Heft 4/2006 - Offene Kirche Württemberg
Heft 4/2006 - Offene Kirche Württemberg
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OFFENE KIRCHE<br />
Evang. Vereinigung<br />
in <strong>Württemberg</strong><br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
○<br />
Aus dem Inhalt:<br />
Tarifrecht<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Jugendarbeit<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Asylrecht<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Nr. 4<br />
November<br />
<strong>2006</strong><br />
Aufruf an die <strong>Kirche</strong>n aller Konfessionen in unserem Land<br />
Erinnerung und Umkehr – Für einen offiziellen<br />
kirchlichen Gedenktag am 9. November<br />
Mit dem Angriff auf die Juden, ihre<br />
Synagogen, ihre heiligen Schriften<br />
und ihr wirtschaftliches und soziales<br />
Leben am 9. November 1938<br />
offenbarte das Naziregime das Ziel,<br />
mit dem jüdischen Volk auch die<br />
Erinnerung und den Glauben an den<br />
Gott Israels auszulöschen.<br />
Die <strong>Kirche</strong>n ließen diese Verbrechen an<br />
den Juden in mutlosem Schweigen<br />
geschehen. Einzelne Christen, die den<br />
Weg des Martyriums gingen, konnten<br />
sich auf die Unterstützung ihrer <strong>Kirche</strong><br />
nicht verlassen. Zu tief verwurzelt<br />
waren im europäischen Christentum<br />
Ablehnung und Ausgrenzung der Juden.<br />
Zweitausend Jahre christliche Judenfeindschaft<br />
machten gefühllos gegenüber<br />
dem staatlich propagierten Judenhass<br />
und der organisierten Vernichtung. Für<br />
die NS-Führung war der Novemberpogrom<br />
der Test, der ihr zeigte, dass sie bei<br />
der Judenverfolgung nun freie Hand<br />
haben würde.<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Die<br />
Tübinger<br />
Synagoge<br />
brennt<br />
Obwohl Christen den Juden Jesus als<br />
Herrn bekennen, wuchs in den <strong>Kirche</strong>n<br />
nach dem Zweiten Weltkrieg nur<br />
zögernd die Erkenntnis der Mitschuld<br />
am Schicksal der Brüder und Schwestern<br />
Jesu. Zunächst gingen nur wenige<br />
den Weg der Erinnerung und Umkehr<br />
voran, auf dem dann Synoden und<br />
Denkmal für die ermordeten<br />
Juden Europas, Berlin<br />
<strong>Kirche</strong>nleitungen folgten. Die Erneuerung<br />
des Verhältnisses von Christen und<br />
Juden aus ihrer gemeinsamen Wurzel<br />
(Römer 11) ist uns bleibende Verpflichtung.<br />
Darum sind Erinnerung und<br />
Umkehr auch künftig vordringliche und<br />
andauernde Aufgaben aller Christen.<br />
Erinnerung braucht einen festen Ort<br />
in der Zeit.<br />
Am 9. November 2008 jährt sich die<br />
Reichspogromnacht zum 70. Mal.<br />
Wir rufen die <strong>Kirche</strong>n in unserem Land<br />
auf, bis zum Jahr 2008 den 9. November<br />
als offiziellen kirchlichen Gedenktag,<br />
als TAG DER ERINNERUNG UND<br />
UMKEHR einzuführen.<br />
Wir brauchen ein gemeinsames<br />
Zeichen<br />
– diesen gemeinsamen Tag – um unsere<br />
Erinnerung an den christlichen Irrweg<br />
der Judenfeindschaft, unseren Schmerz<br />
über das Versagen der <strong>Kirche</strong>n, unsere<br />
Trauer über die Vernichtung der Juden<br />
Europas und unsere Verbundenheit mit<br />
dem jüdischen Volk zum Ausdruck zu<br />
bringen.<br />
Tübingen, den 7. September 2005<br />
Arbeitskreis „Begegnung mit der<br />
jüdischen Gemeinde Petrosawodsk“ in<br />
der Evangelischen Dietrich-Bonhoeffer-<br />
<strong>Kirche</strong>ngemeinde Tübingen<br />
Pfarrer Dankwart Paul Zeller,<br />
Pfarrer Dr. Michael Volkmann<br />
Berliner Ring 12/2, 72076 Tübingen<br />
www.bonhoeffer-gemeinde.de<br />
www.<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong> Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> .de , E -mail: Redaktion@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong> OFFENE KIRCHE .de, Internetredaktion@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong> Seite .de 1
Erläuterungen der Initiatoren<br />
zum Aufruf „Erinnerung und Umkehr“<br />
Der 9. November gehört als Gedenktag<br />
in den Kalender des <strong>Kirche</strong>njahres. Die<br />
<strong>Kirche</strong> gedenkt der Ereignisse des 9.<br />
Novembers 1938 und des christlichen<br />
Irrwegs der Judenfeindschaft. Christen<br />
sind als Mittäter und Zuschauer mitschuldig<br />
geworden an der Vernichtung<br />
der Juden Europas. Die <strong>Kirche</strong> als ganze<br />
hatte die Verwerfung der Juden gelehrt<br />
und ihnen das Recht als Juden zu leben<br />
abgesprochen, lange bevor ihnen die<br />
Nationalsozialisten das Recht auf Leben<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Editorial<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
◆ ◆ die Globalisierung ist um uns und<br />
über uns und manche können das Wort<br />
nicht mehr hören, weil es für sie Gefahr<br />
bedeutet – Gefahr, den Arbeitsplatz zu<br />
verlieren und in die Armut abzurutschen.<br />
Angestellte von intakten Firmen,<br />
die von Konzernen zerschlagen werden<br />
und deren Abteilungen in Billiglohnländer<br />
umgesiedelt werden, zum<br />
Beispiel. Aber auch Mitarbeiterinnen –<br />
es sind meist Frauen – von Sozialstationen<br />
und anderen Einrichtungen<br />
von Caritas und Diakonischem Werk<br />
wissen oft nicht mehr, wie sie die Miete<br />
bezahlen sollen. Denn statt dass die<br />
beiden großen Arbeitgeber gemeinsam<br />
gegen den Trend vorgehen, werden sie<br />
oft zu Vorreitern bei der Prekarisierung<br />
der Arbeitsplätze.<br />
◆ ◆ Gret Haller und Richard Ziegert<br />
machten uns auf der Jahresversammlung<br />
noch auf eine andere Form der Globalisierung<br />
aufmerksam – die der kulturellen<br />
und religiösen Überschwemmung<br />
durch Religionsfirmen aus den USA, wie<br />
Pro Christ, Jesus House und Willow<br />
Creek. Sie versuchen, über Freikirchen<br />
und die Evangelische Allianz in die<br />
europäischen Strukturen – die ACK<br />
etwa – einzudringen, haben mit Ökumene<br />
allerdings wenig am Hut. Ein Zeitungsartikel<br />
machte mich noch auf eine<br />
andere Aktion aufmerksam: „Wie schon<br />
im letzten Jahr, findet auch dieses Jahr<br />
wieder die Aktion ‘Weihnachten im<br />
Schuhkarton’ im gesamten Landkreis<br />
statt. Die Aktion soll ein Zeichen der<br />
Hoffnung sein“, stand da. Päckchen für<br />
arme Waisenkinder in Kriegs- und<br />
Krisengebieten – wer wollte da nicht<br />
packen? „Im Gegensatz zu anderen<br />
schlechthin entzogen. Die <strong>Kirche</strong> muss<br />
erkennen, dass der Völkermord an den<br />
Juden ein Angriff auf die Erwählten und<br />
Geliebten Gottes und damit auch auf die<br />
Wurzeln des christlichen Glaubens war.<br />
Im Folgenden wird auf drei Fragen<br />
eingegangen, die im Zusammenhang mit<br />
dieser Aktion immer wieder gestellt<br />
werden:<br />
1Gibt es nicht schon zu viele<br />
Gedenktage?<br />
Es gibt viele Gedenktage, die von<br />
den unterschiedlichsten Organisationen<br />
und Gruppen begangen werden. Neue<br />
Hilfsorganisationen suchen wir uns<br />
immer die Länder aus, in denen es<br />
extrem notwendig ist zu helfen.“ Es<br />
stand aber nicht dabei, wer „wir“ ist.<br />
Erst wenn man im Internet sucht, stellt<br />
sich heraus, dass der Träger „Geschenke<br />
der Hoffnung“ ein Missionswerk ist, das<br />
mit der Evangelischen Allianz zusammenarbeitet<br />
und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft<br />
Evangelikaler Missionen und<br />
des Rings Missionarischer Jugendbewegungen<br />
ist. Vor Ort (von den 13<br />
Ländern liegen 12 in Europa) wird dem<br />
Schuhkarton ein <strong>Heft</strong> mit biblischen<br />
Geschichten beigelegt.<br />
Da sind mir Projekte auf Augenhöhe,<br />
wie die Partnerschaft zwischen dem<br />
<strong>Kirche</strong>nbezirk Aalen und Akyem<br />
Abuakwa in Ghana oder die Mango-<br />
Aktion zwischen der Evangelischen<br />
<strong>Kirche</strong>nföderation von Burkina Faso und<br />
dem <strong>Kirche</strong>nbezirk Böblingen, lieber<br />
und meine Weihnachtsspende gebe ich<br />
an christliche Profis, die ebenfalls mit<br />
Partnern vor Ort zusammenarbeiten,<br />
nämlich „Brot für die Welt“. Da weiß<br />
ich, dass das Geld wirklich da ankommt,<br />
wo es extrem nötig ist. Ich hoffe nur,<br />
dass nicht viele PfarrerInnen auf die<br />
Idee kommen, dass ihre Gemeinde es<br />
am nötigsten hat.<br />
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete<br />
Weihnachtszeit.<br />
Renate Lück<br />
Gedenktage werden geschaffen, andere,<br />
auch christliche, geraten in Vergessenheit.<br />
Ein Gedenktag lebt davon, dass<br />
Menschen ihn begehen. Am 9. November<br />
wird bereits an vielen Orten des<br />
Pogroms von 1938 gedacht, von<br />
Vereinen, Initiativen, Kommunen,<br />
<strong>Kirche</strong>ngemeinden und besonders auch<br />
von Synagogengemeinden. Wir sind der<br />
Überzeugung, dass die <strong>Kirche</strong>n in<br />
unserem Land diesen Tag nie vergessen<br />
dürfen, weil die Synagogenbrände für<br />
uns Christen theologische Bedeutung<br />
haben. Dietrich Bonhoeffer hat gesagt,<br />
wo Synagogen brennen, brennen bald<br />
auch <strong>Kirche</strong>n. Er sagte dies, weil er in<br />
diesen Angriffen Angriffe auf den Gott<br />
der Bibel erkannte. Darum betrifft uns<br />
dieses Datum als gläubige Christen.<br />
Aber warum haben die <strong>Kirche</strong>n nicht<br />
mitgebrannt? Weil die <strong>Kirche</strong>n als<br />
Institutionen von den Juden weiter weg<br />
waren als von den Nazis, also auch von<br />
ihrem Herrn, der ein Jude ist. Weder in<br />
der Barmer Theologischen Erklärung<br />
von 1934 noch im Stuttgarter Schuldbekenntnis,<br />
als die Evangelische <strong>Kirche</strong><br />
nach dem Krieg bekannte: Durch uns ist<br />
unendliches Leid über viele Länder und<br />
Völker gekommen, sind die Juden oder<br />
die Verbrechen an den Juden erwähnt.<br />
Dran bleiben<br />
Leserbrief<br />
Inhalt<br />
Diakonie<br />
....................................... Seite 4<br />
....................................... Seite 5<br />
Jugendarbeit<br />
Kongress: „Der Jugend Raum geben“<br />
....................................... Seite 6<br />
Interview mit Klaus Sturm<br />
....................................... Seite 7<br />
OFFENE KIRCHE<br />
Jahresversammlung ....................................... Seite 9<br />
Asylpolitik<br />
Glück gehabt (?)<br />
.....................................Seite 14<br />
Bleiberecht<br />
.....................................Seite 15<br />
Dekade gegen Gewalt<br />
<strong>Offene</strong>r Brief<br />
.....................................Seite 16<br />
Atomwaffen sind Verbrechen<br />
.....................................Seite 16<br />
Gerechtigkeit<br />
Partnerschaft auf Augenhöhe<br />
.....................................Seite 17<br />
Meilensteine<br />
Ernst Käsemann .....................................Seite 19<br />
Erwachsenenbildung<br />
Glaube braucht Bildung<br />
.....................................Seite 22<br />
Seite 2 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
„Israelvergessenheit“ war ein<br />
Hauptgrund für christliche Judenfeindschaft.<br />
Wir überwinden sie<br />
nicht durch Vergessen, sondern<br />
durch Gedenken, nicht durch<br />
Schweigen, sondern durch<br />
Sprechen. Diese Aufgabe bleibt<br />
uns dauernd erhalten. Denn nur<br />
wer sich erinnert, weiß, wo er<br />
herkommt und was er künftig<br />
anders machen möchte.<br />
2<br />
In welchem Verhältnis steht<br />
der 9. November zu anderen<br />
Gedenktagen?<br />
Die angesprochenen theologischen<br />
Gründe machen den 9. November zu<br />
einem einzigartigen Gedenktag. Sein<br />
Anliegen kann nur an diesem Tag<br />
besprochen werden. Er ist durch keinen<br />
anderen Gedenktag zu ersetzen. Allein<br />
der 9. November kann zu einem<br />
ökumenischen Gedenktag aller <strong>Kirche</strong>n<br />
werden. Immer wieder wird uns die<br />
Befürchtung entgegengehalten, durch<br />
unsere Initiative werde der Buß- und<br />
Bettag abgewertet. Der Buß- und Bettag<br />
ist ein Feiertag allein der Evangelischen<br />
<strong>Kirche</strong>. Er zielt auf die persönliche und<br />
gesellschaftliche Bereitschaft zur<br />
Selbstprüfung und Buße. An ihm finden<br />
Gottesdienste statt, die Auswahl der<br />
Predigttexte hat keinen Bezug zum<br />
Anliegen des 9. November. Mit seinem<br />
Profil als allgemeiner Bußtag am Ende<br />
des <strong>Kirche</strong>njahres ist er durch einen<br />
Gedenktag 9. November weder gefährdet,<br />
noch kann er das Anliegen des<br />
Gedenkens am 9. November übernehmen.<br />
Die Erinnerung an die Synagogenbrände,<br />
an die Passivität der <strong>Kirche</strong>n<br />
und ihre Ursachen hat ihr eigenes<br />
Gewicht und muss am Jahrestag erfolgen.<br />
Der Bußtag ist Schlusstag der Ökumenischen<br />
Friedensdekade. Auch in der<br />
Friedensdekade und im Bittgottesdienst<br />
für den Frieden kommt das Anliegen des<br />
9. Novembers kaum vor. Sie zielen in<br />
eine andere Richtung, manchmal sogar<br />
in eine israelkritische, ohne auch nur<br />
erwähnt zu haben, wie nahe <strong>Kirche</strong> und<br />
Israel theologisch zusammengehören.<br />
Unserem Aufruf entspricht es, dem 9.<br />
November seinen eigenen Ort am<br />
Beginn bzw. innerhalb der Friedensdekade<br />
zu geben. Der 27. Januar ist von<br />
der UNO zum weltweiten Holocaust-<br />
Gedenktag ausgerufen worden. Bei uns<br />
ist er der Tag zur Erinnerung an alle<br />
Opfer des Nationalsozialismus, nicht<br />
speziell an die jüdischen. An diesem<br />
Denkmal für die ermordeten<br />
Juden Europas, Berlin<br />
Datum wurde das KZ Auschwitz befreit,<br />
tausend Kilometer östlich von hier. Der<br />
9. November fand hingegen an jedem<br />
Ort in Deutschland, wo Juden lebten,<br />
statt, praktisch vor unser aller Haustür.<br />
Darum gibt es auch schon die vielen<br />
örtlichen Initiativen, die diesen Tag<br />
nicht einfach ohne zu gedenken verstreichen<br />
lassen. Auch viele nichtreligiöse<br />
Menschen gedenken der Zerstörung der<br />
jüdischen Gotteshäuser.<br />
Am 10. Sonntag nach Trinitatis, dem<br />
Israelsonntag, thematisiert die Evangelische<br />
<strong>Kirche</strong>, und nur sie, das theologische<br />
Verhältnis von <strong>Kirche</strong> und Volk<br />
Israel und die Treue Gottes zu Israel.<br />
Der Tag liegt in der Regel in den<br />
Sommerferien, schon sein eigentliches<br />
Anliegen kommt mit Mühe zur Geltung.<br />
Er eignet sich daher nicht dafür, auch<br />
noch mit der Erinnerung an die Synagogenbrände<br />
verbunden zu werden. In der<br />
deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts<br />
kam der 9. November mehrmals<br />
zu Bedeutung: 1918 (Revolution), 1923<br />
(Hitler-Putsch), 1938 (November-<br />
Pogrom), 1939 (J. G. Elsers Attentat auf<br />
Hitler), 1989 (Öffnung der Berliner<br />
Mauer). Für die <strong>Kirche</strong>n hat der 9.<br />
November 1938 eine Bedeutung, die<br />
nicht nur aus der Reihe der genannten<br />
Ereignisse herausragt, sondern weit über<br />
das 20. Jahrhundert hinaus nachwirken<br />
wird.<br />
3<br />
Wie soll das Gedenken am 9.<br />
November ausgestaltet werden?<br />
Das Gedenken der schuldig Gewordenen<br />
und ihrer Nachkommen unterscheidet<br />
sich vom Gedenken der Opfer<br />
und ihrer Nachkommen. Es muss<br />
Gewissen treffendes Gedenken sein,<br />
sonst droht die Gefahr, der eigenen<br />
Geschichte auszuweichen, indem man<br />
sich unberechtigt auf die Seite der Opfer<br />
stellt. Darum ist christliches Gedenken<br />
nicht erfüllt durch die Teilnahme an<br />
jüdischen Gedenkveranstaltungen. Die<br />
christliche Schuldgeschichte verlangt ein<br />
eigenes Gedenken der <strong>Kirche</strong>n in<br />
ökumenischer und kommunaler<br />
Kooperation. Nicht nur die<br />
Einzelnen in den nachfolgenden<br />
Generationen, sondern auch die<br />
<strong>Kirche</strong> als Ganze ist Trägerin<br />
des Gedenkens. Orte des<br />
Gedenkens am 9. November<br />
sind Synagogen, <strong>Kirche</strong>n und<br />
Gedenkstätten. Aktivitäten, die<br />
zum Gedenken an den November-Pogrom<br />
von 1938 an<br />
diesem Tag an vielen Orten von den<br />
unterschiedlichsten Gruppen bereits<br />
unternommen werden, sollen in ihrer<br />
Vielfalt gewürdigt und ermutigt werden.<br />
Wir wollen einen Gedenktag, keinen<br />
kirchlichen Feiertag. Besondere Gedenktage,<br />
wie etwa der Tag der Übergabe des<br />
Augsburger Bekenntnisses 1530, stehen<br />
auch jetzt schon im Liturgischen<br />
Kalender im Evangelischen Gesangbuch.<br />
Dort sind ihnen biblische Texte zugeordnet.<br />
Als Text für den 9. November liegt<br />
der 74. Psalm nahe. Das bedeutet nicht,<br />
dass die <strong>Kirche</strong>n an diesem Tag die<br />
Gedenkform eines Gottesdienstes<br />
vorgeben sollten, wir schließen sie aber<br />
auch nicht aus. Vielmehr soll die bereits<br />
bestehende Vielfalt des Gedenkens<br />
gewürdigt und ermutigt werden. In<br />
Tübingen z. B. erscheinen der Stadtrundgang<br />
(Geschichtswerkstatt Tübingen<br />
e. V.), die Feier am Denkmal<br />
Synagogenplatz (Gemeinderat) und die<br />
Gedenkstunde in der Stiftskirche<br />
(Arbeitsgemeinschaft Christlicher<br />
<strong>Kirche</strong>n ACK) nebeneinander auf einem<br />
Plakat. So soll es auch in Zukunft<br />
bleiben. Wir wollen nicht, dass der<br />
kirchliche Gedenktag anderes verdrängt,<br />
dominiert oder vereinheitlicht, sondern<br />
