Lara Schwander & Melanie Fischer Fadera - Boycotlettes
Lara Schwander & Melanie Fischer Fadera - Boycotlettes
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Auszug aus Katalog zur Ausstellung „Maja Rieder & <strong>Boycotlettes</strong>“<br />
Sabine Schaschl<br />
Direktorin und Kuratorin Kunstkaus Baselland<br />
(A) (B)<br />
Von Früchten und Viechern, Mode und Grenzüberschreitungen – boys4ever!<br />
Meine erste Begegnung mit <strong>Boycotlettes</strong> geht auf das Jahr 2002 zurück, als die zwei Künstlerinnen <strong>Melanie</strong> <strong>Fischer</strong><br />
<strong>Fadera</strong> und <strong>Lara</strong> <strong>Schwander</strong> die grossen Fensterscheiben des Kunsthaus Baselland mit Klebebildern von Menschen<br />
in lässig urbaner Freizeitkleidung überzogen, ergänzt von diversen ornamentalen Elementen und Versatzstücken.<br />
Eine der Szenerien zeigte eine Frau, die sich neben einer Kleiderstange ein Oberteil überzieht – ein Oberteil entworfen<br />
von <strong>Boycotlettes</strong> (Abb. A: „autocollante 02“, 2002, Kunsthaus Baselland). Dieses Bild kann als programmatisch<br />
und selbstreferentiell für das kunstbestimmende Handeln des Künstlerinnenduos gelesen werden. <strong>Boycotlettes</strong>, die<br />
seit dem Jahre 1999 als Mode-Designerinnen und Künstlerinnen zusammenarbeiten, überschreiten aus Überzeugung<br />
kunstdisziplinäre Grenzen und lassen immer wieder auch die visuelle Allmacht westeuropäischer Prägung<br />
hinter sich.<br />
Ihre Bildassemblagen an Wänden oder Fensterscheiben können den auf Fotografien basierenden Bildern von<br />
realen Personen oder Motiven aus ihrem mittlerweile stark angewachsenen Bildarchiv entspringen. Viele der meist<br />
auf Klebefolien übersetzten Porträts sind wiedererkennbar: Künstlerkollegen, Freunde und Modeliebhaber werden<br />
sowohl zu Models der Designerkleidung, aber auch zu Modellen einer eigenständig zusammengesetzten Phantasiewelt.<br />
Die Realität stand dafür wortwörtlich Pate und Versatzstücke des Realen, beispielsweise Motive aus ihrer<br />
unmittelbaren jeweiligen Lebensumgebung, werden in die Bildwelten integriert. Ergänzt mit graphischen, ornamentalen,<br />
floralen, architektonischen und schriftlichen Elementen, bauen <strong>Boycotlettes</strong> Szenerien zusammen, die meist<br />
verzweigt angeordnet, nach allen Richtungen les- und interpretierbar sind. „Von Früchten und Viechern“ (2010), so<br />
der Titel einer Wandarbeit im Kunsthaus Grenchen, funktioniert wie eine Art Bauklötzchen-System, bei welchem<br />
von der Raumecke ausgehend, nach beiden Seiten hin, hauptsächlich in absteigender Richtung, einzelne Bildebenen<br />
kreiert werden. An das Motiv eines Walkmans mit daraus aufsteigenden Zacken reihen sich Siebdrucke eines<br />
pelzartigen Materials, in welche Bogen eingeschrieben sind, gefolgt von Klebebildern von Pferden, die auf den<br />
Betrachter zuzulaufen scheinen und Spinnen, die über die Pferde nach oben verlaufen. Eine Ebene darunter stösst<br />
eine Faust, umspannt von einer Uhr mit Metallarmband, frontal in Richtung Betrachter. Dieses, einem Buch über<br />
französische Vignetten entnommene Motiv, kommt immer wieder vor, ebenso wie Schlüssel und florale Elemente,<br />
