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Das Geheimnis der - AT Verlag

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Alexan<strong>der</strong> Lauterwasser<strong>Das</strong> <strong>Geheimnis</strong> <strong>der</strong>SchildkröteEine Entdeckungsreise durch Morphologie,Zoologie und Mythologie eines wun<strong>der</strong>samen Tieres


Inhalt7103464104144184212238306332358372396414423424VorwortBegegnungEine wahre Begebenheit als AusgangspunktAnnäherungDie Tragödie des Bewusstseins o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Konflikt zwischen Denkenund LebenAnschauungDie Schildkröte als Urinsel im WeltenmeerBetrachtungDie Struktur des Schildkrötenpanzers als Signatur <strong>der</strong> festen MaterieInneres NachschaffenDie Formensprache des SchildkrötenmustersEinbildungDie dreizehn Schilde auf dem Rücken <strong>der</strong> Schildkröte und das Motiv<strong>der</strong> Zahl DreizehnDurchdringungStruktur und Bedeutung des Sechseck-Schildes in <strong>der</strong> Mitte des RückenpanzersVerinnerlichungDer Aufbau des KnochenpanzersVersenkung<strong>Das</strong> Innere <strong>der</strong> SchildkröteEinsichtDie Schildkröte als <strong>der</strong> Mittelpunkt <strong>der</strong> ErdeVerwandlungDie Schildkröte und das Motiv <strong>der</strong> WandlungDurchbruchDie Wandlung <strong>der</strong> Schildkröte zur Leier des ApollonEntfaltungOrpheus, die Stimme und das LotLiteraturverzeichnisDankBildnachweis


Vorwort7<strong>Das</strong> Motiv für dieses Buch liegt weit zurück und ist in einer tatsächlichen biografischen Be -gebenheit begründet. Im Alter von etwa zwölf Jahren war mir in einem bewaldeten Tal nördlichdes Bodensees eine wohl irgendwo entlaufene Griechische Landschildkröte begegnet. Ich nahmsie mit nach Hause, und das war <strong>der</strong> Beginn einer langen Freundschaft mit vielen verschiedenenSchildkrötenarten. Da ich eine glückliche Hand mit ihnen hatte, gelangen mir schon baldviele Nachzuchten, und so wurde <strong>der</strong> elterliche Garten zunehmend von zahlreichen Land- undWasserschildkröten bevölkert.Während meiner Studienzeit und in den ersten Jahren meiner beruflichen Tätigkeit warendie Schildkröten ein wenig in den Hintergrund getreten. Vor etwa 25 Jahren jedoch begann ich,verbunden mit einer beruflichen Umorientierung und Krise, zurückzuschauen und mich zufragen, ob ich vielleicht in meinem Leben etwas übersehen hätte. Genau zu dieser Zeit bekamich auch, wie mir zufallend, einen Gedichtband geschenkt mit dem Titel: »Welches Tier gehörtzu Dir?« (HAMM 1984). Als ich darin ein Gedicht über die Schildkröte entdeckte (siehe Seite20), wurde ich in meinem bisher eher unbewussten Gefühl bestärkt, dass ich mich diesem Tiernoch einmal auf eine ganz an<strong>der</strong>e Art und Weise nähern sollte, als ich es damals als Jugendlichergetan hatte.Dies war <strong>der</strong> Beginn jahrelanger Studien zu Fragen <strong>der</strong> Biologie, Zoologie und Morphologie,aber auch <strong>der</strong> Mythologie im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Schildkröte. Die Rätsel <strong>der</strong> in <strong>der</strong>Natur wirksamen gestaltbildenden Prozesse, die zum Beispiel das eigentümliche Muster aufdem Rücken <strong>der</strong> Schildkröten hatten entstehen lassen, traten mir immer eindringlicher vorAugen, während mich gleichzeitig die in den biologischen Lehrbüchern dargebotenen Antwortennicht zufriedenstellten.Als ich dann eines Tages eine Ausgabe <strong>der</strong> Zeitschrift »Du« in die Hand bekam, in <strong>der</strong> icheinen Artikel von Hans Jenny über seine Arbeiten zur Kymatik fand – so nannte er die durchSchwingungen hervorgerufenen Gestaltungsprozesse – und die Fotos von sogenannten ChladnischenKlangfiguren sah, da war alles in mir sofort wie »elektrisiert«. Ich fühlte, dass dieserAnsatz ein wichtiger Schlüssel für ein tieferes Verständnis morphogenetischer Fragen darstellenkönnte.Es verging nicht viel Zeit, bis ich mir mit <strong>der</strong> fachmännischen Hilfe von Helmut Luaein Experimentierlabor eingerichtet hatte und mit eigenen Versuchen beginnen konnte. <strong>Das</strong>sdiese Arbeit dann solche Dimensionen annehmen und mich über fünfzehn Jahre in ihren Bannziehen würde, war in <strong>der</strong> Anfangszeit nicht vorherzusehen.Die ersten Jahre arbeitete ich nur mit den Chladnischen Klangfiguren, bei denen zuvor mitfeinem Sand bestreute Metallplatten in Vibration versetzt werden, sodass <strong>der</strong> Sand die je nachTonhöhen unterschiedlichen Schwingungsformen <strong>der</strong> Platten sichtbar werden lässt. Tatsächlichgelang es mir, dabei auch Klangfiguren zu entwickeln, <strong>der</strong>en Muster <strong>der</strong> Struktur des Schildkrötenpanzerserstaunlich nahe kamen (vgl. Seite 380f.). Später ging ich dazu über, Wasser alsschwingendes Medium zu verwenden, um Musterbildungen von Wellenbe wegungen zu be -obachten. Aus all diesen Arbeiten sind zwei Bücher hervorgegangen, in denen ich den bisher


33dir nicht sagen. Diese Antwort findest du nur in deinem Inneren. Und dann musst du sie aberauch vollziehen, sonst wirst du niemals wirklich eigenverantwortlich handeln können.«Daraufhin stemmte sie ihren schweren Panzer mit ihren vier Beinen etwas von <strong>der</strong> Erdehoch, streckte mir weit den Kopf entgegen und meinte: »So, ich glaube, für heute war das jetzterst einmal genug. Aber es war notwendig. ›Erkenne die Lage!‹, so heißt es irgendwo bei GottfriedBenn, ›rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinenParolen.‹ (BENN 2003)Außerdem musstest du erst einmal auf den dem Thema entsprechenden Ernst eingestimmtwerden. <strong>Das</strong> hat Sören Kierkegaard in <strong>der</strong> Einleitung zu seiner berühmten Abhandlungüber den ›Begriff Angst‹ sehr richtig klargestellt: Zuerst einmal müsse – und das gelte gerade füreine wissenschaftliche Schrift – die dem Begriff entsprechende Stimmung erzeugt werden,sowohl beim Schreibenden als auch beim Leser; denn ›dass ein Fehler in <strong>der</strong> Modulation ebensostörend ist wie ein Fehler in <strong>der</strong> Gedankenentwicklung, hat man in unserer Zeit völlig vergessen‹(KIERKEGAARD 1976: 452). Nur so wirst du meinen Gedankengängen – die zugegebenvielleicht etwas ungewohnt sind – angemessen folgen und <strong>der</strong>en ganze Tragweite überhauptgedanklich ermessen können. Und, was noch viel wichtiger ist: Nur so wirst du hoffentlich in<strong>der</strong> Lage sein, alles das stimmig zu verinnerlichen und dir anzueignen, dir zu eigen zu machen,es zu etwas Eigenem werden zu lassen und nicht einfach ein innerlich unbeteiligter Zuhörer o<strong>der</strong>Betrachter bleiben!«Daraufhin wandte sie sich langsam von mir ab und ging davon; nach einigen Schrittenhielt sie nochmals inne und sagte: »Siehst du dort hinten diesen schön gewölbten, baumlosenHügel? Unterhalb fließt ein kleiner Fluss, irgendwo dort treffen wir uns morgen wie<strong>der</strong>, zur richtigenStunde, wenn du willst – und beginnen mit <strong>der</strong> Betrachtung <strong>der</strong> Schildkröte. Du kommstdoch, o<strong>der</strong>?«Vorsichtig und doch sehr geschickt ging sie den leicht abfallenden Hang hinunter und verschwandschließlich zwischen Gräsern und Büschen im dichten Unterholz des Waldes, <strong>der</strong> allmählichim Dunkel <strong>der</strong> Dämmerung versank.»Misheekaehn o<strong>der</strong> Makinak – Die SchildkröteIndianische Schildkrötenzeichnung(aus JOHNSTON1994: 219).Die Schildkröte hat einen beson<strong>der</strong>en Platz im Bereich des Natürlichen und Übernatürlichen, weilsie <strong>der</strong> Menschheit diente, indem sie Nokomis auf ihrem Rücken ausruhen ließ und ihren Panzer fürdie Wie<strong>der</strong>erschaffung <strong>der</strong> Welt zur Verfügung stellte. Als Zeichen <strong>der</strong> Dankbarkeit verlieh Nokomis<strong>der</strong> Schildkröte einzigartige Fähigkeiten. So konnte die Schildkröte Zeitgrenzen von <strong>der</strong> Gegenwartin die Zukunft und die Vergangenheit und wie<strong>der</strong> zurück überschreiten; sie konnte sich von einemkörperlichen in ein körperloses Wesen verwandeln. Dadurch wurde die Schildkröte nicht nur zumSymbol, son<strong>der</strong>n zum tatsächlichen Medium <strong>der</strong> Kommunikation zwischen den Wesen dieserWelt und Zeit und Wesen an<strong>der</strong>er Welten und Zeitdimensionen. Sie ist immer noch Schutzherrin <strong>der</strong>Medizinmänner.«(JOHNSTON 1994: 219)


34AnnäherungDie Tragödie des Bewusstseins o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Konflikt zwischen Denken und Leben»Hätte ich in meiner Brustkleine Fenster aus Kristall,und du sähst hinein, dann sähst duwie da Blutestränen tropfen.«(Fe<strong>der</strong>ico GARCIA LORCA, Mariana Pineda)


35»Habe ich recht, Alexan<strong>der</strong>, du wusstest zunächst nicht, was ich gestern mit <strong>der</strong> ›richtigen Stunde‹gemeint habe?« Aus dem gleichen Halbdunkel, in das sie am Vorabend verschwunden war,vernahm ich auf einmal ihre Stimme, während ich selbst in <strong>der</strong> frühen Morgendämmerung mitMühe jene Stelle zu finden versuchte, an <strong>der</strong> ich mich einfinden sollte. In dem zwielichtigenIneinan<strong>der</strong> von Dunkelheit, Schatten und dichten Sträuchern vermochte ich sie jedoch nirgendszu sehen.»Wo bist du denn? Ich kann dich nicht sehen!«, entgegnete ich ihr in die Richtung, aus <strong>der</strong> ichihre Stimme vernommen hatte.»Im Augenblick genügt es vollkommen, wenn du mich hörst!«, und dann blieb es lange still.»Aber du hattest heute Nacht einen Traum, und dann bist du aufgewacht und hattest nur nochdiese Worte im Ohr: ›Da er schicklich ist und edel, und damit ihn niemand sieht, kommt er,wenn ...‹«»Ja, das stimmt«, antwortete ich ihr, »und dann habe ich dauernd überlegt, woher ich diese Zeilenkenne und was sie mir sagen wollen, aber ich bin einfach nicht darauf gekommen. Dochdann, halbwach daliegend, ist es mir eingefallen. Es sind die Worte von Fe<strong>der</strong>ico Garcia Lorcas›Mariana‹, wie sie voll Hoffnung und Zuversicht ihre Befreiung durch ihren Geliebten herbeisehnt:›Hoch zu Pferd sprengt her Don Pedro,wie im Wahnsinn, wenn er hört,dass ich eingekerkert worden,weil ich seine Fahne stickte.Und, wenn sie mich töten sollten,kommt er, um mit mir zu sterben –hat er eines Nachts geflüstertund er küsste meinen Kopf…Wie ein heiliger St. Georg,ganz Demant und schwarzes Wasser,kommt er, und die rote Capa,flatternd, blendet selbst die Luft.Da er schicklich ist und edel,und damit ihn niemand sieht,kommt er, wenn <strong>der</strong> Morgen dämmert,in des Morgengrauens Frische,wenn kaum in <strong>der</strong> dunklen Luft<strong>der</strong> Zitronenhain erschimmert ...‹(Fe<strong>der</strong>ico GARCIA LORCA 1972: 72)Griechische Landschildkröte.


36... und da habe ich gewusst, was du mit <strong>der</strong> ›richtigen Stunde‹ gemeint hattest.« Ich wartete darauf,dass sie etwas sagen würde, aber sie blieb still. Trotz <strong>der</strong> frühen Morgenstunde wehte einsanfter, geradezu lauer südlicher Wind, und außer dem Gesang <strong>der</strong> zahllosen Vögel war nichtszu hören.»Mit Nadeln ganz aus Silberund Rahmen aus Kristallbestickt sie seine Fahneund singt aus vollem Hals.«(ebd. 42)So erklang es mit einem Mal in <strong>der</strong> Nähe meiner Füße aus dem Dunkel heraus. »Mariana Pineda«,fuhr sie fort, »die im Kerker sitzt und auf ihre Hinrichtung wartet, weil sie an <strong>der</strong> Fahne <strong>der</strong>Freiheit gestickt hat ... Nur weil sie dem großen Werden <strong>der</strong> Freiheit in <strong>der</strong> Welt dienen will, wirdsie ihrer eigenen Bewegungsmöglichkeit und Lebendigkeit beraubt, wird sie unterdrückt, gefangenund sogar mit dem Tode bedroht! Für wen und für was nicht alles in dieser Welt ist das einSinnbild?! – O<strong>der</strong> ist es gar ein Sinnbild für das innerste Herz je<strong>der</strong> lebendigen <strong>Das</strong>einsform,dessen Sehnsucht und Impuls nach Verän<strong>der</strong>ung, Entwicklung und Befreiung immer auchunter den Bedingungen endlicher Existenz leidet? Hieß es nicht einmal sogar, dass die ›gesamteSchöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt‹ (PAULUS, Römer 8.22)?Sollten selbst die Tiere und Pflanzen und sogar die Steine unter ihrer jeweiligen Existenzform


37leiden? Von dem berühmten Maler Franz Marc, <strong>der</strong> die sehr eindrucksvollen Tierbil<strong>der</strong> geschaffenhat, gibt es eine Aufzeichnung, in <strong>der</strong> er ein, sicherlich auch für ihn selbst erschreckendes›Gesicht‹ zu schil<strong>der</strong>n versuchte: ›Ich ging zwischen den Dingen umher und die ich ansah, dieverwandelten sich und zeigten ihre Unseligkeit und flohen aus ihrem unwahren Sein. Ein Baum,den ich ansah, begann qualvoll zu seufzen und brach auseinan<strong>der</strong>; seine grünen Blätter flattertensingend durch den blauen Himmel davon; und wo <strong>der</strong> Baum gewesen war, stand mit Wortenin den Sand geschrieben: Wer mich erlöst hat von dem harten Baum-Sein, <strong>der</strong> suche meineSeele nicht im Kern des Apfels, auch nicht im Willen zur Gestalt, son<strong>der</strong>n allein in <strong>der</strong> Not desBaum-Seins, im Leid und Zwang zur Missgestalt. Der Künstler soll nicht das Lob unsres hässlichenSeins singen, son<strong>der</strong>n unseren Dryadenwillen zum An<strong>der</strong>s-Sein. <strong>Das</strong>s wir euch Saft undHolz und Form scheinen, ist unser Verhängnis. Wer uns kennte! <strong>Das</strong> ist das Lied vom Leid desBaumes!‹ (MARC 1978: 212).«Griechische Landschildkröte.Ich war von diesen Worten, die aus doppelter Dunkelheit – <strong>der</strong> <strong>der</strong> Dämmerung und <strong>der</strong> desInneren <strong>der</strong> Schildkröte – an mein Ohr drangen, so erschüttert und irritiert, dass ich lange Zeitfassungslos dastand und schwieg. Dann beugte ich mich hinunter und fragte halblaut in dasDunkel hinein: »Meinst du, … selbst die Bäume? Und ich dachte immer, die Pflanzen, ja dieNatur überhaupt wäre so ... ganz eins mit sich ...«, ich stockte, denn alle jene Worte, die einst sofraglos für mich gewesen waren, wie ›ganz‹, ›eins mit sich‹, ›vollkommen‹, sie wollten mir nichtmehr mit <strong>der</strong> bisherigen Selbstverständlichkeit über die Lippen kommen.


38Da erklang ganz nah neben mir und wie aus einer unergründlichen inneren Tiefe ihre unbeschreiblicheStimme: »Die ganze Welt leidet an sich selbst, an ihrem eigenen inneren Wi<strong>der</strong>spruchzwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte!<strong>Das</strong> ist das Urdrama, <strong>der</strong> Urkonflikt, in dem sich alles, aber beson<strong>der</strong>s das Lebendige zu allenZeiten befindet: nie wirklich ganz neu ansetzen und anfangen zu können, son<strong>der</strong>n immer bereitsBestehendes vorzufinden, an dem es anknüpfen und von dem es zugleich auch wie<strong>der</strong> loskommenmuss! Einerseits bedarf je<strong>der</strong> Neubeginn einer festen, stofflichen Form als sichere Grenzegegen den allzu frühen und meistens auch allzu heftigen Ansturm <strong>der</strong> Welt, denn nur in einersolchen schützenden Hülle kann Lebendiges in den Stoff eintauchen, sich mit diesem verbindenund hier in <strong>der</strong> Welt ankommen, keimen und reifen. – Und es braucht den ruhenden,Beständigkeit gewährenden Boden, demgegenüber es seine Eigenständigkeit entwickeln undfestigen kann, um sich dann schließlich von diesem loslösen und abspringen zu können.An<strong>der</strong>erseits ist dieses Immer-schon-Vorgefundene so voll von Vergangenem, dass esfür das zum Neuen, Offenen, Zukünftigen strebende Lebendige ebenso zu einer alles hemmenden,lähmenden und schließlich erdrückenden Last werden kann. Glaube mir, Alexan<strong>der</strong>, dieTrägheit des Alten, die Entwicklungsverweigerung alles ›Ewig-Gestrigen‹, die Wi<strong>der</strong>stände undVerharrungstendenzen fester und erstarrter Formen, jene ›Angst des Gewordenen vor dem Werden‹,von <strong>der</strong> Goethe gesprochen hat, sie sind eine gewaltige und immer zur Gewalt neigendeMacht, eine ernste Bedrohung für jeden jungen Lebensimpuls. Wie hatte doch einst einer überHöl<strong>der</strong>lin gesagt: ›Ihn erschlug die gealterte Zeit, da er sich in den Weg ihr warf und entgegenihr hielt zürnend ihr jugendlich Bild ...‹ (nach HÄRTLING 1983: 389f.).Alexan<strong>der</strong>, bedenke bitte, das alles sagt dir jetzt hier an dieser Stelle nicht etwa <strong>der</strong> ewigjunge›Kleine Prinz‹ und auch keine neunjährige ›Pippi Langstrumpf‹, son<strong>der</strong>n eine MillionenJahre alte Schildkröte, die in einem so festen und harten Panzer steckt!«Lange hielt sie inne, dann sagte sie langsam und bestimmt: »Aber du musst wissen, nur im›Wie‹ des Lebendigen ist etwas, was es vor dem Zugriff des Alten, vor dem Verfallen an dieErstarrung zu bewahren vermag: seine Freude an <strong>der</strong> Bewegung, seine Begeisterungsfähigkeitfür das Neue, seine Bereitschaft zur Verwandlung und seine Liebe zum Werden, zur Entfaltungimmer neuerer, vollendeterer, freierer <strong>Das</strong>einsgestalten mit immer höheren, gelingen<strong>der</strong>enResonanzmöglichkeiten. ›Wie ein großer goldner Falter, dessen Flügel rot erglühen.‹ Diese Wortestammen aus einem sehr tiefsinnigen Gedicht über den Stierkampf (GARCIA LORCA 1972:36). Nicht dass ich den Stierkampf befürworte, bei all den Schmerzen für diese schönen Tiere;er mag einmal früher seine Richtigkeit gehabt haben – aber jetzt ist diese Zeit vorbei, man solltees nicht mehr tun! <strong>Das</strong> Wichtige jedoch ist das innere Bild: die heftige Auseinan<strong>der</strong>setzungzwischen dem wuchtigen und eher massiv-schwerfälligen Alten – dafür könnte <strong>der</strong> schwarzeStier ein Sinnbild sein – und dem jungen, farbenfrohen, sich leicht und wendig wie ein Schmetterlingvon allem Schweren lösenden Neuen – dieses Moment könnte <strong>der</strong> Torero repräsentieren.Gilt doch überall <strong>der</strong> Falter als das Symbol von Verwandlung, Entwicklung o<strong>der</strong> gar Auferstehungschlechthin. Zumindest was den Stier anbelangt, so legt <strong>der</strong> stierköpfige Minotauros auf<strong>der</strong> Insel Kreta eine solche Deutung nahe: For<strong>der</strong>te er doch immer wie<strong>der</strong> ein große Anzahl jungerMenschen, um sie zu verschlingen. – <strong>Das</strong> aber heißt doch: Solange das Stierhafte einseitigherrscht, müssen Zukunftsimpulse auf <strong>der</strong> Strecke bleiben.«


