Verän<strong>der</strong>ung 28 23 10 20 26 25 27 11<br />

5 etwas schlechter 2 2 1 1 11<br />

6 deutlich schlechter 1 1 1 1 1 3 4<br />

0 keine Angabe 11 9 3 3 7 5 8 5


Stehen sowie eine gewisse Verbesserung<br />

<strong>der</strong> pulmonalen Funktion werden durch<br />

diese Arbeit bestätigt.<br />

Bei 61% (26 von 42) <strong>der</strong> ausgewerteten<br />

Bögen konnte eine Verbesserung des Sitzens<br />

<strong>der</strong> Patienten <strong>und</strong> bei 38% (16 von<br />

42) eine Verbesserung des Liegens nach<br />

<strong>der</strong> Operation festgestellt werden; 43%<br />

(18 von 42) <strong>der</strong> antwortenden Personen<br />

erreichten Korsettfreiheit, wodurch sich<br />

die Pflege vereinfachte. Ebenso führte<br />

Schmerzfreiheit zu einer pflegerischen Erleichterung.<br />

Nur bei 4 <strong>der</strong> Personen zeigte<br />

sich eine angebliche Verschlechterung <strong>der</strong><br />

Pflege. Der Körper sei „steif“,„unbeweglicher“<br />

<strong>und</strong> „nicht mehr so biegsam“. Zwei<br />

dieser Patienten profitierten jedoch durch<br />

ein besseres Sitzen <strong>und</strong> die beiden weiteren<br />

durch ein besseres Sitzen <strong>und</strong> Stehen.<br />

Für 11 von 42 <strong>der</strong> Patienten konnte eine<br />

Verbesserung bis hin zu einem Ausbleiben<br />

von Pneumonien gesehen werden. In<br />

>88% (37 von 42) <strong>der</strong> Fälle hätten sich die<br />

Patienten bzw. Eltern o<strong>der</strong> das Pflegepersonal<br />

in gleicher Situation nochmals für<br />

die Operation entschieden.<br />

Diese Ergebnisse sprechen – trotz einer<br />

Komplikationsrate von 35% – zumindest<br />

in schweren Fällen für eine operative Skolioseaufrichtung.<br />

Der hohen Komplikationsrate<br />

liegen die schwere neurologische<br />

Gr<strong>und</strong>krankheit, das Ausmaß <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformität<br />

sowie internistische Probleme<br />

zu Gr<strong>und</strong>e [7], weshalb Raten bis<br />

62% beschrieben werden [5].<br />

Literatur<br />

1. Bleck EE (1987) Orthopaedic management in<br />

cerebral palsy. Mac Keith, London, pp 442–443<br />

2. Cassidy C, Craig C, Perry A, Karling A, Goldberg<br />

MA (1994) reassessment of spinal stabilisation<br />

in severe cerebral palsy.<br />

J Pediatr Othop 6: 731–738<br />

3. Emans JB, Kaelin A, Bancel P, Hall JE, Miller ME<br />

(1986) The Boston bracing system for idiopathic<br />

scoliosis. Follow-up results in 295 patients.<br />

Spine 11: 792–801<br />

4. Fulford GE, Brown JK (1976) Position as a cause<br />

of deformity in children with cerebral palsy.<br />

Dev Med Child Neurol 18: 305–314<br />

5. Gau YL, Lonstein JE,Winter RB, Koop S, Denis F<br />

(1991) Luque-Galveston procedure for correction<br />

and stabilization of neuromuscular<br />

scoliosis and pelvic obliquity: a review of<br />

68 patients. J Spinal Disord 4: 399–410<br />

6. Goldspink G,Williams P (1993) Muscle fibre<br />

and connective tissue changes assiciated with<br />

use and disuse. In: Canning ALC (ed) Key issues<br />

in neurological physiotherapy. Butterworth-<br />

Heinemann, Oxford<br />

7. Lipton G, Miller F, Dabney K, Altiok H, Bachrach<br />

S (1999) Factors predicting postoperative complications<br />

following spinal fusion in children<br />

with cerebral palsy. J Spinal Disord 1999:<br />

197–205<br />

8. Liszka O (1961) Spinal cord mechanisms<br />

leading to scoliosis in animal experiments.<br />

Acta Med Polonia 2: 45–63<br />

9. Madigan RR,Wallace SL (1981) Scoliosis in the<br />

institutionalized cerebral palsy population.<br />

Spine 6: 583–590<br />

10. Myhr U, von Wendt L (1993) Influence of different<br />

sitting positions and abduction orthosis<br />

on leg muscle activity in children with cerebral<br />

palsy. Dev Med Child Neurol 35: 870–880<br />

11. Nachemson AL, Peterson LE (1995) Effectiveness<br />

of treatment with a brace in girls who<br />

have adolescent idiopathic scoliosis.<br />

J Bone Joint Surg Am 77: 815–822<br />

12. Olafsson Y, Saraste H, Al-Dabbagh Z (1999)<br />

Brace treatment in neuromuscular spine<br />

deformity. J Pediatr Orthop 19: 376–379<br />

13. Oudet CL, Petrovic AG (1981) Regulation of the<br />

anatomical length of the lateral pterygoid<br />

muscle in the growing rat. Adv Physiol Sci<br />

24:115–121<br />

14. Terjesen T, Lange JE, Steen H (2000) Treatment<br />

of scoliosis with spinal bracing in quadriplegic<br />

cerebral palsy. Dev Med Child Neurol<br />

42: 448–454<br />

15. Thompson TC (1934) Experimental muscular<br />

atrophy. J Bone Joint Surg 16: 564–571<br />

Fachnachricht<br />

Springer-Verlagsdatenbank bei DIMDI<br />

DIMDI bietet in Kooperation mit <strong>der</strong> Deutschen<br />

Zentralbibliothek für Medizin (ZBMed) in Köln die<br />

englischsprachige Springer-Verlagsdatenbank sowie<br />

die zugehörigen Volltexte im Portable Document<br />

Format (PDF) an. Die Datenbank wächst<br />

jährlich um ca. 20.000 Dokumente.<br />

Über grips-WebSearch sind damit elektronische<br />

Volltexte aus ca. 200 internationalen medizinischen<br />

Fachzeitschriften des Springer-Verlages –<br />

beginnend 1997 – zugänglich. Die Datenbank ist<br />

auch im freien Angebot verfügbar (bibliographische<br />

Angaben, Stichworte, englische <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> z.T.<br />

originalsprachige Kurzzusammenfassungen). Der<br />

Zugriff auf die Volltexte steht nur im kostenpflichtigen<br />

Angebot zu Verfügung.<br />

Die Springer-Volltexte werden bei <strong>der</strong> Recherche<br />

zusätzlich mit Publikationshinweisen aus<br />

an<strong>der</strong>en Literaturdatenbanken verknüpft.Weitere<br />

Information: http://www.dimdi.de<br />

Quelle: Pressemitteilung DIMDI, Köln<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 57


58<br />

Orthopäde<br />

2002 · 31:58-64 © Springer-Verlag 2002<br />

Zusammenfassung<br />

Der dynamische Vorgang des Sitzens ist bei<br />

Patienten mit neurogenen Störungen <strong>der</strong><br />

Sitzfunktion <strong>und</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten<br />

dadurch gestört, dass eine unbewusste kontinuierliche<br />

Adaptierung <strong>der</strong> Sitzposition an<br />

exogene <strong>und</strong> endogene Einflüsse nicht ausreichend<br />

möglich ist.Sitzversorgungssysteme<br />

können in diesem Fall zu einer wesentlichen<br />

Verbesserung <strong>der</strong> Lebensqualität beitragen.<br />

Voraussetzung für eine menschlichmedizinisch<br />

qualitativ hochwertige <strong>und</strong><br />

auch kostengünstige Versorgung sind Richtlinien<br />

für die Planung <strong>und</strong> Anpassung von<br />

Sitzbehelfen, die pathomorphologische<br />

Mechanismen ebenso berücksichtigen wie<br />

die Gesamtpersönlichkeit des Kindes o<strong>der</strong><br />

Erwachsenen. Um funktionelle Probleme<br />

o<strong>der</strong> Schmerzen aufgr<strong>und</strong> einer unzureichenden<br />

Sitzhilfe zu vermeiden, muss <strong>der</strong><br />

richtigen Indikation, dem Zeitpunkt <strong>der</strong><br />

Versorgung <strong>und</strong> <strong>der</strong> optimalen Kombination<br />

orthopädietechnischer Möglichkeiten<br />

ausreichende Bedeutung zugemessen<br />

werden.<br />

Die Planung <strong>der</strong> Sitzversorgung ist<br />

Teamarbeit. Nach <strong>der</strong> Definition des individuellen<br />

Therapiezieles, das dem Funktionsdefizit,<br />

<strong>der</strong> Alltagsaktivität <strong>und</strong> dem psychosozialen<br />

Umfeld des Patienten entspricht,<br />

erfolgt die Anpassung <strong>der</strong> Behelfe im<br />

Rahmen eines klaren Behandlungskonzeptes.<br />

Die Untersuchung des senso- <strong>und</strong><br />

statomotorischen Systems ermöglicht eine<br />

Klassifikation <strong>der</strong> Sitzfähigkeit des Patienten:<br />

die Unterscheidung von je 3 Gruppen aktiver<br />

<strong>und</strong> passiver Sitzfähigkeit mit dem Kriterium<br />

<strong>der</strong> Fähigkeit zur aktiven Positionierung des<br />

Beckens erleichtert die Indikation einzelner<br />

Versorgungsmaßnahmen.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

W. Strobl<br />

Forschungsinstitut für Bewegungsentwicklung,<br />

Zentrum für Neuroorthopädie im Orthopädischen Spital Wien-Speising<br />

Neurogene <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformitäten<br />

Teil 2: Sitzen <strong>und</strong> Sitzhilfen – Prinzipien <strong>der</strong><br />

Anpassung<br />

Schlüsselwörter<br />

Neurogene <strong>Wirbelsäule</strong>ndeformität ·<br />

Sitzfähigkeit · Sitzhilfen · Rollstuhl · Sitzschale<br />

Zahlreiche Sitzversorgungssysteme ermöglichen<br />

heute eine signifikante Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Lebensqualität sowohl<br />

<strong>der</strong> betroffenen als auch <strong>der</strong> betreuenden<br />

Personen.<br />

Trotzdem führt eine Fehlplanung in<br />

Hinblick auf Indikationsstellung, Zeitpunkt<br />

<strong>und</strong> Kombination <strong>der</strong> orthopädietechnischen<br />

Möglichkeiten häufig zu<br />

unnötigen funktionellen Problemen<br />

o<strong>der</strong> Schmerzen im Alltag <strong>der</strong> Patienten.<br />

Oft entsteht erst dadurch eine „Behin<strong>der</strong>ung“<br />

des Betroffenen (Abb.1).<br />

Da für jeden Betroffenen je nach<br />

Art <strong>und</strong> Schweregrad des vorhandenen<br />

Funktionsdefizits individuell <strong>unter</strong>schiedliche<br />

Therapieziele definiert werden<br />

müssen, können uns Standardrezepte<br />

für eine „gute Sitzversorgung“ im individuellen<br />

Fall kaum behilflich sein.Klare<br />

Richtlinien für die Planung <strong>und</strong> Anpassung<br />

von Sitzbehelfen, die pathomorphologische<br />

Mechanismen ebenso berücksichtigen<br />

wie die Gesamtpersönlichkeit<br />

des Kindes o<strong>der</strong> Erwachsenen,<br />

sind jedoch Voraussetzung für eine<br />

menschlich-medizinisch qualitativ hochwertige<br />

<strong>und</strong> damit längerfristig auch<br />

kostengünstigere Versorgung.<br />

Physiologie <strong>und</strong> Pathologie<br />

des Sitzens<br />

Sitzen ist ein dynamischer Vorgang.Es<br />

ist Ausdruck einer während <strong>der</strong> Hominidenevolution<br />

gemeinsam mit dem<br />

aufrechten Stehen <strong>und</strong> Gehen entwickelten<br />

Höchstleistung des neuromuskuloskelettären<br />

Bewegungssystems des Menschen.Die<br />

Ausbildung des Pyramidenbahnsystems<br />

<strong>und</strong> die überproportionale<br />

Entwicklung des Neokortex während<br />

<strong>der</strong> Phylogenese stellen eine wesentliche<br />

Voraussetzung für die propriozeptive<br />

Steuerung <strong>der</strong> aufrechten Haltung des<br />

Rumpfes dar.Die durch den aufrechten<br />

Gang erfolgte Beckenkippung <strong>und</strong> Verstärkung<br />

<strong>der</strong> Hüftstrecker führten zur<br />

starken Ausprägung <strong>der</strong> Gesäßmuskulatur<br />

<strong>und</strong> Gesäßform des Menschen.Damit<br />

entwickelte sich die biologische Voraussetzung<br />

für die kulturelle Evolution<br />

des menschlichen Sitzens.<br />

Für Menschen ohne Störung ihres<br />

neuromuskuloskelettären Bewegungssystems<br />

stellt die kontinuierliche Adaptierung<br />

<strong>der</strong> Sitzposition an exogene <strong>und</strong><br />

endogene Einflüsse kein Problem dar, sie<br />

erfolgt unbewusst.<br />

Patienten mit Störungen <strong>der</strong> Rumpf-<br />

Becken-Kontrolle bei pathologischer<br />

Statomotorik sind nicht immer in <strong>der</strong><br />

Lage eine aktive Sitzhaltung über einen,<br />

Dr.Walter Michael Strobl<br />

Forschungsinstitut für Bewegungsentwicklung,<br />

Zentrum für Neuroorthopädie im<br />

Orthopädischen Spital Wien-Speising,<br />

Breitenfel<strong>der</strong> Gasse 18–20,<br />

1080 Wien/Österreich


Orthopäde<br />

2002 · 31:58-64 © Springer-Verlag 2002<br />

W. Strobl<br />

Sitting and seating devices –<br />

Principles of indication<br />

Abstract<br />

Sitting is a dynamic process regulated by<br />

motor reactions due to endogenic and exogenic<br />

influences. Patients with neuromuscular<br />

disor<strong>der</strong>s may not continuously adapt<br />

their sitting posture but seating devices may<br />

improve their quality of life.<br />

Prerequisites for the indication of high<br />

quality and cost effective seating devices are<br />

guidelines for planning and fitting which<br />

consi<strong>der</strong> both pathomorphologic mechanisms<br />

and the patient’s personality. In or<strong>der</strong> to<br />

avoid functional problems and pain caused<br />

by an insufficient seating device it is necessary<br />

to pay attention to the exact indication, time,<br />

and combination of technical options.<br />

Planning within a seating clinic needs<br />

teamwork. First the goal of treatment is defined;<br />

it depends on the functional deficit, on<br />

the daily living activities of the patient, and<br />

on the social environmental factors. Second<br />

fitting of the devices follows defined treatment<br />

guidelines.<br />

By examination of the sensoric and<br />

statomotoric system it is possible to classify<br />

the patient’s sitting or seating ability for<br />

simplifying indication: three groups of active<br />

sitters who are able to change position of<br />

trunk and pelvis actively are differentiated<br />

from three groups of passive sitters who<br />

have to be seated.<br />

Keywords<br />

Neurogenic spine deformities · Sitting ·<br />

Seating · Seating devices · Wheel chair<br />

z.B.für die ungestörte Handfunktion,<br />

ausreichenden Zeitraum einzunehmen.<br />

Eine kontinuierliche Anpassung ihrer<br />

Sitzposition ist in diesem Fall nur durch<br />

eine Unterstützung ihrer Muskelfunktionen<br />

möglich.<br />

Bei einer schweren neuromuskulären<br />

Störung <strong>der</strong> Rumpf-Becken-Kontrolle<br />

ist eine aktive Anpassung o<strong>der</strong> Än<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Sitzposition nicht erreichbar,<br />

da eine ausreichende selektive Muskelsteuerung<br />

fehlt.So fehlt bei Patienten<br />

mit Tetraparese, o<strong>der</strong> besser: Total Body<br />

Involvement (TBI), definitionsgemäß eine<br />

ausreichende aktive Steuerung des<br />

Beckens, <strong>der</strong> Rumpfmuskulatur <strong>und</strong><br />

bei schwereren Formen auch <strong>der</strong> Kopfkontrolle.<br />

Die Anpassung von Sitzhilfen<br />

Planung<br />

Die Planung <strong>der</strong> Sitzversorgung ist<br />

Teamarbeit.Eine Reihe von Berufsgruppen<br />

sind als Spezialisten in <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenbetreuung<br />