es unterstützt, vor allem auch das<br />
jüdische Gedenken an diesem Tag.<br />
Wir halten einen offiziellen kirchlichen<br />
Gedenktag „Erinnerung und<br />
Umkehr“ am 9. November für eine<br />
Notwendigkeit, deren Zeit jetzt –<br />
zum 70. Jahrestag – gekommen ist.<br />
Unser Aufruf richtet sich an alle<br />
<strong>Kirche</strong>n. Kirchliche Gruppen,<br />
Gemeinden und Gremien, die sich<br />
diesen Aufruf zu eigen machen,<br />
bitten wir, ihn an <strong>Kirche</strong>nleitungen<br />
und Synoden bzw. kirchliche Beschlussgremien<br />
heranzutragen und<br />
uns darüber zu informieren. Synoden<br />
bzw. kirchliche Beschlussgremien<br />
mögen in einen Diskussions-<br />
und Entscheidungsprozess<br />
eintreten und im Lauf des Jahres<br />
2007 zum Beschluss kommen.<br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 3
Diakonie<br />
Dran bleiben am Tarifrecht des<br />
öffentlichen Dienstes oder ab in<br />
die Beliebigkeit?<br />
Die Synode muss entscheiden<br />
Die grundsätzliche Zielsetzung der<br />
AGMAV ist bekannt: Dran bleiben am<br />
Tarifrecht des öffentlichen Dienstes, um<br />
damit die Chance des Erhalts einer<br />
Leitwährung für die soziale Arbeit zu<br />
wahren. Im Laufe der Verhandlungen in<br />
der Arbeitsgruppe der Arbeitsrechtlichen<br />
Kommission wurde deutlich, dass eine<br />
Übernahme des TVöD für die Diakonie<br />
in <strong>Württemberg</strong> trotz der gemeinsamen<br />
Beschlusslage gefährdet ist. Ein offensichtlich<br />
einflussreicher Teil der diakonischen<br />
Arbeitgeber in <strong>Württemberg</strong><br />
lehnt die Übernahme des TVöD ab, da<br />
er die einmalige Chance sieht, sich vom<br />
Tarifrecht des öffentlichen Dienstes zu<br />
verabschieden. Dies stünde der Position<br />
der AGMAV geradezu entgegen.<br />
Diese Arbeitgeber, die stark von den<br />
Positionen ihres Arbeitgeberverbandes<br />
(VdDD) beeinflusst sind argumentieren,<br />
dass man einen „diakoniegemäßen<br />
Flächentarif“ schaffen könne.<br />
Sie sagen allerdings nicht, was<br />
sie darunter verstehen. Aus<br />
Dokumenten und Gesprächen<br />
ist uns die Intention jedoch<br />
bekannt: Bei Anlehnung an<br />
den TVöD droht Ärger mit<br />
den Mitarbeitenden, wenn<br />
man den Tarif absenken<br />
möchte. Der VdDD sieht die<br />
Möglichkeit, jetzt den im<br />
Tarifvertragsrecht schwächeren<br />
Dritten Weg der <strong>Kirche</strong>n<br />
dazu zu nutzen, sich durch<br />
niedrigere Tarife einen<br />
Wettbewerbsvorteil gegenüber<br />
anderen Anbietern der<br />
Uli Maieri<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Die Beschlusslage in der Arbeitsrechtlichen Kommission <strong>Württemberg</strong> ist<br />
eindeutig: Nach Abschluss des reformierten Tarifvertrages im öffentlichen<br />
Dienst (TVöD) und nach dessen Bekanntwerden sollte die Übernahme des<br />
TVöD in die Arbeitsvertragsrichtlinien der <strong>Württemberg</strong>er Diakonie (AVR)<br />
zügig, das heißt innerhalb eines Jahres verhandelt werden. Dieser Beschluss<br />
kam seinerzeit auf Drängen der diakonischen Arbeitgeber zustande. Wir als<br />
AGMAV waren damals eher vorsichtig und argumentierten noch, ob es richtig<br />
sei, „die Katze im Sack zu kaufen“.<br />
sozialen Arbeit zu verschaffen. Dies ist<br />
der wahre Kern, der sich hinter dem<br />
immer wieder vorgebrachte verlogenen<br />
Argument verbirgt, man müsse den<br />
privaten Anbietern etwas entgegensetzen<br />
können.<br />
Da wir unser Ziel – die Übernahme des<br />
TVöD – gefährdet sahen, boten wir im<br />
Laufe der Verhandlungen den Arbeitgebern<br />
eine mögliche Arbeitsrechtsregelung<br />
zur Zukunftssicherung diakonischer<br />
Einrichtungen an. Mit dieser<br />
Regelung wäre es unter bestimmten<br />
Voraussetzungen möglich gewesen, bis<br />
zum Jahre 2015 Eingriffe in die Gehälter<br />
von bis zu 10 Prozent vorzunehmen,<br />
aufgeteilt in direkte Gehaltsabsenkungen<br />
bis zu maximal sechs Prozent und so<br />
genannte Genussrechte – eine Art<br />
Darlehen der Mitarbeitenden an die<br />
Einrichtung aus den Gehältern –<br />
zusammen bis zu 10 Prozent. Die<br />
einrichtungsbezogene Regelung hierzu<br />
hätte jeweils auf betrieblicher Ebene<br />
ausgearbeitet und von der Arbeitsrechtlichen<br />
Kommission verabschiedet werden<br />
sollen. Die Übernahme des TVöD in die<br />
AVR war tarifhandwerklich so weit<br />
vorbereitet, dass eine Übernahme für die<br />
Diakonie in <strong>Württemberg</strong> zum 1. Januar<br />
2007 möglich gewesen wäre, zumindest<br />
die entsprechenden Grundsatzbeschlüsse,<br />
vergleichbar denen, die für die<br />
Landeskirche ausgehandelt worden sind.<br />
Am 29. 9. <strong>2006</strong> fand eine Trägerversammlung<br />
zu diesem Thema statt.<br />
Die diakonischen Arbeitgeber sollten<br />
dort lediglich über den Verhandlungsstand<br />
sowohl in der Arbeitsrechtlichen<br />
Kommission in <strong>Württemberg</strong> als auch in<br />
der Arbeitsrechtskommission für die<br />
Diakonie auf Bundesebene informiert<br />
werden. Die AGMAV forderte von der<br />
Trägerversammlung das klare Votum,<br />
die Übernahme des TVöD in Kombination<br />
mit der Zukunftssicherungsregelung<br />
zügig fertig zu verhandeln mit dem Ziel<br />
einer Übernahme zum Jahreswechsel.<br />
Vor der Trägerversammlung war<br />
vereinbart worden, dass ich umgehend<br />
von den Beratungen informiert werde.<br />
Die offizielle Rückmeldung erhielt ich<br />
jedoch erst auf Nachfrage drei Tage<br />
später. Noch am selben Tag beschloss<br />
der AGMAV-Vorstand in einer Sondersitzung,<br />
die Verhandlungen zur Tarifübernahme<br />
abzubrechen, weil sich<br />
offensichtlich die „VdDD-Fraktion“ bei<br />
den württembergischen Diakoniearbeitgebern<br />
durchgesetzt hatte.<br />
Nach dem Votum der Trägerversammlung<br />
soll es keine Übernahme des TVöD<br />
geben, solange es den Arbeitgebern<br />
nicht durch eine kirchliche Rechtsgrundlage<br />
ermöglicht wird, sich „ihr“<br />
(für den jeweiligen Träger passendes)<br />
Arbeitsrecht aussuchen zu können.<br />
Dazu haben sie entsprechende<br />
Anträge an die Landessynode<br />
formuliert, die inzwischen vom<br />
Oberkirchenrat modifiziert und<br />
verabschiedet wurden. Der<br />
Oberkirchenrat wird diese<br />
Anträge in die Herbstsynode<br />
einbringen. Ziel der Arbeitgeber<br />
ist, die von der Landessynode<br />
eingesetzte württembergische<br />
Arbeitsrechtskommission zu<br />
unterlaufen und statt der<br />
Arbeitsrechtsrichtlinien in<br />
<strong>Württemberg</strong> künftig wahlweise<br />
auch die von der Arbeitsrechtlichen<br />
Kommission des Diakonischen<br />
Werks der EKD beschlossenen<br />
Seite 4 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
AVR-DW-EKD anwenden zu können.<br />
Nach dem derzeitigen Gesetzentwurf<br />
soll die Entscheidung, welches Tarifrecht<br />
angewendet werden soll, von der<br />
derzeit verbindlichen regionalen Ebene<br />
auf die betriebliche Ebene geholt<br />
werden. Nach allen Erfahrungen, die<br />
wir mit solch schwerwiegenden Entscheidungen<br />
beim Arbeitsrecht auf<br />
betrieblicher Ebene gemacht haben, ist<br />
dies deutlich abzulehnen.<br />
Im Übrigen habe ich im Laufe der<br />
Verhandlungen den Eindruck gewonnen,<br />
dass es vielen unserer Arbeitgeber<br />
im Grunde egal ist, welches Tarifrecht<br />
sie anwenden, wenn ihnen nur endlich<br />
die Möglichkeit eingeräumt wird, selbst<br />
bestimmen zu können, ob und in<br />
welchem Umfang Gehaltsabsenkungen<br />
erfolgen können. Und wenn sie schon<br />
nicht einen umfassenden „Freifahrschein“<br />
bekommen, dann sollte nach<br />
ihrem Geschmack doch mindestens die<br />
Absenkung auf der betrieblichen Ebene<br />
möglich sein. Genau dies ist nach dem<br />
derzeitigen Verhandlungsstand die<br />
Perspektive auf die AVR-DW-EKD.<br />
Dabei gibt es nach den derzeitigen<br />
Beschlussvorlagen dort noch nicht<br />
einmal die Festlegung einer Grenze, bis<br />
zu der Absenkungen möglich sind. Vor<br />
diesem Hintergrund kann ich das<br />
Argument, einen Flächentarif für die<br />
Diakonie in ganz Deutschland zu<br />
wollen, nur als Lüge bezeichnen. Bei<br />
den angedachten betrieblichen Öffnungsklauseln<br />
wäre nur noch der Titel<br />
des Tarifwerkes in der Fläche gleich, das<br />
materielle Arbeitsrecht wäre schnell in<br />
jeder „Firma“ ein anderes.<br />
Auch die Argumentation der Arbeitgeber<br />
zum Scheitern der Verhandlungen – im<br />
Rahmen der Zukunftssicherung müssten<br />
Absenkungen von 6 Prozent tariflich<br />
festgeschrieben und nicht Absenkungen<br />
Verband<br />
kommunaler<br />
Arbeitgeber<br />
von bis zu 6<br />
Prozent unter<br />
Einhaltung<br />
gewisser Spielregeln<br />
ermöglicht<br />
werden – halte<br />
ich für vorgeschoben.<br />
Insgesamt<br />
habe ich immer<br />
wieder den<br />
Eindruck, dass die<br />
Gehälter der<br />
40.000 Beschäftigten<br />
in der<br />
Diakonie als<br />
flexible Verfügungsmasse<br />
angesehen werden. Das Bewusstsein,<br />
dass Geldverdienen auch mit Existenzsicherung<br />
zu tun hat, nehme ich kaum<br />
wahr.<br />
Wie geht es weiter? Zunächst gelten<br />
unsere „guten alten AVR-<strong>Württemberg</strong>“<br />
weiter. Wir werden uns nun darauf<br />
konzentrieren, die von den Arbeitgebern<br />
angestrebte Auflösung der Verbindlichkeit<br />
unseres Arbeitsrechts zu verhindern.<br />
Dazu brauchen wir die Unterstützung<br />
der Mitarbeitervertretungen und<br />
unserer Kolleginnen und Kollegen. Und<br />
wir brauchen Menschen in unserer<br />
Landessynode, die bereit sind, diese<br />
Themen auch mit den betroffenen<br />
Mitarbeitenden grundsätzlich zu<br />
diskutieren, damit gerechte und langfristig<br />
tragbare Lösungen gefunden und<br />
nicht unter Druck der diakonischen<br />
Arbeitgeber kurzsichtige Gesetzesänderungen<br />
beschlossen werden, aus<br />
denen sich politisch weitreichende<br />
Auswirkungen ergeben können –<br />
keineswegs nur vordergründig für die<br />
Beschäftigten! Für weitere Verhandlungen<br />
brauchen wir ein klares Bekenntnis<br />
der Diakonie-Arbeitgeber, dass sie den<br />
TVöD übernehmen wollen und ihn in<br />
ihren Einrichtungen auch verbindlich<br />
anwenden.<br />
Uli Maier ist der Vorsitzende der<br />
Mitarbeitervertretung der Beschäftigten<br />
in der Diakonie (AGMAV)<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
AGMAV = Arbeitsgemeinschaft der<br />
Mitarbeitervertretungen im Diakonischen<br />
Werk <strong>Württemberg</strong><br />
AVR = Arbeitsvertragsrichtlinien,<br />
entsprechend AVR <strong>Württemberg</strong> und<br />
AVR DW EKD = Arbeitsvertragsrichtlinien<br />
des Diakon. Werks der EKD<br />
VdDD = Verband diakonischer<br />
Dienstgeber in Deutschland<br />
Sehr geehrte Damen und Herren,<br />
Sie fragen nach Meinungen über den<br />
„Dritten Weg“. Nun bin ich zwar in<br />
Leserbrief<br />
meinem Leben nie hauptamtlicher<br />
Mitarbeiter in <strong>Kirche</strong> oder Diakonie<br />
gewesen. Aber womöglich sind meine<br />
Erinnerungen und Gedanken zu diesem<br />
Thema zumindest „historisch gesehen“<br />
heute noch aufschlussreich. Da ich in<br />
der sogenannten freien Wirtschaft tätig<br />
war, sind die üblichen Tarifauseinandersetzungen<br />
für mich maßgeblich gewesen.<br />
Obwohl nur „Trittbrettfahrer“, da<br />
ich nie Verlangen darnach spürte, einer<br />
Gewerkschaft beizutreten. Ich verstehe<br />
es bis heute nicht, dass anlässlich der<br />
Neuorientierungen nach 1945 das alte<br />
Modell „hier Arbeit – hier Kapital“<br />
wieder eingeführt wurde. Es erschien<br />
mir schon damals als anachronistisch,<br />
aber es waren wohl nicht die richtigen<br />
„Denker“ vorhanden, andere Weg zu<br />
gehen, als dort wieder anzuknüpfen, wo<br />
es zwischen 1933 und 1945 aufhörte.<br />
Mit aus diesem Grunde interessierte es<br />
mich, als kirchlicherseits ein „Dritter<br />
Weg“ vorgeschlagen wurde. Deshalb<br />
besuchte ich – es wird wohl 1978<br />
gewesen sein – die Sitzung der Landessynode,<br />
bei welcher die Neuordnung<br />
beschlossen wurde.<br />
Bezeichnend für die damaligen Verhältnisse<br />
war es auch, dass dieser „kirchliche<br />
Sonderweg“ von den „Tarifparteien“<br />
recht kritisch beäugt wurde:<br />
hier hätten sich ja Veränderungen<br />
abzeichnen können. Dann wären<br />
womöglich die (leider bis heute) eingefleischten<br />
Rituale der Tarifautonomie ins<br />
Wanken geraten! Dank des Beharrungsvermögens<br />
der Kontrahenten ist dies<br />
nicht passiert. Als „nur“ im ehrenamtlichen<br />
Dienst unserer Landeskirche<br />
stehend, kann ich nicht beurteilen, ob<br />
die einstens gehegten Hoffnungen in<br />
Erfüllung gegangen sind. Immerhin zu<br />
den damals so gefürchteten Streiks im<br />
Rahmen der ÖTV ist es nicht gekommen.<br />
Dem Schlussabsatz ihres Artikels<br />
wird deshalb zuzustimmen sein.<br />
Am Rande noch folgende Bemerkung:<br />
Der Verfasser des angesprochenen<br />
Artikels ist wohl ein Freund des Aküfi =<br />
Abkürzungsfimmels. Gegen den Gebrauch<br />
von Abkürzungen längerer<br />
Namen ist ja nichts einzuwenden, wenn<br />
wenigstens bei der ersten Nennung die<br />
vollständige Bezeichnung gewählt wird.<br />
In kirchlichen Verlautbarungen manchmal<br />
ein Übel; schließlich lesen auch<br />
„Außenseiter“ solche Texte.<br />
Recht freundliche Grüße<br />
Walter Götze, Münsingen<br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 5
Jugendarbeit<br />
Kongress: „Der Jugend Raum geben“<br />
Dr. Matthias Sellmann, Theologe<br />
und Sozialwissenschaftler an der<br />
Katholisch-Sozialethischen<br />
Arbeitsstelle in Hamm, ging das<br />
Thema grundsätzlich an. Jugendliche<br />
fragten: „Wirke ich überhaupt<br />
auf irgendwen durch mein<br />
Tun und Sein?“ Er machte klar,<br />
dass die heutigen Jugendlichen in<br />
einer anderen gesellschaftlichen<br />
Wirklichkeit aufwachsen als ihre<br />
Eltern, die noch langfristige<br />
Konzepte entwickeln konnten.<br />
Die heutige Jugend erlebe nicht,<br />
dass ihre Aktionen irgendetwas in<br />
der großen Gesellschaft bewirken. Die<br />
jungen Leute fragten sehr ökonomisch<br />
und pragmatisch nach dem Ertrag ihres<br />
Aufwandes und stritten eher um die<br />
Farbe ihrer Zimmertapete als um die<br />
Gerechtigkeit des Welthandels. In der<br />
Vertrauensskala bewerten Jugendliche<br />
die Polizei höher als Greenpeace und<br />
sorgen sich früh um eine ausreichende<br />
Altersversorgung. „Sie sind nett und<br />
höflich, aber vorsichtig bei Bindungen.“<br />
Auch im Glauben scheuten sie eine feste<br />
Form. Deshalb bedeute „Der Jugend<br />
Raum geben“, ihnen die Erfahrung zu<br />
vermitteln, dass es Bereiche gibt, in<br />
Renate Lücki<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Am 30. September lud das Evangelische Jugendwerk in <strong>Württemberg</strong> zum<br />
jährlichen Jugendkongress ein. 950 Jugendliche und Erwachsene – rund zwei<br />
Drittel Ehrenamtliche und ein Drittel Hauptamtliche sowie etliche Ehrengäste<br />
– tummelten sich auf dem Gelände von Fleinsbachschule, Gotthard-Müller-<br />
Schule und Rundsporthalle in Bernhausen. Das Thema der Veranstaltung „Der<br />
Jugend Raum geben“ wurde in einem Impulsreferat und fünf Foren beleuchtet,<br />
unterteilt wieder in viele Seminare. Dazu gab es eine Praxisbörse mit erprobten<br />
Projekten und Informationsstände von ejw, CVJM, Diakonischem Werk und<br />
den in der Landessynode vertretenen Gesprächskreisen.<br />
Wolfgang Engel, Schulrektor i.R., betreute den<br />
OK-Stand mit Renate Lück.<br />
Vorführung der Breakdancer bei der Präsentation<br />
der _puls-Projekte, im Vordergrund Reinhold<br />
Krebs, Leiter des -puls-Projekts.<br />
denen sie etwas bewirken können und<br />
das Resultat auch sehen. Dazu muss<br />
man in ihre Weltwahrnehmung einsteigen<br />
und von ihnen lernen, „dass man<br />
heute auch anders als vor 20 Jahren von<br />
Gott sprechen muss“.<br />
Ganz plastisch ist uns das am OK-Stand<br />
passiert. Ein junger Mann aus einem<br />
Dorf im Hohenlohischen wartete, bis die<br />
anderen Leute weg waren, und fragte<br />
dann, wie unserer Meinung nach ein<br />
Gottesdienst auszusehen habe. Mit<br />
Liturgie? Mit Orgel oder darf’s ein<br />
Keyboard sein? Offensichtlich war er<br />
vorher einen Stock<br />
tiefer beim Stand der<br />
„<strong>Kirche</strong> für morgen“<br />
gewesen. Als ich ihm<br />
sagte, ich finde es sehr<br />
erfrischend, wenn bei<br />
uns der Jugendchor<br />
mit der Band auftritt,<br />
vermutete er sofort,<br />
dass dies dann ein<br />
Jugendgottesdienst sei.<br />
Dass ein Pfarrer darauf<br />
Rücksicht nehmen<br />
sollte, welcher Art<br />
seine Gemeindeglieder<br />
sind – Einheimische<br />
und Russland-Deutsche, Industrieangestellte<br />
und Arbeitslose, Junge und<br />
RentnerInnen – und seine Predigt so<br />
formuliert, dass möglichst alle etwas mit<br />
nach Hause tragen können, ging ihm<br />
nicht sehr ein. Wahrscheinlich ist sein<br />
Dorf sehr homogen. Er sehnte sich<br />
deshalb nach einem Gottesdienst, der<br />
auch junge Leute anspricht, wagte aber<br />
nicht, am Buchstaben der Bibel und der<br />
Liturgie zu wackeln. Anschließend ging<br />
er zum Stand der „Lebendigen Gemeinde“<br />
und fragte dort.<br />
Die meisten Seminare des Kongresses<br />
beschäftigten sich damit, wie man<br />
MitarbeiterInnen und Jugendliche<br />
gewinnen kann, zum Beispiel<br />
