3.3 Vollständige GottebenbildlichkeitFür ihren theologischen Kernsatz „Dem behindertenGott begegnen", ist besonders die Gottebenbildlichkeitvon Bedeutung. Eisland stellt das Bild eines allmächtigen,perfekten und autarken Gottes infrageund fordert indirekt dazu heraus, die Gottebenbildlichkeitder Menschen <strong>im</strong> Antlitz einer alten Frau mitDemenz, eines chronisch kranken Kindes, eines Menschenmit Down-Syndrom zu erkennen. Wenn sieihren Anspruch auf die Anerkennung vollständigerGottebenbildlichkeit betont, dann spricht die amerikanischeTheologin dabei selbst als Frau mit Behinderung.„Wir müssen (...) den Anspruch darauf erheben,dass wir vollständig nach dem Bild Gottes geschaffensind.“ 9 Und: „Menschen mit Behinderungen könnenchristliche Gemeinden befähigen, die Bedeutung vonUnterschied lichkeit in unserer Mitte neu zu bedenken.“10Über den Kontext „Behinderung“ hinausgehend formuliertGisela Matthiae: „Ich sehe in Gott geradezuden clownesquen Störenfried, der, in <strong>im</strong>mer neuenFormen und Gewändern auftretend, die Menschen vorihren eigenen, beengenden und zum Teil ungerechtenOrdnungen bewahren will.“ 11 Die Störung durch dieunerwartete oder befremdliche Andersheit des Anderengehört demnach geradezu zum Kern der Gottebenbildlichkeitder Menschen.3.4 Der in sich verschiedene Gott„<strong>Da</strong> sprach Gott: „Wir wollen Menschen machen –als unser Bild.“ (1.Mose 1,26)Der eine Gott spricht <strong>im</strong> Anfang, in 1.Mose 1,26, vonsich selbst in der Mehrzahl 12 . Die Bibel hält zahlreicheVorstellungen und sehr verschiedene Namen Gottesbereit. Christinnen und Christen bekennen den einenGott in dreierlei Gestalt und damit in sich selbst verschieden,mit sich selbst <strong>im</strong> Dialog: „Vater, Sohn undheiliger Geist“. Im trinitarischen Denken trägt Gottdie Differenz bereits in sich. Die Trinität ist ein theologischesParadigma, das die Auseinandersetzung mitDifferenz und Vielfalt schon in Gotteslehre, Christologieund der Lehre vom Heiligen Geist anlegt.9 A.a.O, S. 1810 A.a.O., S. 24.11 Vgl. Matthiae, Giesela, Clownin Gott und Clownin Mensch, in:Hoffmann, Klaus, Spielraum des Lebens – Spielraum des Glaubens,Hamburg 2001, S. 175.12 Leibold, Steffen, Der Gott der Mosegeschichte – eine Einheit derVielheit? In: Schiffner, Kerstin u.a. (Hg.), Fragen wieder die Anworten,Gütersloh 2010, S. 120-137.„Die trinitarische Rede von Gott hat ihren ursprünglichenOrt <strong>im</strong> Lobpreis Gottes und <strong>im</strong> Gebet. DieGemeinde wendet sich an Gott den Vater, der H<strong>im</strong>melund Erde geschaffen hat, der Israel erwählt hat undsich in Jesus Christus Israel und auch den Völkernzuwendet; an Gott den Sohn, der in Jesus ChristusMensch geworden ist, und so menschliche Nöte undFreuden teilte, der am Kreuz starb und am drittenTage auferweckt wurde; und an Gott den HeiligenGeist, der der <strong>Kirche</strong> und den Christinnen und Christenmütterlich beisteht, sie stärkt und tröstet." 13Von der inneren Differenz her, die die Trinität bietet,<strong>kann</strong> sich auch eine interreligiöse Perspektive eröffnen.„<strong>Da</strong>s Gespräch mit dem Islam wie mit demJudentum bietet die Gelegenheit, die Trinitätslehrevon ihrem Ursprung <strong>im</strong> Bekenntnis und ihren Wurzeln<strong>im</strong> biblischen Erzählzusammenhang her in größererNähe zu den gemeinsamen Traditionen zu formulieren.“143.5 Segen als Teilhabe und Teilgabe„In Dir sollen sich segnen lassen alle Völker der Erde.“(1.Mose 12,3)In 1.Mose 12 wird nicht nur Abraham gesegnet, sonderner wird auch zum Segen für die anderen Völkererklärt. Gott will Segen für sein Volk UND für die Völkerin ihrer Verschiedenheit. Der biblische Gott hatsich an die „Eigenen“ und an die „Anderen“ gebunden.Er bindet sich an die besondere Minderheit und willSegen für die „normale“ Mehrheit. Alle sind Gesegneteund auf irgendeine Weise verstrickt in die WeggenossenschaftGottes mit den Menschen, die bisheute anhält.Gottes Segen ist also nicht exklusiv zu haben, sondernSegen gibt es nur anteilig, als Teilhabe. Erst „mit Abraham/Israel haben sie (die Völker) selbst Anteil amSegen Gottes.