tätig <strong>und</strong> da eine Vielzahl<br />

von Therapieansätzen verwendet<br />

wird, ist ein klares Behandlungskonzept,<br />

das alle Teammitglie<strong>der</strong> vertreten können,<br />

wünschenswert.<br />

Zur Neuversorgung ist die Anwesenheit<br />

folgen<strong>der</strong> Teammitglie<strong>der</strong> günstig:<br />

◗ Patient mit betreuen<strong>der</strong> Person,<br />

◗ verordnen<strong>der</strong> Arzt/Ärztin,<br />

◗ Orthopädietechniker,<br />

◗ Rollstuhltechniker,<br />

◗ Ergotherapeutin/Physiotherapeutin,<br />

◗ evtl.Sozialarbeiterin/Lehrerin/<br />

Kin<strong>der</strong>gärtnerin.<br />

Dokumentationssystem<br />

Ein von allen gemeinsam verwendetes<br />

Dokumentationssystem für Sitzversorgungen<br />

kann entscheidend zu einem<br />

solchen Konzept beitragen.Diagnose,<br />

Funktionsstatus, Therapieziele, Untersuchungsergebnisse,<br />

Kriterien <strong>der</strong> Sitzfähigkeit<br />

<strong>und</strong> eine detaillierte Auflistung<br />

<strong>der</strong> Adaptierungsmaßnahmen<br />

werden in ein Sitzversorgungsblatt<br />

eingetragen, das allen Teammitglie<strong>der</strong>n<br />

in Kopie zur Verfügung steht <strong>und</strong><br />

auch eine wertvolle Entscheidungshilfe<br />

für Kostenträger darstellen kann<br />

(Abb.2).<br />

Therapieziel<br />

Abb. 1 � Patient mit<br />

Duchenne-Muskeldystrophie<br />

<strong>und</strong> Druckläsion: mit<br />

einer inadäquaten orthopädischen<br />

<strong>und</strong> sitztechnischen<br />

Versorgung ist eine<br />

akzeptable Lebensqualität<br />

für Patienten mit neuromuskulären<br />

Erkrankungen<br />

nicht erreichbar<br />

Zunächst muss das individuelle Therapieziel<br />

<strong>der</strong> neuen Sitzhilfe definiert werden.Es<br />

ist abhängig vom Schweregrad<br />

<strong>der</strong> Funktionsdefizite; im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong><br />

steht das Erreichen einer akzeptablen<br />

Lebensqualität:<br />

◗ Schmerzfreiheit <strong>und</strong> Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Vitalfunktionen,<br />

◗ eine Erleichterung <strong>der</strong> Nahrungsaufnahme,<br />

◗ einen optimalen Zugriff auf die<br />

Umwelt durch Verbesserung <strong>der</strong><br />

Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Kommunikationsmöglichkeiten<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Handfunktion,<br />

◗ Selbständigkeit im Alltag durch Vermin<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Betreuer- <strong>und</strong> Pflegeabhängigkeit<br />

<strong>und</strong> Vergrößerung des<br />

Umweltradius <strong>und</strong><br />

Der Orthopäde 1•2002 | 59


60<br />

◗ Mobilität im Alltag durch Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Aufrichte- <strong>und</strong> Transfermöglichkeiten.<br />

Da zum Erreichen des im Team definierten<br />

Zieles in erster Linie die Restaktivitäten<br />

des Patienten, z.B.eine spastisch<br />

aktive Muskelgruppe für eine günstige<br />

Körperpositionierung, ausgenützt werden<br />

sollen, müssen zunächst im Rahmen<br />

einer ausführlichen neuroorthopädischen<br />

Untersuchung seine vorhandenen<br />

Fähigkeiten <strong>und</strong> Restfunktionen festgestellt<br />

werden.Dadurch ist es möglich,<br />

den Aufwand für Versorgungsmaßnahmen<br />

soweit wie möglich zu minimieren<br />

<strong>und</strong> eine Überversorgung zu vermeiden.<br />

Die neuroorthopädische<br />

Untersuchung<br />

Diese besteht zunächst in einer „Etagendiagnostik“.Die<br />

Einordnung <strong>der</strong> primären<br />

Störung auf den Ebenen<br />

1) ossär,<br />

2) arthrogen,<br />

3) muskulär,<br />

4) peripher neurogen,<br />

5) spinal,<br />

6) pyramidal,<br />

7) zerebellär-koordinativ,<br />

8) assoziativ kortikal <strong>und</strong><br />

9) subkortikal-psychogen<br />

erlaubt die bessere Beurteilung von<br />

Kompensationen <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ären Störungen<br />

sowie Hinweise auf die exakte<br />

Diagnose <strong>und</strong> Prognose <strong>der</strong> zugr<strong>und</strong>eliegenden<br />

Erkrankung.<br />

Der Funktionsstatus des Patienten<br />

wird durch die neuroorthopädische<br />

Anamnese <strong>und</strong> Untersuchung erhoben.<br />

Ziele <strong>der</strong> Untersuchung sind die Bestimmung<br />

◗ <strong>der</strong> Restmuskelfunktionen mit Kraft<br />

<strong>und</strong> selektiver Steuerung,<br />

◗ <strong>der</strong> Quantität <strong>und</strong> Qualität des<br />

Muskeltonus,<br />

◗ <strong>der</strong> pathologischen Reflexmuster,<br />

◗ des Grades <strong>der</strong> Muskelkontrakturen<br />

<strong>und</strong> Deformitäten <strong>der</strong> großen<br />

Gelenke,<br />

◗ von ossären Achsenfehlern <strong>und</strong><br />

Fußdeformitäten,<br />

◗ von Körpergleichgewicht <strong>und</strong><br />

Haltung.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 2 � Dokumentationssystem für Sitzversorgung (Vor<strong>der</strong>seite)<br />

Wesentliche Bereiche sind weiterhin<br />

Kommunikation,Verhaltensauffälligkeiten<br />

<strong>und</strong> Fehlstereotypien, Schweregrad<br />

etwaiger zerebraler Anfälle, sensorische<br />

Systeme wie Seh- <strong>und</strong> Hörstörungen,<br />

Propriozeption, Sensibilität <strong>und</strong> Hautdruckstellen,<br />

vegetative Funktionen <strong>und</strong><br />

Inkontinenz.<br />

Die Erhebung <strong>der</strong> psychosozialen<br />

Situation des Patienten, seine Motivation,<br />

Ziele, Wünsche <strong>und</strong> Ängste, seine<br />

Familie, Fre<strong>und</strong>e, Schule, Therapie- <strong>und</strong><br />

Arbeitsplatz ermöglicht die Einschätzung<br />

<strong>der</strong> Erwartungshaltung.<br />

Bildgebende Verfahren werden zur<br />

Beurteilung <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Hüften eingesetzt.Im Bedarfsfall wird<br />

die Analyse komplexer Bewegungsstörungen<br />

mittels Videoaufzeichnung, die<br />

Bestimmung <strong>der</strong> Druckverteilung an gefährdeten<br />

Körperstellen mittels Druckmessmatten<br />

durchgeführt.


Abb. 2 � Dokumentationssystem für Sitzversorgung (Rückseite)<br />

Klassifikation <strong>der</strong> Sitzfähigkeit<br />

Nach <strong>der</strong> Untersuchung ist eine Klassifikation<br />

<strong>der</strong> Sitzfähigkeit des Patienten<br />

möglich.Die Unterscheidung in aktive<br />

<strong>und</strong> passive Sitzfähigkeit mit dem Kriterium<br />

<strong>der</strong> Fähigkeit zur aktiven Positionierung<br />

des Beckens erscheint uns als<br />

ein wesentliches Kriterium für die richtige<br />

Indikation von Sitzhilfen.Diese, die<br />

zugr<strong>und</strong>eliegende Pathophysiologie be-<br />

rücksichtigende, systematische Klassifikation<br />

soll die Indikationsstellung erleichtern<br />

<strong>und</strong> häufige Fehler von Sitzversorgungen<br />

vermeiden helfen.<br />

Aktive Sitzfähigkeit<br />

Aktive Sitzfähigkeit heißt, dass die Sitzposition<br />

durch eine funktionierende<br />

willkürliche Rumpf-Becken-Motorik<br />

aktiv o<strong>der</strong> ersatzweise durch aktives<br />

Heben des Rumpfes mit ausreichen<strong>der</strong><br />

Muskelkraft <strong>der</strong> oberen Extremitäten<br />

verän<strong>der</strong>t werden kann (Abb.3).<br />

Freies Sitzen<br />

Eine aktive Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Sitzposition ist<br />

den äußeren Bedingungen adäquat,<br />

zwischen aufmerksamer vor<strong>der</strong>er („readiness<br />

position“), hinterer Sitzhaltung<br />

(„resting posture“) <strong>und</strong> Ruhehaltung<br />

mit gekipptem Becken („weightshift<br />

position“) wird aktiv gewechselt.Eine<br />

Fehlhaltung ist auch bei längerem Sitzen<br />

noch aktiv gut korrigierbar.Im Rahmen<br />

von Sitzversorgungsmaßnahmen kann<br />

die Versorgung mit einem Standardsessel<br />

o<strong>der</strong> Standardrollstuhl ohne spezifische<br />

Adaptierungen ausreichend sein.<br />

Sehr weiche textile Sitz- <strong>und</strong> Rückenflächen<br />

sollen in Hinblick auf die Provokation<br />

asymmetrischer Sitzhaltungen (Tuber<br />

ossis ischii gewohnheitsmäßig auf<br />

<strong>unter</strong>schiedlicher Höhe) überprüft <strong>und</strong><br />

gegebenenfalls durch eine feste, gepolsterte<br />

Sitz-/Rückenfläche ersetzt werden.Eine<br />

dorsale Beckenkammstütze<br />

wird für längeres Sitzen empfohlen.<br />

Fehlhaltung des Rumpfes<br />

Die Fehlhaltung ist aktiv selbständig<br />

korrigierbar, es besteht eine gute neuromuskuläre<br />

Koordination bei leichter<br />

muskulärer Insuffizienz, Überlastung<br />

o<strong>der</strong> beginnen<strong>der</strong> progredienter Muskelerkrankung.Längeres<br />

Sitzen führt<br />

über eine ausgeprägte Fehlhaltung zu<br />

einer Beeinträchtigung <strong>der</strong> sensorischen<br />

<strong>und</strong>/o<strong>der</strong> oberen Extremitätenfunktionen.Eine<br />

Adaptierung <strong>der</strong> Sitzfläche<br />

ist erfor<strong>der</strong>lich, um eine aktive<br />

orthograde Einstellung des Beckens zu<br />

erleichtern.Günstig ist die zusätzliche<br />

Anbringung einer dorsalen Beckenkammstütze.Einer<br />

stärkeren Asymmetrie<br />

kann mit einer anatomisch geformten<br />

Oberschenkelauflage <strong>und</strong> Anformung<br />

des Tuber ossis ischii vorgebeugt<br />

werden.Für kurze therapeutische Effekte<br />

bewirkt ein Sitzkeil mit positivem<br />

Sitzwinkel (Oberschenkel nach ventral<br />

abfallend) eine bessere Aufrichtung<br />

durch Aktivierung <strong>der</strong> Rückenstreckmuskulatur.<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 61


62<br />

Fehlform des Rumpfes ohne die<br />

Möglichkeit einer aktiven Aufrichtung<br />

durch die Rückenstrecker<br />

Ursächlich besteht entwe<strong>der</strong> eine strukturelle<br />

Deformität <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> im<br />

Rahmen einer idiopathischen o<strong>der</strong> kongenitalen<br />

Skoliose o<strong>der</strong> Kyphose o<strong>der</strong><br />

eine hochgradige flexible Fehlhaltung<br />

durch eine ausgeprägte Muskelschwäche<br />

im Rahmen einer spinalen Muskelatrophie<br />

o<strong>der</strong> progredienten Mukeldystrophie.Eine<br />

neuromuskuläre Koordinationsstörung<br />

mit asymmetrischem Tonus<br />

<strong>und</strong> pathologischem Reflexmuster<br />

<strong>der</strong> Rumpf-Becken-Muskulatur konnte<br />

ausgeschlossen werden.Die aktive Sitzfähigkeit<br />

ist entwe<strong>der</strong> durch die Aktivität<br />

<strong>der</strong> Becken-Bein-Muskulatur o<strong>der</strong><br />

durch eine ausreichend kräftige Schultergürtelmuskulatur<br />

gewährleistet.<br />

Die Adaptierung des Rollstuhles mit<br />

einer anatomisch geformten Sitzfläche<br />

wird kombiniert mit einer rumpfstabilisierendenStützkorsettversorgung.Dadurch<br />

bleibt die aktive Än<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Sitzposition bei ausreichen<strong>der</strong> Stabilisierung<br />

des Rumpfes erhalten.Die Rumpfstabilisierung<br />

ist auch für das Stehen im<br />

<strong>und</strong> außerhalb des Rollstuhles gut wirksam.Die<br />

Art <strong>der</strong> Korsettversorgung orientiert<br />

sich an <strong>der</strong> Grun<strong>der</strong>krankung,<br />

<strong>der</strong> Mobilität des Patienten, <strong>der</strong> Sensomotorik<br />

des Rumpfes <strong>und</strong> etwaigen<br />

Hautproblemen.In vielen Fällen, insbeson<strong>der</strong>e<br />

bei Muskelerkrankungen,ist die<br />

wirbelsäulenstabilisierende Operation<br />

einer Korsettversorgung vorzuziehen.<br />

Passive Sitzfähigkeit<br />

Passive Sitzfähigkeit heißt, dass aufgr<strong>und</strong><br />

einer neuromotorischen Bewegungsstörung<br />

keine Fähigkeit zur aktiven<br />

Positionierung des Beckens besteht.<br />

Kompensationsmöglichkeiten von Seiten<br />

<strong>der</strong> Schultergürtelmuskulatur sind<br />

aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> TBI-Symptomatik o<strong>der</strong><br />

schweren Muskelschwäche nicht möglich.Drei<br />

Formen <strong>der</strong> passiven Sitzfähigkeit<br />

sollen in Hinblick auf geplante Sitzversorgungsmaßnahmen<br />

<strong>unter</strong>schieden<br />

werden.<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Leichte Fehlhaltung durch<br />

neuromotorische Dyskoordination<br />

<strong>der</strong> Rumpfmuskulatur mit guter<br />

Rückenstreckerrestfunktion<br />

Dieses Bild besteht meist bei Cerebralparesen<br />

<strong>und</strong> Enzephalopathien vom Typ einer<br />

schweren hypoton-spastischen Diparese,leichteren<br />

TBI o<strong>der</strong> dystonen Mischformen.Wird<br />

bei <strong>der</strong> Untersuchung des<br />

Patienten das Becken stabilisiert,ermöglicht<br />

die Restaktivität <strong>der</strong> Rückenstrecker<br />

eine gute Aufrichtung des Rumpfes auch<br />

für längere Sitzphasen.<br />

Therapeutisch steht aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

mangelnden aktiven Beckenstabilisierung<br />

neben <strong>der</strong> obligaten anatomisch<br />

geformten Sitzfläche die Stabilisierung<br />

des Beckens in einer aufgerichteten Mittelstellung<br />

im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>.(Ein vom<br />

Patienten selbst gesteuerter Wechsel<br />

zwischen den oben genannten physiologischen<br />

aktiven Sitzpositionen <strong>und</strong> eine<br />

trotzdem weiterbestehende Stabilität<br />

des Beckens ist unseres Wissens <strong>der</strong>zeit<br />

noch nicht mit vertretbarem technischem<br />

<strong>und</strong> finanziellem Aufwand für<br />

den Alltag gelöst worden).Die Beckenstabilisierung<br />

ist mittels einer vor den<br />

Sitzbeinen angebrachten Stufe in <strong>der</strong> adaptierten<br />

Sitzfläche in Kombination mit<br />

einer dorsalen Beckenkammabstützung<br />

<strong>und</strong> verschiedener Rückhaltemechanismen,<br />

die an beiden Spinae iliacae anteriores<br />

mit hochverdichtetem Schaumstoff<br />

angreifen, in den meisten Fällen gut<br />

erreichbar.Sitzhosen werden aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> die Hüftluxation begünstigenden<br />

