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Abi-Rede für die Tutorinnen und Tutoren von Hr. Olaf Dinkela

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Liebe Eltern <strong>und</strong> Angehörige, Verwandte, Fre<strong>und</strong>e, liebeKolleginnen <strong>und</strong> Kollegen, liebe <strong>Abi</strong>turientinnen <strong>und</strong><strong>Abi</strong>turienten, um <strong>die</strong> es heute vornehmlich geht, <strong>die</strong> zuehren wir alle hier zusammengekommen sind.In <strong>die</strong>sem kurzen Schuljahr huschte ... wie so mancher Diebin der Nacht ... alles rasend schnell vorbei <strong>und</strong> so rückte<strong>die</strong>ser heutige Tag <strong>und</strong> auch <strong>die</strong>se <strong>Rede</strong> auf einmal rechtunvermittelt <strong>für</strong> mich auf den Plan. Hättet ihr sie mir nichtangetragen, wo<strong>für</strong> ich euch an <strong>die</strong>ser Stelle ausdrücklichdanken mag, ich glaube, in <strong>die</strong>sem Jahr hätte ich mich darum reißen wollen <strong>und</strong> doch, sobedeutsam mir <strong>die</strong>ser Auftrag ist, so sehr lähmt er mich auch. Ich habe immer mal wiederdarüber nachgedacht, was ich in <strong>die</strong>ser <strong>Rede</strong> so alles erzählen würde, wenn es denn soweitist - doch klare Worte figurierten sich selten heraus, nur der diffuse Wunsch, dass derMoment, da ihr hier fertig habt, noch weit weg in einer unbestimmten Zukunft liegen möge.In <strong>die</strong>sem Jahrgang hier - so will ich euch tadellos aufgeputzten Maturierten mal nennen -stecken <strong>für</strong> mich einige Premieren, tolle Erfahrungen <strong>und</strong> mir sehr familiäre Gesichter ... <strong>und</strong>wenn man sagt, dass das Lehren eine Profession sei, mittels derer man das Leben jungerMenschen auf ewig berührt, so muss ich bekennen, dass sich <strong>die</strong>s mit euch auch andersherum so verhalten hat, ich meine, dass ihr auch meines berührt habt - nur dass ich selbsteben nicht mehr ganz so jung bin. Von meiner ersten Klasse, <strong>die</strong> ich an <strong>die</strong>ser Schuleübernommen habe über meinen ersten LK bis hin zu <strong>die</strong>sem Tage haben wir uns durchausgegenseitig geprägt; viele <strong>von</strong> euch haben Verantwortung <strong>und</strong> Posten an der Schuleübernommen, um euer soziales Habitat aktiv mitzugestalten, um Spuren zu hinterlassen.Dabei habt ihr eure Ziele konsequent verfolgt <strong>und</strong> habt durchaus auch um sie gekämpft; ichkann mich sehr gut an argumentative Scharmützel unserer Schülervertreter mit unseremSchulleiter erinnern, in denen es heiß her ging, da waren <strong>die</strong> Leonie, Hanna, Tete, Alina <strong>und</strong>Jacky mit wehenden Fahnen am Werk - als ich euch auf euren harten, durchauserfolgreichen aber eben auch unnachgiebigen Kurs aufmerksam machte - ich erinnere michvage - sagte Alina dann: "na, <strong>von</strong> wem wir das wohl gelernt haben?" - ich nickte etwasverstohlen, doch innerlich dachte ich voller Genugtuung <strong>und</strong> mit nahezu mütterlichem Stolz:"ja, genau!"


