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Heft 4/2006 - Offene Kirche Württemberg

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OFFENE KIRCHE<br />

Evang. Vereinigung<br />

in <strong>Württemberg</strong><br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

○<br />

Aus dem Inhalt:<br />

Tarifrecht<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Jugendarbeit<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Asylrecht<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Nr. 4<br />

November<br />

<strong>2006</strong><br />

Aufruf an die <strong>Kirche</strong>n aller Konfessionen in unserem Land<br />

Erinnerung und Umkehr – Für einen offiziellen<br />

kirchlichen Gedenktag am 9. November<br />

Mit dem Angriff auf die Juden, ihre<br />

Synagogen, ihre heiligen Schriften<br />

und ihr wirtschaftliches und soziales<br />

Leben am 9. November 1938<br />

offenbarte das Naziregime das Ziel,<br />

mit dem jüdischen Volk auch die<br />

Erinnerung und den Glauben an den<br />

Gott Israels auszulöschen.<br />

Die <strong>Kirche</strong>n ließen diese Verbrechen an<br />

den Juden in mutlosem Schweigen<br />

geschehen. Einzelne Christen, die den<br />

Weg des Martyriums gingen, konnten<br />

sich auf die Unterstützung ihrer <strong>Kirche</strong><br />

nicht verlassen. Zu tief verwurzelt<br />

waren im europäischen Christentum<br />

Ablehnung und Ausgrenzung der Juden.<br />

Zweitausend Jahre christliche Judenfeindschaft<br />

machten gefühllos gegenüber<br />

dem staatlich propagierten Judenhass<br />

und der organisierten Vernichtung. Für<br />

die NS-Führung war der Novemberpogrom<br />

der Test, der ihr zeigte, dass sie bei<br />

der Judenverfolgung nun freie Hand<br />

haben würde.<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Die<br />

Tübinger<br />

Synagoge<br />

brennt<br />

Obwohl Christen den Juden Jesus als<br />

Herrn bekennen, wuchs in den <strong>Kirche</strong>n<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg nur<br />

zögernd die Erkenntnis der Mitschuld<br />

am Schicksal der Brüder und Schwestern<br />

Jesu. Zunächst gingen nur wenige<br />

den Weg der Erinnerung und Umkehr<br />

voran, auf dem dann Synoden und<br />

Denkmal für die ermordeten<br />

Juden Europas, Berlin<br />

<strong>Kirche</strong>nleitungen folgten. Die Erneuerung<br />

des Verhältnisses von Christen und<br />

Juden aus ihrer gemeinsamen Wurzel<br />

(Römer 11) ist uns bleibende Verpflichtung.<br />

Darum sind Erinnerung und<br />

Umkehr auch künftig vordringliche und<br />

andauernde Aufgaben aller Christen.<br />

Erinnerung braucht einen festen Ort<br />

in der Zeit.<br />

Am 9. November 2008 jährt sich die<br />

Reichspogromnacht zum 70. Mal.<br />

Wir rufen die <strong>Kirche</strong>n in unserem Land<br />

auf, bis zum Jahr 2008 den 9. November<br />

als offiziellen kirchlichen Gedenktag,<br />

als TAG DER ERINNERUNG UND<br />

UMKEHR einzuführen.<br />

Wir brauchen ein gemeinsames<br />

Zeichen<br />

– diesen gemeinsamen Tag – um unsere<br />

Erinnerung an den christlichen Irrweg<br />

der Judenfeindschaft, unseren Schmerz<br />

über das Versagen der <strong>Kirche</strong>n, unsere<br />

Trauer über die Vernichtung der Juden<br />

Europas und unsere Verbundenheit mit<br />

dem jüdischen Volk zum Ausdruck zu<br />

bringen.<br />

Tübingen, den 7. September 2005<br />

Arbeitskreis „Begegnung mit der<br />

jüdischen Gemeinde Petrosawodsk“ in<br />

der Evangelischen Dietrich-Bonhoeffer-<br />

<strong>Kirche</strong>ngemeinde Tübingen<br />

Pfarrer Dankwart Paul Zeller,<br />

Pfarrer Dr. Michael Volkmann<br />

Berliner Ring 12/2, 72076 Tübingen<br />

www.bonhoeffer-gemeinde.de<br />

www.<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong> Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> .de , E -mail: Redaktion@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong> OFFENE KIRCHE .de, Internetredaktion@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong> Seite .de 1


Erläuterungen der Initiatoren<br />

zum Aufruf „Erinnerung und Umkehr“<br />

Der 9. November gehört als Gedenktag<br />

in den Kalender des <strong>Kirche</strong>njahres. Die<br />

<strong>Kirche</strong> gedenkt der Ereignisse des 9.<br />

Novembers 1938 und des christlichen<br />

Irrwegs der Judenfeindschaft. Christen<br />

sind als Mittäter und Zuschauer mitschuldig<br />

geworden an der Vernichtung<br />

der Juden Europas. Die <strong>Kirche</strong> als ganze<br />

hatte die Verwerfung der Juden gelehrt<br />

und ihnen das Recht als Juden zu leben<br />

abgesprochen, lange bevor ihnen die<br />

Nationalsozialisten das Recht auf Leben<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Editorial<br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

◆ ◆ die Globalisierung ist um uns und<br />

über uns und manche können das Wort<br />

nicht mehr hören, weil es für sie Gefahr<br />

bedeutet – Gefahr, den Arbeitsplatz zu<br />

verlieren und in die Armut abzurutschen.<br />

Angestellte von intakten Firmen,<br />

die von Konzernen zerschlagen werden<br />

und deren Abteilungen in Billiglohnländer<br />

umgesiedelt werden, zum<br />

Beispiel. Aber auch Mitarbeiterinnen –<br />

es sind meist Frauen – von Sozialstationen<br />

und anderen Einrichtungen<br />

von Caritas und Diakonischem Werk<br />

wissen oft nicht mehr, wie sie die Miete<br />

bezahlen sollen. Denn statt dass die<br />

beiden großen Arbeitgeber gemeinsam<br />

gegen den Trend vorgehen, werden sie<br />

oft zu Vorreitern bei der Prekarisierung<br />

der Arbeitsplätze.<br />

◆ ◆ Gret Haller und Richard Ziegert<br />

machten uns auf der Jahresversammlung<br />

noch auf eine andere Form der Globalisierung<br />

aufmerksam – die der kulturellen<br />

und religiösen Überschwemmung<br />

durch Religionsfirmen aus den USA, wie<br />

Pro Christ, Jesus House und Willow<br />

Creek. Sie versuchen, über Freikirchen<br />

und die Evangelische Allianz in die<br />

europäischen Strukturen – die ACK<br />

etwa – einzudringen, haben mit Ökumene<br />

allerdings wenig am Hut. Ein Zeitungsartikel<br />

machte mich noch auf eine<br />

andere Aktion aufmerksam: „Wie schon<br />

im letzten Jahr, findet auch dieses Jahr<br />

wieder die Aktion ‘Weihnachten im<br />

Schuhkarton’ im gesamten Landkreis<br />

statt. Die Aktion soll ein Zeichen der<br />

Hoffnung sein“, stand da. Päckchen für<br />

arme Waisenkinder in Kriegs- und<br />

Krisengebieten – wer wollte da nicht<br />

packen? „Im Gegensatz zu anderen<br />

schlechthin entzogen. Die <strong>Kirche</strong> muss<br />

erkennen, dass der Völkermord an den<br />

Juden ein Angriff auf die Erwählten und<br />

Geliebten Gottes und damit auch auf die<br />

Wurzeln des christlichen Glaubens war.<br />

Im Folgenden wird auf drei Fragen<br />

eingegangen, die im Zusammenhang mit<br />

dieser Aktion immer wieder gestellt<br />

werden:<br />

1Gibt es nicht schon zu viele<br />

Gedenktage?<br />

Es gibt viele Gedenktage, die von<br />

den unterschiedlichsten Organisationen<br />

und Gruppen begangen werden. Neue<br />

Hilfsorganisationen suchen wir uns<br />

immer die Länder aus, in denen es<br />

extrem notwendig ist zu helfen.“ Es<br />

stand aber nicht dabei, wer „wir“ ist.<br />

Erst wenn man im Internet sucht, stellt<br />

sich heraus, dass der Träger „Geschenke<br />

der Hoffnung“ ein Missionswerk ist, das<br />

mit der Evangelischen Allianz zusammenarbeitet<br />

und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft<br />

Evangelikaler Missionen und<br />

des Rings Missionarischer Jugendbewegungen<br />

ist. Vor Ort (von den 13<br />

Ländern liegen 12 in Europa) wird dem<br />

Schuhkarton ein <strong>Heft</strong> mit biblischen<br />

Geschichten beigelegt.<br />

Da sind mir Projekte auf Augenhöhe,<br />

wie die Partnerschaft zwischen dem<br />

<strong>Kirche</strong>nbezirk Aalen und Akyem<br />

Abuakwa in Ghana oder die Mango-<br />

Aktion zwischen der Evangelischen<br />

<strong>Kirche</strong>nföderation von Burkina Faso und<br />

dem <strong>Kirche</strong>nbezirk Böblingen, lieber<br />

und meine Weihnachtsspende gebe ich<br />

an christliche Profis, die ebenfalls mit<br />

Partnern vor Ort zusammenarbeiten,<br />

nämlich „Brot für die Welt“. Da weiß<br />

ich, dass das Geld wirklich da ankommt,<br />

wo es extrem nötig ist. Ich hoffe nur,<br />

dass nicht viele PfarrerInnen auf die<br />

Idee kommen, dass ihre Gemeinde es<br />

am nötigsten hat.<br />

Ich wünsche Ihnen eine gesegnete<br />

Weihnachtszeit.<br />

Renate Lück<br />

Gedenktage werden geschaffen, andere,<br />

auch christliche, geraten in Vergessenheit.<br />

Ein Gedenktag lebt davon, dass<br />

Menschen ihn begehen. Am 9. November<br />

wird bereits an vielen Orten des<br />

Pogroms von 1938 gedacht, von<br />

Vereinen, Initiativen, Kommunen,<br />

<strong>Kirche</strong>ngemeinden und besonders auch<br />

von Synagogengemeinden. Wir sind der<br />

Überzeugung, dass die <strong>Kirche</strong>n in<br />

unserem Land diesen Tag nie vergessen<br />

dürfen, weil die Synagogenbrände für<br />

uns Christen theologische Bedeutung<br />

haben. Dietrich Bonhoeffer hat gesagt,<br />

wo Synagogen brennen, brennen bald<br />

auch <strong>Kirche</strong>n. Er sagte dies, weil er in<br />

diesen Angriffen Angriffe auf den Gott<br />

der Bibel erkannte. Darum betrifft uns<br />

dieses Datum als gläubige Christen.<br />

Aber warum haben die <strong>Kirche</strong>n nicht<br />

mitgebrannt? Weil die <strong>Kirche</strong>n als<br />

Institutionen von den Juden weiter weg<br />

waren als von den Nazis, also auch von<br />

ihrem Herrn, der ein Jude ist. Weder in<br />

der Barmer Theologischen Erklärung<br />

von 1934 noch im Stuttgarter Schuldbekenntnis,<br />

als die Evangelische <strong>Kirche</strong><br />

nach dem Krieg bekannte: Durch uns ist<br />

unendliches Leid über viele Länder und<br />

Völker gekommen, sind die Juden oder<br />

die Verbrechen an den Juden erwähnt.<br />

Dran bleiben<br />

Leserbrief<br />

Inhalt<br />

Diakonie<br />

....................................... Seite 4<br />

....................................... Seite 5<br />

Jugendarbeit<br />

Kongress: „Der Jugend Raum geben“<br />

....................................... Seite 6<br />

Interview mit Klaus Sturm<br />

....................................... Seite 7<br />

OFFENE KIRCHE<br />

Jahresversammlung ....................................... Seite 9<br />

Asylpolitik<br />

Glück gehabt (?)<br />

.....................................Seite 14<br />

Bleiberecht<br />

.....................................Seite 15<br />

Dekade gegen Gewalt<br />

<strong>Offene</strong>r Brief<br />

.....................................Seite 16<br />

Atomwaffen sind Verbrechen<br />

.....................................Seite 16<br />

Gerechtigkeit<br />

Partnerschaft auf Augenhöhe<br />

.....................................Seite 17<br />

Meilensteine<br />

Ernst Käsemann .....................................Seite 19<br />

Erwachsenenbildung<br />

Glaube braucht Bildung<br />

.....................................Seite 22<br />

Seite 2 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


„Israelvergessenheit“ war ein<br />

Hauptgrund für christliche Judenfeindschaft.<br />

Wir überwinden sie<br />

nicht durch Vergessen, sondern<br />

durch Gedenken, nicht durch<br />

Schweigen, sondern durch<br />

Sprechen. Diese Aufgabe bleibt<br />

uns dauernd erhalten. Denn nur<br />

wer sich erinnert, weiß, wo er<br />

herkommt und was er künftig<br />

anders machen möchte.<br />

2<br />

In welchem Verhältnis steht<br />

der 9. November zu anderen<br />

Gedenktagen?<br />

Die angesprochenen theologischen<br />

Gründe machen den 9. November zu<br />

einem einzigartigen Gedenktag. Sein<br />

Anliegen kann nur an diesem Tag<br />

besprochen werden. Er ist durch keinen<br />

anderen Gedenktag zu ersetzen. Allein<br />

der 9. November kann zu einem<br />

ökumenischen Gedenktag aller <strong>Kirche</strong>n<br />

werden. Immer wieder wird uns die<br />

Befürchtung entgegengehalten, durch<br />

unsere Initiative werde der Buß- und<br />

Bettag abgewertet. Der Buß- und Bettag<br />

ist ein Feiertag allein der Evangelischen<br />

<strong>Kirche</strong>. Er zielt auf die persönliche und<br />

gesellschaftliche Bereitschaft zur<br />

Selbstprüfung und Buße. An ihm finden<br />

Gottesdienste statt, die Auswahl der<br />

Predigttexte hat keinen Bezug zum<br />

Anliegen des 9. November. Mit seinem<br />

Profil als allgemeiner Bußtag am Ende<br />

des <strong>Kirche</strong>njahres ist er durch einen<br />

Gedenktag 9. November weder gefährdet,<br />

noch kann er das Anliegen des<br />

Gedenkens am 9. November übernehmen.<br />

Die Erinnerung an die Synagogenbrände,<br />

an die Passivität der <strong>Kirche</strong>n<br />

und ihre Ursachen hat ihr eigenes<br />

Gewicht und muss am Jahrestag erfolgen.<br />

Der Bußtag ist Schlusstag der Ökumenischen<br />

Friedensdekade. Auch in der<br />

Friedensdekade und im Bittgottesdienst<br />

für den Frieden kommt das Anliegen des<br />

9. Novembers kaum vor. Sie zielen in<br />

eine andere Richtung, manchmal sogar<br />

in eine israelkritische, ohne auch nur<br />

erwähnt zu haben, wie nahe <strong>Kirche</strong> und<br />

Israel theologisch zusammengehören.<br />

Unserem Aufruf entspricht es, dem 9.<br />

November seinen eigenen Ort am<br />

Beginn bzw. innerhalb der Friedensdekade<br />

zu geben. Der 27. Januar ist von<br />

der UNO zum weltweiten Holocaust-<br />

Gedenktag ausgerufen worden. Bei uns<br />

ist er der Tag zur Erinnerung an alle<br />

Opfer des Nationalsozialismus, nicht<br />

speziell an die jüdischen. An diesem<br />

Denkmal für die ermordeten<br />

Juden Europas, Berlin<br />

Datum wurde das KZ Auschwitz befreit,<br />

tausend Kilometer östlich von hier. Der<br />

9. November fand hingegen an jedem<br />

Ort in Deutschland, wo Juden lebten,<br />

statt, praktisch vor unser aller Haustür.<br />

Darum gibt es auch schon die vielen<br />

örtlichen Initiativen, die diesen Tag<br />

nicht einfach ohne zu gedenken verstreichen<br />

lassen. Auch viele nichtreligiöse<br />

Menschen gedenken der Zerstörung der<br />

jüdischen Gotteshäuser.<br />

Am 10. Sonntag nach Trinitatis, dem<br />

Israelsonntag, thematisiert die Evangelische<br />

<strong>Kirche</strong>, und nur sie, das theologische<br />

Verhältnis von <strong>Kirche</strong> und Volk<br />

Israel und die Treue Gottes zu Israel.<br />

Der Tag liegt in der Regel in den<br />

Sommerferien, schon sein eigentliches<br />

Anliegen kommt mit Mühe zur Geltung.<br />

Er eignet sich daher nicht dafür, auch<br />

noch mit der Erinnerung an die Synagogenbrände<br />

verbunden zu werden. In der<br />

deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts<br />

kam der 9. November mehrmals<br />

zu Bedeutung: 1918 (Revolution), 1923<br />

(Hitler-Putsch), 1938 (November-<br />

Pogrom), 1939 (J. G. Elsers Attentat auf<br />

Hitler), 1989 (Öffnung der Berliner<br />

Mauer). Für die <strong>Kirche</strong>n hat der 9.<br />

November 1938 eine Bedeutung, die<br />

nicht nur aus der Reihe der genannten<br />

Ereignisse herausragt, sondern weit über<br />

das 20. Jahrhundert hinaus nachwirken<br />

wird.<br />

3<br />

Wie soll das Gedenken am 9.<br />

November ausgestaltet werden?<br />

Das Gedenken der schuldig Gewordenen<br />

und ihrer Nachkommen unterscheidet<br />

sich vom Gedenken der Opfer<br />

und ihrer Nachkommen. Es muss<br />

Gewissen treffendes Gedenken sein,<br />

sonst droht die Gefahr, der eigenen<br />

Geschichte auszuweichen, indem man<br />

sich unberechtigt auf die Seite der Opfer<br />

stellt. Darum ist christliches Gedenken<br />

nicht erfüllt durch die Teilnahme an<br />

jüdischen Gedenkveranstaltungen. Die<br />

christliche Schuldgeschichte verlangt ein<br />

eigenes Gedenken der <strong>Kirche</strong>n in<br />

ökumenischer und kommunaler<br />

Kooperation. Nicht nur die<br />

Einzelnen in den nachfolgenden<br />

Generationen, sondern auch die<br />

<strong>Kirche</strong> als Ganze ist Trägerin<br />

des Gedenkens. Orte des<br />

Gedenkens am 9. November<br />

sind Synagogen, <strong>Kirche</strong>n und<br />

Gedenkstätten. Aktivitäten, die<br />

zum Gedenken an den November-Pogrom<br />

von 1938 an<br />

diesem Tag an vielen Orten von den<br />

unterschiedlichsten Gruppen bereits<br />

unternommen werden, sollen in ihrer<br />

Vielfalt gewürdigt und ermutigt werden.<br />

Wir wollen einen Gedenktag, keinen<br />

kirchlichen Feiertag. Besondere Gedenktage,<br />

wie etwa der Tag der Übergabe des<br />

Augsburger Bekenntnisses 1530, stehen<br />

auch jetzt schon im Liturgischen<br />

Kalender im Evangelischen Gesangbuch.<br />

Dort sind ihnen biblische Texte zugeordnet.<br />

Als Text für den 9. November liegt<br />

der 74. Psalm nahe. Das bedeutet nicht,<br />

dass die <strong>Kirche</strong>n an diesem Tag die<br />

Gedenkform eines Gottesdienstes<br />

vorgeben sollten, wir schließen sie aber<br />

auch nicht aus. Vielmehr soll die bereits<br />

bestehende Vielfalt des Gedenkens<br />

gewürdigt und ermutigt werden. In<br />

Tübingen z. B. erscheinen der Stadtrundgang<br />

(Geschichtswerkstatt Tübingen<br />

e. V.), die Feier am Denkmal<br />

Synagogenplatz (Gemeinderat) und die<br />

Gedenkstunde in der Stiftskirche<br />

(Arbeitsgemeinschaft Christlicher<br />

<strong>Kirche</strong>n ACK) nebeneinander auf einem<br />

Plakat. So soll es auch in Zukunft<br />

bleiben. Wir wollen nicht, dass der<br />

kirchliche Gedenktag anderes verdrängt,<br />

dominiert oder vereinheitlicht, sondern<br />

es unterstützt, vor allem auch das<br />

jüdische Gedenken an diesem Tag.<br />

Wir halten einen offiziellen kirchlichen<br />

Gedenktag „Erinnerung und<br />

Umkehr“ am 9. November für eine<br />

Notwendigkeit, deren Zeit jetzt –<br />

zum 70. Jahrestag – gekommen ist.<br />

Unser Aufruf richtet sich an alle<br />

<strong>Kirche</strong>n. Kirchliche Gruppen,<br />

Gemeinden und Gremien, die sich<br />

diesen Aufruf zu eigen machen,<br />

bitten wir, ihn an <strong>Kirche</strong>nleitungen<br />

und Synoden bzw. kirchliche Beschlussgremien<br />

heranzutragen und<br />

uns darüber zu informieren. Synoden<br />

bzw. kirchliche Beschlussgremien<br />

mögen in einen Diskussions-<br />

und Entscheidungsprozess<br />

eintreten und im Lauf des Jahres<br />

2007 zum Beschluss kommen.<br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 3