Kräfte im Allgemeinen ebenso wenig<br />

empfohlen wie Rückhaltemechanismen<br />

über die Tuberositas tibiae.<br />

Schwere Fehlhaltung durch neuromotorische<br />

Dyskoordination <strong>der</strong><br />

Rumpfmuskulatur mit unzureichen<strong>der</strong><br />

Rückenstreckerrestfunktion<br />

Dieses Bild besteht meist bei Zerebralparesen<br />

<strong>und</strong> Enzephalopathien vom Typ<br />

einer mittelgradig bis schweren hypoton-spastischen<br />

TBI.Auffallende strukturelle<br />

muskuläre o<strong>der</strong> Skelettverän<strong>der</strong>ungen<br />

sind bei diesem Bild nicht zu finden.Wird<br />

bei <strong>der</strong> Untersuchung des Patienten<br />

das Becken stabilisiert, ermöglicht<br />

die Restaktivität <strong>der</strong> Rückenstrecker<br />

keine ausreichende Aufrichtung<br />

des Rumpfes.<br />

Im Rahmen <strong>der</strong> Sitzversorgung ist<br />

es erfor<strong>der</strong>lich zusätzlich zu <strong>der</strong> anato-<br />

Abb. 3 � Mädchen mit spastischer Diparese:<br />

aktive Sitzfähigkeit<br />

misch geformten Sitzfläche <strong>und</strong> den<br />

beckenstabilisierenden Maßnahmen<br />

rumpfstabilisierende Pelotten anzubringen.Seitliche<br />

Pelotten bieten Halt in <strong>der</strong><br />

Frontalebene, <strong>unter</strong> <strong>der</strong> Klavikula stützende<br />

Brustpelotten sichern bei Bedarf<br />

den Oberkörper gegen Rotationsbewegungen<br />

z.B.bei spastisch bedingten Rotationsskoliosen.ZusätzlicheAdaptierungen<br />

sind Nacken- <strong>und</strong> o<strong>der</strong> Kopfstützen,<br />

die nach Möglichkeit die Ohrmuschel<br />

aussparen sollten,Armauflagen<br />

o<strong>der</strong> Schutz gegen Hyperextension im<br />

Schultergelenk.Vor allem bei generalisiertem<br />

Beugemuster sind steckbare Tische<br />

o<strong>der</strong> Haltegriffe bei OE-Restfunktion<br />

therapeutisch hilfreich.Bei generalisiertem<br />

Streckmuster ohne strukturelle<br />

muskuläre Verkürzungen kann ein negativer<br />

Sitzwinkel von 80° in <strong>der</strong> Regel<br />

eine reflexhemmende komfortable Sitzposition<br />

bewirken, nach Eintritt strukureller<br />

Muskel-Skelett-Verän<strong>der</strong>ungen<br />

ist eine medikamentöse o<strong>der</strong> chirurgische<br />

Vorgangsweise meist notwendig,<br />

um eine für den Patienten akzeptable<br />

Sitzposition zu erreichen.<br />

Alle notwendigen Adaptierungen<br />

sind im Rahmen einer aufwendigeren<br />

Rollstuhladaptierung o<strong>der</strong> mittels einer<br />

einfachen Leichtbausitzschale möglich.<br />

Die Sitzschale bietet den Vorteil <strong>der</strong> Flexibilität<br />

durch Verwendung auch mit einem<br />

Zimmer<strong>unter</strong>gestell o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Transportmitteln.Weiterhin ist die Mög-


Abb. 4 � Passive Sitzfähigkeit: kleiner Patient<br />

mit hypoton-spastischer Tetraparese: mit einer<br />

Leichtbausitzschale kann das Therapieziel<br />

verbesserte Wahrnehmung <strong>und</strong> Handmotorik<br />

gut erreicht werden<br />

lichkeit <strong>der</strong> Kippbarkeit auf einem kippbarem<br />

Untergestell zur intermittierenden<br />

Druckentlastung <strong>der</strong> aufgerichteten<br />

<strong>Wirbelsäule</strong> ein entscheiden<strong>der</strong> Vorteil<br />

in <strong>der</strong> Pflege des Patienten.Da es sich bei<br />

<strong>der</strong> Untersuchung <strong>der</strong> Sitzposition in<br />

dieser Patientengruppe um eine Momentaufnahme<br />

handelt, erfolgt die Anpassung<br />

<strong>der</strong> Sitzschale nach Maß, aber<br />

ohne Gipsabdruck.Nach Fertigstellung<br />

des Rohmodells ist eine Probe erfor<strong>der</strong>lich,<br />

um die Auswirkungen <strong>der</strong> Adaptie-<br />

rungen auf das pathologische Bewegungsmuster<br />

<strong>und</strong> die erzielten funktionellen<br />

Verbesserungen beurteilen zu<br />

können.Erst dann erfolgt die definitive<br />

Fertigstellung (Abb.4).<br />

Fehlform des Rumpfes mit<br />

schwerer fixierter spastisch-rigi<strong>der</strong><br />

<strong>Wirbelsäule</strong>n-Thorax-Deformität<br />

Da eine passive Korrektur <strong>der</strong> asymmetrischen<br />

Rumpffehlstellung nicht möglich<br />

ist, muss eine breitflächige Verteilung<br />

des Druckes des Körpergewichtes<br />

auf große, gut durchblutete Hautareale<br />

angestrebt werden.Meist ist einseitig<br />

<strong>der</strong> Trochanter <strong>und</strong> <strong>der</strong> Tuber ossis<br />

ischii beson<strong>der</strong>s druckstellengefährdet<br />

<strong>und</strong> soll durch <strong>unter</strong>schiedliche Maßnahmen<br />

wie spezielle Schaumstoffmaterialien,<br />

Hohllegung <strong>und</strong> gezielte Stufenbildungen<br />

o<strong>der</strong> Pelottierungen entlastet<br />

werden.Nach langjährigen Erfahrungen<br />

mit gipsgeformten Sitzschalen hat sich<br />

in den vergangenen Jahren auch ein Vakuumsitzschalensystem<br />

bewährt, das<br />

auch bei <strong>Wachstum</strong> <strong>und</strong> anatomischen<br />

Verän<strong>der</strong>ungen innerhalb eines kurzen<br />

Zeitraumes, z.B.nach palliativen medikamentösen<br />

o<strong>der</strong> chirurgischen Eingriffen<br />

eine rasche <strong>und</strong> gute Adaptierbarkeit<br />

ermöglicht.<br />

In dieser Patientengruppe ist es beson<strong>der</strong>s<br />

wichtig, strukturelle Verän<strong>der</strong>ungen<br />

des Muskel- <strong>und</strong> Skelettsystems<br />

mit Auswirkungen auf benachbarte Regionen<br />

richtig zu erkennen <strong>und</strong> im Rahmen<br />

<strong>der</strong> Versorgung zu berücksichtigen.<br />

So soll bei einer fixierten Windschlagdeformität<br />

(z.B.Abduktionskontraktur<br />

rechts,Adduktionskontraktur links) das<br />

Becken als Basis <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> neutral<br />

eingestellt werden, um die <strong>Wirbelsäule</strong><br />

besser versorgen zu können.Die Oberschenkelführung<br />

erfolgt entsprechend<br />

asymmetrisch.Eine asymmetrische<br />

Beinführung ist auch bei fixierten einseitigen<br />

Hüftstreckkontrakturen zur<br />

Entlastung <strong>der</strong> skoliosierenden <strong>Wirbelsäule</strong><br />

anzustreben.<br />

Weitere therapeutische<br />

Möglichkeiten<br />

In vielen Fällen ist durch <strong>unter</strong>stützende<br />

medikamentöse <strong>und</strong> orthopädisch-chirurgische<br />

Maßnahmen das Therapieziel<br />

<strong>der</strong> Sitzversorgung wesentlich leichter<br />

erreichbar:<br />

Die lokale intramuskuläre Botulinumtoxininjektion<br />

zur Erzielung einer<br />

neuromuskulären Blockade einzelner<br />

Muskeln soll hier erwähnt werden.Bei<br />

hochgradiger Spastizität kann eine perorale<br />

systemische Verabreichung von<br />

Baclofen o<strong>der</strong> die intrathekale Gabe von<br />

wesentlich geringeren Mengen an Baclofen<br />

über einen implantierten Katheter<br />

zum Erreichen <strong>der</strong> Sitzfähigkeit in einer<br />

Sitzschale führen.<br />

Operative Eingriffe zur Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Sitzfähigkeit können nach<br />

sorgfältiger Indikationsstellung im Team<br />

an allen Etagen des Bewegungssystems<br />

vorgenommen werden: an peripheren<br />

Nerven, Muskeln, Faszien <strong>und</strong> Sehnen,<br />

wobei prophylaktische, funktionsverbessernde<br />

<strong>und</strong> palliative Indikationen<br />

<strong>unter</strong>schieden werden können:<br />

Eine oft unbemerkte strukturelle<br />

Verkürzung <strong>der</strong> ischiokruralen Muskulatur<br />

führt häufig zu einer langsam progredienten<br />

Verschlechterung <strong>der</strong> Sitzfähigkeit<br />

mit zunehmen<strong>der</strong> Kyphosierung<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>.Eine Mehretagen-<br />

Weichteilrelease-Operation kann in diesem<br />

Fall eine deutliche Verbesserung <strong>der</strong><br />

Sitzqualität bewirken.<br />

Bei Patienten mit TBI steht die Behandlung<br />

einer progredienten Hüftluxation<br />

im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>, da bei mehr als<br />

<strong>der</strong> Hälfte ab dem Jugendalter Schmerzen<br />

zu einer massiven Einschränkung<br />

<strong>der</strong> Sitzfähigkeit <strong>und</strong> Pflegefähigkeit<br />

führen.Weichteil-Releases im Kleinkindalter<br />

o<strong>der</strong> kombiniert mit pfannenbildenden<br />

Eingriffen im (Vor)Schulalter<br />

verhin<strong>der</strong>n so meist die spätere Notwendigkeit<br />

einer auch aufgr<strong>und</strong> des Alters<br />

wesentlich aufwendigeren zusätzlichen<br />

offenen Reposition <strong>und</strong> verbessern neben<br />

<strong>der</strong> Sitzfähigkeit auch die Transfersteh-<br />

<strong>und</strong> Transfergehfähigkeit.<br />

In Fällen in denen trotz ausgedehnter<br />

struktureller Verän<strong>der</strong>ungen an<br />

Muskulatur <strong>und</strong> Skelettsystem ein operatives<br />

Vorgehen nicht möglich ist <strong>und</strong><br />

eine sitzende Körperposition nicht mehr<br />

erreicht werden kann, ist an die Möglichkeit<br />

<strong>der</strong> Versorgung mittels einer<br />

Ganzkörper-Lagerungsorthese zu denken.Dieses<br />

in Körperform ausgefräste<br />

Schaumstoffbett stellt für schwerstbehin<strong>der</strong>te<br />

Patienten mit<strong>unter</strong> die einzige<br />

Möglichkeit dar, ihr Bett zu verlassen<br />

<strong>und</strong> ins Freie zu gelangen.<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 63


64<br />

Fazit für die Praxis<br />

Das Ziel einer Versorgung mit einem Sitzversorgungssystem<br />

ist die Verbesserung<br />

<strong>der</strong> Lebensqualität sowohl <strong>der</strong> betroffenen<br />

als auch <strong>der</strong> betreuenden Personen.<br />

Eine exakte Untersuchung im Team <strong>und</strong><br />

eine die zugr<strong>und</strong>eliegende Pathophysiologie<br />

berücksichtigende systematische<br />

Klassifikation kann die Indikationsstellung<br />

für die Art des Behelfes, die richtige Wahl<br />

des Zeitpunktes <strong>und</strong> Überlegungen zur<br />

Kombination <strong>der</strong> orthopädietechnischen<br />

Möglichkeiten erleichtern <strong>und</strong> häufige<br />

Fehler in <strong>der</strong> Adaptierung von Sitzhilfen<br />

vermeiden helfen.<br />

Literatur<br />

1. Motloch W (1977) Seating and positioning<br />

for the physically impaired. Orthop Prosthet<br />

31: 11–21<br />

2. Rang M, Douglas G, Bennet GC, Koreska J<br />

(1981) Seating for children with cerebral palsy.<br />

J Pediatr Orthop 1: 279–287<br />

3. Jarvis S (1985) Wheelchair clinics for children.<br />

Physiotherapy 71: 132–134<br />

4. Carlson JM et al.(1986) Seating for children<br />

and adolescents with cerebral palsy.<br />

Clin Prosthet Orthop 10: 137–158<br />

5. Frischhut B et al. (1990) Sitzprobleme<br />

Schwerbehin<strong>der</strong>ter, problemgerechte<br />

Lösungsmöglichkeiten. Med Orthop Tech<br />

110: 122–127<br />

6. Myhr U, von Wendt L (1991) Improvement<br />

of functional sitting position for children<br />

with cerebral palsy. Dev Med Child Neurol<br />

33: 246–256<br />

7. Dö<strong>der</strong>lein L (1995) Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> Sitzversorgung<br />

bei den schweren Formen <strong>der</strong> infantilen<br />

Zerebralparese. Med Orthop Tech 115:<br />

266–273<br />

8. Tefft D, Guerette P, Furumasu J (1999) Cognitive<br />

predictors of young children’s readiness for<br />

powered mobility. Dev Med Child Neurol 41:<br />

665–670<br />

9. Strobl W et al. (2000) Sitzhilfen für körper<strong>und</strong><br />

mehrfachbehin<strong>der</strong>te Menschen –<br />

Pathophysiologie, Indikationen <strong>und</strong> Fehler.<br />

Orthop Tech 51: 1042–1051<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Fachnachricht<br />

Thema: Krummer Rücken<br />

25. Deutscher Krebskongress,<br />

10.–14. März 2002, Berliner ICC<br />

Struktur <strong>und</strong> Inhalt<br />

Der Kongress verfolgt gleichermaßen die Ziele,Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Fortbildung in allen Disziplinen <strong>der</strong><br />

Onkologie,die Programmatik <strong>der</strong> Deutschen Krebsgesellschaft<br />

<strong>und</strong> die vielfältigen Kooperationen<br />

darzustellen.Erstmals handelt es sich um einen gemeinsamen<br />

Kongress <strong>der</strong> beiden wichtigsten Institutionen<br />

zur Krebsbekämpfung <strong>und</strong> Versorgung<br />

von Krebskranken in Deutschland,<strong>der</strong> Deutschen<br />

Krebsgesellschaft <strong>und</strong> <strong>der</strong> Deutschen Krebshilfe.<br />

Als Schwerpunktthemen wurden die Erkrankungen<br />

mit den höchsten Inzidenzen ausgewählt:<br />

das Mammakarzinom, das Bronchialkarzinom,<br />

das kolorektale Karzinom <strong>und</strong> das Prostatakarzinom.<br />

Diese Themen werden ganztägig abgehandelt.<br />

Zunächst erfolgt die Beschreibung des<br />

„state of the art“ aus Sicht des Operateurs, des<br />

Strahlentherapeuten <strong>und</strong> des Internistischen Onkologen.<br />

Danach folgt eine Sitzung, die ausgewählte<br />

freie Vorträge mit einem Gr<strong>und</strong>satzreferat<br />

zu den Zukunftsperspektiven <strong>der</strong> Erkrankung<br />

verbindet. Abgeschlossen wird <strong>der</strong> Tag durch ein<br />

interdisziplinäres Forum, auf dem alle Referenten<br />

<strong>und</strong> Vorsitzenden <strong>unter</strong> Leitung eines Mo<strong>der</strong>ators<br />

mit dem Auditorium diskutieren. Anschließend<br />

wird über eine TED-Befragung <strong>der</strong> Informationsgewinn<br />

bemessen.<br />

An den Mittagen werden täglich Themen<br />

<strong>der</strong> Zeit in „key lectures“ behandelt. Als Themen<br />

wurden gewählt: Genomforschung; Bioethik; Ges<strong>und</strong>heit<br />

als Wert <strong>und</strong> Ware; Sterbehilfe.<br />

Ebenfalls an den Mittagen finden die Präsidentensymposien<br />

statt: Hierin werden zertifizierte<br />

Studien präsentiert, das Kommunique <strong>der</strong><br />

Europäischen Krebsgesellschaften vorgestellt <strong>und</strong><br />

es tragen die Preisträger des Deutschen Krebspreises<br />

<strong>und</strong> des Wissenschaftspreises <strong>der</strong> AIO vor.<br />