die linearen Gestaltungsprinzipien folgen; comicartigen Sternformen, die über einzelne Wandzonen gestreut werden<br />
oder einzelnen Bilder, beispielsweise eine Frau auf einem dreirädrigen Motorrad. Vor Beginn der Arbeit scheinen <strong>Boycotlettes</strong><br />
ein visuelles Alphabet bereitzulegen, welches je nach formalen Überlegungen, Intuition und gestalterischen<br />
Prinzipien repetitiv zum Einsatz kommt. Eine Eruption von Eislutschern formiert sich zu einer Art Regenbogen, der<br />
die Assemblage auf der einen Wandseite nach oben abschliesst, im Gleichgewicht gehalten von gezackten Blumenblüten<br />
auf der gegenüberliegenden Wand. Mäuse und Ratten ergänzen das tierische Motivrepertoire ebenso wie<br />
eine hochsitzende Eule, eine Kuh, das Gesicht eines Affen und Bilder von gotischen Fabelwesen, deren ursprüngliche<br />
Aufgabe darin bestand, mit ihrem abschreckenden Antlitz die Nichtgläubigen am Betreten eines Gotteshauses<br />
zu hindern. Auf einer Seite wird das Wandbild von einem orangefarbigen Früchtearrangement abgeschlossen; die<br />
andere zeigt eine Reihe lässig und cool gekleideter Menschen und ein gedrucktes Konterfei von Sylvester Stallone.<br />
Die Arbeitsweise und der Stil von <strong>Boycotlettes</strong>, wenn man diesen Ausdruck benutzen will, sind durch die Geste des<br />
Zusammenfügens gekennzeichnet, bei welcher jedes Mal eine werkspezifische „Phrasierung“ entsteht. Die Motive<br />
entstammen den unterschiedlichsten inhaltlichen Bereichen, die sich trotz ihrer oft surreal anmutenden Zusammenstellung<br />
existentiell behaupten. „Von Früchten und Viechern“ (2010) ist eine dynamische, stark auf den Rezipienten<br />
bezogene Wandarbeit. Nicht nur die treppenförmige Anordnung, die dem Betrachter quasi entgegenkommt spricht<br />
dafür, sondern auch einzelne Motive, die in den Raum hineinzuragen scheinen. Einmal in den Bann der Arbeit<br />
gezogen, vollzieht man als Rezipient bald selbst eigene geistige Bildergänzungen. Konsequenterweise haben <strong>Boycotlettes</strong><br />
diesen Entwicklungsschritt in ihrem Werk in Form einer interaktiven Arbeit aufgegriffen. Die Arbeit „Ohne<br />
Titel“ (2010) auf den Fenstern im Eingangsbereich des Kunsthaus Grenchen bietet dem Betrachter die Möglichkeit,<br />
selbst aktiv zu werden. Das Ausgangsbild von zwei Fröschen und ihrem Laich kann von den Ausstellungsbesuchern<br />
komplementiert werden. Aus Klebefolien ausgeschnittene Frösche und Kaulquappen liegen zum Mitmachen auf, und<br />
es bleibt dem Rezipienten überlassen, ob er diese lieber mit nach Hause nimmt, damit das Werk von <strong>Boycotlettes</strong><br />
vor Ort erweitert oder das Folienbild vielleicht irgendwo im öffentlichen Raum platziert.<br />
Auf den wichtigen Bezug zum öffentlichen Raum im Werk von <strong>Boycotlettes</strong> ist immer wieder hingewiesen worden.<br />
Bedenkt man, dass ihre Motive teilweise diesem entspringen und sie Momente des Strassenalltags in den Kunstkontext<br />
integrieren, kann man von einer Verschränkung von Kunst- und öffentlichem Raum sprechen. Die Künstlerinnen<br />
tragen jedoch nicht nur ein Stück ‚Street Culture’ in den Kunstkontext, sondern agieren auch im urbanen<br />