Diakonie<br />

Dran bleiben am Tarifrecht des<br />

öffentlichen Dienstes oder ab in<br />

die Beliebigkeit?<br />

Die Synode muss entscheiden<br />

Die grundsätzliche Zielsetzung der<br />

AGMAV ist bekannt: Dran bleiben am<br />

Tarifrecht des öffentlichen Dienstes, um<br />

damit die Chance des Erhalts einer<br />

Leitwährung für die soziale Arbeit zu<br />

wahren. Im Laufe der Verhandlungen in<br />

der Arbeitsgruppe der Arbeitsrechtlichen<br />

Kommission wurde deutlich, dass eine<br />

Übernahme des TVöD für die Diakonie<br />

in <strong>Württemberg</strong> trotz der gemeinsamen<br />

Beschlusslage gefährdet ist. Ein offensichtlich<br />

einflussreicher Teil der diakonischen<br />

Arbeitgeber in <strong>Württemberg</strong><br />

lehnt die Übernahme des TVöD ab, da<br />

er die einmalige Chance sieht, sich vom<br />

Tarifrecht des öffentlichen Dienstes zu<br />

verabschieden. Dies stünde der Position<br />

der AGMAV geradezu entgegen.<br />

Diese Arbeitgeber, die stark von den<br />

Positionen ihres Arbeitgeberverbandes<br />

(VdDD) beeinflusst sind argumentieren,<br />

dass man einen „diakoniegemäßen<br />

Flächentarif“ schaffen könne.<br />

Sie sagen allerdings nicht, was<br />

sie darunter verstehen. Aus<br />

Dokumenten und Gesprächen<br />

ist uns die Intention jedoch<br />

bekannt: Bei Anlehnung an<br />

den TVöD droht Ärger mit<br />

den Mitarbeitenden, wenn<br />

man den Tarif absenken<br />

möchte. Der VdDD sieht die<br />

Möglichkeit, jetzt den im<br />

Tarifvertragsrecht schwächeren<br />

Dritten Weg der <strong>Kirche</strong>n<br />

dazu zu nutzen, sich durch<br />

niedrigere Tarife einen<br />

Wettbewerbsvorteil gegenüber<br />

anderen Anbietern der<br />

Uli Maieri<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Die Beschlusslage in der Arbeitsrechtlichen Kommission <strong>Württemberg</strong> ist<br />

eindeutig: Nach Abschluss des reformierten Tarifvertrages im öffentlichen<br />

Dienst (TVöD) und nach dessen Bekanntwerden sollte die Übernahme des<br />

TVöD in die Arbeitsvertragsrichtlinien der <strong>Württemberg</strong>er Diakonie (AVR)<br />

zügig, das heißt innerhalb eines Jahres verhandelt werden. Dieser Beschluss<br />

kam seinerzeit auf Drängen der diakonischen Arbeitgeber zustande. Wir als<br />

AGMAV waren damals eher vorsichtig und argumentierten noch, ob es richtig<br />

sei, „die Katze im Sack zu kaufen“.<br />

sozialen Arbeit zu verschaffen. Dies ist<br />

der wahre Kern, der sich hinter dem<br />

immer wieder vorgebrachte verlogenen<br />

Argument verbirgt, man müsse den<br />

privaten Anbietern etwas entgegensetzen<br />

können.<br />

Da wir unser Ziel – die Übernahme des<br />

TVöD – gefährdet sahen, boten wir im<br />

Laufe der Verhandlungen den Arbeitgebern<br />

eine mögliche Arbeitsrechtsregelung<br />

zur Zukunftssicherung diakonischer<br />

Einrichtungen an. Mit dieser<br />

Regelung wäre es unter bestimmten<br />

Voraussetzungen möglich gewesen, bis<br />

zum Jahre 2015 Eingriffe in die Gehälter<br />

von bis zu 10 Prozent vorzunehmen,<br />

aufgeteilt in direkte Gehaltsabsenkungen<br />

bis zu maximal sechs Prozent und so<br />

genannte Genussrechte – eine Art<br />

Darlehen der Mitarbeitenden an die<br />

Einrichtung aus den Gehältern –<br />

zusammen bis zu 10 Prozent. Die<br />

einrichtungsbezogene Regelung hierzu<br />

hätte jeweils auf betrieblicher Ebene<br />

ausgearbeitet und von der Arbeitsrechtlichen<br />

Kommission verabschiedet werden<br />

sollen. Die Übernahme des TVöD in die<br />

AVR war tarifhandwerklich so weit<br />

vorbereitet, dass eine Übernahme für die<br />

Diakonie in <strong>Württemberg</strong> zum 1. Januar<br />

2007 möglich gewesen wäre, zumindest<br />

die entsprechenden Grundsatzbeschlüsse,<br />

vergleichbar denen, die für die<br />

Landeskirche ausgehandelt worden sind.<br />

Am 29. 9. <strong>2006</strong> fand eine Trägerversammlung<br />

zu diesem Thema statt.<br />

Die diakonischen Arbeitgeber sollten<br />

dort lediglich über den Verhandlungsstand<br />

sowohl in der Arbeitsrechtlichen<br />

Kommission in <strong>Württemberg</strong> als auch in<br />

der Arbeitsrechtskommission für die<br />

Diakonie auf Bundesebene informiert<br />

werden. Die AGMAV forderte von der<br />

Trägerversammlung das klare Votum,<br />

die Übernahme des TVöD in Kombination<br />

mit der Zukunftssicherungsregelung<br />

zügig fertig zu verhandeln mit dem Ziel<br />

einer Übernahme zum Jahreswechsel.<br />

Vor der Trägerversammlung war<br />

vereinbart worden, dass ich umgehend<br />

von den Beratungen informiert werde.<br />

Die offizielle Rückmeldung erhielt ich<br />

jedoch erst auf Nachfrage drei Tage<br />

später. Noch am selben Tag beschloss<br />

der AGMAV-Vorstand in einer Sondersitzung,<br />

die Verhandlungen zur Tarifübernahme<br />

abzubrechen, weil sich<br />

offensichtlich die „VdDD-Fraktion“ bei<br />

den württembergischen Diakoniearbeitgebern<br />

durchgesetzt hatte.<br />

Nach dem Votum der Trägerversammlung<br />

soll es keine Übernahme des TVöD<br />

geben, solange es den Arbeitgebern<br />

nicht durch eine kirchliche Rechtsgrundlage<br />

ermöglicht wird, sich „ihr“<br />

(für den jeweiligen Träger passendes)<br />

Arbeitsrecht aussuchen zu können.<br />

Dazu haben sie entsprechende<br />

Anträge an die Landessynode<br />

formuliert, die inzwischen vom<br />

Oberkirchenrat modifiziert und<br />

verabschiedet wurden. Der<br />

Oberkirchenrat wird diese<br />

Anträge in die Herbstsynode<br />

einbringen. Ziel der Arbeitgeber<br />

ist, die von der Landessynode<br />

eingesetzte württembergische<br />

Arbeitsrechtskommission zu<br />

unterlaufen und statt der<br />

Arbeitsrechtsrichtlinien in<br />

<strong>Württemberg</strong> künftig wahlweise<br />

auch die von der Arbeitsrechtlichen<br />

Kommission des Diakonischen<br />

Werks der EKD beschlossenen<br />

Seite 4 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


AVR-DW-EKD anwenden zu können.<br />

Nach dem derzeitigen Gesetzentwurf<br />

soll die Entscheidung, welches Tarifrecht<br />

angewendet werden soll, von der<br />

derzeit verbindlichen regionalen Ebene<br />

auf die betriebliche Ebene geholt<br />

werden. Nach allen Erfahrungen, die<br />

wir mit solch schwerwiegenden Entscheidungen<br />

beim Arbeitsrecht auf<br />

betrieblicher Ebene gemacht haben, ist<br />

dies deutlich abzulehnen.<br />

Im Übrigen habe ich im Laufe der<br />

Verhandlungen den Eindruck gewonnen,<br />

dass es vielen unserer Arbeitgeber<br />

im Grunde egal ist, welches Tarifrecht<br />

sie anwenden, wenn ihnen nur endlich<br />

die Möglichkeit eingeräumt wird, selbst<br />

bestimmen zu können, ob und in<br />

welchem Umfang Gehaltsabsenkungen<br />

erfolgen können. Und wenn sie schon<br />

nicht einen umfassenden „Freifahrschein“<br />

bekommen, dann sollte nach<br />

ihrem Geschmack doch mindestens die<br />

Absenkung auf der betrieblichen Ebene<br />

möglich sein. Genau dies ist nach dem<br />

derzeitigen Verhandlungsstand die<br />

Perspektive auf die AVR-DW-EKD.<br />

Dabei gibt es nach den derzeitigen<br />

Beschlussvorlagen dort noch nicht<br />

einmal die Festlegung einer Grenze, bis<br />

zu der Absenkungen möglich sind. Vor<br />

diesem Hintergrund kann ich das<br />

Argument, einen Flächentarif für die<br />

Diakonie in ganz Deutschland zu<br />

wollen, nur als Lüge bezeichnen. Bei<br />

den angedachten betrieblichen Öffnungsklauseln<br />

wäre nur noch der Titel<br />

des Tarifwerkes in der Fläche gleich, das<br />

materielle Arbeitsrecht wäre schnell in<br />

jeder „Firma“ ein anderes.<br />

Auch die Argumentation der Arbeitgeber<br />

zum Scheitern der Verhandlungen – im<br />

Rahmen der Zukunftssicherung müssten<br />

Absenkungen von 6 Prozent tariflich<br />

festgeschrieben und nicht Absenkungen<br />

Verband<br />

kommunaler<br />

Arbeitgeber<br />

von bis zu 6<br />

Prozent unter<br />

Einhaltung<br />

gewisser Spielregeln<br />

ermöglicht<br />

werden – halte<br />

ich für vorgeschoben.<br />

Insgesamt<br />

habe ich immer<br />

wieder den<br />

Eindruck, dass die<br />

Gehälter der<br />

40.000 Beschäftigten<br />

in der<br />

Diakonie als<br />

flexible Verfügungsmasse<br />

angesehen werden. Das Bewusstsein,<br />

dass Geldverdienen auch mit Existenzsicherung<br />

zu tun hat, nehme ich kaum<br />

wahr.<br />

Wie geht es weiter? Zunächst gelten<br />

unsere „guten alten AVR-<strong>Württemberg</strong>“<br />

weiter. Wir werden uns nun darauf<br />

konzentrieren, die von den Arbeitgebern<br />

angestrebte Auflösung der Verbindlichkeit<br />

unseres Arbeitsrechts zu verhindern.<br />

Dazu brauchen wir die Unterstützung<br />

der Mitarbeitervertretungen und<br />

unserer Kolleginnen und Kollegen. Und<br />

wir brauchen Menschen in unserer<br />

Landessynode, die bereit sind, diese<br />

Themen auch mit den betroffenen<br />

Mitarbeitenden grundsätzlich zu<br />

diskutieren, damit gerechte und langfristig<br />

tragbare Lösungen gefunden und<br />

nicht unter Druck der diakonischen<br />

Arbeitgeber kurzsichtige Gesetzesänderungen<br />

beschlossen werden, aus<br />

denen sich politisch weitreichende<br />

Auswirkungen ergeben können –<br />

keineswegs nur vordergründig für die<br />

Beschäftigten! Für weitere Verhandlungen<br />

brauchen wir ein klares Bekenntnis<br />

der Diakonie-Arbeitgeber, dass sie den<br />

TVöD übernehmen wollen und ihn in<br />

ihren Einrichtungen auch verbindlich<br />

anwenden.<br />

Uli Maier ist der Vorsitzende der<br />

Mitarbeitervertretung der Beschäftigten<br />

in der Diakonie (AGMAV)<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

AGMAV = Arbeitsgemeinschaft der<br />

Mitarbeitervertretungen im Diakonischen<br />

Werk <strong>Württemberg</strong><br />

AVR = Arbeitsvertragsrichtlinien,<br />

entsprechend AVR <strong>Württemberg</strong> und<br />

AVR DW EKD = Arbeitsvertragsrichtlinien<br />

des Diakon. Werks der EKD<br />

VdDD = Verband diakonischer<br />

Dienstgeber in Deutschland<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

Sie fragen nach Meinungen über den<br />

„Dritten Weg“. Nun bin ich zwar in<br />

Leserbrief<br />

meinem Leben nie hauptamtlicher<br />

Mitarbeiter in <strong>Kirche</strong> oder Diakonie<br />

gewesen. Aber womöglich sind meine<br />

Erinnerungen und Gedanken zu diesem<br />

Thema zumindest „historisch gesehen“<br />

heute noch aufschlussreich. Da ich in<br />

der sogenannten freien Wirtschaft tätig<br />

war, sind die üblichen Tarifauseinandersetzungen<br />

für mich maßgeblich gewesen.<br />

Obwohl nur „Trittbrettfahrer“, da<br />

ich nie Verlangen darnach spürte, einer<br />

Gewerkschaft beizutreten. Ich verstehe<br />

es bis heute nicht, dass anlässlich der<br />

Neuorientierungen nach 1945 das alte<br />

Modell „hier Arbeit – hier Kapital“<br />

wieder eingeführt wurde. Es erschien<br />

mir schon damals als anachronistisch,<br />

aber es waren wohl nicht die richtigen<br />

„Denker“ vorhanden, andere Weg zu<br />

gehen, als dort wieder anzuknüpfen, wo<br />

es zwischen 1933 und 1945 aufhörte.<br />

Mit aus diesem Grunde interessierte es<br />

mich, als kirchlicherseits ein „Dritter<br />

Weg“ vorgeschlagen wurde. Deshalb<br />

besuchte ich – es wird wohl 1978<br />

gewesen sein – die Sitzung der Landessynode,<br />

bei welcher die Neuordnung<br />

beschlossen wurde.<br />

Bezeichnend für die damaligen Verhältnisse<br />

war es auch, dass dieser „kirchliche<br />

Sonderweg“ von den „Tarifparteien“<br />

recht kritisch beäugt wurde:<br />

hier hätten sich ja Veränderungen<br />

abzeichnen können. Dann wären<br />

womöglich die (leider bis heute) eingefleischten<br />

Rituale der Tarifautonomie ins<br />

Wanken geraten! Dank des Beharrungsvermögens<br />

der Kontrahenten ist dies<br />

nicht passiert. Als „nur“ im ehrenamtlichen<br />

Dienst unserer Landeskirche<br />

stehend, kann ich nicht beurteilen, ob<br />

die einstens gehegten Hoffnungen in<br />

Erfüllung gegangen sind. Immerhin zu<br />

den damals so gefürchteten Streiks im<br />

Rahmen der ÖTV ist es nicht gekommen.<br />

Dem Schlussabsatz ihres Artikels<br />

wird deshalb zuzustimmen sein.<br />

Am Rande noch folgende Bemerkung:<br />

Der Verfasser des angesprochenen<br />

Artikels ist wohl ein Freund des Aküfi =<br />

Abkürzungsfimmels. Gegen den Gebrauch<br />

von Abkürzungen längerer<br />

Namen ist ja nichts einzuwenden, wenn<br />

wenigstens bei der ersten Nennung die<br />

vollständige Bezeichnung gewählt wird.<br />

In kirchlichen Verlautbarungen manchmal<br />

ein Übel; schließlich lesen auch<br />

„Außenseiter“ solche Texte.<br />

Recht freundliche Grüße<br />

Walter Götze, Münsingen<br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 5


Jugendarbeit<br />

Kongress: „Der Jugend Raum geben“<br />

Dr. Matthias Sellmann, Theologe<br />

und Sozialwissenschaftler an der<br />

Katholisch-Sozialethischen<br />

Arbeitsstelle in Hamm, ging das<br />

Thema grundsätzlich an. Jugendliche<br />

fragten: „Wirke ich überhaupt<br />

auf irgendwen durch mein<br />

Tun und Sein?“ Er machte klar,<br />

dass die heutigen Jugendlichen in<br />

einer anderen gesellschaftlichen<br />

Wirklichkeit aufwachsen als ihre<br />

Eltern, die noch langfristige<br />

Konzepte entwickeln konnten.<br />

Die heutige Jugend erlebe nicht,<br />

dass ihre Aktionen irgendetwas in<br />

der großen Gesellschaft bewirken. Die<br />

jungen Leute fragten sehr ökonomisch<br />

und pragmatisch nach dem Ertrag ihres<br />

Aufwandes und stritten eher um die<br />

Farbe ihrer Zimmertapete als um die<br />

Gerechtigkeit des Welthandels. In der<br />

Vertrauensskala bewerten Jugendliche<br />

die Polizei höher als Greenpeace und<br />

sorgen sich früh um eine ausreichende<br />

Altersversorgung. „Sie sind nett und<br />

höflich, aber vorsichtig bei Bindungen.“<br />

Auch im Glauben scheuten sie eine feste<br />

Form. Deshalb bedeute „Der Jugend<br />

Raum geben“, ihnen die Erfahrung zu<br />

vermitteln, dass es Bereiche gibt, in<br />

Renate Lücki<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Am 30. September lud das Evangelische Jugendwerk in <strong>Württemberg</strong> zum<br />

jährlichen Jugendkongress ein. 950 Jugendliche und Erwachsene – rund zwei<br />

Drittel Ehrenamtliche und ein Drittel Hauptamtliche sowie etliche Ehrengäste<br />

– tummelten sich auf dem Gelände von Fleinsbachschule, Gotthard-Müller-<br />

Schule und Rundsporthalle in Bernhausen. Das Thema der Veranstaltung „Der<br />

Jugend Raum geben“ wurde in einem Impulsreferat und fünf Foren beleuchtet,<br />

unterteilt wieder in viele Seminare. Dazu gab es eine Praxisbörse mit erprobten<br />