Als weitere Themenstränge (ganztägige Veranstaltungen)<br />

sind geplant: ein Tag <strong>der</strong> Europäischen<br />

Krebsgesellschaften, an dem über Inhalte<br />

<strong>und</strong> Ziele ihrer Arbeit berichtet wird; ein Tag<br />

<strong>der</strong> Interdisziplinarität; ein Tag <strong>der</strong> Qualitätssicherung;<br />

ein Tag <strong>der</strong> Arbeitsgemeinschaften<br />

<strong>der</strong> DKG. Zwei Tage sind speziell den gemeinsamen<br />

Symposien <strong>der</strong> Deutschen Krebshilfe <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Deutschen Krebsgesellschaft vorbehalten. Das<br />

Programm wird ausgefüllt durch eine Vielzahl von<br />

wissenschaftlichen Symposien <strong>und</strong> „educationals“.<br />

Beson<strong>der</strong>es Augenmerk wird den freien<br />

Vorträgen <strong>und</strong> <strong>der</strong> Präsentation wissenschaftlicher<br />

Poster gewidmet. Die Partner <strong>der</strong> forschenden<br />

Pharmaindustrie veranstalten parallel assoziierte<br />

Symposien. Parallel findet <strong>der</strong> Kongress<br />

für onkologische Pflegekräfte statt.<br />

Der Programmatik <strong>der</strong> Deutschen Krebsgesellschaft<br />

zur Verbesserung des Dialogs mit <strong>der</strong><br />

Gesellschaft folgend, soll an allen Tagen eine<br />

mehrstündige Veranstaltung mit <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

(Ges<strong>und</strong>e wie Betroffene) stattfinden. Diese<br />

wird von einem „Botschafter“ <strong>und</strong> einem bekannten<br />

Mo<strong>der</strong>ator geleitet <strong>und</strong> wird die Themen „Leben<br />

ohne Krebs (Prävention)“, Leben mit Krebs“<br />

<strong>und</strong> „Leben nach Krebs“ behandeln.<br />

Erstmals findet eine Mitglie<strong>der</strong>versammlung<br />

<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Deutschen Krebsgesellschaft<br />

statt. Ferner wird ein Gesellschaftsabend<br />

<strong>und</strong> ein Kongresslauf zur Indentifikationssteigerung<br />

<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> <strong>und</strong> Noch-Nicht-Mitglie<strong>der</strong><br />

mit unserer Fachgesellschaft beitragen.<br />

Jena, im Juli 2001<br />

Prof. Dr. Klaus Höffken<br />

Kongresspräsident<br />

Weitere Informationen:<br />

www.krebskongress2002.de


Orthopäde<br />

2002 · 31:65-73 © Springer-Verlag 2002<br />

Zusammenfassung<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nverletzungen im <strong>Wachstum</strong>salter<br />

sind selten, gehen jedoch häufiger als<br />

beim Erwachsenen mit neurologischen Störungen<br />

einher. Diese können auch ohne konventionell<br />

radiologisch fassbare Verletzungen<br />

vorkommen. Die Problematik <strong>der</strong> Röntgendiagnostik<br />

liegt v. a. in <strong>der</strong> Abgrenzung<br />

von Synchondrosen <strong>und</strong> Apophysen gegenüber<br />

Frakturlinien. Bei neurologischen Ausfällen<br />

ohne radiologisch fassbare Läsionen<br />

ist die Abklärung mittels Magnetresonanztomographie<br />

indiziert. Die Verletzungstypen<br />

entsprechen im Prinzip denjenigen <strong>der</strong> Erwachsenen,<br />

zusätzlich sehen wir Verletzungen<br />

<strong>der</strong> Endplatten (<strong>Wachstum</strong>sfuge) <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> Ringapophysen. Stabile Kompressionsfrakturen<br />

werden konservativ behandelt. Die<br />

Fähigkeit zur spontanen Korrektur einer<br />

posttraumatischen Fehlstellung nimmt mit<br />

dem Alter ab: Bei den <strong>unter</strong> 10-jährigen Kin<strong>der</strong>n<br />

ist die Wie<strong>der</strong>aufrichtungspotenz <strong>der</strong><br />

posttraumatischen Kyphose ausgezeichnet,<br />

während Fehlstellungen in <strong>der</strong> Frontalebene<br />

nur zögerlich o<strong>der</strong> gar nicht remodellieren.<br />

Instabile Verletzungen sowie Verletzungen<br />

mit Kompression von neuralen Strukturen<br />

werden im Prinzip operativ behandelt.<br />

Schlüsselwörter<br />

<strong>Wirbelsäule</strong> · Kindesalter ·<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nverletzung · Spontankorrektur ·<br />

Fraktur<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

C. Hasler 1 · B. Jeanneret 2<br />

1 Kin<strong>der</strong>orthopädische Universitätsklinik Basel<br />

2 Orthopädische Universitätsklinik, Felix Platter-Spital, Basel<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nverletzungen<br />

im <strong>Wachstum</strong>salter<br />

Im Gegensatz zu den gut bekannten<br />

Verletzungen des Erwachsenen sind die<br />

Verletzungen <strong>der</strong> kindlichen <strong>Wirbelsäule</strong><br />

sehr viel seltener <strong>und</strong> deshalb auch<br />

weniger bekannt. Während die Verletzungen<br />

des Adoleszenten denjenigen<br />

des Erwachsenen gleichen, weisen die<br />

Verletzungen <strong>der</strong> Kleinkin<strong>der</strong> Beson<strong>der</strong>heiten<br />

in Bezug auf Erscheinungsbild,<br />

Therapie <strong>und</strong> Prognose auf, die in<br />

diesem Artikel beschrieben werden. Die<br />

Kenntnis <strong>der</strong> Klassifikation <strong>der</strong> Frakturen<br />

<strong>der</strong> Erwachsenen <strong>Wirbelsäule</strong> wird<br />

vorausgesetzt [11, 19].<br />

Häufigkeit<br />

Verletzungen <strong>der</strong> kindlichen <strong>Wirbelsäule</strong><br />

sind selten. Sie stellen nur 1,5% aller<br />

kindlichen Verletzungen bzw. 2–5%<br />

aller <strong>Wirbelsäule</strong>ntraumata dar [31].<br />

Dies liegt daran, dass Kin<strong>der</strong> nicht dem<br />

Risiko von Arbeitsunfällen ausgesetzt<br />

sind <strong>und</strong> Traumen wie sie bei Erwachsenen<br />

im Rahmen von Arbeit,Verkehrsunfällen<br />

o<strong>der</strong> beim Sport vorkommen,<br />

selten sind. Wahrscheinlich sind diese<br />

Zahlen aber etwas zu tief, weil nicht selten<br />

bei einfachen Traumen auf eine radiologische<br />

Abklärung verzichtet wird<br />

<strong>und</strong> zudem die Interpretation <strong>der</strong> Röntgenanatomie<br />

<strong>der</strong> kindlichen <strong>Wirbelsäule</strong><br />

Schwierigkeiten bereiten kann. Erfahrungsgemäß<br />

werden deshalb nicht selten<br />

Kompressionsfrakturen verpasst<br />

<strong>und</strong> erst aufgr<strong>und</strong> einer sich entwickelnden<br />

Keilform retrospektiv diagnostiziert.<br />

Altersverteilung<br />

Das durchschnittliche Alter <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong><br />

mit <strong>Wirbelsäule</strong>nverletzungen liegt bei<br />

11 Jahren, wobei 2 Altersgipfel imponieren:<br />

die 3- bis 4-Jährigen <strong>und</strong> die Adoleszenten.<br />

Die Altersgruppe <strong>der</strong> 3- bis 4-<br />

Jährigen ist vor allem als Autoinsasse bei<br />

Verkehrsunfällen <strong>und</strong> bei Stürzen aus einer<br />

gewissen Höhe gefährdet, während<br />

die meist männlichen Adoleszenten aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer erhöhten Risikobereitschaft<br />

beson<strong>der</strong>s beim Sport <strong>und</strong> als aktive<br />

Verkehrsteilnehmer gefährdet sind [21,<br />

24, 37].<br />

Verletzungshöhe<br />

Das Alter <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> bestimmt die prädominante<br />

Verletzungshöhe: Während<br />

bei den Adoleszenten die Verletzungen<br />

am thorakolumbalen Übergang dominieren<br />

<strong>und</strong> das Verletzungsmuster demjenigen<br />

<strong>der</strong> Erwachsenen entspricht, ist<br />

bei Kleinkin<strong>der</strong>n beson<strong>der</strong>s häufig die<br />

obere Halswirbelsäule <strong>und</strong> die mittlere<br />

Brustwirbelsäule betroffen [30, 31].<br />

Verletzungsursache<br />

Wie beim Erwachsenen sind die Verletzungsursachen<br />

mannigfaltig:<br />

Dr. Carol-C. Hasler<br />

Orthopädische Abteilung,<br />

Universitäts-Kin<strong>der</strong>spital bei<strong>der</strong> Basel,<br />

Römergasse 8, 4005 Basel/Schweiz,<br />

E-Mail: cjhasler@swissonline.ch<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 65


66<br />

Orthopäde<br />

2002 · 31:65-73 © Springer-Verlag 2002<br />

C. Hasler · B. Jeanneret<br />

Pediatric spine injuries<br />

Abstract<br />

Spine injuries during growth are rare, but in<br />

comparison to adults they are more often associated<br />

with neurologic impairment.They<br />

also may occur without visible injuries in Xrays.The<br />

problems of conventional radiologic<br />

diagnostics include before all the differential<br />

diagnosis between synchondrosis,<br />

apophysis and fracture lines. MRI is indicated<br />

in case of neurologic deficits without radiologic<br />

abnormalities. In principle the fracture<br />

types correspond to those seen in adults. In<br />

addition growth specific injuries of the endplates<br />

(growth plates) or ring apophysis may<br />

occur. Stable compression fractures are treated<br />

conservatively.The spontaneous remodelling<br />

capacity for posttraumatic deformities<br />

decreases with age: in children below the<br />

age of ten years the remodelling capacity for<br />

posttraumatic kyphosis is excellent whereas<br />

deformities in the frontal plane show no or<br />

only incomplete remodelling. Unstable fractures<br />

and injuries with associated compression<br />

of neural structures should be treated<br />

conservatively.<br />

Keywords<br />

Spine · Injuries · Pediatric · Remodelling ·<br />

Fracture<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Verkehrsunfälle. Bei Verkehrsunfällen<br />

sind Kin<strong>der</strong> vor allem als Fußgänger<br />

o<strong>der</strong> als Pkw-Mitfahrer betroffen [21].<br />

Obwohl die Sicherung in altersgerechten<br />

Sitzen o<strong>der</strong> mit Gurten zu einem Rückgang<br />

<strong>der</strong> Verletzungen geführt hat,<br />

kommt es auch bei mo<strong>der</strong>nen Fixierungssystemen<br />

zu <strong>Wirbelsäule</strong>nverletzungen.<br />

Die Halswirbelsäule (HWS) ist<br />

auch bei diesen Sicherheitssystemen frei<br />

beweglich <strong>und</strong> bei einem Aufprall durch<br />

die einwirkenden Distraktionskräfte gefährdet.<br />

Zudem kann <strong>der</strong> schräge Schulteranteil<br />

des Dreipunktegurtes die <strong>unter</strong>e<br />

HWS o<strong>der</strong> den Plexus brachialis direkt<br />

verletzen. Beckengurte sollten nicht<br />

mehr verwendet werden. Bei einem Aufprall<br />

führen diese zu Distraktionsverletzungen<br />

im LWS-Bereich im Sinne von<br />

Chance-Frakturen mit horizontaler<br />

Spaltung des Wirbelkörpers <strong>und</strong> zudem<br />

auch zu intraabdominellen Verletzungen<br />

(„lap belt syndrome“; [29]). Bei<br />

Fahrradunfällen sind neben HWS-Läsionen<br />

zusätzlich Verletzungen <strong>der</strong> oberen<br />

Brustwirbelsäule (BWS) typisch.<br />

Sturzverletzungen. Stürze kommen vor<br />

allem beim Sport z. B. Snowboard, Rodeln<br />

usw. vor. Solche Stürze sind in <strong>der</strong><br />

Regel für Kompressionsfrakturen im<br />

BWS- <strong>und</strong> LWS-Bereich verantwortlich.<br />

Geburtsverletzungen. Komplizierte Geburten,bei<br />

denen innere Wendungen des<br />

Kindes o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gebrauch <strong>der</strong> Zange notwendig<br />

werden, können mit zervikothorakalen<br />

o<strong>der</strong> hochthorakalen Läsionen<br />

mit o<strong>der</strong> ohne Rückenmarksverletzung<br />

einhergehen. Muskelhypotonie, Zwerchfelllähmung,<br />

Tetra- o<strong>der</strong> Paraplegie nach<br />

schwierigen Geburten müssen deshalb<br />

differenzialdiagnostisch an eine entsprechende<br />

Verletzung denken lassen <strong>und</strong> eine<br />

entsprechende Abklärung mittels Magnetresonanztomographie<br />

(MRT) nach<br />

sich ziehen [12, 22].<br />

Kindsmisshandlungen. Obwohl bei Kindsmisshandlungen<br />

die <strong>Wirbelsäule</strong>nverletzungen<br />

nur 2–3% aller Frakturen ausmachen,<br />

sollte die Bildgebung <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

Bestandteil <strong>der</strong> Routineabklärung<br />

sein. Meist liegen Begleitverletzungen<br />

vor,isolierte <strong>Wirbelsäule</strong>ntraumen kommen<br />

jedoch auch vor. Am häufigsten<br />

werden thorakolumbale <strong>und</strong> lumbale<br />

Kompressionsfrakturen beobachtet.Fälle<br />

von Luxationsfrakturen, sowie seltene<br />

Verletzungen wie z. B. eine gleichzeitige<br />

Lösung <strong>der</strong> kranialen <strong>und</strong> <strong>der</strong> kaudalen<br />

<strong>Wachstum</strong>sfuge am gleichen Wirbel<br />

wurden beobachtet [4].<br />

Neurologische Komplikationen<br />

Die Häufigkeit von neurologischen Ausfällen<br />

bewegt sich zwischen 14% <strong>und</strong><br />

57% [21, 24, 31], wobei komplette Querschnittssyndrome<br />

bei 19–25% <strong>der</strong> Patienten<br />

beobachtet werden. Halswirbelsäulenverletzungen<br />

haben mit 20–30%<br />

neurologischen Komplikationen das<br />

höchste Risiko.<br />

Wie beim Erwachsenen sind Rückenmarkskompressionen<br />

o<strong>der</strong> Dehnungen<br />

aufgr<strong>und</strong> von Luxationen o<strong>der</strong> dislozierter<br />

Knochenfragmente für die neurologischen<br />

Ausfälle verantwortlich. Aufgr<strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> größeren Bandlaxität können jedoch<br />

beim Kind Bewegungen stattfinden, die<br />

zwar zu einer Läsion des Rückenmarkes<br />

führen, jedoch nicht immer mit einer radiologisch<br />

fassbaren Läsion <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

einhergehen (SCIWORA: „spinal<br />

cord injury without radiographic abnormality“).<br />

Diesem Phänomen liegt die<br />

kindsspezifische Bandlaxität <strong>und</strong> Hypermobilität<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> zugr<strong>und</strong>e: die<br />

kindliche <strong>Wirbelsäule</strong> kann experimentell<br />

5 cm ohne Zerreißung von ligamentären<br />

Strukturen gedehnt werden, während die<br />

Erwachsenenwirbelsäule schon nach<br />

6 mm Läsionen zeigt [16].Bei Kin<strong>der</strong>n mit<br />

neurologischer Symptomatik nach einem<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>ntrauma beträgt <strong>der</strong> SCI-<br />