aus Konfirmandengruppen und<br />
Freizeiten. Dazu gab es Anregungen<br />
für die praktische Arbeit. Am<br />
Nachmittag wurden in der<br />
Rundsporthalle einige der „_puls-<br />
Projekte“ vorgestellt, für deren<br />
Entwicklung das ejw 1,5 Millionen<br />
Euro von der Landesstiftung<br />
Baden-<strong>Württemberg</strong> bekommen<br />
hatte. Nach fünf Jahren ist die<br />
Erprobungsphase beendet, nun<br />
sollen die Angebote in der Breite<br />
wirken. Ziel ist laut Projektleiter<br />
Reinhold Krebs, den Jugendlichen<br />
die Möglichkeit zu geben,<br />
ihre Gaben zu entfalten und den<br />
Glauben zu entdecken. Englisch müssen<br />
sie aber auch können, damit sie wissen,<br />
dass mit CAT (Children Action Time)<br />
ein Spielprogramm für Siebtklässler<br />
gemeint ist und sich hinter dem Kürzel<br />
BTA (Break Time Action) Spielen auf<br />
dem Pausenhof verbirgt. Rebekka aus<br />
der Freien Evangelischen Schule in<br />
Vaihingen zum Beispiel verlässt dafür<br />
fünf Minuten vor der Pause das Klassenzimmer<br />
und legt Springseile, Dosen und<br />
anderes Material für die jüngeren<br />
Schulkinder bereit. Ob das an staatlichen<br />
Schulen auch erlaubt ist, wurde nicht<br />
gesagt.<br />
Bei „Outdoor Teams“ ist dann schon<br />
Klettern, Kanu- oder Seifenkistenfahren<br />
dran, um die eigenen Kräfte zu erproben.<br />
Aber auch zum Wegemarkieren<br />
oder bei Festen lassen sich die Eschenbacher<br />
Jugendlichen einteilen. Auf die<br />
Suggestivfrage des Moderators Christoph<br />
Zehendner an den Gruppenleiter, ob<br />
sich in ihm etwas verändert habe durch<br />
dieses Engagement, antwortete der kurz<br />
und bündig: „Nö“. „Move out“ soll<br />
heißen: „Raus aus der <strong>Kirche</strong> dorthin,<br />
wo Jugendliche sind“ und hat mit<br />
Tanzen zu tun. Dafür wurde in Schulen<br />
Seite 6 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
und Jugendhäusern geworben. „Leute<br />
zu bekommen, war nicht das Problem,<br />
sondern dass sie kontinuierlich dabeiblieben,<br />
damit man einen Tanz einüben<br />
kann“, erzählte Anja, die schließlich<br />
zusammen mit 200 anderen während<br />
der Weltmeisterschaft in Rust auftrat.<br />
Mit diesem „TeenDance“ wurden<br />
Haupt- und RealschülerInnen erreicht<br />
und Gäste aus Jugendhäusern. Von den<br />
15 Tanzgruppen rund um Stuttgart<br />
werden nun drei oder vier weitermachen.<br />
Das entsprechende Seminar in<br />
Bernhausen fiel allerdings mangels<br />
TeilnehmerInnen aus. Der Schluss der<br />
Power Point-Präsentation war dann<br />
noch ein Kick für Schüchterne: „My<br />
day! In dir steckt mehr, als du denktst.“<br />
Bei vielen dieser Projekte arbeitet das<br />
ejw mit dem CVJM zusammen, weshalb<br />
auch die Spitzen des Verbandes dem<br />
Kongress die Ehre gaben, zum Beispiel<br />
Dr. Wolfgang Neuser, Nachfolger von<br />
Ulrich Parzany als Vorstand des deutschen<br />
Gesamtverbandes, und Martin<br />
Meißner, frisch gewählt in den weltweiten<br />
Vorstand. Letzterer sagte beim<br />
Empfang: „Das C im CVJM gewinnt<br />
wieder an Bedeutung in der evangelistischen<br />
Arbeit.“ Er sagte nicht: „evangelisch“,<br />
sondern „evangelistisch“, klingt<br />
wie „fundamentalistisch“.<br />
Interview mit<br />
dem ejw-Leiter<br />
Klaus Sturm<br />
Pfarrer Klaus Sturm ist seit 1.<br />
September 2002 Leiter der Landesstelle<br />
des Evangelischen Jugendwerks<br />
in <strong>Württemberg</strong> mit Sitz in<br />
Stuttgart-Vaihingen. Dieses ist seit<br />
1971 der Zusammenschluss der<br />
früheren Mädchen- und Jungmännerwerke.<br />
Manchmal ist seine<br />
Außenwirkung verwirrend.<br />
Herr Sturm, ist das ejw eine Organisation<br />
der Landeskirche oder des<br />
Christlichen Vereins Junger Menschen?<br />
Das wurde mir auf dem<br />
Kongress in Bernhausen nicht klar.<br />
Es ist eine Einrichtung der Landeskirche,<br />
aber „selbständig im Auftrag<br />
arbeitend“. Das bedeutet, wir haben<br />
eine klare Beauftragung der Landeskirche,<br />
können unsere Arbeit aber frei<br />
gestalten. Das ejw ist also das Jugend-<br />
Klaus Sturm<br />
werk der Landeskirche und zugleich<br />
freies Werk mit Selbstverwaltung und<br />
Selbstentscheidungen seiner Arbeitsbereiche.<br />
Diese Konstruktion gibt den<br />
nötigen Freiraum, aber auch die Verpflichtung<br />
zur Verfassung der Landeskirche.<br />
Man kann Jugendarbeit nicht von<br />
oben nach unten verordnen. Die<br />
Jugendarbeit ist von unten nach oben<br />
aufgebaut. Einerseits sind wir Mitglied<br />
des CVJM-Gesamtverbands, andererseits<br />
vertreten wir laut Ordnung von 1946<br />
die gesamte Jugendarbeit im ganzen<br />
Land und beraten die Mitglieder bei<br />
ihrer Arbeit. Ehren- und Hauptamtliche<br />
wirken dabei zusammen.<br />
Wenn das ejw Mitglied im Dachverband<br />
des CVJM ist, wie können<br />
dann Jugendgruppen entstehen, die<br />
einen anderen Frömmigkeitsstil<br />
haben als der CVJM?<br />
Jederzeit. Die Prägungen sind örtlich<br />
verschieden, sie haben aber immer ihren<br />
Platz in der Jugendarbeit.<br />
Soweit ich weiß, wurden Mitte der<br />
70er Jahre die ejw-Schülerbibelkreise<br />
als Gegenakzent zur landeskirchlichen<br />
Arbeitsgemeinschaft<br />
Höhere Schule (AHS), später<br />
Landeskirchliche Schülerarbeit<br />
(LakiSa), gegründet. Nun ist die<br />
liberalere LakiSa ins ejw eingegliedert<br />
worden. Ist deren Arbeit nun<br />
tot?<br />
Es gab bisher zwei verschiedene Schülerarbeiten,<br />
die ejw-Schülerarbeit und<br />
die landeskirchliche Schülerinnen- und<br />
Schülerarbeit (LakiSa). Lange Zeit war<br />
die LakiSa an das Jugendpfarramt<br />
angebunden. Zum 1. Januar <strong>2006</strong> ist die<br />
LakiSa wie auch die Musisch-kulturelle<br />
Bildung beim ejw angesiedelt worden.<br />
Das wurde durch Verhandlungen in<br />
einem mehrjährigen Prozess erreicht.<br />
Der Landesjugendpfarrer Rolf Ulmer<br />
betreut seit dem 1. September <strong>2006</strong> als<br />
Mitarbeiter im Oberkirchenrat zu 50<br />
Prozent haupt- und nebenamtliche<br />
JugendpfarrerInnen, gibt das Material<br />
für Jugendgottesdienste heraus und hat<br />
die Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft<br />
der Evangelischen Jugend in<br />
<strong>Württemberg</strong> inne. Zur anderen Hälfte<br />
seiner Dienstzeit ist er Referent für<br />
Jugend- und Konfirmandenarbeit. Noch<br />
ist er hier im Hause, wird aber nächstes<br />
Jahr in die Gerokstraße umziehen. Die<br />
beiden Schülerarbeiten werden bis Ende<br />
2007 einen gemeinsamen Namen zu<br />
finden haben. Die beiden Prägungen<br />
sollen aber erhalten werden.<br />
Der Leiter des _puls-Projektes,<br />
Reinhold Krebs, ist der Vorsitzende<br />
von „<strong>Kirche</strong> für morgen“. Die<br />
CVJM-Gruppen stehen der „Lebendigen<br />
Gemeinde“ nahe. Gibt es<br />
auch Angebote für der OK Nahestehende?<br />
Es gibt keine Angebote, die von vornherein<br />
auf Gesprächskreise festgelegt<br />
wären. Die Landesstelle unterstützt die<br />
Gemeinden und Bezirke. Hier kann sich<br />
jede/r engagieren. Das ist meine<br />
Einladung an alle Prägungen. Die<br />
Jugendarbeit ist nicht auf verschiedene<br />
Gesprächskreise aufzuteilen. Es muss<br />
klar sein, dass wir für die ganze Landeskirche<br />
zuständig sind. Gerne nehmen<br />
wir Anregungen und Kritik bei den<br />
Kontakten mit den Gesprächskreisen<br />
entgegen, die regelmäßig stattfinden.<br />
Natürlich haben wir unsere geistliche<br />
Prägung und Ziele. Diese sind in der<br />
Ordnung des ejw niedergelegt. Wer sich<br />
für einen der Gesprächskreise engagiert,<br />
tut das privat und kann das auch gerne<br />
tun. Aber die offizielle Linie ist die<br />
Zuständigkeit für die ganze Landeskirche.<br />
Sorgen Sie dafür, dass auch OK-<br />
Mitglieder Andachten fürs jährliche<br />
Andachtsheft schreiben oder als<br />
ReferentInnen angefragt werden?<br />
Wenn sie bereit sind, kann Hermann<br />
Hörtling, der das <strong>Heft</strong> macht, gerne<br />
angefragt werden. Schicken Sie ihm eine<br />
Liste. Es ist natürlich ein ejw-Produkt,<br />
bei dem vor allem Jugendreferentinnen<br />
und Jugendreferenten sowie Ehrenamtliche<br />
mitschreiben. Darüber hinaus gibt<br />
es im März 2007 auf unserem Konvent<br />
für Hauptamtliche im Bernhäuser Forst<br />
eine Podiumsdiskussion. Kathinka<br />
Kaden hat zugesagt. Da gibt es von uns<br />
keine Probleme. Die OFFENE KIRCHE<br />
soll auch sagen: Es ist unser Jugendwerk.<br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 7
Bekommt die <strong>Kirche</strong> durch die ejw-<br />
Aktionen mehr Mitglieder oder<br />
erreichen Sie nur die, die schon<br />
drin sind?<br />
Wenn Aktionen die Leute ansprechen,<br />
dann die ejw-Projekte und Angebote. Es<br />
ist die ganze Breite der Jugend vertreten.<br />
Dadurch entsteht Identität. Wer mal in<br />
einer Jugendgruppe war, ist auch später<br />
in der <strong>Kirche</strong> oder Synode aktiv. Selbst<br />
wenn Sie Politiker fragen, ob sie in einer<br />
Jungschar waren, bejahen sie es oft. Wir<br />
erreichen viele Leute, allerdings im<br />
wesentlichen aus dem gut-bürgerlichen<br />
Bereich. Das teilen wir mit unserer<br />
ganzen Landeskirche. Mit „Teen<br />
Dance“, also Tanzangeboten, haben wir<br />
aber zum Beispiel auch Hauptschülerinnen<br />
und Hauptschüler gewonnen. Das<br />
wollen wir ausdehnen auch mit dem<br />
Schüler-Mentorenprogramm. Wir haben<br />
zwischen 60 und 70 Arbeitsfelder, zum<br />
Beispiel die Jugendgemeinden, in denen<br />
wir für eine gewisse Zeit Begleitung<br />
anbieten. Nach unserer Erfahrung<br />
verhindern wir durch solche Angebote<br />
Abwanderung entweder in die völlige<br />
kirchliche Abstinenz oder zu Freikirchen.<br />
In diesem Jahr haben wir nun<br />
erstmals die „ChurchNight“ am Reformationstag<br />
als Aktion gestartet, um den<br />
Reformationstag neu zu erleben. Dazu<br />
haben sich 180 Gemeinden und<br />
Jugendwerke gemeldet. Das Ziel der<br />
„Wachsenden <strong>Kirche</strong>“, einem von der<br />
Synode initiierten Projekt, soll ein<br />
Kongress im Jahr 2008 sein, auf dem<br />
alle Aktivitäten, die beitragen, dass<br />
<strong>Kirche</strong> wächst – nicht nur zahlenmäßig,<br />
sondern auch innerlich – zusammengetragen<br />
werden. Auch hier sind wir in<br />
der Mitwirkung aktiv.<br />
Es gibt immer mehr Alte. Muss sich<br />
die <strong>Kirche</strong> mehr um die Jugendlichen<br />
kümmern oder haben die<br />
Älteren mehr Recht auf Zuwendung?<br />
Dies wäre sicher eine falsche Alternative.<br />
Die Jugendarbeit wurde drastisch<br />
gekürzt – um 15 Prozent – obwohl wir<br />
mittlerweile mehr Angebote haben.<br />
Unsere jetzige Finanzierung ist das<br />
Modell der Zukunft: Knapp die Hälfte<br />
sind <strong>Kirche</strong>nsteuermittel, die andere<br />
Hälfte Spenden von Sponsoren und<br />
Stiftungen sowie staatlichen Leistungen<br />
usw. Wir werden auch künftig versuchen,<br />
eine kreative, missionarische und<br />
sozial sensible Jugendarbeit im ganzen<br />
Land zu ermöglichen.<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Die Fragen stellte Renate Lück<br />
Seite 8 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
OFFENE KIRCHE<br />
Jahres- und Mitgliederversammlung<br />
<strong>2006</strong><br />
Am Vormittag – wie üblich – ein<br />
Vortrag, diesmal zum Thema „Politik<br />
der Götter, Europa und der neue<br />
Fundamentalismus“ von Dr. Gret<br />
Haller. Die Schweizer Juristin mit<br />
Erfahrungen als Stadträtin in Bern,<br />
Parlamentarierin der Schweiz, des<br />
Europarats und der OSZE gestand, dass<br />
sie sich bis 1996 – als sie als Ombudsfrau<br />
für Menschenrechte nach Sarajevo<br />
geschickt wurde – nicht vorstellen<br />
konnte, dass es so große Werte-Unterschiede<br />
zwischen den USA und Europa<br />
geben könne.<br />
Während ihrer Arbeit in Bosnien-<br />
Herzegowina begann sie zu recherchieren,<br />
woher diese Unterschiede im<br />
Rechts- und Staatsverständnis kommen.<br />
Sie stellte fest, dass in Europa nach all<br />
den blutigen Religionskriegen die Länder<br />
im Westfälischen Frieden 1648 beschlossen,<br />
Staat und <strong>Kirche</strong> zu trennen.<br />
Die europäischen Religions- und Wirtschaftsflüchtlinge<br />
in den USA bauten<br />
dagegen eine neue Gesellschaft nach<br />
religiösen Prinzipien auf und wollten<br />
sich vom Staat nicht hineinreden lassen.<br />
Prägend dabei wurde der Calvinismus,<br />
der besagt, dass man die von Gott<br />
Auserwählten schon auf Erden an ihrem<br />
Erfolg erkennen könne. Deshalb sind in<br />
den USA Religion und Wirtschaft so eng<br />
ineinander verschränkt. Arme gelten als<br />
faul: Diese Meinung vertraten bei einer<br />
Umfrage in Deutschland 25 Prozent, in<br />
den USA 64 Prozent. Ihnen bleibt nur<br />
ein religiöser Trost, wenn sie am Ende<br />
ihres Lebens feststellen, dass sie nicht zu<br />
den Auserwählten gehörten.<br />
Eigentlich dachten die Menschen in<br />
Europa, die Säkularisation, also die<br />
Einbindung der Religion in eine staatliche<br />
Rechtsordnung durch die Aufklärung,<br />
sei ein unumkehrbarer Prozess<br />
gewesen und würde sich in diesem<br />
Sinne weiterverbreiten. Dass also der<br />
Staat Gesetze für alle Staatsangehörigen<br />
erlässt und die Rahmenbedingungen für<br />
die private Wirtschaft schafft. Dass dem<br />
in den USA nicht so ist, begriffen sie<br />
Renate Lücki<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Dr. Gret Haller<br />
spätestens bei der Präsidentenwahl<br />
2000, als die christliche Rechte ungeheuren<br />
Einfluss zeigte, und beim Irak-<br />
Krieg, der nach wirtschaftlichen Wünschen<br />
vom Zaun gebrochen wurde. In<br />
den Vereinigten Staaten von Amerika<br />
wird nur SenatorIn oder gar PräsidentIn,<br />
wer viel Geld hat oder sammelt. Und<br />
dann ist er/sie natürlich den Sponsoren<br />
verpflichtet. Während den Armen in<br />
Europa immer noch Streik und Aufstand<br />
zur Verfügung stehen, um ihrem Ärger<br />
Luft zu machen, werden Streitigkeiten<br />
in den USA vor Gericht ausgetragen,<br />
was wieder viel Geld kostet. Die US-<br />
AmerikanerInnen weigern sich strikt,<br />
sich irgendeiner anderen Organisation<br />
(UNO) oder einem außeramerikanischen<br />
Gericht zu unterstellen, weil sie ihr<br />
System immer noch für das beste der<br />
Welt halten und es auch überall verbreiten<br />
zu müssen glauben.<br />
Fundamentalismus, der zur Zeit meist<br />
mit dem Islam in Verbindung gebracht<br />
wird, basiere immer auf einer absolut<br />
gesetzten Wahrheit, über die nicht<br />
diskutiert werde dürfe, sagte Gret<br />
Haller. Dies gilt für das Christentum<br />
während der Kreuzzüge und Hexenverbrennungen<br />
wie heute für die christliche<br />
Rechte in den USA, die die Darwinsche<br />
Entwicklungstheorie ablehnt,<br />
und ebenso für Muslime, die höchst<br />
reizbar auf jedwede Kritik reagieren.<br />
Wenn beide Formen des Fundamentalismus’<br />
zusammenkommen, könnte das<br />
für Europa brisant werden.<br />
Pietisten – Evangelikale – Fundamentalisten<br />
In der anschließenden Podiumsdiskussion<br />
fragte Kathinka Kaden zuerst Dr.<br />
Richard Ziegert, Weltanschauungsbeauftragter<br />
der pfälzischen <strong>Kirche</strong>, wie<br />
er Evangelikale von Fundamentalisten<br />
abgrenze. Er betrachtet den Pietismus<br />
nicht als Evangelikalismus, sondern als<br />
Frömmigkeit in der evangelischen<br />
<strong>Kirche</strong> seit der Reformation. In dieser<br />
Gemeinschaftsbewegung ging es von<br />
Anfang an um ethische Fragen und die<br />
Auslegung der Bibel. Fundamentalisten<br />
wollen Markt und Macht. Pietisten und<br />
Evangelikale sind nicht gleichzusetzen<br />
mit Fundamentalisten, haben aber<br />
offene Flanken. Die Phase großer<br />
Verunsicherung vom 19. zum 20.<br />
Jahrhundert führte zu einer Entkirchlichung<br />
und Kommerzialisierung des<br />
Christentums zu einer Bedürfnisreligion,<br />
in der die Menschen angehalten wurden<br />
zu kämpfen, um sich ihrer Erfolgsmöglichkeiten<br />
zu versichern. Die<br />
Erweckungswellen in den USA gerieten<br />
durch die Darwinsche Evolutionstheorie<br />
und die aufkommende Bibelkritik in<br />
Das Podium (v.l.) Dr. Richard Ziegert, Dr. Marie-Luise Kling-de Lazzer,<br />
Heiner Küenzlen, Kathinka Kaden, Dr. Gret Haller<br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 9
eine große Krise. Deshalb die Radikalisierung<br />
im Bibelverständnis – wie im<br />
Islamismus. Nun versuchen Evangelikale<br />
und Fundamentalisten, die europäischen<br />
<strong>Kirche</strong>n zu durchdringen durch<br />
einen Transfer der Freikirchen, die<br />
finanziell eigentlich am Ende sind.<br />
Dr. Marie-Luise Kling-de Lazzer<br />
bestätigte das von Gret Haller beschriebene<br />
Phänomen: „Wenn das politischwirtschaftlich<br />
eingeleitet wird, kommt<br />
das Religiöse dazu. Wir erleben das<br />
Zurückdrängen des Staates auf allen<br />
Ebenen, um die politischen Ansätze<br />
religiös zu untermauern.“ Trotzdem<br />
wollte sie den emotionalen Kampfbegriff<br />
„Fundamentalismus“ versachlichen. Sie<br />
verwende das Wort in Deutschland<br />
nicht, weil es keine präzise Beschreibung<br />
dafür gebe. Anders in den USA,<br />
wo der „wiedergeborene“ Präsident<br />
sogar angebetet werde. Der islamische<br />
Fundamentalismus und der in den USA<br />
seien die Talibanisierung der Politik.<br />