Projekten und Informationsstände von ejw, CVJM, Diakonischem Werk und<br />

den in der Landessynode vertretenen Gesprächskreisen.<br />

Wolfgang Engel, Schulrektor i.R., betreute den<br />

OK-Stand mit Renate Lück.<br />

Vorführung der Breakdancer bei der Präsentation<br />

der _puls-Projekte, im Vordergrund Reinhold<br />

Krebs, Leiter des -puls-Projekts.<br />

denen sie etwas bewirken können und<br />

das Resultat auch sehen. Dazu muss<br />

man in ihre Weltwahrnehmung einsteigen<br />

und von ihnen lernen, „dass man<br />

heute auch anders als vor 20 Jahren von<br />

Gott sprechen muss“.<br />

Ganz plastisch ist uns das am OK-Stand<br />

passiert. Ein junger Mann aus einem<br />

Dorf im Hohenlohischen wartete, bis die<br />

anderen Leute weg waren, und fragte<br />

dann, wie unserer Meinung nach ein<br />

Gottesdienst auszusehen habe. Mit<br />

Liturgie? Mit Orgel oder darf’s ein<br />

Keyboard sein? Offensichtlich war er<br />

vorher einen Stock<br />

tiefer beim Stand der<br />

„<strong>Kirche</strong> für morgen“<br />

gewesen. Als ich ihm<br />

sagte, ich finde es sehr<br />

erfrischend, wenn bei<br />

uns der Jugendchor<br />

mit der Band auftritt,<br />

vermutete er sofort,<br />

dass dies dann ein<br />

Jugendgottesdienst sei.<br />

Dass ein Pfarrer darauf<br />

Rücksicht nehmen<br />

sollte, welcher Art<br />

seine Gemeindeglieder<br />

sind – Einheimische<br />

und Russland-Deutsche, Industrieangestellte<br />

und Arbeitslose, Junge und<br />

RentnerInnen – und seine Predigt so<br />

formuliert, dass möglichst alle etwas mit<br />

nach Hause tragen können, ging ihm<br />

nicht sehr ein. Wahrscheinlich ist sein<br />

Dorf sehr homogen. Er sehnte sich<br />

deshalb nach einem Gottesdienst, der<br />

auch junge Leute anspricht, wagte aber<br />

nicht, am Buchstaben der Bibel und der<br />

Liturgie zu wackeln. Anschließend ging<br />

er zum Stand der „Lebendigen Gemeinde“<br />

und fragte dort.<br />

Die meisten Seminare des Kongresses<br />

beschäftigten sich damit, wie man<br />

MitarbeiterInnen und Jugendliche<br />

gewinnen kann, zum Beispiel<br />

aus Konfirmandengruppen und<br />

Freizeiten. Dazu gab es Anregungen<br />

für die praktische Arbeit. Am<br />

Nachmittag wurden in der<br />

Rundsporthalle einige der „_puls-<br />

Projekte“ vorgestellt, für deren<br />

Entwicklung das ejw 1,5 Millionen<br />

Euro von der Landesstiftung<br />

Baden-<strong>Württemberg</strong> bekommen<br />

hatte. Nach fünf Jahren ist die<br />

Erprobungsphase beendet, nun<br />

sollen die Angebote in der Breite<br />

wirken. Ziel ist laut Projektleiter<br />

Reinhold Krebs, den Jugendlichen<br />

die Möglichkeit zu geben,<br />

ihre Gaben zu entfalten und den<br />

Glauben zu entdecken. Englisch müssen<br />

sie aber auch können, damit sie wissen,<br />

dass mit CAT (Children Action Time)<br />

ein Spielprogramm für Siebtklässler<br />

gemeint ist und sich hinter dem Kürzel<br />

BTA (Break Time Action) Spielen auf<br />

dem Pausenhof verbirgt. Rebekka aus<br />

der Freien Evangelischen Schule in<br />

Vaihingen zum Beispiel verlässt dafür<br />

fünf Minuten vor der Pause das Klassenzimmer<br />

und legt Springseile, Dosen und<br />

anderes Material für die jüngeren<br />

Schulkinder bereit. Ob das an staatlichen<br />

Schulen auch erlaubt ist, wurde nicht<br />

gesagt.<br />

Bei „Outdoor Teams“ ist dann schon<br />

Klettern, Kanu- oder Seifenkistenfahren<br />

dran, um die eigenen Kräfte zu erproben.<br />

Aber auch zum Wegemarkieren<br />

oder bei Festen lassen sich die Eschenbacher<br />

Jugendlichen einteilen. Auf die<br />

Suggestivfrage des Moderators Christoph<br />

Zehendner an den Gruppenleiter, ob<br />

sich in ihm etwas verändert habe durch<br />

dieses Engagement, antwortete der kurz<br />

und bündig: „Nö“. „Move out“ soll<br />

heißen: „Raus aus der <strong>Kirche</strong> dorthin,<br />

wo Jugendliche sind“ und hat mit<br />

Tanzen zu tun. Dafür wurde in Schulen<br />

Seite 6 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


und Jugendhäusern geworben. „Leute<br />

zu bekommen, war nicht das Problem,<br />

sondern dass sie kontinuierlich dabeiblieben,<br />

damit man einen Tanz einüben<br />

kann“, erzählte Anja, die schließlich<br />

zusammen mit 200 anderen während<br />

der Weltmeisterschaft in Rust auftrat.<br />

Mit diesem „TeenDance“ wurden<br />

Haupt- und RealschülerInnen erreicht<br />

und Gäste aus Jugendhäusern. Von den<br />

15 Tanzgruppen rund um Stuttgart<br />

werden nun drei oder vier weitermachen.<br />

Das entsprechende Seminar in<br />

Bernhausen fiel allerdings mangels<br />

TeilnehmerInnen aus. Der Schluss der<br />

Power Point-Präsentation war dann<br />

noch ein Kick für Schüchterne: „My<br />

day! In dir steckt mehr, als du denktst.“<br />

Bei vielen dieser Projekte arbeitet das<br />

ejw mit dem CVJM zusammen, weshalb<br />

auch die Spitzen des Verbandes dem<br />

Kongress die Ehre gaben, zum Beispiel<br />

Dr. Wolfgang Neuser, Nachfolger von<br />

Ulrich Parzany als Vorstand des deutschen<br />

Gesamtverbandes, und Martin<br />

Meißner, frisch gewählt in den weltweiten<br />

Vorstand. Letzterer sagte beim<br />

Empfang: „Das C im CVJM gewinnt<br />

wieder an Bedeutung in der evangelistischen<br />

Arbeit.“ Er sagte nicht: „evangelisch“,<br />

sondern „evangelistisch“, klingt<br />

wie „fundamentalistisch“.<br />

Interview mit<br />

dem ejw-Leiter<br />

Klaus Sturm<br />

Pfarrer Klaus Sturm ist seit 1.<br />

September 2002 Leiter der Landesstelle<br />

des Evangelischen Jugendwerks<br />

in <strong>Württemberg</strong> mit Sitz in<br />

Stuttgart-Vaihingen. Dieses ist seit<br />

1971 der Zusammenschluss der<br />

früheren Mädchen- und Jungmännerwerke.<br />

Manchmal ist seine<br />

Außenwirkung verwirrend.<br />

Herr Sturm, ist das ejw eine Organisation<br />

der Landeskirche oder des<br />

Christlichen Vereins Junger Menschen?<br />

Das wurde mir auf dem<br />

Kongress in Bernhausen nicht klar.<br />

Es ist eine Einrichtung der Landeskirche,<br />

aber „selbständig im Auftrag<br />

arbeitend“. Das bedeutet, wir haben<br />

eine klare Beauftragung der Landeskirche,<br />

können unsere Arbeit aber frei<br />

gestalten. Das ejw ist also das Jugend-<br />

Klaus Sturm<br />

werk der Landeskirche und zugleich<br />

freies Werk mit Selbstverwaltung und<br />

Selbstentscheidungen seiner Arbeitsbereiche.<br />

Diese Konstruktion gibt den<br />

nötigen Freiraum, aber auch die Verpflichtung<br />

zur Verfassung der Landeskirche.<br />

Man kann Jugendarbeit nicht von<br />

oben nach unten verordnen. Die<br />

Jugendarbeit ist von unten nach oben<br />

aufgebaut. Einerseits sind wir Mitglied<br />

des CVJM-Gesamtverbands, andererseits<br />

vertreten wir laut Ordnung von 1946<br />

die gesamte Jugendarbeit im ganzen<br />

Land und beraten die Mitglieder bei<br />

ihrer Arbeit. Ehren- und Hauptamtliche<br />

wirken dabei zusammen.<br />

Wenn das ejw Mitglied im Dachverband<br />

des CVJM ist, wie können<br />

dann Jugendgruppen entstehen, die<br />

einen anderen Frömmigkeitsstil<br />

haben als der CVJM?<br />

Jederzeit. Die Prägungen sind örtlich<br />

verschieden, sie haben aber immer ihren<br />

Platz in der Jugendarbeit.<br />

Soweit ich weiß, wurden Mitte der<br />

70er Jahre die ejw-Schülerbibelkreise<br />

als Gegenakzent zur landeskirchlichen<br />

Arbeitsgemeinschaft<br />

Höhere Schule (AHS), später<br />

Landeskirchliche Schülerarbeit<br />

(LakiSa), gegründet. Nun ist die<br />

liberalere LakiSa ins ejw eingegliedert<br />

worden. Ist deren Arbeit nun<br />

tot?<br />

Es gab bisher zwei verschiedene Schülerarbeiten,<br />

die ejw-Schülerarbeit und<br />

die landeskirchliche Schülerinnen- und<br />

Schülerarbeit (LakiSa). Lange Zeit war<br />

die LakiSa an das Jugendpfarramt<br />

angebunden. Zum 1. Januar <strong>2006</strong> ist die<br />

LakiSa wie auch die Musisch-kulturelle<br />

Bildung beim ejw angesiedelt worden.<br />

Das wurde durch Verhandlungen in<br />

einem mehrjährigen Prozess erreicht.<br />

Der Landesjugendpfarrer Rolf Ulmer<br />

betreut seit dem 1. September <strong>2006</strong> als<br />

Mitarbeiter im Oberkirchenrat zu 50<br />

Prozent haupt- und nebenamtliche<br />

JugendpfarrerInnen, gibt das Material<br />

für Jugendgottesdienste heraus und hat<br />

die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft<br />

der Evangelischen Jugend in<br />

<strong>Württemberg</strong> inne. Zur anderen Hälfte<br />

seiner Dienstzeit ist er Referent für<br />

Jugend- und Konfirmandenarbeit. Noch<br />

ist er hier im Hause, wird aber nächstes<br />

Jahr in die Gerokstraße umziehen. Die<br />

beiden Schülerarbeiten werden bis Ende<br />

2007 einen gemeinsamen Namen zu<br />

finden haben. Die beiden Prägungen<br />

sollen aber erhalten werden.<br />

Der Leiter des _puls-Projektes,<br />

Reinhold Krebs, ist der Vorsitzende<br />

von „<strong>Kirche</strong> für morgen“. Die<br />

CVJM-Gruppen stehen der „Lebendigen<br />

Gemeinde“ nahe. Gibt es<br />

auch Angebote für der OK Nahestehende?<br />

Es gibt keine Angebote, die von vornherein<br />

auf Gesprächskreise festgelegt<br />

wären. Die Landesstelle unterstützt die<br />

Gemeinden und Bezirke. Hier kann sich<br />

jede/r engagieren. Das ist meine<br />

Einladung an alle Prägungen. Die<br />

Jugendarbeit ist nicht auf verschiedene<br />

Gesprächskreise aufzuteilen. Es muss<br />

klar sein, dass wir für die ganze Landeskirche<br />

zuständig sind. Gerne nehmen<br />

wir Anregungen und Kritik bei den<br />

Kontakten mit den Gesprächskreisen<br />

entgegen, die regelmäßig stattfinden.<br />

Natürlich haben wir unsere geistliche<br />

Prägung und Ziele. Diese sind in der<br />

Ordnung des ejw niedergelegt. Wer sich<br />

für einen der Gesprächskreise engagiert,<br />

tut das privat und kann das auch gerne<br />

tun. Aber die offizielle Linie ist die<br />

Zuständigkeit für die ganze Landeskirche.<br />

Sorgen Sie dafür, dass auch OK-<br />

Mitglieder Andachten fürs jährliche<br />

Andachtsheft schreiben oder als<br />

ReferentInnen angefragt werden?<br />

Wenn sie bereit sind, kann Hermann<br />

Hörtling, der das <strong>Heft</strong> macht, gerne<br />

angefragt werden. Schicken Sie ihm eine<br />

Liste. Es ist natürlich ein ejw-Produkt,<br />

bei dem vor allem Jugendreferentinnen<br />

und Jugendreferenten sowie Ehrenamtliche<br />

mitschreiben. Darüber hinaus gibt<br />

es im März 2007 auf unserem Konvent<br />

für Hauptamtliche im Bernhäuser Forst<br />

eine Podiumsdiskussion. Kathinka<br />

Kaden hat zugesagt. Da gibt es von uns<br />

keine Probleme. Die OFFENE KIRCHE<br />

soll auch sagen: Es ist unser Jugendwerk.<br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 7


Bekommt die <strong>Kirche</strong> durch die ejw-<br />

Aktionen mehr Mitglieder oder<br />

erreichen Sie nur die, die schon<br />

drin sind?<br />

Wenn Aktionen die Leute ansprechen,<br />

dann die ejw-Projekte und Angebote. Es<br />

ist die ganze Breite der Jugend vertreten.<br />

Dadurch entsteht Identität. Wer mal in<br />

einer Jugendgruppe war, ist auch später<br />

in der <strong>Kirche</strong> oder Synode aktiv. Selbst<br />

wenn Sie Politiker fragen, ob sie in einer<br />

Jungschar waren, bejahen sie es oft. Wir<br />

erreichen viele Leute, allerdings im<br />

wesentlichen aus dem gut-bürgerlichen<br />

Bereich. Das teilen wir mit unserer<br />

ganzen Landeskirche. Mit „Teen<br />

Dance“, also Tanzangeboten, haben wir<br />

aber zum Beispiel auch Hauptschülerinnen<br />

und Hauptschüler gewonnen. Das<br />

wollen wir ausdehnen auch mit dem<br />

Schüler-Mentorenprogramm. Wir haben<br />

zwischen 60 und 70 Arbeitsfelder, zum<br />

Beispiel die Jugendgemeinden, in denen<br />

wir für eine gewisse Zeit Begleitung<br />

anbieten. Nach unserer Erfahrung<br />

verhindern wir durch solche Angebote<br />

Abwanderung entweder in die völlige<br />

kirchliche Abstinenz oder zu Freikirchen.<br />

In diesem Jahr haben wir nun<br />

erstmals die „ChurchNight“ am Reformationstag<br />

als Aktion gestartet, um den<br />

Reformationstag neu zu erleben. Dazu<br />

haben sich 180 Gemeinden und<br />

Jugendwerke gemeldet. Das Ziel der<br />

„Wachsenden <strong>Kirche</strong>“, einem von der<br />

Synode initiierten Projekt, soll ein<br />

Kongress im Jahr 2008 sein, auf dem<br />

alle Aktivitäten, die beitragen, dass<br />

<strong>Kirche</strong> wächst – nicht nur zahlenmäßig,<br />

sondern auch innerlich – zusammengetragen<br />

werden. Auch hier sind wir in<br />

der Mitwirkung aktiv.<br />

Es gibt immer mehr Alte. Muss sich<br />

die <strong>Kirche</strong> mehr um die Jugendlichen<br />

kümmern oder haben die<br />

Älteren mehr Recht auf Zuwendung?<br />

Dies wäre sicher eine falsche Alternative.<br />

Die Jugendarbeit wurde drastisch<br />

gekürzt – um 15 Prozent – obwohl wir<br />

mittlerweile mehr Angebote haben.<br />

Unsere jetzige Finanzierung ist das<br />

Modell der Zukunft: Knapp die Hälfte<br />

sind <strong>Kirche</strong>nsteuermittel, die andere<br />

Hälfte Spenden von Sponsoren und<br />

Stiftungen sowie staatlichen Leistungen<br />

usw. Wir werden auch künftig versuchen,<br />

eine kreative, missionarische und<br />

sozial sensible Jugendarbeit im ganzen<br />

Land zu ermöglichen.<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Die Fragen stellte Renate Lück<br />

Seite 8 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


OFFENE KIRCHE<br />

Jahres- und Mitgliederversammlung<br />

<strong>2006</strong><br />

Am Vormittag – wie üblich – ein<br />

Vortrag, diesmal zum Thema „Politik<br />

der Götter, Europa und der neue<br />

Fundamentalismus“ von Dr. Gret<br />

Haller. Die Schweizer Juristin mit<br />

Erfahrungen als Stadträtin in Bern,<br />

Parlamentarierin der Schweiz, des<br />

Europarats und der OSZE gestand, dass<br />

sie sich bis 1996 – als sie als Ombudsfrau<br />

für Menschenrechte nach Sarajevo<br />

geschickt wurde – nicht vorstellen<br />

konnte, dass es so große Werte-Unterschiede<br />

zwischen den USA und Europa<br />

geben könne.<br />

Während ihrer Arbeit in Bosnien-<br />

Herzegowina begann sie zu recherchieren,<br />

woher diese Unterschiede im<br />

Rechts- und Staatsverständnis kommen.<br />

Sie stellte fest, dass in Europa nach all<br />

den blutigen Religionskriegen die Länder<br />

im Westfälischen Frieden 1648 beschlossen,<br />

Staat und <strong>Kirche</strong> zu trennen.<br />

Die europäischen Religions- und Wirtschaftsflüchtlinge<br />

in den USA bauten<br />

dagegen eine neue Gesellschaft nach<br />

religiösen Prinzipien auf und wollten<br />

sich vom Staat nicht hineinreden lassen.<br />

Prägend dabei wurde der Calvinismus,<br />

der besagt, dass man die von Gott<br />

Auserwählten schon auf Erden an ihrem<br />

Erfolg erkennen könne. Deshalb sind in<br />

den USA Religion und Wirtschaft so eng<br />

ineinander verschränkt. Arme gelten als<br />

faul: Diese Meinung vertraten bei einer<br />

Umfrage in Deutschland 25 Prozent, in<br />

den USA 64 Prozent. Ihnen bleibt nur<br />

ein religiöser Trost, wenn sie am Ende<br />

ihres Lebens feststellen, dass sie nicht zu<br />

den Auserwählten gehörten.<br />

Eigentlich dachten die Menschen in<br />

Europa, die Säkularisation, also die<br />

Einbindung der Religion in eine staatliche<br />

Rechtsordnung durch die Aufklärung,<br />

sei ein unumkehrbarer Prozess<br />

gewesen und würde sich in diesem<br />

Sinne weiterverbreiten. Dass also der<br />

Staat Gesetze für alle Staatsangehörigen<br />

erlässt und die Rahmenbedingungen für<br />

die private Wirtschaft schafft. Dass dem<br />

in den USA nicht so ist, begriffen sie<br />

Renate Lücki<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Dr. Gret Haller<br />

spätestens bei der Präsidentenwahl<br />

2000, als die christliche Rechte ungeheuren<br />

Einfluss zeigte, und beim Irak-<br />

Krieg, der nach wirtschaftlichen Wünschen<br />

vom Zaun gebrochen wurde. In<br />

den Vereinigten Staaten von Amerika<br />

wird nur SenatorIn oder gar PräsidentIn,<br />

wer viel Geld hat oder sammelt. Und<br />

dann ist er/sie natürlich den Sponsoren<br />

verpflichtet. Während den Armen in<br />

Europa immer noch Streik und Aufstand<br />

zur Verfügung stehen, um ihrem Ärger<br />

Luft zu machen, werden Streitigkeiten<br />

in den USA vor Gericht ausgetragen,<br />

was wieder viel Geld kostet. Die US-<br />

AmerikanerInnen weigern sich strikt,<br />

sich irgendeiner anderen Organisation<br />

(UNO) oder einem außeramerikanischen<br />

Gericht zu unterstellen, weil sie ihr<br />

System immer noch für das beste der<br />

Welt halten und es auch überall verbreiten<br />

zu müssen glauben.<br />

Fundamentalismus, der zur Zeit meist<br />

mit dem Islam in Verbindung gebracht<br />

wird, basiere immer auf einer absolut<br />

gesetzten Wahrheit, über die nicht<br />

diskutiert werde dürfe, sagte Gret<br />

Haller. Dies gilt für das Christentum<br />

während der Kreuzzüge und Hexenverbrennungen<br />

wie heute für die christliche<br />

Rechte in den USA, die die Darwinsche<br />

Entwicklungstheorie ablehnt,<br />

und ebenso für Muslime, die höchst<br />

reizbar auf jedwede Kritik reagieren.<br />

Wenn beide Formen des Fundamentalismus’<br />

zusammenkommen, könnte das<br />

für Europa brisant werden.<br />

Pietisten – Evangelikale – Fundamentalisten<br />

In der anschließenden Podiumsdiskussion<br />

fragte Kathinka Kaden zuerst Dr.<br />

Richard Ziegert, Weltanschauungsbeauftragter<br />

der pfälzischen <strong>Kirche</strong>, wie<br />

er Evangelikale von Fundamentalisten<br />

abgrenze. Er betrachtet den Pietismus<br />

nicht als Evangelikalismus, sondern als<br />

Frömmigkeit in der evangelischen<br />

<strong>Kirche</strong> seit der Reformation. In dieser<br />

Gemeinschaftsbewegung ging es von<br />

Anfang an um ethische Fragen und die<br />

Auslegung der Bibel. Fundamentalisten<br />

wollen Markt und Macht. Pietisten und<br />

Evangelikale sind nicht gleichzusetzen<br />

mit Fundamentalisten, haben aber<br />

offene Flanken. Die Phase großer<br />

Verunsicherung vom 19. zum 20.<br />

Jahrhundert führte zu einer Entkirchlichung<br />

und Kommerzialisierung des<br />

Christentums zu einer Bedürfnisreligion,<br />

in der die Menschen angehalten wurden<br />

zu kämpfen, um sich ihrer Erfolgsmöglichkeiten<br />

zu versichern. Die<br />

Erweckungswellen in den USA gerieten<br />

durch die Darwinsche Evolutionstheorie<br />

und die aufkommende Bibelkritik in<br />

Das Podium (v.l.) Dr. Richard Ziegert, Dr. Marie-Luise Kling-de Lazzer,<br />

Heiner Küenzlen, Kathinka Kaden, Dr. Gret Haller<br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 9