WORA Anteil 20–60% [24, 31]. Die MRT<br />

ist bei diesen Patienten sehr hilfreich <strong>und</strong><br />

zeigt in <strong>der</strong> Regel die Ursache <strong>der</strong> neurologischen<br />

Ausfälle: Beschrieben sind Rupturen<br />

des anterioren <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> posteriorenLängsbandes,Diskushernien,Rückenmarkdurchtrennungen,<br />

-blutungen <strong>und</strong><br />

-ödeme usw. [8].<br />

Die Prognose <strong>der</strong> neurologischen<br />

Ausfällen hängt von <strong>der</strong> Ausprägung des<br />

neurologischen Defizits sowie vom Alter<br />

des Kindes ab, wobei Patienten mit<br />

kompletten Querschnittsyndromen <strong>und</strong><br />

jüngere Kin<strong>der</strong> eine schlechtere Erholungstendenz<br />

zeigen.<br />

Bildgebende Diagnostik<br />

Die Schwierigkeit <strong>der</strong> radiologischen<br />

Abklärung beim Kind liegt in <strong>der</strong> sich<br />

mit dem <strong>Wachstum</strong> än<strong>der</strong>nden Röntgenmorphologie<br />

[36]. Das Ossifikationsmuster<br />

muss bekannt <strong>und</strong> berücksichtigt<br />

werden, zusätzlich müssen bei keil-


Tabelle 1<br />

Differenzialdiagnose des kindlichen Keilwirbels<br />

Fraktur Oft asymmetrische Keilform, flache o<strong>der</strong> konkave Deckplatte,<br />

Spongiosaverdichtung <strong>unter</strong> knöcherner Deckplatte, flachere<br />

<strong>und</strong> breitere Wirbelkörper, Serienfrakturen, positives Szintigramm<br />

Pathologische Fraktur Eosinophiles Granulom, Leukämie, aneurysmatische Knochenzyste,<br />

M. Calvé: aseptische Knochennekrose<br />

Morbus Scheuermann Mehrere Wirbel betroffen, Diskusverschmälerung, a.-p.-Durchmesser<br />

höher, Schmorlsche Knötchen<br />

Spondylitis Eventuell mit pathologischer Fraktur, evtl. Fieber, Krankheitsgefühl,<br />

Schmerz, Status nach Infekt, Leukozytenzahl erhöht, erhöhte<br />

Blutsenkungsgeschwindigkeit, erhöhtes C-reaktives Protein,<br />

positive Blutkulturen, Szinitigramm positiv<br />

Tumor Positives Szintigramm, CT<br />

Stoffwechselstörung Osteogenesis: oft auf mehreren Niveaus. Mukopolysaccharidose v. a.<br />

Morquio: alle Wirbel involviert wie bei spondyloepiphysärer Dysplasie<br />

Kongenital Hemivertebrae kein Schmerz, oft Endplatten- <strong>und</strong> Diskusabnormitäten,<br />

normales Szintigramm<br />

förmigen Wirbeln differenzialdiagnostisch<br />

zum Trauma an<strong>der</strong>e Entitäten in<br />

Betracht gezogen werden (Tabelle 1).<br />

Primär wird jede Verletzung konventionell<br />

radiologisch abgeklärt. Zur<br />

Abklärung <strong>der</strong> gesamten <strong>Wirbelsäule</strong><br />

sind folgende Projektionen unerlässlich:<br />

HWS a.-p./seitlich, BWS a.-p./seitlich<br />

<strong>und</strong> LWS a.-p./seitlich. Zusätzlich sollte<br />

zur Abklärung <strong>der</strong> HWS eine transorale<br />

Aufnahme vorgenommen werden. Falls<br />

dies nicht möglich ist (Kleinkind, mangelhafte<br />

Kooperation), muss zur Abklärung<br />

<strong>der</strong> oberen HWS eine Computertomographie<br />

(CT) erfolgen. Diese Abklärung<br />

<strong>der</strong> oberen HWS mittels CT ist<br />

zudem bei jedem Schädel-Hirn-Trauma<br />

unerlässlich. Eine CT wird auch immer<br />

dann vorgenommen, wenn eine Atlasfraktur<br />

o<strong>der</strong> eine eventuelle Einengung<br />

des Spinalkanals durch eine Berstungsfraktur<br />

abgeklärt werden soll.<br />

Eine MRT wird dagegen zur Abklärung<br />

des Rückenmarks sowie <strong>der</strong> diskoligamentären<br />

Strukturen in unklaren Situationen<br />

vorgenommen. Sie ist beson<strong>der</strong>s<br />

dann indiziert, wenn trotz klinisch<br />

dringendem Verdacht auf eine <strong>Wirbelsäule</strong>nverletzung<br />

konventionell radiologisch<br />

die Diagnose nicht bestätigt werden<br />

kann o<strong>der</strong> wenn die Ursache einer<br />

neurologischen Ausfallsymptomatik unklar<br />

ist <strong>und</strong> abgeklärt werden soll. Bei<br />

<strong>der</strong> Indikationsstellung zur CT o<strong>der</strong><br />

MRT-Untersuchung sollte bedacht werden,<br />

dass für CT- <strong>und</strong> MRT-Untersuchungen<br />

bei jüngeren Kin<strong>der</strong>n eine An-<br />

ästhesie benötigt wird <strong>und</strong> die CT-Untersuchung<br />

eine zusätzliche Strahlenbelastung<br />

beinhaltet.<br />

Funktionsaufnahmen <strong>unter</strong> Bildverstärkerkontrolle<br />

sind zur Beurteilung<br />

von diskoligamentären Verletzungen<br />

unerlässlich. Sie müssen vom Arzt selbst<br />

vorgenommen werden <strong>und</strong> sollten, falls<br />

möglich, bei wachem Patienten durchgeführt<br />

werden.<br />

Die Skelettszintigraphie hat dann<br />

ihre Berechtigung, wenn bei Verdacht<br />

auf eine Kindsmisshandlung frische<br />

o<strong>der</strong> in Konsolidation begriffene Frakturen<br />

nachgewiesen werden sollen.<br />

Verletzungstypen<br />

Beim Kind können sämtliche Verletzungen<br />

des Erwachsenen beobachtet werden.<br />

Wie beim Erwachsenen können die<br />

Verletzungen in Kompressions-,Distraktions-<br />

<strong>und</strong> Rotationsverletzungen <strong>unter</strong>teilt<br />

werden.Im Folgenden werden lediglich<br />

die Verletzungen näher erläutert,die<br />

Beson<strong>der</strong>heiten gegenüber <strong>der</strong> Verletzungen<br />

des Erwachsenen aufweisen.<br />

Verletzungen <strong>der</strong> knorpeligen<br />

Anlagen<br />

Bandscheibe, knorpelige Endplatten<br />

<strong>und</strong> Ringapophysen bilden im Zwischenwirbelbereich<br />

eine anatomische<br />

Einheit, wobei die Bandscheibe die mechanisch<br />

höchste Wi<strong>der</strong>standsfähigkeit<br />

aufweist.<br />

Frakturen <strong>der</strong> knorpeligen<br />

Wirbelkörperendplatte<br />

Als locus minoris resistentiae bei Einwirkung<br />

von Kompressionskräften hat<br />

sich in experimentellen Kadaver- <strong>und</strong><br />

Tierversuchen die knorpelige Endplatte<br />

<strong>und</strong> damit die <strong>Wachstum</strong>sfuge <strong>der</strong> Wirbelkörper<br />

erwiesen [2, 13]. Der histologische<br />

Aufbau in Schichten entspricht<br />

weitgehend dem einer peripheren<br />

<strong>Wachstum</strong>sfuge <strong>und</strong> ebenso wie diese,<br />

stellt auch die Endplatte den Ort des<br />

Längenwachstums dar. Im Gegensatz zu<br />

den langen Röhrenknochen ist die Endplatte<br />

jedoch nicht durch eine knöcherne<br />

Epiphyse geschützt son<strong>der</strong>n grenzt<br />

direkt an den Discus intervertebralis an.<br />

Somit ergeben sich folgende Wirbelverletzungen<br />

mit Einbeziehung <strong>der</strong><br />

Endplatte:<br />

◗ Reine Lösung <strong>der</strong> <strong>Wachstum</strong>szone<br />

durch die hypertrophierende Knorpelzellschicht.<br />

◗ Die Frakturlinie durchquert senkrecht<br />

die <strong>Wachstum</strong>szone. Meistens<br />

ist diese Fraktur dorsal am Wirbelkörper<br />

lokalisiert <strong>und</strong> mit einem Abriss<br />

des Anulus fibrosus kombiniert.<br />

Teile <strong>der</strong> Bandscheibe können im<br />

Frakturspalt eingeklemmt sein [17].<br />

Prognose. Läsionen <strong>der</strong> <strong>Wachstum</strong>sfugen<br />

führen potenziell zu sek<strong>und</strong>ären<br />

Deformitäten [21].<br />

Verletzungen des Apophysenrings<br />

Der Apophysenring dient nicht dem Wirbelwachstum,<br />

son<strong>der</strong>n vornehmlich <strong>der</strong><br />

Verankerung des Anulus fibrosus am<br />

Wirbelkörper.Ferner dient er auch als Insertion<br />

<strong>der</strong> Pars lumbalis diaphragmae.<br />

Die Apophysen ossifizieren ab dem 13.Lebensjahr<br />

<strong>und</strong> fusionieren ab dem 17. Lebensjahr<br />

mit dem Wirbelkörper, wobei<br />

dieser Prozess normalerweise bis zum<br />

25. Lebensjahr abgeschlossen ist. In Einzelfällen<br />

kann <strong>der</strong> Apophysenring jedoch<br />

auch im Erwachsenenalter persistieren<br />

[6, 32]. Meist werden Apophysenabrisse<br />

im Bereich <strong>der</strong> <strong>unter</strong>en Lendenwirbelsäule<br />

bei männlichen Adoleszenten als<br />

Läsionen <strong>der</strong> kranialen Apophyse gef<strong>und</strong>en,<br />

seltener auch an <strong>der</strong> Brust- <strong>und</strong><br />

Halswirbelsäule, wobei dann vor allem<br />

die kaudalen Ringe betroffen sind [35].<br />

Pathogenetisch können sowohl ein<br />

einzelnes heftiges Trauma als auch repe-<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 67


68<br />

titive Traumen beim Sport (Kunstturnen,<br />

Ringen) dieser Verletzung zugr<strong>und</strong>e liegen<br />

<strong>und</strong> zu radiologischen Abnormitäten<br />

im Apophysenbereich führen. Entsprechend<br />

<strong>der</strong> einwirkenden Kräfte kommt es<br />

durch Traktion zur Vergrößerung o<strong>der</strong><br />

Persistenz <strong>der</strong> Apophyse o<strong>der</strong> durch<br />

Kompression zur Exkavation des Wirbelkörperrandes<br />

[35]. Bei akuten Traumen<br />

entscheidet das Stadium des Ossifikationsprozesses<br />

über Zusammensetzung<br />

<strong>und</strong> Größe des abgerissenen hinteren<br />

Knorpel- <strong>und</strong>/o<strong>der</strong> Knochenfragmentes:<br />

◗ Typ I: Apophyse mit Kortikalisausriss,<br />

◗ Typ II: Apophyse mit Kortikalis <strong>und</strong><br />

Spongiosa,<br />

◗ Typ III: Apophyse mit einem kleinen<br />

lateralen Wirbelkörperfragment,<br />

◗ Typ IV: Apophyse mit Ausriss <strong>der</strong><br />

ganzen Wirbelkörperhinterwand.<br />

Klinisches Bild. Typischerweise präsentieren<br />

sich die Patienten mit lumbalen<br />

Rückenschmerzen, sowie Beinschmerzen<br />

<strong>und</strong> neurologischen Ausfällen <strong>unter</strong>schiedlichen<br />

Ausmaßes. Begleitend<br />

kann auf Frakturhöhe eine Diskushernie<br />

vorliegen [6, 32].<br />

Therapie. Exzision des fibrokartilaginären,<br />

respektive knöchernen Fragmentes<br />

bei Persistenz von radikulären Symptomen.<br />

Halswirbelsäule<br />

Atlantookzipitale Dislokation<br />

Diese seltene Verletzung ist doppelt so<br />

häufig bei Kin<strong>der</strong>n wie beim Erwachse-<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

Abb. 1 � 2-jähriges Mädchen: Densfraktur mit Ventralabkippung <strong>und</strong> -translation. Unmittelbar<br />

nach dem Trauma trat eine Halbseiten-Symptomatik <strong>und</strong> Horner-Syndrom auf, welche sich nach<br />

geschlossener Reposition innerhalb weniger Tage vollständig erholten. Folgenlose Ausheilung<br />

im Minervagips über 2 Monate<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

nen [33]. Sie entsteht in <strong>der</strong> Regel anlässlich<br />

einer Kollision des Kindes mit einem<br />

schnell fahrenden Objekt, z. B. mit<br />

einem Auto, seltener mit einem Skifahrer.<br />

Durch den Aufprall wird <strong>der</strong> Kopf<br />

sozusagen weggerissen, das Rückenmark<br />

bzw. die Medulla oblongata gedehnt<br />

o<strong>der</strong> zerrissen.<br />

Klinisches Bild. Je nach Ausdehnung <strong>der</strong><br />

Läsionen des Rückenmarks, des Hirnstammes<br />

sowie <strong>der</strong> Hirnnerven zeigen die<br />

Patienten Atemstörungen von Schnappatmung<br />

bis zum Atemstillstand <strong>und</strong> sofortigem<br />

Tod. Herzrhythmusstörungen<br />

<strong>und</strong> asymmetrische Lähmungen werden<br />

ebenfalls oft beobachtet. Die Mortalität<br />

<strong>der</strong> atlantookzipitalen Dislokation beträgt<br />

50% <strong>und</strong> mehr [24].Mit <strong>der</strong> Verbesserung<br />

des Rettungswesens <strong>und</strong> sofortiger Intubation<br />

am Unfallort überleben allerdings<br />

immer mehr Verunfallte.<br />

Dislokationstypen. Am häufigsten kommen<br />

Dislokationen nach ventral vor<br />

(Typ I), zum Teil kombiniert mit Instabilität<br />

in axialer Richtung. Doch auch dorsale<br />

Luxationen (Typ II) <strong>und</strong> axiale Dislokationen<br />

mit globaler Instabilität<br />

(Typ III) kommen vor.<br />

Diagnostik. Die bildgebende Diagnostik<br />

basiert auf <strong>der</strong> Translation des Schädels<br />

gegenüber dem Atlas: Absolute Grenzwerte<br />

in Millimetern haben sich nicht<br />

bewährt,da <strong>der</strong> variable Röntgenvergrößerungsfaktor<br />

eine Fehlerquelle darstellt.<br />

Zudem haben Untersuchungen an<br />

unverletzten Kin<strong>der</strong>n gezeigt, dass <strong>der</strong><br />

errechnete Grenzwert von 10 mm Distanz<br />

zwischen Basion (vor<strong>der</strong>er Rand<br />

des Foramen magnum) <strong>und</strong> dem Dens<br />

auch in <strong>der</strong> Normalpopulation in den<br />

meisten Fällen übertroffen wird. Geeigneter<br />

ist das Verhältnis folgen<strong>der</strong> Distanzen:<br />

Abstand Basion zu Vor<strong>der</strong>rand des<br />

hinteren Atlasbogens geteilt durch den<br />

Abstand zwischen Opisthion (Hinterrand<br />

des Foramen magnum) <strong>und</strong> hinterer<br />

Begrenzung des vor<strong>der</strong>en Atlasbogens.Werte<br />

<strong>unter</strong> 0,9 sind normal,über 1<br />

pathologisch [26].Die Messung kann anhand<br />

einer lateralen Röntgenaufnahme<br />

<strong>der</strong> HWS o<strong>der</strong> einer sagittalen medianen<br />

CT-Rekonstruktion erfolgen. Besser bewährt<br />

hat sich allerdings die paramediane<br />

sagittale Rekonstruktion von CT o<strong>der</strong><br />

MRT-Bil<strong>der</strong>. Hier kann die Relation <strong>der</strong><br />

Okzipitalkondylen zum Atlas einfacher<br />

<strong>und</strong> sicherer beurteilt werden.<br />

Therapie. Notfallmäßige geschlossene<br />

Reposition gefolgt von Halo-Fixation<br />

über ca. 2 Monate. Eine offene Reposition<br />

mit okzipitozervikaler Spondylodese<br />

ist ebenfalls möglich <strong>und</strong> bei sehr instabilen<br />

Verletzungen <strong>der</strong> konservativen<br />

Behandlung vorzuziehen.<br />

Prognose. Neurologische Ausfälle bei<br />

Überlebenden kommen bei über 80%<br />

vor, davon zu 40% in Form einer Tetraparese<br />

[27].<br />

Atlasfrakturen<br />

Neben <strong>der</strong> hinteren Atlasbogenfrakturen<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Jefferson-Fraktur kommen<br />