39Nach einer längeren Pause erklang ihre Stimme erneut aus dem Dunkel heraus,aber sie erschien mir ein wenig traurig und wehmütig:»Hätte ich in meiner Brustkleine Fenster aus Kristall,und du sähst hinein, dann sähst duwie da Blutestränen tropfen.«(Fe<strong>der</strong>ico GARCIA LORCA 1972: 36)»Von wem sprichst du da?«, fragte ich in das Dunkel zurück.Da entgegnete sie: »<strong>Das</strong> sind ›Marianas‹ Worte. Aber da ich sie dir in diesem Augenblick sage,sind es auch meine. Und wie du sie jetzt gerade hörst, fühlst du sehr deutlich, dass sie dir wieaus dem Herzen gesprochen sind. Es sind auch die Worte deines eigenen Herzens.«»Wie meinst du das?«, erwi<strong>der</strong>te ich ihr mit einem ungläubigen Unterton und fast schon einwenig abwehrend. Aber ich bekam keine Antwort, sie blieb still – nur die Vögel in den Bäumenwaren zu hören. Ich starrte in die allmählich schwindende Dunkelheit des Waldes, während sich<strong>der</strong> Himmel über mir langsam aufhellte, und wartete auf eine Regung ihrerseits; aber nichts tatsich. Und da fielen mir plötzlich die Worte des blinden Sehers Theiresias ein, die er einst demeindringlich fragenden Ödipus entgegnet hatte: ›Durch mein Schweigen werde du wissend!‹Auf einmal raschelte es ein wenig, ganz nahe bei meinen Füßen, und da konnte ich im Schein<strong>der</strong> Dämmerung die Umrisse ihres rundlichen Panzers erkennen. Langsam bewegte sie sich undentfernte sich von mir. Während sie sich zwischen dem niedrigen Gesträuch und am Boden liegendenÄsten einen für sie gangbaren Weg suchte, rief sie mir zu: »Obwohl ich dein Gesichtwegen des schwachen Lichtes nicht so richtig sehen kann, spüre ich sehr genau, wie du dich –bei allem Interesse für die soeben besprochenen Aspekte – wie gestern auch, schon wie<strong>der</strong>fragst, was das denn alles mit mir, <strong>der</strong> Schildkröte, zu tun haben soll! – Habe ich recht?« Da sieaber einfach weiterlief, und ich sie im Dickicht fast aus den Augen verlor, versuchte ich, ihr zufolgen.Nach einer kleinen Weile hielt sie an und wartete, bis ich wie<strong>der</strong> bei ihr war: »Du musst einfachmehr Geduld haben!«, fuhr sie fort. »In unserem gestrigen Gespräch musste ich in dir ersteinmal anhand <strong>der</strong> Problematik von Innen und Außen, von Offensein und Verschlossenseingefühlsmäßig die zu unserem Thema gehörende existenzielle Stimmung erzeugen. Heute gehtes darum, dir anhand <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung zwischen Altem und Neuem, zwischen Erstarrtemund Lebendigem zu verdeutlichen, wo du selbst von diesem Konflikt betroffen bist, damitdir bewusst wird, ob vielleicht auch in dir eine Seite ist, die unter unbeweglich Erstarrtem leidetund sich nicht wirklich entfalten kann.«Erst nachdem sie ein Stück weiter gegangen war, begann sie fortzufahren: »Du sollst wissen,es gibt viele Gemeinsamkeiten zwischen einer Schildkröte und dem Menschen, aber einwesentlicher Unterschied besteht. Auch wenn es dir im Augenblick noch etwas rätselhafterscheint, später, nach eingehen<strong>der</strong> Betrachtung wirst du es besser verstehen: Ich bin ein Kopf,


40in dem ein Herz schlägt – nach Auffassung <strong>der</strong> alten Indianer besitze ich sogar das stärkste undausdauerndste Herz aller Tiere! – Dein Kopf aber muss sich erst noch auf die Suche nach seinemHerz machen!<strong>Das</strong> Lebendige in dir, <strong>der</strong> Impuls deines <strong>Das</strong>eins ist das, was im Puls deines Herzens lebt,ist das, wofür dein Herz überhaupt nur schlägt. Und die Frage, die sich jetzt auftut, ist die: Kanndein Bewusstsein diesen lebendigen Impuls – und damit das Lebendige schlechthin – wirklichin sich aufnehmen und lebendig denken? Ist dein Denken offen und beweglich genug, um sichauf Lebendigkeit einlassen zu können, diese unverfälscht in sich zur Geltung kommen undungehin<strong>der</strong>t walten zu lassen, also mitzugehen und mitzuschwingen? O<strong>der</strong> kann dein Wachbewusstsein– und solange es ausschließlich von <strong>der</strong> Tätigkeit des nur die Dinge <strong>der</strong> Außenweltkennenden Verstandes bestimmt ist, wird es immer dazu neigen –, kann also dein Wachbewusst -sein nur in fest gefügten Strukturen, starren Formen, gewohnten Bahnen und in leicht überschaubarenund auf das Messbare reduzierten Dimensionen klar denken und wach bleiben?Sollte es nur auf diese Weise denken können, wird es immer versucht sein, das Lebendige begreifendfesthalten zu wollen, und es dadurch aber gerade hemmen, einengen, einfangen, unterdrücken,verbiegen, entstellen, ihm Gewalt antun o<strong>der</strong> gar abtöten. Und alles, was es eigentlichdenkend gerade noch verstehen wollte, das heißt, zum Inhalt seines Bewusstseins werden lassenwollte, ist ihm entwe<strong>der</strong> aus den eben nur zugreifen könnenden Händen entglitten, o<strong>der</strong> in denalles nur erfassenden und festhaltenden starren Begriffen gestorben.«Wie<strong>der</strong> ging sie wortlos einige Minuten weiter, wobei sie oft unten durch das niedrigeBuschwerk hindurchkroch, während ich mir mühsam um Sträucher und Büsche herum einenWeg suchen musste, ständig auf <strong>der</strong> Hut, sie nicht aus den Augen zu verlieren.Als das Gelände wie<strong>der</strong> offen genug war, um gut nebeneinan<strong>der</strong> zu laufen, fuhr sie fort:»Alexan<strong>der</strong>, du hast doch Philosophie studiert und kennst diese eine Stelle in <strong>der</strong> berühmten›Phänomenologie des Geistes‹, an <strong>der</strong> G.W.F. Hegel – wenn auch in einem etwas an<strong>der</strong>enZusammenhang – von dem ›unglücklichen Bewusstsein‹ spricht, dem ›nur das Grab seinesLebens zur Gegenwart‹ kommen kann (HEGEL 1952: 164). Erinnerst du dich?«»Ja, sogar sehr gut«, antwortete ich ihr, »gerade diese Stelle hat mich, seit ich sie zum ersten Malgelesen habe, sehr berührt und immer wie<strong>der</strong> beschäftigt.«»Genau diese Worte drücken Folgendes sehr treffend aus: In <strong>der</strong> Art und Weise eures <strong>der</strong>zeitigenDenkens steht dieses so im Wi<strong>der</strong>spruch zum ›Wie‹ des Lebendigen, dass in dem gleichenMoment, da ihr dieses zu denken versucht, es euch erstirbt und ihr nur noch das ›Grab‹ desselbenvor Augen habt«, gab sie mir darauf zu verstehen.Vor einem größeren Felsbrocken, <strong>der</strong> zwischen den Bäumen lag, hielt sie einen Augenblickinne und schaute an dem Stein hinauf: »Seit Prometheus von Zeus das Feuer – und das ist einSinnbild für das Licht des Geistes – geraubt hat und meinte, mit seinem Verstand <strong>der</strong> alleinigeMacher des Feuers, also des Denkens, zu sein, seitdem hängt er angeschmiedet am Felsen desKaukasus – und seitdem haftet, sozusagen als die Kehrseite <strong>der</strong> neuen Selbstmächtigkeit euresDenkens, dieses am bloß stofflich-materiellen Aspekt <strong>der</strong> Welt: Nur noch tote Dinge könneneuch Inhalt eures Bewusstseins werden!«


41Griechische Landschildkröte.Sie senkte ihren Kopf und ging langsam und sehr bedächtig weiter; dann setzte sie ihre Ausführungfort: »Dieser Zwiespalt zwischen Denken und Leben – o<strong>der</strong> besser: zwischen dem seitfast 3000 Jahre herrschenden Denken und dem Leben – zieht sich wie eine einzige furchtbareTragödie durch eure ganze abendländische Geschichte und Kultur. Nicht dass an<strong>der</strong>e Kulturenohne Tragödien gewesen wären, aber diese ist die eure! Angefangen bei dem jungen kleinasiatischenMädchen ›Europa‹, das ihr zwar aus <strong>der</strong> mütterlich gestimmten, zeitlosen Traumwelt<strong>der</strong> Kindheit herausgeholt und in eine Bewegung und damit Entwicklung gebracht habt, abernur, um sie gleich im nächsten Schritt als ›Kore‹ dem ›Hades‹ auszuliefern und in das Totenreichzu verbannen.« Bei diesen letzten Worten war ihre Stimme nicht nur immer leiser geworden,son<strong>der</strong>n zunehmend brüchiger, bis sie schließlich stockte und ganz verstummte.Dann blieb sie plötzlich stehen und holte tief Luft, verbunden mit einem allertiefsten Seufzer,<strong>der</strong> sie im Innersten zu erschüttern schien. »Alexan<strong>der</strong>«, fuhr sie mit fast flüstern<strong>der</strong> Stimmefort, »du musst wissen – und ich kenne mich da aus, glaube mir, aber jetzt ist es noch zu früh,um schon davon zu sprechen –, <strong>der</strong> ›Hades‹ ist nicht, o<strong>der</strong> besser: nicht nur tief unter <strong>der</strong> Erde.Haben doch die alten Griechen dem Totengott ›Hades‹ nicht ohne Grund auch oft den Beinamen›Dis‹ gegeben; diese Silbe steht in <strong>der</strong> griechischen Sprache für das Prinzip des Trennenden,Teilenden, Zerteilenden, Zersplitternden – denke nur an die Worte ›Disharmonie‹, ›Diskontinuität‹,›Distanz‹ und ›Dissonanz‹. Genau dieses Prinzip des ›Dis‹ ist aber auch das eureseinseitig gewordenen, nur noch analytisch-unterscheidenden Verstandes-Denkens. Im Hadessind nicht nur die, die von diesem aus dem Leben gerissen wurden, endgültig scheiden musstenund nun für immer verschieden und unwi<strong>der</strong>ruflich abgeschieden im Totenreich sind, im Reichdes ›Dis‹ ist auch alles, was unter <strong>der</strong> Macht genau dieses Prinzips steht: die ganze Welt, indemund so wie sie von eurem <strong>der</strong>zeitigen Denken erfasst und verstanden wird!


4212Der Verstand ist es, <strong>der</strong> alles zum Stehen, zum Stillstand bringt, atomisiert, entlebendigt undabtötet, zum ›Grab des Lebens‹ wird. <strong>Das</strong> Reich des Hades-Dis ist auch die in eurem Kopf undvon dessen Gegenstandsbewusstsein vorgestellte Welt.«In <strong>der</strong> Zwischenzeit war es spürbar heller geworden; aus dem Grau <strong>der</strong> Dämmerung begannenallmählich die Farben hervorzutreten, und ich vermochte Maja wie<strong>der</strong> viel deutlicher neben mirzu erkennen. Sie lief unbeirrt weiter, als wisse sie genau, wohin sie wollte. Als wir an einemgroßen, umgefallenen Baumstamm anlangten, hielt sie an, streckte ihren Kopf zu mir nach obenund sagte: »Setze dich bitte hier auf diesen Baum, dann muss ich nicht immer den Hals so weitnach oben zu dir strecken, um dich besser zu sehen und mit dir sprechen zu können. Es gibt soVieles und Wichtiges, was ich dir jetzt noch sagen möchte und was wir besprechen müssen!«1 Baum des Todes, Deutschland,16. Jahrhun<strong>der</strong>t(aus ARGÜELLES 1979: 38).2 Edvard Munch, »Todeskuss«,1899 (aus WEISNER 1980: 44).Sie wartete, bis ich mich hingesetzt hatte und ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit wie<strong>der</strong>zuwendete. Dann drehte sie sich ganz zu mir und schaute mich lange Zeit stumm an.Schließlich begann sie wie<strong>der</strong> zu sprechen: »Es gibt in eurer abendländischen Kunst einMotiv, das in den unterschiedlichsten Variationen <strong>der</strong> Dichtung, Malerei und Musik immer wie<strong>der</strong>auftaucht – sozusagen, als versuchtet ihr selbst, euch diese Problematik immer wie<strong>der</strong>, o<strong>der</strong>vielleicht eher: endlich bewusst zu machen. Ich meine das Motiv ›<strong>der</strong> Tod und das Mädchen‹.Eine <strong>der</strong> treffendsten und erschütterndsten Gestaltungen dieses Themas, so finde ich, ist einHolzschnitt von Edvard Munch. Ich sehe dieses Bild in meinem Inneren ganz deutlich vor mir,so sehr hat es mich berührt und betroffen gemacht: Wie da ein kahler, nackter, blut- und fleisch -loser Totenschädel das Gesicht eines jungen Mädchens zu berühren o<strong>der</strong> gar zu küssen versuchtund wie sie in dieser Berührung mit einem leidvoll abgewandten und eigentlich etwas ganzan<strong>der</strong>es ersehnenden Blick zu erstarren und zu ersterben droht. – Gibt es eine furchtbarere Entgegensetzung?Dieser glatte Schädel, Sinnbild eines innerhalb jener verhärteten, alles an<strong>der</strong>ekalt abweisenden Grenze abgeschlossenen, beziehungslosen und beziehungsunfähigen Selbstverständnissesund einer Seinsweise und dann diese, seelischen Schmerz empfindende und in


43ihrem Gesicht ausdrückende junge Frau, die ein ganz an<strong>der</strong>es – was immer es auch sein mag,aber sie weiß um dieses – innerlich erfühlt und zu dem alles in ihr hinzustreben und hinzu -strömen scheint. So ganz an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong> kalte, nur bei sich bleibende Schädel, <strong>der</strong> letztlich allesnur selbstbezogen und äußerlich zu besitzen strebt, es damit zum Objekt seiner Begierde erniedrigtund schließlich die wirkliche An<strong>der</strong>sheit, sprich echte Lebendigkeit, abtötet.Diese Tragödie, dieser Schmerz, dieses Leiden des ›lebendigen Lebens‹ zieht sich durcheure ganze Geschichte, sowohl in <strong>der</strong> Außenwelt als auch in eurem eigenen Inneren!«Die ganze Zeit über, während sie mir das alles darlegte, hatte sie den Kopf weit aus ihrem Panzerhervor- und zu mir hin gestreckt. Jetzt aber zog sie ihn mit einem Mal zurück und mit einemgeradezu stöhnend-fauchenden Geräusch tief in sich hinein.Ich blieb regungslos sitzen und wartete ab, den Blick unverän<strong>der</strong>t auf sie gerichtet. So vergingeneinige Minuten, bis sie die Vor<strong>der</strong>beine langsam zur Seite schob und <strong>der</strong> Kopf schließlichwie<strong>der</strong> aus ihrem Inneren auftauchte. Ganz leise und vorsichtig fragte ich sie: »Was ist los mitdir, was hast du gemacht?«Griechische Landschildkröte.»Was ich gemacht habe?«, erwi<strong>der</strong>te sie und schüttelte dabei ein wenig den Kopf. »DieserSchmerz – wenn ich davon erzähle, wird er zu groß, ich kann ihn dann fast nicht mehr ertragen.<strong>Das</strong> alles lastet schwer, sehr schwer auf mir, obwohl ich von Anfang an vieles zu tragen gewohntbin. Ich musste mich einfach für einen Augenblick ganz in mich zurückziehen, meinen Kopfganz nah an mein Herz schmiegen und lauschen.«


44Sie blickte mich dabei lange sehr eindringlich und ernst an, so als wolle sie wie<strong>der</strong> tief zu meinemInnersten vordringen. Dann fuhr sie fort: »Es muss dir ganz klar bewusst werden: DiesesDrama mit tödlichem Ausgang ereignet sich nicht nur zwischen dem Tun eures Kopfes und <strong>der</strong>Außenwelt, son<strong>der</strong>n ebenso zwischen eurem Wachbewusstsein und eurem eigenen innerstenWesen, dem Herz eurer Seele – also jener Seite, <strong>der</strong> gerade dieses Bewusstsein die Bezeichnung›das Unbewusste‹ gegeben hat. Ist es nicht so, dass sich in vielen <strong>der</strong> wirklich großen Liebesdrameneurer Dichter im Grunde genommen immer beide Aspekte dieses Dramas spiegeln?«»Wie meinst du das? Und, was für son<strong>der</strong>bare Bezüge zwischen den verschiedensten Ebenen duimmer wie<strong>der</strong> herstellst; woher nimmst du das eigentlich alles? Auf jeden Fall ist es sehr anstrengend,dir bei deinen so weit ausholenden Gedankengängen zu folgen und mitzukommen«, entgegneteich ihr.»Ja, ja, das ist wie<strong>der</strong> typisch: 1er-Abitur, studiert, gescheit daherreden … Doch wenn es danneinmal darum geht, selber die gewohnten Denkwege zu verlassen, den Horizont des eigenenBewusstseins zu erweitern, um vielleicht zu neuen Zusammenhängen und Einsichten zu finden,dann wird gestöhnt! Du hast eben auch bloß ›die Teile in seiner Hand, fehlt lei<strong>der</strong> nur das geis -tige Band‹ (GOETHE, Faust I., Vers 1938), und genau um dieses geht es bei allen unserengemeinsamen Betrachtungen in den kommenden Stunden! Also, was ist? Willst du weiterkommen,weiter mit mir mitkommen, o<strong>der</strong> nicht?«, kam es in einem für sie sonst sehr ungewohntschroffen und ungeduldigen Tonfall aus ihr heraus.»Verzeih mir, Maja, du hast recht! Ich will mich bemühen, mich mehr auf dich einzulassen, umdir innerlich besser folgen zu können. Bitte, erzähle weiter«, gab ich ihr schnell zur Antwort.»Also gut, bei <strong>der</strong> doppelten Spiegelung eurer Liebesdramen waren wir stehen geblieben. Ichkann jetzt nicht auf alle diese Liebesgeschichten eingehen und auch nicht alles ausführlich ausbreiten,ich möchte dir ja nur einen entscheidenden Vorgang verdeutlichen. Schauen wir docheinmal das Geschehen zwischen Tristan und Isolde an. Weil Isolde genau weiß, dass Tristan –obwohl sie eigentlich beide füreinan<strong>der</strong> bestimmt sind – sie verraten und dem alten KönigMarke übergeben wird – ›mir erkoren, mir verloren‹, singt sie in Richard Wagners Oper – ausdiesem Grund und weil es keine gemeinsame Zukunft geben kann, reicht sie ihm den Todes -trank. Erst im Augenblick <strong>der</strong> eigenen Todesnähe wird Tristan ihrer und seiner Liebe zu ihrgewahr, um sie dann doch letztlich den Mächten des Alten und Vergangenen auszuliefern:Marke; dieser zieht und markiert die alten, verhärteten Grenzen, innerhalb <strong>der</strong>en das lebendige,nach offeneren Bezügen und freierer Bewegung strebende Leben erstickt. Ich sehe es dir an,du bist schon wie<strong>der</strong> erstaunt, dass ausgerechnet ich, eine Schildkröte, die in einem so hartenund festen Panzer steckt, solche Dinge sagt; es ist eben genau so, wie Klaus Heinrich es einmalausgedrückt hat, dass für alle Lebewesen die ›Grenze die Wahrheit und die Unwahrheit‹ ist(HEINRICH 1964: 15).Aber ich wollte noch etwas zu ›Tristan und Isolde‹ sagen. Die fast nur hörend zu erfühlendeund mit keinen Worten wirklich zu beschreibende Stimmung jenes bis heute rätselhaften,berühmten ›Tristan-Akkordes‹ in Richard Wagners Musik lässt genau dieses geheimnisvoll-


45tragische Geschehen anklingen: das noch ganz junge, gerade erst erwachende, <strong>der</strong> Welt undseiner selbst anfänglich bewusst werdende Bewusstsein – Tristan – gewahrt zum ersten Malwirklich die Lebendigkeit <strong>der</strong> Welt, die An<strong>der</strong>sheit alles an<strong>der</strong>en, beson<strong>der</strong>s aber auch die <strong>der</strong>Frau und zugleich die Wirklichkeit seiner im Bild des Weiblichen erscheinenden eigenen Seele,seines ›inneren Mädchens‹, wie Rainer Maria Rilke es einmal nannte. Und dann wird er vollerBe geisterung von Liebe zu allem, beson<strong>der</strong>s aber zu ihr, ergriffen und will es ›fassen‹, verstehen.Er kennt und hat aber nur die alten, längst erstarrten Vorstellungsformen aus <strong>der</strong> Vergangenheit,um all das denken zu können. Und da, inmitten dieses zum allerersten Mal empfundenenGlücks, <strong>der</strong> wirklichen Berührung des An<strong>der</strong>sseins – er berührt und wird zugleich berührt –,ergreift ihn ein tiefer, bisher nicht gekannter Schmerz: Weil er genau spürt, wie alles Lebendige,da er es so zu denken versucht, an <strong>der</strong> Art seines Begreifens und Fassen-Wollens erstickt, er -starrt und zerfällt. ›Tot denn alles, alles tot‹, so lautet die späte, bittere Erkenntnis des alten›Marke‹-Bewusstseins.›Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.Wir ordnens wie<strong>der</strong> und zerfallen selbst.‹(Rainer Maria RILKE, 8. Duineser Elegie, aus RILKE 1976, Bd. 2: 714)Und ruft nicht ebenso eine an<strong>der</strong>e Leidende, bei <strong>der</strong>en Anblick ihn – wenn auch spät – ›<strong>der</strong>Menschheit ganzer Jammer‹ anzublicken scheint, jenem zu: ›Heinrich! Mir graut’s vor dir.‹? Duweißt schon, wen ich damit meine: Faust’s Gretchen! (GOETHE, Faust, Vers 4405ff.). <strong>Das</strong> Bilddes vom Tode bedrohten ›Gretchens im Kerker‹ stellt genau, von <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Seele her ge sehen,jene Situation dar, in <strong>der</strong> Faust ganz zu Anfang in seinem Studierzimmer sich selbst mit seinemDenken vorfindet:›Und fragst du noch, warum dein Herzsich bang in deinem Busen klemmt?Warum ein unerklärter Schmerzdir alle Lebensregung hemmt?Statt <strong>der</strong> lebendigen Natur,da Gott die Menschen schuf hinein,umgibt ihn Rauch und Mo<strong>der</strong> nurdich Tiergeripp und Totenbein.‹(GOETHE, Faust, Vers 410f.)Faust sucht das lebendig ›Werdende‹ (ebd.Vers 346), ohne selbst lebendig werden zu können inseinem Denken; das ist seine missliche Lage und <strong>der</strong> tiefe Grund seiner Lebenskrise.«Ich hob ein wenig den Kopf und ließ den Blick über den immer blauer werdenden Himmel unddie Wipfel <strong>der</strong> Bäume streifen, die gerade von den ersten Sonnenstrahlen getroffen wurden.Da sprach sie: »Was schaust du da hinauf? Dort kannst du vielleicht noch Beruhigung und Trostfinden, aber keine Antworten mehr, die dir wirklich weiterhelfen! Dieses Zugleich von schöns -