Dagegen sei der Pietismus in <strong>Württemberg</strong><br />
eine Bereicherung der <strong>Kirche</strong>ntradition.<br />
Im Fundamentalismus stehe<br />
nicht die Frömmigkeit im Vordergrund,<br />
sondern das Wachstum der eigenen<br />
Gruppe oder Gemeinde.<br />
Oberkirchenrat Heiner Küenzlen<br />
wollte nicht alles unterschreiben, was<br />
Gret Haller über den Fundamentalismus<br />
gesagt hatte. Im Irak-Krieg sah er eher<br />
Imperialismus im Spiel, mit Sicherheit<br />
extreme Markt- und Machtfaktoren. Die<br />
amerikanischen Christen könne man<br />
nicht haftbar machen, denn sie hätten in<br />
Porto Alegre ein Schuldbekenntnis<br />
veröffentlicht. Bei Präsident Bush sei das<br />
etwas anderes, der empfange nicht<br />
einmal die methodistischen Würdenträger,<br />
also die seiner eigenen <strong>Kirche</strong>.<br />
Fundamentalismus sei immer eine<br />
Reaktion auf die Moderne – ein Zurück<br />
und Zumachen. Pietismus und Fundamentalismus<br />
seien zwei Paar Stiefel,<br />
Ein Teil des Auditorims<br />
aber Evangelikalismus und Pietismus<br />
seien eine gemischte Angelegenheit bei<br />
mancher missionarischen Praxis.<br />
Auf die Frage, wieviel Kraft das alte<br />
Europa habe, den Fundamentalismus zu<br />
zähmen, antwortete Dr. Ziegert, die<br />
EKD habe kein Interesse daran, diese<br />
Frage öffentlich zu diskutieren, die<br />
längst fällig sei gegenüber Pfingstlern<br />
und charismatischen Gruppen. Es gebe<br />
laut Interview in Idea vier bis fünf<br />
Evangelikale und Fundamentalisten, die<br />
der Allianz helfen, ihre Leute in der<br />
ACK unterzubringen. Von Ökumene sei<br />
da nicht die Rede, nur von Vernetzung<br />
mit anderen Evangelikalen. Sie fühlten<br />
sich als die Wiedergeborenen und<br />
richtigen Gläubigen. „<strong>Kirche</strong> und<br />
Evangelikale sitzen nicht in einem Boot.<br />
<strong>Kirche</strong> ist mehr als Evangelikalismus.<br />
Wir müssen von der charismatisch<br />
infiltrierten Melange von Pietismus und<br />
Evangelikalismus eine kritische Bestandsaufnahme<br />
machen.“ Gret Haller<br />
widersprach Heiner Küenzlen: „Sie<br />
haben das Innenverhältnis angesprochen.<br />
Es gibt einen Prüfstein: das<br />
Verhältnis der <strong>Kirche</strong>n und Gemeinschaften<br />
zum Staat. Wenn sich <strong>Kirche</strong>n<br />
intern für absolut halten gegenüber<br />
anderen, dann ist das auch ein Absolutheitsanspruch<br />
gegenüber dem Staat.“ Es<br />
hätten sich in den USA sehr viele Leute<br />
damit befasst, wie Europa funktioniert.<br />
Aber viele Freunde seien sich nicht<br />
bewusst, dass Europa anders funktioniert.<br />
„Wir müssen mit denen über<br />
Religion und Politik diskutieren.“<br />
Der entscheidende Unterschied sei, dass<br />
in den USA der Begriff des citoyen fehle,<br />
des Bürgers, der dem Recht unterworfen<br />
ist, aber auch die staatlichen Gesetze<br />
machen hilft. In den USA haben die<br />
Religionsgemeinschaften zum Teil die<br />
Funktion, die bei uns der Staat hat, etwa<br />
bei der Integration von Einwanderern.<br />
Heiner Küenzlen: „Trauen<br />
wir dem alten Europa<br />
etwas zu als Gegenmodell.<br />
Es bleibt uns gar nichts<br />
anderes übrig. Ich traue<br />
auch den Volkskirchen<br />
sehr viel zu, nicht den<br />
informellen Freikirchen.<br />
Das geistliche und gemeinbildende<br />
Angebot der<br />
<strong>Kirche</strong>n ist Partner der<br />
Zivilgesellschaft. Wir<br />
sollten versuchen, die<br />
Evangelikalen, die es<br />
wollen, zu integrieren.“ „Trojanische<br />
Pferde sehen Sie nicht?“, fragte Kathinka<br />
Kaden. „Ich sehe, dass sich<br />
Gruppierungen immer für die Eigentlichen<br />
halten, auch die OK. Religion will<br />
Leben gestalten.“ Marie-Luise Kling-de<br />
Lazzer wehrte sich gegen den negativen<br />
Unterton des Wortes „altes Europa“.<br />
„Wir sollten mit Stolz reagieren.“ Im<br />
Impulspapier der EKD seien ein paar<br />
Gesichtpunkte, die wir verbreiten<br />
sollten: theologische Bildung, Wissenschaftlichkeit<br />
der Theologie und Ökumene<br />
mit der katholischen <strong>Kirche</strong>. „Theologisch<br />
gründliches Arbeiten und Dinge<br />
gemeinsam tun, die wir im Guten tun<br />
können, bewahrt uns vor Blauäugigkeit<br />
und vor offenen Flanken.“ Manche<br />
Gemeinden, die nicht so große Ökumene<br />
pflegen, seien freikirchlichen Gemeinden<br />
gegenüber unkritisch, als ob<br />
alle in einer <strong>Kirche</strong> wären. Hier müsse<br />
Klarheit herrschen, mit wem kooperiert<br />
werden könne, etwa bei der Traufrage.<br />
<strong>Kirche</strong>ngemeinderäte müssten aufpassen,<br />
dass sie nicht ausgehebelt werden<br />
durch selbstberufene Mitarbeiterkreise.<br />
„<strong>Offene</strong> Flanken, Trojanische Pferde –<br />
mit wem müssen wir sprechen hier in<br />
<strong>Württemberg</strong>?“, fragte die Moderatorin<br />
die drei Deutschen. Ziegert: „Ich bin<br />
überzeugt, dass unser öffentlichrechtliches<br />
<strong>Kirche</strong>nprinzip bestehen<br />
wird, auch wenn es Verluste durch die<br />
Allianz gibt. Die Dinge werden sich<br />
übers Geld regeln. In Österreich werden<br />
die Freien Gemeinden von den USA<br />
finanziert. In Deutschland werden auch<br />
viele Ehrenamtliche und EC-Christen in<br />
Freie Gemeinden abgeworben, deren<br />
Hauptamtliche von amerikanischen<br />
Stiftungen (z.B. Fordstiftung) bezahlt<br />
werden, wie auch die Bibelschulen. Wir<br />
werden erleben, dass viele amerikanische<br />
Missionswerke gehen, weil sie<br />
sehen, es funktioniert nicht.“ Es werde<br />
durch sie aber viel zerstört. In den USA<br />
sterbe jeden Tag eine <strong>Kirche</strong>ngemeinde.<br />
Seite 10 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
Trotzdem lohne es sich, gegen die<br />
Allianz und evangelikale Zivilreligion<br />
einen öffentlichen Diskurs zu führen.<br />
Das erfordere, genau hinzusehen und in<br />
der ACK zu fragen: Was wollt ihr in<br />
unsere Gemeinsamkeit investieren?<br />
Anfänge kritischer Bestandaufnahme<br />
gebe es bereits: Der Wissenschaftsrat<br />
lehne Bibelschulen ab, wenn deren<br />
Wissenschaft nicht erkennbar ist.<br />
Auch die Tübinger Dekanin setzt auf das<br />
Gespräch mit den Gruppen innerhalb<br />
der <strong>Kirche</strong>. Die Jugendarbeit sei ein<br />
exponierter Bereich mit vielen Einflüssen<br />
auch über die Musik. „Wo das das<br />
Einzige ist, das an die junge Generation<br />
weitergegeben wird, müssen wir sagen:<br />
Das ist zu schmal für den Boden des<br />
reformierten Bekenntnisses.“ Die<br />
wissenschaftlich gebildeten PfarrerInnen<br />
müssten gestärkt werden, damit die<br />
Auseinandersetzung in den Gemeinden<br />
geführt werden könne. Heiner Küenzlen<br />
vertraut darauf, dass die deutschen<br />
Landeskirchen so viel Substanz haben,<br />
dass sie neben den Gemeinden auch mit<br />
Diakonie, Kultur und Akademien<br />
politischen Einfluss nehmen können,<br />
auch in den Medien. Es müsse klar sein,<br />
was geht und was nicht, zum Beispiel<br />
Taufe ohne PfarrerIn in Hauskreisen<br />
geht nicht.<br />
Hier hakten OK-Mitglieder nach.<br />
Gabriele Bartsch sagte, dass sie<br />
in der Synode viele Anträge der<br />
Lebendigen Gemeinde sehr<br />
In Fensterhülle stecken<br />
und einsenden an:<br />
OFFENE KIRCHE<br />
Geschäftsstelle Reiner Stoll-Wähling<br />
Ilsfelder Straße 9<br />
70435 Stuttgart<br />
Telefon (07 11) 5 49 72 11<br />
Telefax (07 11) 3 65 93 29<br />
email: geschaeftsstelle@offene-kirche.de<br />
Antwort<br />
OFFENE KIRCHE<br />
Geschäftsstelle<br />
Stoll-Wähling<br />
Ilsfelder Straße 9<br />
70435 Stuttgart<br />
wohl als Trojanische Pferde empfinde,<br />
wie Taufe und Abendmahl in Hauskreisen<br />
oder die sogenannte Bildungsinitiative,<br />
in der in Wahrheit eine<br />
Parallelstruktur zur theologisch fundierten<br />
Seelsorge aufgebaut werden soll.<br />
Hier wünsche sie sich mehr Klarheit<br />
und Auseinandersetzungsgeist. Es gebe<br />
auch merkwürdige Allianzen: Dank<br />
Bischof Huber müsse sich die Landeskirche<br />
mit dem Projekt „Wachsende<br />
<strong>Kirche</strong>“ befassen, das auch sehr einseitig<br />
laufe. „Ich appelliere an Sie, dass Sie<br />
nicht den anderen die Definitionsmacht<br />
überlassen“, wandte sich die Synodale<br />
an den Oberkirchenrat. „Was da über<br />
Bekenntnis- und Gesinnungsgemeinden<br />
einwandert, sind nicht überkirchliche<br />
Strukturen, sondern Parallelgemeinden.“<br />
Überwältigungsreligion contra<br />
Überzeugen<br />
Rainer Weitzel bemängelte als KGR-<br />
Vorsitzender die Debatten um „Brot für<br />
die Welt“ zu Weihnachten und dass<br />
keiner weiß, wer die Aktion Jesus House<br />
oder Willow Creek bezahlt. Er verlangte<br />
von der Landeskirche klare Vorgaben an<br />
die Gemeinden. Der Oberkirchenrat<br />
gestand, dass er zu wenig über Jesus<br />
House wisse. „Aber Brot für die Welt ist<br />
unser Werk, das unterstützen wir.“<br />
Richard Ziegert kennt Willow Creek:<br />
„Das ist eine amerikanische Religionsfirma,<br />
privat organisiert mit drei bis vier<br />
Theologen und über 100 PsychologInnen<br />
und SozialarbeiterInnen. Das ist<br />
Amerikanismus pur.“ Dasselbe gelte bei<br />
Jesus House und Pro Christ. Das<br />
Gegenbeispiel zu diesen Versuchen,<br />
Gruppendynamik zu organisieren, damit<br />
sich die Menschen offenbaren, sei Taizé.<br />
Da gebe es kein Sortieren der Menschen<br />
und plötzliches Bekennen. Die Methoden<br />
von Billy Graham bzw. seinem Sohn<br />
und Ulrich Parzany sei Überwältigungsreligion,<br />
kein Überzeugen. Etwa 200<br />
Funktionäre versuchten, in Deutschland<br />
Wurzeln in den <strong>Kirche</strong>n zu schlagen.<br />
Im Schlusswort betonte Dr. Ziegert noch<br />
einmal: „Die <strong>Kirche</strong>n in Europa sind<br />
keine Staatskirchen, sondern institutionelle<br />
<strong>Kirche</strong>n dem Staat gegenüber. Wir<br />
müssen mit den Evangelikalen theologisch<br />
streiten und klarmachen, dass das,<br />
was sie für Christentum halten, kein<br />
Christentum ist.“ Selbst die CIA-Zentrale<br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 11
in Mannheim bilde Leute in Religion<br />
aus, die deutsche Strukturen privatisieren<br />
und kommerzialisieren sollen. „Wir<br />
müssen uns etwas zutrauen, dann<br />
geschieht etwas.“ Marie-Luise Kling-de<br />
Lazzer möchte die OK darin unterstützen,<br />
dass sie die theologische Arbeit<br />
vertieft, damit in allen Ausschüssen und<br />
<strong>Kirche</strong>ngemeinderäten deutlich wird,<br />
wo Abgrenzungen nötig sind. Heiner<br />
Küenzlen: „Wir sollten unseren Weg<br />
gehen und <strong>Kirche</strong> gestalten und dann<br />
sehen, wer mitmachen kann und wer<br />
nicht. ... Wir sollten protestantischer<br />
protestieren mit großer Selbstverständlichkeit.“<br />
Gret Haller schlug noch<br />
einmal den Bogen zum Staat: „Wir<br />
müssen keine neuen Instrumente<br />
schaffen, es gibt alles schon. Ich benutze<br />
statt „Staat“ das Wort „res publica“, die<br />
öffentliche Sache. Darin sind Gemeinden,<br />
Staat, die EU und die weltweiten<br />
Verbände, wie UNO und Sonderorganisationen<br />
eingeschlossen. Die res<br />
publica ist die einzige Sache auf der<br />
Welt, zu der ich dazugehöre, ohne dass<br />
mir jemand einen Gnadenerlass geben<br />
muss. Ich wünsche mir die Diskussion<br />
mit mehr engagierten Leuten.“<br />
Am Nachmittag die Mitgliederversammlung<br />
mit großem Programm:<br />
Im Geschäftsbericht zählte Kathinka<br />
Kaden die wichtigsten Aktivitäten des<br />
Leitungskreises im vergangenen Jahr<br />
auf, unter anderem die Diskussion um<br />
Grundsatzfragen zu den kirchlichen<br />
OFFENE KIRCHE – kompetent, kritisch, kreativ<br />
Antwort per Fax: 07 11/3 65 93 29<br />
Ja, ich will die OFFENE<br />
KIRCHE kennenlernen:<br />
Senden Sie mir bitte ausführliches<br />
Informationsmaterial<br />
zu:<br />
❑ Ein kostenloses Jahresabo der<br />
Zeitschrift OFFENE KIRCHE<br />
❑ Das OFFENE KIRCHE Wahlprogramm<br />
2001-2007<br />
❑ Nennen Sie mir bitte den Namen<br />
eines Ansprechpartners in der<br />
für mich zuständigen Bezirksgruppe<br />
Albrecht Bregenzer und Fritz Röhm<br />
Mitgliederversammlung<br />
Ja, ich will die OFFENE<br />
KIRCHE unterstützen:<br />
❑ Ich werde hiermit Mitglied der<br />
OFFENEN KIRCHE mit Stimmrecht<br />
bei den jährlichen Mitgliederversammlungen<br />
und kostenlosem Bezug<br />
der Zeitschrift OFFENE KIRCHE:<br />
Mitgliedsbeitrag jährlich mindestens Euro<br />
50,-, Paare stufen sich selbst ein<br />
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❑ Ich abonniere hiermit die<br />
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4 Ausgaben jährlich, Euro 15,-jährlich<br />
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der OFFENEN KIRCHE: „...und<br />
strecke mich’ aus nach dem,<br />
was da vorne ist“ (Themen für die<br />
Evangelische Landeskirche in <strong>Württemberg</strong>)<br />
Euro 10,- zuzüglich Porto.<br />
Immobilien. Zum Islam-Tag der Landessynode<br />
wurde ein eigenes Papier<br />
entwickelt. Es fanden zwei Gespräche<br />
mit Landesbischof Frank Otfried July<br />
statt. Gemeinsam mit dem Gesprächskreis<br />
wurde überlegt, wie neue Mitglieder<br />
zu gewinnen sind. Die Bezirksverantwortlichen<br />
gaben sich auf der<br />
Versammlung im Februar gegenseitig<br />
Tipps für die KandidatInnensuche zur<br />
Synodalwahl und die Vorsitzende freute<br />
sich, viele neue KandidatInnen begrüßen<br />
zu können. Die AMOS-Preis-<br />
Stiftung wird nun mit 30.000 Euro<br />
Stiftungskapital gegründet. Dank an Fritz<br />
Röhm, der die Satzung formulierte und<br />
Absender:<br />
................................................................<br />
Name<br />
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Straße<br />
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PLZ Ort<br />
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Telefon Fax<br />
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Geburtstag(freiwillig) Beruf (freiwillig)<br />
OFFENE KIRCHE<br />
Evangelische Vereinigung in <strong>Württemberg</strong><br />
Geschäftsstelle: Reiner Stoll-Wähling<br />
Ilsfelder Straße 9, 70435 Stuttgart<br />
Telefon: (07 11) 5 49 72 11, Fax: 3 65 93 29<br />
email: geschaeftsstelle@offene-kirche.de<br />
Seite 12 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
Dieter Hödl<br />
prüfen ließ, und an die fünf Mitglieder<br />
des Stiftungsrates: Eva-Maria Agster,<br />
Christian Buchholz, Elfriede Dehlinger,<br />
Marc Dolde und Hans-Peter Ehrlich.<br />
Es wurde ein Entwurf des neuen<br />
Wahlprogramms verteilt mit dem<br />
Aufruf, ihn in den Bezirken zu diskutieren.<br />
Daraufhin kamen viele Änderungswünsche<br />
an den Leitungskreis. Vor der<br />
Mitgliederversammlung wurden Wahlaufruf<br />
und Wahlprogramm verschickt,<br />
damit beide verabschiedet werden<br />
Reiner Stoll-Wähling<br />
können. Als UnterstützerInnen auf den<br />
Wahl-Faltblättern meldeten sich bisher<br />
über 100 Mitglieder. Auch ein neuer<br />
Imageflyer wurde konzipiert, um die OK<br />
bekannter zu machen. Die OK müsse<br />
sich bemühen, neue Wählerschichten<br />
zu erreichen, besonders junge. „Wir<br />
können leider nicht auf die Jugendarbeit<br />
zurückgreifen, wie sie das ejw hat“,<br />
sagte Rainer Weitzel.<br />
Das Motto der Wahlkampf-Kampagne<br />
heißt: „Mehr Inhalt, mehr Vielfalt, mehr<br />
Biss“. Ziel ist, eine hohe Wahlbeteiligung<br />
zu erreichen. Rainer Weitzel<br />
berichtete, dass Herr Duncker im OKR<br />
zugegeben habe, bei der letzten Wahl<br />
seien zu Ungunsten der OK nicht alle<br />
Unterlagen verteilt worden. Duncker<br />
betonte dabei, es sei Dienstpflicht jedeR<br />
PfarrerIn, die Wahl ordentlich durchzu-<br />
führen. Auch Briefwahl<br />
dürfe nicht behindert<br />
werden. Da sich einige<br />
Dekanatssekretärinnen<br />
beschwert hätten, so viel<br />
Papier verarbeiten zu<br />
müssen, hat sich die OK<br />
bereit erklärt, an jeden<br />
<strong>Kirche</strong>nbezirk so viele Flyer<br />
zu schicken, wie er braucht,<br />
vorsortiert nach <strong>Kirche</strong>ngemeinden.<br />
Nach einer<br />
Generaldebatte und etlichen<br />
Änderungswünschen wurde<br />
das Wahlprogramm bei zwei<br />
Enthaltungen beschlossen.<br />
Ebenso wurde auf Wunsch<br />
von Mitgliedern noch<br />
einiges im Wahlaufruf<br />
geändert und dieser bei<br />
einer Enthaltung beschlossen.<br />
Die Entlastung des Vorstands konnte<br />
laut Fritz Röhm, einem der beiden<br />
Rechnungsprüfer, noch nicht formell<br />
geschehen, da das Finanzamt Stuttgart<br />
den Freistellungsbescheid zur Körperschafts-<br />
und Gewerbesteuer für die Jahre<br />
2003, 2004 und 2005 so spät geschickt<br />
habe, dass die Buchhaltung für 2005<br />
nicht mehr rechtzeitig geprüft werden<br />
konnte. Zur nächsten Versammlung<br />
werden dann beide Jahre zusammen<br />
geprüft. Der Haushaltsplan stand aber<br />
als Tischvorlage zur Verfügung.<br />
Trotzdem mussten<br />
Vorstand und Leitungskreis<br />
turnusgemäß neu<br />
gewählt werden. Dies<br />
geschah schon nach der<br />
neuen Satzung. Als<br />
Vorsitzende kandidierte<br />
Kathinka Kaden, als<br />
Stellvertreter Rainer<br />
Weitzel und als Rechner<br />
Reiner Stoll-<br />
Wähling. Alle drei<br />
wurden mit überwältigender<br />
Mehrheit<br />
wiedergewählt. Für den<br />
Leitungskreis stellten<br />