eine große Krise. Deshalb die Radikalisierung<br />

im Bibelverständnis – wie im<br />

Islamismus. Nun versuchen Evangelikale<br />

und Fundamentalisten, die europäischen<br />

<strong>Kirche</strong>n zu durchdringen durch<br />

einen Transfer der Freikirchen, die<br />

finanziell eigentlich am Ende sind.<br />

Dr. Marie-Luise Kling-de Lazzer<br />

bestätigte das von Gret Haller beschriebene<br />

Phänomen: „Wenn das politischwirtschaftlich<br />

eingeleitet wird, kommt<br />

das Religiöse dazu. Wir erleben das<br />

Zurückdrängen des Staates auf allen<br />

Ebenen, um die politischen Ansätze<br />

religiös zu untermauern.“ Trotzdem<br />

wollte sie den emotionalen Kampfbegriff<br />

„Fundamentalismus“ versachlichen. Sie<br />

verwende das Wort in Deutschland<br />

nicht, weil es keine präzise Beschreibung<br />

dafür gebe. Anders in den USA,<br />

wo der „wiedergeborene“ Präsident<br />

sogar angebetet werde. Der islamische<br />

Fundamentalismus und der in den USA<br />

seien die Talibanisierung der Politik.<br />

Dagegen sei der Pietismus in <strong>Württemberg</strong><br />

eine Bereicherung der <strong>Kirche</strong>ntradition.<br />

Im Fundamentalismus stehe<br />

nicht die Frömmigkeit im Vordergrund,<br />

sondern das Wachstum der eigenen<br />

Gruppe oder Gemeinde.<br />

Oberkirchenrat Heiner Küenzlen<br />

wollte nicht alles unterschreiben, was<br />

Gret Haller über den Fundamentalismus<br />

gesagt hatte. Im Irak-Krieg sah er eher<br />

Imperialismus im Spiel, mit Sicherheit<br />

extreme Markt- und Machtfaktoren. Die<br />

amerikanischen Christen könne man<br />

nicht haftbar machen, denn sie hätten in<br />

Porto Alegre ein Schuldbekenntnis<br />

veröffentlicht. Bei Präsident Bush sei das<br />

etwas anderes, der empfange nicht<br />

einmal die methodistischen Würdenträger,<br />

also die seiner eigenen <strong>Kirche</strong>.<br />

Fundamentalismus sei immer eine<br />

Reaktion auf die Moderne – ein Zurück<br />

und Zumachen. Pietismus und Fundamentalismus<br />

seien zwei Paar Stiefel,<br />

Ein Teil des Auditorims<br />

aber Evangelikalismus und Pietismus<br />

seien eine gemischte Angelegenheit bei<br />

mancher missionarischen Praxis.<br />

Auf die Frage, wieviel Kraft das alte<br />

Europa habe, den Fundamentalismus zu<br />

zähmen, antwortete Dr. Ziegert, die<br />

EKD habe kein Interesse daran, diese<br />

Frage öffentlich zu diskutieren, die<br />

längst fällig sei gegenüber Pfingstlern<br />

und charismatischen Gruppen. Es gebe<br />

laut Interview in Idea vier bis fünf<br />

Evangelikale und Fundamentalisten, die<br />

der Allianz helfen, ihre Leute in der<br />

ACK unterzubringen. Von Ökumene sei<br />

da nicht die Rede, nur von Vernetzung<br />

mit anderen Evangelikalen. Sie fühlten<br />

sich als die Wiedergeborenen und<br />

richtigen Gläubigen. „<strong>Kirche</strong> und<br />

Evangelikale sitzen nicht in einem Boot.<br />

<strong>Kirche</strong> ist mehr als Evangelikalismus.<br />

Wir müssen von der charismatisch<br />

infiltrierten Melange von Pietismus und<br />

Evangelikalismus eine kritische Bestandsaufnahme<br />

machen.“ Gret Haller<br />

widersprach Heiner Küenzlen: „Sie<br />

haben das Innenverhältnis angesprochen.<br />

Es gibt einen Prüfstein: das<br />

Verhältnis der <strong>Kirche</strong>n und Gemeinschaften<br />

zum Staat. Wenn sich <strong>Kirche</strong>n<br />

intern für absolut halten gegenüber<br />

anderen, dann ist das auch ein Absolutheitsanspruch<br />

gegenüber dem Staat.“ Es<br />

hätten sich in den USA sehr viele Leute<br />

damit befasst, wie Europa funktioniert.<br />

Aber viele Freunde seien sich nicht<br />

bewusst, dass Europa anders funktioniert.<br />

„Wir müssen mit denen über<br />

Religion und Politik diskutieren.“<br />

Der entscheidende Unterschied sei, dass<br />

in den USA der Begriff des citoyen fehle,<br />

des Bürgers, der dem Recht unterworfen<br />

ist, aber auch die staatlichen Gesetze<br />

machen hilft. In den USA haben die<br />

Religionsgemeinschaften zum Teil die<br />

Funktion, die bei uns der Staat hat, etwa<br />

bei der Integration von Einwanderern.<br />

Heiner Küenzlen: „Trauen<br />

wir dem alten Europa<br />

etwas zu als Gegenmodell.<br />

Es bleibt uns gar nichts<br />

anderes übrig. Ich traue<br />

auch den Volkskirchen<br />

sehr viel zu, nicht den<br />

informellen Freikirchen.<br />

Das geistliche und gemeinbildende<br />

Angebot der<br />

<strong>Kirche</strong>n ist Partner der<br />

Zivilgesellschaft. Wir<br />

sollten versuchen, die<br />

Evangelikalen, die es<br />

wollen, zu integrieren.“ „Trojanische<br />

Pferde sehen Sie nicht?“, fragte Kathinka<br />

Kaden. „Ich sehe, dass sich<br />

Gruppierungen immer für die Eigentlichen<br />

halten, auch die OK. Religion will<br />

Leben gestalten.“ Marie-Luise Kling-de<br />

Lazzer wehrte sich gegen den negativen<br />

Unterton des Wortes „altes Europa“.<br />

„Wir sollten mit Stolz reagieren.“ Im<br />

Impulspapier der EKD seien ein paar<br />

Gesichtpunkte, die wir verbreiten<br />

sollten: theologische Bildung, Wissenschaftlichkeit<br />

der Theologie und Ökumene<br />

mit der katholischen <strong>Kirche</strong>. „Theologisch<br />

gründliches Arbeiten und Dinge<br />

gemeinsam tun, die wir im Guten tun<br />

können, bewahrt uns vor Blauäugigkeit<br />

und vor offenen Flanken.“ Manche<br />

Gemeinden, die nicht so große Ökumene<br />

pflegen, seien freikirchlichen Gemeinden<br />

gegenüber unkritisch, als ob<br />

alle in einer <strong>Kirche</strong> wären. Hier müsse<br />

Klarheit herrschen, mit wem kooperiert<br />

werden könne, etwa bei der Traufrage.<br />

<strong>Kirche</strong>ngemeinderäte müssten aufpassen,<br />

dass sie nicht ausgehebelt werden<br />

durch selbstberufene Mitarbeiterkreise.<br />

„<strong>Offene</strong> Flanken, Trojanische Pferde –<br />

mit wem müssen wir sprechen hier in<br />

<strong>Württemberg</strong>?“, fragte die Moderatorin<br />

die drei Deutschen. Ziegert: „Ich bin<br />

überzeugt, dass unser öffentlichrechtliches<br />

<strong>Kirche</strong>nprinzip bestehen<br />

wird, auch wenn es Verluste durch die<br />

Allianz gibt. Die Dinge werden sich<br />

übers Geld regeln. In Österreich werden<br />

die Freien Gemeinden von den USA<br />

finanziert. In Deutschland werden auch<br />

viele Ehrenamtliche und EC-Christen in<br />

Freie Gemeinden abgeworben, deren<br />

Hauptamtliche von amerikanischen<br />

Stiftungen (z.B. Fordstiftung) bezahlt<br />

werden, wie auch die Bibelschulen. Wir<br />

werden erleben, dass viele amerikanische<br />

Missionswerke gehen, weil sie<br />

sehen, es funktioniert nicht.“ Es werde<br />

durch sie aber viel zerstört. In den USA<br />

sterbe jeden Tag eine <strong>Kirche</strong>ngemeinde.<br />

Seite 10 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


Trotzdem lohne es sich, gegen die<br />

Allianz und evangelikale Zivilreligion<br />

einen öffentlichen Diskurs zu führen.<br />

Das erfordere, genau hinzusehen und in<br />

der ACK zu fragen: Was wollt ihr in<br />

unsere Gemeinsamkeit investieren?<br />

Anfänge kritischer Bestandaufnahme<br />

gebe es bereits: Der Wissenschaftsrat<br />

lehne Bibelschulen ab, wenn deren<br />

Wissenschaft nicht erkennbar ist.<br />

Auch die Tübinger Dekanin setzt auf das<br />

Gespräch mit den Gruppen innerhalb<br />

der <strong>Kirche</strong>. Die Jugendarbeit sei ein<br />

exponierter Bereich mit vielen Einflüssen<br />

auch über die Musik. „Wo das das<br />

Einzige ist, das an die junge Generation<br />

weitergegeben wird, müssen wir sagen:<br />

Das ist zu schmal für den Boden des<br />

reformierten Bekenntnisses.“ Die<br />

wissenschaftlich gebildeten PfarrerInnen<br />

müssten gestärkt werden, damit die<br />

Auseinandersetzung in den Gemeinden<br />

geführt werden könne. Heiner Küenzlen<br />

vertraut darauf, dass die deutschen<br />

Landeskirchen so viel Substanz haben,<br />

dass sie neben den Gemeinden auch mit<br />

Diakonie, Kultur und Akademien<br />

politischen Einfluss nehmen können,<br />

auch in den Medien. Es müsse klar sein,<br />

was geht und was nicht, zum Beispiel<br />

Taufe ohne PfarrerIn in Hauskreisen<br />

geht nicht.<br />

Hier hakten OK-Mitglieder nach.<br />

Gabriele Bartsch sagte, dass sie<br />

in der Synode viele Anträge der<br />

Lebendigen Gemeinde sehr<br />

In Fensterhülle stecken<br />

und einsenden an:<br />

OFFENE KIRCHE<br />

Geschäftsstelle Reiner Stoll-Wähling<br />

Ilsfelder Straße 9<br />

70435 Stuttgart<br />

Telefon (07 11) 5 49 72 11<br />

Telefax (07 11) 3 65 93 29<br />

email: geschaeftsstelle@offene-kirche.de<br />

Antwort<br />

OFFENE KIRCHE<br />

Geschäftsstelle<br />

Stoll-Wähling<br />

Ilsfelder Straße 9<br />

70435 Stuttgart<br />

wohl als Trojanische Pferde empfinde,<br />

wie Taufe und Abendmahl in Hauskreisen<br />

oder die sogenannte Bildungsinitiative,<br />

in der in Wahrheit eine<br />

Parallelstruktur zur theologisch fundierten<br />

Seelsorge aufgebaut werden soll.<br />

Hier wünsche sie sich mehr Klarheit<br />

und Auseinandersetzungsgeist. Es gebe<br />

auch merkwürdige Allianzen: Dank<br />

Bischof Huber müsse sich die Landeskirche<br />

mit dem Projekt „Wachsende<br />

<strong>Kirche</strong>“ befassen, das auch sehr einseitig<br />

laufe. „Ich appelliere an Sie, dass Sie<br />

nicht den anderen die Definitionsmacht<br />

überlassen“, wandte sich die Synodale<br />

an den Oberkirchenrat. „Was da über<br />

Bekenntnis- und Gesinnungsgemeinden<br />

einwandert, sind nicht überkirchliche<br />

Strukturen, sondern Parallelgemeinden.“<br />

Überwältigungsreligion contra<br />

Überzeugen<br />

Rainer Weitzel bemängelte als KGR-<br />

Vorsitzender die Debatten um „Brot für<br />

die Welt“ zu Weihnachten und dass<br />

keiner weiß, wer die Aktion Jesus House<br />

oder Willow Creek bezahlt. Er verlangte<br />

von der Landeskirche klare Vorgaben an<br />

die Gemeinden. Der Oberkirchenrat<br />

gestand, dass er zu wenig über Jesus<br />

House wisse. „Aber Brot für die Welt ist<br />

unser Werk, das unterstützen wir.“<br />

Richard Ziegert kennt Willow Creek:<br />

„Das ist eine amerikanische Religionsfirma,<br />

privat organisiert mit drei bis vier<br />

Theologen und über 100 PsychologInnen<br />

und SozialarbeiterInnen. Das ist<br />

Amerikanismus pur.“ Dasselbe gelte bei<br />

Jesus House und Pro Christ. Das<br />

Gegenbeispiel zu diesen Versuchen,<br />

Gruppendynamik zu organisieren, damit<br />

sich die Menschen offenbaren, sei Taizé.<br />

Da gebe es kein Sortieren der Menschen<br />

und plötzliches Bekennen. Die Methoden<br />

von Billy Graham bzw. seinem Sohn<br />

und Ulrich Parzany sei Überwältigungsreligion,<br />

kein Überzeugen. Etwa 200<br />

Funktionäre versuchten, in Deutschland<br />

Wurzeln in den <strong>Kirche</strong>n zu schlagen.<br />

Im Schlusswort betonte Dr. Ziegert noch<br />

einmal: „Die <strong>Kirche</strong>n in Europa sind<br />

keine Staatskirchen, sondern institutionelle<br />

<strong>Kirche</strong>n dem Staat gegenüber. Wir<br />

müssen mit den Evangelikalen theologisch<br />

streiten und klarmachen, dass das,<br />

was sie für Christentum halten, kein<br />

Christentum ist.“ Selbst die CIA-Zentrale<br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 11


in Mannheim bilde Leute in Religion<br />

aus, die deutsche Strukturen privatisieren<br />

und kommerzialisieren sollen. „Wir<br />

müssen uns etwas zutrauen, dann<br />

geschieht etwas.“ Marie-Luise Kling-de<br />

Lazzer möchte die OK darin unterstützen,<br />

dass sie die theologische Arbeit<br />

vertieft, damit in allen Ausschüssen und<br />

<strong>Kirche</strong>ngemeinderäten deutlich wird,<br />

wo Abgrenzungen nötig sind. Heiner<br />

Küenzlen: „Wir sollten unseren Weg<br />

gehen und <strong>Kirche</strong> gestalten und dann<br />

sehen, wer mitmachen kann und wer<br />

nicht. ... Wir sollten protestantischer<br />

protestieren mit großer Selbstverständlichkeit.“<br />

Gret Haller schlug noch<br />

einmal den Bogen zum Staat: „Wir<br />

müssen keine neuen Instrumente<br />

schaffen, es gibt alles schon. Ich benutze<br />

statt „Staat“ das Wort „res publica“, die<br />

öffentliche Sache. Darin sind Gemeinden,<br />

Staat, die EU und die weltweiten<br />

Verbände, wie UNO und Sonderorganisationen<br />

eingeschlossen. Die res<br />

publica ist die einzige Sache auf der<br />

Welt, zu der ich dazugehöre, ohne dass<br />

mir jemand einen Gnadenerlass geben<br />

muss. Ich wünsche mir die Diskussion<br />

mit mehr engagierten Leuten.“<br />

Am Nachmittag die Mitgliederversammlung<br />

mit großem Programm:<br />

Im Geschäftsbericht zählte Kathinka<br />

Kaden die wichtigsten Aktivitäten des<br />

Leitungskreises im vergangenen Jahr<br />

auf, unter anderem die Diskussion um<br />

Grundsatzfragen zu den kirchlichen<br />

OFFENE KIRCHE – kompetent, kritisch, kreativ<br />

Antwort per Fax: 07 11/3 65 93 29<br />

Ja, ich will die OFFENE<br />

KIRCHE kennenlernen:<br />

Senden Sie mir bitte ausführliches<br />

Informationsmaterial<br />

zu:<br />

❑ Ein kostenloses Jahresabo der<br />

Zeitschrift OFFENE KIRCHE<br />

❑ Das OFFENE KIRCHE Wahlprogramm<br />

2001-2007<br />

❑ Nennen Sie mir bitte den Namen<br />

eines Ansprechpartners in der<br />

für mich zuständigen Bezirksgruppe<br />

Albrecht Bregenzer und Fritz Röhm<br />

Mitgliederversammlung<br />

Ja, ich will die OFFENE<br />

KIRCHE unterstützen:<br />

❑ Ich werde hiermit Mitglied der<br />

OFFENEN KIRCHE mit Stimmrecht<br />

bei den jährlichen Mitgliederversammlungen<br />

und kostenlosem Bezug<br />

der Zeitschrift OFFENE KIRCHE:<br />

Mitgliedsbeitrag jährlich mindestens Euro<br />

50,-, Paare stufen sich selbst ein<br />

zwischen mindestens Euro 50,- und Euro<br />

100,-; in Ausbildung Euro 15,-.<br />

❑ Ich abonniere hiermit die<br />

Zeitschrift OFFENE KIRCHE,<br />

4 Ausgaben jährlich, Euro 15,-jährlich<br />

❑ Ich bestelle das Themenbuch<br />

der OFFENEN KIRCHE: „...und<br />

strecke mich’ aus nach dem,<br />

was da vorne ist“ (Themen für die<br />

Evangelische Landeskirche in <strong>Württemberg</strong>)<br />

Euro 10,- zuzüglich Porto.<br />

Immobilien. Zum Islam-Tag der Landessynode<br />

wurde ein eigenes Papier<br />

entwickelt. Es fanden zwei Gespräche<br />

mit Landesbischof Frank Otfried July<br />

statt. Gemeinsam mit dem Gesprächskreis<br />

wurde überlegt, wie neue Mitglieder<br />

zu gewinnen sind. Die Bezirksverantwortlichen<br />

gaben sich auf der<br />

Versammlung im Februar gegenseitig<br />

Tipps für die KandidatInnensuche zur<br />

Synodalwahl und die Vorsitzende freute<br />

sich, viele neue KandidatInnen begrüßen<br />

zu können. Die AMOS-Preis-<br />

Stiftung wird nun mit 30.000 Euro<br />

Stiftungskapital gegründet. Dank an Fritz<br />

Röhm, der die Satzung formulierte und<br />

Absender:<br />

................................................................<br />

Name<br />

................................................................<br />

Straße<br />

................................................................................<br />

PLZ Ort<br />

................................................................................<br />

Telefon Fax<br />

................................................................................<br />

email:<br />

................................................................................<br />

Geburtstag(freiwillig) Beruf (freiwillig)<br />

OFFENE KIRCHE<br />

Evangelische Vereinigung in <strong>Württemberg</strong><br />

Geschäftsstelle: Reiner Stoll-Wähling<br />

Ilsfelder Straße 9, 70435 Stuttgart<br />

Telefon: (07 11) 5 49 72 11, Fax: 3 65 93 29<br />

email: geschaeftsstelle@offene-kirche.de<br />

Seite 12 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


Dieter Hödl<br />

prüfen ließ, und an die fünf Mitglieder<br />

des Stiftungsrates: Eva-Maria Agster,<br />

Christian Buchholz, Elfriede Dehlinger,<br />

Marc Dolde und Hans-Peter Ehrlich.<br />

Es wurde ein Entwurf des neuen<br />

Wahlprogramms verteilt mit dem<br />

Aufruf, ihn in den Bezirken zu diskutieren.<br />

Daraufhin kamen viele Änderungswünsche<br />

an den Leitungskreis. Vor der<br />

Mitgliederversammlung wurden Wahlaufruf<br />

und Wahlprogramm verschickt,<br />

damit beide verabschiedet werden<br />

Reiner Stoll-Wähling<br />

können. Als UnterstützerInnen auf den<br />

Wahl-Faltblättern meldeten sich bisher<br />

über 100 Mitglieder. Auch ein neuer<br />

Imageflyer wurde konzipiert, um die OK<br />

bekannter zu machen. Die OK müsse<br />

sich bemühen, neue Wählerschichten<br />

zu erreichen, besonders junge. „Wir<br />

können leider nicht auf die Jugendarbeit<br />

zurückgreifen, wie sie das ejw hat“,<br />

sagte Rainer Weitzel.<br />

Das Motto der Wahlkampf-Kampagne<br />

heißt: „Mehr Inhalt, mehr Vielfalt, mehr<br />

Biss“. Ziel ist, eine hohe Wahlbeteiligung<br />

zu erreichen. Rainer Weitzel<br />

berichtete, dass Herr Duncker im OKR<br />

zugegeben habe, bei der letzten Wahl<br />

seien zu Ungunsten der OK nicht alle<br />

Unterlagen verteilt worden. Duncker<br />

betonte dabei, es sei Dienstpflicht jedeR<br />

PfarrerIn, die Wahl ordentlich durchzu-<br />

führen. Auch Briefwahl<br />

dürfe nicht behindert<br />

werden. Da sich einige<br />

Dekanatssekretärinnen<br />

beschwert hätten, so viel<br />

Papier verarbeiten zu<br />

müssen, hat sich die OK<br />

bereit erklärt, an jeden<br />

<strong>Kirche</strong>nbezirk so viele Flyer<br />

zu schicken, wie er braucht,<br />

vorsortiert nach <strong>Kirche</strong>ngemeinden.<br />

Nach einer<br />

Generaldebatte und etlichen<br />

Änderungswünschen wurde<br />

das Wahlprogramm bei zwei<br />

Enthaltungen beschlossen.<br />

Ebenso wurde auf Wunsch<br />

von Mitgliedern noch<br />

einiges im Wahlaufruf<br />

geändert und dieser bei<br />

einer Enthaltung beschlossen.<br />

Die Entlastung des Vorstands konnte<br />

laut Fritz Röhm, einem der beiden<br />

Rechnungsprüfer, noch nicht formell<br />

geschehen, da das Finanzamt Stuttgart<br />

den Freistellungsbescheid zur Körperschafts-<br />

und Gewerbesteuer für die Jahre<br />

2003, 2004 und 2005 so spät geschickt<br />

habe, dass die Buchhaltung für 2005<br />

nicht mehr rechtzeitig geprüft werden<br />

konnte. Zur nächsten Versammlung<br />

werden dann beide Jahre zusammen<br />

geprüft. Der Haushaltsplan stand aber<br />

als Tischvorlage zur Verfügung.<br />

Trotzdem mussten<br />

Vorstand und Leitungskreis<br />

turnusgemäß neu<br />

gewählt werden. Dies<br />

geschah schon nach der<br />

neuen Satzung. Als<br />

Vorsitzende kandidierte<br />

Kathinka Kaden, als<br />

Stellvertreter Rainer<br />

Weitzel und als Rechner<br />

Reiner Stoll-<br />

Wähling. Alle drei<br />

wurden mit überwältigender<br />

Mehrheit<br />

wiedergewählt. Für den<br />

Leitungskreis stellten<br />

sich nur zwei Kandidatinnen<br />

und zwei<br />

Kandidaten zur Wahl,<br />

drei weitere wären<br />

noch wünschenswert<br />

gewesen. Einige<br />

Mitglieder wollten sich<br />

erst beim nächsten Mal<br />

aufstellen lassen. Die<br />

vier bisherigen LK-<br />

Mitglieder Albrecht<br />

Rainer Weitzel, Albrecht Bregenzer und<br />

Kathinka Kaden<br />

Der neugewählte Vorstand<br />

der OFFENEN KICHE<br />

Bregenzer, Cornelia Brox, Renate Lück,<br />

und Martin Plümicke wurden ebenfalls<br />

mit hohen Voten wiedergewählt.<br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 13


