Wahr ist nur das lebendige Wort - Kirchen.ch
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Neue Z}r<strong>ch</strong>er Zeitung ZEITBILDER Samstag, 25.03.2000 Nr.72 119<br />
<strong>Wort</strong>arten. Ein ehemaliges Luxushotel, abrupt verlassen wie von<br />
Flü<strong>ch</strong>tenden, s<strong>ch</strong>lafend zwis<strong>ch</strong>en zwei tosenden S<strong>ch</strong>nellstrassen,<br />
die si<strong>ch</strong> um den Paradiesgarten herum kreuzen. Kein Autofahrer<br />
nimmt Notiz von dem Gebäude. Die bröckelnde Majestät <strong>ist</strong> auf<br />
einer anstrengenden Fahrt ni<strong>ch</strong>t bea<strong>ch</strong>tenswerter als die Airport<br />
Landebahn, die MaggiReklametafeln oder die meterlangen und<br />
tückis<strong>ch</strong> tiefen S<strong>ch</strong>laglö<strong>ch</strong>er der Nationalstrasse zwis<strong>ch</strong>en Dakar<br />
und der Provinz. Im Swimmingpool betreiben hagere Bäume<br />
explosives Blühen, als würden es stündli<strong>ch</strong> mehr rote und giftgelbe<br />
Kel<strong>ch</strong>e, die si<strong>ch</strong> tief auf die türkisfarbenen Fliesen neigen. In den<br />
früheren «Gesells<strong>ch</strong>aftsräumen» hat man alles stehen und liegen<br />
gelassen, wie es in den se<strong>ch</strong>ziger Jahren war. Sandvers<strong>ch</strong>üttete Gläser<br />
und Tassen, verrotteter Stoff, an der Wand neben dem Türrahmen<br />
blei<strong>ch</strong>e Bilder von stolzen Mohren in KellnerLivree. Amadou<br />
liebt diesen Ort. Mehr no<strong>ch</strong>, er <strong>ist</strong> sein Zuhause. Zuhause <strong>ist</strong> da, wo<br />
die Familie ni<strong>ch</strong>t <strong>ist</strong>. Denn hier, wo es na<strong>ch</strong> Abgasen stinkt und die<br />
Trockenheit Vergangenes konserviert, muss keiner lä<strong>ch</strong>eln oder<br />
reden, der ni<strong>ch</strong>t will. S<strong>ch</strong>laksig steigt Amadou über die zerbro<strong>ch</strong>ene<br />
Holztür in die Disco ein und hängt seine zwei Meter li<strong>ch</strong>te Höhe<br />
über die Lehne eines grünen Klubsessels. Zwei, drei Freunde werden<br />
kommen, wenn überhaupt. Jedenfalls weniger als die drei Dutzend<br />
Angehörigen zu Hause, Vater, Mütter, Ges<strong>ch</strong>w<strong>ist</strong>er. Die<br />
besten Ideen hat er hier gehabt, den Titel für ein Lied zum Beispiel,<br />
«Ku weet xam sa bop – Wenn du na<strong>ch</strong>denken willst, musst<br />
du allein sein». Selbst im Halbdunkel leu<strong>ch</strong>tet der S<strong>ch</strong>öpferstolz<br />
aus seinen Augen. – Lamin hat si<strong>ch</strong> anges<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en wie eine Katze<br />
und springt ihm, unter Andeutung diffuser KungFuS<strong>ch</strong>ritte,<br />
direkt in den Nacken. «Ça va? Ça va bien? Cool, mon frère?» Drohend<br />
rollt sein R, er lässt si<strong>ch</strong> in den Na<strong>ch</strong>barsitz fallen und hebt<br />
<strong>das</strong> Cellulaire ans Ohr. «Ecoute, morgen wird <strong>das</strong> ni<strong>ch</strong>ts mit unserem<br />
Treffen. Bei uns <strong>ist</strong> heute abend Taufe, glaube kaum, <strong>das</strong>s i<strong>ch</strong><br />
vor na<strong>ch</strong>mittags auf den Beinen bin.» Na<strong>ch</strong>dem er die AusTaste<br />
gedrückt hat, ma<strong>ch</strong>t Lamin ein zuckersüsses, breitmäuliges Gesi<strong>ch</strong>t<br />
und flüstert mit F<strong>ist</strong>elstimme: «Und s<strong>ch</strong>öne Grüsse an Amadou,<br />
ja?» Amadou boxt ihn in den Bau<strong>ch</strong>, und beide bre<strong>ch</strong>en in ein<br />
La<strong>ch</strong>en aus, <strong>das</strong> Tote zum Leben erwecken könnte. Amadou und<br />
Lamin warten auf bessere Zeiten und fühlen si<strong>ch</strong> derweil ganz<br />
wohl. Bis Mitte Dreissig <strong>ist</strong> es ni<strong>ch</strong>t mehr weit, sie sind bereits auf<br />
dem Weg ins hohe Alter, zwei Musiker ohne Instrumente, oder,<br />
wie Amadou es gerne ausdrückt: «Je ne suis qu'un individu de<br />
bonne volonté.» Die Zukunft lebt im GrandHotel, weit weg von<br />