sich nur zwei Kandidatinnen<br />
und zwei<br />
Kandidaten zur Wahl,<br />
drei weitere wären<br />
noch wünschenswert<br />
gewesen. Einige<br />
Mitglieder wollten sich<br />
erst beim nächsten Mal<br />
aufstellen lassen. Die<br />
vier bisherigen LK-<br />
Mitglieder Albrecht<br />
Rainer Weitzel, Albrecht Bregenzer und<br />
Kathinka Kaden<br />
Der neugewählte Vorstand<br />
der OFFENEN KICHE<br />
Bregenzer, Cornelia Brox, Renate Lück,<br />
und Martin Plümicke wurden ebenfalls<br />
mit hohen Voten wiedergewählt.<br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 13
Asylpolitik<br />
Glück gehabt (?)<br />
Bruno Bäri<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Ergül Z. wurde in der Türkei von<br />
einem Staatssicherheitsgericht zu<br />
lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt,<br />
weil man ihm und anderen<br />
schwere Straftaten zugunsten einer<br />
angeblich terroristischen Vereinigung<br />
zur Last legte und Zeugen<br />
dafür vorführte. Er gestand die<br />
Taten – allerdings unter massiver<br />
Folter: „In der Zeit meiner Haft in<br />
der Polizeiabteilung für politische<br />
Angelegenheiten wurde ich unzählige<br />
Male mit Elektroschocks (an<br />
Geschlechtsorganen, Zunge und<br />
Ohren) gefoltert. Mehrmals wurde<br />
ich am ´palästinensischen Haken´<br />
aufgehängt, mehrere Tage musste<br />
ich ohne Schlaf und nackt an kalten<br />
Stellen verbringen. Sie tauchten<br />
meinen Kopf ins Wasser und stopften<br />
mir währenddessen die Nasenlöcher<br />
zu. Ich wurde zu einsamen<br />
Orten gebracht und mit dem Tode<br />
bedroht. Sie drohten auch damit,<br />
meine Familienangehörigen der<br />
Folter auszusetzen und sie umzubringen.“<br />
Das Geständnis widerrief<br />
er später. Ob er wirklich an den<br />
Straftaten beteiligt war, ist aus den<br />
Akten nicht ersichtlich.<br />
Viele Jahre war er im Zuchthaus und<br />
wurde dort weiter gefoltert. Nach einem<br />
Hungerstreik gelang ihm die Flucht nach<br />
Deutschland, wo er sich ordnungsgemäß<br />
mit seinem Namen anmeldete. Er<br />
wurde international gesucht. Im Asylverfahren<br />
wurde er als Flüchtling im<br />
Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention<br />
rechtskräftig anerkannt und eine<br />
Abschiebung ausgeschlossen: „Die<br />
Verurteilung des Antragstellers erfolgte<br />
ausweislich der vorgelegten Unterlagen<br />
durch ein Staatssicherheitsgericht.<br />
Durch den europäischen Gerichtshof für<br />
Menschenrechte wurde wiederholt<br />
festgestellt, dass die Strafverfahren vor<br />
den Staatssicherheitsgerichten gegen<br />
Art. 6 EMRK verstoßen. Bei Rückkehr in<br />
sein Heimatland wäre der Antragsteller<br />
menschenrechtswidrigen Übergriffen<br />
durch staatliche Organe ausgesetzt.<br />
Aufgrund seines Gesundheitszustandes<br />
wäre bei erneuter Inhaftierung auch sein<br />
Leben in Gefahr. Der Antragsteller darf<br />
mithin zum gegenwärtigen Zeitpunkt<br />
nicht in die Türkei abgeschoben werden.“<br />
Wer entscheidet?<br />
Doch die Türkei beantragte seine<br />
Auslieferung zur Verbüßung der<br />
Reststrafe von 22 Jahren. Daraufhin ließ<br />
sein Gastland Ergül Z. verhaften. Das<br />
Oberlandesgericht Frankfurt/M beschloss<br />
im April <strong>2006</strong>, ihn in vorläufige<br />
Auslieferungshaft zu nehmen, weil sonst<br />
die Gefahr bestünde, dass er sich dem<br />
Auslieferungsverfahren entzöge. Sechs<br />
Wochen später beschloss es, dass diese<br />
Auslieferungshaft „als förmliche fortdauere“.<br />
Die Begründung zeigte dem<br />
Flüchtling, egal was er tut, es wird ihm<br />
ein Strick daraus gedreht: Geht er<br />
juristisch nicht dagegen an, wird er in<br />
sein Heimatland abgeschoben und es<br />
blüht ihm wahrscheinlich erneute<br />
Folter. Geht er dagegen an, wird vom<br />
Gericht seines Gaststaates argumentiert:<br />
Ja, Du hast Dich völlig legal mit deinem<br />
Namen hier bei den Behörden angemeldet,<br />
aber dies beseitigt nicht „den<br />
gerade jetzt in besonderem Maße<br />
bestehenden Fluchtanreiz“. Denn seit er<br />
wusste, dass die Türkei seine Auslieferung<br />
beantragt hatte, sei ihm „nunmehr<br />
der Ernst der Lage besonders verdeutlicht<br />
worden“. Und da er auch noch<br />
Umstände vorgetragen hatte, wie<br />
„Herbeiführung des der Verurteilung<br />
zugrunde liegenden Geständnisses<br />
durch Folter und weiterhin drohende<br />
Folter“, ließen genau diese „den Anreiz<br />
zur Flucht deutlich werden“, weshalb<br />
Folterzelle im „U-Boot“ des ehemaligen<br />
Stasi-Gefängnisses in Berlin-<br />
Hohenschönhausen<br />
das Gericht feststellte: „Dieser Fluchtgefahr<br />
kann auch nicht durch mildere<br />
Maßnahmen begegnet werden.“ Auch<br />
die „Verhältnismäßigkeit“ sei durchaus<br />
gewahrt. Auf die Entscheidung des<br />
Bundesamtes für die Anerkennung<br />
ausländischer Flüchtlinge und des<br />
Verwaltungsgerichts zu seinen Gunsten<br />
gingen die RichterInnen des Oberlandesgerichts<br />
überhaupt nicht ein.<br />
Drei Monate später stellte das gleiche<br />
Oberlandesgericht (zwei der drei<br />
RichterInnen waren auch im Mai<br />
beteiligt) fest, dass seine Auslieferung<br />
unzulässig sei. Der Haftbefehl wurde<br />
aufgehoben. Ergül Z. war wieder frei.<br />
Das Gericht meint allerdings weiter,<br />
dass das Urteil des Staatssicherheitsgerichts<br />
„nicht auf Folter beruht“. Nach<br />
einer Auslieferung würden ihm zudem<br />
keine „Folter, menschenunwürdige<br />
Behandlung und Repressalien drohen“.<br />
Warum kam er dann wieder frei? Die<br />
RichterInnen hatten Zweifel bekommen,<br />
Zweifel, weil sie über das Staatssicherheitsgericht<br />
nachgedacht hatten: „Diese<br />
staatlichen Sicherheitsgerichte und ihre<br />
Verfahren standen in ständiger Kritik der<br />
UNO, verschiedener Menschenrechtsorganisationen<br />
und der Regierungen<br />
und Gerichte der Mitgliedsstaaten der<br />
EU.“ Es entstanden Zweifel, weil „an<br />
der in Rede stehenden Entscheidung ein<br />
Militärrichter beteiligt war“, weil „nicht<br />
mit Sicherheit erkennbar (ist), dass<br />
(Ergül Z.) während des gesamten<br />
Verfahrens von einem Verteidiger<br />
vertreten wurde“ (weder in dem<br />
Hauptverhandlungsprotokoll noch in<br />
dem Urteil ist von Ausführungen eines<br />
Verteidigers die Rede) und weil „nicht<br />
erkennbar ist, ob es dem Verfolgten als<br />
Angeklagten möglich war, in der<br />
Hauptverhandlung oder davor direkt<br />
Fragen an die ihn belastenden und<br />
identifizierenden Zeugen zu stellen“.<br />
Offensichtlich alles Umstände, die erst<br />
im August zu Tage traten.<br />
„Gott sei Dank habe ich ziemlich viel<br />
oder gerade genug Glück gehabt, dass<br />
sich die RichterInnen doch noch<br />
informiert haben“, atmete Ergül Z. auf.<br />
(Die Zitate stammen aus der Entscheidung<br />
des Bundesamtes, von ihm selbst<br />
und aus den verschiedenen Urteilen des<br />
Oberlandesgerichts Frankfurt/M. Der<br />
Name ist geändert.)<br />
Seite 14 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
Asylpolitik<br />
Bleiberecht für Flüchtlinge<br />
Die Angst ist begründet, wenn das<br />
Regierungspräsidium (oder der Innenminister)<br />
beschließt, dass die mittlerweile<br />
erwachsenen Kinder nun in ihre<br />
„Heimat“ zurückgehen müssten – in<br />
eine Heimat, die sie nicht kennen, deren<br />
Sprache sie nicht oder nur lückenhaft<br />
sprechen, deren Schrift sie nicht lesen<br />
können und in der sie keine Zukunft<br />
haben. Afghanische Mädchen sollen<br />
nach Abschluss der Schule ausreisen in<br />
ein Land, in dem nicht einmal europäische<br />
Soldaten sicher sind. Junge Albanerinnen<br />
wurden ohne ihre Eltern in den<br />
Kosovo und nach Jugoslawien abgeschoben,<br />
obwohl sie hier Arbeit hatten und<br />
niemandem zur Last fielen. Eine zum<br />
Christentum übergetretene Iranerin soll<br />
mit ihren Kindern bis Ende des Jahres<br />
ins Land des Herrn Mahmud Ahmadinedschad<br />
ausreisen. Wie und wovon sollen<br />
sie dort leben? Ein eindrückliches<br />
Beispiel ist auch die Geschichte von<br />
Ergül Z., siehe „Glück gehabt“. Unionsgeführte<br />
Länder unterstellen der<br />
Ärzteschaft, Gefälligkeitsatteste auszustellen.<br />
Selbst Gutachten von staatlichen<br />
Gesundheitsämtern nehmen sie nicht<br />
für voll. Ein angekündigter Arzt, der<br />
einen kranken Mann im Flugzeug<br />
begleiten sollte, erwies sich in (mindestens)<br />
einem Fall als eine Tüte mit<br />
drei Medikamentenschachteln. Als ein<br />
Ehepaar von der Polizei abgeholt wurde,<br />
das seit 16 Jahren in Deutschland lebte,<br />
sprang der Mann vom Balkon. Seine<br />
Frau wurde nach Söllingen gebracht,<br />
ohne zu wissen ob er lebt oder tot ist.<br />
Wenn dieses <strong>Heft</strong> erscheint, haben<br />
Deutschlands Innenminister gerade über<br />
ein Bleiberecht für langjährige Asylbewerber<br />
diskutiert und hoffentlich etwas<br />
Menschliches beschlossen. Mut hatte<br />
den Asylgruppen und <strong>Kirche</strong>n Wolfgang<br />
Renate Lücki<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Etwa 10.000 geduldete Flüchtlinge leben schon länger als zehn Jahre in Baden-<br />
<strong>Württemberg</strong>, 16.000 länger als sechs Jahre. „Geduldet“ sein heißt, dass die<br />
Fluchtgründe nicht anerkannt wurden und dass man nur aus gesundheitlichen<br />
oder humanitären Gründen noch da ist, aber eigentlich jeden Tag abgeschoben<br />
werden kann. Das bedeutet wiederum, dass Jugendliche keine Lehrstelle und<br />
Erwachsene kaum Arbeit bekommen. Manche Branchen sind für sie regelrecht<br />
verboten, in den meisten haben Deutsche, Europäer und Saisonarbeiter<br />
Vorrang. Vielen Chefs ist es auch zu mühsam, alle drei Monate (oder wie lange<br />
die Duldung gilt) eine neue Arbeitserlaubnis zu beantragen. Geduldet sein<br />
heißt, in ständiger Ungewissheit zu leben. Geduldet sein heißt Angst.<br />
Schäubles Vorstoß gemacht, endlich<br />
einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu<br />
schaffen für lange in Deutschland<br />
lebende Flüchtlinge und deren Kinder.<br />
Doch die Eckdaten, die vorher aus<br />
Arbeitskonferenzen sickerten, ließen<br />
befürchten, dass es doch wieder eine<br />
„Mogelpackung“ wird, so <strong>Kirche</strong>nrat<br />
Henry von Bose, Vorstand im Diakonischem<br />
Werk <strong>Württemberg</strong>. „Wir<br />
dürfen nicht zulassen, dass die Betroffenen<br />
erneut nachweisen müssen, dass sie<br />
ihren Lebenunterhalt durch legale Arbeit<br />
bestreiten, während ihnen gleichzeitig<br />
die Arbeitserlaubnis versagt wird.“ Auch<br />
der Flüchtlingsrat Baden-Würtemberg<br />
mahnte dringend an, dass das Bleiberecht<br />
nicht an einen festen Arbeitsplatz<br />
gebunden sein dürfe, weil es abgesehen<br />
von der Vorrangregelung kaum noch<br />
feste Arbeitsplätze gebe. Im Vordergrund<br />
müsste das Wohl der Kinder und<br />
Jugendlichen stehen, die hier aufgewachsen<br />
sind. „Es versteht sich von<br />
selbst, dass Familien nicht auseinander-<br />
gerissen werden dürfen. Auch die Eltern<br />
sollten bleiben dürfen, da sie später auf<br />
die Unterstützung ihrer Kinder angewiesen<br />
sind.“<br />
Auf der Homepage von PRO ASYL<br />
werden weitere Probleme aufgelistet,<br />
zum Beispiel die Verlängerung der 35prozentigen<br />
Kürzung der Sozialhilfe.<br />
Noch endet diese Restriktion nach drei<br />
Jahren, um den Menschen wenigstens<br />
verspätet eine minimale Teilhabe am<br />
gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.<br />
Der niedersächsische Innenminister<br />
Uwe Schünemann hält dies<br />
aber für eine Belohnung für ausreisepflichtige<br />
Ausländer, die sich weigern,<br />
ihrer Ausreisepflicht nachzukommen<br />
(dies ist die offizielle Bezeichnung für<br />
geduldete Asylbewerber). „Damit erhält<br />
sein Vorschlag den Charakter einer<br />
Kollektivstrafe, zumal die Asylbewerberleistungen<br />
weit unterhalb des Existenzminimums<br />
liegen, überwiegend als<br />
Sachleistungen gewährt werden und der<br />
minimale Taschengeldbetrag seit 1993<br />
nicht erhöht worden ist. Zudem sind<br />
bereits nach geltendem Recht Ausländer,<br />
die durch ihr Verhalten eine<br />
Abschiebung verhindern, dauerhaft von<br />
Leistungen ausgeschlossen.“<br />
Ausweglos auch, wenn die Staatsangehörigkeit<br />
angezweifelt wird oder<br />
Dokumente verlangt werden, die eine<br />
geflohene Person von ihrem Herkunftsstaat<br />
nicht erhalten kann. Welcher<br />
Folterer stellt schon eine Bescheinigung<br />
aus und welche Milizen unterschreiben<br />
eine Quittung, nachdem sie das Haus<br />
ausgeräumt haben. Durch eine großzügige<br />
Bleiberechtsregelung würde die<br />
Praxis der Kettenduldungen abgeschafft<br />
und den Flüchtlingen nach Jahren der<br />
Angst und Unsicherheit eine Zukunft<br />
gegeben. „Damit wäre nicht nur ihnen,<br />
sondern auch dem sozialen Frieden<br />
gedient“, so der Flüchtlingsrat Baden-<br />
<strong>Württemberg</strong>.<br />
HAUPTHERKUNFTSLÄNDER 2005<br />
ASYLERSTANTRÄGE IN DEUTSCHLAND<br />
GESAMT: 28.914<br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 15<br />
sonstige<br />
39,7 %<br />
Serbien und Montenegro<br />
19,1 %<br />
Türkei 10,2 %<br />
China 2,2 %<br />
Irak 6,9 %<br />
Afghanistan 2,5 %<br />
Russische Föderation 5,9 %<br />
Aserbaidschan 2,9 %<br />
Vietnam 4,2 %<br />
Quelle: BAMF<br />
Grafik: PRO ASYL<br />
Iran 3,2 % Syrien 3,2 %
Dekade<br />
<strong>Offene</strong>r Brief<br />
Sehr geehrter Herr Landesbischof,<br />
Sie haben am 13. Juli <strong>2006</strong> Ihren ersten<br />
Bischofsbericht vor der 13. <strong>Württemberg</strong>ischen<br />
Evangelischen Landessynode<br />
gehalten. Er hat mich sehr beeindruckt<br />
und ermutigt und mir den Anstoß<br />
gegeben, einen „Leserbrief zum<br />
Bischofsbericht <strong>2006</strong>“ an einige hundert<br />
E-Mail-Adressen zu schicken, die ich im<br />
Lauf der Jahre gesammelt habe. Auch<br />
Ihre Adresse war unter den Empfängern.<br />
Es geht mir um ein öffentliches, ein<br />
politisches Anliegen. „Denn Religion ist<br />
mehr als eine Privatsache“ (S. 13 Ihres<br />
Bischofsberichts).<br />
Der Ökumenische Rat der <strong>Kirche</strong>n hat<br />
die Jahre 2001 – 2010 als „Dekade zur<br />
Überwindung von Gewalt“ ausgerufen.<br />
Was kann ich, was können wir, was<br />
kann unsere <strong>Kirche</strong> zur „Überwindung<br />
von Gewalt“ tun?<br />
Ich denke beim Wort „Gewalt“ zuerst<br />
an die massenhafte Tötung und Verstümmelung<br />
von Menschen im Krieg<br />
und die Zerstörung von Häusern,<br />
Kulturwerten und Infrastrukturen<br />
ganzer Länder. Man hat in Jahrhunderten<br />
über die Frage diskutiert, ob es<br />
„gerechte Kriege“ geben könne. Diese<br />
Diskussion hat die schrecklichsten<br />
Kriege nicht verhindern können.<br />
Ich schlage vor, die Fragestellung zu<br />
verändern. Darf irgendein Mensch<br />
einem anderen Menschen erlauben oder<br />
befehlen, einen Mitmenschen zu töten?<br />
Darf die Regierung unseres Staates, darf<br />
irgendeine Regierung unter Berufung<br />
auf das „Gewaltmonopol“ weiterhin die<br />
„Lizenz zum Töten“ für sich in Anspruch<br />
nehmen? Dürfen wir das im<br />
Hinblick auf „Gott“, auf den sich die<br />
meisten Staatsbeamten in unserem<br />
christlichen (?) Europa noch vereidigen<br />
lassen, im Hinblick auf Jesus Christus,<br />
zu dem sich die christlichen Parteien in<br />
unserem Staat bekennen, im Hinblick<br />
auf Art. 1 unseres Grundgesetzes, in<br />
dem die Würde des Menschen für<br />
unantastbar erklärt wird?<br />
Es ist mir vollkommen klar, wie radikal<br />
und weitgehend diese Anfrage ist. Ich<br />
bin aber tief davon überzeugt, dass sie<br />
einmal gestellt werden muss. Ich hoffe<br />
auch darauf, dass eine intensive Diskussion<br />
über diese Frage zu einer wirklich<br />
entscheidenden Änderung und Umkehr<br />
in der Politik führen kann.<br />
Sie werden verstehen, sehr geehrter<br />
Herr Landesbischof, dass ich die<br />
Empfängerinnen und Empfänger meiner<br />
E-Mail gebeten habe, den Brief mit zu<br />
unterzeichnen, dass ich Ihnen also<br />
diesen Brief als <strong>Offene</strong>n Brief zukommen<br />
lasse.<br />
Ich bitte darum, dass mein Bischof und<br />
die verantwortlichen Organe unserer<br />
Landeskirche meine Anfrage hören,<br />
meine Argumente und die vieler anderer<br />
engagierter Christen und Staatsbürgerinnen<br />
prüfen.<br />
In Erwartung Ihrer Antwort und in<br />
schuldigem Respekt grüße ich Sie<br />
freundlich<br />
Ihr Werner Dierlamm<br />
Eine Antwort stand bei Drucklegung<br />
noch aus, wird Ihnen aber nicht<br />
vorenthalten werden. Die Redaktion<br />
Atomwaffen sind ein<br />
Verbrechen gegen<br />
die Menschheit<br />
Aus einem Referat von Dr. Sören<br />
Widmann bei der Tagung „Atomwaffen<br />
– Eine Herausforderung für den Frieden“<br />
in der Evang. Akademie Bad Boll.<br />
Die Stimme der nichtkatholischen<br />
<strong>Kirche</strong>n:<br />
▲ die Atomstaaten sollen ihre Kernwaf-<br />
Immer aktuell. Immer schnell.<br />
Schauen Sie vorbei!<br />
www.<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />
Auch den Ökumenischen<br />
Frauenkongress 2007 finden Sie<br />
bei uns. Und noch viel mehr!<br />
fen reduzieren und unter Aufsicht<br />
zerstören;<br />
▲ sie sollen sich verpflichten, nicht als<br />
erste Kernwaffen einzusetzen und nicht<br />
mit deren Einsatz drohen;<br />
▲ sie sollen die hohe Alarmbereitschaft<br />