Asylpolitik<br />

Glück gehabt (?)<br />

Bruno Bäri<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Ergül Z. wurde in der Türkei von<br />

einem Staatssicherheitsgericht zu<br />

lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt,<br />

weil man ihm und anderen<br />

schwere Straftaten zugunsten einer<br />

angeblich terroristischen Vereinigung<br />

zur Last legte und Zeugen<br />

dafür vorführte. Er gestand die<br />

Taten – allerdings unter massiver<br />

Folter: „In der Zeit meiner Haft in<br />

der Polizeiabteilung für politische<br />

Angelegenheiten wurde ich unzählige<br />

Male mit Elektroschocks (an<br />

Geschlechtsorganen, Zunge und<br />

Ohren) gefoltert. Mehrmals wurde<br />

ich am ´palästinensischen Haken´<br />

aufgehängt, mehrere Tage musste<br />

ich ohne Schlaf und nackt an kalten<br />

Stellen verbringen. Sie tauchten<br />

meinen Kopf ins Wasser und stopften<br />

mir währenddessen die Nasenlöcher<br />

zu. Ich wurde zu einsamen<br />

Orten gebracht und mit dem Tode<br />

bedroht. Sie drohten auch damit,<br />

meine Familienangehörigen der<br />

Folter auszusetzen und sie umzubringen.“<br />

Das Geständnis widerrief<br />

er später. Ob er wirklich an den<br />

Straftaten beteiligt war, ist aus den<br />

Akten nicht ersichtlich.<br />

Viele Jahre war er im Zuchthaus und<br />

wurde dort weiter gefoltert. Nach einem<br />

Hungerstreik gelang ihm die Flucht nach<br />

Deutschland, wo er sich ordnungsgemäß<br />

mit seinem Namen anmeldete. Er<br />

wurde international gesucht. Im Asylverfahren<br />

wurde er als Flüchtling im<br />

Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention<br />

rechtskräftig anerkannt und eine<br />

Abschiebung ausgeschlossen: „Die<br />

Verurteilung des Antragstellers erfolgte<br />

ausweislich der vorgelegten Unterlagen<br />

durch ein Staatssicherheitsgericht.<br />

Durch den europäischen Gerichtshof für<br />

Menschenrechte wurde wiederholt<br />

festgestellt, dass die Strafverfahren vor<br />

den Staatssicherheitsgerichten gegen<br />

Art. 6 EMRK verstoßen. Bei Rückkehr in<br />

sein Heimatland wäre der Antragsteller<br />

menschenrechtswidrigen Übergriffen<br />

durch staatliche Organe ausgesetzt.<br />

Aufgrund seines Gesundheitszustandes<br />

wäre bei erneuter Inhaftierung auch sein<br />

Leben in Gefahr. Der Antragsteller darf<br />

mithin zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />

nicht in die Türkei abgeschoben werden.“<br />

Wer entscheidet?<br />

Doch die Türkei beantragte seine<br />

Auslieferung zur Verbüßung der<br />

Reststrafe von 22 Jahren. Daraufhin ließ<br />

sein Gastland Ergül Z. verhaften. Das<br />

Oberlandesgericht Frankfurt/M beschloss<br />

im April <strong>2006</strong>, ihn in vorläufige<br />

Auslieferungshaft zu nehmen, weil sonst<br />

die Gefahr bestünde, dass er sich dem<br />

Auslieferungsverfahren entzöge. Sechs<br />

Wochen später beschloss es, dass diese<br />

Auslieferungshaft „als förmliche fortdauere“.<br />

Die Begründung zeigte dem<br />

Flüchtling, egal was er tut, es wird ihm<br />

ein Strick daraus gedreht: Geht er<br />

juristisch nicht dagegen an, wird er in<br />

sein Heimatland abgeschoben und es<br />

blüht ihm wahrscheinlich erneute<br />

Folter. Geht er dagegen an, wird vom<br />

Gericht seines Gaststaates argumentiert:<br />

Ja, Du hast Dich völlig legal mit deinem<br />

Namen hier bei den Behörden angemeldet,<br />

aber dies beseitigt nicht „den<br />

gerade jetzt in besonderem Maße<br />

bestehenden Fluchtanreiz“. Denn seit er<br />

wusste, dass die Türkei seine Auslieferung<br />

beantragt hatte, sei ihm „nunmehr<br />

der Ernst der Lage besonders verdeutlicht<br />

worden“. Und da er auch noch<br />

Umstände vorgetragen hatte, wie<br />

„Herbeiführung des der Verurteilung<br />

zugrunde liegenden Geständnisses<br />

durch Folter und weiterhin drohende<br />

Folter“, ließen genau diese „den Anreiz<br />

zur Flucht deutlich werden“, weshalb<br />

Folterzelle im „U-Boot“ des ehemaligen<br />

Stasi-Gefängnisses in Berlin-<br />

Hohenschönhausen<br />

das Gericht feststellte: „Dieser Fluchtgefahr<br />

kann auch nicht durch mildere<br />

Maßnahmen begegnet werden.“ Auch<br />

die „Verhältnismäßigkeit“ sei durchaus<br />

gewahrt. Auf die Entscheidung des<br />

Bundesamtes für die Anerkennung<br />

ausländischer Flüchtlinge und des<br />

Verwaltungsgerichts zu seinen Gunsten<br />

gingen die RichterInnen des Oberlandesgerichts<br />

überhaupt nicht ein.<br />

Drei Monate später stellte das gleiche<br />

Oberlandesgericht (zwei der drei<br />

RichterInnen waren auch im Mai<br />

beteiligt) fest, dass seine Auslieferung<br />

unzulässig sei. Der Haftbefehl wurde<br />

aufgehoben. Ergül Z. war wieder frei.<br />

Das Gericht meint allerdings weiter,<br />

dass das Urteil des Staatssicherheitsgerichts<br />

„nicht auf Folter beruht“. Nach<br />

einer Auslieferung würden ihm zudem<br />

keine „Folter, menschenunwürdige<br />

Behandlung und Repressalien drohen“.<br />

Warum kam er dann wieder frei? Die<br />

RichterInnen hatten Zweifel bekommen,<br />

Zweifel, weil sie über das Staatssicherheitsgericht<br />

nachgedacht hatten: „Diese<br />

staatlichen Sicherheitsgerichte und ihre<br />

Verfahren standen in ständiger Kritik der<br />

UNO, verschiedener Menschenrechtsorganisationen<br />

und der Regierungen<br />

und Gerichte der Mitgliedsstaaten der<br />

EU.“ Es entstanden Zweifel, weil „an<br />

der in Rede stehenden Entscheidung ein<br />

Militärrichter beteiligt war“, weil „nicht<br />

mit Sicherheit erkennbar (ist), dass<br />

(Ergül Z.) während des gesamten<br />

Verfahrens von einem Verteidiger<br />

vertreten wurde“ (weder in dem<br />

Hauptverhandlungsprotokoll noch in<br />

dem Urteil ist von Ausführungen eines<br />

Verteidigers die Rede) und weil „nicht<br />

erkennbar ist, ob es dem Verfolgten als<br />

Angeklagten möglich war, in der<br />

Hauptverhandlung oder davor direkt<br />

Fragen an die ihn belastenden und<br />

identifizierenden Zeugen zu stellen“.<br />

Offensichtlich alles Umstände, die erst<br />

im August zu Tage traten.<br />

„Gott sei Dank habe ich ziemlich viel<br />

oder gerade genug Glück gehabt, dass<br />

sich die RichterInnen doch noch<br />

informiert haben“, atmete Ergül Z. auf.<br />

(Die Zitate stammen aus der Entscheidung<br />

des Bundesamtes, von ihm selbst<br />

und aus den verschiedenen Urteilen des<br />

Oberlandesgerichts Frankfurt/M. Der<br />

Name ist geändert.)<br />

Seite 14 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


Asylpolitik<br />

Bleiberecht für Flüchtlinge<br />

Die Angst ist begründet, wenn das<br />

Regierungspräsidium (oder der Innenminister)<br />

beschließt, dass die mittlerweile<br />

erwachsenen Kinder nun in ihre<br />

„Heimat“ zurückgehen müssten – in<br />

eine Heimat, die sie nicht kennen, deren<br />

Sprache sie nicht oder nur lückenhaft<br />

sprechen, deren Schrift sie nicht lesen<br />

können und in der sie keine Zukunft<br />

haben. Afghanische Mädchen sollen<br />

nach Abschluss der Schule ausreisen in<br />

ein Land, in dem nicht einmal europäische<br />

Soldaten sicher sind. Junge Albanerinnen<br />

wurden ohne ihre Eltern in den<br />

Kosovo und nach Jugoslawien abgeschoben,<br />

obwohl sie hier Arbeit hatten und<br />

niemandem zur Last fielen. Eine zum<br />

Christentum übergetretene Iranerin soll<br />

mit ihren Kindern bis Ende des Jahres<br />

ins Land des Herrn Mahmud Ahmadinedschad<br />

ausreisen. Wie und wovon sollen<br />

sie dort leben? Ein eindrückliches<br />

Beispiel ist auch die Geschichte von<br />

Ergül Z., siehe „Glück gehabt“. Unionsgeführte<br />

Länder unterstellen der<br />

Ärzteschaft, Gefälligkeitsatteste auszustellen.<br />

Selbst Gutachten von staatlichen<br />

Gesundheitsämtern nehmen sie nicht<br />

für voll. Ein angekündigter Arzt, der<br />

einen kranken Mann im Flugzeug<br />

begleiten sollte, erwies sich in (mindestens)<br />

einem Fall als eine Tüte mit<br />

drei Medikamentenschachteln. Als ein<br />

Ehepaar von der Polizei abgeholt wurde,<br />

das seit 16 Jahren in Deutschland lebte,<br />

sprang der Mann vom Balkon. Seine<br />

Frau wurde nach Söllingen gebracht,<br />

ohne zu wissen ob er lebt oder tot ist.<br />

Wenn dieses <strong>Heft</strong> erscheint, haben<br />

Deutschlands Innenminister gerade über<br />

ein Bleiberecht für langjährige Asylbewerber<br />

diskutiert und hoffentlich etwas<br />

Menschliches beschlossen. Mut hatte<br />

den Asylgruppen und <strong>Kirche</strong>n Wolfgang<br />

Renate Lücki<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Etwa 10.000 geduldete Flüchtlinge leben schon länger als zehn Jahre in Baden-<br />

<strong>Württemberg</strong>, 16.000 länger als sechs Jahre. „Geduldet“ sein heißt, dass die<br />

Fluchtgründe nicht anerkannt wurden und dass man nur aus gesundheitlichen<br />

oder humanitären Gründen noch da ist, aber eigentlich jeden Tag abgeschoben<br />

werden kann. Das bedeutet wiederum, dass Jugendliche keine Lehrstelle und<br />

Erwachsene kaum Arbeit bekommen. Manche Branchen sind für sie regelrecht<br />

verboten, in den meisten haben Deutsche, Europäer und Saisonarbeiter<br />

Vorrang. Vielen Chefs ist es auch zu mühsam, alle drei Monate (oder wie lange<br />