allen Mens<strong>ch</strong>en, die lä<strong>ch</strong>eln und reden und ihr Leben in fremde<br />
Hände geben.<br />
Aussagen. Dunkel. Lockend. Jenseits. Roots, der Himmel, Tamtam.<br />
In diesem grossen, na<strong>ch</strong> links ausgebeulten Kontinent liegt<br />
Senegal mit seinen Flussgrenzen zu Mauretanien, Mali, Guinea<br />
und GuineaBissau ganz aussen, genau gegenüber der Karibik.<br />
Von hier aus wurden Sklaven vers<strong>ch</strong>ifft, von hier kam der erste<br />
s<strong>ch</strong>warze Literaturnobelpre<strong>ist</strong>räger, hier begann die Karriere von<br />
Youssou N'dour. Fünf Spra<strong>ch</strong>en, eine Religion, Reste von europäis<strong>ch</strong>er<br />
culture. Französis<strong>ch</strong> Amtsspra<strong>ch</strong>e und Pfli<strong>ch</strong>tfa<strong>ch</strong> ab se<strong>ch</strong>s<br />
Jahren, die Bettler können re<strong>ch</strong>t gut «Bonjour, Kleenex!» sagen<br />
und «Donnemoi de l'argent!» Regenzeit von Mai bis September,<br />
ansonsten Malaria, Analphabeten, Inflation. H<strong>ist</strong>oriker, wenn sie<br />
einen Regierungswe<strong>ch</strong>sel verzei<strong>ch</strong>net haben, s<strong>ch</strong>liessen ihre Bü<strong>ch</strong>er<br />
wieder für ein paar Jahrzehnte. Nennenswerte Kriege gab es in<br />
letzter Zeit ni<strong>ch</strong>t. – In dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>nittli<strong>ch</strong>er Spre<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>windigkeit<br />
würde man für diese einhunderta<strong>ch</strong>t Wörter etwa fünfzig Sekunden<br />
brau<strong>ch</strong>en. Knapp eine Minute für die Skyline, an der Amadous<br />
Traums<strong>ch</strong>iff vor Anker liegt. «La <strong>ch</strong>aîne, c'est l'éducation, l'islam,<br />
la société. Was du tun solltest, tun andere für di<strong>ch</strong>. Propheten,<br />
S<strong>ch</strong>arlatane oder eben Politiker.» Er öffnet die Augen und la<strong>ch</strong>t.<br />
«Wenn was s<strong>ch</strong>ief geht, sagen wir ‹Graw – c'est pas grave› und<br />
lassen uns in <strong>das</strong> Leben na<strong>ch</strong> dem Tod treiben. Grave . . . »<br />
Privatgesprä<strong>ch</strong>e. Zu Hause serviert Amadou no<strong>ch</strong> einen Tee.<br />
Der dritte Aufguss <strong>ist</strong> ausgetrunken, es wird Abend, aber der Besu<strong>ch</strong><br />
klebt seit Stunden am Sofa fest. Niemals würde der Gastgeber<br />
zeigen, <strong>das</strong>s er ihn gerne los wäre, si<strong>ch</strong> räuspern etwa oder Arbeit<br />
vors<strong>ch</strong>ützen. «Il te fait <strong>ch</strong>ier, mais tu ne dis rien. Sonst heisst es, du<br />
b<strong>ist</strong> ja wie die Toubabs geworden, wie die Weissen. Und ein<br />
s<strong>ch</strong>limmeres S<strong>ch</strong>impfwort gibt es ni<strong>ch</strong>t.» Statt dessen lädt er mit<br />
freundli<strong>ch</strong>er Geste zum Abendessen ein.<br />
Im Haus herrs<strong>ch</strong>t gereizte Stimmung, denn vor ein paar Tagen<br />
hat der Vater eine neue Frau mitgebra<strong>ch</strong>t.<br />
Vater: «Setz di<strong>ch</strong>, i<strong>ch</strong> muss mit dir reden.» Mutter: «I<strong>ch</strong> höre.»<br />
Vater: «I<strong>ch</strong> will eine neue Frau nehmen.» Mutter: «Was? No<strong>ch</strong><br />
eine Frau? Was willst du mit ihr?» Vater: «Sie kann dir im Haushalt<br />
helfen. Das tut deiner Stellung keinen Abbru<strong>ch</strong>. Du nimmst<br />
trotzdem denselben Platz in meinem Herzen ein.» Mutter: «Hattest<br />
du mir ni<strong>ch</strong>t verspro<strong>ch</strong>en, <strong>das</strong>s du niemals eine neue Frau nehmen<br />
wirst?» Vater: «A<strong>ch</strong>, vergiss es. Das war die Armut, die mi<strong>ch</strong><br />
sol<strong>ch</strong>e Dummheiten sagen liess. Wenn i<strong>ch</strong> eine Frau dazunehme,<br />
Cica, so <strong>ist</strong> <strong>das</strong> <strong>nur</strong> zu deinem Besten.»<br />
Cica ko<strong>ch</strong>t <strong>das</strong> Empfangsdiner für die Neue, drei Tage lang.<br />
Der Besu<strong>ch</strong>er s<strong>ch</strong>aut sie mitleidig an. «Graw. C'est pas grave»,<br />
strahlt Cica.<br />