46tem Glück, innerster Freude und tiefster Melancholie, das in jenem unbeschreiblichen Klangdes ›Tristan-Akkordes‹ erklingt: Höre immer wie<strong>der</strong> hinein und suche die Erinnerung an dieseGeschehnisse in dir auf: Wo hast du in <strong>der</strong> anfänglichen Begegnung mit <strong>der</strong> Welt etwas erlebt,worin du das Erwachen und Lebendigwerden deines eigenen Inneren plötzlich gefühlt hast?Und das dann auf deine Hinwendung wartete, das du aber – aufgrund althergebrachter, ge -wohnter Denkformen – nicht verstanden hast und daher nicht anzunehmen vermochtest, übergingstund dich selbst schließlich in vergangene, von an<strong>der</strong>en ausgetretene Wege eingefügt undangepasst hast? <strong>Das</strong> sind die Fragen, die du dir stellen musst! Da solltest du hinschauen, dennda erst beginnt Bewusstsein bewusst zu werden!«Und wie<strong>der</strong> war es mir – obwohl an ihrem festen Panzer nichts zu bemerken war –, als gingeeine tiefe Erschütterung durch ihr ganzes Inneres hindurch.Sie schloss für eine Weile die Augen, dann setzte sie sich erneut in Bewegung und rief mirzu: »Steh auf! Komm, wir müssen weiter!«Während sie so weiterging, war es mir, als schaute sie immer wie<strong>der</strong> selbst hinauf zu jenenBaumwipfeln – es waren Kiefern, <strong>der</strong>en orangefarbene Rinde <strong>der</strong> Kronen im Licht <strong>der</strong> Sonneaufleuchteten. »Bäume«, rief sie diesen plötzlich im Gehen zu: »ihr Bäume!« Dann senkte sie wie<strong>der</strong>den Kopf ein wenig und blickte nur voraus, immer weitergehend. »<strong>Das</strong> Drama eures Gegenstandsbewusstseins«,fuhr sie dann wie<strong>der</strong> zu mir gewandt fort, »dieses Drama mag sich zuAnfang eurer abendländischen Geschichte ›nur‹ in eurem Kopf abgespielt und <strong>der</strong> Außenweltkeinen sichtbaren Schaden zugefügt haben. Die Sensibleren aber haben es schon sehr frühgespürt; durch sie hat sich schon immer vieles ausgesprochen und mitgeteilt, was den meistenMenschen lange Zeit verborgen bleibt. O<strong>der</strong> glaubst du, es gäbe sonst diesen Mythos um die›Kore‹, o<strong>der</strong> dieser wäre nur eine Geschichte, die vom Werden und Sterben <strong>der</strong> Vegetationerzählt?Denke nur einmal an jenes erschütternde Erlebnis, von dem einst ein Steuermann gegenEnde <strong>der</strong> Antike berichtete, dem eines Abends von einer Insel <strong>der</strong> Ägäis zugerufen wurde: ›Dergroße Pan ist tot!‹ (SANTILLANA 1993: 251 ff.) – ›Pan‹ bedeutet ›All, alle, alles‹. Alles, das warzumindest für die damaligen Menschen auch die ganze Natur. Der Mythos beschreibt die Entstehungseines Namens in dem Sinne, dass alle Götter an ihm, seiner Eigenart und An<strong>der</strong>sheitihre Freude hatten (KERENYI 1983, Bd. I: 139). Vielleicht war für die alten Griechen Pan soetwas wie die Verkörperung <strong>der</strong> Freude aller am All, Ausdruck <strong>der</strong> Freude bereitenden Bejahung<strong>der</strong> An<strong>der</strong>sheit von allem im All:›Pan ...die Gesamtheit des Alls –Himmel, Meer, Allkönigin Erdeund das unsterbliche Feuer,denn alle sind Glie<strong>der</strong> des Pan.‹(Orphische Hymnen, aus ORPHEUS 1928: 17)


47Sollte dieser son<strong>der</strong>bare Ruf, <strong>der</strong> jenen Steuermann über das Meer hinweg erreichte und dessenBericht, wo immer er vernommen wurde, Wehklagen und Entsetzen auslöste, vielleicht letztendlichAusdruck einer tiefen, dunklen Ahnung sein, dass eine große Umwälzung im Gangewar, in <strong>der</strong>en Verlauf ›<strong>der</strong> große Pan‹ zu Tode kommen würde? Und zwar deshalb, weil imBewusstsein <strong>der</strong> Menschen die ehemals freudige Bejahung <strong>der</strong> An<strong>der</strong>sheit von allem einer freudelosenVerneinung, einer gleichgültigen Verobjektivierung und gefühllosen Vernichtung zu weichenbegann?«Sie hörte auf zu sprechen, lief aber immer weiter. Dann stockte sie und wandte sich mir wie<strong>der</strong>direkt zu und sah mich an: »Wie ich dir vorher schon sagte, in früheren Zeiten mag sich das alles›nur‹ im Bewusstsein <strong>der</strong> Menschen abgespielt haben; die Welt draußen blieb davon noch fastunberührt. In den letzten 200 Jahren jedoch hat die Möglichkeit <strong>der</strong> Machtausübung eures alleszerteilenden und vergegenständlichenden Denkens mit Hilfe <strong>der</strong> Technik solche Dimensionenangenommen, dass inzwischen in <strong>der</strong> Natur die Spuren eurer alles vernichtenden Gewalt, dieZerstörung verschiedenster Lebensformen und Lebensräume nicht mehr zu übersehen sind.Der Maler Edvard Munch hat ihn gehört, diesen ›Schrei <strong>der</strong> Natur‹, und immer wie<strong>der</strong> in verschiedenstenVariationen versucht, dieses schreckliche Erlebnis zu gestalten: ›Die Sonne gingunter – <strong>der</strong> Himmel wurde blutrot, und ich empfand einen Hauch von Wehmut. Ich stand still,todmüde – über dem blauschwarzen Fjord und <strong>der</strong> Stadt lagen Blut und Feuerzungen. MeineFreunde gingen weiter – ich blieb zurück – zitternd vor Angst – ich fühlte den großen Schrei in<strong>der</strong> Natur‹. (STANG o.J.: 46)Nicht <strong>der</strong> Mann auf dem Bild ist es, <strong>der</strong> schreit – wie viele immer wie<strong>der</strong> meinen – son<strong>der</strong>ner wird vom Schau<strong>der</strong> ergriffen, als er diesen erschütternden Schrei <strong>der</strong> Natur vernimmt!«Edvard Munch, »Geschrei«,1895 (aus WEISNER 1980: 193).Griechische Landschildkröte.Ich sah ihr in die Augen und merkte, wie sie weinte. Da blickte sie zu den leuchtenden Kronen<strong>der</strong> Kiefern hinauf und mit einem Mal brach es voll Verzweiflung aus ihr hervor: »Nicht damals,damals noch nicht! – Heute liegt ›<strong>der</strong> große Pan‹ im Sterben, in unserer Zeit! Wie könnt ihr das


48»Ein den Weg Suchen<strong>der</strong> fragteine Schildkröte: ›Die Wun<strong>der</strong>kraftzu gewinnen, bedeutetdas, das Leben verlängern zukönnen?‹«»In einem Kanon überlanges Leben heißt es: ›Es isteine Freude, mit Tugendseine Natur zu pflegen. Wozusollte man dann noch einHeilmittel mischen, um seinLeben zu verlängern!‹«(CHUGEN)nur mit ansehen und ertragen, ohne dass ein Aufschrei auch durch euch geht und ihr innehaltet!?In eurem, fast nur durch Gewalt geprägten und von leblosen Begriffen bestimmten Zugriff,ja Übergriff auf die Welt, seid ihr dabei, die ganze Erde dem Untergang zu weihen und in eineinziges ›Grab des Lebens‹ zu verwandeln!«Was ich dann sah, ließ mich erschau<strong>der</strong>n: Ihr ganzes, eigentlich zu keiner Mimik fähiges Gesichtwar Ausdruck eines unermesslichen Schmerzes, ihr Blick inmitten tränen<strong>der</strong> Augen voller Entsetzenund ausweglosem Jammer, grenzenloser Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Ratlosigkeit,Hilflosigkeit, Fassungslosigkeit, Unverständnis, Resignation und Verlorenheit. – Eine einzigeerschütternde Klage und Anklage zugleich.Noch nie in meinem ganzen bisherigen Leben hatte ich Derartiges gesehen und erlebt –ohne die geringste Möglichkeit, davor die Augen zu verschließen, mich abzuwenden, um allesdas abzuwehren o<strong>der</strong> gar zu verdrängen. Ich spürte genau: Hinter das in diesem AugenblickErfahrene würde ich nie wie<strong>der</strong> zurückgehen können, diesem jetzt noch auszuweichen warebenso ausgeschlossen. Ich musste mich rückhaltlos dieser Situation stellen, sie annehmen,zu mir sprechen lassen und mit meinem eigenen Leben darauf antworten. – Aber wie undwodurch?Unmittelbar getroffen, betroffen und erschüttert sank ich auf die Knie und vermochte sienur noch anzustarren; unfähig, den Blick von ihr abzuwenden, wurde ich nun meinerseits ebensovon einer Hilflosigkeit und Ratlosigkeit ergriffen, die mich gänzlich verstummen ließ.Mo<strong>der</strong>ne chinesischeZeichnung von Chugen.Als wolle sie sich gegen einen qualvollen Schmerz aufbäumen, stemmte sie sich, wie von innerenKrämpfen geschüttelt, in ihrem Panzer mit den Vor<strong>der</strong>beinen vom Boden ab, so hoch es gingund rief mit klagen<strong>der</strong>, fast ersticken<strong>der</strong> Stimme: »Die Erde! Die Erde! Was macht ihr nur mit<strong>der</strong> Erde? Wisst ihr denn gar nicht, dass diese Erde ...«


49Fast eine Minute, die mir jedoch wie eine Ewigkeit erschien, blieb sie in dieser Stellung, ohnesich zu bewegen.Dann senkte sie sich langsam wie<strong>der</strong> zu Boden, holte sehr bedächtig tief Luft und begann ganzleise zu sprechen: »Versetze dich nur einmal mit Hilfe deiner Fantasie hinaus in das Weltall, aufirgendeinen Mond des Saturn o<strong>der</strong> noch weiter draußen, mitten in diese endlose Leere, Kälte,Einsamkeit und Dunkelheit – so grandios und atemberaubend schön die Erscheinungen desKosmos ohne Frage sind – aber: Mitten aus dieser Weite des endlosen äußeren Raumes herauswende einmal für einen Moment den Blick <strong>der</strong> Erde zu, mit ihren blauen Meeren, weißen Wolken,den Kontinenten und vielen, farbigen Landschaften, den zahllosen Pflanzenformen undTierarten. Und mitten aus <strong>der</strong> Stille des Weltalls heraus lausche einmal dem Gesang eines einzigenVogels. Vielleicht beginnst du dann zu ahnen, was die Erde eigentlich für ein Ort ist, wassich da vollzieht, wer die Erde in Wahrheit ist! Denn, du weißt: Alles ist, was es ist, und dann nocheinmal etwas ganz, ganz an<strong>der</strong>es.«Sie stockte erneut, wie<strong>der</strong> rannen zahllose Tränen über ihre Wangen. »Ihr seid als Gästeeingeladen, an einem <strong>der</strong> größten Mysterien des ganzen Kosmos teilzunehmen. Aber was tutihr? Nicht nur, dass ihr euch ebenso wie einst ›Parzival‹ auf <strong>der</strong> Gralsburg des Leides <strong>der</strong> Weltnicht fragend annehmt, son<strong>der</strong>n angesichts des sich euch darbietenden Wun<strong>der</strong>s, das das Lebenhier auf <strong>der</strong> Erde darstellt, stürzt ihr euch auf alles und seid nur darauf aus, es an euch zu reißen;bloß um alles zu Geld machen zu können, schlagt ihr auf alles ein und bekriegt euch gegenseitig,bis alles zerstört und kein Leben hier mehr möglich ist!«Noch immer vermochte ich nicht, mich zu regen und rang innerlich um Fassung. Was sollte ichjetzt tun, was jetzt noch sagen? Mir war, als wäre <strong>der</strong> Fluss <strong>der</strong> Zeit ins Stocken geraten, o<strong>der</strong>die Zeit selbst erstarrt. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so einan<strong>der</strong> anschauend, in tiefemgemeinsamem Innehalten und Schweigen verharrten, bis ich ganz leise und vorsichtig, fast flüs -ternd zu sprechen wagte: »Meinst du, es ist schon zu spät, und alles ist verloren? Gibt es denneine an<strong>der</strong>e Möglichkeit? Gibt es etwas, was man dagegen tun könnte?«Ich hielt dann aber von selbst inne, weil ich sehr deutlich spürte, dass es im Grundegenommen nur einen einzigen Weg geben konnte: »Maja«, sagte ich zu ihr, »du weißt um so vieles.Bitte hilf mir, gib mir einen Rat, deinen Rat: Womit kann ich anfangen, um den Anteil in mir,<strong>der</strong> genauso gewaltsam und leblos denkt, zu verän<strong>der</strong>n?«Da hatte es den Anschein, als würde die Verzweiflung und Resignation aus ihrem Gesicht zuweichen beginnen und mir war, als hätte ich einen leichten Schimmer von Zuversicht, vielleichtsogar von verhaltener Freude bei ihr wahrgenommen. Sie antwortete: »Alexan<strong>der</strong>, entschuldigebitte alle meine weit ausholenden, so vielschichtigen und oftmals ungewohnt verschlungenenAusführungen. Ich versichere dir, es sind nicht etwa die ersten Anzeichen einer zunehmendengedanklichen Verwirrung einer langsam doch alt und damit vielleicht ein wenig geschwätzigwerdenden, schrulligen Schildkröte. Aber, wie ich dir gegenüber schon angedeutet habe: Ichmusste dich erst einmal in die unserem Thema entsprechende Stimmung versetzen. Vor allemaber – und das ist das Entscheidende – ich musste außerdem bewirken, dass du an diesem Leidso Anteil nimmst, dass du dieses geradezu an ihm mitleidend an und in dir selbst erlebst. Denn


50nur, wenn du auf diese Weise ergriffen und erschüttert – und nicht nur mit dem Kopf alles zurKenntnis nehmend – um diese durch euer <strong>der</strong>zeitiges Bewusstsein verursachte äußere und innereNot wissend wirst, erst dann wirst du auch bereit und entschlossen genug sein, mit <strong>der</strong> altenDenkweise aufzuhören und ernsthaft nach an<strong>der</strong>en Möglichkeiten zu suchen. Kannst du dasnachvollziehen und verstehen?«, fragte sie.Zustimmend nickte ich mehrmals mit dem Kopf. Dann fuhr sie fort: »Ich denke, es dürfte dirauch klar geworden sein, dass ich – bei allem Aufzeigen <strong>der</strong> Gewalt in eurem <strong>der</strong>zeitigen Denkenund <strong>der</strong> davon hervorgerufenen Not in <strong>der</strong> Welt – die Antwort dieses Problems nicht in einerAufgabe des Denkens selbst sehe. Der Versuch, das wache Bewusstsein einfach zu verabschiedenund die Lösung in einer Art Rückkehr in eine alte, träumend-erfühlte, diese dann wie<strong>der</strong>genießen wollende Einheit mit <strong>der</strong> Natur zu suchen, scheidet aus! Es ist schon so, wie Heinrichvon Kleist es am Ende seiner berühmten Abhandlung ›Über das Marionettentheater‹ ausgedrückthat: ›Um die einstige Harmonie mit dem Ganzen wie<strong>der</strong>zuerlangen, muss das erkennendeBewusstsein gleichsam erst durch ein Unendliches gehen und dann auch wie<strong>der</strong> zurückfinden.‹(KLEIST o.J.: 1088)«»Durch ein Unendliches gehen«, fragte ich etwas ungläubig, »wie soll denn das gehen? Wie mussman sich das vorstellen?«»Heinrich von Kleist meinte, man müsse eben noch einmal vom Baum <strong>der</strong> Erkenntnis essen.«Und da öffnete sie weit die Augen, so, als wolle ein Mensch die Augenbrauen weit hochziehen.»Vielleicht bedeutet das aber, die Früchte dieses Baumes dann nicht wie<strong>der</strong> nur zum eigenen


51Genuss einfach zu essen und zu verschlingen – wie beim ersten Mal –, son<strong>der</strong>n diese Früchteauf eine ganz an<strong>der</strong>e, neue, intensivere, subtilere Art in sich aufzunehmen und somit in einemhöheren Sinne zu verinnerlichen.Wie man einen Apfel isst, um sich von dessen Stoffen zu ernähren und körperlicheKräfte zum Leben und Handeln zu gewinnen, so hat <strong>der</strong> Mensch seit Adam – o<strong>der</strong> richtig erstseit Prometheus – die Früchte dieses Baumes, und das sind eure Gedanken und Erkenntnisse,zu sich genommen, um <strong>der</strong>en Ergebnisse zur Gestaltung des eigenen <strong>Das</strong>eins zu benutzen; erhat diese Erkenntnisfrüchte einfach verzehrt und im gleichen Moment und vom gleichen Ortausgehend, dem Kopf, diese für die zielstrebige Umsetzung seiner Zwecke und Absichten eingesetztund verbraucht. – Kannst du mir noch folgen?«, fragte sie, mich dabei ein wenig kritischanschauend.»Ja«, antwortete ich ihr, »bis jetzt komme ich ganz gut mit. Auf was willst du denn hinaus?«»Höre mir einfach weiter zu! – Du weißt, auch mir schmecken Früchte beson<strong>der</strong>s gut und siesind ja auch von euch wegen ihres Nährwertes so begehrt. Ist aber das Wesentliche an einerFrucht nicht so sehr das Fruchtfleisch als vielmehr die Samenkörner, die darin verborgen sind?«»<strong>Das</strong> stimmt!«, sagte ich.Griechische Landschildkröte.»Und ist es nicht so, dass für die Entstehung eines jeden Samenkorns in jenem beson<strong>der</strong>en undgeheimnisvollen Lichtraum, den ihr Blüte nennt – wir werden das später noch genauer betrachten–, zunächst einmal zwei polare, stoffliche Gebilde miteinan<strong>der</strong> verschmelzen müssen, damit


52innerhalb dieses beson<strong>der</strong>en Lichtraumes und unter <strong>der</strong> Mitwirkung des Lichtes selbst sich einneuer Lebenskeim, ein zukünftiger Entwicklungsimpuls in dieses zuvor eingeschmolzene Zellgewebeeinsenken und eingehen kann, <strong>der</strong> dann im Inneren des Samenkornes ›schläft‹ bis zureigentlichen Keimung?«»So habe ich das noch nicht betrachtet, aber es klingt überzeugend. <strong>Das</strong> ist alles interessant,sprich weiter!«, sprach ich zu ihr, während ich zunehmend das Gefühl hatte, das im Grundegenommen weniger mein Kopf als irgendetwas in meinem Inneren immer wacher, aufmerksamerund hellhöriger wurde.»Dann wollen wir jetzt einmal gemeinsam betrachten, was dieser Gesichtspunkt für jene Früchtezur Folge hat, die vom Baum <strong>der</strong> Erkenntnis stammen. Wenn also in den Früchten <strong>der</strong> Pflanzendas darin enthaltene Samenkorn mit seinem schlafenden Lebenskeim das Wesentliche ist,könnte das dann nicht für die Erkenntnisfrüchte bedeuten, dass beim bloßen Verzehren <strong>der</strong>selbenzur Gewinnung zweckdienlicher und handlungsrelevanter Erkenntnisse gerade das Wichtigsteunbeachtet bleibt, ja das Kostbarste darin übergangen wird, verloren geht und schließlich<strong>der</strong> bloßen Vernichtung anheimfällt? ›Erkenntnis und Interesse‹, so heißt doch ein Buch voneinem bekannten Philosophen! (HABERMAS 1971) Vielleicht bleibt gerade deshalb seitdemfür den Menschen <strong>der</strong> Zugang zum ›Baum des Lebens‹ verwehrt? Könnte es nicht sein, dass indiesen beson<strong>der</strong>en Früchten, also in euren Gedanken und Erkenntnissen, etwas darauf wartet,von euch in einer ganz an<strong>der</strong>en Weise verinnerlicht zu werden, als sie in <strong>der</strong> soeben geschil<strong>der</strong>tenArt nur zu essen? ›Aber sollte aus dem Gedanken nicht Lebendiges sich entwickeln können?Sollte er nicht seinem eigenen Leben durch den Gebrauch entzogen werden, …wie <strong>der</strong> Pflanzenkeimseinem Leben entzogen wird, wenn er zur menschlichen Nahrung verwendet wird? …Der Gedanke könnte for<strong>der</strong>n, dass er als lebendiger Keim erfasst und unter gewissen Bedingungenin <strong>der</strong> Seele zur Entfaltung gebracht werde, damit er … zu einer Weltanschauung führe, in<strong>der</strong> sich die Seele, ihrem Wesen nach, erst erkennen könne und mit <strong>der</strong> sie sich erst wahrhaft indie Außenwelt versetzt fühlen könne.‹ (STEINER 1968: 338f.) – Verstehst du, was ich damitandeuten möchte?«, fragte sie mich mit ruhiger und liebevoller Stimme.»Ich glaube schon. Aber sprich weiter, es wird immer spannen<strong>der</strong>, und ich habe das Gefühl, dassin mir alles ganz aufgeregt ist!«, erwi<strong>der</strong>te ich ihr.»Wenn in den Samen <strong>der</strong> Natur ein zukünftiger Lebenskeim ruht, <strong>der</strong> in die Erde gesenkt wirdund dort, unter <strong>der</strong> Mitwirkung von Wasser und Wärme, aufgehen und sich entfalten will – soist in euren Gedanken und Erkenntnissen ein Impuls verborgen, <strong>der</strong> von euch verinnerlicht werdenwill, den ihr in das Innere eurer Seele senken und dort mit all eurer Hinwendung, Aufmerksamkeit,Hingabefähigkeit und inneren Wärme vertiefen und umgeben solltet, sodass dieserImpuls erwachen, keimen, in euch wurzeln, sich entwickeln und wirklich Neues auf dieser Erdehervorbringen kann.Also: nicht Gedanken und Erkenntnisse suchen, um diese dann einfach zu nehmen undgleich etwas damit machen zu können. Es geht darum, sie eingehen<strong>der</strong> zu betrachten und zubefragen, was aus ihnen selbst heraus werden will – und dem dann nachgehen!