die Duldung gilt) eine neue Arbeitserlaubnis zu beantragen. Geduldet sein<br />

heißt, in ständiger Ungewissheit zu leben. Geduldet sein heißt Angst.<br />

Schäubles Vorstoß gemacht, endlich<br />

einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu<br />

schaffen für lange in Deutschland<br />

lebende Flüchtlinge und deren Kinder.<br />

Doch die Eckdaten, die vorher aus<br />

Arbeitskonferenzen sickerten, ließen<br />

befürchten, dass es doch wieder eine<br />

„Mogelpackung“ wird, so <strong>Kirche</strong>nrat<br />

Henry von Bose, Vorstand im Diakonischem<br />

Werk <strong>Württemberg</strong>. „Wir<br />

dürfen nicht zulassen, dass die Betroffenen<br />

erneut nachweisen müssen, dass sie<br />

ihren Lebenunterhalt durch legale Arbeit<br />

bestreiten, während ihnen gleichzeitig<br />

die Arbeitserlaubnis versagt wird.“ Auch<br />

der Flüchtlingsrat Baden-Würtemberg<br />

mahnte dringend an, dass das Bleiberecht<br />

nicht an einen festen Arbeitsplatz<br />

gebunden sein dürfe, weil es abgesehen<br />

von der Vorrangregelung kaum noch<br />

feste Arbeitsplätze gebe. Im Vordergrund<br />

müsste das Wohl der Kinder und<br />

Jugendlichen stehen, die hier aufgewachsen<br />

sind. „Es versteht sich von<br />

selbst, dass Familien nicht auseinander-<br />

gerissen werden dürfen. Auch die Eltern<br />

sollten bleiben dürfen, da sie später auf<br />

die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen<br />

sind.“<br />

Auf der Homepage von PRO ASYL<br />

werden weitere Probleme aufgelistet,<br />

zum Beispiel die Verlängerung der 35prozentigen<br />

Kürzung der Sozialhilfe.<br />

Noch endet diese Restriktion nach drei<br />

Jahren, um den Menschen wenigstens<br />

verspätet eine minimale Teilhabe am<br />

gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.<br />

Der niedersächsische Innenminister<br />

Uwe Schünemann hält dies<br />

aber für eine Belohnung für ausreisepflichtige<br />

Ausländer, die sich weigern,<br />

ihrer Ausreisepflicht nachzukommen<br />

(dies ist die offizielle Bezeichnung für<br />

geduldete Asylbewerber). „Damit erhält<br />

sein Vorschlag den Charakter einer<br />

Kollektivstrafe, zumal die Asylbewerberleistungen<br />

weit unterhalb des Existenzminimums<br />

liegen, überwiegend als<br />

Sachleistungen gewährt werden und der<br />

minimale Taschengeldbetrag seit 1993<br />

nicht erhöht worden ist. Zudem sind<br />

bereits nach geltendem Recht Ausländer,<br />

die durch ihr Verhalten eine<br />

Abschiebung verhindern, dauerhaft von<br />

Leistungen ausgeschlossen.“<br />

Ausweglos auch, wenn die Staatsangehörigkeit<br />

angezweifelt wird oder<br />

Dokumente verlangt werden, die eine<br />

geflohene Person von ihrem Herkunftsstaat<br />

nicht erhalten kann. Welcher<br />

Folterer stellt schon eine Bescheinigung<br />

aus und welche Milizen unterschreiben<br />

eine Quittung, nachdem sie das Haus<br />

ausgeräumt haben. Durch eine großzügige<br />

Bleiberechtsregelung würde die<br />

Praxis der Kettenduldungen abgeschafft<br />

und den Flüchtlingen nach Jahren der<br />

Angst und Unsicherheit eine Zukunft<br />

gegeben. „Damit wäre nicht nur ihnen,<br />

sondern auch dem sozialen Frieden<br />

gedient“, so der Flüchtlingsrat Baden-<br />

<strong>Württemberg</strong>.<br />

HAUPTHERKUNFTSLÄNDER 2005<br />

ASYLERSTANTRÄGE IN DEUTSCHLAND<br />

GESAMT: 28.914<br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 15<br />

sonstige<br />

39,7 %<br />

Serbien und Montenegro<br />

19,1 %<br />

Türkei 10,2 %<br />

China 2,2 %<br />

Irak 6,9 %<br />

Afghanistan 2,5 %<br />

Russische Föderation 5,9 %<br />

Aserbaidschan 2,9 %<br />

Vietnam 4,2 %<br />

Quelle: BAMF<br />

Grafik: PRO ASYL<br />

Iran 3,2 % Syrien 3,2 %


Dekade<br />

<strong>Offene</strong>r Brief<br />

Sehr geehrter Herr Landesbischof,<br />

Sie haben am 13. Juli <strong>2006</strong> Ihren ersten<br />

Bischofsbericht vor der 13. <strong>Württemberg</strong>ischen<br />

Evangelischen Landessynode<br />

gehalten. Er hat mich sehr beeindruckt<br />

und ermutigt und mir den Anstoß<br />

gegeben, einen „Leserbrief zum<br />

Bischofsbericht <strong>2006</strong>“ an einige hundert<br />

E-Mail-Adressen zu schicken, die ich im<br />

Lauf der Jahre gesammelt habe. Auch<br />

Ihre Adresse war unter den Empfängern.<br />

Es geht mir um ein öffentliches, ein<br />

politisches Anliegen. „Denn Religion ist<br />

mehr als eine Privatsache“ (S. 13 Ihres<br />

Bischofsberichts).<br />

Der Ökumenische Rat der <strong>Kirche</strong>n hat<br />

die Jahre 2001 – 2010 als „Dekade zur<br />

Überwindung von Gewalt“ ausgerufen.<br />

Was kann ich, was können wir, was<br />

kann unsere <strong>Kirche</strong> zur „Überwindung<br />

von Gewalt“ tun?<br />

Ich denke beim Wort „Gewalt“ zuerst<br />

an die massenhafte Tötung und Verstümmelung<br />

von Menschen im Krieg<br />

und die Zerstörung von Häusern,<br />

Kulturwerten und Infrastrukturen<br />

ganzer Länder. Man hat in Jahrhunderten<br />

über die Frage diskutiert, ob es<br />

„gerechte Kriege“ geben könne. Diese<br />

Diskussion hat die schrecklichsten<br />

Kriege nicht verhindern können.<br />

Ich schlage vor, die Fragestellung zu<br />

verändern. Darf irgendein Mensch<br />

einem anderen Menschen erlauben oder<br />

befehlen, einen Mitmenschen zu töten?<br />

Darf die Regierung unseres Staates, darf<br />

irgendeine Regierung unter Berufung<br />

auf das „Gewaltmonopol“ weiterhin die<br />

„Lizenz zum Töten“ für sich in Anspruch<br />

nehmen? Dürfen wir das im<br />

Hinblick auf „Gott“, auf den sich die<br />

meisten Staatsbeamten in unserem<br />

christlichen (?) Europa noch vereidigen<br />

lassen, im Hinblick auf Jesus Christus,<br />

zu dem sich die christlichen Parteien in<br />

unserem Staat bekennen, im Hinblick<br />

auf Art. 1 unseres Grundgesetzes, in<br />

dem die Würde des Menschen für<br />

unantastbar erklärt wird?<br />

Es ist mir vollkommen klar, wie radikal<br />

und weitgehend diese Anfrage ist. Ich<br />

bin aber tief davon überzeugt, dass sie<br />

einmal gestellt werden muss. Ich hoffe<br />

auch darauf, dass eine intensive Diskussion<br />

über diese Frage zu einer wirklich<br />

entscheidenden Änderung und Umkehr<br />

in der Politik führen kann.<br />

Sie werden verstehen, sehr geehrter<br />

Herr Landesbischof, dass ich die<br />

Empfängerinnen und Empfänger meiner<br />

E-Mail gebeten habe, den Brief mit zu<br />

unterzeichnen, dass ich Ihnen also<br />

diesen Brief als <strong>Offene</strong>n Brief zukommen<br />

lasse.<br />

Ich bitte darum, dass mein Bischof und<br />

die verantwortlichen Organe unserer<br />

Landeskirche meine Anfrage hören,<br />

meine Argumente und die vieler anderer<br />

engagierter Christen und Staatsbürgerinnen<br />

prüfen.<br />

In Erwartung Ihrer Antwort und in<br />

schuldigem Respekt grüße ich Sie<br />

freundlich<br />

Ihr Werner Dierlamm<br />

Eine Antwort stand bei Drucklegung<br />

noch aus, wird Ihnen aber nicht<br />

vorenthalten werden. Die Redaktion<br />

Atomwaffen sind ein<br />

Verbrechen gegen<br />

die Menschheit<br />

Aus einem Referat von Dr. Sören<br />

Widmann bei der Tagung „Atomwaffen<br />

– Eine Herausforderung für den Frieden“<br />

in der Evang. Akademie Bad Boll.<br />

Die Stimme der nichtkatholischen<br />

<strong>Kirche</strong>n:<br />

▲ die Atomstaaten sollen ihre Kernwaf-<br />

Immer aktuell. Immer schnell.<br />

Schauen Sie vorbei!<br />

www.<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />

Auch den Ökumenischen<br />

Frauenkongress 2007 finden Sie<br />

bei uns. Und noch viel mehr!<br />

fen reduzieren und unter Aufsicht<br />

zerstören;<br />

▲ sie sollen sich verpflichten, nicht als<br />

erste Kernwaffen einzusetzen und nicht<br />

mit deren Einsatz drohen;<br />

▲ sie sollen die hohe Alarmbereitschaft<br />

ihrer Kernwaffen aufheben und alle<br />

Kernwaffen aus Nichtnuklearstaaten<br />

entfernen;<br />

▲ die Autorität der Internationalen<br />

Atombehörde soll gestärkt und die<br />

Nuklearwaffenstaaten Indien, Israel und<br />

Pakistan, die den NPT nicht unterzeichnet<br />

haben, sollen zum Beitritt und<br />

Nordkorea zum Wiedereintritt gedrängt<br />

werden;<br />

▲ die <strong>Kirche</strong>n schließlich sollen der<br />

allgemeinen Ignoranz und Gleichgültigkeit<br />

hinsichtlich der nuklearen Bedrohung<br />

aktiv entgegenwirken, sie sollen<br />

ihre Regierungen drängen, gemeinsame<br />

Verantwortung für den Prozess der<br />

internationalen nuklearen Abrüstung zu<br />

übernehmen und sie sollen selbst -auch<br />

in Zusammenarbeit mit anderen Religionen-<br />

für die Errichtung atomwaffenfreier<br />

Zonen werben, wie sie bereits in<br />

Lateinamerika, Afrika, Südostasien und<br />

im Pazifik existieren.<br />

Aus der Resolution der 9. Vollversammlung<br />

des Ökumenischen Rates der<br />

<strong>Kirche</strong>n in Porto Alegre/ Brasilien im<br />

Februar <strong>2006</strong>.<br />

Jüngste Stellungnahme der katholischen<br />

Weltkirche:<br />

„Was soll man über die Regierungen<br />

sagen, die sich auf Nuklearwaffen<br />

verlassen, um die Sicherheit ihrer<br />

Länder zu gewährleisten? Gemeinsam<br />

mit unzähligen Menschen guten Willens<br />

kann man behaupten, dass diese<br />

Sichtweise nicht nur verhängnisvoll,<br />

sondern völlig trügerisch ist. In einem<br />

Atomkrieg gibt es nämlich keine Sieger,<br />

sondern nur Opfer. Alle Regierungen,<br />

die Atomwaffen besitzen oder anstreben,<br />

müssen auf Gegenkurs gehen und<br />

sich auf fortschreitende und gegenseitig<br />

vereinbarte Atomabrüstung ausrichten.<br />

In diesem Zusammenhang kann man<br />

nicht umhin, mit Bitterkeit... den<br />

besorgniserregenden Anstieg der<br />

Militärausgaben ... festzustellen, während<br />

der von der internationalen<br />

Gemeinschaft in Gang gesetzte politische<br />

und rechtliche Prozess einer<br />

fortschreitenden Abrüstung im Sumpf<br />

einer nahezu allgemeinen Gleichgültigkeit<br />

stagniert.“<br />

Benedikt XVI. in seiner Friedensbotschaft<br />

zum Weltfriedenstag 1. 1.<br />

<strong>2006</strong>.<br />

Seite 16 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


Gerechtigkeit<br />

Partnerschaft auf Augenhöhe<br />

Aalen (Deutschland) – Akyem Abuakwa (Ghana)<br />

„Auf Augenhöhe“ – so lautet die<br />

Selbstbeschreibung der Partnerschaft<br />

zwischen dem Evangelischen <strong>Kirche</strong>nbezirk<br />

Aalen der Evangelischen Landeskirche<br />

in <strong>Württemberg</strong> und dem Akyem<br />

Abuakwa Presbytery der Presbyterian<br />

Church of Ghana. Handelt es sich dabei<br />

nur um eine weitere Einbahnstraße des<br />

Geldverkehrs mit überhöhtem Anspruch?<br />

Das zehnjährige Jubiläum der<br />

Partnerschaft im Jahr <strong>2006</strong> ist der<br />

Anlass, der Öffentlichkeit eine Partnerschaftsarbeit<br />

vorzustellen, die ihresgleichen<br />

sucht. Im Zentrum der Partnerschaft<br />

steht nicht ein Entwicklungshilfeprojekt,<br />

sondern die Begegnung von<br />

ghanaischen und deutschen Christen<br />

beider <strong>Kirche</strong>n.<br />

Die Anfänge (1980 – 1993)<br />

Am Anfang steht der persönliche<br />

Kontakt Einzelner: Nach dem Besuch<br />

der Leiterin der Frauenfachschule<br />

Begoro 1980 in Aalen entwickelt sich<br />

hier ein Unterstützungs- und Aktionsnetzwerk.<br />

In der Folgezeit finden in<br />

Begoro und weiteren Orten Ghanas<br />

Workcamps mit verschiedenen Bauprojekten<br />

statt. Auf deutscher Seite ist<br />

neben der <strong>Kirche</strong>ngemeinde Aalen<br />

immer wieder das Jugendwerk des<br />

<strong>Kirche</strong>nbezirks in die Begegnungen<br />

eingebunden. Kleinere Delegationen<br />

dienen dem gegenseitigen Kennenlernen,<br />

der Vorbereitung der Workcamps<br />

in Ghana sowie der Verankerung<br />

der Beziehung im Leben der Partner.<br />

Vom Direktkontakt zur Bezirkspartnerschaft<br />

(1993 – 1996)<br />

Aufgrund personeller Veränderungen<br />

Anfang der 90er Jahre in Aalen wird der<br />

Ravinder Saloojai<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Partnerschaften werden hinterfragt. Von ihrem Anspruch her finden in den<br />

kirchlichen internationalen Beziehungen auf der Ebene von Partnerschaftsgruppen,<br />

Gemeinden, <strong>Kirche</strong>nkreisen oder Landeskirchen echte Begegnungen<br />

gleichrangiger Partner statt. Die wenigen Studien, die es überhaupt zu<br />

kirchlichen Partnerschaftsbeziehungen gibt, machen allerdings deutlich, dass<br />

dieser Anspruch in den seltensten Fällen eingelöst ist. Nicht selten nimmt nach<br />

einiger Zeit die Finanzierung eines Entwicklungshilfeprojektes immer größeren<br />

Raum und viele Ressourcen in Anspruch. Wenn aber, wie es in einem<br />

tansanianischen Sprichwort heißt, „die Hand des Gebers höher ist als die des<br />

Nehmers“, so ist fraglich, ob dann überhaupt noch von echter Partnerschaft<br />

geredet werden kann.<br />

<strong>Kirche</strong>nbezirk Aalen gebeten, die<br />

Beziehung als Aufgabe des <strong>Kirche</strong>nbezirks<br />

weiterzuführen. Unter Einbeziehung<br />

des Evangelischen Missionswerks<br />

in Südwestdeutschland ems<br />

beginnt ein Prozess, der zur Vereinbarung<br />

der Partnerschaft führt. Um zu<br />

gewährleisten, dass die Ausweitung der<br />

ursprünglich Aalener Kontakte von den<br />

anderen Gemeinden im <strong>Kirche</strong>nbezirk<br />

Aalen auch wirklich mitgetragen wird,<br />

werden diese um ein entsprechendes<br />

Votum gebeten, bevor die Bezirkssynode<br />

Aalen der Partnerschaft zustimmt. Am<br />

4. Oktober 1996 unterzeichnen Chairman<br />

Reverend K.A. Nuamah und Dekan<br />

Erich Haller in Aalen die Partnerschaftsurkunde.<br />

Mit der Partnerschaftsvereinbarung<br />

weitet sich der Blick aus Deutschland<br />

(wie wohl auch umgekehrt) auf das<br />

gesamte Presbytery aus; der Kontakt<br />

nach Ghana wird eine Aufgabe aller<br />

Gemeinden des <strong>Kirche</strong>nbezirks. Zu den<br />

in der Vereinbarung genannten Zielen<br />

der Partnerschaft gehört neben dem<br />

gegenseitigen Anteilgeben an den<br />

geistlichen, kulturellen und materiellen<br />

Reichtümern auch das Kennenlernen<br />

und Informieren über das Leben und<br />

den Glauben der Partner. Die geglaubte,<br />

erbetene und zu verwirklichende<br />

Einheit in Christus ist dabei der alles<br />

umschließende Bezugsrahmen.<br />

Auf dem Weg zu neuen Formen der<br />

Begegnung (1996 – 2000)<br />

Als erste größere Begegnung im Rahmen<br />

der neuen Partnerschaft findet 1998 ein<br />

von langer Hand vorbereitetes Aufbaulager<br />

in Kyebi statt. Dort soll am Sitz des<br />

Chairperson des Akyem Abuakwa<br />

Presbytery ein Gästehaus (Transitquarter)<br />

gebaut werden. Trotz der<br />

kritischen Stimmen, die auf deutscher<br />

Seite im Verlauf der Vorbereitungen vor<br />

allem mit Blick auf das zu bauende<br />

Objekt laut werden, ist dieses im Geist<br />

früherer Begegnungen veranstaltete<br />

Workcamp ein wichtiger Schritt auf dem<br />

Weg zur gegenwärtigen Begegnungsarbeit.<br />

In der Auswertung wird nämlich<br />

deutlich, daß die Zeit des gemeinsamen<br />

Lebens und Arbeitens an einer gemeinsamen<br />

Sache optimal die intensive<br />

Begegnung der Teilnehmer ermöglicht.<br />

Auch berichten die zurückkehrenden<br />

Teilnehmer begeistert von den Gottesdiensten<br />

mit Musik und Tanz, die sie<br />

während ihres Aufenthalts in Ghana<br />

erleben.<br />

Im Frühjahr 1998 war schon einmal der<br />

Gedanke aufgetaucht, dass doch vielleicht<br />

ein Chor aus Ghana die Partner-<br />

Unterzeichnung der Partnerschaftsurkunde am 4. Oktober 1996 in Aalen; (v.l.)<br />

Eberhard Renz (damals Landesbischof), Rev. K. A. Nuamah (damals Chairman des<br />

Akyem Abuakwa Presbytery), Dekan Erich Haller.<br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 17


schaft auf breiter Basis voranbringen<br />

könnte. Diese Idee verbindet sich mit<br />

der Auswertung des 1998er Workcamps,<br />

und noch im Dezember 1998<br />

heißt es in einem Brief nach Ghana:<br />

„Wäre es nicht eine gute Idee, Christen<br />

aus den <strong>Kirche</strong>nbezirken Akyem<br />

Abuakwa und Aalen, die an Gottesdiensten<br />

interessiert sind, in einem Workshop<br />

zusammenzubringen? Hinterher<br />

könnten sie in verschiedenen Gemeinden<br />

unseres <strong>Kirche</strong>nbezirks Gottesdienste<br />

feiern.“ Die Antwort aus Ghana<br />

nimmt diese Idee begeistert auf und<br />

schlägt ein Vorbereitungstreffen für<br />

dasselbe Jahr vor.<br />

Als die dreiköpfige ghanaische Vorbereitungsgruppe<br />

im Herbst 1999 nach<br />

Aalen kommt, ist die Idee auf beiden<br />

Seiten durch weitere Briefwechsel<br />

gereift. So gelingt es in kürzester Zeit,<br />

Thema, Rahmen, Struktur sowie<br />

Grundelemente festzulegen. Die<br />

Leitfrage lautet: „Wie kann ich heute<br />

Menschen mit der Botschaft von Jesus<br />

Christus erreichen, die nicht zur<br />

Gemeinde gehören bzw. sich von ihr<br />

abgewandt haben? Wie müsste ein<br />

Gottesdienst mit diesem Ziel gestaltet<br />

sein?“ Vereinbart wird ein musikalisches<br />

Projekt mit biblischem Bezugsrahmen.<br />

Ziel des Workshops, für den in der<br />

Zwischenzeit die Bezeichnung „Music &<br />

Mission“ geprägt wurde, ist die Erarbeitung<br />

einer gottesdienstlichen Performance.<br />

Kein leichtes Unterfangen, denn<br />

Sponsoren und Fördermittelgeber<br />

müssen überzeugt werden, ein Projekt<br />

zu unterstützen, das noch nie dagewesen<br />

ist und dessen Ausgang ebenfalls<br />

offen sein würde; in den Gemeinden des<br />

<strong>Kirche</strong>nbezirks Aalen muss für eine<br />

Veranstaltung geworben werden, dessen<br />

Inhalt und Ablauf sich erst wenige Tage<br />

vor dem Ereignis herausschälen würde.<br />

„Music & Mission“ 2000: „Nkwa<br />

Nsuo – Lebendiges Wasser“<br />

Der Workshop „Music & Mission“ 2000<br />

wird ein Erfolg: „Händels Hallelujah mit<br />

afrikanischem Trommelwirbel“ titelt<br />

eine Lokalzeitung nach den ersten<br />

Aufführungen: Sechsmal wird eine<br />

interkulturelle Performance gezeigt, die<br />

die Besucher begeistert und zu Teilnehmenden<br />

werden läßt. Musik, Tanz,<br />

Theater und Verkündigung des Evangeliums<br />

verbinden sich in der Performance<br />

„Nkwa Nsuo – Lebendiges Wasser“ zur<br />

Präsentation einer partnerschaftlichen<br />

Begegnung „auf Augenhöhe“.<br />

Wichtiger noch als die erfolgreiche<br />

Präsentation ist aber die intensive<br />

Erarbeitung der Performance in den<br />

Tagen zuvor: elf Tage leben die 20<br />

Teilnehmer aus Ghana und Deutschland<br />

miteinander auf der Kapfenburg. Sie<br />

bringen sich gegenseitig die musikalischen<br />

Traditionen ihrer Kulturen bei,<br />

lernen Instrumente spielen und Lieder<br />

singen und erfahren von Musik- und<br />

Gesangstraditionen beider Länder bzw.<br />

Kulturen. Vor allem aber begegnen sie<br />

sich als Gleichberechtigte: In der<br />

gemeinsamen Erarbeitung der Performance<br />

durch Auslegung des Bibeltextes,<br />

Verständigung über Verkündigungsinhalte,<br />

Ausarbeitung des Ablaufs der<br />

Performance und im Entwerfen von<br />

Anspielen, bringen die Teilnehmer ihre<br />

persönlichen und kulturellen Erfahrungen,<br />

Fähigkeiten und Hintergründe ein.<br />

Weitere Erfahrungen mit dem<br />

neuen Typ der Begegnungsarbeit<br />

(2000 – <strong>2006</strong>)<br />

Nach dieser erfolgreichen Begegnung<br />

geht es um die wichtige Frage: Ist das<br />

Konzept übertragbar? Kann es auch in<br />

Ghana durchgeführt werden, und<br />

können auch andere Zielgruppen<br />

angesprochen werden? 2002 findet das<br />

Gegenprogramm „Music & Mission II“<br />

in Ghana statt. Auch in Ghana wird der<br />

Workshop mit den Phasen Begegnung,<br />

Präsentation und Kennenlernen von<br />

Land und Leuten ein Erfolg: „Kann es<br />

sein, daß Weiße und Schwarze sich so<br />

eng begegnen können wie wir es hier<br />

erleben?“ – immer wieder ist diese<br />

Frage als Reaktion aus dem Publikum<br />

auf die Performances in den Gemeinden<br />

des Akyem Abuakwa Presbytery zu<br />

hören.<br />

Der dritte Partnerschafts-Workshop im<br />

Jahr 2005 (wieder in Deutschland) wird<br />

als Frauenbegegnung „Women – we<br />

strengthen each other / Wir Frauen<br />

stärken uns gegenseitig“ zu Lk. 15, 8-10<br />

veranstaltet. Über kreative Mittel<br />

(Töpfern, Batiken, Nähen, Musik, Tanz,<br />

TeilnehmerInnen des 2. Workshops<br />

„Musik & Mission“ in Ghana 2002<br />

Kochen) sowie in der Beschäftigung mit<br />

sozialen und gesellschaftlichen Themen<br />

(HIV/AIDS, Gesundheit und Krankheit,<br />

Alter, Mann und Frau) begegnen sich<br />

die zwölf Teilnehmerinnen aus Ghana<br />

und Deutschland in der Intensivphase<br />

des Workshops. Was sie miteinander<br />

erarbeiten und erleben, wird wie bei<br />

den beiden vorangegangenen Workshops<br />

in sieben melodramatischen<br />

Performances einem größeren Interessentenkreis<br />

vermittelt. Mit dieser dritten<br />

Begegnung des neuen Typs ist die<br />

Übertragbarkeit auch auf andere Zielgruppen<br />

erfolgreich erprobt. Für 2007<br />

wurde mittlerweile als Reverse-Programm<br />

in Ghana ein Frauenworkshop<br />

„Let’s join the way of hope / Gemeinsam<br />

auf dem Weg der Hoffnung“ mit<br />

Mirjam als zentraler Bezugsperson<br />

vereinbart.<br />

Wie „Begegnung auf Augenhöhe“<br />

gelingt<br />

Drei Elemente sind konstitutiv für einen<br />

Partnerschafts-Workshop: die Begegnung<br />

in der gemeinsamen Erarbeitung<br />

einer Präsentation; die Multiplikation<br />

des Workshopgeschehens mit Hilfe der<br />

Präsentation des Erarbeiteten und das<br />

Kennenlernen von Land und Leuten.<br />

Obwohl die finanziellen Kosten überwiegend<br />

von Aalen als dem finanzstärkeren<br />

Partner getragen werden,<br />

spielt diese Tatsache in der aktuellen<br />

Begegnung keine Rolle mehr. Vielmehr<br />

kommen die Teilnehmerinnen und<br />

Teilnehmer als Personen zum Zug.<br />

Naturgemäß sind die Workshops auf<br />

einen kleinen Teilnehmerkreis von 16<br />

bis 20 Personen begrenzt. Das ist<br />

sinnvoll, weil die Erfahrung lehrt, dass<br />

mit zunehmender Gruppengröße die<br />

Intensität der Begegnung abnimmt.<br />

Durch die Präsentation des Erarbeiteten<br />

wird einem größeren Interessentenkreis<br />

die Beteiligung am Workshopgeschehen<br />

ermöglicht; der Workshop wirkt auf<br />

diese Weise in die Gemeinden der<br />

<strong>Kirche</strong>nbezirke hinein. Exkursionen und<br />

Begegnungen der Art, wie sie auch sonst<br />

bei Delegationsbesuchen und Partnerschaftsreisen<br />

üblich sind, runden das<br />

Kennenlernen von Land und Leuten ab<br />

und verorten die Begegnung im konkreten<br />

Lebenskontext der gastgebenden<br />

<strong>Kirche</strong>.<br />

Die Besonderheit der Partnerschaftsbeziehung<br />

zwischen Aalen und Akyem<br />

Abuakwa ist auch außerhalb der direkt<br />

Beteiligten und Verantwortlichen<br />

bekannt. Reverend Yaw Frimpong-<br />

Seite 18 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


Feier des 10jährigen Jubiläums der Partnerschaft in Kyebi<br />

(Ghana) August <strong>2006</strong><br />

Manso, Moderator der Presbyterian<br />

Church of Ghana, unterstrich im<br />

Rahmen der Feiern zum zehnjährigen<br />

Jubiläum im August <strong>2006</strong> in Ghana:<br />

„Diese Partnerschaft ist für mich eine<br />

Partnerschaft von Gleichen in Christus.<br />

Sie folgt nicht dem Motto ‘Wir haben<br />

das Wissen und zeigen euch, wie es<br />

geht’.“<br />

Zukunftsmusik (<strong>2006</strong> – basileia tou<br />

theou)<br />

Ideen für zukünftige Begegnungen, die<br />

sowohl in Ghana wie in Deutschland<br />

umgesetzt werden können, sind bereits<br />

vorhanden. Ein Workshop für Pädagogen:<br />

diese könnten gemeinsam Unterrichtseinheiten<br />

erarbeiten und in einer<br />

zweiten Phase dann auch unterrichten;<br />

die Multiplikation fände also unter<br />

Jugendlichen im schulischen Bereich<br />

oder anderen pädagogischen Handlungs-<br />

Theologische Meilensteine<br />

Ernst Käsemann, dem prophetischen Lehrer,<br />

geboren am 12. Juli 1906, zum Gedenken<br />

Ernst Käsemann für einen Lehrer der<br />

<strong>Kirche</strong> zu halten, sei nicht möglich,<br />

gutachtete Künneth-Assistent Wolfram<br />

Kopfermann, der 20 Jahre später seine<br />

eigene (charismatische) Freikirche<br />

gründete. Wir, die wir in den 60er<br />

Jahren in Tübingen bei ihm studierten,<br />

haben das ganz anders gesehen.<br />

Fasziniert von seiner mitreißenden<br />

Diktion, von seiner philologischen<br />

Präzision, von seiner scharfen theologischen<br />

Kritik strömten wir in den<br />

Festsaal der Alten Aula und verließen<br />

feldern statt. Oder<br />

ein Pilger-Workshop:<br />

der Weg zu Fuß von<br />

Gemeinde zu<br />

Gemeinde des<br />

jeweiligen <strong>Kirche</strong>nbezirks<br />

wäre ein<br />

Weg gemeinsamer<br />

spiritueller Erfahrung;<br />

abends<br />

könnten Begegnungen<br />

in den Gemeinden<br />

der Übernachtungsquartiere<br />

die<br />

Erfahrungen des<br />

Tages an die Gemeindeglieder<br />

und<br />

andere Interessierte vermitteln (Multiplikation);<br />

die Pilgergruppe könnte am<br />

nächsten Tag ein Stück des Wegs<br />

begleitet werden. Oder ein Workshop<br />

mit Jugendmitarbeitern: in dessen<br />

Verlauf könnten Spiele beider Länder<br />

und Kulturen hergestellt und gespielt<br />

werden; in der Phase der Multiplikation<br />

würden die Workshopteilnehmer dann<br />

die Spiele mit Kinder-, Jungschar- und<br />

Jugendgruppen ebenfalls spielen und<br />

auch herstellen.<br />

In den Vorüberlegungen zur Partnerschaft<br />

hatte der ghanaische Pfarrer Peter<br />

Kodjo, seinerzeit Mitarbeiter im ems,<br />

gefragt: „Was wollen die Gemeinden im<br />

Norden von uns, wenn sie eine Partnerschaft<br />

eingehen? Oft stehen Hilfsprojekte<br />

und finanzielle Gaben im<br />

Vordergrund. Darum geht es bei<br />

Partnerschaft nicht. Probleme des<br />

Dr. Klaus W. Mülleri<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

ihn erfüllt von Themen und Fragen,<br />

die wir weiter zu diskutieren hatten.<br />

Was theologische Leidenschaft ist, war<br />

bei ihm zu erleben und zu erfahren:<br />

Die Nachfolge des gekreuzigten Nazareners,<br />

in der sich der Gehorsam gegen<br />

das erste Gebot christlich konkretisiert.<br />

Exodus, der Auszug des wandernden<br />

Gottesvolks weg von Ägyptens<br />

Fleischtöpfen – ins Freie und in<br />

die Freiheit eines Christenmenschen<br />

– das kennzeichnete Käsemanns Lehre<br />

und Leben.<br />

anderen ‘lösen’ zu wollen, kann kein<br />

Motiv für Partnerschaft sein. Es geht<br />

vielmehr darum, für die Begegnung und<br />

den Austausch Raum zu schaffen.“ Die<br />

Beziehung zwischen dem Evangelischen<br />

<strong>Kirche</strong>nbezirk Aalen und dem Akyem<br />

Abuakwa Presbytery wird dieser Aufgabenstellung<br />

gerecht. Sie löst den<br />

Anspruch ein, der mit dem Wort<br />

Partnerschaft gegeben ist: Aalen und<br />

Akyem Abuakwa sind Partner auf<br />

gleicher Augenhöhe.<br />

Pfarrer Ravinder Salooja ist als<br />

Bezirksbeauftragter für Mission,<br />

Ökumene und Entwicklung im<br />

Evangelischen <strong>Kirche</strong>nbezirk Aalen<br />

für die Partnerschaftsbeziehung<br />

zwischen Aalen und Akyem<br />

Abuakwa zuständig.<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Kontakt und Informationen zur<br />