Der Vater arbeitet im Min<strong>ist</strong>erium. Kurz vor Beginn des Wahlkampfs<br />
s<strong>ch</strong>eint der Präsidentenpalast no<strong>ch</strong> staubfreier als sonst.<br />
Am Gittertor steht ein roter Turban mit S<strong>ch</strong>ärpe und blauen<br />
Pluderhosen. Er merkt selbst, <strong>das</strong>s sein Gewehr weitaus beeindruckender<br />
<strong>ist</strong> als sein französis<strong>ch</strong>er <strong>Wort</strong>s<strong>ch</strong>atz, und lä<strong>ch</strong>elt, auf <strong>das</strong><br />
uns<strong>ch</strong>einbare Wa<strong>ch</strong>häus<strong>ch</strong>en weisend, fast s<strong>ch</strong>ü<strong>ch</strong>tern. Dort werden<br />
zwei Uniformierte mit hängenden S<strong>ch</strong>ultern für <strong>das</strong> Neinsagen<br />
bezahlt. Keiner hat s<strong>ch</strong>ärfere Augen und ein selektiveres Gehör als<br />
sie. Warten. An der Treppe hält ein Händler auf meterlangen<br />
Tis<strong>ch</strong>en wenige Zeitungen und viele Illustrierte bereit. Zögert ein<br />
Käufer bei der Auswahl der Lektüre, bietet ihm der Weissgekleidete<br />
grinsend ein Pornoblätt<strong>ch</strong>en an. «Made in Senegal», verspri<strong>ch</strong>t<br />
er und s<strong>ch</strong>lägt dem tiefs<strong>ch</strong>warzen TitelPinup zur Bekräftigung<br />
seine Gebetsperlen auf den eingeölten Hintern.<br />
Vaters Bürosessel rie<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Fabrik. Der Anzug kann<br />
<strong>Wahr</strong> <strong>ist</strong> <strong>nur</strong> <strong>das</strong> <strong>lebendige</strong> <strong>Wort</strong><br />
Erfahrungen mit senegalesis<strong>ch</strong>er Grammatik von Ania Faas (Text) und André Lützen (Bilder)<br />
ni<strong>ch</strong>t älter sein als <strong>das</strong> Möbel. Kein Fussel, keine Falte. Sorgfältig<br />
legt er, ganz Funktionär, die Fingerspitzen beider Hände aneinander.<br />
«Uns geht es um harte Arbeit, Arbeit für den Forts<strong>ch</strong>ritt. Hier<br />
glaubt niemand an Zauberei.» Zum Abs<strong>ch</strong>ied erhebt er si<strong>ch</strong>, der<br />
Anzug verfängt si<strong>ch</strong> an der Armlehne, und so gibt der verruts<strong>ch</strong>te<br />
hellblaue ButtondownKragen ein Stück s<strong>ch</strong>warzes Lederband<br />
frei. Fetis<strong>ch</strong>e zieht man niemals aus, <strong>das</strong> bringt Unglück.<br />
Die Mutter <strong>ist</strong> verrückt geworden. Seit Tagen spri<strong>ch</strong>t sie kein<br />
<strong>Wort</strong> mehr. Wenn sie alleine <strong>ist</strong>, singt sie, zusammengekauert vor<br />
dem Was<strong>ch</strong>becken. Seit Tagen kann Amadou ni<strong>ch</strong>t ins Hotel. Seine<br />
Sehnsu<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>windet beim Putzen. Er nimmt den grauen Lappen,<br />
einen Eimer, geht ins Bad, wis<strong>ch</strong>t den Boden, zieht si<strong>ch</strong> einen<br />
Pullover über, putzt dann den Flur vor dem Hof, <strong>das</strong> Handy ans<br />
Ohr geklemmt. «Wir sehen uns heute abend, Ins<strong>ch</strong>allah, i<strong>ch</strong> kann<br />
jetzt ni<strong>ch</strong>t weg.»<br />
Bedeutung. Brackwasser spiegelt die Sterne wider. Der Griot, ein<br />
professioneller Erzähler, brau<strong>ch</strong>t die ganze Na<strong>ch</strong>t zum Singen.<br />
Eine Na<strong>ch</strong>t für: Geburt, Tod, etwas dazwis<strong>ch</strong>en. Die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
des Kindes, <strong>das</strong> getauft werden soll, des Mannes, der gestorben <strong>ist</strong>,<br />
des Helden, der siegen will, der Mutter, die dem Wahn verfallen<br />
<strong>ist</strong>. Die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Väter, der Grossväter, ihrer Vorfahren, der<br />
ganzen Familie. Grosse Ereignisse, Zeiten, zu denen Gutenberg<br />
den Bu<strong>ch</strong>druck no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erfunden und die Weissen weder Afrika<br />
no<strong>ch</strong> Amerika entdeckt hatten. Den Text hat der Griot im Kopf.<br />
Sein Vater hat ihn ihm beigebra<strong>ch</strong>t, und er spri<strong>ch</strong>t ihn <strong>nur</strong> gegen<br />
