Mai 2011 - Der Neusser
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Fatih Akins „Gegen die Wand“ auf der RLT-Bühne<br />
Anarchie der Liebe und die Lust auf Leben<br />
Foto: Anke Sundermeier / Stage Picture<br />
Sie ist 20, lebt<br />
unter der<br />
s t r e n g e n<br />
Obacht ihrer türkischen<br />
Familie und<br />
den rigiden Maßregelungen<br />
ihres<br />
Bruders. Einmal<br />
Händchenhalten<br />
im Park und die<br />
Folge: Nasenbeinbruch.<br />
Das ist nicht<br />
das Leben, das Sibel will. Sie will tanzen, wildern und Sex haben; sie<br />
will leben, exzessiv und maßlos, will jung sein und sich ausprobieren.<br />
Doch ihre Herkunft lässt ihr keine Chance. Aus Verzweiflung schlitzt<br />
sie sich die Pulsadern auf und landet in der Psychiatrie. Dort, wo Cahit<br />
auch „geheilt“ werden soll. Er ist 42 Jahre alt, jagte sein Auto ungebremst<br />
„gegen die Wand“, um seinem kaputten Leben ein Ende zu<br />
bereiten. Doch nun in der Stunde null begegnen sie sich: Sibel, explosiv<br />
aufgeladen mit der Gier nach Freiheit, Zwang- und Zügellosigkeit.<br />
Daneben Cahit, der längst mit Leben und Fühlen abgeschlossen hat,<br />
der verwahrlost und lethargisch dahinvegetiert und dem sein Leben<br />
unkontrolliert aus dem Körper rinnt. Ein Typ ohne Meinung, Aktivität<br />
und Gegenwehr, und dazu ein Türke; genau der Richtige für Sibels<br />
Ausweg. So schlägt sie dem Landsmann eine Scheinehe vor, um ihrem<br />
Dasein eine Perspektive zu geben und sich vor ihrer Sippe zu schützen.<br />
Sie bietet ihm an, die Wohnung und Essen zu bereiten, um sich damit<br />
die Freikarte für ihren Lebensdurst zu erwerben. Erst widerwillig,<br />
dann gleichgültig gibt er ihr nach, wird in seinem versoffenen Phlegma<br />
durch ihre lebhafte und unverblümte Zielstrebigkeit überrumpelt.<br />
Aus dem Müllhaufen und Flaschenberg seiner runtergewirtschafteten<br />
Bude zaubert sie mit ihrem Ersparten ein Heim, wäscht und rasiert<br />
ihn, um dann allein in die Hamburger Nachtszene einzutauchen und<br />
sich in fremden Betten zu amüsieren. Ein Deal, der sich trägt. Anfangs.<br />
Doch langsam schleichend läuft es aus dem Plan: Sibels Unruhe und<br />
quirliges Temperament erweckt Cahit zu neuem Leben. Ihre Power ist<br />
wie ein Sog, nimmt ihn immer mehr für sie ein. In einer krachenden<br />
Welt aus Gewalt, Sucht und Exzessen keimt zaghaft ein Pflänzchen<br />
namens Liebe auf. Ihre Teilhaber, zwei krasse Lebensextremisten, die<br />
sich an ihren verwundeten, leisen Stellen berühren; die sich in zärtlicher<br />
Annäherung in sich verlieren.<br />
Eine wunderbar archaische, brüchige wie feinfühlige Geschichte,<br />
angesiedelt in der Folgegeneration der Gastarbeiterfamilien. Autor<br />
und Filmregisseur Fatih Akin ist selbst Kind türkischer Einwanderer,<br />
<strong>Der</strong> <strong>Neusser</strong> 05.<strong>2011</strong><br />
<strong>Neusser</strong> Kultur<br />
„Gegen die Wand“, der Film ist Kult, hat verdient mehrere deutsche<br />
und europäische Preise eingespielt. Die Geschichte, sie ist<br />
ungewöhnlich, ist laut, lebenshungrig und selbstzerstörerisch;<br />
ein deutsch-türkischer Cocktail aus Sozialstudie und Szeneleben.<br />
Ein Aufruhr gegen zwangsverordnete Tradition, ein Schrei<br />
nach Leben und die Suche nach eigener Identität. Und es ist die<br />
Geschichte einer langsam aufkeimenden, brachialen Liebe. Im<br />
Rheinischen Landestheater gibt es nun eine Bühnenfassung<br />
zum Plot zu bestaunen.<br />
Marion Stuckstätte<br />
wurde 1973 in Hamburg geboren und studierte dort an der Hochschule<br />
für Bildende Künste. Türkische Wurzeln, Punk und Party à la<br />
Schanzenviertel, das ist sein eigener Background; Hamburg – Istanbul,<br />
eine gelebte Verquickung. Aber letztendlich sind es die Menschen,<br />
die ihn faszinieren, Charaktere wie sein Cahit-Filmdarsteller<br />
Birol Ünel, über den er sagt, er zähle zu der Art von „Typen, die so genial<br />
sind, so talentiert, dass ihnen alles andere scheißegal ist.“ Und<br />
genau diese machen seine Filme so besonders. Genau solche finden<br />
sich jetzt auch im RLT. <strong>Der</strong> Neuzugang am Theater, Michael Putschli,<br />
ist eine Idealbesetzung. „Willst du quatschen oder heiraten?“,<br />
seine Kommentare sind akzentuiert und sitzen, sein Cahit brilliert<br />
äußerlich rau und innen verletzlich. <strong>Der</strong> Gestus aufs Wesentliche<br />
reduziert; das mit enormer Spannung und Authentizität. Emilia<br />
Haag füllt Sibel als rotzig provokantes Szenegirl, das eine tiefe Lebenssehnsucht<br />
mit sich trägt. Die Story wütet und lärmt, witzelt<br />
und berührt. Breaks in Person und Handlung sitzen treffsicher. Die<br />
RLT-Fassung von Esther Hattenbach ist keine Kopie des Films, sucht<br />
ihre eigenen Mittel, dem Inhalt und den Figuren nachzuspüren.<br />
Gezielte Szenen werden ausgekleidet, andere vernachlässigt oder<br />
fallen weg. Dazwischen gibt es Sprache, die Geschichte erklärt, und<br />
dazu einen blechernen Bühnentunnel, der der Abstraktion weiterhin<br />
Raum gewährt. Hier geht es nicht so kritisch zu, nicht so sehr um<br />
den kulturellen Konflikt. Hattenbachs Regiearbeit konzentriert sich<br />
auf die unwegsame,kraftstrotzende<br />
Liebe und<br />
deren Beweg- und<br />
Zerstörungskraft.<br />
So lässt sich die<br />
Story noch mehr<br />
als bei Akin auf<br />
unterschiedliche<br />
Kulturen und Personenrunterbrechen.<br />
Es ist eine<br />
bewegende Geschichte<br />
zweier<br />
Menschen. Eine<br />
Art modernes, rockiges<br />
Romeo und<br />
Julia. Eine interessanteBühnenadaption.<br />
Ein toller<br />
Theaterabend!<br />
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