53›Nachgehen‹ – das entspricht genau dem Sinn des aus dem Altgriechischen stammendenWortes ›Methode‹: ›einem Weg nachgehen, auf, in einem Weg folgen‹ – und nicht ›machen‹,›schaffen‹, ›erzeugen‹, ›vorstellen‹, ›konstruieren‹!Für heute gilt demnach: Folge mir auf dem Weg, den ich dich führen werde! Und dannwird es darauf ankommen, dass du lernst, mit deinem Bewusstsein den eigenen Bewegungstendenzendeiner Gedanken bewusst nachzugehen!«»Wenn ich mir das so alles anhöre, und ich mich dabei bemühe, dir zu folgen, kann ich dir eigentlichnur zustimmen. Es hat auch irgendwie etwas Befreiendes, dir zu lauschen«, antwortete ichihr. »Aber sag mir, wie soll das gehen, mit einem Gedanken ›mitgehen‹ zu können? Was muss ichdazu tun, o<strong>der</strong>: Wie muss ich eventuell an<strong>der</strong>s bewusst sein und denken, um zu einer solcheninneren Bewegung in <strong>der</strong> Lage zu sein, ohne diese zu beeinflussen o<strong>der</strong> gar zu verfälschen, zubehin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> anzuhalten und zum Stillstand zu bringen?«, fragte ich zurück.Da entgegnete sie: »Siehst du, jetzt sind wir genau an dem Punkt, wo ich zuvor davon gesprochenhabe, dass es darum geht, ›lebendig‹ zu denken. <strong>Das</strong> ›Wie‹ deiner Denktätigkeit muss offen,ansprechbar, geschmeidig, wendig – ›versatil‹ hat es J.W.v. Goethe so gern genannt –, bildsam,ja flüssig werden, um in lebendigen Prozessen ungehin<strong>der</strong>t und ohne diese zu stören mitgehenund folgen zu können. Dazu bedarf es höchster Aufmerksamkeit, Geistesgegenwart, Klarheit,Spannkraft, Tiefe, Weite, intensivster Einbildungskraft und vor allem Fantasie. Verstehst du, wasich meine?«, fragte sie mit einem etwas besorgten Blick.»Ja, ja – ich denke schon. Aber wie kann es gelingen, so lebendig zu denken, das heißt, ohneLebendigkeit dabei zu unterdrücken?«, fragte ich zurück.»Lass mich versuchen, dir auch das am Beispiel <strong>der</strong> Samenkörner <strong>der</strong> Pflanze zu verdeutlichen.Einen <strong>der</strong> Höhepunkte <strong>der</strong> Blütengestalt im Pflanzenreich stellt sicherlich die Blüte <strong>der</strong> Sonnen-Blütenboden <strong>der</strong> Sonnen blumemit dem doppelgewundenenSpiralmuster.


54blume dar; ganz entsprechend, nur etwas kleiner und daher nicht so klar zu sehen, zeigt es sichin jedem Gänseblümchen, je<strong>der</strong> Margerite, also bei allen sogenannten Korbblütern, bei denendas Erscheinungsbild <strong>der</strong> Blüte aus vielen kleinen Einzelblüten aufgebaut ist. Der Blütenbodenweist bei all diesen Blumen eine ganz beson<strong>der</strong>e Struktur auf: Die einzelnen kleinen Blüten,unter denen sich später die Samenkörner herausbilden, sind nicht einfach wahllos in diesemgroßen Blütenkelch zusammengeworfen, son<strong>der</strong>n sie sind nach einem geheimnisvollen undgeradezu universellen Prinzip angeordnet. Betrachtet man einen solchen Blütenboden genauer,so wird man gewahr, dass seine wun<strong>der</strong>schöne Struktur aus zwei gegenläufigen Spiralen entsteht,von denen sich eine Spirale im Uhrzeigersinn windet und die an<strong>der</strong>e entgegengesetzt.Wie du bei den Vorgängen des Wetters in den Hoch- und Tiefdruckgebieten verfolgenkannst, vollzieht sich in den rechtsdrehenden, das heißt sich im Uhrzeigersinn drehenden Hochdruckgebietenein Bewegungsprozess von innen nach außen und in den linksdrehenden Tiefdruckgebieten<strong>der</strong> umgekehrte von außen nach innen. Ebenso verhält es sich auch in den Prozessen<strong>der</strong> Blüten und aller doppelten Spiralbewegungen und Spiralmuster in <strong>der</strong> Natur. Undjetzt kommt das Allerwichtigste: Genau an den Stellen, an denen sich diese beiden gegenläufigenBewegungen überlagern und durchdringen, befinden sich die einzelnen kleinen Blüten mitden späteren Samenanlagen. <strong>Das</strong> bedeutet: Nur da, wo eine solche Vereinigung polarer Prozessegelingt, nur da kann ein neuer, in die Zukunft weisen<strong>der</strong> und streben<strong>der</strong> Lebensimpuls hierauf <strong>der</strong> Erde ankommen, Ereignis werden, einen Ort finden, sich zu inkarnieren, in den Stoffeinzugehen, einzutauchen und sich mit diesem zu verbinden. Weißt du, die Spirale – und be -son<strong>der</strong>s die doppelt-gegenläufig gewundene – ist nicht nur die vielleicht schönste Strukturin unserem Weltall, son<strong>der</strong>n sie ist auch die allerwichtigste. In ihrer Prozessgestalt vermag sichdie Integration und Harmonisierung von Polaritäten am Gelingendsten zu vollziehen und zuereignen.«»Ich bin wirklich sprachlos, wovon du alles Kenntnis besitzt. Aber was hat jetzt dieses Spiralenphänomenmit dem Denken zu tun? Du wolltest mir doch anhand <strong>der</strong> Sonnenblume etwas überden Vorgang eines ›lebendigen‹ Denkens verdeutlichen!«»Langsam, langsam! Nur Geduld!«, fuhr sie fort. »Ich muss das Schritt für Schritt alles mit direntwickeln. Es ist zu wichtig, um es nur an <strong>der</strong> Oberfläche zu streifen. Noch einen Aspekt <strong>der</strong>Sonnenblume wollte ich dir zeigen. Hinter <strong>der</strong> Anordnung <strong>der</strong> beiden Spiralen ist ein für allesLebendige ganz wesentliches und universelles Prinzip am Wirken. Wenn du nämlich einmal dierechts- und dann die linksdrehenden Spiralen durchzählst, wirst du merken, dass diese immervon unterschiedlicher Anzahl sind; aber diese Unterschiede sind nicht beliebig, son<strong>der</strong>n zumBeispiel immer nur 13 und 21, o<strong>der</strong> 21 und 34, o<strong>der</strong> 34 und 55. Diese Zahlenwerte sind in <strong>der</strong>Mathematik als ›Fibonacci-Reihe‹ bekannt und von großer Wichtigkeit; die nächstfolgende Zahlentsteht immer aus <strong>der</strong> Addition <strong>der</strong> beiden vorangegangenen. Und, was das eigentlich Aufregendedaran ist: Bildet man die Brüche zwischen zwei benachbarten Zahlen, so ergibt das einenWert, <strong>der</strong> sich immer mehr <strong>der</strong> Proportionszahl des Goldenen Schnitts annähert. Und nochetwas Faszinierendes: Die Winkel, in denen in <strong>der</strong> Mitte <strong>der</strong> Sonnenblume die Spiralen aufeinan<strong>der</strong>treffen,sind ebenso durch das innere Prinzip des Goldenen Schnitts bestimmt. Kannst dumir immer noch folgen?«


55»Ja, ich kann deinen Ausführungen folgen – bei allem Erstaunen darüber, was sich alles in <strong>der</strong>Blüte einer Sonnenblume an Zusammenhängen offenbart«, antwortete ich ihr.»Spürst du jetzt, wieviel Spannkraft dein Denken aufbringen und entwickeln muss, um alles daszusammenbringen zu können? – <strong>Das</strong> Wesentliche am Goldenen Schnitt ist nun, dass dieser,wenn zum Beispiel eine Strecke nach diesem Prinzip geteilt wird, die einzige Teilungsproportiondarstellt, in <strong>der</strong> für die daraus hervorgehenden Teile <strong>der</strong> Bezug zum Ganzen nicht verlorengeht. <strong>Das</strong> bedeutet, dass bei allen an<strong>der</strong>en Teilungen das ursprüngliche Ganze zerrissen wirdund zerfällt. Nur beim ›Goldenen Schnitt‹ bleibt das Ganze auf geheimnisvolle Weise im ›Wie‹des Zueinan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Teile immer noch erhalten, gegenwärtig und damit auch wirksam. An<strong>der</strong>sausgedrückt: Die beiden Momente bleiben stets in Resonanz mit dem Ganzen – und genau diesesPhänomen berührt das innerste <strong>Geheimnis</strong> alles Lebendigen.Gleich, welche Lebensform du auch nimmst, sie kann nur als abgeson<strong>der</strong>t einzelne existieren;gleichzeitig muss sie aber als solche einen Bezug zu gerade dem verwirklichen, gegen dassie sich abgegrenzt hat, um ihre Existenz aufrechterhalten zu können. <strong>Das</strong> eine große und allesdurchziehende Thema alles Lebendigen ist die Spannung zwischen Individualität und Universalität,zwischen Endlichem und Unendlichem, zwischen Teil und Ganzem, Grenze und Grenzenlosigkeit,Form und Auflösung, Ordnung und Chaos. <strong>Das</strong> <strong>Geheimnis</strong> des Lebendigen ist,dass es vielleicht das einzige Phänomen im ganzen Kosmos darstellt, das jenes ›Wie‹ zu realisierenvermag, in dem die klar geformte Grenze, innerhalb <strong>der</strong>en es existiert – seine Gestalt – nievöllig abgeschlossen ist, son<strong>der</strong>n immer durchlässig, dialogisch offen auf das Ganze hin, dassalso die endliche Form sich nie ganz abson<strong>der</strong>t und sich in sich abschottet, son<strong>der</strong>n immer inBeziehung zum Unendlichen bleibt, in Resonanz zum Ganzen. – Spürst du es, genau hierinist das innere ›Wie‹ des Lebendigen geradezu identisch mit dem ›Wie‹ des Goldenen Schnitts.Der Zahlwert des Goldenen Schnitts, die Zahl Phi = 0,618... stellt übrigens zusammen mit <strong>der</strong>an<strong>der</strong>en großen <strong>Geheimnis</strong>zahl des Kosmos, ich meine die Zahl Pi des Kreises = 3,14…, diebeiden sogenannten irrationalsten Zahlen <strong>der</strong> Mathematik dar.Was hat <strong>der</strong> alles nur als Verendlichtes und Vergegenständlichtes denken könnende Verstandangesichts solcher Realitäten gemacht? Er hat diese Zahlen mit dem Etikett ›irrational‹versehen, weil sie eben nicht abschließbar, einfach nicht zu einem Ende zu bringen sind. DerZahlwert des Goldenen Schnitts, die Zahl Phi = 0,618… erreicht nämlich nie die numerischendliche Größe von 0,62, trotz allem aber ist sie in ihrer Tendenz unendlich, sozusagen ›unendlichnach innen hinein‹. Doch da gerät die rationale Logik des Verstandes mit seinen totenEtwas-Dingen im Kopf durcheinan<strong>der</strong>, ihm wird schwindlig; und weil er das nicht zu denken in<strong>der</strong> Lage ist, hat es als undenkbar zu gelten: dieses für ihn immer im Verdacht des aufrührerischBedrohlichen stehende und in seinen Augen alles immer nur negativ-chaotisierende ›Irrationale‹!So gesehen ist die Stelle, in <strong>der</strong> eine ganze Strecke im Verhältnis des Goldenen Schnitts geteiltwird, auch kein Punkt im klassischen Sinne <strong>der</strong> Verstandesdefinition, son<strong>der</strong>n letztlich ein nichtausschließlich im Endlichen und daher Messbaren lokalisierbares Moment, eher ein Prozess. –Geht es noch, o<strong>der</strong> wird auch dir schon ein wenig schwindlig? Sollen wir lieber erst einmal einePause einlegen, bevor wir dann wie<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Sonnenblume und <strong>der</strong>en Goldenem Schnitt denBogen zurück zum Prozess des lebendigen Denkens schlagen? Was meinst du?«, und wie<strong>der</strong>blickte sie mich besorgt an.


56»Es geht schon noch. Aber vielleicht wäre eine kleine Verschnaufpause wirklich nicht schlecht«,antwortete ich ihr erleichtert. Ich erhob mich vom Boden, wo ich noch immer kniete, ging einpaar Schritte und schaute dann hinunter auf den Waldboden mit den vielen Tannen- und Kiefernnadelnund den wenigen Gräsern und Blumen; dann wan<strong>der</strong>te mein Blick an den Baumstämmenentlang in die Höhe bis in die Wipfel und schweifte dann hinaus zu den weißen Wolken,um sich irgendwo im Blau des Himmels zu verlieren. Ohne an etwas Bestimmtes zudenken, stand ich lange unbewegt da. Aber ich spürte deutlich und zugleich nur ahnungsweiseund wie von Ferne, dass alles in mir wie aufgewühlt, aufgeregt und voller Anspannung war. Wie<strong>der</strong>fielen mir Worte <strong>der</strong> Mariana Pineda ein:»Und mein Blut erregt sich, zittertwie in weichen Meereswogenein Korallenbaum erbebt …«(Mariana Pineda, aus GARCIA LORCA 1972: 73)Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dagestanden habe, als Maja, die sich immer noch hintermir an <strong>der</strong> gleichen Stelle befand, mich rief: »Hast du dich genug erholt? Können wir weiterfahren?«»Ja, Maja, ich komme schon!«, erwi<strong>der</strong>te ich; dann drehte ich mich um, ging zurück und setztemich wie<strong>der</strong> zu ihr. Wir schauten uns beide in die Augen; sie wartete noch ein Weilchen, bis meineAufmerksamkeit wie<strong>der</strong> ganz bei ihr war und begann mit <strong>der</strong> Fortsetzung ihrer Ausführungen:»Bist du ganz Ohr? Denn jetzt musst du noch genauer aufpassen und noch besser hinhören!«»Ich bin ganz da, ganz bei dir, um deinen Worten zu lauschen«, antwortete ich.»Gut. Dann will ich noch einmal kurz das Wesentliche zusammenfassen: Der Blütenboden <strong>der</strong>Sonnenblume geht aus einem Prozess hervor, innerhalb dessen sich zwei gegenläufig windendeSpiralen durchdringen; während sich dabei in <strong>der</strong> rechtsdrehenden eine Bewegung von innennach außen vollzieht, verläuft diese Bewegung in <strong>der</strong> linksdrehenden von außen nach innen.Sowohl die Anzahl <strong>der</strong> unterschiedlich sich drehenden Spiralarme als auch <strong>der</strong> Winkel, in demdiese in <strong>der</strong> Blütenmitte zusammentreffen, ist durch das innere Prinzip des Goldenen Schnittsbestimmt. Diesem wohnt, als einzigem Teilungs- o<strong>der</strong> Glie<strong>der</strong>ungsprinzip eine Kraft inne, dieTeil und Ganzes dynamisch so miteinan<strong>der</strong> verbindet, dass das individualisierte Einzelne immermit dem Universellen in Resonanz bleibt. Dieses Prinzip entspricht genau dem Phänomen desLebendigen im Kosmos. Genau an den Stellen, an denen sich die zwei gegenläufigen Spiralendurchdringen und überlagern, entstehen die jeweiligen Samenkörner. Dort, und nur dort,besteht die Möglichkeit für den Beginn von etwas Neuem und Zukünftigem! – Bist du mitgekommen,und hast du alles verstanden?«, fragte sie mich jetzt sehr eindringlich.»Alles ist in mir präsent, fahre nur fort, Maja«, antwortete ich ihr.


57»Ich habe das alles so ausführlich vor dir ausgebreitet, um dir deine Frage nach dem Weg zueinem ›lebendigen Denken‹ auf eine Art beantworten zu können, die die Neigung des Verstandeszum Schnell-wissen-und-abhaken-Wollen umgeht, o<strong>der</strong> sogar unterläuft. Auch wenn beidem, was ich dir jetzt über das menschliche Bewusstsein und das Denken sagen werde, denmo<strong>der</strong>nen Gehirnforschern, Bewusstseins- und Denktheoretikern die Haare zu Berge stehenwürden – sollten sie unser Gespräch mitanhören können –, so hoffe und baue ich bei dir auf deineUnvoreingenommenheit und Offenheit, auf deine innere Bereitschaft, erst einmal mitzu -gehen. Wenn du willst, kannst du ja anschließend zu eurer üblichen Auffassung über das Be -wusstsein zurückkehren und alles als bloße irrationale Spinnerei einer alten Schildkröte abtunund verwerfen!«, hielt sie mir in einem sehr bestimmten Tonfall entgegen.»Ich vertraue mich ganz deiner Führung an und werde dir folgen, so gut ich kann. Wenn es zuschwierig o<strong>der</strong> für mich überhaupt nicht mehr nachvollziehbar erscheint, werde ich es dir schonsagen, und dann werden wir weitersehen«, antwortete ich daraufhin.Griechische Landschildkröte.Sie senkte den Kopf auf den Boden, um daran zu riechen, dann hob sie ihn wie<strong>der</strong> weit nachoben, schaute erst um sich nach allen Seiten und schließlich wie<strong>der</strong> zu mir, und fuhr fort: »Fürmich ist die wun<strong>der</strong>schöne, faszinierende und geheimnisvolle Struktur <strong>der</strong> Sonnenblume mit alldem im Verborgenen sich Vollziehenden wie ein Sinnbild für das Phänomen des Bewusstseinsund beson<strong>der</strong>s des lebendigen Denkens. Ist nicht das Bewusstsein <strong>der</strong> Ort, o<strong>der</strong> vielleicht dasFeld, <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong> Begegnung, <strong>der</strong> Berührung, des Austausches, <strong>der</strong> Vermittlung, ja Durchdringung,<strong>der</strong> Kommunikation, des Dialogs – und in <strong>der</strong> besten und höchsten aller Möglichkeiten– <strong>der</strong> Integration und gar Kommunion zwischen innen und außen, zwischen dem individuellenEinzelwesen und dem Ganzen, dem All?


58Damit das gelingen kann, müssen im Bewusstsein – und von diesem – die zwei polarenProzesse, die für jegliche Art von Lebendigkeit grundlegend sind, in höchster Intensität im ständigenWechsel und sogar gleichzeitig vollzogen werden: Hinein- und Hinausgehen, Einatmenund Ausatmen, o<strong>der</strong> Systole und Diastole, wie man diese zwei Bewegungen beim pulsierendenHerz nennt. Die ›Systole und Diastole des menschlichen Geistes war mir, wie ein zweites Atemholen,niemals getrennt, immer pulsierend‹, so hat es J.W.v. Goethe sehr schön ausgedrückt(GOETHE 1963, Bd. 39: 183). Da sich im Bewusstsein alle diese Vorgänge in höchster Schnelligkeit,Subtilität und Komplexität ereignen, würde ein Darlegen <strong>der</strong>selben in ausformuliertenSätzen dieses große ›Zugleich‹ von allem – das war eine beliebte Formulierung von Novalis zurCharakterisierung <strong>der</strong> Natur (vgl. NOVALIS 1968: 130) – durch das Nacheinan<strong>der</strong> <strong>der</strong> vielenWorte zu sehr auseinan<strong>der</strong>reißen. Ich werde dir deshalb zunächst nur einzelne Stichwortegeben, die du dann selbst in deinem Bewusstsein in eine Bewegung, in einen dynamischenZusammenhang bringen musst. Meinst du, das gelingt dir?«, fragte sie mich.»Ich werde mich auf alle Fälle bemühen!«, antwortete ich ihr.»Beginnen wir mit <strong>der</strong> diastolischen Geste:• aus sich hinausgehen, sich öffnen, weiten, erschließen• in höchster Wachheit und Aufmerksamkeit sich hin-geben• sich freimachen:– von fixen Vorstellungen, die sich vor, also zwischen dich und den Gegenstand schieben undsomit die unvoreingenommene freie Sicht verstellen– von unbeweglichen, starren, das Einzelne von allem an<strong>der</strong>en nur abgrenzenden, isolierendenund daher letztlich oft inhaltslosen Begriffen – wie nannte es Johann Wolfgang vonGoethe doch einmal so treffend: ›lieber einen Inhalt ohne Form als eine Form ohne Inhalt‹• das ganze Bewusstsein als eine einzige, alles offen lassende, nichts vorherbestimmende, ausschließendeo<strong>der</strong> zensierende, also alles frei-gebende Frage• die Bemühung um ein äußerst behutsames, die An<strong>der</strong>sheit anerkennendes und achtendes,also vollkommen gewaltloses Berühren – von einer ›zarten Empirie‹ hat Goethe ge sprochen(GOETHE 1963, Bd. 21: 68; Bd. 39: 178)• eine Art liebevolles Umströmen, Umfließen, Umhüllen• sich einfühlen, nachempfinden• sich einbilden:– sich hinein in das An<strong>der</strong>e, das An<strong>der</strong>e in sich selbst hineinbildenInmitten dieser großen Diastole, dieses ›Unendlich-aus-sich-selbst-Heraus‹ beginnt nun diesystolische Gegenbewegung des ›Unendlich-in-sich-Hinein‹ einzusetzen.• Auf meine mich ganz hin-gebende Frage kommt von <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite her die Antwort: dasWort des an<strong>der</strong>en.• Ich werde ganz Ohr, reines empfangendes Wahrnehmen; dieses hat nichts zu tun mit Passivität,son<strong>der</strong>n ist höchste Sensibilität, innere Beweglichkeit, Beeindruckbarkeit, Fantasie,›produktive Einbildungskraft‹ (GOETHE, Bd. 39: 96)