ihrer Kernwaffen aufheben und alle<br />
Kernwaffen aus Nichtnuklearstaaten<br />
entfernen;<br />
▲ die Autorität der Internationalen<br />
Atombehörde soll gestärkt und die<br />
Nuklearwaffenstaaten Indien, Israel und<br />
Pakistan, die den NPT nicht unterzeichnet<br />
haben, sollen zum Beitritt und<br />
Nordkorea zum Wiedereintritt gedrängt<br />
werden;<br />
▲ die <strong>Kirche</strong>n schließlich sollen der<br />
allgemeinen Ignoranz und Gleichgültigkeit<br />
hinsichtlich der nuklearen Bedrohung<br />
aktiv entgegenwirken, sie sollen<br />
ihre Regierungen drängen, gemeinsame<br />
Verantwortung für den Prozess der<br />
internationalen nuklearen Abrüstung zu<br />
übernehmen und sie sollen selbst -auch<br />
in Zusammenarbeit mit anderen Religionen-<br />
für die Errichtung atomwaffenfreier<br />
Zonen werben, wie sie bereits in<br />
Lateinamerika, Afrika, Südostasien und<br />
im Pazifik existieren.<br />
Aus der Resolution der 9. Vollversammlung<br />
des Ökumenischen Rates der<br />
<strong>Kirche</strong>n in Porto Alegre/ Brasilien im<br />
Februar <strong>2006</strong>.<br />
Jüngste Stellungnahme der katholischen<br />
Weltkirche:<br />
„Was soll man über die Regierungen<br />
sagen, die sich auf Nuklearwaffen<br />
verlassen, um die Sicherheit ihrer<br />
Länder zu gewährleisten? Gemeinsam<br />
mit unzähligen Menschen guten Willens<br />
kann man behaupten, dass diese<br />
Sichtweise nicht nur verhängnisvoll,<br />
sondern völlig trügerisch ist. In einem<br />
Atomkrieg gibt es nämlich keine Sieger,<br />
sondern nur Opfer. Alle Regierungen,<br />
die Atomwaffen besitzen oder anstreben,<br />
müssen auf Gegenkurs gehen und<br />
sich auf fortschreitende und gegenseitig<br />
vereinbarte Atomabrüstung ausrichten.<br />
In diesem Zusammenhang kann man<br />
nicht umhin, mit Bitterkeit... den<br />
besorgniserregenden Anstieg der<br />
Militärausgaben ... festzustellen, während<br />
der von der internationalen<br />
Gemeinschaft in Gang gesetzte politische<br />
und rechtliche Prozess einer<br />
fortschreitenden Abrüstung im Sumpf<br />
einer nahezu allgemeinen Gleichgültigkeit<br />
stagniert.“<br />
Benedikt XVI. in seiner Friedensbotschaft<br />
zum Weltfriedenstag 1. 1.<br />
<strong>2006</strong>.<br />
Seite 16 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
Gerechtigkeit<br />
Partnerschaft auf Augenhöhe<br />
Aalen (Deutschland) – Akyem Abuakwa (Ghana)<br />
„Auf Augenhöhe“ – so lautet die<br />
Selbstbeschreibung der Partnerschaft<br />
zwischen dem Evangelischen <strong>Kirche</strong>nbezirk<br />
Aalen der Evangelischen Landeskirche<br />
in <strong>Württemberg</strong> und dem Akyem<br />
Abuakwa Presbytery der Presbyterian<br />
Church of Ghana. Handelt es sich dabei<br />
nur um eine weitere Einbahnstraße des<br />
Geldverkehrs mit überhöhtem Anspruch?<br />
Das zehnjährige Jubiläum der<br />
Partnerschaft im Jahr <strong>2006</strong> ist der<br />
Anlass, der Öffentlichkeit eine Partnerschaftsarbeit<br />
vorzustellen, die ihresgleichen<br />
sucht. Im Zentrum der Partnerschaft<br />
steht nicht ein Entwicklungshilfeprojekt,<br />
sondern die Begegnung von<br />
ghanaischen und deutschen Christen<br />
beider <strong>Kirche</strong>n.<br />
Die Anfänge (1980 – 1993)<br />
Am Anfang steht der persönliche<br />
Kontakt Einzelner: Nach dem Besuch<br />
der Leiterin der Frauenfachschule<br />
Begoro 1980 in Aalen entwickelt sich<br />
hier ein Unterstützungs- und Aktionsnetzwerk.<br />
In der Folgezeit finden in<br />
Begoro und weiteren Orten Ghanas<br />
Workcamps mit verschiedenen Bauprojekten<br />
statt. Auf deutscher Seite ist<br />
neben der <strong>Kirche</strong>ngemeinde Aalen<br />
immer wieder das Jugendwerk des<br />
<strong>Kirche</strong>nbezirks in die Begegnungen<br />
eingebunden. Kleinere Delegationen<br />
dienen dem gegenseitigen Kennenlernen,<br />
der Vorbereitung der Workcamps<br />
in Ghana sowie der Verankerung<br />
der Beziehung im Leben der Partner.<br />
Vom Direktkontakt zur Bezirkspartnerschaft<br />
(1993 – 1996)<br />
Aufgrund personeller Veränderungen<br />
Anfang der 90er Jahre in Aalen wird der<br />
Ravinder Saloojai<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Partnerschaften werden hinterfragt. Von ihrem Anspruch her finden in den<br />
kirchlichen internationalen Beziehungen auf der Ebene von Partnerschaftsgruppen,<br />
Gemeinden, <strong>Kirche</strong>nkreisen oder Landeskirchen echte Begegnungen<br />
gleichrangiger Partner statt. Die wenigen Studien, die es überhaupt zu<br />
kirchlichen Partnerschaftsbeziehungen gibt, machen allerdings deutlich, dass<br />
dieser Anspruch in den seltensten Fällen eingelöst ist. Nicht selten nimmt nach<br />
einiger Zeit die Finanzierung eines Entwicklungshilfeprojektes immer größeren<br />
Raum und viele Ressourcen in Anspruch. Wenn aber, wie es in einem<br />
tansanianischen Sprichwort heißt, „die Hand des Gebers höher ist als die des<br />
Nehmers“, so ist fraglich, ob dann überhaupt noch von echter Partnerschaft<br />
geredet werden kann.<br />
<strong>Kirche</strong>nbezirk Aalen gebeten, die<br />
Beziehung als Aufgabe des <strong>Kirche</strong>nbezirks<br />
weiterzuführen. Unter Einbeziehung<br />
des Evangelischen Missionswerks<br />
in Südwestdeutschland ems<br />
beginnt ein Prozess, der zur Vereinbarung<br />
der Partnerschaft führt. Um zu<br />
gewährleisten, dass die Ausweitung der<br />
ursprünglich Aalener Kontakte von den<br />
anderen Gemeinden im <strong>Kirche</strong>nbezirk<br />
Aalen auch wirklich mitgetragen wird,<br />
werden diese um ein entsprechendes<br />
Votum gebeten, bevor die Bezirkssynode<br />
Aalen der Partnerschaft zustimmt. Am<br />
4. Oktober 1996 unterzeichnen Chairman<br />
Reverend K.A. Nuamah und Dekan<br />
Erich Haller in Aalen die Partnerschaftsurkunde.<br />
Mit der Partnerschaftsvereinbarung<br />
weitet sich der Blick aus Deutschland<br />
(wie wohl auch umgekehrt) auf das<br />
gesamte Presbytery aus; der Kontakt<br />
nach Ghana wird eine Aufgabe aller<br />
Gemeinden des <strong>Kirche</strong>nbezirks. Zu den<br />
in der Vereinbarung genannten Zielen<br />
der Partnerschaft gehört neben dem<br />
gegenseitigen Anteilgeben an den<br />
geistlichen, kulturellen und materiellen<br />
Reichtümern auch das Kennenlernen<br />
und Informieren über das Leben und<br />
den Glauben der Partner. Die geglaubte,<br />
erbetene und zu verwirklichende<br />
Einheit in Christus ist dabei der alles<br />
umschließende Bezugsrahmen.<br />
Auf dem Weg zu neuen Formen der<br />
Begegnung (1996 – 2000)<br />
Als erste größere Begegnung im Rahmen<br />
der neuen Partnerschaft findet 1998 ein<br />
von langer Hand vorbereitetes Aufbaulager<br />
in Kyebi statt. Dort soll am Sitz des<br />
Chairperson des Akyem Abuakwa<br />
Presbytery ein Gästehaus (Transitquarter)<br />
gebaut werden. Trotz der<br />
kritischen Stimmen, die auf deutscher<br />
Seite im Verlauf der Vorbereitungen vor<br />
allem mit Blick auf das zu bauende<br />
Objekt laut werden, ist dieses im Geist<br />
früherer Begegnungen veranstaltete<br />
Workcamp ein wichtiger Schritt auf dem<br />
Weg zur gegenwärtigen Begegnungsarbeit.<br />
In der Auswertung wird nämlich<br />
deutlich, daß die Zeit des gemeinsamen<br />
Lebens und Arbeitens an einer gemeinsamen<br />
Sache optimal die intensive<br />
Begegnung der Teilnehmer ermöglicht.<br />
Auch berichten die zurückkehrenden<br />
Teilnehmer begeistert von den Gottesdiensten<br />
mit Musik und Tanz, die sie<br />
während ihres Aufenthalts in Ghana<br />
erleben.<br />
Im Frühjahr 1998 war schon einmal der<br />
Gedanke aufgetaucht, dass doch vielleicht<br />
ein Chor aus Ghana die Partner-<br />
Unterzeichnung der Partnerschaftsurkunde am 4. Oktober 1996 in Aalen; (v.l.)<br />
Eberhard Renz (damals Landesbischof), Rev. K. A. Nuamah (damals Chairman des<br />
Akyem Abuakwa Presbytery), Dekan Erich Haller.<br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 17
schaft auf breiter Basis voranbringen<br />
könnte. Diese Idee verbindet sich mit<br />
der Auswertung des 1998er Workcamps,<br />
und noch im Dezember 1998<br />
heißt es in einem Brief nach Ghana:<br />
„Wäre es nicht eine gute Idee, Christen<br />
aus den <strong>Kirche</strong>nbezirken Akyem<br />
Abuakwa und Aalen, die an Gottesdiensten<br />
interessiert sind, in einem Workshop<br />
zusammenzubringen? Hinterher<br />
könnten sie in verschiedenen Gemeinden<br />
unseres <strong>Kirche</strong>nbezirks Gottesdienste<br />
feiern.“ Die Antwort aus Ghana<br />
nimmt diese Idee begeistert auf und<br />
schlägt ein Vorbereitungstreffen für<br />
dasselbe Jahr vor.<br />
Als die dreiköpfige ghanaische Vorbereitungsgruppe<br />
im Herbst 1999 nach<br />
Aalen kommt, ist die Idee auf beiden<br />
Seiten durch weitere Briefwechsel<br />
gereift. So gelingt es in kürzester Zeit,<br />
Thema, Rahmen, Struktur sowie<br />
Grundelemente festzulegen. Die<br />
Leitfrage lautet: „Wie kann ich heute<br />
Menschen mit der Botschaft von Jesus<br />
Christus erreichen, die nicht zur<br />
Gemeinde gehören bzw. sich von ihr<br />
abgewandt haben? Wie müsste ein<br />
Gottesdienst mit diesem Ziel gestaltet<br />
sein?“ Vereinbart wird ein musikalisches<br />
Projekt mit biblischem Bezugsrahmen.<br />
Ziel des Workshops, für den in der<br />
Zwischenzeit die Bezeichnung „Music &<br />
Mission“ geprägt wurde, ist die Erarbeitung<br />
einer gottesdienstlichen Performance.<br />
Kein leichtes Unterfangen, denn<br />
Sponsoren und Fördermittelgeber<br />
müssen überzeugt werden, ein Projekt<br />
zu unterstützen, das noch nie dagewesen<br />
ist und dessen Ausgang ebenfalls<br />
offen sein würde; in den Gemeinden des<br />
<strong>Kirche</strong>nbezirks Aalen muss für eine<br />
Veranstaltung geworben werden, dessen<br />
Inhalt und Ablauf sich erst wenige Tage<br />
vor dem Ereignis herausschälen würde.<br />
„Music & Mission“ 2000: „Nkwa<br />
Nsuo – Lebendiges Wasser“<br />
Der Workshop „Music & Mission“ 2000<br />
wird ein Erfolg: „Händels Hallelujah mit<br />
afrikanischem Trommelwirbel“ titelt<br />
eine Lokalzeitung nach den ersten<br />
Aufführungen: Sechsmal wird eine<br />
interkulturelle Performance gezeigt, die<br />
die Besucher begeistert und zu Teilnehmenden<br />
werden läßt. Musik, Tanz,<br />
Theater und Verkündigung des Evangeliums<br />
verbinden sich in der Performance<br />
„Nkwa Nsuo – Lebendiges Wasser“ zur<br />
Präsentation einer partnerschaftlichen<br />
Begegnung „auf Augenhöhe“.<br />
Wichtiger noch als die erfolgreiche<br />
Präsentation ist aber die intensive<br />
Erarbeitung der Performance in den<br />
Tagen zuvor: elf Tage leben die 20<br />
Teilnehmer aus Ghana und Deutschland<br />
miteinander auf der Kapfenburg. Sie<br />
bringen sich gegenseitig die musikalischen<br />
Traditionen ihrer Kulturen bei,<br />
lernen Instrumente spielen und Lieder<br />
singen und erfahren von Musik- und<br />
Gesangstraditionen beider Länder bzw.<br />
Kulturen. Vor allem aber begegnen sie<br />
sich als Gleichberechtigte: In der<br />
gemeinsamen Erarbeitung der Performance<br />
durch Auslegung des Bibeltextes,<br />
Verständigung über Verkündigungsinhalte,<br />
Ausarbeitung des Ablaufs der<br />
Performance und im Entwerfen von<br />
Anspielen, bringen die Teilnehmer ihre<br />
persönlichen und kulturellen Erfahrungen,<br />
Fähigkeiten und Hintergründe ein.<br />
Weitere Erfahrungen mit dem<br />
neuen Typ der Begegnungsarbeit<br />
(2000 – <strong>2006</strong>)<br />
Nach dieser erfolgreichen Begegnung<br />
geht es um die wichtige Frage: Ist das<br />
Konzept übertragbar? Kann es auch in<br />
Ghana durchgeführt werden, und<br />
können auch andere Zielgruppen<br />
angesprochen werden? 2002 findet das<br />
Gegenprogramm „Music & Mission II“<br />
in Ghana statt. Auch in Ghana wird der<br />
Workshop mit den Phasen Begegnung,<br />
Präsentation und Kennenlernen von<br />
Land und Leuten ein Erfolg: „Kann es<br />
sein, daß Weiße und Schwarze sich so<br />
eng begegnen können wie wir es hier<br />
erleben?“ – immer wieder ist diese<br />
Frage als Reaktion aus dem Publikum<br />
auf die Performances in den Gemeinden<br />
des Akyem Abuakwa Presbytery zu<br />
hören.<br />
Der dritte Partnerschafts-Workshop im<br />
Jahr 2005 (wieder in Deutschland) wird<br />
als Frauenbegegnung „Women – we<br />
strengthen each other / Wir Frauen<br />
stärken uns gegenseitig“ zu Lk. 15, 8-10<br />
veranstaltet. Über kreative Mittel<br />
(Töpfern, Batiken, Nähen, Musik, Tanz,<br />
TeilnehmerInnen des 2. Workshops<br />
„Musik & Mission“ in Ghana 2002<br />
Kochen) sowie in der Beschäftigung mit<br />
sozialen und gesellschaftlichen Themen<br />
(HIV/AIDS, Gesundheit und Krankheit,<br />
Alter, Mann und Frau) begegnen sich<br />
die zwölf Teilnehmerinnen aus Ghana<br />
und Deutschland in der Intensivphase<br />
des Workshops. Was sie miteinander<br />
erarbeiten und erleben, wird wie bei<br />
den beiden vorangegangenen Workshops<br />
in sieben melodramatischen<br />
Performances einem größeren Interessentenkreis<br />
vermittelt. Mit dieser dritten<br />
Begegnung des neuen Typs ist die<br />
Übertragbarkeit auch auf andere Zielgruppen<br />
erfolgreich erprobt. Für 2007<br />
wurde mittlerweile als Reverse-Programm<br />
in Ghana ein Frauenworkshop<br />
„Let’s join the way of hope / Gemeinsam<br />
auf dem Weg der Hoffnung“ mit<br />
Mirjam als zentraler Bezugsperson<br />
vereinbart.<br />
Wie „Begegnung auf Augenhöhe“<br />
gelingt<br />
Drei Elemente sind konstitutiv für einen<br />
Partnerschafts-Workshop: die Begegnung<br />
in der gemeinsamen Erarbeitung<br />
einer Präsentation; die Multiplikation<br />
des Workshopgeschehens mit Hilfe der<br />
Präsentation des Erarbeiteten und das<br />
Kennenlernen von Land und Leuten.<br />
Obwohl die finanziellen Kosten überwiegend<br />
von Aalen als dem finanzstärkeren<br />
Partner getragen werden,<br />
spielt diese Tatsache in der aktuellen<br />
Begegnung keine Rolle mehr. Vielmehr<br />
kommen die Teilnehmerinnen und<br />
Teilnehmer als Personen zum Zug.<br />
Naturgemäß sind die Workshops auf<br />
einen kleinen Teilnehmerkreis von 16<br />
bis 20 Personen begrenzt. Das ist<br />
sinnvoll, weil die Erfahrung lehrt, dass<br />
mit zunehmender Gruppengröße die<br />
Intensität der Begegnung abnimmt.<br />
Durch die Präsentation des Erarbeiteten<br />
wird einem größeren Interessentenkreis<br />
die Beteiligung am Workshopgeschehen<br />
ermöglicht; der Workshop wirkt auf<br />
diese Weise in die Gemeinden der<br />
<strong>Kirche</strong>nbezirke hinein. Exkursionen und<br />
Begegnungen der Art, wie sie auch sonst<br />
bei Delegationsbesuchen und Partnerschaftsreisen<br />
üblich sind, runden das<br />
Kennenlernen von Land und Leuten ab<br />
und verorten die Begegnung im konkreten<br />
Lebenskontext der gastgebenden<br />
<strong>Kirche</strong>.<br />
Die Besonderheit der Partnerschaftsbeziehung<br />
zwischen Aalen und Akyem<br />
Abuakwa ist auch außerhalb der direkt<br />
Beteiligten und Verantwortlichen<br />
bekannt. Reverend Yaw Frimpong-<br />
Seite 18 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
Feier des 10jährigen Jubiläums der Partnerschaft in Kyebi<br />
(Ghana) August <strong>2006</strong><br />
Manso, Moderator der Presbyterian<br />
Church of Ghana, unterstrich im<br />
Rahmen der Feiern zum zehnjährigen<br />
Jubiläum im August <strong>2006</strong> in Ghana:<br />
„Diese Partnerschaft ist für mich eine<br />
Partnerschaft von Gleichen in Christus.<br />
Sie folgt nicht dem Motto ‘Wir haben<br />
das Wissen und zeigen euch, wie es<br />
geht’.“<br />
Zukunftsmusik (<strong>2006</strong> – basileia tou<br />
theou)<br />
Ideen für zukünftige Begegnungen, die<br />
sowohl in Ghana wie in Deutschland<br />
umgesetzt werden können, sind bereits<br />
vorhanden. Ein Workshop für Pädagogen:<br />
diese könnten gemeinsam Unterrichtseinheiten<br />
erarbeiten und in einer<br />
zweiten Phase dann auch unterrichten;<br />
die Multiplikation fände also unter<br />
Jugendlichen im schulischen Bereich<br />
oder anderen pädagogischen Handlungs-<br />
Theologische Meilensteine<br />
Ernst Käsemann, dem prophetischen Lehrer,<br />
geboren am 12. Juli 1906, zum Gedenken<br />
Ernst Käsemann für einen Lehrer der<br />
<strong>Kirche</strong> zu halten, sei nicht möglich,<br />
gutachtete Künneth-Assistent Wolfram<br />
Kopfermann, der 20 Jahre später seine<br />
eigene (charismatische) Freikirche<br />
gründete. Wir, die wir in den 60er<br />
Jahren in Tübingen bei ihm studierten,<br />
haben das ganz anders gesehen.<br />
Fasziniert von seiner mitreißenden<br />
Diktion, von seiner philologischen<br />
Präzision, von seiner scharfen theologischen<br />
Kritik strömten wir in den<br />
Festsaal der Alten Aula und verließen<br />
feldern statt. Oder<br />
ein Pilger-Workshop:<br />
der Weg zu Fuß von<br />
Gemeinde zu<br />
Gemeinde des<br />
jeweiligen <strong>Kirche</strong>nbezirks<br />
wäre ein<br />
Weg gemeinsamer<br />
spiritueller Erfahrung;<br />
abends<br />
könnten Begegnungen<br />
in den Gemeinden<br />
der Übernachtungsquartiere<br />
die<br />
Erfahrungen des<br />
Tages an die Gemeindeglieder<br />
und<br />
andere Interessierte vermitteln (Multiplikation);<br />
die Pilgergruppe könnte am<br />
nächsten Tag ein Stück des Wegs<br />
begleitet werden. Oder ein Workshop<br />
mit Jugendmitarbeitern: in dessen<br />
Verlauf könnten Spiele beider Länder<br />