Bezahlung, begleitet von Trommeln und Saiteninstrumenten.<br />
Amadou <strong>ist</strong> dabei unbemerkt ein grosser s<strong>ch</strong>warzbrauner Käfer<br />
ins Hosenbein geklettert. Erst als si<strong>ch</strong> <strong>das</strong> harte Insekt unter dem<br />
Stoff am Knie entlang seinen Weg bahnt, fährt ihm der heisse<br />
S<strong>ch</strong>reck dur<strong>ch</strong> den Körper, er springt auf, sein Herz rast, wie besessen<br />
hüpft er dur<strong>ch</strong> den klebrigen Sand, um <strong>das</strong> Tier abzus<strong>ch</strong>ütteln.<br />
Es drückt si<strong>ch</strong> fester in die Haut seines Beins, er zieht die<br />
Hose bis übers Knie ho<strong>ch</strong>, packt den Panzer so knapp wie mögli<strong>ch</strong><br />
mit den Fingerspitzen und s<strong>ch</strong>leudert ihn ho<strong>ch</strong> in <strong>das</strong> gleissende<br />
Li<strong>ch</strong>t der nackten Glühbirnen, die an einem Draht quer über den<br />
Platz hängen. Im Gegenli<strong>ch</strong>t verdi<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> kleine Fliegen zu bedrohli<strong>ch</strong>en<br />
Wolken, spatzengrosse Heus<strong>ch</strong>recken torkeln irritiert<br />
gegen die halbnackten Mens<strong>ch</strong>enkörper, die einander umkreisen<br />
und anspringen und wieder zurückwei<strong>ch</strong>en. Die Dunkelheit vers<strong>ch</strong>luckt<br />
S<strong>ch</strong>warz und lässt Weiss leu<strong>ch</strong>ten: Ein verzweigter Fluss<br />
von Mil<strong>ch</strong>, der an einem Rücken herunterrinnt, ein helles Tu<strong>ch</strong>,<br />
<strong>das</strong> wie eine willkürli<strong>ch</strong>e Grenze im Gelände liegt, Plasticplanen<br />
im Rücken der Zus<strong>ch</strong>auer, die den Platz begrenzen. Na<strong>ch</strong> oben<br />
verdrehte Augen. In der Na<strong>ch</strong>t lässt si<strong>ch</strong> der Tanz <strong>nur</strong> mühsam<br />
entziffern. Gesi<strong>ch</strong>ter und Körper tau<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>emenhaft in den<br />
Li<strong>ch</strong>tkegeln auf und blitzartig wieder unter. Bellend, grell, monoton<br />
singt der Griot sein langes Lied. Die hohen Trommeln sind so<br />
laut, <strong>das</strong>s man sie unter den Füssen spürt.<br />
Griots sind teuer, Griots lügen nie, Griots trinken Blut. Sie heiraten<br />
<strong>nur</strong> Frauen aus GriotFamilien, sie kennen kein Tabu und<br />
keine S<strong>ch</strong>am. Grundsätzli<strong>ch</strong> laden sie si<strong>ch</strong> selbst ein. Griot <strong>ist</strong> ein<br />
Beruf, und «Griot» <strong>ist</strong> ein S<strong>ch</strong>impfwort wie «S<strong>ch</strong>marotzer». Ohne<br />
die Griots hielten H<strong>ist</strong>oriker <strong>nur</strong> rätselhafte Bru<strong>ch</strong>stücke in den<br />
Händen. Der Mann aber, der von ihnen heimgesu<strong>ch</strong>t wird, muss<br />
viellei<strong>ch</strong>t Haus und Hof verkaufen, um ihre Forderungen zu erfüllen.<br />
«Allah est grand, mais l'Afrique, c'est complexe.» Der Griot<br />
kennt alle Geheimnisse, und <strong>nur</strong> er darf sie offenbaren. Er spri<strong>ch</strong>t<br />
aus, was andere denken. Er zeigt dem verlorenen Individuum, woher<br />
es kommt und wohin es geht.<br />
Übersetzung. Amadou muss seine Mutter ins Krankenhaus bringen.<br />
Aus dem Dorf in die Stadt. Mit dem Taxi na<strong>ch</strong> Fann, einem<br />
Stadtteil von Dakar, in dem die Rei<strong>ch</strong>en leben, die Studenten und<br />
die Irren. Über die Place de l'Indépendance, quer dur<strong>ch</strong> den<br />
SandagaMarkt, auf den vertikal kreuzenden Boulevard. Im Café<br />
Paris verbellt ein Dackel jeden, der dunkle Haut hat. Sobald die<br />
Sonne aufgeht, sondert die tosende, heisse, s<strong>ch</strong>mutzige Metropole<br />
eine s<strong>ch</strong>warzweisse Mis<strong>ch</strong>ung ab, ein hauptstädtis<strong>ch</strong>es Sekret.<br />
Secret? Das Geheimnis von Dakar erneuert si<strong>ch</strong> tägli<strong>ch</strong> aus einer<br />
endlosen Reihe von Widersprü<strong>ch</strong>en. S<strong>ch</strong>warze Limousinen kreuzen<br />