“ 15 Gottes Segen gilt nicht exklusiv. <strong>Da</strong>raufweist die Segnung Abrahams hin, indem sie miteiner globalen Perspektive verbunden wird: Der Segenfür Abraham hat von Anfang auch alle Anderen <strong>im</strong>Blick, ist Segen für die Welt. Gottes Segnungen werdeneigentlich erst zum Segen durch die Teilgabe anAndere. Man könnte sagen, dass die Segnungen Gottesauf Teilhabe-Gemeinschaften zielen, und zwar in13 Abraham und der Glaube an den einen Gott, Arbeitshilfe Christenund Musl<strong>im</strong>e Nr.1. der EKiR, 2009, S. 17f.14 A.a.O., S. 12.15 Frettlöh, Magdalene, Theologie des Segens, Gütersloh 1998,S. 289.38
weltweiter Perspektive. Teilhabe-Gemeinschaft undTeilgabe-Gerechtigkeit sind wichtige Merkmale vonInklusion.Jesus, der ungewöhnliche Jude„Die Zöllner und Prostituierten haben ihm geglaubt.“(Mt 21,32)„Vielleicht wurde bislang noch zu wenig gesehen,dass viele Geschichten des Evangeliums die ThemenIntegration und Inklusion mitprägen.“ 16 Jesus, derJude, hält sich laut dem, was uns über ihn überliefertist, nicht nur unter Unbeschädigten und „Normalen“auf. Die Erzählungen der Evangelien sind in besondererWeise interessiert an den Anderen, den Besonderen,den Fremden, den Entwerte ten: an Zöllnern, anSyrophönizie rinnen, an Prostituierten, an Aussätzigen,Armen und Kranken. Sie stellen Menschen vom gesellschaftlichenRand in die Mitte. Jesus irritiert und verschiebtdarin das Verhältnis zwischen den Randständigenund der gesellschaftlichen Mitte. „Jesus entgrenztbestehende Gemein schaften, indem er mit denAusgegrenzten gemeinsame Sache macht.“ 17<strong>Da</strong>s Liebesgebot <strong>kommen</strong>tiert Jesus mit dem berühmtenGleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,27-37). "Und wer sind meine Nächsten?" (Lk 10,29) Diese16 Fuchs, Ottmar, Inklusion als theologische Leitkategorie, in:Behinderung und Pastoral 18/ Juli 12, S.34. Hier findet sich aucheine ausführliche Auslegung des Gleichnisses vom barmherzigenSamariter.17 Ebd.Frage beantwortet das Gleichnis mit dem Hinweis aufden fremden Anderen. Der Samaritaner ist es, der hierbeispielhaft Barmherzigkeit tut. <strong>Da</strong>ss die Ver antwortungfür den anderen an den Grenzen der eigenenGruppe nicht endet, dafür steht dieses Gleichnis ein.Der von außen <strong>kommen</strong>de Andere ist es, „der demeigenen Kollektiv etwas vormacht, indem er einemIsraeliten aufhilft“ 18 .In vielen anderen Geschichten der Evangelien wird dieZugehörigkeit von gesellschaftlich ausgeschlossenenMenschen proklamiert. Hier wird ein anderer Aspektvon Inklusion thematisiert, nämlich der Respekt vorder (bleibenden) Andersheit des anderen und dessenwertschätzende Wahrnehmung: Der Samaritanerbleibt, der er ist, und dort, wo er ist. Er wird nichtbekehrt. Aber er erscheint nicht <strong>im</strong> vorurteilsvollen,verächtlichen Sinn als „der andere“, sondern als einer,der konkret anders handelt, nämlich handfest Barmherzigkeitübt und als solcher von Jesus zum Vorbildhingestellt wird.Eine <strong>im</strong> Kern gemeinsame Ethik <strong>kann</strong> verbinden undFremdheit überwinden. Die Anerken nung des Liebesgebotesist eine ethische Schnittmenge, die über konfessionelle,religiöse und weltanschauliche Grenzenhinweg heute von vielen Menschen geteilt wird.Außerdem stehen die Anforderungen, die das Liebesgebotan Menschen stellt, quer zu vielen anderen hochbewerteten Fähigkeiten in einer Leis tungsgesel l schaft.Menschen mit Behinde rungen zum Beispiel sind <strong>im</strong>18 A.a.O., S. 36.39