59• Fülle <strong>der</strong> Eindrücke, Aspekte, Momente, Vorgänge• Erstaunendes Berührtwerden, Innewerden• Suche nach Einsicht, Erkenntnis, Verständnis• Frage nach den inneren Zusammenhängen• Behutsame gedankliche Tätigkeit des Unterscheidens und Zusammenfassens, <strong>der</strong> gedank -lichen Durchdringung• ›inneres Nachschaffen‹ (GOETHE): Strukturen und Ganzheiten suchen, konfigurieren,ordnen, nie gegen, vorbei, darüber hinweg, son<strong>der</strong>n immer im Dialog mit dem Phänomen;• bewegliche, geradezu ›flüssig-bleibende‹ Begriffe bilden, die – wenn sie zu starr gedacht werden– sofort zu einem ›toten Begriff‹ werden und damit ungeeignet sind für ein lebendigesInnewerden• immer flexibel und aufgeschlossen bleiben für neue Aspekte, innerlich bereit für vom Themagefor<strong>der</strong>te eventuelle UmstrukturierungenDies verlangt höchste Geistesgegenwart, so lange bis alle Einzelaspekte und Momente des Phänomensein stimmiges Ganzes bilden, eine ›gute Gestalt‹, so wurde das einmal genannt (WERT-HEIMER 1964).Geht es noch?«, fragte sie mich, »du musst jetzt die Geistesgegenwart aufbringen, von <strong>der</strong> ichsoeben gesprochen habe, um alles das gleichzeitig in deinem Bewusstsein präsent zu haben!«»Ja, Maja, ich glaube schon, dass ich alles ganz gegenwärtig habe, wie du es von mir gefor<strong>der</strong>thast«, antwortete ich ihr.»Hör zu! Von einem alten chinesischen Zen-Meister gibt es einen wun<strong>der</strong>baren Ausspruch: ›<strong>Das</strong>Rad des Geistes steht von Haus aus still, doch wenn’s sich dreht, dann nur nach beiden Seiten.‹(BI-YÄN-LU 1973, Bd. 1: 444) Genau so, wie sich in <strong>der</strong> Blüte <strong>der</strong> Sonnenblume die zwei Spiralsystememit ihren innerlich polaren Bewegungsrichtungen und entgegengesetzten Windungenüberlagern und gegenseitig durchdringen und auf diese Weise das höchst komplexe abervollkommene und wun<strong>der</strong>schöne Muster bilden, genau so muss das Bewusstsein die beidenpolaren Bewegungen des von innen nach außen und des von außen nach innen in einen allesübergreifenden Prozess zusammenbringen. Bei aller Dynamik und Intensität <strong>der</strong> verschiedens -ten komplexen Vorgänge kann sich dann eine Art klare Struktur, eine ruhende Ordnung einstellen,kein starres Gefüge, son<strong>der</strong>n eher ein einheitlich schwingendes, sensibles Feld. – Dukommst doch noch mit?«, hielt sie fragend inne.»Ich höre dir zu, und alles schwingt in mir!«, gab ich ihr zurück.»Wenn es gelingt, dieses geistige Feld des Bewusstseins in stimmige Resonanz, in Einklang mitden innersten Bildungsprinzipien, dem geistigen ›Wie‹ des zum Beispiel betrachteten Baumeszu bringen – und das meinte Goethe mit dem ›inneren Nachschaffen‹ –, dann wird sich das indir ereignen können, was ihr im Grunde genommen meint, wenn ihr sagt: ›Mir geht ein Lichtauf‹, o<strong>der</strong> ›Mir kommt eine Idee‹, o<strong>der</strong> ›Ich habe eine Eingebung‹ o<strong>der</strong> gar einen ›Einfall‹!– Warumsprecht ihr überhaupt in solchen Worten von diesem Vorgang, obwohl ihr doch eigentlich


60seit Prometheus und natürlich erst recht seit eurer mo<strong>der</strong>nen Gehirnforschung sagen müsstet:›Ich habe einen Einfall erfunden‹, o<strong>der</strong>: ›Ich habe Licht angemacht in mir, o<strong>der</strong> angezündet‹,o<strong>der</strong>: ›Ich habe eine Idee gemacht‹? – Hast du einmal wirklich darüber nachgedacht? Eure <strong>der</strong>zeitigeAuffassung von eurem eigenen Kopf, also eurem Gehirn und Bewusstsein, ist das einer›Produktionsstätte von Gedanken‹, eine Art ›Gedankenfabrik‹. Vielleicht gleicht das Bewusstseinjedoch viel eher einem Wahrnehmungsorgan im höheren Sinne! – Verstehst du auch wirklich,was ich mit all dem sagen will?«, und wie<strong>der</strong> blickte sie mich dabei sehr eindringlich mit großenoffenen Augen an.»Ich beginne zu ahnen, worauf du hinaus willst, aber so ganz durchschauen und ermessen kannich es noch nicht«, musste ich gestehen.»Dann wollen wir es einmal mit einer kleinen praktischen Übung bei dieser Kiefer dort drübenversuchen«, und sie deutete mit einer kleinen Bewegung ihres Kopfes auf eine größere, freistehendeKiefer. »Martin Buber, übrigens einer <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> einer Philosophie des Dialogs, hatein solches Geschehnis einst in treffenden Worten geschil<strong>der</strong>t. Höre zu!›Sieh diese Zirbelkiefer an. Du magst ihre Eigenschaften mit denen andrer Zirbelkiefern, andrerBäume, andrer Gewächse vergleichen, Gemeinsames und Ungemeinsames feststellen, du magsterkunden, woraus sie zusammengesetzt ist und wie sie geworden ist: <strong>Das</strong> wird dir in <strong>der</strong> nützlichenHilfswelt <strong>der</strong> Namen und Einteilungen, <strong>der</strong> Entstehungs- und Entwicklungsberichte nützlich sein,von <strong>der</strong> Wahrheit dieses Wesens erfährst du nichts. Und nun versuche dieser Zirbelkiefer selber zunahen. Nicht mit <strong>der</strong> Kraft des fühlenden Blickes allein – die könnte dir nur die Fülle eines Bildesschenken: viel, nicht alles. Nicht mit <strong>der</strong> Richtung des aufnehmenden Geistes allein – die könnte dirnur den Sinn <strong>der</strong> lebenden Gestaltung eröffnen: viel, nicht alles. Son<strong>der</strong>n mit all deiner gerichtetenKraft empfange den Baum, ergib dich ihm. Bis du seine Rinde wie deine Haut fühlst und dasAbspringen eines Zweiges vom Stamm wie das Streben in deinen Muskeln; bis deine Füße wieWurzeln haften und tasten und dein Scheitel sich wölbt wie eine lichtschwere Krone; bis du in denweichen blauen Zapfen deine Kin<strong>der</strong> erkennst, ja wahrlich bis du verwandelt bist. Aber auch in <strong>der</strong>Verwandlung ist deine Richtung bei dir, und durch sie erfährst du den Baum, dass du in ihm in dieEinheit gelangst. Denn es zückt dich in dich zurück, die Verwandlung löst sich wie ein Nebel, und umdeine Richtung bildet sich ein Wesen, <strong>der</strong> Baum, dass du seine Einheit, die Einheit erfährst. Schonist er aus <strong>der</strong> Erde des Raumes in die Erde <strong>der</strong> Seele gepflanzt, schon redet er seine Heimlichkeit andein Herz, schon gewahrst du das Mysterium des Wirklichen. War er nicht ein Baum unter Bäumen?Aber jetzt ist er <strong>der</strong> Baum des ewigen Lebens geworden.‹(Martin Buber, Daniel, aus BUBER 1919: 14)Nirgendwo habe ich es bisher schöner ausgedrückt gefunden. Und, Alexan<strong>der</strong>, ohne diesehöchste, wenn auch äußerste und vielleicht auch nur in wenigen Sternstunden erreichbare Möglichkeit,wäre alles sinnlos: eure ganze Existenz, vielleicht sogar die <strong>der</strong> Welt überhaupt!« Sie verstummteund verfiel in ein langes Schweigen, während ich regungslos sitzen blieb.Dann fuhr sie fort: »So eine Idee unterscheidet sich von euren zumeist isoliert und in sichabgeschlossen gedachten – und daher lei<strong>der</strong> zu oft leeren – Begriffen dadurch, dass sie sich


61immer in einer fast schon als lebendig zu charakterisierenden Beziehung zu allem an<strong>der</strong>en undfolglich in Resonanz zum Ganzen befindet. Merkst du, wie sehr sich das soeben über das Weseneiner Idee Gesagte wie<strong>der</strong> mit dem innersten Prinzip des Goldenen Schnitts berührt? Eine Ideekommt euch dann zu Bewusstsein, wenn eure Denkprozesse dem inneren ›Wie‹ des GoldenenSchnitts entsprechen!«»Du hast recht: Überall, an den entscheidenden Schnittpunkten und Berührungszonen tauchtdas innere ›Wie‹ dieses Prinzips auf; das ist schon erstaunlich!«, erwi<strong>der</strong>te ich ihr.»Komm! Steh auf! Wir wollen ein wenig weitergehen. Ganz in <strong>der</strong> Nähe fließt ein kleiner Fluss.Auf dem Weg dahin werde ich dir das Dargelegte noch ein wenig ergänzen, bevor wir dann endlichmit <strong>der</strong> Betrachtung <strong>der</strong> Schildkröte beginnen können.«Ich erhob mich vom Boden und wartete ab, in welche Richtung sie gehen würde, um ihr zufolgen.Nach einigen Minuten schweigenden Miteinan<strong>der</strong>gehens sagte sie dann: »Lies einmal zu Hausein Goethes Einleitung zu seinen botanischen Schriften nach, die er mit ›Bildung und Um -bildung organischer Naturen‹ überschrieben hat. Dort spricht er von einem ›wechselseitigenEinfluss‹ zwischen Mensch und Natur und einem ›doppelt Unendlichen‹, <strong>der</strong> unerschöpflichenFülle <strong>der</strong> Naturphänomene einerseits und <strong>der</strong> ›unendlichen Ausbildung‹ <strong>der</strong> inneren Möglichkeitendes Menschen zur Begegnung mit <strong>der</strong> Welt. (GOETHE 1963, Bd. 39: 7) In einer an<strong>der</strong>enkleinen Schrift Goethes, ›Polarität‹ betitelt, sind unter an<strong>der</strong>en Gegensatzpaaren aufgeführt:›Wir und die Gegenstände‹, ›Geist und Materie‹, ›Ideales und Reales‹, ›Atemholen‹. Durch eine›Steigerung‹ <strong>der</strong>selben, heißt es dort, könne das ›Getrenntsein‹ überwunden werden, sodass in<strong>der</strong> daraus hervorgehenden ›Verbindung‹ ein ›Neues, Höheres, Unerwartetes‹ erscheinen könne(GOETHE ebd. 173f.). Novalis sprach einmal von <strong>der</strong> ›Gedankenwelt‹ und <strong>der</strong>en ›Harmoniemit dem Universum‹ und dass sich auf dem Wege <strong>der</strong> Entwicklung einer ›schöpferischen Weltbetrachtung‹durch den Menschen eine ›Freude des Wissens und Wachens, eine innigere Be -rührung des Universums‹ erlangen lasse (NOVALIS 1968: 13). Doch wer berührt hier eigentlichwen? Spürst du das?«, wollte sie wissen.»Ja, ich verstehe, wie du das meinst: Es ist eigentlich eine doppelte gegenseitige Berührung. Ichberühre das Universum, und das Universum berührt zugleich mich«, antwortete ich ihr.»Genau so ist es! Bei Paul Valéry heißt es einmal: ›Meine Hand fühlt sich berührt, gleich wie sieberührt. <strong>Das</strong> eben heißt wirklich. Und sonst nichts.‹ (VALÉRY 1957: 69). Erst in dieser wechselseitigenBegegnung und Berührung ereignet sich Wirklichkeit. Und erst wenn alles in dir aufdiese Weise lebendig zu werden beginnt, erst dann hast du eigentlich im wahrsten Sinne desWortes ein Er-lebnis. In diesem auf dich einwirkenden Erlebnis <strong>der</strong> ›An<strong>der</strong>sheit des An<strong>der</strong>en‹(THEUNISSEN 1965 ), erfährst du eine ›Veran<strong>der</strong>ung‹ (ebd.) deiner selbst. Nur durch einesolche hindurch kann es zu einer Verän<strong>der</strong>ung kommen, kannst du zu einer lebendigen schöpferischenEntwicklung deiner eigenen Existenz finden. – Vielleicht spürst du jetzt auch ein wenig


62deutlicher, wie groß die inneren Gemeinsamkeiten zwischen einem lebendigen Denken undeinem künstlerisch-schöpferischen Prozess sind. Wie wir später noch sehen werden: We<strong>der</strong> dasDenken noch <strong>der</strong> kreative Prozess haben letztendlich etwas zu tun mit ›machen‹ o<strong>der</strong> her -stellen!«Schweigend ging sie einige Minuten weiter. Dann drehte sie wie<strong>der</strong> den Kopf zur Seite, michganz kurz anschauend, um sogleich wie<strong>der</strong> nach vorne zu blicken. Dann sagte sie im Gehen:»Ich hoffe doch sehr, dass du mir bis hierher so gut folgen konntest, dass dir jetzt mein vorherigerVergleich <strong>der</strong> Gedanken mit den Samenkörnern <strong>der</strong> Pflanzen ganz alleine und wie von selbstaufgeht, und dass ich dir das jetzt nicht mehr alles im Einzelnen darlegen und erläutern muss,o<strong>der</strong>?«Griechische Landschildkröte.»Doch, doch«, entgegnete ich ihr darauf, »du kannst ganz beruhigt weitergehen. Ich spüre sehrdeutlich, was du damit meinst und werde auch noch weiter darüber nachdenken. Wir könnendurchaus fortschreiten.«


63»Gut«, meinte sie daraufhin, »dann können wir ja jetzt mit <strong>der</strong> Betrachtung <strong>der</strong> Schildkrötebeginnen. Aber lass uns erst eine Zeit lang stillschweigend zusammen durch den Wald gehen.«Nachdem wir ein Stück weit gegangen waren, hielt sie unter einem über dem Weg liegenden Astan und begann, ihren Panzer an diesem zu reiben, sodass man den Eindruck haben konnte, siewürde sich kratzen. Ich schaute ihr erstaunt zu und fragte sie ganz verwun<strong>der</strong>t: »Was machst dudenn da? Man könnte ja fast meinen, du kratzt dich. Aber das kann bei deinem harten Panzerwohl nicht sein!«»Selbstverständlich kratze ich mich, was sonst!«, gab sie mir zur Antwort. »Ihr meint natürlichwie<strong>der</strong>, wegen meines festen, dicken Panzers wäre ich an meiner Außenseite gefühllos! – Siehstdu, das ist jetzt ein sehr gutes Beispiel für eine falsche Vorstellung, für eine äußerst unvollständigeBegriffsbildung zum Thema ›Schildkröte‹!« Worauf sie mit ihren Kratzbewegungen fortfuhr,bis sie schließlich weiterging.»Zur MorphologieWenn <strong>der</strong> zur lebhaften Beobachtung aufgefor<strong>der</strong>te Mensch mit <strong>der</strong> Natur einen Kampf zubestehen anfängt, so fühlt er zuerst einen ungeheuren Trieb, die Gegenstände sich zu unterwerfen.Es dauert aber nicht lange, so dringen sie <strong>der</strong>gestalt gewaltig auf ihn ein, dass er wohl fühlt,wie sehr er Ursache hat, auch ihre Macht anzuerkennen und ihre Einwirkung zu verehren. Kaumüberzeugt er sich von diesem wechselseitigen Einfluss, so wird er ein doppelt Unendliches gewahr:an den Gegen ständen die Mannigfaltigkeit des Seins und Werdens und <strong>der</strong> sich lebendig durch -kreuzenden Verhältnisse, an sich selbst aber die Möglichkeit einer unendlichen Ausbildung, indemer seine Empfänglichkeit sowohl als sein Urteil immer zu neuen Formen des Aufnehmens undGegenwirkens geschickt macht.«(J. W. v. GOETHE 1963, Bd. 39: 7)


Die beiden Gedichte auf demBild lauten:»Die mit mehreren tausendJahren gesegnete Schildkrötekommt langsam wie einKind daher und spricht Glück -verheißendes.«»Stärker noch als die tausendJahre lang schlagenden Flügeldes vorbeiziehenden Kranichsist die zehntausendjährigeSchildkröte.«AnschauungDie Schildkröte als Urinsel im Weltenmeer»Die Tiere sind Hieroglyphen, welche <strong>der</strong>Weltsprache entstammen; sie sind auch Siegel,welche zum Weltall und seinen Spiegelungenführen. Diese öffnen sich dem, welcher dieTiere liebt.«(Hans JENNY)


65So liefen wir ohne Worte eine Weile nebeneinan<strong>der</strong> durch den Wald, sie für ihre Verhältnisseziemlich schnell, ich dagegen ohne jegliche Eile, ganz langsam, um neben ihr zu bleiben.Allmählich begann sich <strong>der</strong> Wald zu lichten und auch die dichten Sträucher wurden immerseltener, sodass wir nach einiger Zeit in offenerem Gelände auf einen kleinen Fluss hinabschauenkonnten, <strong>der</strong>, etwas unter uns gelegen, durch die morgendliche Landschaft dahinfloss. Dablieb sie stehen, schaute hinunter und sagte: »Am Ufer eines solchen Flusses ist er vor Tausendenvon Jahren gesessen.«»Von wem sprichst du?«, fragte ich.»Lass uns erst einmal hinuntergehen«, sagte sie ganz bedächtig und dennoch spürte ich, dass sieinnerlich unruhig war. Schließlich gelangten wir hinunter an das Ufer und schauten hinaus aufdie langsame Strömung in <strong>der</strong> Flussmitte, wo gerade zwei Kraniche über das Wasser dahinschwebten.Da senkte sie ihren Kopf und blickte in das Wasser hinein, das an dieser Stelle aufgrundeiner größeren Einbuchtung des Ufers fast keine Strömung zeigte. »Da, schau!«, sprachsie auf einmal in flüsterndem Ton und deutete hinab unter die Wasseroberfläche. Zwischen grünenWasserpflanzen erblickte ich einige dunkle Wasserschildkröten. »Nicht bewegen, sonst tauchensie sofort weg und verschwinden! – Wir wollen ihnen ein wenig zuschauen«, sagte sie wiebeglückt.So verharrten wir regungslos und still, ganz versunken in den Anblick <strong>der</strong> Schildkröten in <strong>der</strong>Tiefe des Wassers, bis sich diese allmählich entfernt hatten. Dann hob sie ihren Kopf, schautemich an und sagte: »Lass uns dorthin, zu diesem kleinen Sandhügel am Ufer gehen, dort kannstdu dich hinsetzen.«Als wir dort angelangt waren und ich mich nie<strong>der</strong>gelassen hatte, begann sie in einem geradezufeierlichen Ton zu sprechen: »Am Ufer eines solchen Flusses ist er vor Tausenden von Jahrengesessen, als aus dem Wasser eine Schildkröte an Land gekrochen kam. Er hat sie lange angeschaut... und dann hat er auf dem Rücken ihres Panzers die ganze Welt entdeckt.«»Wen meinst du denn? – Sag es mir doch endlich!«, for<strong>der</strong>te ich.Wasserschildkröten.Japanischer Holzschnitt vonGakutei Harunobu (ausSHONO-STADEK, 1991: 93).»Ich spreche von dem sagenumwobenen ›Fu-Hsi‹, o<strong>der</strong> auch ›Fuxi‹, halb göttlich-mythischesWesen mit Menschenkopf und Schlangenleib, halb Mensch, und als solcher einer <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>des Reiches <strong>der</strong> Mitte und als einer <strong>der</strong> ersten Kaiser angesehen und verehrt. (FIEDELER1995: 41f.) Ihm haben sich nach eingehen<strong>der</strong> Betrachtung <strong>der</strong> son<strong>der</strong>baren Linien und Strukturenauf dem Panzer dort die geheimnisvollen Zeichen <strong>der</strong> späteren Trigramme aus demberühmten chinesischen ›I-Ging‹, o<strong>der</strong> ›Yijing‹ offenbart – dem ›Buch <strong>der</strong> Wandlungen‹ wie esgenannt wird, <strong>der</strong> sich ständig wandelnden Bezüge und Verhältnisse von Himmel und Erde, vonMakrokosmos und Mikrokosmos (WILHELM 1970).Nicht nur, dass sich in <strong>der</strong> Gestalt meines Panzers diese zwei grundlegenden Weltaspektespiegeln, im gewölbten Rücken <strong>der</strong> Himmel und im flachen Bauch die Erde, son<strong>der</strong>n das klareMuster auf meinem Rücken galt als ein Abbild <strong>der</strong> inneren Weltordnung. An einem Nebenfluss


66211 Schriftzeichen für »Lang-lebigkeit« (aus LESSING 1934:76, 23).2 Der legendäre chinesischeKulturschöpfer Fu-Hsi entdeckt,an einem Fluss sitzend, auf demRücken einer Schildkröte dasGrundprinzip des I-Ging. MaLin, Farbe und Tusche auf Seide,Mitte 13. Jahrhun<strong>der</strong>t, NationalPalace Museum, Taipei (ausSCHAFER 1968: 10).des Gelben Flusses soll auch einst auf einer Schildkröte das berühmte Zahlen-Quadrat erschienensein, das lange Zeit als das universale Modell <strong>der</strong> Welt angesehen wurde (vgl. SCHAFER1968: 102).Du musst wissen, es gibt eine ganz beson<strong>der</strong>e Beziehung von uns Schildkröten zu den Formenund Signaturen <strong>der</strong> Schriftzeichen; auf Schildkrötenknochen, die man damals für Orakelzweckebenutzt hat, finden sich die ersten Anfänge von Schrift überhaupt. Eines <strong>der</strong> von denalten Chinesen beson<strong>der</strong>s geschätzten Schriftzeichen, jenes für ›Langlebigkeit‹, erinnert tatsächlichsehr stark an eine Schildkröte.«»Auf dem Rücken einer Schildkröte sollen Schriftzeichen erschienen sein?«, fragte ich sie ganzverwun<strong>der</strong>t.»Nein, sie sind nicht dort erschienen, wie bei Momos ›Kassiopeia‹, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Rückenpanzerselber mit seinen Linien bildet verschiedenste Zeichen und stellt auf diese Weise eine Art Schriftdar«, sagte sie sehr deutlich und bestimmt. »Ihr Menschen habt mir doch – zumindest in eurem