Raum selbst. Ihre Bildzusammenfügungen sind beispielsweise auf Hausmauern, Türen, Bushaltestellen, Plakatwänden<br />
oder in Bars, Toiletten und Treppenhäusern anzutreffen (Abb. B: „sisters from different mothers“, 2004, Galerie<br />
piano nobile, Genf). Streift man durch ihre Wohngegend in Basel oder durch lokale Kunstinstitutionen können auch<br />
noch Jahre nach deren ursprünglichen Anbringung <strong>Boycotlettes</strong>’sche Figuren, Muster und Bildmotive entdeckt<br />
werden. Vergleichbar mit Graffiti- und Tag-Arbeiten haben sie sich einen Platz jenseits der strikten Legalität erobert<br />
und fordern gleichsam das Recht auf ihre Existenz im öffentlichen Raum ein. Ihre Arbeiten verfügen über eine so<br />
genannte ‚Street-Credibility’. Sie sind mit der und durch die Strasse und dem Alltagsleben entstanden, glaubwürdig<br />
geworden als Teil des künstlerischen Ausdrucks von <strong>Boycotlettes</strong>. Auch die Arbeit „based on a true story“ (2010), die<br />
eine Reihe Strommasten aus Klebefolien, verbunden mit dünnen Kettchen zeigt, bringt die Strasse wortwörtlich in<br />
den Ausstellungsraum. Der Anfahrtsweg nach Grenchen, vorbei durch das im Nebel liegende Solothurn, wo nur die<br />
Strommasten sichtbar waren, findet einen unmittelbaren Wiederhall. Dass durch die leichte Krümmung der Ausstellungswand<br />
die verbindenden Kettchen stellenweise tatsächlich in den Raum ragen, gibt der Arbeit eine zusätzliche<br />
raumbezogene Note. Die Realität des Materials spricht den Rezipienten unmittelbar an und bezieht ihn in das Bild<br />
und dessen Atmosphäre ein.<br />
Die zuvor erwähnte ‚Street-Credibility’ findet sich auch in der Mode von <strong>Boycotlettes</strong>. Geprägt von einer unkomplizierten,<br />
aktiven und selbstbewussten Haltung können ihre Hoodies, Shirts, Röcke und Kleider mit einer aktuellen<br />
Jugendkultur in Verbindung gebracht werden, mitsamt ihren Anleihen an die Hip-Hop-Musik, die Graffiti- und<br />
Tag-Kultur. Wie sehr sich im Werk von <strong>Boycotlettes</strong> Fremdes mit Eigenem, Gefundenes mit Gestaltetem, Aussen mit<br />
Innen und Reales mit Fiktivem mischt, bezeugen nicht zuletzt die für ihre Mode verwendeten Stoffe. Ihr Hauptaugenmerk<br />
gilt den „gefundenen“ Stoffdesigns aus Westafrika, ein Land, das die <strong>Boycotlettes</strong> immer wieder bereisen.<br />
Die bunten, wild gemusterten, so genannten Wax-Stoffe gelten im westlichen Kulturkreis als Inbegriff des Afrikanischen.<br />
Ursprünglich kommen sie jedoch aus den Niederlanden. Im 19. Jahrhundert versuchten niederländische<br />
Tuchhändler, Stoffe in der Art indonesischer Batik-Herstellung in der damaligen niederländischen Kolonie Indonesien<br />
zu vertreiben. Nachdem im Kolonialland kein Interesse dafür aufkam, verbreiteten sich die Stoffe über westafrikanische<br />
Soldaten, die nach Indonesien beordert wurden, um die Aufstände in der Kolonie niederzuschlagen. Jene<br />
brachten die Stoffe von Indonesien auf den afrikanischen Kontinent, wo sie schnell zum Demonstrationsmittel eines<br />
neuen afrikanischen Selbstbewusstseins mutierten. Noch heute werden die Stoffe hauptsächlich in den Nieder-