hier kin<strong>der</strong>spezifische Verletzungen vor.<br />

Frakturtypen. Die Fraktur verläuft meist<br />

durch die vor<strong>der</strong>e Synchondrose, welche<br />

erst mit ca. 7 Jahren fusioniert. Isolierte<br />

Frakturen durch den hinteren Atlasbogen<br />

sind nur als Einzelfälle beschrieben [1].<br />

Diagnostik. Synchondrosen des Atlas (C1)<br />

können als Frakturlinien verkannt wer-


den. Am Atlas schließt sich die hintere<br />

Synchondrose in <strong>der</strong> Mitte des hinteren<br />

Atlasbogens im 3. Lebensjahr, während<br />

die Übergänge zwischen Bogen <strong>und</strong> Korpus<br />

erst im 7. Jahr fusionieren. Die vor<strong>der</strong>e<br />

Synchondrose fusioniert erst mit<br />

ca. 7 Jahren [20, 34]. Der relative <strong>Wachstum</strong>svorsprung<br />

des Atlas gegenüber dem<br />

Axis in den ersten Lebensjahren kann als<br />

Ringsprengung („pseudospread“) missgedeutet<br />

werden, da dann die Massae laterales<br />

des Atlas über den Rand <strong>der</strong> Gelenkflächen<br />

C2 nach lateral ragen [34].<br />

Bei Frakturverdacht ist eine Computertomographie<br />

unerlässlich.<br />

Therapie <strong>und</strong> Prognose. Die normalerweise<br />

stabilen Frakturen können konservativ<br />

zum Beispiel im Minerva-Gips folgenlos<br />

zur Ausheilung gebracht werden.<br />

Atlantoaxiale Dislokation (AAD)<br />

Klinisches Bild. Nach ligamentärer translatorischer<br />

AAD geben die Patienten unspezifische<br />

Nackenschmerzen an <strong>und</strong> zeigen<br />

oft erst sek<strong>und</strong>är neurologische Defizite.Bei<br />

<strong>der</strong> rotatorischen AAD imponiert<br />

dagegen ein schmerzhafter Schiefhals,<br />

bei dem im Gegensatz zum kongenitalen<br />

Tortikollis die Schultern symmetrisch<br />

stehen, <strong>der</strong> Kopf keine Lateraltranslation<br />

aufweist <strong>und</strong> <strong>der</strong> M. sternocleidomastoideus<br />

auf <strong>der</strong> Seite, zu <strong>der</strong> <strong>der</strong> Kopf gedreht<br />

ist, angespannt <strong>und</strong> verhärtet ist.<br />

Verletzungstypen. Translatorische AAD<br />

wird die Ventralverschiebung des Atlas gegenüber<br />

dem Axis bei Ruptur des<br />

Lig.transversum atlantis genannt.Bei <strong>der</strong><br />

traumatischen rotatorischen AAD liegt<br />

neben <strong>der</strong> Verdrehung des Atlas über C2<br />

oft auch eine deutliche Verkippung des Atlas<br />

vor, eventuell mit unilateraler Verhakung<br />

<strong>der</strong> Gelenkfortsätze.Je nachdem,ob<br />

das Lig. transversum ebenfalls rupturiert<br />

ist o<strong>der</strong> nicht, liegt zusätzlich auch eine<br />

Ventralverschiebung von C1 über C2 vor.<br />

Diagnostik. Translatorische AAD: Sagittaler<br />

atlantodentaler Abstand in <strong>der</strong> Flexionsaufnahme<br />

<strong>der</strong> HWS >5 mm. Das gerissene<br />

Lig. transversum atlantis kann<br />

auch in <strong>der</strong> MRT dargestellt werden. Rotatorische<br />

AAD: Die konventionelle radiologische<br />

Abklärung mit transoraler<br />

Densaufnahme zeigt eine asymmetrische<br />

Darstellung <strong>der</strong> atlantoaxialen Gelenke.<br />

Besser gezeigt wird die rotatorische Fehlstellung<br />

in <strong>der</strong> Computertomographie.<br />

Therapie. Bei translatorischer AAD sollen<br />

C1 <strong>und</strong> C2 mittels dorsaler Spondylodese<br />

C1/2 z. B. mit <strong>der</strong> transartikulären<br />

Verschraubung nach Magerl fusioniert<br />

werden, da auch eine länger dauernde<br />

konservative Ruhigstellung keine ausreichende<br />

Stabilität des Bewegungssegmentes<br />

C1/2 gewährleistet. Bei rotatorischer<br />

AAD genügt im akuten Stadium häufig<br />

ein Längszug,um die rotatorische Dislokation<br />

zu reponieren. Ist das Lig. transversum<br />

intakt, kann die Läsion mit einer<br />

Ruhigstellung in einem harten Kragen<br />

o<strong>der</strong> in einem Minerva-Gipskorsett zur<br />

Ausheilung gebracht werden. Liegt zusätzlich<br />

eine Läsion des Lig.transversum<br />

atlantis vor,muss eine Spondylodese C1/2<br />

erfolgen.<br />

Densfrakturen<br />

Die seltenen Frakturen des Dens axis ereignen<br />

sich typischerweise bei Kleinkin<strong>der</strong>n<br />

nach Stürzen auf den Kopf, wenn<br />

die Synchondrose zwischen Densbasis<br />

<strong>und</strong> Wirbelkörper C2 noch offen ist.<br />

Klinisches Bild. Schmerzhafter Tortikollis,<br />

fehlende Kopfkontrolle. Neurologische<br />

Ausfälle sind meist nur in Assozia-<br />

tion mit begleitenden Schädelhirntraumen<br />

zu beobachten. Eine Korrelation<br />

zwischen Ausmaß <strong>der</strong> Densdislokation<br />

<strong>und</strong> neurologischer Symptomatik besteht<br />

nicht, da es bei <strong>der</strong> Lagerung des<br />

Patienten, vor allem im Röntgen, zu<br />

Spontanrepositionen kommen kann.<br />

Frakturtypen. Die Verletzung entspricht<br />

einer Lösung <strong>der</strong> Synchondrose mit Ventralverlagerung<br />

<strong>der</strong> Dens (Abb. 1) <strong>und</strong><br />

entspricht damit einem Frakturtyp III<br />

beim Erwachsenen. Meist liegt neben einer<br />

ventralen Translation auch eine Angulation<br />

des Dens in Kyphose vor.<br />

Diagnostik. Auch beim Axis können Synchondrosen<br />

als Frakturlinien missdeutet<br />

werden. Der Axis weist eine komplexe<br />

Röntgenanatomie auf: eine horizontale<br />

Synchondrose an <strong>der</strong> Densbasis, sowie<br />

angrenzend 2 vertikale Synchondrosen<br />

am Übergang von Korpus zu Bögen<br />

bilden eine H-förmige Synchondrose,<br />

welche zwischen dem 3. <strong>und</strong> 6. Lebensjahr<br />

fusioniert. Gelegentlich ist die Synchondrose<br />

an <strong>der</strong> Densbasis jedoch als<br />

feine Linie bis nach dem 10. Lebensjahr<br />

sichtbar. In dieser Periode erscheint<br />

auch ein Knochenkern an <strong>der</strong> Densspit-<br />

Abb. 2 � 10-jähriges Mädchen: Sturz beim Schulturnen auf die Knie mit axialem Trauma.<br />

Typische leichte anteriore Kompressionsfraktur <strong>der</strong> mittleren BWS (Th 8). Folgenlose Ausheilung<br />

<strong>und</strong> Wie<strong>der</strong>aufrichtung <strong>unter</strong> 3-monatiger rein funktioneller Nachbehandlung<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 69


70<br />

ze, welcher mit 12 Jahren fusioniert <strong>und</strong><br />

bei Persistenz „Ossiculum terminale<br />

Bergmann“ genannt wird. Die Ringapophyse<br />

an <strong>der</strong> Basis des Körpers von C2<br />

kann bis 25 Jahre persistieren. Der Dens<br />

axis zeigt in ca. 4% als Normvariante eine<br />

Angulation nach dorsal.<br />

Therapie. Unter Ruhigstellung in einem<br />

Minerva-Gips o<strong>der</strong> Halo-Ringfixateur ist<br />

eine knöcherne Fusion innerhalb von<br />

3 Monaten die Regel. Indikationen zur<br />

operativen Intervention (dorsale Fusion<br />

C1/C2 o<strong>der</strong> direkte Verschraubung) können<br />

sich bei seltenen hochgradig instabilen<br />

Frakturen ergeben o<strong>der</strong> wenn eine<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

anatomische Reposition nur durch eine<br />

extreme Kopfhaltung zu erreichen ist [3].<br />

Prognose. <strong>Wachstum</strong>sstörungen sind<br />

nicht zu erwarten, da die Synchondrose<br />

strukturell <strong>und</strong> funktionell nicht einer<br />

<strong>Wachstum</strong>sfuge entspricht. Heilt die<br />

Fraktur nicht, kommt es zur Denspseudarthrose.<br />

Das Os odontoideum wird als<br />

Denspseudarthrose nach einer Fraktur<br />

beim Kleinkind interpretiert.<br />

Subaxiale Läsionen<br />

Bei Kin<strong>der</strong>n über 8 Jahren ereignen sich<br />

die meisten Halswirbelsäulenverletzun-<br />

Abb. 3a–c � 7-jähriges<br />

Mädchen: Sturz vom Pferd.<br />

Kompressionsfrakturen<br />

LWK 2 <strong>und</strong> 3 mit anteriorer<br />

<strong>und</strong> seitlicher Kompression<br />

>10°. Nach 6-monatiger<br />

Ruhigstellung im aufrichtenden<br />

Gipskorsett zeigt<br />

sich im 8-Jahresverlauf in<br />

<strong>der</strong> Sagittalebene eine<br />

vollständige Restitutio,<br />

währenddem die Spontankorrektur<br />

in <strong>der</strong> Frontalebene<br />

zufriedenstellend,<br />

aber unvollständig blieb<br />

gen im <strong>unter</strong>en HWS-Bereich, in <strong>der</strong><br />

Gruppe <strong>der</strong> <strong>unter</strong> 8-Jährigen sind Verletzungen<br />

in diesem Bereich dagegen selten.<br />

Frakturtypen. Die häufigste Fraktur ist die<br />

einfache Kompressionsfraktur, die diagnostisch<br />

gegenüber <strong>normalen</strong> Formvarianten<br />

abgetrennt werden muss. Vor allem<br />

bei jüngeren Kin<strong>der</strong>n können auch<br />

Lösungen <strong>der</strong> kaudalen Endplatte als Distraktionsverletzungvorkommen.Schließlich<br />

werden auch diskoligamentäre Verletzungen<br />

beobachtet.<br />

Diagnostik. Bei C3–C7 schließen sich die<br />

Synchondrosen zwischen dem 2. <strong>und</strong>


Abb. 4a,b � 3-jähriger Junge: Direktes<br />

Trauma durch umstürzende Gasflasche.<br />

a Luxationsfraktur Th12/L1<br />

mit Einengung des Spinalkanals<br />

<strong>und</strong> Paraparese. Therapie: Laminektomie<br />

L1, Spinalkanalrevision <strong>und</strong><br />

dorsale Spondylodese Th12/L1<br />

ohne Instrumentierung. Ruhigstellung<br />

im Gipskorsett während 3 Monaten.<br />

b 4-Jahresverlauf: Beschwerdefreier<br />

Patient mit kontinuierlicher<br />

Spontankorrektur <strong>der</strong> thorakolumbalen<br />

Kyphose<br />

7. Lebensjahr. Die knorpeligen Wirbelkörperendplatten<br />

sind als <strong>Wachstum</strong>sfugen<br />

nicht erkennbar, da sie direkt an den<br />

Diskus angrenzen <strong>und</strong> hier eine knöcherne<br />

Epiphyse fehlt. Normale Ringapophysen<br />

können mit Abrissfragmenten<br />

verwechselt werden, ebenso wie sek<strong>und</strong>äre<br />

Ossifikationszentren an den<br />

Spitzen <strong>der</strong> Processi spinosi.<br />

Die physiologische Hypermobilität<br />

<strong>der</strong> kindlichen <strong>Wirbelsäule</strong> verbietet es<br />

Erwachsenennormwerte bezüglich segmentaler<br />

Beweglichkeit zu übernehmen.<br />

Funktionsaufnahmen <strong>der</strong> HWS bei Kin<strong>der</strong>n<br />

<strong>unter</strong> 8 Jahren mit unauffälligem<br />

lateralem Röntgenbild sind von fragwürdigem<br />

Nutzen, da auch bei <strong>normalen</strong><br />

<strong>Wirbelsäule</strong>n Pseudosubluxationen<br />

beobachtet werden. Für eine echte diskoligamentäre<br />

Instabilität sprechen eine<br />

Subluxation <strong>der</strong> Intervertebralgelenke<br />

um mehr als 50%, eine unisegmentale<br />

Stufenbildung <strong>der</strong> hinteren Wirbelkörperlinie,<br />

die fehlende Reposition in Extension,<br />

Processus-spinosus-Frakturen,<br />

Erweiterung des interspinösen Abstandes,<br />

Erweiterung des hinteren Band-<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 71


72<br />

scheibenraumes,Verlust <strong>der</strong> Parallelität<br />

<strong>der</strong> Gelenkfacetten <strong>und</strong> im weiteren Verlauf<br />

Ossifikationen des dorsalen Ligamentkomplexes<br />

[3].<br />

Wirbelkörperform. Vor allem <strong>der</strong> Wirbelkörper<br />

C3,seltener C4,kann oval,keilförmig<br />

o<strong>der</strong> mit abger<strong>und</strong>eter oberer vor<strong>der</strong>er<br />

Ecke imponieren <strong>und</strong> so den Eindruck<br />

einer Kyphose im Segment C3/4<br />

erwecken. Kompressionsfrakturen auf<br />

diesem Niveau sind extrem selten [36].<br />

Therapie. Kompressionsfrakturen sind<br />

meistens stabile Verletzungen <strong>und</strong> können<br />

mit einem Kragen behandelt werden.<br />

Diskoligamentäre Läsionen sind instabil<br />

<strong>und</strong> können zu massiven kyphotischen<br />

Fehlstellungen führen. Sie sollten<br />

primär operativ stabilisiert werden.<br />

Prognose. Das spontane Korrekturpotenzial<br />

von Kompressionsfrakturen ist<br />

unklar <strong>und</strong> deutlich weniger ausgeprägt<br />

als an <strong>der</strong> Brust- <strong>und</strong> Lendenwirbelsäule.<br />

Nur <strong>der</strong> Verlauf zeigt jeweils den Bedarf<br />

für spätere Aufrichteeingriffe.<br />

Thorakale <strong>und</strong> lumbale Verletzungen<br />

Kompressionsfrakturen<br />

Frakturtypen. Verletzungen <strong>der</strong> Brustwirbelsäule<br />

ereignen sich meist als stabile<br />

Frakturen auf mittlerem thorakalem Niveau<br />

<strong>und</strong> sind viel häufiger als lumbale<br />

Frakturen. Die kraniale Endplatte ist<br />

doppelt so häufig involviert wie die kaudale.<br />

An <strong>der</strong> Brustwirbelsäule ereignen<br />

sich nicht selten Serienkompressionsfrakturen<br />

mit durchschnittlich 3 involvierten<br />

übereinan<strong>der</strong>stehenden Wirbeln.<br />

Berstungsfrakturen sind selten [9,25,30].<br />

Therapie <strong>und</strong> Prognose. Das Ausmaß <strong>der</strong><br />

Spontankorrektur von komprimierten<br />

Wirbelkörperanteilen hängt im Wesentlichen<br />

vom <strong>Wirbelsäule</strong>nrestwachstum<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> initialen Kompression ab: Die<br />