Meine eigene Prägung besteht gewissermaßen in der Erkenntnis, dass ich dank euch lernendurfte, dass man ein umso besserer Lehrer ist, je echter man ist, dass es lohnt, authentischzu sein <strong>und</strong> einen pädagogischen Eros zu pflegen, dass man es bei seinen "Zöglingen"innerhalb <strong>und</strong> außerhalb des Unterrichts mit Partnern zu tun hat, <strong>die</strong> Wertschätzung <strong>und</strong>Akzeptanz ver<strong>die</strong>nen <strong>und</strong> wenn man <strong>die</strong>se aufbringt, so viel mehr zurück bekommt. Mit euch- einst in meiner ersten Klasse - bin ich zum Lehrer geworden; keine schlechte Entscheidung -es ist ein kreativer <strong>und</strong> geistig anspruchsvoller Beruf mit wenig Selbstentfremdung <strong>und</strong> zusehen, was aus euch, den quirligen Teenys <strong>von</strong> einst, nun geworden ist - <strong>und</strong> auch jene, <strong>die</strong>erst in der 11 in den Fokus meiner Wahrnehmung gerückt sind, haben teils noch einegewaltige Entwicklung hingelegt - ist eine Genugtuung, wie man sie schwerlich in eineranderen Profession erfahren dürfte - vielleicht noch als Hebamme ...Das alles hat <strong>für</strong> uns Lehrer nur einen gewichtigen Nachteil - das geht sicher allen eurer<strong>Tutorinnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Tutoren</strong> so <strong>und</strong> sie blicken dabei zunächst einmal auf ihre Leistungskurseinnerhalb der Bahnen ihrer Spezialisierung: Jetzt, da wir mit euch Konzerne bauen,Menschenrechtsorganisationen ins Leben rufen oder Netzwerke gründen könnten, <strong>die</strong> sichdem Wahren, Schönen <strong>und</strong> Guten verschreiben, da lasst ihr uns in den Mauern <strong>die</strong>serHalbwelt, <strong>die</strong>sem Planspiel Leben zurück, um ins richtige Leben zu schreiten <strong>und</strong> das richtigeLeben ist ja stets anderswo, also auf jeden Fall nicht dort, wo Lehrer sind ... wenn dannschon in der freien Wirtschaft, <strong>die</strong> ist ganz schön real ... <strong>und</strong> überhaupt sollten Lehrer nurmal ein paar Jahre in der freien Wirtschaft arbeiten, dann würden sie schon sehen ...entschuldigen Sie, ich war gestern noch beim Friseur.Halten wir also noch einmal zwei Dinge fest, bevor ich dann in den zweiten Teil meiner <strong>Rede</strong>einsteuere: Heute ist ein Tag voller Freude aber auch ein Tag der Wehmut <strong>und</strong> <strong>die</strong>seWehmut speist sich aus dem zweiten Ding <strong>und</strong> <strong>die</strong>ses Ding aus einem Bef<strong>und</strong>, zu dem ichfreilich nicht ganz allein gekommen bin, Gott bewahre, auch nicht wir <strong>Tutorinnen</strong> <strong>und</strong><strong>Tutoren</strong>, <strong>für</strong> <strong>die</strong> ich heute sprechen darf, nein, nein, das sagen auch Menschen, <strong>die</strong> nur malganz kurz ihre Nase in unsere Schule halten, <strong>die</strong> sagen: Mensch, ihr habt hier wirklich eineherzliche <strong>und</strong> offene Atmosphäre, ihr habt wirklich tolle Schüler!


Ich meine das so, wie ich es sage, ihr seid einer der nach meinem Da<strong>für</strong>haltenbedeutsamsten Standortfaktoren unserer Schule; ihr habt vielseitiges Potential, ihr kommtaus verschiedensten Ecken <strong>und</strong> wisst euch doch zu finden <strong>und</strong> zu ergänzen, durch Geist <strong>und</strong>Herz ... ihr seid junge Menschen, <strong>die</strong> natürlich sind, sozial <strong>und</strong> aufgeschlossen, Dünkel <strong>und</strong>Schnöseleien sind euch ebenso fremd wie Intoleranz <strong>und</strong> Ausgrenzung, ihr setzt euch ein<strong>und</strong> mischt euch ein; vom ehrlichen Burschenschaftstrinker mit dem Herzen am rechtenFleck bis hin zu jenen, <strong>die</strong> morgens schon Proust auf dem Klo lesen, um das Hirn anzufüttern,vereinen wir hier an der Ricarda eine weite Spanne unterschiedlichster Charaktere <strong>und</strong> mitihnen einen ganz besonderen Menschenschlag, dessen konstituierendes Merkmal gerade <strong>die</strong>Varianz <strong>und</strong> Vielseitigkeit ist; vieles ist einfach o'kay, ihr lasst <strong>die</strong> Menschen so leben ... sowie sie sind.Hier findet sich nicht jene vermeintliche Elite ein, <strong>für</strong> <strong>die</strong> es absolut selbstverständlich ist,dass eine Schule alles Unpassende raus siebt <strong>und</strong> ihr Selbstverständnis dadurch