Tun der Nächs ten liebe keineswegs per se eingeschränkterals andere.3.7 Inklusion in Christus„Es gibt Unterschiede in den geschenkten Fähigkeiten,doch sie stammen aus derselben göttlichen Geistkraft.“(1.Kor 12,4)Eine prägnante christologische Parallele zu den inklusivenImpulsen aus den Evangelien findet sich <strong>im</strong> Bildvom Leib Christi, das Paulus <strong>im</strong> 1.Korintherbriefgezeichnet hat. Dieses Bild – „viele verschiedene Glieder,aber ein Leib“ (1.Kor 12) – bietet ein häufig zitiertesModell von Zusammengehörigkeit an: die quasi natürlichgegebene und notwendige Verschiedenheit vongleichberechtigten, gleichwertigen und unterschiedlichbefähigten Menschen, allerdings innerhalb dereigenen Gemeinschaft von Getauften. Die Ausführungenüber die „Charismen“, die unterschiedlichen Begabungen, sind dem Bild vom Leib Christi direkt vorangestellt.Hier entsteht eine urchristliche Vision voneiner Gemeinschaft, die von „den reichen Fähigkeitenaller“ ausgeht, und diese in ihrer Besonderheit, Unterschiedlichkeit,Angewiesenheit und Begrenztheitgleichwertig zur Geltung <strong>kommen</strong> lässt.Im Glauben an die Wirklichkeit Jesu Christi in dieserWelt, ist die Gemeinschaft der Getauf ten und dieGleichrangigkeit und Zusammen gehörigkeit derunterschiedlichen Glieder des Leibes schon Realität.Sie üben und zeigen exemplarisch, wie sich der SegenAbrahams für alle Völker <strong>im</strong> Sozialraum <strong>Kirche</strong> verwirklichen<strong>kann</strong>. Die Aufgabe besteht darin, die „Inklusionin Christus“ <strong>im</strong> Leben und Handeln und in denBeziehungen untereinander nachzuvollziehen. Fürdiese Aufgabe hat die <strong>Kirche</strong> <strong>im</strong> Glauben eine ermutigendeBasis. Denn sie muss Inklusion nicht erschaffen,sondern „nur noch“ nachvollziehen. Wir können, weilwir von geschenkten Fähigkeiten und von der Vergebungleben, dies in dem Wissen tun, „dass Teilhabeund Inklusion etwas ist, von dem wir alle leben, woraufwir alle angewiesen sind und woran wir alle<strong>im</strong>mer wieder scheitern werden.“ 19Eine Lebenskultur der Verschiedenheit, die in diesemSinne an kirchlichen Orten gepflegt wird, <strong>kann</strong> ausstrahlen.Im Vergleich zu vielen anderen Institutionenhat <strong>Kirche</strong> dabei einen Vorteil. Sie ist weniger an vor19 Schäper, Sabine, Inklusive <strong>Kirche</strong> – <strong>Kirche</strong> der Andersheiten? In:Behinderung und Pastoral, 18/ Juli12, S.45.gegebene institutionelle und strukturelle Barrierengebunden, wie es z.B. in Schulen der Fall ist. Zumalwenn sie sich als „<strong>Kirche</strong> der Freiheit“ versteht. <strong>Kirche</strong><strong>kann</strong> Übungsraum für gesellschaftliche Veränderungsprozessesein.3.8 <strong>Da</strong>s große AUCH und diebleibende Erwählung Israels„ ... nicht nur aus dem jüdischen Volk, sondern auch ausden anderen Völkern.“ (Rö 9,24)Die ersten christlichen Schriften entstehen in einerGemengelage von Juden, Judenchristen und Heidenchristen,von Griechen, Römern, Samaritanern undanderen, dazu von (ehemaligen) Sklaven und Freien.Die Schriften zeugen von der Suche nach einemGrundmodell des Zusammenlebens von Verschiedenen.Sie zeigen, wie (ur)christliches Selbstverständnisan der Frage nach den Anderen <strong>im</strong> Eigenen und <strong>im</strong>Gespräch mit den Anderen wächst.Heidenchristen, Menschen ohne jüdische Wurzeln,gelten historisch betrachtet als „die aus den Völkern“.Christliche <strong>Kirche</strong> versteht sich in ihrem Ursprung alsdazuge<strong>kommen</strong>e Andere, denen Teilhabe gewährtwird, <strong>jede</strong>nfalls aus der Perspektive des Juden Paulus.„So hast du gemeinsam mit ihnen Anteil an der fettspendenden Wurzel des edlen Ölbaums.“ (Rö 9,17) <strong>Kirche</strong>verdankt sich, so betrachtet, einer offenen Teilhabegemeinschaft.Hier wird das „AUCH“ zum Schlüsselwort. Der Römerbriefformuliert deutlich ein „auf Menschen aus denVölkern bezogenes „auch“ <strong>im</strong> Anschluss an Israel. DerAkzent liegt für Paulus selbstverständlich auf dem„Auch“, auf der Einbeziehung auch der Völker. Aberdieses „Auch“ setzt Israel als selbstverständlichen bleibendenErstadressaten (…) voraus“. 20 ChristlichesSelbstbewusstsein ist schon in seiner Ursprungsgeschichtegenötigt, „die Anderen und auch wir“ zu denken.Dies ist <strong>jede</strong>nfalls die Position des Juden Paulus.In diesem Sinne könnte von Paulus als einem der ersten„Inklusionsagenten“ 21 der <strong>Kirche</strong> gesprochen werden.Durch Paulus ist <strong>Kirche</strong> schon von ihrem Ursprungher aufgerufen, sich selbst in der Position des „Ande-20 Wengst, Klaus, Wie wäre von universaler Heilsbedeutung Jesunach dem Römerbrief des Paulus zu reden? In: Frankemölle, H./Wohlmuth, J. (Hg.), <strong>Da</strong>s Heil der Anderen, Freiburg 2010, S. 318.21 Dieser Begriff wurde von Gerhard Wegner geprägt, vgl. ders.,„Enabling Churches“ – <strong>Kirche</strong>n als Inklusionsagenten, in: Eurich,Johannes u.a. (Hg.), <strong>Kirche</strong>n aktiv gegen Armut und Ausgrenzung,Stuttgart 2011, S. 211-231.40