Regenerationskraft zur Korrektur von<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

posttraumatischen Fehlstellungen ist<br />

vor allem bei <strong>unter</strong> 10-Jährigen so ausgeprägt,<br />

dass selbst bei über 50% Höhenmin<strong>der</strong>ung<br />

mit einer Aufrichtung zu<br />

rechnen ist [23, 25, 30]. Keilwirbel <strong>unter</strong><br />

10° können frühfunktionell mit Physiotherapie<br />

<strong>und</strong> 3-monatiger Sportkarenz<br />

behandelt werden (Abb. 2).<br />

Ventrale Keilwirbelbelbildungen<br />

von mehr als 10° sollten mit einem Aufrichtekorsett<br />

behandelt werden (Abb. 3):<br />

Dieses hat bei Kin<strong>der</strong>n mit einem Risserzeichen<br />

II o<strong>der</strong> kleiner nicht die akute<br />

Wirbelaufrichtung zum Ziel, son<strong>der</strong>n<br />

eine Druckentlastung <strong>der</strong> <strong>Wachstum</strong>szone,<br />

um das vor<strong>der</strong>e Wirbelwachstum<br />

zu stimulieren. Dementsprechend sollte<br />

die Korsettversorgung über ein Jahr<br />

fortgeführt werden [25]. Die Kompressionsfrakturen<br />

im Adoleszentenalter sollten<br />

wie beim Erwachsenen behandelt<br />

werden. Seitliche Kompressionsfrakturen<br />

zeigen nur sehr geringe spontane<br />

Wie<strong>der</strong>aufrichtung <strong>und</strong> führen nicht<br />

selten zu eine Skoliose.<br />

Distraktions- <strong>und</strong><br />

Rotationsverletzungen<br />

Diese Verletzungen sind selten <strong>und</strong> müssen<br />

wie beim Erwachsenen behandelt<br />

werden.<br />

Therapie. Horizontale Frakturen durch<br />

den Wirbelkörper (Chance-Frakturen)<br />

können in <strong>der</strong> Regel mit einem reklinierenden<br />

Gipskorsett reponiert <strong>und</strong> zur<br />

Heilung gebracht werden [5]. Falls die<br />

Kyphosierung nicht korrigiert werden<br />

kann <strong>und</strong> mehr als 20° beträgt, ist mit einer<br />

Progression <strong>der</strong> Fehlstellung zu<br />

rechnen [7, 28]. Die übrigen Distraktionsverletzungen<br />

sowie die sehr instabilen<br />

Rotationsverletzungen müssen wie<br />

beim Erwachsenen operativ dekomprimiert<br />

<strong>und</strong> stabilisiert werden (Abb. 4).<br />

Frakturen <strong>der</strong> Dorn- <strong>und</strong> Querfortsätze<br />

Isolierte Frakturen von Dorn- o<strong>der</strong><br />

Querfortsätzen sind Folge von direkten<br />

stumpfen Traumata.Obwohl sie als Frakturen<br />

harmlos sind, können sie mit bedeutenden<br />

Begleitverletzungen (Verletzungen<br />

<strong>der</strong> Pleura, Nierenläsionen,<br />

Beckenfrakturen) einhergehen, welche<br />

ausgeschlossen werden müssen [10].<br />

Fazit für die Praxis<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nverletzungen im <strong>Wachstum</strong>salter<br />

sind selten, gehen jedoch häufiger als<br />

beim Erwachsenen mit neurologischen<br />

Störungen einher. Diese können ohne konventionell<br />

radiologisch fassbare Verletzungen<br />

vorkommen <strong>und</strong> müssen mit <strong>der</strong> MRT<br />

abgeklärt werden. Die Problematik <strong>der</strong><br />

bildgebenden Diagnostik liegt vor allem in<br />

<strong>der</strong> Abgrenzung von Synchondrosen <strong>und</strong><br />

Apophysen gegenüber Frakturlinien. Die<br />

Verletzungstypen entsprechen im Prinzip<br />

denjenigen <strong>der</strong> Erwachsenen, zusätzlich<br />

sehen wir Verletzungen <strong>der</strong> Endplatten<br />

(<strong>Wachstum</strong>sfuge) <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ringapophysen.<br />

Stabile Kompressionsfrakturen werden<br />

konservativ behandelt. Bei den <strong>unter</strong> 10jährigen<br />

Kin<strong>der</strong>n ist die Wie<strong>der</strong>aufrichtung<br />

mit dem weiteren <strong>Wachstum</strong> ausgezeichnet,<br />

während Fehlstellungen in <strong>der</strong> Frontalebene<br />

nur zögerlich o<strong>der</strong> meist gar<br />

nicht remodellieren. Instabile Verletzungen<br />

werden im Prinzip wie beim Erwachsenen<br />

operativ behandelt.<br />

Literatur<br />

1. Abuamara S, Dacher JN, Lechevallier J (2001)<br />

Posterior arch bifocal fracture of the atlas<br />

vertebra: a variant of Jefferson fracture.<br />

J Pediatr Orthop 10: 201–204<br />

2. Auf<strong>der</strong>maur M (1974) Spinal injuries in<br />

juveniles: necropsy findings in 12 cases.<br />

J Bone Joint Surg Br 56: 513–519<br />

3. Blauth M, Schmidt U (1998) <strong>Wirbelsäule</strong>nverletzungen<br />

bei Kin<strong>der</strong>n. In: Tscherne H,<br />

Blauth M (Hrsg) Unfallchirurgie <strong>Wirbelsäule</strong>.<br />

Springer, Berlin Heidelberg New York,<br />

S 383–399<br />

4. Carrion WV, Dormans JP, Drummond DS,<br />

Christofersen MR (1996) Circumferential<br />

growth plate fracture of the thoracolumbar<br />

spine from child abuse. J Pediatr Orthop<br />

16: 210–214<br />

5. Chance G (1948) Note on a type of flexion<br />

fracture of the spine. Br J Radiol 21: 452–453<br />

6. Epstein NE, Epstein Joseph A (1991) Limbus<br />

lumbar vertebral fractures in 27 adolescents<br />

and adults. Spine 16: 962–966<br />

7. Glassman SD, Johnson JR, Holt RT (1992)<br />

Seatbelt injuries in children. J Trauma<br />

33: 882–886


8. Grabb PA, Pang D (1994) Magnetic resonance<br />

imaging in the evaluation of spinal cord injury<br />

without radiographic abnormality in children.<br />

Neurosurgery 35: 406–414<br />

9. Horal J, Nachemson A, Scheller S (1972) Clinical<br />

and radiological long term follow-up of vertebral<br />

fractures in children. Acta Orthop Scand<br />

43: 491–503<br />

10. Jeanneret B, Holdener HJ (1992) Wirbelfrakturen<br />

<strong>und</strong> Bauchtrauma. Eine retrospektive<br />

Studie anhand von 415 dokumentierten<br />

Wirbelfrakturen. Unfallchirurg 95: 603–607<br />

11. Jeanneret B (1993) Verletzungen <strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

/ Obere Halswirbelsäule: Verlaufsformen<br />

<strong>und</strong> Therapie. In: Witt, Rettig, Schlegel (Hrsg)<br />

Orthopädie in Praxis <strong>und</strong> Klinik, Band V/2.<br />

Thieme, Stuttgart New York<br />

12. Journeau P, Bourcheix LM,Wagner A, Padovani<br />

JP, Pouliquen JC (2001) Obstetric dislocation<br />

of the thoracic spine: case report and review<br />

of the literature. J Pediatr Orthop 10: 78–80<br />

13. Karlsson L, L<strong>und</strong>in O, Ekström L, Hannson T,<br />

Swärd L (1998) Injuries in adolescent spine<br />

exposed to compressive load. J Spinal Disord<br />

11: 501–507<br />

14. Kokoska ER, Keller MS, Rallo MC,Weber TR<br />

(2001) Characteristics of pediatric cervical<br />

spine injuries. J Pediatr Surg 36: 100–105<br />

15. Kothari P, Freeman B, Grevitt M, Kerslake R<br />

(2000) Injury to the spinal cord without<br />

radiological abnormality (SCIWORA) in adults.<br />

J Bone Joint Surg Br 82: 1034–1037<br />

16. Leventhal HR (1960) Birth injuries of the spinal<br />

cord. J Pediatr Orthop 56: 447<br />

17. L<strong>und</strong>in O, Ekstrom L, Hellstrom M, Holm S,<br />

Sward L (2000) Exposure of the porcine spine<br />

to mechanical compression: differences in injury<br />

pattern between adolescents and adults.<br />

Eur Spine J 9: 466–471<br />

18. Lynch JM, Meza MP, Pollack IF, Adelson PD<br />

(1996) Direct injury to the cervical spine<br />

of a child by a lap-shoul<strong>der</strong> belt resulting<br />

in quadriplegia: case report. J Trauma<br />

41: 747–749<br />

19. Magerl F et al. (1994) A comprehensive<br />

classification of thoracic and lumbar spine<br />

injuries. Eur Spine J 3: 184–201<br />

20. Mikawa Y,Watanabe R,Yamano Y, Ishii K (1987)<br />

Fracture through a synchondrosis of the<br />

anterior arch of the atlas. J Bone Joint Surg Br<br />

69: 483<br />

21. McPhee IB (1981) Spinal fractures and<br />

dislocations in children and adolescents.<br />

Spine 6: 533–537<br />

22. Mills JF, Dargaville PA, Coleman LT, Rosenfeld JV,<br />

Ekert PG (2001) Upper cervical spinal cord injury<br />

in neonates: the use of magnetic resonance<br />

imaging. J Pediatr 138: 105–108<br />

23. Möllenhoff G,Walz M, Muhr G (1993)<br />

Korrekturverhalten nach Frakturen <strong>der</strong><br />

Brust- <strong>und</strong> Lendenwirbelsäule bei Kin<strong>der</strong>n<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen. Chirurg 64: 948–952<br />

24. Patel JC,Tepas JJ, Molitt DL, Pieper P (2001)<br />

Pediatric cervical spine injuries: defining the<br />

disease. J Pediatr Surg 36: 373–376<br />

25. Pouliquen JC, Kassis B, Glorion C, Langlais J<br />

(1997) Vertebral growth after thoracic<br />

or lumbar fracture of the spine in children.<br />

J Pediatr Orthop 17: 115–120<br />

26. Powers B, Miller MD, Kramer RS, Martinez S,<br />

Gehweiler JA (1979) Traumatic anterior<br />

atlanto-occipital dislocation. Neurosurgery<br />

4: 12–17<br />

27. Przybylski GJ, Clyde BL, Fitz CR (1996)<br />

Craniocervical junction subarachnoid<br />

hemorrhage associated with atlantooccipital<br />

dislocation. Spine 21: 1761–1768<br />

28. Raney EM, Bennett JT (1992) Pediatric Chance<br />

fracture. Spine 17: 1522–1524<br />

29. Reid AB, Letts RM, Black GB (1990) Pediatric<br />

Chance fractures: association with intraabdominal<br />

injuries secondary to seatbelt use.<br />

J Trauma 30: 384–391<br />

30. Ruckstuhl J, Morscher E, Jani L (1976) Behandlung<br />

<strong>und</strong> Prognose von Wirbelfrakturen im<br />

Kindes- <strong>und</strong> Jugendalter. Chirurg 47: 458–467<br />

31. Ruge JR, Sinson GP, McLone DG, Cerullo LJ<br />

(1988) Pediatric spinal injury: the very young.<br />

J Neurosurg 68: 25–30<br />

32. Savini R, DiSilvestre M, Gargiulo G, Picci P<br />

(1991) Posterior lumbar apophyseal fractures.<br />

Spine 16: 1118–1123<br />

33. Shamoun JM, Riddick L, Powell RW (1999)<br />

Atlanto-occipital subluxation/dislocation:<br />

a „survivable“ injury in children. Am Surg<br />

65: 317–320<br />

34. Suss RA, Zimmerman RD, Leeds NE (1983)<br />

Pseudospread of the atlas: false sign<br />

of Jefferson fracture in young children.<br />

Am J Roentgenol 140: 1079–1082<br />

35. Swärd L, Hellström M, Jacobsson B, Karlsson L<br />

(1993) Vertebral ring apophysis injuries<br />

in ahletes. Am J Sports Med 21: 841–845<br />

36. Swischuk LE, Swischuk PN, John SD (1993)<br />

Wedging of C-3 in infants and children: usually<br />

a normal finding and not a fracture. Radiology<br />

188: 523–526<br />

37. Turgut M, Akpinar N, Ozcan OE (1996) Spinal<br />

injuries in the pediatric age group: a review<br />

of 82 cases of spinal cord and vertebral injuries.<br />

Eur Spine J 5: 148–152<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 73


74<br />

Orthopäde<br />

2002 · 31:74-77 © Springer-Verlag 2002<br />

Zusammenfassung<br />

Die Seltenheit des Krankheitsbildes <strong>und</strong> oft<br />

uncharakteristische Symptomatik verzögern<br />

vielfach die Diagnostik <strong>der</strong> Spondylodiszitis<br />

im Kindesalter. Anhand <strong>der</strong> Verlaufsbeobachtungen<br />

von 25 mit <strong>der</strong> Diagnose Spondylodiszitis<br />

zwischen 1968 <strong>und</strong> 1988 stationär<br />

behandelten Kin<strong>der</strong>n werden Anamnese,<br />

Klinik, Röntgenbef<strong>und</strong> <strong>und</strong> Differentialdiagnose<br />

dieser <strong>Wirbelsäule</strong>nerkrankung<br />

dargestellt.<br />

Die Spondylodiszitis tritt als blande<br />

Verlaufsform im Kindesalter auf. Eine tuberkulöse<br />

Infektion konnte in keinem Fall nachgewiesen<br />

werden. Die Prognose <strong>der</strong> Erkrankung<br />

ist im Kindesalter günstig, sodass operative<br />

Maßnahmen bei den eigenen Patienten<br />

nicht erfor<strong>der</strong>lich waren. Die Spondylodiszitis<br />

heilte jeweils mit einer Ankylose des<br />

betroffenen Segments aus <strong>und</strong> führte in<br />

keinem Fall zu wesentlichen Funktionsstörungen<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>.<br />