aufpoliert,dass man mit verschrobenem Leistungsethos das abschöpft <strong>und</strong> in <strong>die</strong> Zeitungen pressenlässt, was Eltern daheim mit dem Klavier-, Ballett- oder Nachhilfelehrer in ihre Kinderinvestiert haben <strong>und</strong> wir verfolgen mit unserer Profilierung auch kein übermäßigzugespitztes politisches Statement. Es ist hier halt alles nicht ganz so verspannt; Herr Weibel,seines Zeichens ein wissender alter Hase, brachte es <strong>für</strong> mich mal recht passend auf denPunkt: uns liegen unsere Schüler einfach am Herzen. So einfach kann es sein.Im Bildungsfuhrpark der Region ist <strong>die</strong> Ricarda halt eher so der Volvo, Understatement stattProtz, versteckte Klasse aber eben doch Klasse, niemand zuckt zusammen, wenn er imRückspiegel erscheint aber wenn er anhält, da an der Party am See, steigen da einfach <strong>die</strong>lässigeren Leute aus, <strong>die</strong> was zu sagen haben, <strong>die</strong> Geist <strong>und</strong> Witz versprühen, <strong>die</strong> zubegeistern sind <strong>und</strong> auch Freude spenden können.Ihr als Jahrgang steht <strong>für</strong> mich <strong>für</strong> das, was <strong>die</strong> Ricarda sein will <strong>und</strong> an das wir uns auchimmer wieder erinnern müssen. Für einige war es eine harte Schlacht, der Gang durch <strong>die</strong>Oberstufe, ein steiniger Weg, doch ihr seid ihn gegangen. Sicher gab es mal Zweifel, es gabmal Tränen aber es gab auch immer wieder ein Weitermachen <strong>und</strong> nun haltet ihr das <strong>Abi</strong>turin den Händen <strong>und</strong> eure Eltern sind stolz wie Oskar auf euch <strong>und</strong> wir, <strong>die</strong> wir an euchgeglaubt <strong>und</strong> euch begleitet haben, sind es auch. Anderen fiel es leichter, das Atmen fiel


leichter <strong>und</strong> dann haben wir auch solche, <strong>die</strong> man mit Fug <strong>und</strong> Recht als Überfliegerbezeichnen kann, denen man es aber gönnt, weil sie beim Überflug nie wirklich abgehobensind - schlagt mich nachher <strong>und</strong> doch nehme ich mal unsere drei besten als Beispiel - Sina,Alina, Leonie - dass tue ich vor allem auch deshalb, weil ich weiß, dass <strong>die</strong>se Schule <strong>für</strong> euchimmer eine Selbstverständlichkeit, gar familiäre Tradition war - in <strong>die</strong>sem Zusammenhangkann ich mich noch gut daran erinnern, wie ich Sina <strong>und</strong> Alina als ihr einstiger Klassenlehrerdas Angebot unterbreiten sollte, doch auf das glamouröse Schlossinternat Hansenberg zugehen, eine Ehre, <strong>die</strong> jene achtungsgebietende Bildungseinrichtung stets den zwei Besteneines Jahrgangs zuteilwerden lässt, damit ihr Geist nicht vom blubbernden Elend eineröffentlichen Schule mürbe gemacht wird. Eure Empörung darüber gepaart mit einem Blickder Verständnislosigkeit <strong>und</strong> ein "Sie haben wohl einen nassen Helm auf!" zusammenführtewaren mir stille Genugtuung - geh doch wo du kommst, Hansenberg! Wir sind selbst auchnicht ganz so übel!An alledem ... daran, wie toll ihr, unsere Schüler an der Ricarda seid, haben sie, liebe Eltern,einen maßgeblichen Anteil, wo<strong>für</strong> ich ihnen mal an <strong>die</strong>ser Stelle im Namen unseresKollegiums herzlich danken möchte.Jetzt habe ich uns allen mit <strong>die</strong>sem zweiten Ding recht lang gehuldigt. Vielleicht sollte ichnun <strong>die</strong>ser <strong>Rede</strong> doch noch so ein Thema gönnen, auch wenn es rumpelt, so waskulturanthropologisch-philosophisches, irgendwie kritisch <strong>und</strong> doch lustig. Ich weiß ja, was<strong>von</strong> mir erwartet wird ... wollen wir uns daher etwas erheitern <strong>und</strong> uns doch auchnachdenklich stimmen ...-- der <strong>Rede</strong> zweiter Teil --Frei nach Victor Hugo, <strong>und</strong> nur im besten Sinne gemeint, kann man mal <strong>für</strong> den heutigen Tagfesthalten, dass nichts elektrifizierender <strong>und</strong> erhabener ist als eine Idee, <strong>die</strong> Wirklichkeitwird. Wir hier alle an <strong>die</strong>sem Punkt im Kontinuum <strong>von</strong> Raum <strong>und</strong> Zeit - eine Manifestation alldessen, worum es in den letzten - na sagen wir mal mindestens drei - Jahren ging - hierdürfen wir uns alle getrost mal anerkennend auf <strong>die</strong> Schultern klopfen ...