und Kulturen hergestellt und gespielt<br />
werden; in der Phase der Multiplikation<br />
würden die Workshopteilnehmer dann<br />
die Spiele mit Kinder-, Jungschar- und<br />
Jugendgruppen ebenfalls spielen und<br />
auch herstellen.<br />
In den Vorüberlegungen zur Partnerschaft<br />
hatte der ghanaische Pfarrer Peter<br />
Kodjo, seinerzeit Mitarbeiter im ems,<br />
gefragt: „Was wollen die Gemeinden im<br />
Norden von uns, wenn sie eine Partnerschaft<br />
eingehen? Oft stehen Hilfsprojekte<br />
und finanzielle Gaben im<br />
Vordergrund. Darum geht es bei<br />
Partnerschaft nicht. Probleme des<br />
Dr. Klaus W. Mülleri<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
ihn erfüllt von Themen und Fragen,<br />
die wir weiter zu diskutieren hatten.<br />
Was theologische Leidenschaft ist, war<br />
bei ihm zu erleben und zu erfahren:<br />
Die Nachfolge des gekreuzigten Nazareners,<br />
in der sich der Gehorsam gegen<br />
das erste Gebot christlich konkretisiert.<br />
Exodus, der Auszug des wandernden<br />
Gottesvolks weg von Ägyptens<br />
Fleischtöpfen – ins Freie und in<br />
die Freiheit eines Christenmenschen<br />
– das kennzeichnete Käsemanns Lehre<br />
und Leben.<br />
anderen ‘lösen’ zu wollen, kann kein<br />
Motiv für Partnerschaft sein. Es geht<br />
vielmehr darum, für die Begegnung und<br />
den Austausch Raum zu schaffen.“ Die<br />
Beziehung zwischen dem Evangelischen<br />
<strong>Kirche</strong>nbezirk Aalen und dem Akyem<br />
Abuakwa Presbytery wird dieser Aufgabenstellung<br />
gerecht. Sie löst den<br />
Anspruch ein, der mit dem Wort<br />
Partnerschaft gegeben ist: Aalen und<br />
Akyem Abuakwa sind Partner auf<br />
gleicher Augenhöhe.<br />
Pfarrer Ravinder Salooja ist als<br />
Bezirksbeauftragter für Mission,<br />
Ökumene und Entwicklung im<br />
Evangelischen <strong>Kirche</strong>nbezirk Aalen<br />
für die Partnerschaftsbeziehung<br />
zwischen Aalen und Akyem<br />
Abuakwa zuständig.<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Kontakt und Informationen zur<br />
Partnerschaft:<br />
Bezirksbeauftragte für Mission,<br />
Ökumene und Entwicklung des Ev.<br />
<strong>Kirche</strong>nbezirks Aalen:<br />
Pfrin. Heike Ehmer-Stolch, Friedrich-<br />
Ebert-Str. 4, 73433 Wasseralfingen,<br />
Tel. (0 73 61) 97 34 70;<br />
Evang.Pfarramt.Wasseralfingen2@gmx.de<br />
Pfr. Ravinder Salooja, Kaplan-Renz-<br />
Weg 4/1, 73479 Ellwangen, Tel. (0<br />
79 61) 56 14 47; pfarramt3@kircheellwangen.de<br />
Spendenkonto: <strong>Kirche</strong>nbezirkskasse,<br />
KontoNr. 110 004 790, Kreissparkasse<br />
Aalen (BLZ 61450050),<br />
„Partnerschaft Ghana“<br />
Der Nachfahre eines seit dem dreißigjährigen<br />
Krieg im Lippischen ansässigen<br />
Bauerngeschlechts, Sohn eines schon<br />
früh im ersten Weltkrieg gefallenen<br />
Volksschullehrers, hat den Impuls zum<br />
Theologiestudium durch den Essener<br />
Jugendpfarrer Weigle erhalten, einen<br />
pietistisch geprägten charismatischen<br />
Mann, dem Käsemann zeitlebens<br />
dankbar war. In Bonn zog ihn Erik<br />
Peterson und dessen Ekklesiologie in<br />
Bann. Dass <strong>Kirche</strong> der weltweite<br />
Christusleib ist und nicht ein religiöser<br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 19
Verein oder frommer Konventikel, hat er<br />
bei ihm gelernt. „Leib und Leib Christi“<br />
lautete der Titel der Arbeit, mit der er<br />
1931 in Marburg zum Lizentiaten der<br />
Theologie promoviert wurde. Petersons<br />
Konversion zum Katholizismus blieb für<br />
Käsemann eine theologische Provokation<br />
bis zum Schluss. In der Epheserbrief-<br />
Vorlesung des Sommersemesters 1964,<br />
die eine intensive Auseinandersetzung<br />
mit Schliers Kommentar war, konnten<br />
wir das spüren. Heinrich Schlier,<br />
Bultmanns Assistent und auch einer der<br />
Lehrer Käsemanns, hat diesen Schritt<br />
seines Bonner Meisters in die katholische<br />
<strong>Kirche</strong> nachvollzogen. Käsemann<br />
jedoch schluckte – wie er selbst formulierte<br />
– „Bultmanns historische Kritik als<br />
Gegengift“ und blieb Protestant. Und<br />
was für einer!<br />
Wie aber konnte Käsemann seinen<br />
Pietismus und diese radikale historische<br />
Kritik vereinen? Das war die Frage, die<br />
ihn zur Fortsetzung seines Studiums in<br />
Tübingen bewog. Bei Adolf Schlatter<br />
fand er die Antwort nicht, hat aber in<br />
anderer Hinsicht bei ihm viel profitiert:<br />
Schlatters Schöpfungslehre hinterließ bei<br />
Käsemann ihre Spuren.<br />
Kritik, die Unterscheidung der Geister,<br />
das war Käsemanns alltägliches Geschäft<br />
und machte nach seinem Verständnis<br />
das Christsein aus. Wer in dem gekreuzigten<br />
Nazarener seinen Herrn gefunden<br />
hat, der ist zum Widerstand gegen<br />
die Herren dieser Welt herausgefordert.<br />
Wer diese Herren sind, das manifestiert<br />
sich im Wandel der Geschichte auf<br />
unterschiedliche Weise.<br />
Als 1933 Käsemann seinen Dienst als<br />
Pfarrer in der Bergarbeitergemeinde<br />
Rotthausen, einem Ortsteil von Gelsenkirchen,<br />
traditionell das Gebiet von<br />
„Schalke 04“, antrat, wurde für ihn, der<br />
in den Jahren 1930 bis 1933 selbst noch<br />
die Partei der Nazis gewählt hatte, bald<br />
deutlich, wo der Feind stand. Als Präses<br />
des Presbyteriums und mit breiter<br />
Zustimmung der Gemeinde setzte<br />
Käsemann 45 Glieder in seiner Gemeindevertretung,<br />
welche der Partei der<br />
Deutschen Christen angehörten, zum<br />
Bußtag 1934 vor die Tür. Immer mehr<br />
wurde er zum Partisanen, zum Freiheitskämpfer<br />
ohne die Legitimation<br />
durch die kirchliche Institution. Am 15.<br />
August 1937 predigte er über Jesaja 26,<br />
13: „Herr, unser Gott, es herrschen<br />
wohl andere Herren über uns denn du,<br />
aber wir gedenken doch allein dein und<br />
deines Namens.“ – Ein trotziges und<br />
freimütiges Plädoyer gegen den Teufel<br />
und seine dämonische Gesellschaft, die<br />
Herren der Welt. Drei Tage später<br />
wurde Käsemann für einige Wochen in<br />
Haft genommen. In der Gefängniszelle<br />
schrieb er – paradox genug! – „Das<br />
wandernde Gottesvolk“, eine Studie<br />
über den Hebräerbrief.<br />
Ernst Käsemann<br />
Dreizehn Jahre im Pfarramt, bestimmt<br />
vom <strong>Kirche</strong>nkampf, gingen nicht spurlos<br />
an ihm vorbei. Diese dreizehn Jahre<br />
waren präsent auch dann, als Käsemann<br />
in Mainz, in Göttingen und schließlich<br />
37 Jahre in Tübingen als Lehrer an der<br />
Universität wirkte. Die Herren dieser<br />
Welt erschienen nun in anderem<br />
Gewande. Aber Käsemanns Widerstand<br />
blieb wach. Vom Kampfe geprägt war<br />
sein Selbstverständnis, und seine<br />
zahlreichen Metaphern aus dem<br />
militärischen Vokabular belegen dies.<br />
Apokalyptisch war seine Sicht der Welt,<br />
ein Kampfschauplatz zwischen des<br />
Teufels dämonischen Mächten und dem<br />
Weltenschöpfer, der im Nazarener<br />
Mensch geworden und am Kreuz<br />
gestorben ist.<br />
Es ist folgerichtig, dass Käsemann mit<br />
seinem Lehrer Bultmann und dessen<br />
anthropologischer Verengung des<br />
Evangeliums ins Gehege kam. Dass<br />
„Menschheit“ eine Abstraktion sei,<br />
hatte dieser behauptet. „Individuum“ ist<br />
eine Abstraktion, hat Käsemann dem<br />
entgegengesetzt. Dass man vom historischen<br />
Jesus nicht viel mehr wisse als das<br />
„Dass“ seines Gekommenseins und dass<br />
dies dem Glauben genüge, schien<br />
Bultmann zu lehren. Käsemann war dies<br />
zu wenig, wenn es galt, den Glauben<br />
davor zu bewahren, zu einer beliebigen<br />
Ideologie zu werden. Er fragte erneut<br />
nach dem historischen Jesus, dem Leben<br />
und der Lehre des Nazareners.<br />
Schon die Auseinandersetzung mit<br />
seinem Lehrer Bultmann zeigt einen<br />
Grundzug von Käsemanns Kampf für<br />
das Evangelium der Freiheit: Es sind die,<br />
welche ihm nahe stehen oder nahe zu<br />
stehen scheinen, mit denen er die<br />
heißesten Schlachten schlägt. „Gott<br />
schütze mich vor meinen Freunden, mit<br />
meinen Feinden werde ich selber fertig“<br />
war ein Wort, das man immer wieder<br />
aus seinem Munde hören konnte.<br />
Käsemann konnte sich selbst als Pietisten<br />
verstehen – und in gewissem Sinne<br />
war er das auch. Die bei ihm immer<br />
wieder laut werdende Frage „Kennen<br />
wir Jesus?“ und der radikale Gehorsam<br />
gegenüber dem Nazarener, das ist<br />
zweifellos pietistisches Erbe bei ihm.<br />
Und dennoch waren es Pietisten, die im<br />
Namen der Schrifttreue zum Kampfe<br />
gegen ihn die Trommel rührten und<br />
zum Feldzug gegen ihn mit der sog.<br />
Bekenntnisbewegung „Kein anderes<br />
Evangelium“ bliesen. Käsemann hat das<br />
nie dazu veranlasst, seinem eigenen<br />
Pietismus abzusagen oder dem weltweiten<br />
Pietismus seinen Respekt zu verweigern.<br />
Von einem Mann wie Max<br />
Fischer, dem Leiter der Bahnauer<br />
Bruderschaft, sprach er mit großer<br />
Achtung.<br />
Käsemann wusste stets, dass <strong>Kirche</strong><br />
mehr ist als eine Konfession. Dass er<br />
Lutheraner war, wurde ihm angesichts<br />
der weltweiten Christenheit zunehmend<br />
bedeutungsloser. Als er aber 1963<br />
beim Weltkongress Faith and Order in<br />
Montreal über Einheit und Verschiedenheit<br />
der <strong>Kirche</strong> im Neuen Testament<br />
referierte, weckte er bei den meisten<br />
Teilnehmern und insbesondere der<br />
Genfer Leitung heftigen Verdruss, weil<br />
er die These vertrat, dass das Neue<br />
Testament keineswegs die Einheit der<br />
<strong>Kirche</strong>n begründet, sondern die Grundlage<br />
konfessioneller Vielfalt ist. Käsemanns<br />
Engagement für die weltweite<br />
Ökumene wurde durch diese Verstimmung<br />
nicht gemindert.<br />
Am Ende der 60er Jahre erhoffte<br />
Käsemann sich viel von der Rebellion<br />
der jungen Generation. Dass der<br />
Aufstand der Söhne gegen die Väter<br />
1967/68 auch ihm geholfen hat, klarer<br />
zu sehen, wo die teuflischen Dämonen<br />
und die versklavenden Mächte des<br />
Bösen am Werke sind, konnte er<br />
Seite 20 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
freimütig bekennen. Er blieb nicht<br />
neutral, sondern ergriff Partei für die<br />
Rebellierenden. Das hat ihn nicht davor<br />
bewahrt, aus ihrer Mitte (von der<br />
Basisgruppe Theologie) in einem<br />
Flugblatt als „Partisan Käsemann“,<br />
Fachidiot und Handlanger der <strong>Kirche</strong> im<br />
Spätkapitalismus aufs übelste attackiert<br />
zu werden: „Hauptsache, er und seine<br />
Assistenten verdienen gut.“<br />
1971 wurde Käsemann emeritiert. 1973<br />
erschien die erste Auflage seines<br />
Römerbrief-Kommentars, schon seit<br />
Jahren sehnlichst erwartet, galt Käsemann<br />
doch vielen von uns als kompetentester<br />
Paulus-Exeget unserer Tage:<br />
Die „Rechtfertigung des Gottlosen“ als<br />
paulinische Version des Rufs zur Freiheit<br />
und in die Nachfolge des Gekreuzigten.<br />
Und dann der Römerbrief, den wir in<br />
Seminaren und Vorlesungen immer<br />
wieder mit ihm traktiert hatten! Ich<br />
erinnere mich, dass meine erste Lektüre<br />
des Kommentars mich nicht nur beeindruckte,<br />
sondern auch traurig stimmte:<br />
Das Buch wimmelte von Druckfehlern.<br />
Es wurde offensichtlich, was er selbst im<br />
Vorwort ausgeführt hatte über seine<br />
nachlassenden Kräfte und die vielerlei<br />
Fehler, die demnach in dem Buch zu<br />
erwarten seien. Ich habe das als Ausdruck<br />
zunehmender Vereinsamung<br />
begriffen: War denn da keiner von den<br />
Jüngeren, der ihm Korrektur lesen<br />
konnte?<br />
1977 war ein Jahr, das Käsemann und<br />
seiner Frau schwere Wunden schlug. An<br />
sich hatte es hoffnungsvoll begonnen:<br />
500-jähriges Universitätsjubiläum.<br />
Käsemann hatte die Jahrestagung der<br />
„Studiorum Novi Testamenti Societas“<br />
mit über 200 Teilnehmerinnen und<br />
Teilnehmern nach Tübingen gebracht.<br />
Mit vielen von ihnen war er freundschaftlich<br />
verbunden. Er hatte mit ihnen<br />
schon manchen (wissenschaftlichen)<br />
Strauß ausgetragen. In die Vorbereitungen<br />
hinein platzte die Nachricht, dass<br />
Käsemanns Tochter Elisabeth, in<br />
Argentinien engagiert in sozialen<br />
Projekten, vermisst wurde. Im Juni<br />
dämmerte die Gewissheit: Von Schergen<br />
der Militärjunta war sie erschossen<br />
worden. Im Herbst, in den wirren und<br />
aufgeregten Zeiten des „deutschen<br />
Herbstes“, beschloss die württembergische<br />
Landessynode, der Tübinger<br />
Studentengemeinde einen Zuschuss für<br />
deren Arbeitskreis „Christen für den<br />
Sozialismus“ zu streichen. Es handelte<br />
sich um einen Betrag von 9.800 DM.<br />
Am Reformationstag verfasste Käsemann<br />
deshalb eine Erklärung, in der er seinen<br />
und seiner Frau <strong>Kirche</strong>naustritt auf das<br />
Jahresende ankündigte.<br />
„Nur eine<br />
unwahrscheinliche<br />
Änderung der<br />
Mehrheit in der am<br />
4. 12. neu zu<br />
wählenden Synode<br />
und eine dann<br />
erfolgende Aufhebung<br />
des gefassten<br />
Beschlusses können<br />
uns von diesem<br />
Schritt zurückhalten.“<br />
Die Synodalwahlen<br />
änderten die<br />
Mehrheiten. Käsemann<br />
und seine<br />
Frau blieben Mitglied<br />
der württembergischenLandeskirche.<br />
Wer ihn in seinen<br />
späteren Jahren traf,<br />
vernahm in seinen<br />
Worten eine zunehmende<br />
Verbitterung,<br />
Enttäuschung über<br />
sein Land und über<br />
seine <strong>Kirche</strong>.<br />
Zunehmende Erstarrung, Ängstlichkeit,<br />
sich ausbreitender Egoismus, die<br />
Herrschaft des Mammons, der tödliche<br />
Streit der Privilegierten gegen die<br />
Ausgebeuteten. „Was sich harmlos als<br />
freie Marktwirtschaft tarnt und alle zu<br />
beglücken verspricht, ist in Wirklichkeit<br />
die Fortsetzung von Imperialismus und<br />
Kolonialismus durch ein kapitalistisches<br />
System.“<br />
Es wurde still um Käsemann. Am 17.<br />
Februar 1998 ist er in der Frühe gestorben.<br />
Auf der Todesanzeige ist Jesaja 26,<br />
13, der Text jener Predigt abgedruckt,<br />
die ihn ins Gefängnis brachte: „Herr,<br />
unser Gott, es herrschen wohl andere<br />
Herren über uns, denn Du. Aber wir<br />
gedenken doch allein Dein und Deines<br />
Namens.“<br />
Vieles von dem, was Käsemann verkörperte<br />
und lehrte, erscheint uns heute<br />
nicht mehr zeitgemäß: Der Professor,<br />
der zu Beginn der Seminarsitzung seine<br />
Pfeife stopft. Die männlich geprägte<br />
Kampfesmetaphorik, autoritär erscheinende<br />
Verhaltensweisen (hinter denen<br />
jedoch immer wieder eine menschliche<br />
Bescheidenheit aufblitzte), und die<br />
zuweilen verbissene Lust am Streit mit<br />
Freund und Feind. Das ist in der<br />
Vergangenheit versunken.<br />
Andererseits scheint mir Käsemann mit<br />
seinen prophetischen Zeitansagen noch<br />
gar nicht in unserer <strong>Kirche</strong> angekommen<br />
zu sein. So gesehen war er seiner<br />
Zeit und unserer <strong>Kirche</strong> voraus: Dass die<br />
Christenheit nicht länger vom weißen<br />
Manne und dem Provinzialismus von<br />
Kirchtümern bestimmt sein kann, dass<br />
die Verflochtenheit von <strong>Kirche</strong> und<br />
Bourgeoisie sich lösen wird, dass von<br />
unseren Traditionen in der nächsten<br />
Generation mehr über Bord gehen wird,<br />
„als selbst christlichen Rebellen bei uns<br />
lieb ist“, dass Gott Mammon seine<br />
teuflische Herrschaft weltweit, global, –<br />
und auch in der <strong>Kirche</strong> – perfektioniert<br />
und zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit<br />
schafft, dass dämonische Mächte<br />
den Weltlauf bestimmen und dass aus<br />
allen diesen Gründen Widerstand<br />
geboten ist, radikaler Widerstand im<br />
Gehorsam gegenüber dem ersten Gebot<br />
und in der Nachfolge des gekreuzigten<br />
Nazareners – diese Erkenntnis hat ihre<br />
Zukunft noch vor sich.<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Dr. Klaus W. Müller ist Direktor des<br />
Pfarrseminars der der Evangelischen<br />
Landeskirche in <strong>Württemberg</strong><br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 21
Erwachsenenbildung<br />
Glaube braucht Bildung –<br />
Gesellschaft und <strong>Kirche</strong> auch<br />
Diese Entstehungsgeschichte der<br />
Stuttgarter Vesperkirche ist beispielhaft<br />
für die Arbeit Evangelischer Erwachsenen-<br />
und Familienbildung. Viele Menschen<br />
sind heute unzufrieden mit ihrem<br />
Leben. Kirchliche Bildungsarbeit bietet<br />
ihnen einen Ort um nachzudenken, wie<br />
sie eigentlich leben wollen – und was<br />
sie selbst dafür tun können, Orte, an<br />
denen Menschen sich orientieren, sich<br />
über gesellschaftliche und religiöse<br />
Fragen austauschen und Kompetenzen<br />
erwerben. Mit ihren Häusern der<br />
Begegnung, Bildungswerken, Stadtakademien<br />
und Familienbildungsstätten<br />
erreicht Kirchliche Bildungsarbeit in<br />
Baden-<strong>Württemberg</strong> etwa zwei Millionen<br />
Menschen im Jahr. Damit ist die<br />
Erwachsenen- und Familienbildung der<br />
Badischen wie der <strong>Württemberg</strong>ischen<br />
Landeskirche, der beiden Diözesen<br />
Rottenburg-Stuttgart und Freiburg sowie<br />
der Evangelisch-methodistischen <strong>Kirche</strong><br />
gemeinsam in etwa so stark wie die der<br />
Volkshochschulen im Land. Dabei<br />
ergänzen die Angebote der kirchlichen<br />