die Route. Poliz<strong>ist</strong>en ma<strong>ch</strong>en der Delegation den Weg frei.<br />
Hinter den getönten S<strong>ch</strong>eiben sitzen ki<strong>ch</strong>ernde Chinesen. Staatsbesu<strong>ch</strong><br />
bei Abdou Diouf, dem «Mann aus dem Volke». No<strong>ch</strong> <strong>ist</strong><br />
er Präsident. Die Wahlen, die ni<strong>ch</strong>t er gewinnen wird, stehen erst<br />
bevor. In den vergangenen 19 Jahren, unter seiner Regierung, hat<br />
die Republik den Übergang aus einer DrittweltGesells<strong>ch</strong>aft in eine<br />
moderne Nation ges<strong>ch</strong>afft. Sagt Diouf auf einer Konferenz. Er <strong>ist</strong><br />
ein Mann der Versöhnung, er <strong>ist</strong> Muslim, seine Frau Chr<strong>ist</strong>in, er<br />
bringt diese Dinge unter einen Hut. S<strong>ch</strong>wieriger s<strong>ch</strong>on sei die Vermittlung<br />
zwis<strong>ch</strong>en der Elite, die si<strong>ch</strong> an Europa orientiert, und dem<br />
Volk, sagt sein Pressespre<strong>ch</strong>er später. Bei «Elite» kre<strong>ist</strong> seine<br />
Re<strong>ch</strong>te über dem Kopf, wie um einen Heiligens<strong>ch</strong>ein zu markieren,<br />
bei «Volk» streckt er den Arm aus, die Handflä<strong>ch</strong>en na<strong>ch</strong> unten.<br />
An Fann erinnert si<strong>ch</strong> Amadou <strong>nur</strong> ungern. Wenn er dort vor<br />
den Toren des Hospitals im Cybercafé sass und wartete, s<strong>ch</strong>aute er<br />
si<strong>ch</strong> Kataloge an. Turns<strong>ch</strong>uhe von Nike, Adi<strong>das</strong> oder Camper<br />
waren doppelt so teuer wie in Paris. Importware, die die Studenten<br />
an den Füssen trugen. Wenn er einem von ihnen die S<strong>ch</strong>uhe<br />
klauen würde, jetzt, ihn nieders<strong>ch</strong>lagen und die Treter von den<br />
Füssen reissen, dann hätte der s<strong>ch</strong>on morgen wieder dieselben an.<br />
Also los – pourquoi pas? Alles dreht si<strong>ch</strong> ums Geld. Der Bettler,<br />
der jeden Morgen dur<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>webende Glastür kam, hatte keine<br />
Hände. Die Arme waren unterhalb der Ellbogen <strong>nur</strong> no<strong>ch</strong> spitz<br />
zulaufende Stümpfe, wo sollte man die Münzen also ablegen? Ein<br />
100CFAStück passte genau auf den äussersten fla<strong>ch</strong>en Knorpel,<br />
den er dann, in der Vertikale, über seine Brusttas<strong>ch</strong>e balancierte.<br />
Mit dem anderen Arm kickte er die Beute hinein. Nie sah man, wie<br />
er <strong>das</strong> Geld wieder herausholte. Sein Lä<strong>ch</strong>eln war bezaubernd. Er<br />
trug ein TShirt mit der Aufs<strong>ch</strong>rift: «No job, no girl, no money.»<br />
Fann <strong>ist</strong> ein Krankenhaus mitten in der Stadt. Man<strong>ch</strong>mal kommen<br />
die Irren selbst na<strong>ch</strong> Fann. Die Psy<strong>ch</strong>otis<strong>ch</strong>en allerdings werden<br />
von ihrer Familie gebra<strong>ch</strong>t, denn sie sehen ni<strong>ch</strong>t ein, was an<br />
ihnen krank sein soll. Oft reisen sie von weither an, aus entlegenen<br />
Dörfern oder den Na<strong>ch</strong>barländern, me<strong>ist</strong> in Begleitung eines Verwandten,<br />
der während der gesamten Behandlung bei ihnen bleibt.<br />
«Chaque homme est le gardien de son frère», heisst es auf einer<br />
Tafel am Eingang. Das Krankenhausgelände erstreckt si<strong>ch</strong> in die<br />
Ferne wie eine Savanne. Ziegen mit braunweissen Batikmustern<br />
knabbern an verstaubten Sträu<strong>ch</strong>ern. Weite Flä<strong>ch</strong>en, auf denen<br />
hohes Gras wä<strong>ch</strong>st, Abfall liegt herum, am Wegesrand Männer, die<br />
im Sitzen pinkeln. Die spitzen Knie s<strong>ch</strong>räg auswärts gedreht, <strong>das</strong><br />
Hemd hängt hinten aus dem Hosenbund in den Staub. Auf diese<br />
Weise brau<strong>ch</strong>t man keinen begrenzenden Baum und keine Mauer,<br />
jeder kann zusehen, wie <strong>das</strong> abges<strong>ch</strong>lagene Wasser im trockenen<br />