67132deutschen Sprachraum – den tiefsinnigen Namen ›Schild-Kröte‹ gegeben! – Was ist denn einSchild?«»Ein Schild ist ein Schutz, etwas, hinter dem man sich verbergen und eine Bedrohung abwehrenkann«, antwortete ich ihr.»Und, weiter?!«, fügte sie schnell hinzu.»Wie, weiter?«, gab ich achselzuckend zurück.»Was ist denn ein Schild noch?«, entgegnete sie schon ein wenig ungeduldig.»Aha, jetzt verstehe ich«, sagte ich daraufhin. »Du meinst ein Schild, eine Tafel, auf <strong>der</strong> Zeichen,Symbole o<strong>der</strong> eine Schrift zu sehen sind, die auf etwas hinweisen o<strong>der</strong> hindeuten, wie Schil<strong>der</strong>mit Straßennamen o<strong>der</strong> Verkehrsschil<strong>der</strong>.«1 Die acht Trigramme desI-Ging (aus LESSING 1934: 82).2 <strong>Das</strong> berühmte Zahlenquadratauf dem Rücken einer Schildkröte(aus SENDA 2001: 87).3 Inschrift auf einem Schild -krötenpanzer (aus LINDQUIST1990: 18).»Ein Schild war ursprünglich ein aus möglichst wi<strong>der</strong>standsfähigem Material gefertigter Schutzzur Abwehr von Verletzungen, eine Deckung, hinter <strong>der</strong> man sich verbergen und folglich geborgenfühlen konnte. Gleichzeitig waren auf den früheren Schilden Wappen o<strong>der</strong> Symbole, diegewisse Rückschlüsse zuließen auf die sich dahinter befindende Person. Ein Schild ist also beideszugleich: ein feindliche Übergriffe abwehren<strong>der</strong> Schutzschild für etwas leicht Verwund baresund ein – wenn auch verschlüsselter – Hinweis auf ein sich dahinter Verbergendes. Ein Schild istein äußeres Zeichen mit Bedeutung: Es deutet auf ein Wesen hin, verbergend und offenbarendzugleich. Ich werde nun versuchen, dir darzulegen, was dir mein Schildkrötenpanzer alles vonmeinem Inneren schil<strong>der</strong>t und offenbart.«


68Sie hielt ein wenig inne, schien zu überlegen und fuhr dann fort: »Übrigens, da fällt mir geradeetwas sehr Interessantes in diesem Zusammenhang ein: Einer <strong>der</strong> berühmtesten Universitäts -professoren <strong>der</strong> Semiotik – das ist die Lehre von <strong>der</strong> Bedeutung von Zeichen, Schriften und Texten– hat eines Tages angefangen, einen großen Roman zu schreiben und nicht mehr nur wissenschaftlicheTexte. Es war Umberto Eco, <strong>der</strong> Verfasser des bekannten Buches ›Der Name <strong>der</strong>Rose‹. In einem Interview wurde er einmal gefragt, wie er als Wissenschaftler und Professor aufeinmal dazu käme, einen Roman zu schreiben? Er meinte dann, dass er im Laufe seiner wissenschaftlichenForschungen zu Ergebnissen und Einsichten gelangt sei, die für eine angemesseneDarstellung eine vollkommen neue Ausdrucksform verlangten, weil die übliche wissenschaftlicheSprache ihnen nicht mehr gerecht würde! – Du siehst, man beginnt allmählich zu spüren,dass die alten Formen zu eng werden und zuviel von <strong>der</strong> Wirklichkeit unterbinden und unterdrücken!«»Was du von Umberto Eco erzählst, ist sehr interessant«, sagte ich daraufhin. »Aber Maja, wennich mir jetzt deinen Panzer anschaue, so kann ich nirgendwo etwas von den Trigrammen desI-Ging erkennen! Wo soll Fu-Hsi denn diese gesehen haben?«, fragte ich sie.»Ich habe mir schon fast gedacht, dass auch du, wie ihr so schön zu sagen pflegt, ›ein Brett vordem Kopf hast‹! Jetzt ist alles ganz konkret von dir gefor<strong>der</strong>t, was ich dir zuvor über das lebendigeDenken dargelegt habe. Alle Beweglichkeit, Spannkraft und Fantasie deines Denkensmusst du nun aufbringen, um zum ›ursprünglichen Sinn‹ <strong>der</strong> Dinge hinzufinden. In einemseiner kostbarsten Fragmente hat Novalis in einmaliger Weise beschrieben, worauf es ankommt,und was du jetzt leisten musst. Höre genau hin: ›Die Welt muss romantisiert werden. So findetman den ursprünglichen Sinn wie<strong>der</strong>. Romantisieren ist nichts als eine qualitative Potenzierung... Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, demGewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, demEndlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es …‹ (NOVALIS 1968: 424)Von euren hochgebildeten Wissenschaftlern wird ein solches Vorgehen natürlich mitEmpörung als vollkommen unwissenschaftlich abgelehnt, da hier dem objektiv zu erforschendenObjekt zuviel o<strong>der</strong> überhaupt nur Subjektives beigemischt und dadurch die ›objektive‹Wirklichkeit völlig verfälscht werde. Aber ist es nicht seltsam: Die von den genau so argumentierendenMenschen täglich betriebene Reduzierung und damit Depotenzierung <strong>der</strong> Phänomeneauf das bloß Quantitative gilt nicht als unwissenschaftlich, nur <strong>der</strong> von Novalis angeregteumgekehrte Weg!«»<strong>Das</strong> stimmt, da muss ich dir vollkommen recht geben!«, fügte ich hinzu.Krieger mit symbolischenWappenzeichen auf seinemSchild. Etruskische Stele,um 650 v. Chr. (aus BACON1963: 191).»Es geht Novalis dabei gar nicht um eine äußerliche Aufblähung des Bewusstseins o<strong>der</strong> gar umeine Inflationierung <strong>der</strong> Denkprozesse, son<strong>der</strong>n um eine Steigerung <strong>der</strong> Bewusstheit hin zueiner freieren Durchlässigkeit und Durchsichtigkeit hin auf vollkommen ungewohnte Aspekte,Dimensionen und Wirkungsweisen. J.W.v. Goethe hat es einmal sehr schön ausgedrückt, als ersagte, man müsse sich die ›Wissenschaft notwendig als Kunst denken, wenn wir von ihr irgendeineArt von Ganzheit erwarten ... Um aber einer solchen For<strong>der</strong>ung sich zu nähern, so müsste


69man keine <strong>der</strong> menschlichen Kräfte bei wissenschaftlicher Tätigkeit ausschließen. Die Abgründe<strong>der</strong> Ahnung, ein sicheres Anschauen <strong>der</strong> Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit,Höhe <strong>der</strong> Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Fantasie, liebevolleFreude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifendes Augenblicks.‹ (GOETHE 1963, Bd. 39: 148f.) Sind das nicht alles wun<strong>der</strong>schöne Gedanken?«,fragte sie mich, innerlich sichtlich bewegt.»Ja, es ist, als würde durch solche Worte von Novalis und Goethe ein Tor aufgestoßen: Eine neueWeite und Tiefe eröffnet sich, ein an<strong>der</strong>es Licht beginnt, alles zu beleuchten. Es ist eine Befreiung,fast wie eine Erlösung – als wüsste unser Inneres um diese Möglichkeit, aber in all den Jahrendes Lernens vom bloßen Verstandeswissen haben wir das Vertrauen, ja den Glauben an dieseeigene Fähigkeit verloren und trauen uns schon gar nicht mehr, in einer solchen ganz an<strong>der</strong>enWeise die Welt denkend verstehen zu wollen o<strong>der</strong> gar davon zu sprechen. Aber jetzt, solche Wortehörend, atmet alles auf in einem, erwacht, fühlt sich befreit und ist bereit«, brach es aus mirhervor.Griechische Landschildkröte.»Dann lass uns nun in dieser freudig-erwartungsvollen Stimmung beginnen, und zwar beidemjenigen Aspekt meines Erscheinungsbildes, <strong>der</strong> sich dir von selbst zeigt: dem Rücken meinesPanzers! Er ist wie das Gesicht eines Menschen, in dem du vieles – wenn auch nicht alles –


701lesen kannst; und tatsächlich gibt es immer wie<strong>der</strong> Darstellungen von Künstlern, bei denen aufmeinem Rücken eine Physiognomie erscheint!«, mit diesen Worten leitete Maja die lange undviele ungeahnte Räume und Zeiten durchwan<strong>der</strong>nde Betrachtung ihrer eigenen <strong>Das</strong>einsgestaltein.Ich begann allmählich zu verstehen, warum für einige Indianer Nordamerikas ›Misheekaehn‹o<strong>der</strong> ›Makinak‹, wie sie die Schildkröte nannten, eine Art ›Botschafter‹ war, ein ›Medium <strong>der</strong>Kommunikation zwischen den Wesen dieser Welt und Zeit und Wesen an<strong>der</strong>er Welten und Zeitdimensionen‹.(JOHNSTON 1994: 286).1 <strong>Das</strong> »Gesicht« des Schild -krötenrückens. Plastik»Zeitgeist« von Ruth Jäger,München, SammlungKlaus Lurati, München.»Die Natur«, so begann sie zu berichten, »hat immer wie<strong>der</strong> in den verschiedensten Formen undGestalten ein empfindsames, lebendiges Inneres durch harte und feste Schalen zu umhüllen undzu schützen verstanden; denn, wie J.W.v. Goethe es so treffend charakterisiert hat: ›Die ganzeLebenstätigkeit verlangt eine Hülle, die gegen das äußere rohe Element, es sei Wasser o<strong>der</strong> Lufto<strong>der</strong> Licht, sie schütze, ihr zartes Wesen bewahre, damit sie das, was ihrem Innern spezifischobliegt, vollbringe ... Alles was zum Leben hervortreten, alles was lebendig wirken soll, muss eingehülltsein.‹ (GOETHE 1963, Bd. 39: 12)Ganz beson<strong>der</strong>s denke ich hier an die vielen Formen <strong>der</strong> Samenkapseln und Nussschalenim Pflanzenreich, an die frühesten einzelligen Planktonlebewesen, an die Muscheln undSchnecken, Trilobiten, Schwertschwänze … ebenso an die Gürteltierarten und die altweltlichen2 Frühe Formen starkbeschuppter Reptilien (ausHAUBOLD 1981: 14, 131).2


71211 Dornschwanz(aus MÜLLER 1994: 423).2 Skelette von Strahlentierchen(aus SCHMEIL 1969: 319).3 Gehäuse und Schalenverschiedener Meerestiere(aus PORTMANN 1965: 96, 123).34 Schuppentier(aus WOLF 1988: 85).4


721 23Schuppentiere; und dann an die vielen Urformen von Tierarten, die schon sehr an uns spätereSchildkröten erinnern, sich aber doch nicht dazu weiterentwickelt haben (OBST 1985;GRZIMEK 1969, Bd. 6: 162f.) und zuletzt an uns Schildkröten selbst!In den Anfangszeiten unserer Entwicklung war das Muster unserer Schildplatten auf demRücken noch eher unbestimmt; aber schon sehr bald hat sich dann die heutige Struktur undAnordnung klar herauskristallisiert. Dieses Muster ist seit Jahrmillionen unverän<strong>der</strong>t und weistnur bei einigen wenigen Arten gewisse kleinere Abweichungen auf; o<strong>der</strong> es fehlt völlig, wie beiden Weichschildkröten und einer <strong>der</strong> großen Meeresschildkröten. Bis auf ganz individuelle,kurzzeitige Variationen – Mutationen nennt ihr das – stellt dieses Muster für uns ein markantesund signifikantes Zeichen unseres Wesens, unseres Typus dar. Der Schein ist eben dem Wesenwesentlich, o<strong>der</strong> wie Goethe das einmal ausgedrückt hat: ›Der Schein, was ist er, dem das Wesenfehlt? – <strong>Das</strong> Wesen, wär’ es, wenn es nicht erschiene?‹ (GOETHE o.J., Bd. 6: 284)Auch Adolf Portmann hat in seinem Buch über die Tiergestalt darauf hingewiesen, dass esdarauf ankommt, ›gerade die Erscheinung, die unser Auge schaut, als das Bedeutsame‹ aufzufassenund diese ›nicht zu einer bloßen Hülle‹ zu entwerten, ›die unserem Blick das Wesentlicheverbirgt‹. (PORTMANN 1965: 36)«Sie schien ein wenig nachzudenken und fuhr dann fort: »Ich werde mich jetzt immer wie<strong>der</strong>so zu dir hindrehen, dass du meinen Rücken gut betrachten kannst; auf diese Weise kann ichaußerdem diesen etwas schräg stellen und so noch besser die wärmenden Sonnenstrahlen einfangen– das ist mir nämlich ein zutiefst inneres Bedürfnis. – Und noch etwas: So bist du immerhinter mir und ich vor dir. Vielleicht bin ich euch ja tatsächlich immer ein kleines Stück voraus,genau so, wie die berühmte Schildkröte des alten griechischen Philosophen Zenon, die sogardem schnellen Achilleus immer voraus war.«Daraufhin drehte sie sich weg und brachte sich mir gegenüber in die von ihr beschriebeneStellung. Dann hob sie ihren Kopf, wandte ihn ein wenig zur Seite, damit sie mich über ihrenRücken hinweg sehen konnte und sprach: »Ich hoffe doch sehr, du gehst nicht davon aus, dassich dir nun alles fertig präsentieren werde, o<strong>der</strong>?«»Nein, nein, das habe ich nicht erwartet«, antwortete ich ihr schnell.1 Mögliche Urschildkröte(aus HAUBOLD 1981: 55).2 Gehörnte Schildkröte(aus SCHLEICH 1980, Abb. 9).3 Vermutete Vorformen<strong>der</strong> heutigen Schildkröten(aus HAUBOLD 1981: 55, 72).»<strong>Das</strong> ist auch gut so! Wir werden das jetzt zusammen entwickeln, indem ich dir immer wie<strong>der</strong>Fragen stelle. – Also: Sage mir, was du alles siehst, wenn du meinen Rücken betrachtest!«, sprachsie und richtete ihren Kopf wie<strong>der</strong> nach vorne, meine Antwort abwartend.»Ich sehe mehrere, deutlich voneinan<strong>der</strong> abgegrenzte und zugleich eng aneinan<strong>der</strong>gefügte Fel<strong>der</strong>.Dabei fällt mir auf, dass manche Linien ganz geradlinig verlaufen, was eigentlich für Formentierischer Körper eher ungewöhnlich ist«, antwortete ich ihr.


731423 31 Trias-Schildkröte(aus PRITCHARD 1979: 75).52–5 Senegal- (2) und Pfauen -augen-Weichschildkröte (3),Bastardschildkröte (4) undLe<strong>der</strong>schildkröte (5) (ausWERMUTH 1996: 241, 251,272, 243).


7411 Musterungen von Schild -krötenpanzern (aus WERMUTH1996: 330, 23).2 Mutationsformen desregulären Musters beiGriechischen Landschildkröten.3 Der Grundtypus desMusters bei <strong>der</strong> Griechischen2 Landschildkröte.3


76»<strong>Das</strong> ist gut beobachtet, wir sollten das im Gedächtnis behalten, denn es ist sehr wichtig! Ichmöchte jetzt aber erst einmal mit dir von <strong>der</strong> Betrachtung des Ganzen ausgehen, bevor wir unseinzelne Aspekte genauer ansehen und dann auch sicherlich Fu-Hsis Trigramme entdeckenwerden. Kannst du unter den vielen Fel<strong>der</strong>n und Linien irgendwelche größeren, übergreifendenStrukturen feststellen?«, fragte sie daraufhin ganz geduldig.»Zunächst einmal ist da eine durchgehende, etwas vom äußeren Rand zurückgesetzt verlaufendeund die Umrisse des Panzers aufnehmende Linie, die den Rand deutlich von einem mittlerenTeil abgrenzt«, sagte ich ihr.»Sehr schön«, rief sie aus, »diese Linie ist ganz entscheidend! Du musst nämlich wissen, dass sichunter den sichtbaren äußeren Hornplatten ein knöcherner Panzer befindet, <strong>der</strong> ebenso aus vieleneinzelnen Platten zusammengesetzt ist, ganz ähnlich euren Schädelknochen. Diese Knochenplattenhaben jedoch eine völlig an<strong>der</strong>e Glie<strong>der</strong>ung und Verteilung als die darüberliegendenHornplatten, sodass die Nahtlinien <strong>der</strong> Knochen- und <strong>der</strong> Hornplatten immerunterschiedlich verlaufen. Nur bei <strong>der</strong> von dir soeben hervorgehobenen Linie sind beide Linienverläufeidentisch – mit <strong>der</strong> einzigen Ausnahme bei <strong>der</strong> großen fünfeckförmigen Hornplattedes Innenteils vorne am Kopf: Diese Platte überlappt jenen Linienverlauf. Also: Dieser Liniekommt eine grundsätzliche Bedeutung zu. Beschreibe mir einmal genau, was sich außerhalbdieser befindet.«Ich bemühte mich, genauer hinzuschauen und begann, die einzelnen Schilde am Rand zuzählen. »Außen herum ist eine größere Vielzahl kleinerer Platten, <strong>der</strong> Innenteil dagegen hat weniger,aber großflächigere Platten. Außen sind auf je<strong>der</strong> Seite 12 Schilde, also 24 insgesamt, miteinem zusätzlichen, ganz kleinen und spitzen Schild direkt über deinem Nacken.«»Dieses kleine Nackenschild wird uns später noch beschäftigen. Nicht alle Schildkrötenartenbesitzen es, auch wenn die Verteilung aller übrigen Schilde fast völlig identisch ist. Kommen wirzurück zu den 24 Randschilden – auch wenn es da bei einigen Arten gewisse Unterschiede gibt.Fällt dir dazu etwas ein?«, fragte sie.1»Wie meinst du das?«, fragte ich zurück.1 Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Hornplattenim Unterschied zum darunterliegendenKnochenpanzer(aus THOMSON 2006: 461).2 Verlauf <strong>der</strong> Hauptwachstumsrilleauf dem Rücken; sietrennt den Innenteil vomAußenring.3 Kleines Nackenschild. 2 3


77Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Hornplattenim Unterschied zum darunterliegendenKnochenpanzer.»Romantisieren, Alexan<strong>der</strong>, potenzieren! ›Dem Gemeinen einen hohen Sinn geben!‹ – <strong>Das</strong> hatdir doch bei Novalis so gut gefallen! Und jetzt wird’s konkret!«, rief sie mir daraufhin laut undherausfor<strong>der</strong>nd zu, ohne mich jedoch anzuschauen, den Kopf nach vorne gerichtet.Ich blickte erneut auf das Muster <strong>der</strong> vielen Linien und Flächen und versuchte herauszufinden,was sie meinen konnte. Nachdem ich einige Zeit wortlos schwieg und nichts zu antwortenvermochte, sagte sie: »›Dem Endlichen einen unendlichen Schein‹ geben! Ist denn das soschwer für euch? Vielleicht hilft dir zum Anfangen eine kleine methodische Anleitung aus GoethesFarbenlehre weiter: ›Bei einer Erscheinung <strong>der</strong> Natur, beson<strong>der</strong>s aber bei einer bedeutenden,auffallenden, muss man nicht stehen bleiben, man muss sich nicht an sie heften, nicht anihr kleben, sie nicht isoliert betrachten, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> ganzen Natur umhersehen, wo sich etwasÄhnliches, etwas Verwandtes zeigt; denn nur durch Zusammenstellen des Verwandten entstehtnach und nach eine Totalität, die sich selbst ausspricht und keiner weiteren Erklärung bedarf.‹(GOETHE 1980, Bd. I: 131) – Du siehst, was man bei dem alten Meister so alles Wichtiges findenkann! Also, sprich einfach aus, was dir einfällt! Und zensiere nicht schon wie<strong>der</strong> im Voraus.Wir können später immer noch alles nicht so ganz Stimmige verwerfen! Vielleicht hilft es dir weiter,wenn du die Struktur meiner Panzeroberfläche einmal als die Struktur einer räumlichgewölbten Kuppel o<strong>der</strong> Kugel betrachtest, o<strong>der</strong> auch als Sinnbild eines flächigen Musters, wiezum Beispiel die Fellzeichnung eines Tieres o<strong>der</strong> den Grundriss einer Stadt, aber auch als dasMuster eines Schnittbildes, das sich zeigt, wenn du beispielsweise eine Frucht aufschneidest.«


781 2Ich dachte noch ein wenig nach. Dann fiel mir eine alte Vasenmalerei ein: »Es gibt eine früheDarstellung einer Schildkröte, auf <strong>der</strong> die Form des Panzers kreisrund und das äußere Band <strong>der</strong>24 Schilde als ein Ring mit einem mäan<strong>der</strong>ähnlichen Muster zu sehen ist.«3»Sprich nur weiter. Aufgrund meiner ganz beson<strong>der</strong>s ausgeprägten inneren Einbildungskraftund <strong>der</strong> unauslöschlichen Erinnerung an alle je Form gewordenen Zeichen, Muster und Bil<strong>der</strong>sehe ich alles sehr deutlich vor mir. Es gibt übrigens ein sehr ähnliches Bild auf dem Boden eineralten chinesischen Bronzeschale. Da ist <strong>der</strong> mittlere Bereich des Panzermusters sogar als eineSpirale dargestellt«, fügte sie hinzu. »Wir haben also ein Rundes, einen Ring außen herum, <strong>der</strong>einen Innenraum umfasst, umschließt und in diesem Innen geschieht etwas, o<strong>der</strong>?«1 Siedlungsstruktur einesmexikanischen Fischerdorfes(Foto: Precision Ltd., ausMICHELL 1989: 25).2 Kuppel <strong>der</strong> Blauen Moscheein Isfahan, Iran.3 Oberfläche einer Melone.4 Angeschnittene Melone.4»Ja, das ist so«, antwortete ich ihr. »Der altindische ›Shiva nataraja‹, <strong>der</strong> den ganzen Kosmos alsden Tanz eines Gottes verkörpert, tanzt doch auch innerhalb eines solchen Ringes; dieser istdazu noch voller Flammen.«»<strong>Das</strong> mit dem Shiva ist ein sehr gut passendes Beispiel. Jedoch: Nicht einfach ›voller Flammen‹ist dieser Ring, son<strong>der</strong>n nach <strong>der</strong> ursprünglichen Auffassung und Regel müssen es zusammenmit <strong>der</strong> einen Flamme, die er in <strong>der</strong> rechten Hand hält, genau 24 sein, hörst du, 24! – Auch wennsich später nicht mehr alle Künstler daran gehalten haben«, fügte sie eilends hinzu.»Meinst du, das hat etwas mit unseren 2 ×12 = 24 Stunden zu tun«, fragte ich erstaunt.»Vielleicht nicht unbedingt mit euren 24 irdischen, kleinen Stunden, vielleicht jedoch mit größerenRhythmen einer an<strong>der</strong>en Zeit; so hat ja das Jahr zwölf Monate, also zwölf Vollmonde undzwölf Neumonde. O<strong>der</strong> denke einmal an die zwölf Tierkreiszeichen. Es gibt da auch einen sehrschönen Kalen<strong>der</strong>stein <strong>der</strong> alten Azteken. Dieser hat zwar nicht die Form einer Schildkröte undkeine 24 Fel<strong>der</strong>, er ist aber auch so ringförmig aufgebaut und mit beson<strong>der</strong>en Fel<strong>der</strong>n in <strong>der</strong>