Erwachsenen- und Familienbildung und<br />
die Programmatik der Volkshochschulen<br />
einander in einer Weise, dass es zwischen<br />
den Angeboten dieser beiden<br />
großen Träger der Weiterbildung nur zu<br />
geringen Überschneidungen kommt.<br />
Eine solche Arbeit muss natürlich auch<br />
finanziert werden. Kirchliche Bildungsarbeit<br />
steht finanziell auf drei Beinen:<br />
Bis zu 50 Prozent der Kosten tragen die<br />
Teilnehmenden selbst. In ähnlicher<br />
Höhe liegt der Beitrag der jeweiligen<br />
Träger. Dabei ist der Finanzierungsanteil<br />
der <strong>Kirche</strong>nbezirke und -gemeinden an<br />
den einzelnen Familienbildungsstätten<br />
und Bildungswerken von Ort zu Ort<br />
sehr unterschiedlich; die meisten<br />
Familienbildungsstätten etwa sind nur<br />
Birgit Rommeli<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Jedes Jahr von Januar bis Palmsonntag erhalten täglich bis zu 900 Menschen in<br />
der Stuttgarter Leonhardtskirche eine warme Mahlzeit. Über 800 Frauen und<br />
Männer arbeiten ehrenamtlich mit – Tendenz steigend. Seitdem 1995 zum<br />
ersten Mal die „Vesperkirche“ ihre Tore öffnete, hat sie im ganzen Land<br />
politische Anerkennung und vielerorts Nachahmung gefunden. Die Idee zu<br />
diesem diakonischen Projekt erwuchs – und das ist weniger bekannt – aus<br />
einer Veranstaltung der Evangelischen Erwachsenenbildung heraus, die sich<br />
mit versteckter Armut beschäftigte.<br />
zu einem geringen Anteil kirchlich<br />
finanziert. An dritter Stelle fördert auch<br />
das Land die Weiterbildung durch<br />
Personalkostenzuschüsse; damit kommt<br />
es seinem Auftrag nach, wie er in der<br />
Landesverfassung festgeschrieben ist.<br />
Doch der Anteil der Landesförderung<br />
liegt zur Zeit nur noch bei rund elf<br />
Prozent, Tendenz sinkend. In absoluten<br />
Zahlen ausgedrückt: Das Land fördert<br />
die gesamte öffentliche Weiterbildung<br />
mit etwa 13 Millionen Euro pro Jahr –<br />
das ist ungefähr der Betrag, den ein<br />
Gymnasium mittlerer Größe jährlich<br />
erhält.<br />
Dieser Betrag wurde im Juli für das<br />
laufende Haushaltsjahr <strong>2006</strong> ohne<br />
Vorankündigung um zehn Prozent<br />
gekürzt. Das Land gefährdet dadurch die<br />
Partnerschaft mit den <strong>Kirche</strong>n und<br />
Kommunen als den beiden großen<br />
Trägern der Weiterbildung. Das Ja des<br />
Landes zur Subsidiarität in der Weiterbildung<br />
wird durch dieses Vorgehen<br />
wertlos. Und es ist gewiss kein Beitrag<br />
zur Generationengerechtigkeit, wie<br />
immer wieder behauptet, wenn durch<br />
überproportionale Kürzungen im<br />
Bildungsbereich im Interesse der<br />
Haushaltskonsolidierung heute ein<br />
funktionierendes Netz von Bildungseinrichtungen<br />
zerstört wird, das für<br />
kommende Generationen morgen<br />
unwiderruflich dahin ist.<br />
Denn insbesondere für die Familienbildungsstätten<br />
sind die Kürzungen<br />
verheerend. Sie wissen alle: Auf einem<br />
Hocker mit drei Beinen kann man noch<br />
stabil sitzen; wenn jedoch ein Bein<br />
wegbricht, ist es mit dem Hocker vorbei.<br />
Wegen des Rückgangs der Förderung<br />
pro Unterrichtseinheit in den letzten<br />
zehn Jahren um 35 Prozent, in den<br />
letzten 15 Jahren sogar um 44 Prozent,<br />
haben die Weiterbildungseinrichtungen<br />
bereits jeglichen Spielraum ausgeschöpft.<br />
Die Einrichtungen sind in ihrer Existenz<br />
bedroht.<br />
Diese Bedrohung muss abgewendet<br />
werden, und zwar aus drei Gründen:<br />
Evangelischer Glaube braucht<br />
Bildung.<br />
Evangelische Erwachsenen- und Familienbildung<br />
zeigt ihr evangelisches Profil,<br />
indem sie die Suche von Menschen<br />
nach einem persönlichen, verständigen<br />
und urteilsfähigen Glauben fördert.<br />
Unsere Gesellschaft braucht Bildung.<br />
Evangelische Erwachsenen- und Familienbildung<br />
zeigt ihr evangelisches Profil,<br />
indem sie ihrer gesellschaftlichen<br />
Bildungsmitverantwortung nicht<br />
ausweicht.<br />
Eine lernende <strong>Kirche</strong> braucht<br />
Bildung.<br />
Evangelische Erwachsenen- und Familienbildung<br />
zeigt ihr evangelisches Profil,<br />
indem sie dazu beiträgt, dass die<br />
ehrenamtliche Mitarbeit in <strong>Kirche</strong> und<br />
Gesellschaft zum Gewinn für Engagierte,<br />
<strong>Kirche</strong> und Gesellschaft wird<br />
Angesichts der Kürzungen des Landes<br />
geht es heute vor allem darum, die<br />
gesellschaftliche Bedeutung der Weiterbildung<br />
zu unterstreichen:<br />
☛ Familien brauchen Bildung, und sie<br />
muss bezahlbar sein: Bildungspolitik ist<br />
Sozialpolitik. Schon jetzt werden immer<br />
weitere Kreise der Bevölkerung faktisch<br />
durch hohe Teilnahmegebühren von der<br />
Weiterbildung ausgeschlossen.<br />
☛ Die Frage, wie wir – nicht nur in<br />
Stuttgart – unsere Stadt und unsere<br />
Seite 22 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>
Gesellschaft lebenswert gestalten<br />
wollen, braucht einen Ort. Bildungspolitik<br />
ist Förderung bürgerschaftlichen<br />
Engagements.<br />
☛ Der Bedarf an Verständigung über<br />
gemeinsame Wertvorstellungen und an<br />
Kommunikation zur Verringerung<br />
gesellschaftlicher Unterschiede wächst.<br />
Kirchliche Erwachsenenbildung ist ein<br />
Feld gesellschaftlichen Handelns, in dem<br />
Menschen in vielfältiger Weise angeregt<br />
werden, sich mit Werten auseinanderzusetzen<br />
und sie zu leben.<br />
☛ Das breite kirchliche Bildungsan-<br />
Sie hat im September 2004 an einer<br />
Indien-Tagung in der Evangelischen<br />
Akademie Bad Boll teilgenommen und<br />
dort die Gewalt an Dalitfrauen angeprangert.<br />
Ihre Worte haben nichts von<br />
ihrer Aktualität verloren. Sie sagte u.a.:<br />
„Dalit-Frauen müssen Tag für Tag um<br />
ihre Existenz, für ihr Überleben und für<br />
Gerechtigkeit kämpfen. Die alltägliche<br />
Diskriminierung ist gespickt mit körperlicher<br />
Gewalt gegen ihre Person als auch<br />
mit Vernichtung von Eigentum und<br />
Ressourcen. Die Prinzipien von Reinheit<br />
und Unreinheit lassen gar keinen Raum<br />
dafür, dass ihr Status sich ändern<br />
könnte. Daher wird jeder Ansatz von<br />
Dalit-Frauen, das System in Frage zu<br />
stellen oder etwas an ihrer Lebenssituation<br />
zu ändern, mit körperlicher<br />
Gewalt, Vergewaltigung, Beschimpfung<br />
als Hexen und Mordbezichtigungen<br />
vergolten. Ganze Gemeinschaften<br />
werden bestraft, indem man ihre Häuser<br />
niederbrennt, Wertsachen, die Ernte<br />
und alles Eigentum vernichtet.<br />
Die Krux im Kampf der Dalit-Frauen<br />
ums Überleben wurzelt darin, dass sie<br />
am untersten Ende der Kasten-Hierarchie<br />
stehen. Gemäß den jüngsten<br />
Zahlen, die dem Parlament von der<br />
staatlichen Kommission für die Scheduled<br />
Castes and Scheduled Tribes<br />
präsentiert wurden, gab es im Jahr<br />
2000, das ist das letzte Jahr für das<br />
Zahlen vorliegen, 23.742 Fälle von<br />
Gräueltaten (einschließlich 1.034<br />
Vergewaltigungen). Dalit-Frauen sind<br />
schätzungsweise die Hauptopfer in fast<br />
75 Prozent dieser Fälle. Der Bundesstaat<br />
Uttar Pradesh führt die Zahl der Fälle,<br />
gebot, auch in kleineren Kommunen,<br />
lebt vom Engagement der vielen<br />
Ehrenamtlichen dank der kontinuierlichen<br />
Begleitung und Weiterbildung<br />
durch die hauptamtlichen Kräfte in der<br />
Erwachsenenbildung. Nur so können<br />
Aktualität und Seriosität der Bildungsangebote<br />
auch künftig gewährleistet<br />
werden.<br />
☛ Unser Land braucht qualitativ gute<br />
öffentliche Weiterbildung, wenn<br />
lebenslanges Lernen für alle nicht zum<br />
Schlagwort verkommen soll. Bildung ist<br />
Zukunft.<br />
Alternativer Nobelpreis<br />
Die indische Sozialaktivistin Ruth Manorama wird mit dem „Right Livelihood<br />
Award <strong>2006</strong>“ geehrt. Meist wird dieser Preis auch als „Alternativer Nobelpreis“<br />
bezeichnet.<br />
die unter dem Gesetz von 1989 zur<br />
Verhütung von Gräueltaten Scheduled<br />
Castes/Scheduled Tribes registriert<br />
wurden, an, gefolgt von Rajasthan,<br />
Madhya Pradesh, Andhra Pradesh,<br />
Tamil Nadu, Karnataka, Gujarat und<br />
Bihar.<br />
Gewalt stellt daher den Kern der<br />
gender-bezogenen Ungleichheiten dar,<br />
die verursacht, verstärkt und ermöglicht<br />
werden durch die Kasten-Diskriminierung,<br />
die als entscheidender sozialer<br />
Mechanismus dient, damit die Dalit-<br />
Frauen den Männern gegenüber,<br />
besonders gegenüber Männern der<br />
herrschenden Kasten, in untergeordneter<br />
Position bleiben. Frauen werden von<br />
mehreren Männern vergewaltigt, zur<br />
Prostitution gezwungen, nackt ausgezogen,<br />
nackt vorgeführt, und sogar<br />
gezwungen, Exkremente zu essen und<br />
sogar völlig schuldlos ermordet. (Gemäß<br />
UN Sonder-Bericht über Gewalt gegen<br />
Frauen – E/CN.4/2002/83 vom 31.<br />
Januar 2002). Sie sind Opfer von<br />
schlimmsten Formen der Erniedrigung.<br />
So müssen sie mit bloßen Händen<br />
menschliche Exkremente beseitigen,<br />
und die Praxis des Devadasi-Systems<br />
Die Unterschriftenaktion der Kirchlichen<br />
Erwachsenenbildung in Baden-<strong>Württemberg</strong>,<br />
die wir zeitgleich mit den Volkshochschulen<br />
in diesen Tagen durchführen,<br />
unterstreicht unsere Forderungen.<br />
Gesellschaft braucht Bildung, ebenso<br />
wie <strong>Kirche</strong> und evangelischer Glaube<br />
auf Bildung angewiesen sind. Darum<br />
machen wir weiter.<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Pfarrerin Dr. Birgit Rommel ist<br />
Pfarrerin an der Landesstelle der<br />
Evangelische Erwachsenen- und<br />
Familienbildung in <strong>Württemberg</strong><br />
(EAEW)<br />
wird den Dalit-Frauen in manchen<br />
Gegenden Indiens immer noch aufgezwungen.<br />
Dalit-Frauen als Latrinen-Frauen<br />
(Latrinen-Reinigerinnen)<br />
Tausende Frauen sind gezwungen, ihren<br />
Lebensunterhalt auf diese Art und Weise<br />
zu verdienen. Das bedeutet, sie putzen<br />
Latrinen von Hand und tragen die<br />
Exkremente in Körben, die sie auf ihren<br />
Köpfen tragen, nach draußen – was von<br />
dieser diskreten Gesellschaft mit<br />
„Nacht-Schmutz“ bezeichnet wird. Die<br />
Frauen benutzen sogenannte „Parethas“,<br />
Metallpfannen, mit denen sie den<br />
Nacht-Schmutz mit Hilfe von kurzen<br />
Besen aufsammeln. Jeder Haushalt zahlt<br />
monatlich fünf Rupien, und einen Roti<br />
täglich. Diese Arbeit tötet ihre Würde,<br />
aber zugleich glauben sie, dass sie<br />
ruiniert wären, wenn sie diese Arbeit<br />
nicht hätten. Sie würden gern vom Staat<br />
rehabilitiert werden. Sie glauben aber<br />
nicht, dass er etwas für sie tun wird.<br />
(The Hindu)<br />
Das Devadasi-System: Prostitution<br />
im Namen der Religion:<br />
Im Namen der Religion werden Tausende<br />
von unberührbaren Mädchen<br />
zwischen sechs und acht Jahren gezwungen,<br />
„Mädchen Gottes“ zu<br />
werden, das heißt ritualisierte Prostitution<br />
in Tempeln. Wenn sie einmal<br />
„auserwählt“ worden sind, dürfen die<br />
Mädchen nicht heiraten und sie werden<br />
von den Tempel-Priestern und Männern<br />
höherer Kasten vergewaltigt, gelegentlich<br />
insgeheim in städtische Bordelle<br />
verkauft, und schließlich sterben sie an<br />
AIDS. Von den Nichtregierungsorganisationen<br />
wird geschätzt, dass jährlich<br />
5.000 bis 15.000 Mädchen heimlich<br />
versteigert werden.“<br />
Wolfgang Wagner<br />
Nr. 4, Nocember <strong>2006</strong> OFFENE KIRCHE<br />
Seite 23
Die<br />
verbleibende<br />
Armut<br />
Postvertriebsstück G 14495 Entgeld bezahlt<br />
Absender: Reiner Stoll-Wähling, Ilsfelder Straße 9, 70435 Stuttgart<br />
Manchmal werde ich verleugnet, verdrängt, manchmal auch versteckt.<br />
Verzogen, verachtet, viele wollen einfach, dass ich verderbe.<br />
Andere wollen mich verkleinern, sogar vergrößern, viele andere mich<br />
verkleiden. Ich weiß, ich bin verflucht, verblendet, verdächtig.<br />
Aber mich zu verbergen, wäre ein verfahren, Verfehlen.<br />
Während ihr euch versammelt, um mich zu verdammen, um mich zu<br />
verbannen, bin ich verankert, in dieser Welt verbreitet.<br />
Während die Regierungen der ganzen Welt nur versprechen,<br />
dass sie mich verhindern wollen, lasse ich viele verarmen, verhungern,<br />
versterben. Das ist keine Vermutung, dass die Menschen ihren Mut<br />
verlieren und ihn danach vermissen. Das ist nur ihr Verlust, ihre Verwüstung,<br />
die sie nie verewigen wollen. Das ist auch keine Verzweiflung, dass<br />
sie nicht mehr der Regierung vertrauen können. Das ist nur Verhandlung<br />
aus Verpflichtung, manchmal ohne Versorgung. Ich möchte nicht verkennen,<br />
aber ich lasse mich auch nicht verkaufen nicht vereinfachen.<br />
Wenn viele vor mir die Augen verschließen und verschlafen, dann verpassen<br />
sie die Zeit, um den Menschen zu verhelfen, die Situation zu<br />
verändern, die Welt zu verbessern. Es lohnt sich einfach nicht, mich zu<br />
verstehen, euch zu verteidigen, ein Ziel zu verfolgen. Es lohnt sich<br />
einfach nicht, das Brot zu verteilen, Aktionen zu verehren, sich richtig zu<br />
verhalten. Dass ich vergehe, wäre es einen Traum zu verwirklichen, alles<br />
was ich verdiene. Aber ich verunsichere euch so, dass ihr euch nur in<br />
euren Versicherungen versichert fühlt. Ich lasse mich nicht versumpfen,<br />
aber verurteile die, die mich verursachen, weil sie mehr und mehr verlangen<br />
und ihr eigenes Verhängnis unbewusst vernachlässigen. Und Ich?<br />
Ich verschwinde noch nicht, weil ich weiß, vor wem ich mich verbeuge.<br />
Ihr könnet mich nicht verlöschen, ich bin nicht verletzbar wie ihr, auch<br />
nicht verträumt.<br />
Ja, ich bleibe als Zeichen eurer Verantwortung in dieser Welt, „weil die<br />
Armen allezeit bei euch sein werden“. 1<br />
Ja, ich bleibe als Verwarnung eurer Verkündigung für diese Welt.<br />
Ja, ich bleibe als Krone eurer Verweltlichung.<br />
Ja, ich bleibe als Zeichen gegen eure Versuchung, immer mehr haben zu<br />
wollen.<br />
Ja, ich bleibe als Zeichen eurer Versöhnung mit Gott, „denn Jesus, obwohl<br />
er reich ist, wurde er doch arm und erfuhr die Verspottung und die Verwünschung<br />
um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet“. 2<br />
Ja, ich bleibe als Zeichen der Verborgenheit Gottes.<br />
Ja, ich weiß, das geht über euren Verstand, eure Vernunft.<br />
Trotzdem bleibe ich auch als eure Verheißung, weil der Gott, der mich als<br />
sein Gnadenzeichen verwendet, sagt zu euch: „Ich verlasse die Armen<br />
nicht“. 3<br />
Vergiss es nicht: Demselben Gott verdankt ihr eure Vergebung.<br />
Er gibt euch Kraft und verstärkt euren Mut.<br />
Ihr jedoch bleibt als Bettler in vertiefender Demut.<br />
Und ich? Ja, ich bleibe mit euch als verbleibende Armut.<br />
1 5. Mose 15,11<br />
2 2. Kor 8,9<br />
3 Ps 10,12; 40,18<br />
Roger Marcel Wanke, Jena, Juli <strong>2006</strong>,<br />
ist brasilianischer Theologiestudent<br />
Impressum<br />
Die Zeitschrift OFFENE KIRCHE wird herausgegeben<br />
vom Leitungskreis der OFFENEN KIRCHE:<br />
Vorsitzende:<br />
und OK-Vorsitzende Pfrin. Kathinka Kaden,<br />
Studienleiterin,<br />
Am Bronnenbühl 2, 73337 Oberböhringen<br />
Tel. (0 73 31) 44 18-14, Fax (0 73 31) 44 18-13<br />
Kontakt: Vorsitzende@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />
Stellvertretender Vorsitzender:<br />
Rainer Weitzel, Berater, Remppisstr. 8<br />
70599 Stuttgart, Tel. (07 11) 7 19 63 06<br />
Kontakt: St.Vorsitzender@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />
Weitere Leitungskreismitglieder:<br />
Albrecht Bregenzer, Frickenhausen<br />
Kontakt: Albrecht.Bregenzer@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />
Cornelia Brox, Krankenschwester, Lenningen, MdLs<br />
Kontakt: Cornelia.Brox@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />
Renate Lück, Journalistin, Sindelfingen<br />
Kontakt: Renate.Lueck@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />
Dr. Martin Plümicke, Dozent, Reutlingen<br />
Kontakt: Martin.Plümicke@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />
Reiner Stoll-Wähling, Volkswirt (FH), Stuttgart<br />
Rechner: und Geschäftsstelle<br />
gleichzeitig Bestelladresse der OFFENEN KIRCHE<br />
Reiner Stoll-Wähling,<br />
Ilsfelder Straße 9, 70435 Stuttgart<br />
Tel.: (07 11) 5 49 72 11, Fax: 3 65 93 29<br />
Kontakt: Geschaeftsstelle@<strong>Offene</strong>-<strong>Kirche</strong>.de<br />
Konten :<br />
Kreissparkasse Ulm, Nr. 1661 479 (BLZ 630 500 00)<br />
Postgiro Stuttgart Nr. 1838 50-703 (BLZ 600 100 70)<br />
Redaktionskreis:<br />
V.i.S.d.P.: Renate Lück, Journalistin, Sindelfingen<br />
Friedrich-Ebert-Straße 17/042<br />
Hans-Peter Krüger, Pfarrer und Kommunikationswirt<br />
Jan Dreher-Heller, Theologe und Kommunikationswirt,<br />
Reutlingen<br />
Die Zeitschrift OFFENE KIRCHE erscheint nach<br />
Bedarf, aber mindestens viermal im Jahr. Für<br />
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Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die<br />
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Fasanenhof<br />
Quellennachweis: Seiten 1, 3, 6, 7, 9, 10, 11, 12,<br />
13, 14: Lück; Seiten 17, 18, 19, 22: privat; Seite 4:<br />
Hermann Rösch<br />
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Informationen,<br />
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Seite 24 OFFENE KIRCHE<br />
Nr. 4, November <strong>2006</strong>