Boden versickert. Na<strong>ch</strong> einigem S<strong>ch</strong>ütteln aus der Hüfte wird der<br />
Reissvers<strong>ch</strong>luss, no<strong>ch</strong> in der Hocke, wieder zugezogen. Die verstreuten<br />
Bus<strong>ch</strong>hütten sehen gemütli<strong>ch</strong> aus, die Steinhäuser dazwis<strong>ch</strong>en<br />
eher wie Vollzugsanstalten. S<strong>ch</strong>male Fenster über Augenhöhe,<br />
s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e Neonröhren, gelbli<strong>ch</strong>e Ka<strong>ch</strong>eln, Gitter, Linoleumböden.<br />
– Ein ohrenbetäubendes Brüllen, ein unmens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>es Fiepen,<br />
ein verzweifeltes Rö<strong>ch</strong>eln erhebt si<strong>ch</strong> draussen auf dem Flur,<br />
für zwei, drei Minuten, dann wieder Stille. Docteur Seck verzieht<br />
keine Miene. Der kleine Metallriegel <strong>ist</strong> von innen vor seine Bürotür<br />
ges<strong>ch</strong>oben, dur<strong>ch</strong> die blumenbedruckten Vorhänge fällt mehr<br />
Hitze als Li<strong>ch</strong>t. Amadou s<strong>ch</strong>aut si<strong>ch</strong> zaghaft na<strong>ch</strong> dem rätselhaften<br />
Lärm um, wagt aber ni<strong>ch</strong>t, die Ausführungen des Arztes zu unterbre<strong>ch</strong>en.<br />
Wenn jemand den Weg hierher findet, hat die traditionelle<br />
Heilkunst versagt. Viellei<strong>ch</strong>t war der guérisseur des Dorfes<br />
ni<strong>ch</strong>t gut genug. Viellei<strong>ch</strong>t passt die Krankheit au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in eines<br />
der vier Grundmuster, aus denen die Volksheilkunde ihre Methoden<br />
abgeleitet hat: Entweder <strong>ist</strong> der Kranke von Ds<strong>ch</strong>inns besessen.<br />
Das kann passieren, wenn man <strong>das</strong> Haus beispielsweise um<br />
die Mittagszeit verlässt, zu der die Ds<strong>ch</strong>inns überall lauern. Wilde<br />
Ge<strong>ist</strong>er sind <strong>das</strong>, im Gegensatz zu den (zweitens) Ge<strong>ist</strong>ern der Vorfahren,<br />
die im Haus arbeiten und na<strong>ch</strong>ts ers<strong>ch</strong>einen. Oder es handelt<br />
si<strong>ch</strong> um Maraboutage. Ein Feind könnte zu einem Marabout<br />
gegangen sein, ein Na<strong>ch</strong>bar, der dir Böses will. Il vous maraboute<br />
pour vous faire malade. S<strong>ch</strong>limmer <strong>ist</strong> die vierte Variante, der Kannibalismus.<br />
«Man<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>en haben die Ma<strong>ch</strong>t, di<strong>ch</strong> sterben zu<br />
lassen, und wenn du wiederauferstanden b<strong>ist</strong>, fressen sie di<strong>ch</strong>.<br />
Man<strong>ch</strong>mal können sie di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vers<strong>ch</strong>lingen, also ma<strong>ch</strong>en sie<br />
di<strong>ch</strong> krank.» Amadou glaubt, <strong>das</strong>s die neue Frau seine Mutter verzaubert<br />
hat. Seine Beine hat er unter dem Holzstuhl vers<strong>ch</strong>ränkt, er<br />
laus<strong>ch</strong>t, den Blick starr ins Halbdunkel geri<strong>ch</strong>tet.<br />
Docteur Seck hat Medikamente gegeben. Jeden Mittwo<strong>ch</strong> soll<br />
Cica jetzt am «Pinth» teilnehmen: Auf dem Balkon treffen si<strong>ch</strong> die<br />
eingewiesenen Frauen, um mit den Ärzten und Pflegern über ihre<br />
Krankheit zu reden. Die Doktoren geben si<strong>ch</strong> hier den S<strong>ch</strong>erzen<br />
ihrer Patientinnen preis, es wird viel gela<strong>ch</strong>t. Angebli<strong>ch</strong> hat der<br />
Pfleger der Alten bei der Einweisung zugezwinkert, angebli<strong>ch</strong> hat<br />
Docteur Seck Tabletten verwe<strong>ch</strong>selt. Trotzdem, in der Anstalt <strong>ist</strong> es<br />
besser als draussen, denn dies <strong>ist</strong> ein Land des S<strong>ch</strong>eins, Hauptsa<strong>ch</strong>e,<br />
die Äusserli<strong>ch</strong>keiten passen ins Bild. «Hier kann man<br />
wenigstens über si<strong>ch</strong> selbst bestimmen, ohne glei<strong>ch</strong> für verrückt erklärt<br />
zu werden.»<br />
Sagen wir es mal so, meint der Vater, <strong>das</strong> Volk geht zuerst zu<br />