Liebe Eltern, wussten Sie, dass ihre Tochter oder ihr Sohn ihnen erläutern kann, warum inder Quantenphysik so genannte Mikroobjekte wie Elektronen <strong>und</strong> Photonen durch <strong>die</strong>Konzepte der klassischen Physik nicht mehr eindeutig <strong>und</strong> widerspruchsfrei erklärt werdenkönnen? Wussten sie, dass ihr Kind <strong>die</strong> globalen <strong>und</strong> lokalen Eigenschaften <strong>von</strong> Funktionen<strong>und</strong> Funktionsscharen erschließen kann, dass es <strong>die</strong> planckschen Konstanten mittelsLeuchtdioden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Lichtquellenlängen mit Transmissionsgittern subjektiv <strong>und</strong> objektivberechnen kann, dass es postsynaptische Potentiale <strong>und</strong> etwas so Merkwürdiges wiezeitliche <strong>und</strong> räumliche Summation kennt?Liebe Eltern, ist das nicht der Hammer?! Als sie dachten, dass sich ihr Spross nur noch <strong>von</strong>einer Party auf <strong>die</strong> nächste schleppt, hat er doch wahrlich derart Unglaubliches zu seinemgeistigen Eigentum gemacht. Ich ahne, dass man das, was ich eben so aufgezählt habe, wohleher im naturwissenschaftlichen Bereich lernt, auch wenn ich nicht genau sagen könnte, inwelchem Fach. Allerdings klingt es <strong>für</strong> mich so, als seien <strong>die</strong>se Fähigkeiten gutesMarschgepäck, um im Dschungelcamp des Lebens zurechtzukommen; keine Frage. Und ichglaube auch, dass ihr das auch <strong>von</strong> der Schulbildung erwartet, liebe <strong>Abi</strong>turientinnen <strong>und</strong><strong>Abi</strong>turienten: Sie soll nützlich sein <strong>und</strong> euch bereichern; <strong>und</strong> tut sie <strong>die</strong>s vermeintlich nicht,so kann man schon mal <strong>die</strong> Geduld verlieren - es äußert sich dann so "Kann mir mal jemandsagen, wozu ich d a s lernen soll?" - "D a s brauchen wir doch nie wieder im Leben!"In der Politik <strong>und</strong> Wirtschaft ergeht mir d a s seltener so; <strong>die</strong> Ökonomisierung des Lebensschreitet fröhlich voran <strong>und</strong> um uns herum ist doch alles irgendwie <strong>und</strong> mehr oder wenigerPolitik - der Deutschlehrer in mir zuckt indes ängstlich zusammen (vom Darstellenden Spielwill ich gar nicht erst reden), der Zweifel räkelt sich genussvoll <strong>und</strong> dann höre ich eine innereStimme sagen: „Siehst du: Mathematik, Physik, Biologie, Chemie <strong>und</strong> auch Englisch -schließlich wollen <strong>die</strong> gewonnen Erkenntnisse in den Zirkeln der internationalen Fachkreiseauch adäquat kommuniziert sein - das können deine Schüler alles gut gebrauchen. AberDeutsch ... Dramen ... Geschichten ... Gedichte <strong>und</strong> so ...?" Laberfach, kennen wir doch!(Falls jetzt einer meiner werten Kollegen denkt: Hey, warum profanisiert <strong>und</strong> verunglimpft erdenn mein Fach nicht, was soll denn das ...? Natürlich ist Französisch auch ein Laberfach <strong>und</strong>Latein ... ein schickes Vademecum, um gelegentlich mal unter anerkennendem Kopfnickenden passionierten Altphilologen raushängen zu lassen ..., Geschichte ist nur eine zeitlicheAneinanderreihung an PoWi <strong>und</strong> noch dazu vorbei ... ja <strong>und</strong> <strong>die</strong> Kunst ... <strong>und</strong> <strong>die</strong> Musik ...<strong>und</strong> der Sport? Versteht mich nicht falsch, ich teile ja euren Schmerz ...)