Partnerschaft:<br />

Bezirksbeauftragte für Mission,<br />

Ökumene und Entwicklung des Ev.<br />

<strong>Kirche</strong>nbezirks Aalen:<br />

Pfrin. Heike Ehmer-Stolch, Friedrich-<br />

Ebert-Str. 4, 73433 Wasseralfingen,<br />

Tel. (0 73 61) 97 34 70;<br />

Evang.Pfarramt.Wasseralfingen2@gmx.de<br />

Pfr. Ravinder Salooja, Kaplan-Renz-<br />

Weg 4/1, 73479 Ellwangen, Tel. (0<br />

79 61) 56 14 47; pfarramt3@kircheellwangen.de<br />

Spendenkonto: <strong>Kirche</strong>nbezirkskasse,<br />

KontoNr. 110 004 790, Kreissparkasse<br />

Aalen (BLZ 61450050),<br />

„Partnerschaft Ghana“<br />

Der Nachfahre eines seit dem dreißigjährigen<br />

Krieg im Lippischen ansässigen<br />

Bauerngeschlechts, Sohn eines schon<br />

früh im ersten Weltkrieg gefallenen<br />

Volksschullehrers, hat den Impuls zum<br />

Theologiestudium durch den Essener<br />

Jugendpfarrer Weigle erhalten, einen<br />

pietistisch geprägten charismatischen<br />

Mann, dem Käsemann zeitlebens<br />

dankbar war. In Bonn zog ihn Erik<br />

Peterson und dessen Ekklesiologie in<br />

Bann. Dass <strong>Kirche</strong> der weltweite<br />

Christusleib ist und nicht ein religiöser<br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 19


Verein oder frommer Konventikel, hat er<br />

bei ihm gelernt. „Leib und Leib Christi“<br />

lautete der Titel der Arbeit, mit der er<br />

1931 in Marburg zum Lizentiaten der<br />

Theologie promoviert wurde. Petersons<br />

Konversion zum Katholizismus blieb für<br />

Käsemann eine theologische Provokation<br />

bis zum Schluss. In der Epheserbrief-<br />

Vorlesung des Sommersemesters 1964,<br />

die eine intensive Auseinandersetzung<br />

mit Schliers Kommentar war, konnten<br />

wir das spüren. Heinrich Schlier,<br />

Bultmanns Assistent und auch einer der<br />

Lehrer Käsemanns, hat diesen Schritt<br />

seines Bonner Meisters in die katholische<br />

<strong>Kirche</strong> nachvollzogen. Käsemann<br />

jedoch schluckte – wie er selbst formulierte<br />

– „Bultmanns historische Kritik als<br />

Gegengift“ und blieb Protestant. Und<br />

was für einer!<br />

Wie aber konnte Käsemann seinen<br />

Pietismus und diese radikale historische<br />

Kritik vereinen? Das war die Frage, die<br />

ihn zur Fortsetzung seines Studiums in<br />

Tübingen bewog. Bei Adolf Schlatter<br />

fand er die Antwort nicht, hat aber in<br />

anderer Hinsicht bei ihm viel profitiert:<br />

Schlatters Schöpfungslehre hinterließ bei<br />

Käsemann ihre Spuren.<br />

Kritik, die Unterscheidung der Geister,<br />

das war Käsemanns alltägliches Geschäft<br />

und machte nach seinem Verständnis<br />

das Christsein aus. Wer in dem gekreuzigten<br />

Nazarener seinen Herrn gefunden<br />

hat, der ist zum Widerstand gegen<br />

die Herren dieser Welt herausgefordert.<br />

Wer diese Herren sind, das manifestiert<br />

sich im Wandel der Geschichte auf<br />

unterschiedliche Weise.<br />

Als 1933 Käsemann seinen Dienst als<br />

Pfarrer in der Bergarbeitergemeinde<br />

Rotthausen, einem Ortsteil von Gelsenkirchen,<br />

traditionell das Gebiet von<br />

„Schalke 04“, antrat, wurde für ihn, der<br />

in den Jahren 1930 bis 1933 selbst noch<br />

die Partei der Nazis gewählt hatte, bald<br />

deutlich, wo der Feind stand. Als Präses<br />

des Presbyteriums und mit breiter<br />

Zustimmung der Gemeinde setzte<br />

Käsemann 45 Glieder in seiner Gemeindevertretung,<br />

welche der Partei der<br />

Deutschen Christen angehörten, zum<br />

Bußtag 1934 vor die Tür. Immer mehr<br />

wurde er zum Partisanen, zum Freiheitskämpfer<br />

ohne die Legitimation<br />

durch die kirchliche Institution. Am 15.<br />

August 1937 predigte er über Jesaja 26,<br />

13: „Herr, unser Gott, es herrschen<br />

wohl andere Herren über uns denn du,<br />

aber wir gedenken doch allein dein und<br />

deines Namens.“ – Ein trotziges und<br />

freimütiges Plädoyer gegen den Teufel<br />

und seine dämonische Gesellschaft, die<br />

Herren der Welt. Drei Tage später<br />

wurde Käsemann für einige Wochen in<br />

Haft genommen. In der Gefängniszelle<br />

schrieb er – paradox genug! – „Das<br />

wandernde Gottesvolk“, eine Studie<br />

über den Hebräerbrief.<br />

Ernst Käsemann<br />

Dreizehn Jahre im Pfarramt, bestimmt<br />

vom <strong>Kirche</strong>nkampf, gingen nicht spurlos<br />

an ihm vorbei. Diese dreizehn Jahre<br />

waren präsent auch dann, als Käsemann<br />

in Mainz, in Göttingen und schließlich<br />

37 Jahre in Tübingen als Lehrer an der<br />

Universität wirkte. Die Herren dieser<br />

Welt erschienen nun in anderem<br />

Gewande. Aber Käsemanns Widerstand<br />

blieb wach. Vom Kampfe geprägt war<br />

sein Selbstverständnis, und seine<br />

zahlreichen Metaphern aus dem<br />

militärischen Vokabular belegen dies.<br />

Apokalyptisch war seine Sicht der Welt,<br />

ein Kampfschauplatz zwischen des<br />

Teufels dämonischen Mächten und dem<br />

Weltenschöpfer, der im Nazarener<br />

Mensch geworden und am Kreuz<br />

gestorben ist.<br />

Es ist folgerichtig, dass Käsemann mit<br />

seinem Lehrer Bultmann und dessen<br />

anthropologischer Verengung des<br />

Evangeliums ins Gehege kam. Dass<br />

„Menschheit“ eine Abstraktion sei,<br />

hatte dieser behauptet. „Individuum“ ist<br />

eine Abstraktion, hat Käsemann dem<br />

entgegengesetzt. Dass man vom historischen<br />

Jesus nicht viel mehr wisse als das<br />

„Dass“ seines Gekommenseins und dass<br />

dies dem Glauben genüge, schien<br />

Bultmann zu lehren. Käsemann war dies<br />

zu wenig, wenn es galt, den Glauben<br />

davor zu bewahren, zu einer beliebigen<br />

Ideologie zu werden. Er fragte erneut<br />

nach dem historischen Jesus, dem Leben<br />

und der Lehre des Nazareners.<br />

Schon die Auseinandersetzung mit<br />

seinem Lehrer Bultmann zeigt einen<br />

Grundzug von Käsemanns Kampf für<br />

das Evangelium der Freiheit: Es sind die,<br />

welche ihm nahe stehen oder nahe zu<br />

stehen scheinen, mit denen er die<br />

heißesten Schlachten schlägt. „Gott<br />

schütze mich vor meinen Freunden, mit<br />

meinen Feinden werde ich selber fertig“<br />

war ein Wort, das man immer wieder<br />

aus seinem Munde hören konnte.<br />

Käsemann konnte sich selbst als Pietisten<br />

verstehen – und in gewissem Sinne<br />

war er das auch. Die bei ihm immer<br />

wieder laut werdende Frage „Kennen<br />

wir Jesus?“ und der radikale Gehorsam<br />

gegenüber dem Nazarener, das ist<br />

zweifellos pietistisches Erbe bei ihm.<br />

Und dennoch waren es Pietisten, die im<br />

Namen der Schrifttreue zum Kampfe<br />

gegen ihn die Trommel rührten und<br />

zum Feldzug gegen ihn mit der sog.<br />

Bekenntnisbewegung „Kein anderes<br />

Evangelium“ bliesen. Käsemann hat das<br />

nie dazu veranlasst, seinem eigenen<br />

Pietismus abzusagen oder dem weltweiten<br />

Pietismus seinen Respekt zu verweigern.<br />

Von einem Mann wie Max<br />

Fischer, dem Leiter der Bahnauer<br />

Bruderschaft, sprach er mit großer<br />

Achtung.<br />

Käsemann wusste stets, dass <strong>Kirche</strong><br />

mehr ist als eine Konfession. Dass er<br />

Lutheraner war, wurde ihm angesichts<br />

der weltweiten Christenheit zunehmend<br />

bedeutungsloser. Als er aber 1963<br />

beim Weltkongress Faith and Order in<br />

Montreal über Einheit und Verschiedenheit<br />

der <strong>Kirche</strong> im Neuen Testament<br />

referierte, weckte er bei den meisten<br />

Teilnehmern und insbesondere der<br />

Genfer Leitung heftigen Verdruss, weil<br />

er die These vertrat, dass das Neue<br />

Testament keineswegs die Einheit der<br />

<strong>Kirche</strong>n begründet, sondern die Grundlage<br />

konfessioneller Vielfalt ist. Käsemanns<br />

Engagement für die weltweite<br />

Ökumene wurde durch diese Verstimmung<br />

nicht gemindert.<br />

Am Ende der 60er Jahre erhoffte<br />

Käsemann sich viel von der Rebellion<br />

der jungen Generation. Dass der<br />

Aufstand der Söhne gegen die Väter<br />

1967/68 auch ihm geholfen hat, klarer<br />

zu sehen, wo die teuflischen Dämonen<br />

und die versklavenden Mächte des<br />

Bösen am Werke sind, konnte er<br />

Seite 20 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


freimütig bekennen. Er blieb nicht<br />

neutral, sondern ergriff Partei für die<br />

Rebellierenden. Das hat ihn nicht davor<br />

bewahrt, aus ihrer Mitte (von der<br />

Basisgruppe Theologie) in einem<br />

Flugblatt als „Partisan Käsemann“,<br />

Fachidiot und Handlanger der <strong>Kirche</strong> im<br />

Spätkapitalismus aufs übelste attackiert<br />

zu werden: „Hauptsache, er und seine<br />

Assistenten verdienen gut.“<br />

1971 wurde Käsemann emeritiert. 1973<br />

erschien die erste Auflage seines<br />

Römerbrief-Kommentars, schon seit<br />

Jahren sehnlichst erwartet, galt Käsemann<br />

doch vielen von uns als kompetentester<br />

Paulus-Exeget unserer Tage:<br />

Die „Rechtfertigung des Gottlosen“ als<br />

paulinische Version des Rufs zur Freiheit<br />

und in die Nachfolge des Gekreuzigten.<br />

Und dann der Römerbrief, den wir in<br />

Seminaren und Vorlesungen immer<br />

wieder mit ihm traktiert hatten! Ich<br />

erinnere mich, dass meine erste Lektüre<br />

des Kommentars mich nicht nur beeindruckte,<br />

sondern auch traurig stimmte:<br />

Das Buch wimmelte von Druckfehlern.<br />

Es wurde offensichtlich, was er selbst im<br />

Vorwort ausgeführt hatte über seine<br />

nachlassenden Kräfte und die vielerlei<br />

Fehler, die demnach in dem Buch zu<br />

erwarten seien. Ich habe das als Ausdruck<br />

zunehmender Vereinsamung<br />

begriffen: War denn da keiner von den<br />

Jüngeren, der ihm Korrektur lesen<br />

konnte?<br />

1977 war ein Jahr, das Käsemann und<br />

seiner Frau schwere Wunden schlug. An<br />

sich hatte es hoffnungsvoll begonnen:<br />

500-jähriges Universitätsjubiläum.<br />

Käsemann hatte die Jahrestagung der<br />

„Studiorum Novi Testamenti Societas“<br />

mit über 200 Teilnehmerinnen und<br />

Teilnehmern nach Tübingen gebracht.<br />

Mit vielen von ihnen war er freundschaftlich<br />

verbunden. Er hatte mit ihnen<br />

schon manchen (wissenschaftlichen)<br />

Strauß ausgetragen. In die Vorbereitungen<br />

hinein platzte die Nachricht, dass<br />

Käsemanns Tochter Elisabeth, in<br />

Argentinien engagiert in sozialen<br />

Projekten, vermisst wurde. Im Juni<br />

dämmerte die Gewissheit: Von Schergen<br />

der Militärjunta war sie erschossen<br />

worden. Im Herbst, in den wirren und<br />

aufgeregten Zeiten des „deutschen<br />

Herbstes“, beschloss die württembergische<br />

Landessynode, der Tübinger<br />

Studentengemeinde einen Zuschuss für<br />

deren Arbeitskreis „Christen für den<br />

Sozialismus“ zu streichen. Es handelte<br />

sich um einen Betrag von 9.800 DM.<br />

Am Reformationstag verfasste Käsemann<br />

deshalb eine Erklärung, in der er seinen<br />

und seiner Frau <strong>Kirche</strong>naustritt auf das<br />

Jahresende ankündigte.<br />

„Nur eine<br />

unwahrscheinliche<br />

Änderung der<br />

Mehrheit in der am<br />

4. 12. neu zu<br />

wählenden Synode<br />

und eine dann<br />

erfolgende Aufhebung<br />

des gefassten<br />

Beschlusses können<br />

uns von diesem<br />

Schritt zurückhalten.“<br />

Die Synodalwahlen<br />

änderten die<br />

Mehrheiten. Käsemann<br />

und seine<br />

Frau blieben Mitglied<br />

der württembergischenLandeskirche.<br />

Wer ihn in seinen<br />

späteren Jahren traf,<br />

vernahm in seinen<br />

Worten eine zunehmende<br />

Verbitterung,<br />

Enttäuschung über<br />

sein Land und über<br />

seine <strong>Kirche</strong>.<br />

Zunehmende Erstarrung, Ängstlichkeit,<br />

sich ausbreitender Egoismus, die<br />

Herrschaft des Mammons, der tödliche<br />

Streit der Privilegierten gegen die<br />

Ausgebeuteten. „Was sich harmlos als<br />

freie Marktwirtschaft tarnt und alle zu<br />

beglücken verspricht, ist in Wirklichkeit<br />

die Fortsetzung von Imperialismus und<br />

Kolonialismus durch ein kapitalistisches<br />

System.“<br />

Es wurde still um Käsemann. Am 17.<br />

Februar 1998 ist er in der Frühe gestorben.<br />

Auf der Todesanzeige ist Jesaja 26,<br />

13, der Text jener Predigt abgedruckt,<br />

die ihn ins Gefängnis brachte: „Herr,<br />

unser Gott, es herrschen wohl andere<br />

Herren über uns, denn Du. Aber wir<br />

gedenken doch allein Dein und Deines<br />

Namens.“<br />

Vieles von dem, was Käsemann verkörperte<br />

und lehrte, erscheint uns heute<br />

nicht mehr zeitgemäß: Der Professor,<br />

der zu Beginn der Seminarsitzung seine<br />

Pfeife stopft. Die männlich geprägte<br />

Kampfesmetaphorik, autoritär erscheinende<br />

Verhaltensweisen (hinter denen<br />

jedoch immer wieder eine menschliche<br />

Bescheidenheit aufblitzte), und die<br />

zuweilen verbissene Lust am Streit mit<br />

Freund und Feind. Das ist in der<br />

Vergangenheit versunken.<br />

Andererseits scheint mir Käsemann mit<br />

seinen prophetischen Zeitansagen noch<br />

gar nicht in unserer <strong>Kirche</strong> angekommen<br />

zu sein. So gesehen war er seiner<br />

Zeit und unserer <strong>Kirche</strong> voraus: Dass die<br />

Christenheit nicht länger vom weißen<br />

Manne und dem Provinzialismus von<br />

Kirchtümern bestimmt sein kann, dass<br />

die Verflochtenheit von <strong>Kirche</strong> und<br />

Bourgeoisie sich lösen wird, dass von<br />

unseren Traditionen in der nächsten<br />

Generation mehr über Bord gehen wird,<br />

„als selbst christlichen Rebellen bei uns<br />

lieb ist“, dass Gott Mammon seine<br />

teuflische Herrschaft weltweit, global, –<br />

und auch in der <strong>Kirche</strong> – perfektioniert<br />

und zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit<br />

schafft, dass dämonische Mächte<br />

den Weltlauf bestimmen und dass aus<br />

allen diesen Gründen Widerstand<br />

geboten ist, radikaler Widerstand im<br />

Gehorsam gegenüber dem ersten Gebot<br />

und in der Nachfolge des gekreuzigten<br />

Nazareners – diese Erkenntnis hat ihre<br />

Zukunft noch vor sich.<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Dr. Klaus W. Müller ist Direktor des<br />

Pfarrseminars der der Evangelischen<br />

Landeskirche in <strong>Württemberg</strong><br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 21