792 311 Verzierung auf dem Bodeneiner altchinesischen Bronzeschale(aus LINDQUIST 1990:78).2 Stilisierte Schildkröte(aus SÜSS 1991: 12).3 Tanzen<strong>der</strong> Shiva Nataraja.Südindische Bronze, MuseumRietberg, Zürich (ausSCHAVERNOCH 1981: 195).4 Brettmaske. AfrikanischeHolzschnitzerei, Elfenbeinküste,Sammlung Lurati.4


80Mitte. Außerdem gibt es ein altes tibetisches, astrologisches Orakel in <strong>der</strong> Gestalt einer Schildkröte,<strong>der</strong>en Ringfel<strong>der</strong> tatsächlich mit Tierkreiszeichen besetzt sind!«, fügte sie hinzu.Wie<strong>der</strong> betrachtete ich ihren Rücken und ließ das zeichenhafte Ornament zu mir sprechen.Dann erinnerte ich mich an die Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Navajo-Indianer und sagte: »Mir kommen geradeeinige jener geheimnisvollen Sandbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Navajos in den Sinn, die oft sehr ähnlich aufgebautsind. Dort ist <strong>der</strong> alles umfassende Ring durch eine große, oft schwarze Schlange dargestellt, in<strong>der</strong> Mitte treffen dann nicht selten vier spiralartig gewundene Schlangen aufeinan<strong>der</strong>; diesekönnten vielleicht die vier Himmelsrichtungen symbolisieren, die Ordnung unserer hiesigenWelt, o<strong>der</strong>?«»Nur weiter so! Allmählich beginnen sich die Formen mit Inhalten zu füllen; die inneren Aspektekönnen gar nicht reichhaltig und vielfältig genug sein!«, sagte sie freudig gestimmt. »Mankönnte sich auch eine große, zwölfgliedrige Schlange denken, die – ähnlich einem altsumerischenSchöpfungsmythos – <strong>der</strong> Länge nach geteilt wird, sodass auf diese Weise ein Zwischenraumentsteht, <strong>der</strong> so von einem 24-gliedrigen Ring eingefasst wird.«»Von M.C. Escher gibt es ein sehr ähnliches Motiv: Drei große Schlangen am Rand sind dort inein Gewirr von vielen kleinen Kreisringen eingeflochten«, fügte ich hinzu.Aztekischer Kalen<strong>der</strong>, aufgeteiltin dreizehn mal zwanzigTage (aus ENDRES 1998: 244).»M.C. Escher«, und dann hielt sie einen Moment inne, »einer <strong>der</strong> großen Meister in <strong>der</strong> Kunst<strong>der</strong> Gestaltung und Glie<strong>der</strong>ung von Flächen. <strong>Das</strong> Interessante an dem von dir angesprochenenBild – es ist übrigens das letzte seiner faszinierenden Werke – sind nicht die drei Schlangen


812131 Sandbil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Navajo-Indianer (aus PURCE 1974,JAFFE 1983: 88).2 Die Aufspaltung undZerteilung <strong>der</strong> Ur-Schlange.3 »Schlangen« von M. C. Escher(aus ESCHER 1971: 270).4 »Kreislimit I«, 1958,von M. C. Escher (aus ESCHER1971: 233).4


82selbst, son<strong>der</strong>n das ›Gewirr‹, wie du es nennst. Dieses ist aber kein bloßes ›Gewirr‹, son<strong>der</strong>n einenach einem sehr komplexen Prinzip aufgebaute Struktur mit einem tiefen philosophischen Hintergrund.Was Escher in vielen seiner Bil<strong>der</strong>n beschäftigte, war die Gestaltung des Übergangsvon Unendlich zu Endlich und wie<strong>der</strong> zu Unendlich. Daraus sind dann seine bekannten ›Kreislimits‹entstanden. Die äußere Region, in <strong>der</strong> zum Rand hin die Strukturen immer feiner werden,stellt demnach die Nahtstelle zur Unendlichkeit dar. Wenn du dir jetzt noch im Bild ›KreislimitsI‹ die Mitte etwas genauer anschaust, dann erkennst du dort zwei polare Dreiecks-Figuren– drei weiße und drei schwarze –, die zusammen ein Sechseck bilden: genau an <strong>der</strong> Stelle, wosich auf meinem Panzer ganz oben in <strong>der</strong> Mitte ein ebensolches Sechseck befindet! Da staunstdu? – Aber komm, mach weiter! Was fällt dir noch ein zum Umfeld von Unendlichkeit – Endlichkeito<strong>der</strong> Ewigkeit – Zeitlichkeit, so könnte man es auch nennen?« Am leicht schmunzelndenUnterton ihrer Stimme merkte ich, dass sie meine zunehmende Verdutztheit, ja Sprachlosigkeitangesichts all dieser von ihr angesprochenen Bezüge sehr wohl spürte, obwohl sie die ganze Zeitüber nur nach vorne geschaut und so die Regungen meines Gesichts gar nicht hatte mitbekommenkönnen.»Unendlichkeit – Endlichkeit? – Ewigkeit – Zeitlichkeit?«, wie<strong>der</strong>holte ich leise diese zwei allesumspannenden Begriffspaare. »In den alten Weltbil<strong>der</strong>n stellte <strong>der</strong> Planet Saturn mit seinemgeheimnisvollen Ring genau die Grenze und die Nahtstelle zwischen diesen zwei Welten dar.«Ich suchte in meiner Erinnerung nach weiteren bildhaften Umsetzungen dieser Thematik.Schließlich sah ich jene sehr schöne spätmittelalterliche Illustration des Buches ›Genesis‹ vormir: »Aber natürlich! Es gibt ein wun<strong>der</strong>bares Schöpfungsbild aus einer alten Bibel. Da ist auchaußen herum ein alles umfassen<strong>der</strong> Kranz, die kosmisch-umkreishaften Sphären und ganz oben<strong>der</strong> durch sein gesprochenes Wort die Welt schaffende Schöpfergott; außerdem sind viele Engeldort abgebildet. Dieser äußerste Ring repräsentiert die rein geistigen immateriellen Aspekte <strong>der</strong>Wirklichkeit: Unendlichkeit und Ewigkeit. In einem zweiten Ring nach innen hin sind Sonneund Mond und viele Sterne; diese stellen sozusagen die erste physische Manifestation desgeis tigen Kosmos dar: den mit irdischen Augen von <strong>der</strong> Welt her sichtbaren Himmel. DieseRegion ist zudem noch durch ein schleifenartiges o<strong>der</strong> gar schlangenlinienförmiges Band strukturiert,in dem sich Ausbuchtungen nach außen und Einbuchtungen nach innen rhythmischabwechseln. Man könnte es als den Versuch des Künstlers ansehen, das Ein und Aus einer kosmischenAtmungsbewegung bildnerisch umzusetzen. Als nächstes schließt sich ein blauerStrom an, <strong>der</strong> ›Okeanos‹ <strong>der</strong> alten Griechen, <strong>der</strong> Weltumströmer, in dessen Mitte dann, wie eineInsel inmitten des Kosmos, die Erde auftaucht. – Du kannst dir das sicherlich alles vorstellen?«,fragte ich sie.»Selbstverständlich! – <strong>Das</strong> ist wirklich ein eindrucksvolles Bild, eines meiner liebsten. Es ist inseinem inneren Aufbau mit <strong>der</strong> sich materialisierenden Erde in <strong>der</strong> Mitte, <strong>der</strong> Chiffre meinesPanzers so nah«, antwortete sie mir.»Entschuldige, dass ich dich unterbreche! Aber – bevor ich es wie<strong>der</strong> vergesse – mir fällt in diesemMoment in Zusammenhang mit dem inneren Aufbau eine Zeichnung ein, die mir einmalein alter Imker gezeigt hat: Viele Bienen sind dicht nebeneinan<strong>der</strong> fast kreisförmig aufgereiht, in


832<strong>der</strong> Mitte ist die große Bienenkönigin, das Zentrum und <strong>der</strong> Quellpunkt des ganzen Bienenvolkes.– Ich hoffe nur nicht, dass ich jetzt mit diesem Bild vom Thema abgekommen bin«, fügteich schnell hinzu.11 Die Bienenkönigin imZentrum, umgeben von einemRing von Arbeiterinnen(aus GERSTUNG 1902).2 Illustration zum Buch Genesis.Spätmittelalterliche handkolorierteBibel, Leopold-Sophien-Bibliothek, Überlingen.»Nein, gar nicht! Auch das ist ein weiterer, sogar weiterführen<strong>der</strong> Aspekt.« Sie machte eine kürzerePause und sagte dann langsam: »Ein umkreishaft Umhüllendes, Umströmendes, nach innenhinein Wirkendes und in <strong>der</strong> Mitte ein Quellort des Lebens, ein Raum <strong>der</strong> Inkarnation. Schaudir einmal Zeichnungen von werdenden menschlichen Embryos etwa in <strong>der</strong> 3. Woche an. Da essich hierbei um Querschnittzeichnungen handelt, musst du sie dir eher als kugelige Blase vorstellen– aber <strong>der</strong> strukturelle Aufbau gleicht sehr dem des Schöpfungsbildes: in <strong>der</strong> Mitte, wieeine Insel im Fruchtwasser schwimmend: <strong>der</strong> Embryo, und außen herum <strong>der</strong> sogenannte Trophoblast,dessen innere Struktur dem Muster <strong>der</strong> Innen-Außen-Stülpungen <strong>der</strong> Region desSternenhimmels durchaus ähnlich ist. Was meinst du? O<strong>der</strong> nimm einmal eine Fotografie einesetwa zwei bis drei Monate alten Embryos und betrachte es, aber mit <strong>der</strong> notwendigen Ehrfurcht:das leiblich Werdende in <strong>der</strong> Mitte, schwimmend im Fruchtwasser-Ozean, umschlossen von <strong>der</strong>hautartigen Hülle <strong>der</strong> Keimblase und dann die sich nach außen hin immer mehr verzweigende,


84Trophoblast»Extraembryonales«MesenchymEmbryoblastChorionhöhleGebärmutterschleimhaut12auffächernde, verfeinernde, verunendlichende Plazenta, eingebettet in den mütterlichen Organismus.All das sind nicht einfach zufällig entstandene Strukturen. Es sind Urbil<strong>der</strong> kosmischerOrdnungen und Gesten, Spiegelungen des Makrokosmos im Mikrokosmos!«Hier hielt sie lange inne, verharrte zunächst regungslos und drehte sich dann unvermittelt wie<strong>der</strong>mir zu: »Diese kugelige Fruchtblase, die Form des Eies und die Entstehung des Weltalls. <strong>Das</strong>ist eines <strong>der</strong> größten <strong>Geheimnis</strong>se. Ihr denkt immer alles nur expansiv, radial von einem materiellgedachten Mittelpunkt ausgehend, stofflich wachsend und druckerzeugend, sich ausdehnend,aufblähend; o<strong>der</strong> im Fall des Weltalls mit eurem Urknallmodell dann sogar explosiv sichausbreitend! Versucht doch einmal beispielsweise die plastische Gestaltbildungsgeste <strong>der</strong> Eiformgleichzeitig aus einer Sogwirkung vom Umkreis her hervorgehen zu lassen. Erkläre mir docheinmal, wie sich in dem kleinen Leib eines Vogels, wie <strong>der</strong> Blaumeise, zwei bis drei so wohlgeformteEier inmitten eines fast flüssigen Zustandes aus einer expansiven Druckbewegung ausbildensollten – o<strong>der</strong> gar im vollkommen starren und begrenzten Innenraum einer Schildkröte!Denke einmal darüber nach. Bei <strong>der</strong> Betrachtung des Innenlebens <strong>der</strong> Schildkröte werden wirdarauf noch einmal zu sprechen kommen.« Dann hob sie ihren Kopf, drehte ihn ein wenig zurSeite und schaute an mir vorbei in den Himmel.1 Menschlicher Embryoam Beginn <strong>der</strong> dritten Woche(aus SCHAD 1985: 232).2 Der Schoß <strong>der</strong> Weltenmutter.Holzschale aus demKongo (aus JUNG 1973a: 515).Ohne die Blickrichtung zu än<strong>der</strong>n, sprach sie weiter: »Es gibt eine sehr alte aus Holz geschnitzte,vermutlich afrikanische Schale: ein Hohlraum, in dessen Innerem die Welt, die Erde, je<strong>der</strong>Embryo zu keimen beginnt. Diese Keimblase wird umfangen, aber auch gleichzeitig von außenher wie durch einen Sog aufgespannt von einer menschenähnlichen, die Weltenmutter darstellendenGestalt, die in ihrem Schoß dem <strong>Geheimnis</strong> des Werdens Raum gibt. In <strong>der</strong> Embryonalentwicklungje<strong>der</strong> tierischen Lebensform gibt es dieses kugelige Stadium, in dessen Innen sichein Hohlraum ausbildet: <strong>der</strong> sogenannte Blasenkeim.Überlege einmal, welche plastischen Kräfte wirken müssen, um solch eine Hohlkugel zuformen?! – So, jetzt drehe ich mich wie<strong>der</strong> um, damit ich noch etwas die Sonne genießen kannund du einen besseren Blick auf meinen Rücken hast!«


85»Aber Maja«, kam es da unvermittelt aus mir heraus, »du meinst wirklich, dass alles das etwasmit dem Muster deines Panzers zu tun hat? Ist das nicht alles ein wenig weit hergeholt, vielleichtzuviel des ›Romantisierens‹?«Griechische Landschildkröte.»Sei doch jetzt bitte nicht so kleingeistig. Man könnte gerade meinen, du hättest Angst, so weitreichendeBezüge zusammenzudenken. Angst kommt von Enge! Du musst doch hier keine Prüfungsarbeitim Fach Zoologie mit dem Spezialgebiet ›Testudines‹ ablegen! Was in dir ist daschon wie<strong>der</strong> versucht, diese Betrachtungen zu zensieren? Schau dir doch einmal an, wie ihr indiesen Zeiten aufgrund und mittels eures <strong>der</strong>zeitigen Denkens auf <strong>der</strong> Erde haust, wie ihr ohnejegliche Achtung gegenüber <strong>der</strong> Welt, in <strong>der</strong> ihr lebt, alles plün<strong>der</strong>t, zerstört und nur noch zumObjekt eurer selbstsüchtigen Interessen macht! Wir haben heute Morgen bereits besprochen,dass ihr nur so handelt wegen eines völlig falschen Bewusstseins bezüglich <strong>der</strong> wahren Wirklichkeit<strong>der</strong> Erde! Wie wollt ihr jemals zu einem an<strong>der</strong>en Verhalten gegenüber eurem Lebensraumfinden, wenn ihr nicht radikal umdenkt?! Und das ist nicht damit getan, wenn ihr euch einfacheinmal an<strong>der</strong>e Inhalte greift und diese dann aber in <strong>der</strong> gewohnten, alten Denkweise des Verstandeszusammenbaut! Entschuldige bitte, aber ebenso kann ich euer inzwischen inflationärgewordenes, pseudo-esoterisches Gerede schon nicht mehr hören!Radikal umdenken heißt: von <strong>der</strong> Wurzel her an<strong>der</strong>s und nicht: an<strong>der</strong>es in <strong>der</strong> alten Weisedenken. Ihr müsst eure Haltung und Einstellung än<strong>der</strong>n! – Aber das habe ich dir jetzt schon zur


86Genüge dargelegt! Also können wir jetzt weiter fortfahren, o<strong>der</strong> willst du lieber das Ganze hierabbrechen?« Dies kam mit einem eher unwirschen Unterton aus ihr heraus, während sie sichwie<strong>der</strong> in die vorherige Position brachte. Dort verharrte sie, blieb stumm und wartete geduldigauf meine Reaktion.»Maja, es tut mir leid, es sind eben doch sehr weitgestreckte Querverbindungen und so völligungewohnte Blickwinkel, mit denen meine vielleicht doch noch zu unbeweglichen Denkstrukturennicht so ganz klarkommen und wogegen sich noch manches sträubt«, erwi<strong>der</strong>te ich ihr beinahekleinlaut.»Du sollst ja auch dein klares, waches, alles nachprüfendes Denken nicht aufgeben und dannalles in einem nebulösen Einheitsallerlei auf- beziehungsweise untergehen lassen. Aber versuche,dich noch mehr darauf einzulassen, mitzugehen, es gedanklich nachzuvollziehen, immer einStückchen weiter. Und dann beobachte dein eigenes Inneres, ob sich da etwas tut, ob du etwasdabei erlebst. Du kannst nachher immer noch sagen: Bis hierhin und nicht weiter, jetzt hat diealte Schildkröte den Verstand verloren! – Aber ziehe diese Grenze nicht zu früh!«, sprach sie wie<strong>der</strong>in ihrer freundlichen, ja liebevollen und geduldigen Weise.»Du hast ja recht, Maja, ich muss innerlich einfach beweglicher werden und die Flügel meinerFantasie noch weiter spannen; so würden es sicher die Dichter ausdrücken, um deinen Gedankenflügen,deiner Zusammenschau besser folgen zu können. Also, ich werde mich anstrengen,meine inneren Grenzen immer weiter hinauszuschieben. Fahre bitte fort!« Auf diese Weise versuchteich sie dazu zu bewegen, mich nicht aufzugeben, son<strong>der</strong>n wie<strong>der</strong> ein wenig Vertrauen inmeine innere Bereitschaft zu setzen.»Na gut, wenn dem wirklich so ist, dann können wir ja gleich ganz weit hinaus in das Weltallgehen«, sagte sie sichtlich erfreut. »Stelle dir nun einen Kreis vor, <strong>der</strong> vom Rand zur Mitte hinvon zahllosen Strahlen durchzogen ist, ähnlich einer ›Radiolarie‹. – Du kennst doch diese winzigkleinen Planktontierchen mit ihren strahlenartigen Gehäusen aus Kiesel o<strong>der</strong> Silizium? Denkedir jetzt eine so aufgebaute Sphäre mit 24 o<strong>der</strong> 48 Punkten am Außenrand, von denen Strahlenausgehen, die das ganze Innenfeld durchziehen, und zwar so, dass je<strong>der</strong> Außenpunkt mitjedem durch einen Strahl verbunden ist. Auf diese Weise entsteht ein von sich kreuzenden Strahlengewobenes, sehr komplexes Geflecht. Man könnte sich auch die 24 o<strong>der</strong> 48 Punkte als Lichtquellenvorstellen, wie zum Beispiel Sterne, <strong>der</strong>en Lichtstrahlen dieses Gewebe entstehen lassen.Wenn du jetzt einige dieser Linien nachziehst und manche Schnittpunkte miteinan<strong>der</strong>verbindest, dann erhältst du ein Muster, das – bis auf eine kleine Abweichung, und diese befindetsich wie<strong>der</strong> an dem Fünfeck-Schild hinter meinem Kopf – genau <strong>der</strong> Anordnung <strong>der</strong> Schildeim Mittelteil meines Panzers entspricht.– Und jetzt spiele noch ein wenig in <strong>der</strong> Fantasie mitden Zahlen 24 o<strong>der</strong> 12 und bringe das dann in eine Beziehung zu den Sternen! Fällt dir dazuetwas ein?«, fragte sie.Radiolarie (Foto: R. Schmehlik,aus <strong>Das</strong> deutsche Lichtbild1932).»24 o<strong>der</strong> 12 Sterne?« Ich überlegte ein wenig. »Ja, die zwölf Tierkreiszeichen! Aber was soll dasjetzt mit dir zu tun haben?«, fragte ich schon wie<strong>der</strong> ein wenig ungläubig.


358VerwandlungDie Schildkröte und das Motiv <strong>der</strong> Wandlung»Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt:Jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,liebt in dem Schwung <strong>der</strong> Figur nichts wie den wendenden Punkt.«(Rainer Maria RILKE, Sonette an Orpheus)


3592Im selben Augenblick, als ich Maja folgen wollte, bemerkte ich, wie sich die Wandfläche <strong>der</strong>Stundenbil<strong>der</strong> um den ganzen Rundgang herum wie<strong>der</strong> in die große, hell aufleuchtende Schlangeverwandelte. Genau an <strong>der</strong> Stelle des 25. kleinen Nackenschildes berührte ihr Kopf denSchwanz und schloss den Kreis. Hier befand sich auch <strong>der</strong> kleine Ausgang, durch den Maja diegroße Kuppelhalle verlassen hatte. Ich rief ihr hinterher: »Maja, ich weiß, wir müssen uns beeilen,aber komme bitte noch einmal zurück – hier ist noch etwas Wichtiges, das ich nicht verstehe!«1»Ich weiß schon«, sagte sie und kam wie<strong>der</strong> zurück, »das kleine, unscheinbare Nackenschild! Eswird so oft übersehen, obwohl es, ähnlich dem Schlussstein eines Gewölbes o<strong>der</strong> Bogens, vongroßer Bedeutung ist. Viele Schildkrötenarten besitzen gar kein solches, ich schon; bei mirkommen je 11 Randschilde auf beiden Seiten dazu und ein ungeteiltes ganz hinten als Ab -schluss; das macht 22 + 1 + 1 = 24 Randschilde. Bei den Griechischen Landschildkröten sind es2 ×12 + 1 Nackenschild, das ergibt zusammen 25 Randschilde; son<strong>der</strong>barerweise ist bei dieserArt das letzte Schild ganz hinten auf <strong>der</strong> Oberseite des Panzers geteilt, auf <strong>der</strong> Unter- beziehungsweiseInnenseite jedoch nicht. Warum nun manche Schildkrötenarten dieses 25. Schildhaben und an<strong>der</strong>e nicht, das ist – wie schon erwähnt – eine sehr interessante Frage.Dieses kleine 25. Schild durchbricht den geschlossenen, einheitlichen 24er-Kreis, wie einSpross eine Samenkapsel sprengt. Ein wenig romantisierend könnte man daher die Frage stellen,ob das Vorhandensein dieses kleinen Schildes etwas mit einem Durchbruch zu tun hat,einem Hervortreten, Herauskommen aus einem geschlossenen Innenraum, aus einem Kokon,aus <strong>der</strong> Erde.«Linke Seite:Strahlenschildkröte(aus GRANDIDIER 1910).1 Der Außenring des Rückenpanzersmit dem 25. kleinenNackenschild.»Du meinst, dass diejenigen Schildkrötenarten, die dieses 25. Schild haben, eher jenen ent -sprechen, die im Begriff sind herauszukommen, o<strong>der</strong> schon ganz ›draußen‹ sind? O<strong>der</strong> solltendiejenigen, die kein solches Schild haben, schon über diesen Schritt des allerersten Durchbruchshinaus sein? O<strong>der</strong> ist es so, dass sie erst hineingehen in die Erde o<strong>der</strong> noch ganz tief unten sind?«Ich hielt inne, um nachzudenken und fragte: »Sind das nicht bereits etwas sehr weitgehende, zusehr romantisierende Fragestellungen zur Mytho-Morphologie <strong>der</strong> Schild kröte?«2 <strong>Das</strong> deutlich an <strong>der</strong> Außen -seite zweigeteilte Schwanzschildbei <strong>der</strong> GriechischenLandschildkröte.»Nun, auf jeden Fall stellt diese 24 einen Ring <strong>der</strong> Ganzheit und Vollkommenheit dar; das habenwir ja gestern schon besprochen. Vielleicht gibt es aber ein Darüberhinaus in eine an<strong>der</strong>eDimension, auf eine neue Ebene?«, sagte Maja.