Man darf da nicht so genau hinhören aber gesagt ist halt gesagt. Wie sieht es also aus mitdem Zweifel? Wozu kann man denn zum Beispiel Literatur <strong>und</strong> Kunst gebrauchen? WelchenFitnessgehalt bieten <strong>die</strong>se Fächer? Während ich darüber nachdenke, tritt mir eine kleineSzene vor Augen. Ich möchte sie euch aus Illustrationsgründen nicht vorenthalten:Regieanweisung:Zeit: Irgendwann im Jahre 2012. Ort: Kleiner dunkler Raum in der Thüringer Staatskanzlei.Ein Mann in Grau, offensichtlich Beamter der Personalabteilung des Landes, wartet <strong>und</strong>schaut ab <strong>und</strong> an auf <strong>die</strong> Uhr. Die Tür geht auf. Ein junger, hagerer Herr betritt den Raum,Bewerbungssituation:„Guten Tag, nehmen Sie Platz. Sie wollen sich <strong>für</strong> den Posten in der Staatskanzlei bewerben.Ihr Name?“„Goethe“„Aha, sehr schön. Herr Goethe, Sie kennen ja das Anforderungsprofil. Sagen Sie mal, wasbefähigt Sie denn <strong>für</strong> <strong>die</strong>se Tätigkeit?“„Mein Herr, ich habe, obwohl ich sehr jung bin, einiges geleistet. Ich dichte ab <strong>und</strong> an. Unddabei habe ich eine besondere Fähigkeit: Ich kann sehr schön meine Gefühle darstellen. Ichhabe zudem w<strong>und</strong>erbare Erlebnislyrik verfasst. Habe einen Roman <strong>und</strong> -ach- einTheaterstück geschrieben, <strong>von</strong> denen ich hoffe, dass sie <strong>die</strong> Menschheit als Ganzesbewegen. Habe mir zahlreiche Gedanken zur Rolle der Kunst <strong>und</strong> des Künstlers imAllgemeinen <strong>und</strong> des Genies im Speziellen gemacht <strong>und</strong> <strong>die</strong>se auch aufgeschrieben. Ich sehemeine Aufgabe darin, der deutschen Sprache einen eigenen, zeittypischen Ausdruck zuverleihen.... Nun, ich sammle Kristalle....“„... W<strong>und</strong>erbar, Herr Goethe, das ist ja ganz außergewöhnlich. Ich danke Ihnen. Wir meldenuns bei Ihnen.“Hier endet meine kleine Szene. Was bleibt ist <strong>die</strong>ses ungute Gefühl, dass wir heute zwarnoch Goethe im Theater spielen <strong>und</strong> artig seinen Geburtstag feiern aber ihm wohl keinen


Job geben würden. Kunst <strong>und</strong> Kultur sind solch w<strong>und</strong>erbare Themen, vor allem dann, wennsie sich mit Sektempfängen paaren, entpolitisiert, domestiziert <strong>und</strong> enthaart - das Leben, sokönnte man zynisch anfügen, erscheint als das, was passiert, während manche MenschenBücher lesen.Klar, mir persönlich behagt es nicht sonderlich, wenn Politik <strong>und</strong> Kultur als schweroperationalisierbare Laberei abgetan wird. Aber es fällt mir auch nicht so leicht, euch zusagen, warum das ein Fehler ist, denn ich weiß, dass an meine Stelle als Lehrer mitunter baldein gewinnorientierter Personalchef treten wird. Einer, der schauen wird, welche eurerFähigkeiten seinen Nutzen maximiert. Er wird prüfen, ob euer Profil in seine Pläne passt, erwird euch Human Capital nennen <strong>und</strong> doch Führungspersönlichkeiten erwarten. Und ichweiß, dass <strong>die</strong>se Headhunter, <strong>die</strong> Auswahlgremien an den Universitäten <strong>und</strong> ihreprosaischen Fre<strong>und</strong>e in den Castingshows zu den wahren Göttern unserer Zeit avanciertsind. Sie sind <strong>die</strong> Olympier, <strong>die</strong> unsere Sport- <strong>und</strong> Trainingsprogramme überwachen <strong>und</strong> <strong>die</strong>sagen, ob