Erwachsenenbildung<br />

Glaube braucht Bildung –<br />

Gesellschaft und <strong>Kirche</strong> auch<br />

Diese Entstehungsgeschichte der<br />

Stuttgarter Vesperkirche ist beispielhaft<br />

für die Arbeit Evangelischer Erwachsenen-<br />

und Familienbildung. Viele Menschen<br />

sind heute unzufrieden mit ihrem<br />

Leben. Kirchliche Bildungsarbeit bietet<br />

ihnen einen Ort um nachzudenken, wie<br />

sie eigentlich leben wollen – und was<br />

sie selbst dafür tun können, Orte, an<br />

denen Menschen sich orientieren, sich<br />

über gesellschaftliche und religiöse<br />

Fragen austauschen und Kompetenzen<br />

erwerben. Mit ihren Häusern der<br />

Begegnung, Bildungswerken, Stadtakademien<br />

und Familienbildungsstätten<br />

erreicht Kirchliche Bildungsarbeit in<br />

Baden-<strong>Württemberg</strong> etwa zwei Millionen<br />

Menschen im Jahr. Damit ist die<br />

Erwachsenen- und Familienbildung der<br />

Badischen wie der <strong>Württemberg</strong>ischen<br />

Landeskirche, der beiden Diözesen<br />

Rottenburg-Stuttgart und Freiburg sowie<br />

der Evangelisch-methodistischen <strong>Kirche</strong><br />

gemeinsam in etwa so stark wie die der<br />

Volkshochschulen im Land. Dabei<br />

ergänzen die Angebote der kirchlichen<br />

Erwachsenen- und Familienbildung und<br />

die Programmatik der Volkshochschulen<br />

einander in einer Weise, dass es zwischen<br />

den Angeboten dieser beiden<br />

großen Träger der Weiterbildung nur zu<br />

geringen Überschneidungen kommt.<br />

Eine solche Arbeit muss natürlich auch<br />

finanziert werden. Kirchliche Bildungsarbeit<br />

steht finanziell auf drei Beinen:<br />

Bis zu 50 Prozent der Kosten tragen die<br />

Teilnehmenden selbst. In ähnlicher<br />

Höhe liegt der Beitrag der jeweiligen<br />

Träger. Dabei ist der Finanzierungsanteil<br />

der <strong>Kirche</strong>nbezirke und -gemeinden an<br />

den einzelnen Familienbildungsstätten<br />

und Bildungswerken von Ort zu Ort<br />

sehr unterschiedlich; die meisten<br />

Familienbildungsstätten etwa sind nur<br />

Birgit Rommeli<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Jedes Jahr von Januar bis Palmsonntag erhalten täglich bis zu 900 Menschen in<br />

der Stuttgarter Leonhardtskirche eine warme Mahlzeit. Über 800 Frauen und<br />

Männer arbeiten ehrenamtlich mit – Tendenz steigend. Seitdem 1995 zum<br />

ersten Mal die „Vesperkirche“ ihre Tore öffnete, hat sie im ganzen Land<br />

politische Anerkennung und vielerorts Nachahmung gefunden. Die Idee zu<br />

diesem diakonischen Projekt erwuchs – und das ist weniger bekannt – aus<br />

einer Veranstaltung der Evangelischen Erwachsenenbildung heraus, die sich<br />

mit versteckter Armut beschäftigte.<br />

zu einem geringen Anteil kirchlich<br />

finanziert. An dritter Stelle fördert auch<br />

das Land die Weiterbildung durch<br />

Personalkostenzuschüsse; damit kommt<br />

es seinem Auftrag nach, wie er in der<br />

Landesverfassung festgeschrieben ist.<br />

Doch der Anteil der Landesförderung<br />

liegt zur Zeit nur noch bei rund elf<br />

Prozent, Tendenz sinkend. In absoluten<br />

Zahlen ausgedrückt: Das Land fördert<br />

die gesamte öffentliche Weiterbildung<br />

mit etwa 13 Millionen Euro pro Jahr –<br />

das ist ungefähr der Betrag, den ein<br />

Gymnasium mittlerer Größe jährlich<br />

erhält.<br />

Dieser Betrag wurde im Juli für das<br />

laufende Haushaltsjahr <strong>2006</strong> ohne<br />

Vorankündigung um zehn Prozent<br />

gekürzt. Das Land gefährdet dadurch die<br />

Partnerschaft mit den <strong>Kirche</strong>n und<br />

Kommunen als den beiden großen<br />

Trägern der Weiterbildung. Das Ja des<br />

Landes zur Subsidiarität in der Weiterbildung<br />

wird durch dieses Vorgehen<br />

wertlos. Und es ist gewiss kein Beitrag<br />

zur Generationengerechtigkeit, wie<br />

immer wieder behauptet, wenn durch<br />

überproportionale Kürzungen im<br />

Bildungsbereich im Interesse der<br />

Haushaltskonsolidierung heute ein<br />

funktionierendes Netz von Bildungseinrichtungen<br />

zerstört wird, das für<br />

kommende Generationen morgen<br />

unwiderruflich dahin ist.<br />

Denn insbesondere für die Familienbildungsstätten<br />

sind die Kürzungen<br />

verheerend. Sie wissen alle: Auf einem<br />

Hocker mit drei Beinen kann man noch<br />

stabil sitzen; wenn jedoch ein Bein<br />

wegbricht, ist es mit dem Hocker vorbei.<br />

Wegen des Rückgangs der Förderung<br />

pro Unterrichtseinheit in den letzten<br />

zehn Jahren um 35 Prozent, in den<br />

letzten 15 Jahren sogar um 44 Prozent,<br />

haben die Weiterbildungseinrichtungen<br />

bereits jeglichen Spielraum ausgeschöpft.<br />

Die Einrichtungen sind in ihrer Existenz<br />

bedroht.<br />

Diese Bedrohung muss abgewendet<br />

werden, und zwar aus drei Gründen:<br />

Evangelischer Glaube braucht<br />

Bildung.<br />

Evangelische Erwachsenen- und Familienbildung<br />

zeigt ihr evangelisches Profil,<br />

indem sie die Suche von Menschen<br />

nach einem persönlichen, verständigen<br />

und urteilsfähigen Glauben fördert.<br />

Unsere Gesellschaft braucht Bildung.<br />

Evangelische Erwachsenen- und Familienbildung<br />

zeigt ihr evangelisches Profil,<br />

indem sie ihrer gesellschaftlichen<br />

Bildungsmitverantwortung nicht<br />

ausweicht.<br />

Eine lernende <strong>Kirche</strong> braucht<br />

Bildung.<br />

Evangelische Erwachsenen- und Familienbildung<br />

zeigt ihr evangelisches Profil,<br />

indem sie dazu beiträgt, dass die<br />

ehrenamtliche Mitarbeit in <strong>Kirche</strong> und<br />

Gesellschaft zum Gewinn für Engagierte,<br />

<strong>Kirche</strong> und Gesellschaft wird<br />

Angesichts der Kürzungen des Landes<br />

geht es heute vor allem darum, die<br />

gesellschaftliche Bedeutung der Weiterbildung<br />

zu unterstreichen:<br />

☛ Familien brauchen Bildung, und sie<br />

muss bezahlbar sein: Bildungspolitik ist<br />

Sozialpolitik. Schon jetzt werden immer<br />

weitere Kreise der Bevölkerung faktisch<br />

durch hohe Teilnahmegebühren von der<br />

Weiterbildung ausgeschlossen.<br />

☛ Die Frage, wie wir – nicht nur in<br />

Stuttgart – unsere Stadt und unsere<br />

Seite 22 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>


Gesellschaft lebenswert gestalten<br />

wollen, braucht einen Ort. Bildungspolitik<br />

ist Förderung bürgerschaftlichen<br />

Engagements.<br />

☛ Der Bedarf an Verständigung über<br />

gemeinsame Wertvorstellungen und an<br />

Kommunikation zur Verringerung<br />

gesellschaftlicher Unterschiede wächst.<br />

Kirchliche Erwachsenenbildung ist ein<br />

Feld gesellschaftlichen Handelns, in dem<br />

Menschen in vielfältiger Weise angeregt<br />

werden, sich mit Werten auseinanderzusetzen<br />

und sie zu leben.<br />

☛ Das breite kirchliche Bildungsan-<br />

Sie hat im September 2004 an einer<br />

Indien-Tagung in der Evangelischen<br />

Akademie Bad Boll teilgenommen und<br />

dort die Gewalt an Dalitfrauen angeprangert.<br />

Ihre Worte haben nichts von<br />

ihrer Aktualität verloren. Sie sagte u.a.:<br />

„Dalit-Frauen müssen Tag für Tag um<br />

ihre Existenz, für ihr Überleben und für<br />

Gerechtigkeit kämpfen. Die alltägliche<br />

Diskriminierung ist gespickt mit körperlicher<br />

Gewalt gegen ihre Person als auch<br />

mit Vernichtung von Eigentum und<br />

Ressourcen. Die Prinzipien von Reinheit<br />

und Unreinheit lassen gar keinen Raum<br />

dafür, dass ihr Status sich ändern<br />

könnte. Daher wird jeder Ansatz von<br />

Dalit-Frauen, das System in Frage zu<br />

stellen oder etwas an ihrer Lebenssituation<br />

zu ändern, mit körperlicher<br />

Gewalt, Vergewaltigung, Beschimpfung<br />

als Hexen und Mordbezichtigungen<br />

vergolten. Ganze Gemeinschaften<br />

werden bestraft, indem man ihre Häuser<br />

niederbrennt, Wertsachen, die Ernte<br />

und alles Eigentum vernichtet.<br />

Die Krux im Kampf der Dalit-Frauen<br />

ums Überleben wurzelt darin, dass sie<br />

am untersten Ende der Kasten-Hierarchie<br />

stehen. Gemäß den jüngsten<br />

Zahlen, die dem Parlament von der<br />

staatlichen Kommission für die Scheduled<br />

Castes and Scheduled Tribes<br />

präsentiert wurden, gab es im Jahr<br />

2000, das ist das letzte Jahr für das<br />

Zahlen vorliegen, 23.742 Fälle von<br />

Gräueltaten (einschließlich 1.034<br />

Vergewaltigungen). Dalit-Frauen sind<br />

schätzungsweise die Hauptopfer in fast<br />

75 Prozent dieser Fälle. Der Bundesstaat<br />

Uttar Pradesh führt die Zahl der Fälle,<br />

gebot, auch in kleineren Kommunen,<br />

lebt vom Engagement der vielen<br />

Ehrenamtlichen dank der kontinuierlichen<br />

Begleitung und Weiterbildung<br />

durch die hauptamtlichen Kräfte in der<br />

Erwachsenenbildung. Nur so können<br />

Aktualität und Seriosität der Bildungsangebote<br />

auch künftig gewährleistet<br />

werden.<br />

☛ Unser Land braucht qualitativ gute<br />

öffentliche Weiterbildung, wenn<br />

lebenslanges Lernen für alle nicht zum<br />

Schlagwort verkommen soll. Bildung ist<br />

Zukunft.<br />

Alternativer Nobelpreis<br />

Die indische Sozialaktivistin Ruth Manorama wird mit dem „Right Livelihood<br />

Award <strong>2006</strong>“ geehrt. Meist wird dieser Preis auch als „Alternativer Nobelpreis“<br />

bezeichnet.<br />

die unter dem Gesetz von 1989 zur<br />

Verhütung von Gräueltaten Scheduled<br />

Castes/Scheduled Tribes registriert<br />

wurden, an, gefolgt von Rajasthan,<br />

Madhya Pradesh, Andhra Pradesh,<br />

Tamil Nadu, Karnataka, Gujarat und<br />

Bihar.<br />

Gewalt stellt daher den Kern der<br />

gender-bezogenen Ungleichheiten dar,<br />

die verursacht, verstärkt und ermöglicht<br />

werden durch die Kasten-Diskriminierung,<br />

die als entscheidender sozialer<br />

Mechanismus dient, damit die Dalit-<br />

Frauen den Männern gegenüber,<br />

besonders gegenüber Männern der<br />

herrschenden Kasten, in untergeordneter<br />

Position bleiben. Frauen werden von<br />

mehreren Männern vergewaltigt, zur<br />

Prostitution gezwungen, nackt ausgezogen,<br />

nackt vorgeführt, und sogar<br />

gezwungen, Exkremente zu essen und<br />

sogar völlig schuldlos ermordet. (Gemäß<br />

UN Sonder-Bericht über Gewalt gegen<br />

Frauen – E/CN.4/2002/83 vom 31.<br />

Januar 2002). Sie sind Opfer von<br />

schlimmsten Formen der Erniedrigung.<br />

So müssen sie mit bloßen Händen<br />

menschliche Exkremente beseitigen,<br />

und die Praxis des Devadasi-Systems<br />

Die Unterschriftenaktion der Kirchlichen<br />

Erwachsenenbildung in Baden-<strong>Württemberg</strong>,<br />

die wir zeitgleich mit den Volkshochschulen<br />

in diesen Tagen durchführen,<br />

unterstreicht unsere Forderungen.<br />

Gesellschaft braucht Bildung, ebenso<br />

wie <strong>Kirche</strong> und evangelischer Glaube<br />

auf Bildung angewiesen sind. Darum<br />

machen wir weiter.<br />

○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />

Pfarrerin Dr. Birgit Rommel ist<br />

Pfarrerin an der Landesstelle der<br />

Evangelische Erwachsenen- und<br />

Familienbildung in <strong>Württemberg</strong><br />

(EAEW)<br />

wird den Dalit-Frauen in manchen<br />

Gegenden Indiens immer noch aufgezwungen.<br />

Dalit-Frauen als Latrinen-Frauen<br />

(Latrinen-Reinigerinnen)<br />

Tausende Frauen sind gezwungen, ihren<br />

Lebensunterhalt auf diese Art und Weise<br />

zu verdienen. Das bedeutet, sie putzen<br />

Latrinen von Hand und tragen die<br />

Exkremente in Körben, die sie auf ihren<br />

Köpfen tragen, nach draußen – was von<br />

dieser diskreten Gesellschaft mit<br />

„Nacht-Schmutz“ bezeichnet wird. Die<br />

Frauen benutzen sogenannte „Parethas“,<br />

Metallpfannen, mit denen sie den<br />

Nacht-Schmutz mit Hilfe von kurzen<br />

Besen aufsammeln. Jeder Haushalt zahlt<br />

monatlich fünf Rupien, und einen Roti<br />

täglich. Diese Arbeit tötet ihre Würde,<br />

aber zugleich glauben sie, dass sie<br />

ruiniert wären, wenn sie diese Arbeit<br />

nicht hätten. Sie würden gern vom Staat<br />

rehabilitiert werden. Sie glauben aber<br />

nicht, dass er etwas für sie tun wird.<br />

(The Hindu)<br />

Das Devadasi-System: Prostitution<br />

im Namen der Religion:<br />

Im Namen der Religion werden Tausende<br />

von unberührbaren Mädchen<br />

zwischen sechs und acht Jahren gezwungen,<br />

„Mädchen Gottes“ zu<br />

werden, das heißt ritualisierte Prostitution<br />

in Tempeln. Wenn sie einmal<br />

„auserwählt“ worden sind, dürfen die<br />

Mädchen nicht heiraten und sie werden<br />

von den Tempel-Priestern und Männern<br />

höherer Kasten vergewaltigt, gelegentlich<br />

insgeheim in städtische Bordelle<br />

verkauft, und schließlich sterben sie an<br />

AIDS. Von den Nichtregierungsorganisationen<br />

wird geschätzt, dass jährlich<br />

5.000 bis 15.000 Mädchen heimlich<br />

versteigert werden.“<br />

Wolfgang Wagner<br />

Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />

Seite 23


Die<br />

verbleibende<br />

Armut<br />

Postvertriebsstück G 14495 Entgeld bezahlt<br />

Absender: Reiner Stoll-Wähling, Ilsfelder Straße 9, 70435 Stuttgart<br />

Manchmal werde ich verleugnet, verdrängt, manchmal auch versteckt.<br />

Verzogen, verachtet, viele wollen einfach, dass ich verderbe.<br />

Andere wollen mich verkleinern, sogar vergrößern, viele andere mich<br />

verkleiden. Ich weiß, ich bin verflucht, verblendet, verdächtig.<br />

Aber mich zu verbergen, wäre ein verfahren, Verfehlen.<br />

Während ihr euch versammelt, um mich zu verdammen, um mich zu<br />

verbannen, bin ich verankert, in dieser Welt verbreitet.<br />

Während die Regierungen der ganzen Welt nur versprechen,<br />

dass sie mich verhindern wollen, lasse ich viele verarmen, verhungern,<br />

versterben. Das ist keine Vermutung, dass die Menschen ihren Mut<br />

verlieren und ihn danach vermissen. Das ist nur ihr Verlust, ihre Verwüstung,<br />

die sie nie verewigen wollen. Das ist auch keine Verzweiflung, dass<br />

sie nicht mehr der Regierung vertrauen können. Das ist nur Verhandlung<br />

aus Verpflichtung, manchmal ohne Versorgung. Ich möchte nicht verkennen,<br />

aber ich lasse mich auch nicht verkaufen nicht vereinfachen.<br />

Wenn viele vor mir die Augen verschließen und verschlafen, dann verpassen<br />

sie die Zeit, um den Menschen zu verhelfen, die Situation zu<br />

verändern, die Welt zu verbessern. Es lohnt sich einfach nicht, mich zu<br />

verstehen, euch zu verteidigen, ein Ziel zu verfolgen. Es lohnt sich<br />

einfach nicht, das Brot zu verteilen, Aktionen zu verehren, sich richtig zu<br />

verhalten. Dass ich vergehe, wäre es einen Traum zu verwirklichen, alles<br />

was ich verdiene. Aber ich verunsichere euch so, dass ihr euch nur in<br />

euren Versicherungen versichert fühlt. Ich lasse mich nicht versumpfen,<br />

aber verurteile die, die mich verursachen, weil sie mehr und mehr verlangen<br />

und ihr eigenes Verhängnis unbewusst vernachlässigen. Und Ich?<br />

Ich verschwinde noch nicht, weil ich weiß, vor wem ich mich verbeuge.<br />

Ihr könnet mich nicht verlöschen, ich bin nicht verletzbar wie ihr, auch<br />

nicht verträumt.<br />

Ja, ich bleibe als Zeichen eurer Verantwortung in dieser Welt, „weil die<br />

Armen allezeit bei euch sein werden“. 1<br />

Ja, ich bleibe als Verwarnung eurer Verkündigung für diese Welt.<br />

Ja, ich bleibe als Krone eurer Verweltlichung.<br />

Ja, ich bleibe als Zeichen gegen eure Versuchung, immer mehr haben zu<br />

wollen.<br />

Ja, ich bleibe als Zeichen eurer Versöhnung mit Gott, „denn Jesus, obwohl<br />

er reich ist, wurde er doch arm und erfuhr die Verspottung und die Verwünschung<br />

um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet“. 2<br />

Ja, ich bleibe als Zeichen der Verborgenheit Gottes.<br />

Ja, ich weiß, das geht über euren Verstand, eure Vernunft.<br />

Trotzdem bleibe ich auch als eure Verheißung, weil der Gott, der mich als<br />

sein Gnadenzeichen verwendet, sagt zu euch: „Ich verlasse die Armen<br />

nicht“. 3<br />

Vergiss es nicht: Demselben Gott verdankt ihr eure Vergebung.<br />

Er gibt euch Kraft und verstärkt euren Mut.<br />

Ihr jedoch bleibt als Bettler in vertiefender Demut.<br />

Und ich? Ja, ich bleibe mit euch als verbleibende Armut.<br />

1 5. Mose 15,11<br />

2 2. Kor 8,9<br />

3 Ps 10,12; 40,18<br />

Roger Marcel Wanke, Jena, Juli <strong>2006</strong>,<br />

ist brasilianischer Theologiestudent<br />

Impressum<br />

Die Zeitschrift OFFENE KIRCHE wird herausgegeben<br />

vom Leitungskreis der OFFENEN KIRCHE:<br />

Vorsitzende:<br />

und OK-Vorsitzende Pfrin. Kathinka Kaden,<br />

Studienleiterin,<br />

Am Bronnenbühl 2, 73337 Oberböhringen<br />

Tel. (0 73 31) 44 18-14, Fax (0 73 31) 44 18-13<br />

Kontakt: Vorsitzende@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />

Stellvertretender Vorsitzender:<br />

Rainer Weitzel, Berater, Remppisstr. 8<br />

70599 Stuttgart, Tel. (07 11) 7 19 63 06<br />

Kontakt: St.Vorsitzender@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />

Weitere Leitungskreismitglieder:<br />

Albrecht Bregenzer, Frickenhausen<br />

Kontakt: Albrecht.Bregenzer@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />

Cornelia Brox, Krankenschwester, Lenningen, MdLs<br />

Kontakt: Cornelia.Brox@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />

Renate Lück, Journalistin, Sindelfingen<br />

Kontakt: Renate.Lueck@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />

Dr. Martin Plümicke, Dozent, Reutlingen<br />

Kontakt: Martin.Plümicke@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />

Reiner Stoll-Wähling, Volkswirt (FH), Stuttgart<br />

Rechner: und Geschäftsstelle<br />

gleichzeitig Bestelladresse der OFFENEN KIRCHE<br />

Reiner Stoll-Wähling,<br />

Ilsfelder Straße 9, 70435 Stuttgart<br />

Tel.: (07 11) 5 49 72 11, Fax: 3 65 93 29<br />

Kontakt: Geschaeftsstelle@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />

Konten :<br />

Kreissparkasse Ulm, Nr. 1661 479 (BLZ 630 500 00)<br />

Postgiro Stuttgart Nr. 1838 50-703 (BLZ 600 100 70)<br />

Redaktionskreis:<br />

V.i.S.d.P.: Renate Lück, Journalistin, Sindelfingen<br />

Friedrich-Ebert-Straße 17/042<br />

Hans-Peter Krüger, Pfarrer und Kommunikationswirt<br />

Jan Dreher-Heller, Theologe und Kommunikationswirt,<br />

Reutlingen<br />

Die Zeitschrift OFFENE KIRCHE erscheint nach<br />

Bedarf, aber mindestens viermal im Jahr. Für<br />

Mitglieder der OFFENEN KIRCHE ist das<br />

Bezugsgeld im Mitgliedsbeitrag eingeschlossen. Alle<br />

anderen BezieherInnen bezahlen jährlich 15 Euro.<br />

Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die<br />

Meinung des/der VerfasserIn wieder und stellen<br />

nicht unbedingt die Meinung der HerausgeberInnen<br />

oder der Redaktion dar.<br />

Anzeigen, Gestaltung, Herstellung: SAGRAL –<br />

Satz, Grafik, Layout – Kommunikationsagentur im<br />

Bereich der <strong>Kirche</strong>n, Reutlingen<br />

Kontakt: SAGRAL@t-online.de<br />

Druck: Grafische Werkstätte der<br />

BruderhausDiakonie, Reutlingen<br />

Versand: Behinderten-Zentrum (BHZ), Stuttgart-<br />

Fasanenhof<br />

Quellennachweis: Seiten 1, 3, 6, 7, 9, 10, 11, 12,<br />

13, 14: Lück; Seiten 17, 18, 19, 22: privat; Seite 4:<br />

Hermann Rösch<br />

Wir bitten ausdrücklich um Zusendung<br />

von Manuskripten, Diskussionsbeiträgen,<br />

Informationen,<br />

Anregungen und LeserInnenbriefen.<br />

Die Redaktion behält sich das<br />

Recht der Kürzung vor.<br />

Redaktionsadresse:<br />

Redaktion@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />

Mittnachtstr. 211<br />

72760 Reutlingen<br />

Fax: (0 71 21) 50 60 18<br />

Seite 24 OFFENE KIRCHE<br />

Nr. 4, November <strong>2006</strong>

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