den Heilern und dann zum Arzt, die Funktionäre gehen in die<br />
Klinik, und wenn die Besserung na<strong>ch</strong> zwei Tagen ni<strong>ch</strong>t eintritt,<br />
wenden sie si<strong>ch</strong> an den guérisseur. Die Ärzte erklären zuviel. Das<br />
ma<strong>ch</strong>t die Leute misstrauis<strong>ch</strong>. «Toute science véritable doit être un<br />
secret.»<br />
Feststellung. Die Mutter wurde zum Ende des Ramadan entlassen.<br />
Amadou <strong>ist</strong> froh, ni<strong>ch</strong>t mehr vor Sonnenaufgang aufstehen zu<br />
müssen, und die Kleinsten sind ges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>t vom Hunger und von<br />
der S<strong>ch</strong>laflosigkeit. Die kleine Wellble<strong>ch</strong>siedlung hat si<strong>ch</strong> verändert.<br />
Direkt neben den rostbraunen und grauen, buckligen Hütten<br />
<strong>ist</strong> ein weisses Steinhaus herangewa<strong>ch</strong>sen. Kurz vor dem Einzug<br />
haben die Besitzer Bäume pflanzen lassen, die ein Gärtner auf<br />
Linie s<strong>ch</strong>neiden muss. Oben fla<strong>ch</strong>, die Seiten ein elegantes Oval.<br />
Hier wohnen <strong>nur</strong> vier Mens<strong>ch</strong>en? Auf der Strasse spielen die Kinder<br />
der Armen Fussball mit alten Felgen und wundern si<strong>ch</strong>. Die<br />
Väter ma<strong>ch</strong>en ihrem Zorn zu Hause Luft.<br />
Amadou kann ni<strong>ch</strong>t mehr telefonieren, die Karte <strong>ist</strong> abgelaufen,<br />
er muss ein neues Handy «organisieren». Er besteigt den Car<br />
Rapide, den Bus, auf dem in bunter S<strong>ch</strong>rift «Alhamdoulillah»<br />
ges<strong>ch</strong>rieben steht. Auf halbem Weg hält der Fahrer plötzli<strong>ch</strong> <strong>das</strong><br />
lose Lenkrad in der Hand, und während er versu<strong>ch</strong>t, es wieder auf<br />
den Vierkantstahl des Lenkgestänges zu klemmen, s<strong>ch</strong>leift der<br />
überfüllte Wagen s<strong>ch</strong>räg über die sandige P<strong>ist</strong>e. «Mat'la, graw,<br />
c'est pas grave.» Reifenquiets<strong>ch</strong>en, La<strong>ch</strong>en, <strong>nur</strong> die Kinder<br />
s<strong>ch</strong>reien. Die me<strong>ist</strong>en Männer steigen vor der Mos<strong>ch</strong>ee aus. Lamin<br />
<strong>ist</strong> da, au<strong>ch</strong> einige Na<strong>ch</strong>barn. Der aus dem weissen Haus kommt<br />
im eigenen Wagen. Vor Gott sind alle glei<strong>ch</strong>. Im kühlen S<strong>ch</strong>atten<br />
sieht man womögli<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>öneren Gewänder, aber <strong>das</strong> Megaphon<br />
trifft die hinteren Reihen ebenso hart wie die Knienden unter<br />
dem Turm. Die Propheten haben ni<strong>ch</strong>ts aufges<strong>ch</strong>rieben. Ihre Lehre<br />
ging von Mund zu Mund, von Deutung zu Deutung, und senkt<br />
si<strong>ch</strong> nun in s<strong>ch</strong>narrenden, zerstückelten Versen über den re<strong>ch</strong>teckigen<br />
Vorhof. Amadou zieht die S<strong>ch</strong>uhe aus, legt seine Matte hin,<br />
S<strong>ch</strong>weigen senkt si<strong>ch</strong> über die Menge. Eine kurze, anheimelnde<br />
Trance. Der kleine Junge neben ihm spielt hinter dem Rücken mit<br />
einem Würfel. Keine Weissen in Si<strong>ch</strong>t. Unter den <strong>Wort</strong>en, die der<br />
heilige Sänger auswendig deklamiert, <strong>nur</strong> s<strong>ch</strong>warze Hände und<br />
s<strong>ch</strong>warze gesenkte Augenlider. Alles, was s<strong>ch</strong>warz <strong>ist</strong>, wird in den<br />
Wörterbü<strong>ch</strong>ern assoziiert mit finster, s<strong>ch</strong>mutzig, traurig oder<br />
düster. S<strong>ch</strong>warzmarkt, s<strong>ch</strong>warze Katze, s<strong>ch</strong>warzer Freitag, S<strong>ch</strong>warze<br />
Magie. Zum Na<strong>ch</strong>denken hat Amadou viel Zeit. Im Lauf der<br />
Jahre <strong>ist</strong> er zu dem S<strong>ch</strong>luss gekommen, <strong>das</strong>s, wenn S<strong>ch</strong>warz <strong>das</strong><br />