wir gut genug sind oder nicht. Ihnen wollen wir gefallen, ihnen bringen wir unseretäglichen kleinen <strong>und</strong> großen Opfer dar. Bei ihnen wollen wir auf Platz eins stehen.Und dann denke ich an euch <strong>und</strong> hoffe, dass ihr nicht an euch selbst zweifelt, wenn ihr <strong>die</strong>nächste R<strong>und</strong>e mal verpasst, da draußen in der freien Wirtschaft, im wahren Leben, jenseitsdes Planspieles innerhalb der Mauern der Schule, aus denen wir Lehrer, der Welt entrückt,nun traurig hinter euch her winken. Aber wer weiß, wenn es mal drückt da draußen <strong>und</strong> ihrmich fragtet, ich würde euch raten, den Goetheband mal aufzuschlagen – den mit denGedichten, probiert es mal aus ... bei eurem Personalchef - in etwa so:„Bedecke deinen Himmel Zeus!Mit Wolkendunst,<strong>und</strong> übe, dem Knaben gleich,der Disteln köpft,an Eichen dich <strong>und</strong> Bergeshöhn,musst mir meine Erdedoch lassen stehen,<strong>und</strong> meine Hütte, <strong>die</strong> du nicht gebaut,Und meinen Herd,


um dessen Glut du mich beneidest“Liebe <strong>Abi</strong>turinnen <strong>und</strong> <strong>Abi</strong>turienten, literarische Texte wie der Prometheus bieten meinesErachtens <strong>die</strong> Möglichkeit, einer eindimensionalen Wirklichkeit vielschichtige Perspektivenentgegen zu halten <strong>und</strong> eine schlechte Gegenwart um viele mögliche Welten zu bereichern.Gute Literatur trägt den hohen Anspruch an den Menschen in sich, <strong>die</strong> Welt in uns <strong>und</strong> <strong>die</strong>Welt zwischen uns in Ordnung zu bringen. Wer <strong>die</strong> Stimme des Prometheus hört, wird genaudarauf achten, dass man ihm <strong>die</strong> Glut seines eigenen Herdes nicht klaut. Er wird auf seinHaus aufpassen <strong>und</strong> dessen innere Schätze;wenn das, was wir euch hier lehrten, nutzvoll war, dann hoffentlich auch dazu, euch mit dem„anderen Blick“ ... <strong>die</strong>ser neuen Perspektive auf <strong>die</strong> Dinge ... <strong>die</strong> man in jedem guten Buchfindet, vertraut gemacht zu haben.Dann seht ihr etwa im Werther nicht nur einen „weinerlichen Typen, der gut über seineGefühle reden kann“, sondern einen Revolutionär, der <strong>die</strong> Welt daraufhin prüft, was sie ihmzu bieten hat. Der sich an das Gewöhnliche nicht gewöhnen will <strong>und</strong> kann <strong>und</strong> an <strong>die</strong> kleinenGemeinheiten seiner Welt <strong>und</strong> dann seht ihr hoffentlich auch euch selbst <strong>und</strong> daran glaubeganz fest, weil ich euch kennenlernen durfteEntwickelt euch zu Uferpersönlichkeiten. Diese Wortschöpfung schenke ich euch. Steht amUfer, kennt das Wasser, aber schwimmt nicht mit der Masse in dem Strom, erhebt euch, helftmal Menschen heraus, um einen klaren Blick zu gewinnen. Ihr seid <strong>die</strong> Nächsten, auf <strong>die</strong> wirbauen - mit so mancher Präsidentin oder Präsident aus eurem <strong>Abi</strong>buch könnte ich sehr gutleben - gebt euch nicht dem Stumpfsinn hin ... <strong>und</strong> Michi, lass das sein mit den Topmodels -ihr seid alle so viel mehr als das.Herzlichen Glückwunsch zum bestandenen <strong>Abi</strong>tur,alles Gute wünsche ich euch im Namen unseres Kollegiums,schlürft das Leben in großen Schlucken<strong>und</strong> vergesst uns nicht.

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