en“ zu denken. Diesen Blickwechsel einzuüben, hieße,die Perspektive ausgeschlossener oder von Ausschlussbedrohter Menschen einzuüben, bzw. schmerzhafteErfahrungen eigenen Anderssein nicht verdrängen zumüssen, sondern als Kern christlicher Identität wahrnehmenzu dürfen.Die meisten neutestamentlichen Texte beziehen sichin diesem Lernprozess auf Lernorte <strong>im</strong> ersten Testament,die Modelle der Teilhabe von Verschiedenen anGottes Heilszusage aufzeigen: „Ich habe dich gebildetund eingesetzt zum Bund mit dem einen Volk, zumLicht für die fremden Völker“. (Jes 42,6) 22Durch die bleibende Erwählung Israels ist für Christinnenund Christen grundlegend deutlich und gegeben,dass die Anderen <strong>im</strong>mer schon da sind. Durch die bleibendeErwählung Israels und durch das Jude-Sein Jesuist die christliche Gemeinschaft von Anbeginn an aufgefordert,Raum und Anerkennung für den Anderen inseinem bleibenden Anders-Sein zu schaffen.„Hat man christlicherseits aufgrund des besonderenVerhältnisses zum Judentum erst einmal die bleibendeDignität und Werthaf tigkeit einer anderen Wahrheitinnerhalb des eigenen Denkens begründet undaner<strong>kann</strong>t, so <strong>kann</strong> man sich auch anderen Religionen<strong>im</strong> Bewusstsein der Möglichkeit nähern, auch hier22 „<strong>Da</strong>ss sich die <strong>Kirche</strong> in großer Nähe zu den alttestamentlichenJHWH- Verehrern der Völker sehen <strong>kann</strong>, leistet m. E. einen wichtigenBeitrag zu einem veränderten Selbstverständnis der <strong>Kirche</strong>,die JHWH aus dem Raum der Völkerwelt heraus verehrt und sichmit seinem Volk Israel freut (vgl. Röm 15,9ff).“ Haarmann, Volker,JHWH Verehrer der Völker, in: Frankemölle, H. / Wohlmuth, J. (Hg.),<strong>Da</strong>s Heil der Anderen, Freiburg 2010, S. 291.Wahrheiten zu entdecken, denen ich Raum <strong>im</strong> eigenenDenken geben <strong>kann</strong>, ohne dabei den eigenenWahrheitsanspruch unzuverlässig zu relativieren“. 233.9 Zwischen Judentum und ChristentumDie Anerkennung des andersbleibenden Anderen, dieChristen durch Jesus, dem Juden, ihrem Herrn, zugemutetwird, ist eine Gegen bewegung zu Exklusion. Exklusionin ihrer schl<strong>im</strong>msten Form und die Verfolgung undsystematische Ermordung von Juden‚ Homo sex uellen,Kommunisten, ,Behinderten’, ‚A-Sozialen’, ‚Zigeunern’hat <strong>im</strong> Nachkriegs deutschland zu einer Erschütterungder Theo logie und zu einem theologischen Denk- undLernprozess geführt. Ein Ergebnis davon ist, dass die<strong>Evangelische</strong> <strong>Kirche</strong> <strong>im</strong> <strong>Rheinland</strong> <strong>im</strong> Jahr 1980beschlossen hat 24 , die Anerkennung der bleibendenErwählung Israels in ihre <strong>Kirche</strong>nordnung aufzunehmen.<strong>Da</strong>mit hat sie sich auf ein kirchliches Modell desZusammen lebens von Verschiedenen festgelegt, dasdem anders bleibenden Anderen <strong>im</strong> Denken des EigenenRaum gibt. 25 Christliche Theologie vor dem Hintergrundder bleibenden Erwählung Israels heißt, Theologie<strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Angesicht des Anderen zu formulieren.23 Von Stosch, Klaus, <strong>Da</strong>s besondere Verhältnis von Judentum undChristentum als Lernort komparativer Theologie, in: Frankemölle,H./ Wohlmuth,J. (Hg.), <strong>Da</strong>s Heil der Anderen, Freiburg 2010, S. 135f.24 Klappert, B./ Starck, H. (Hg.), Umkehr und Erneuerung. Erläuterungenzum Synodalbeschluss der Rheinischen Landessynode1980 „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“,Neukirchen-Vluyn 1980.25 „Durch seine eigene Heilige Schrift erfährt das Christentumdas Andere, das ihm <strong>im</strong> Laufe seiner Geschichte durchaus alsFremdes erschienen ist, nicht <strong>im</strong> Gegenüber, sondern als Teil <strong>im</strong>Eigenen und zwar als das Eigene, das seine eigene Identität auf<strong>Da</strong>uer best<strong>im</strong>mt.“ Dohmen, Christoph, Die Heilige Schrift der„Anderen“ in der eigenen Religion, in: Frankemölle, H./ Wohlmuth,J. (Hg.), <strong>Da</strong>s Heil der Anderen, Freiburg 2010, S. 375.41