Li<strong>ch</strong>t absorbiert, <strong>das</strong> S<strong>ch</strong>warze selbst <strong>das</strong> Li<strong>ch</strong>t sein muss.<br />
Das Gebet endet na<strong>ch</strong> einer Viertelstunde. In den kleinen<br />
Grüpp<strong>ch</strong>en, die Teppi<strong>ch</strong>e rollend und Kleider abstaubend na<strong>ch</strong><br />
draussen drängen, gibt es <strong>nur</strong> ein Gesprä<strong>ch</strong>sthema. Seit der Gründung<br />
der «Commission d'observation du croissant lunaire» trat<br />
zum erstenmal der Fall auf, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Ende des Ramadans an drei<br />
© 2000 Neue Zür<strong>ch</strong>er Zeitung AG Blatt 1
Neue Z}r<strong>ch</strong>er Zeitung ZEITBILDER Samstag, 25.03.2000 Nr.72 119<br />
vers<strong>ch</strong>iedenen Tagen gefeiert wurde. Mohammed sagt, <strong>das</strong> Fasten<br />
endet, wenn drei Glaubensbrüder zuglei<strong>ch</strong> den Mond ers<strong>ch</strong>einen<br />
sehen. Aber dieses Jahr ma<strong>ch</strong>t jeder, was er will. Die ersten haben<br />
den weissen S<strong>ch</strong>ein eben Samstag erblickt, die letzten erst am<br />
Montag. So erklärte die Regierung den Montag, als Cica aus dem<br />
Krankenhaus kam, zum Feiertag. «Ein unermessli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>aden für<br />
unser Bruttosozialprodukt», geifert Lamin mit aufgerissenen<br />
Augen und F<strong>ist</strong>elstimme. So, <strong>das</strong>s <strong>nur</strong> Amadou ihn hören kann,<br />
natürli<strong>ch</strong>. Der s<strong>ch</strong>nappt ihm die Zigarette aus der Hand und rennt<br />
mit langen S<strong>ch</strong>ritten zum Car Rapide. Bettler umlagern den<br />
Wagen, s<strong>ch</strong>liessli<strong>ch</strong> muss heute jeder sein Pfli<strong>ch</strong>topfer an die<br />
Armen loswerden, <strong>das</strong> der Koran vors<strong>ch</strong>reibt.<br />
Dialog. Alleinsein. Das Hotel liegt im rosafarbenen Abend und<br />
hält den Atem an, selbst die Strassen s<strong>ch</strong>einen stiller vor diesem<br />
kurzen, unverglei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en und immerglei<strong>ch</strong>en Sturz der Sonne in<br />
die Na<strong>ch</strong>t. Auf dem Gepäckträger des alten Fahrrads balanciert<br />
Amadou eine S<strong>ch</strong>ale Reis und Fis<strong>ch</strong>. Ein Tu<strong>ch</strong> liegt zum S<strong>ch</strong>utz<br />
darüber, aber es duftet unverkennbar na<strong>ch</strong> der Erdnusssauce, die<br />
seine Mutter ko<strong>ch</strong>t. Die Regeln gebieten, <strong>das</strong>s alle aus derselben<br />
S<strong>ch</strong>üssel essen, aber jeder <strong>nur</strong> auf seiner Seite. Und <strong>das</strong>s man den<br />
Blick ni<strong>ch</strong>t hebt beim Essen. Lamin und Amadou löffeln s<strong>ch</strong>weigend,<br />
die Augen in die Emails<strong>ch</strong>ale geri<strong>ch</strong>tet, deren blaues Blumenmuster<br />
si<strong>ch</strong>tbar wird.<br />
Die Zeit vergeht s<strong>ch</strong>nell. Nirgends wird so viel na<strong>ch</strong>geda<strong>ch</strong>t wie<br />
im «Volk» unter der herabgesenkten Hand. Nirgends wird so viel<br />
ges<strong>ch</strong>wiegen und stillgesessen. Was Lärm ma<strong>ch</strong>t, sind Trommeln<br />
und Sänger und <strong>Wort</strong>e aus privilegierten Kehlen. Alle anderen<br />
sind friedli<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>en, die allenfalls die Zeit tots<strong>ch</strong>lagen. Amadou<br />
erzählt Lamin, <strong>das</strong>s er si<strong>ch</strong> ein Lied ausgeda<strong>ch</strong>t hat.<br />
Amadou: «Gestern habe i<strong>ch</strong> mir ein Lied ausgeda<strong>ch</strong>t.» Lamin:<br />
«Wozu?» Amadou: «Tradition bedeutet ni<strong>ch</strong>t mehr als Überlieferung.»<br />
Lamin: «Das Showbiz kannst du dir abs<strong>ch</strong>minken. Da<br />
haben <strong>nur</strong> Frauen eine Chance.» Amadou: «Eigentli<strong>ch</strong> ein neutraler<br />
Begriff.» Lamin: «Das siehst du ja an den Spice Girls. Sehen<br />
aus wie Miss Universe, mais <strong>ch</strong>antent comme des casseroles.»<br />
© 2000 Neue Zür<strong>ch</strong>er Zeitung AG Blatt 2