Schlüsselwörter<br />

Spondylodiszitis · Diagnostik · Therapie ·<br />

Spätergebnisse<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

H. Graßhoff · M. Greulich · R. Kayser · K. Mahlfeld · Orthopädische Universitätsklinik Magdeburg<br />

Spondylodiszitis<br />

im Kindesalter<br />

Im Gegensatz zur Spondylitis im Erwachsenenalter,<br />

<strong>der</strong>en Häufigkeit in den<br />

letzten Jahren zugenommen hat, ist die<br />

Spondylodizitis im Kindesalter eine außerordentlich<br />

seltene Erkrankung. Hinsichtlich<br />

Ausprägung <strong>und</strong> Verlauf <strong>unter</strong>scheidet<br />

sich die Spondylodiszitis im<br />

Kindesalter deutlich von <strong>der</strong> Erkrankung<br />

im Erwachsenenalter. Für beide<br />

Formen gleichermaßen zutreffend sind<br />

eine oft lange Anamnesedauer <strong>und</strong> Verzögerung<br />

in <strong>der</strong> Diagnostik. Anliegen<br />

unserer Untersuchung war es, in einer<br />

retrospektiven Studie das klinische Bild,<br />

den Verlauf <strong>und</strong> v. a. die Prognose dieser<br />

Erkrankung zu erfassen.<br />

Material <strong>und</strong> Methode<br />

Um eine Aussage über die langfristigen<br />

Ergebnisse machen zu können, wurden<br />

die zwischen 1968 <strong>und</strong> 1988 stationär behandelten<br />

Kin<strong>der</strong> mit einer Spondylodiszitis<br />

nach<strong>unter</strong>sucht. Es handelte sich<br />

dabei um 25 Kin<strong>der</strong> mit einem Durchschnittsalter<br />

von 6,1 Jahren, dar<strong>unter</strong><br />

waren 6 Kin<strong>der</strong>, bei denen die Erkrankung<br />

im 1. Lebensjahr begann. Anhand<br />

<strong>der</strong> Kranken<strong>unter</strong>lagen wurden Anamnesedauer,<br />

klinische Symptome, Diagnostik<br />

<strong>und</strong> die Therapie ermittelt.<br />

20 Patienten konnten klinisch <strong>und</strong> röntgenologisch<br />

nach<strong>unter</strong>sucht werden,<br />

wobei die Nach<strong>unter</strong>suchungzeiträume<br />

bis zu 23 (Durchschnitt 10) Jahren reichten.<br />

Tabelle 1<br />

Symptome <strong>und</strong> klinische Bef<strong>und</strong>e<br />

bei 25 Patienten mit Spondylodiszitis<br />

Rückenschmerzen 19 (6 Patienten<br />


Orthopäde<br />

2002 · 31:74-77 © Springer-Verlag 2002<br />

H. Graßhoff · M. Greulich · R. Kayser<br />

K. Mahlfeld<br />

Spondylitis in childhood<br />

Abstract<br />

Spondylitis is a rare disease in childhood and<br />

atypical symptoms frequently retard the<br />

diagnosis. From 1968 to 1988, 25 children<br />

with a diagnosis of spondylitis were treated<br />

in our orthopedic hospital. Anamneses, clinical<br />

symptoms, roentgenograms, and differential<br />

diagnoses are described for these<br />

cases. Spondylodiskitis represents a mild<br />

course of the disease in childhood.<br />

Tuberculous spondylitis was not present<br />

in any of the cases.The prognosis of<br />

childhood spondylitis is favorable, and surgical<br />

interventions were not necessary in our<br />

patients. Spondylitis healed with an ankylosis<br />

of one segment of the spine without<br />

essential disturbance of spinal function.<br />

Keywords<br />

Spondylitis · Diagnosis · Therapy · Results<br />

Abb. 1 � Spondylodiszitis L4/5 bei 2-jährigem<br />

Mädchen, Verschmälerung des Zwischenwirbelraums<br />

als einziges röntgenologisches Zeichen<br />

lich negativen Röntgenbef<strong>und</strong> zu sehen.<br />

Die Symptome <strong>und</strong> klinischen Bef<strong>und</strong>e<br />

bei <strong>der</strong> stationären Aufnahme sind in<br />

Tabelle 1 zusammengestellt.<br />

Im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Beschwerden<br />

stehen die Rückenschmerzen, die mit<br />

Ausnahme <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> im 1. Lebensjahr<br />

bei allen Patienten eruiert werden konnten.<br />

Häufig treten im Kindesalter auch<br />

Bauchschmerzen als Leitsymptom auf,<br />

sodass die Diagnostik zunächst in eine<br />

falsche Richtung gelenkt wird. Beim Befall<br />

<strong>der</strong> HWS, wie wir das bei einer Patientin<br />

beobachten konnten, standen im<br />

Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> Kopfschmerzen. Sehr häufig<br />

finden sich bei den Kin<strong>der</strong>n Gangstörungen<br />

bis hin zur Gehunfähigkeit bzw.<br />

bei Säuglingen <strong>und</strong> Kleinkin<strong>der</strong>n die<br />

Sitzunfähigkeit.<br />

Bei <strong>der</strong> klinischen Untersuchung<br />

stand die Bewegungseinschränkung im<br />

Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong>, verb<strong>und</strong>en mit einem<br />

Klopfschmerz. Das klassische Symptom,<br />

das Abstützbedürfnis beim Vorbeugen<br />

<strong>und</strong> Wie<strong>der</strong>aufrichten, konnten wir nur<br />

in 5 Fällen feststellen. Bei Kleinkin<strong>der</strong>n<br />

war sehr häufig <strong>der</strong> stark reduzierte Allgemeinzustand<br />

auffällig.<br />

Die Diagnose <strong>der</strong> Spondylodiszitis<br />

im Kindesalter stützt sich neben dem<br />

klinischen Bef<strong>und</strong> <strong>und</strong> den Entzündungsparametern<br />

mit beschleunigter<br />

Blutsenkungsreaktion <strong>und</strong> erhöhtem<br />

CRP v. a. auf die radiologische Diagnostik.<br />

In den ersten Jahren standen uns<br />

dazu nur Röntgennativaufnahmen <strong>und</strong><br />

die Tomographie zur Verfügung. Erst in<br />

den letzten Jahren war dann ein CT<br />

möglich, das in 2 Fällen eingesetzt wurde.<br />

Ein MRT war in diesem Zeitraum<br />

noch nicht verfügbar.<br />

Das typische röntgenologische Zeichen<br />

ist die Verschmälerung des Zwischenwirbelraums.<br />

Es ist bei kleinen<br />

Kin<strong>der</strong>n oft sehr diskret ausgebildet <strong>und</strong><br />

kann auch das einzige radiologische Zeichen<br />

bleiben (Abb. 1). Im Kindesalter ist<br />

aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> noch vorhandenen Gefäßversorgung<br />

ein isolierter Befall <strong>der</strong><br />

Bandscheibe möglich in Form einer Diszitis<br />

ohne sek<strong>und</strong>äres Übergreifen auf<br />

die Wirbelkörper. So haben wir auch nur<br />

bei 12 Kin<strong>der</strong>n eine Destruktion <strong>der</strong> angrenzenden<br />

Wirbelkörper feststellen<br />

können. Eine Abszessbildung erscheint<br />

außerordentlich selten, wir haben sie<br />

nur in einem Fall mittels CT nachweisen<br />

können.<br />

Tabelle 2<br />

Höhenlokalisation <strong>der</strong> Spondylodiszitis<br />

(Summe n=25; HWS: n=1,<br />

BWS: n=9, LWS: n=15)<br />

Lokalisation Anzahl<br />

C2/3 1<br />

D3/4 1<br />

D7/8 1<br />

D8/9 1<br />

D10/11 3<br />

D11/12 2<br />

D12/L1 2<br />

L1/2 4<br />

L2/3 3<br />

L3/4 4<br />

L4/5 1<br />

L5/S1 2<br />

Tabelle 3<br />

Radiologische Bef<strong>und</strong>e bei <strong>der</strong><br />

Nach<strong>unter</strong>suchung (n=20)<br />

Bef<strong>und</strong> Anzahl<br />

ZWR-Verschmälerung 12<br />

Abschlussplattensklerose 3<br />

Defektreste 4<br />

Partielle Blockwirbel 4<br />

Vollständige Blockwirbel 4<br />

Kyphose 4<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 75


76<br />

Abb. 2 � Ausheilung einer Spondylodiszitis<br />

L2/3 mit partieller Blockwirbelbildung, 5 Jahre<br />

nach Erkrankungsbeginn<br />

Gerade beim Säugling können die<br />

röntgenologischen Zeichen sehr diskret<br />

sein <strong>und</strong> erfor<strong>der</strong>n eine genaue Analyse<br />

des Röntgenbildes. Bei größeren Kin<strong>der</strong>n<br />

hat uns die Tomographie geholfen,<br />

das Ausmaß des Wirbelkörperbefalls<br />

festzustellen.Wesentlich bessere diagnostische<br />

Möglichkeit bietet das MRT, das<br />

Abb. 3 � Ausheilung einer Spondylodiszitis<br />

L4/5 mit vollständiger Blockwirbelbildung,<br />

Patientin von Abb. 1, 23 Jahre nach Erkrankungsbeginn<br />

| Der Orthopäde 1•2002<br />

Zum Thema: Krummer Rücken<br />

eine frühzeitige Erfassung <strong>der</strong> Spondylodiszitis<br />

<strong>und</strong> insbeson<strong>der</strong>e auch die<br />

Ausbreitung des Prozesses in den Weichteilen<br />

ermöglicht.<br />

Die von uns behandelten Spondylodiszitiden<br />

waren in allen Abschnitten<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong> lokalisiert (Tabelle 2).<br />

Der Hauptanteil befand sich in <strong>der</strong> <strong>unter</strong>en<br />

Brust- <strong>und</strong> oberen Lendenwirbelsäule.<br />

Es handelte sich ausnahmslos um<br />

unspezifische Formen <strong>der</strong> Spondylodiszitis,<br />

in keinem Fall konnte eine tuberkulöse<br />

o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e spezifische Genese<br />

nachgewiesen werden.<br />

Die Therapie <strong>der</strong> Spondylodiszitiden<br />

im Kindesalter bestand bei allen Patienten<br />

in <strong>der</strong> Verabreichung von Antibiotika<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Immobilisation. Nur bei<br />

einem Kind wurde lediglich eine vorübergehende<br />

Bettruhe durchgeführt.<br />

Die Mehrzahl <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> wurde im<br />

Gipsbett gelagert bzw. erhielt primär<br />

o<strong>der</strong> sek<strong>und</strong>är dann einen Rumpfgips,<br />

wobei die Behandlungszeiträume in Abhängigkeit<br />

vom klinischen <strong>und</strong> radiologischen<br />

Bef<strong>und</strong> sehr <strong>unter</strong>schiedlich waren.<br />

Bei einem Kind mit <strong>der</strong> zervikalen<br />

Spondylodiszitis wurde eine Orthese angelegt.<br />

Zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Nach<strong>unter</strong>suchung<br />

bestand bei 16 von 20 Kin<strong>der</strong>n<br />

Beschwerdefreiheit <strong>und</strong> bei <strong>der</strong> klinischen<br />

Untersuchung eine freie Beweglichkeit<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>; 4 Kin<strong>der</strong> wiesen<br />

eine Kyphose auf, die mit einer Bewegungseinschränkung<br />

des betroffenen<br />

<strong>Wirbelsäule</strong>nabschnittes verb<strong>und</strong>en<br />

war. Die radiologischen Bef<strong>und</strong>e bei <strong>der</strong><br />

Nach<strong>unter</strong>suchung sind <strong>der</strong> Tabelle 3 zu<br />

entnehmen.<br />

In 12 Fällen bestand das Ausheilungsstadium<br />

in einer fibrösen Ankylose<br />

mit hochgradiger Verschmälerung<br />

des Zwischenwirbelraums, 3 davon hatten<br />

zusätzlich eine Sklerosierung <strong>der</strong><br />

Abschlussplatten. Defektreste konnten<br />

noch bei 4 Patienten nachgewiesen werden.<br />

In 4 Fällen kam es zur partiellen<br />

(Abb. 2), in weiteren 4 Fällen zur vollständigen<br />

Blockwirbelbildung (Abb. 3).<br />

Bei 4 Patienten ergab sich röntgenologisch<br />

eine Ausheilung mit einer leichten<br />

Kyphose des betreffenden Wirbelabschnitts<br />

(Abb. 4).<br />

Diskussion<br />

Durch die anfangs uncharakteristische<br />

Symptomatik ist die Diagnostik <strong>der</strong><br />

Spondylodiszitis im Kindesalter er-<br />

Abb. 4 � Ausheilung einer Spondylodiszitis<br />

L1/2 mit partieller Blockwirbelbildung <strong>und</strong><br />

leichter Kyphose, 12 Jahre nach Erkrankungsbeginn<br />

schwert. Die klinische Diagnose stützt<br />

sich auf den Rückenschmerz, die Bewegungseinschränkung<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong><br />

<strong>und</strong> den lokalen Klopfschmerz, sowie<br />

ein reduzierter Allgemeinzustand bis<br />

hin zur Sitz- bzw. Gehunfähigkeit. Zur<br />

radiologischen Früherkennung sollte<br />

das MRT herangezogen werden, da es<br />

frühzeitig die Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Bandscheibe<br />

<strong>und</strong> das entzündliche Ödem <strong>der</strong><br />

benachbarten Wirbelkörper erkennen<br />

lässt. In <strong>der</strong> Röntgennativaufnahme ist<br />

die Verschmälerung des Zwischenwirbelraums<br />

charakteristisch. Die Destruktionen<br />

<strong>der</strong> benachbarten Wirbelkörper<br />

sind nur gering ausgeprägt <strong>und</strong> nicht in<br />

jedem Fall nachweisbar.<br />

Differentialdiagnostisch müssen<br />

bei uncharakteristischem klinischen Bef<strong>und</strong><br />

radiologisch v. a. 3 Krankheitsbil<strong>der</strong><br />

abgegrenzt werden. Das ist einmal<br />

<strong>der</strong> Morbus Scheuermann, <strong>der</strong> im lumbalen<br />

Bereich als isolierte Form auftreten<br />

kann <strong>und</strong> dort ebenfalls mit einer<br />

Verschmälerung des Zwischenwirbelraums<br />

<strong>und</strong> einem Defekt im Bereich <strong>der</strong><br />

Wirbelabschlussplatten einhergeht. Der<br />

Verlauf, die fehlenden Entzündungsparameter<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> typische scharf abgegrenzte<br />

Defekt an <strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>kante des<br />

Wirbelkörpers mit verlängertem Tiefendurchmesser<br />

des Wirbels erlauben je-


Abb. 5a,b � Fortschreitende ventrale Verschmelzung <strong>der</strong> Abschlussplatten mit mehrsegmentaler<br />

partieller Blockwirbelbildung. a Röntgenbild des thorakolumbalen Überganges im Alter von<br />

6 Jahren mit ventraler Ossifikation D10–12. b Im Alter von 26 Jahren partielle ventrale Blockwirbelbildung<br />

D9–12 mit Kyphosierung<br />

Abb. 6 � MRT eines 4-jährigen Jungen<br />

mit Langerhans-Zell-Granulomatose bei L1<br />

doch die sichere Abgrenzung von einer<br />

Spondylodiszitis.<br />

Im Röntgenbild kann in seltenen<br />

Fällen auch eine fortschreitende ventrale<br />

Verschmelzung <strong>der</strong> Abschlussplatten<br />

Anlass zur Verwechslung mit einer<br />

Spondylodiszitis geben. Wir haben das<br />

bei einem Kind beobachtet. Die Ursache<br />

dieser Verän<strong>der</strong>ungen ist in einer mangelnden<br />

Differenzierung <strong>der</strong> Fasern des<br />

vor<strong>der</strong>en Anulusgebiets zu sehen, was zu<br />

einer auf mehrere Segmente übergreifende<br />

partielle Blockwirbelbildung mit<br />

zunehmen<strong>der</strong> Kyphose führt (Abb. 5).<br />

Diagnostische Probleme bereitet<br />

manchmal die Abgrenzung einer Langerhans-Granulomatose.<br />

Hier finden<br />

sich im Anfangsstadium auch im Röntgenbild<br />

Verän<strong>der</strong>ungen, die einer Spondylodiszitis<br />

ähneln, mit Verschmälerung<br />

des Zwischenwirbelraums <strong>und</strong> keilförmiger<br />

Deformierung des Wirbelkörpers.<br />

Ein MRT hilft in diesen Fällen weiter, da<br />

es die Eingrenzung des Prozesses auf<br />

den Wirbelkörper bei intakten Band-<br />

scheiben erkennen lässt (Abb. 6). In<br />

Zweifelsfällen muss jedoch eine Biopsie<br />

vorgenommen werden, um die Diagnose<br />

zu sichern, da sich die Therapie bei<br />

diesen Erkrankungen gr<strong>und</strong>sätzlich <strong>unter</strong>scheidet.<br />

Fazit für die Praxis<br />

Bei <strong>der</strong> Spondylodiszitis im Kindesalter<br />

handelt es sich in <strong>der</strong> Regel um unspezifische<br />

Formen mit einem blanden Verlauf.<br />

Die Behandlung kann daher konservativ<br />

erfolgen. Nur in Ausnahmefällen ist eine<br />

Biopsie zur Diagnosesicherung notwendig.<br />

Eine operative Behandlung war bei unseren<br />

Patienten in keinem Fall indiziert.<br />

Die Ausheilung geht mit einer fibrösen<br />

o<strong>der</strong> ossären Ankylose des betroffenen<br />

Segments einher. Daraus ergeben sich in<br />

<strong>der</strong> Regel keine funktionellen Einschränkungen<br />

<strong>der</strong> <strong>Wirbelsäule</strong>. Insgesamt <strong>unter</strong>streichen<br />

die guten klinischen Spätergebnisse<br />

die günstige Prognose <strong>der</strong> Spondylodiszitis<br />

im Kindesalter.<br />

Literatur<br />

Literatur beim Verfasser<br />

Der Orthopäde 1•2002 | 77

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!