360»Wie meinst du das?«, wollte ich wissen.»Ein Wissenschaftler hat zum Beispiel einen sehr son<strong>der</strong>baren Primzahlenkreis entwickelt o<strong>der</strong>entdeckt, aus dem eine genaue Verteilung aller Primzahlen innerhalb aller möglichen Zahlenhervorgeht. In diesem ›Primzahlenkreuz‹ springt nach Erreichen <strong>der</strong> 24 das Zählprinzip in dienächst höhere Ebene (vgl. PLICHTA 1991).Du hast doch auch einmal ein sehr schönes Schwingungsbild bei deinen Wasserklang -bil<strong>der</strong>n gefunden, das genau 24 Spiralwindungen aufwies und darin fast <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> Blüteeiner Sonnenblume entsprach. Vielleicht liegt ja die 24 noch im Bereich des sinnlich Sichtbarenund stofflich Greifbaren; dann hätte die 25 eher etwas mit dem Lebendigen zu tun, das aus <strong>der</strong>24er-Ordnung heraustritt; sie überschreitet, wie alles Lebendige, das Bestehende und sprengtbeziehungsweise transzendiert dieses.Überhaupt, die Qualität dieser Zahl 25 taucht an manchen Stellen immer wie<strong>der</strong>, wennauch versteckt, auf. So hat man beispielsweise herausgefunden, dass ihr Menschen von euremeigenen inneren Rhythmus her eigentlich ›25-Stunden-Menschen‹ seid, dass ihr aber durch den24-Stunden-Rhythmus <strong>der</strong> Erdumdrehung geradezu ›heruntergeregelt‹ werdet. (CRAMER1993: 236).Außerdem gibt es seltsamerweise genau 25 Primzahlen bis zur Zahl 100 (SAUTOY 2006:66). Im I-Ging repräsentiert die Zahl 25 die Zahl des Himmels (WILHELM 1970: 236). Undals Parzival zum ersten Mal auf <strong>der</strong> Gralsburg ist und das Wun<strong>der</strong> dort erblickt, erscheinenzunächst 24 Frauengestalten, bis schließlich die 25. eintritt, die den Gral hereinträgt (ESCHEN-BACH 1973: 118f.).«»<strong>Das</strong> alles kennst du auch?«, entfuhr es mir und ich schüttelte vor Verwun<strong>der</strong>ung den Kopf.»Es gibt noch einen an<strong>der</strong>en Bezug, <strong>der</strong> einen Hinweis auf das eher schmerzvolle Geschehen imProzess eines solchen Durchbruchs o<strong>der</strong> Transits enthält: Der 25. April soll in <strong>der</strong> Antike <strong>der</strong>Dionysos-Tag gewesen sein (vgl. BRAUN 1997: 211). – Dionysos, <strong>der</strong> den Prozess des Zerrissen-Werdenseines bestehenden Gefüges und seiner alten Ordnung zugunsten einer Erneuerungund Wie<strong>der</strong>auferstehung leidvoll an sich selbst erfährt. O<strong>der</strong> wie Goethe es einst ausdrückte:›Man muss seine Existenz aufgeben, um zu existieren.‹Diese Hinweise auf ein tieferes Verständnis müssen dir vorerst genügen, wir müssen nunwirklich nach oben hin aufbrechen ... auf-brechen.« Sie wie<strong>der</strong>holte dieses Wort noch einmallangsam, um sogleich fortzufahren. »Ist in diesem Wort nicht bereits wie<strong>der</strong> alles enthalten, umwas es geht?«<strong>Das</strong> »Primzahlenkreuz« nachPeter Plichta. Nach <strong>der</strong> erstenUmrundung springt die Zahlenreihe,die mit 24 endet, aufdie nächsthöhere Ebene, diemit 25 (= 5 x 5) beginnt(aus PLICHTA 1991).Schon war sie wie<strong>der</strong> in dem schmalen Gang verschwunden, <strong>der</strong> genau an <strong>der</strong> Stelle des25. Schildes aus <strong>der</strong> großen Kuppelhalle führte. Ich folgte ihr, und im Hinaustreten blickte ichan die Spitze dieses Eingangs; dabei war mir, als wäre auf <strong>der</strong> Felswand ein kleines Bild erschienen,auf dem zwei Gestalten einen gebogenen, aber nach oben hin offenen Kranz in den Händenhielten.Wie<strong>der</strong> lag vor mir tiefe Finsternis, nur Majas leuchtende Nachtsonnen wiesen mir denWeg, <strong>der</strong> stetig aufwärts verlief. Da tauchten auf beiden Seiten an den Felswänden wie in einer


361121 Die Wan<strong>der</strong>ung durch dasInnere <strong>der</strong> Erde mit siebenHöhlen, toltekisch (aus PURCE1974).2 Kranzhalter über einerBuddha-Nische, Turkestan(aus KÜKELHAUS 1963: 6).Galerie äußerst komplexe Bil<strong>der</strong> und Zeichnungen auf, die aztekischer Herkunft sein mussten.Als Erstes konnte ich eine Art Höhle ausmachen mit sieben Kammern, in die Fußspuren hineinund auch wie<strong>der</strong> hinaus führten: gleich daneben war das Bild eines Schildkrötenrückens, in demdie neun äußeren Areolen ebenfalls solche Kammern andeuteten.33 Der Weg durch den Schlund<strong>der</strong> Erde zur östlichen Region<strong>der</strong> Unterwelt, aztekisch,Codex Borgia (aus NEUMANN1989: 193).»<strong>Das</strong> sind fantastische Prozessbil<strong>der</strong>, die die nächtliche Wan<strong>der</strong>ung und Wandlung des GottesQuetzalcoatl im Inneren <strong>der</strong> Erde mit all seiner Dramatik zum Ausdruck bringen. Auf dem Bilddes Schildkrötenpanzers wären es dementsprechend neun Kammern o<strong>der</strong> Stufen: ›neun‹ und›neu‹!«, gab mir Maja als Erläuterung.


36212»Und wer war dieser Gott Quetzalcoatl?«, fragte ich.»Er ist ein Sohn <strong>der</strong> Urgottheiten von Himmel und Erde; sein Name vereint ›Quetzal‹, den Himmelsvogel,und ›Coatl‹, die Erdschlange; er ist also eine gefie<strong>der</strong>te Schlange, wie wir sie bei denÄgyptern im Bild <strong>der</strong> fünften Stunde gesehen haben. ›In seiner Doppelheit verbindet er dieWest- und Todesseite als Abendstern mit <strong>der</strong> Ost- und Lebensseite als Morgenstern‹; er wird oftin Gestalt eines ›aufsteigenden Spiralturms‹ dargestellt (NEUMANN 1989: 197).«1 Wasser-Klang-Bild, StehendeWelle, 27,9 Hertz.2 Verwandlung des Quetzal -coatl: sein Tod, die Reise durchdie Unterwelt und seine Wie<strong>der</strong> -geburt als Morgenstern imLeib <strong>der</strong> Todesgöttin, hier imViereck dargestellt, CodexBorgia (aus GROF 1994: 49).Wir gingen einige Schritte weiter zum nächsten Bild. Maja fuhr fort: »Im oberen Teil dieses Bildessiehst du eine ähnliche Szene; auch hier verlaufen Fußspuren durch das Innere <strong>der</strong> Erde,vorbei an zwölf Erdgöttinnen: Es handelt sich offenbar um ›die Verschlingung, Opferung undWie<strong>der</strong>geburt des Lichthelden‹ (ebd. 194).Im unteren Teil ist eine Geburtszene dargestellt, in <strong>der</strong> Quetzalcoatl neu geboren wird. Wiedu erkennen kannst, ist <strong>der</strong> Bauch <strong>der</strong> Erdgöttin in Gestalt einer großen Sonne dargestellt: Esist eine Geburt aus einer verborgenen, inneren Sonne heraus ... so ist auch ihr ganzer Leib vonvielen Sonnen und Sternen übersät ... ›Astrochelys radiata‹.In den Erläuterungen zu diesem Bild heißt es, dass Quetzalcoatl im Bauch <strong>der</strong> ErdgöttinFeuer entfachen muss: <strong>Das</strong> Bewusstsein muss in die Tiefe <strong>der</strong> Finsternis hinab. Verstehst du


363jetzt? <strong>Das</strong> ist genau die entsprechende Situation: Der Homunculus muss sich in die Tiefe desMeeres hineinbegeben, darin ganz eingehen, ohne darin unterzugehen und zu erlöschen!In <strong>der</strong> Mitte, da siehst du Quetzalcoatl in einer Art Gefäß, in dem er sich einer Verjüngungund Öffnung zum Licht unterziehen muss.«Wie<strong>der</strong> gingen wir ein wenig weiter bis zum folgenden Bild, auf dem mir etwas wie eine roteSonne auffiel.»<strong>Das</strong> Schwarz an dem großen, roten Gebilde in <strong>der</strong> Mitte zeigt an, dass wir uns hier in <strong>der</strong>Mitte <strong>der</strong> Erde befinden. So erkennst du in <strong>der</strong> Mitte des Bildes, schlangenartig von einem gefie<strong>der</strong>tenHalsband umschlossen, die zwei ineinan<strong>der</strong> verschlungenen Aspekte des Quetzalcoatl.Hier, in diesem sonnenhaften Herz <strong>der</strong> Erde vollzieht sich seine Wandlung. Ganz unten tritt erneugeboren in <strong>der</strong> Gestalt des Morgensterns wie<strong>der</strong> hervor.21 Maya-Darstellung zumProzess <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>geburt, ganzunten links die Schildkröte(aus ARNOLD 1991).2 Zeichnung auf einerSchamanen trommel aus demAltaigebirge (aus SCHNEIDER1951: 134).33 Indianisches Ojibwa-Logogrammvon Del Ashkewe (ausJOHNSTON 1994: 2). Ganzam linken unteren Bildrand istdie halb in die Erde gesunkeneSchildkröte zu sehen, die soauf ihre Ver bindung zumInneren <strong>der</strong> Erde hinweist. 1


3641 21 Auferstehung: <strong>der</strong> aus<strong>der</strong> Erde hervorbrechendeMaisgott, in Gestalt einerSchild kröte dargestellt (ausEGGEBRECHT 1993: 213).2 Mit einem Vogel zusammenim Himmel fliegende Schild -kröte. Trommel eines Medizinmanns,Smithonian InstitutionWashington (aus COTTERELo.J. : 272).Wenn du dir jetzt noch die Anordnung <strong>der</strong> Lichtstrahlen, die von innen kommend dasSchwarz durchdringen, genauer anschaust, so wirst du sehen, dass es genau 32 sind; dabeiwechseln sich ständig zwei verschiedene Typen miteinan<strong>der</strong> ab, sodass es von je<strong>der</strong> Art Strahl je16 gibt. <strong>Das</strong> entspricht genau dem Gestaltungsprinzip <strong>der</strong> Schwingungsmuster <strong>der</strong> ›stehendenWellen‹ deiner Wasser-Klang-Bil<strong>der</strong>, bei denen sich ebenfalls Wellentäler und Wellenberge in klargeordneter Folge abwechseln. Die strahlende Sonne ist folglich eine schwingend-tönende Sonne,eine Klang-Sonne. Wenn du jetzt die Anzahl <strong>der</strong> Strahlen 32 als Charakteristikum einerSchwingungsfrequenz und damit einer Tonhöhe ansiehst und diesen Wert 32 zweimal hochoktavierst,kommst du genau zu <strong>der</strong> Frequenz 128 Hertz, die bemerkenswerterweise von einigenMenschen als <strong>der</strong> ›Sonnenton‹ angesehen wird (RENOLD 1985: 135f.).«»Auf diesem Bild ist zu sehen«, meinte Maja zu einem weiteren Bild, »wie sich einer <strong>der</strong> ›8 mythischenVögel <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>erneuerung‹ vom Blut des ›schaffenden Gottes‹ ernährt, <strong>der</strong> sich ›für dieWie<strong>der</strong>geburt <strong>der</strong> Wesen opfert‹ (ARNOLD 1991: 64). Die Schildkröte da unten symbolisiertdie ›Unvergänglichkeit des Lebens‹ (ebd.); auf ihr sitzt eine Gestalt, die dieses ›vergöttlichteRitualopfer‹ repräsentiert (ebd.).3 »Der Berg <strong>der</strong> Schildkrötedes Westens«, taoistischeGöttin auf einer Schildkröte(aus LAGERWEY 1991: 142).4 Sonnen-, Mensch- undTiersymbole, HöhlenmalereiIrian Jaya (nach HOLT 1967).3 4


365<strong>Das</strong>s beson<strong>der</strong>s die Mayas und Azteken die Erde immer wie<strong>der</strong> auch mit <strong>der</strong> Schildkröteidentifiziert haben, wird in diesem Bild daneben schön erkennbar. Aus dem in <strong>der</strong> Mitte aufbrechendenPanzer steigt eine Gestalt auf, die den aufkeimenden und zu neuem Leben erwachendenMaisgott darstellt. Unter dem Panzer <strong>der</strong> Schildkröte siehst du ›Wasserlilien, Symbole <strong>der</strong>Wie<strong>der</strong>geburt und Wandlung und das Wassersymbol, <strong>der</strong> Ursprung des Lebens‹ (GROF 1994:77).«So stiegen wir unaufhaltsam durch das Dunkel weiter empor. Nach längerer Zeit sagte sie: »Duweißt doch! – Bloß nicht umdrehen! Alles Erlebte will von dir nun hinaufgeführt und dort obenin <strong>der</strong> Welt des Tages verwirklicht werden. Du musst aufpassen, dass <strong>der</strong> Verstandeskopf, <strong>der</strong> nurdem äußerlich Greifbaren und seinen sogenannten Tatsachen Wirklichkeit zubilligen kann, diesenneuen, ganz in das unbekannte Offene hineinwirkenden Im-Puls nicht wie<strong>der</strong> in Zweifelzieht und damit alles zerstört!«Nach langer Zeit tauchten erneut zwei eigentümliche Zeichnungen o<strong>der</strong> Diagramme an <strong>der</strong>Höhlenwand auf, und Maja erläuterte sie: »<strong>Das</strong> erste hier ist eine Zeichnung auf <strong>der</strong> Trommeleines Schamanen aus dem Altai-Gebirge. Die obere Hälfte zeigt die oberirdische Welt mit Sonneund Mond, dem Baum des Lebens und des Todes und viele an<strong>der</strong>e Gestalten. Die untereHälfte symbolisiert die Unterwelt; das größere Tier in <strong>der</strong> Mitte soll ein Frosch sein – für michsieht er aber, beson<strong>der</strong>s auch wegen <strong>der</strong> gekreuzten Linie, eher aus wie eine Schildkröte(SCHNEIDER 1951: 134). Ob Kröte o<strong>der</strong> Schildkröte – mit <strong>der</strong> Kröte wären wir auch schonwie<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Schild-Kröte! Spricht man nicht in eurem Dialekt auch von <strong>der</strong> Schild-›Krott‹o<strong>der</strong> -›Grott‹? – Und schon sind wir wie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> ›Grotte‹, <strong>der</strong> Höhle im Inneren <strong>der</strong> Erde!<strong>Das</strong> an<strong>der</strong>e Bild ist eine Art Logogramm <strong>der</strong> Ojibwa-Indianer Nordamerikas; ganz oben,das ist <strong>der</strong> Geist Kitche Manitus, dort siehst du die Sonne und den Mond, die Welt <strong>der</strong> Tiereund Menschen, die Erdoberfläche mit den Wigwams und dann, halb in <strong>der</strong> Erde versunken, eineSchildkröte: das Symbol <strong>der</strong> Erde, des alles tragenden Grundes, von dem sich die große senkrechteAchse des Bildes erhebt, wie ein Lot.«Mit und zwischen zweiMenschen tanzende Schild -kröte. Älteste bisher bekannteDarstellung einer Schildkröte,Fragment einer Kalksteinschüssel,Anatolien, um8000 v. Chr. (Badisches LandesmuseumKarlsruhe 2007: 294).


366»Der große Kreis mit den vier Vorsprüngen am oberen Rand repräsentiert Kitche Manitu, denSchöpfer. Ein Kreis bedeutet Geist; um die Bedeutung ›Großer Geist‹ darzustellen, wurde einemkleinen Kreis ein großer umschrieben. Die vier Vorsprünge bedeuten Allgegenwärtigkeit. Derumgekehrte Halbkreis unter dem Symbol für Kitche Manitu steht für Himmel und Universum.Unmittelbar darunter befindet sich das Symbol <strong>der</strong> Sonne; mit seinen linearen und zyklischenAnteilen verdeutlicht es Leben und Zeit. Unter <strong>der</strong> Sonne ist das Bild eines Mannes im Kreis.Mann und Kreis verkörpern zusammen das menschliche <strong>Das</strong>ein.Die Linie des Lebens und <strong>der</strong> Kraft verbindet das Symbol des Lebens mit dem SymbolKitche Manitus; die beiden bogenförmigen Abzweigungen stehen für den Baum des Lebens, fürdie Pflanzenwelt, auf die alle an<strong>der</strong>en Lebewesen angewiesen sind.Die Basis <strong>der</strong> Lebenslinie und des Lebensbaumes, die aus einer geraden waagrechtenLinie besteht, symbolisiert Erde und Gestein, die Substanz, aus <strong>der</strong> Mutter Erde besteht.Die verschiedenartigen Tipis stehen für Stämme, Gemeinschaften… und weisen auf die unter -schiedlichen Lebensweisen hin …«(Aus: JOHNSTON 1994 : 2)Gleich daneben erschien in diesem Moment das Bild eines altindianischen Schildes, woraufMaja meinte: »Hier jedoch fliegt die Schildkröte, enthoben aller Schwere, vereint mit dem Donnervogel,den Sternen und <strong>der</strong> Milchstraße, inmitten des Himmels!Pass auf, wir werden jetzt gleich an einer <strong>der</strong> ältesten bisher gefundenen Darstellungeneiner Schildkröte vorbeikommen. Es handelt sich um ein über zehntausend Jahre altes Relief ausdem anatolischen Hochland – eine mich immer wie<strong>der</strong> glücklich stimmende Szene!«, rief siefreudig und wurde immer schneller.Dann, nach einer Biegung des Weges, vorbei an Sonnensymbolen und Wandmalereien mitdiversen Schildkrötenmotiven, tauchte es vor uns auf: Zu sehen waren zwei tanzende Menschen,die voller Begeisterung die Arme hoben, und in ihrer Mitte eine Schildkröte in aufrechterStellung, die ebenfalls zu tanzen schien.»Ist das nicht einfach wun<strong>der</strong>schön, eine mit euch Menschen tanzende Schildkröte!?«, riefsie aufgeregt aus: »Welch eine Verwandlung!«Und wirklich, in seiner archaischen Darstellungsweise vermittelte dieses uralte Relief denursprünglichen Ausdruck einer tiefen inneren Freude: das Erlebnis des <strong>Das</strong>eins als Fest!»Die Überwindung <strong>der</strong> Schwerkraft, die äußere und innere Aufrichtung, das Hineinfindenin das Lot als das einzig stimmige Gleichgewicht zwischen Himmel und Erde, das ist die Ur -sehnsucht alles Lebendigen. Bei den chinesischen Taoisten gibt es das Motiv einer tief im Nordwestenauf einer Schildkröte thronenden Göttin; sie hat ihren Sitz in <strong>der</strong> Region <strong>der</strong> Wirbelsäulenbasisdes Menschen, ganz in <strong>der</strong> Nähe des von uns betrachteten os sacrum, des Kreuzbeins!Von dieser Göttin, so heißt es, verlaufe durch die Wirbelsäule eine direkte Verbindung zur ›Jade-Residenz‹ auf dem Scheitelpunkt des Schädels (LAGERWEY 1991: 141f.).«Der Stufenprozess <strong>der</strong> Wandlungmit <strong>der</strong> Schildkröte alsBasis (aus SENDA 2001).In <strong>der</strong> Zwischenzeit war auf <strong>der</strong> linken Seite <strong>der</strong> Höhle die chinesische Zeichnung einer auf einerSchildkröte sitzenden Gottheit aufgeleuchtet; jene war umgeben von einer Aura voller Lichtstrahlenund schwingend-klingend-flutenden Wellenlinien. Ich war noch ganz in die Betrach-


367231tung dieser Szene versunken, als Maja rief: »Und jetzt schau hierher: eine tibetische Tara, hochoben als Sinnbild <strong>der</strong> Erhabenheit und Vollendung, umgeben von einer einzigen Blütenmandorla!Getragen von <strong>der</strong> Schildkröte als Fundament <strong>der</strong> Entwicklung, vollzieht sich die Entwicklungin aus mehreren Lotosblumen und Kobraschlangen gebildeten Stufen, entlang <strong>der</strong> senkrechtaufgerichteten Lebensachse als dem Baum des Lebens. Schlangen-Drachen winden sich umdiesen hinauf, bis zur nächsten Stufe, auf <strong>der</strong> ein mächtiger Sonnenlöwe das taghelle, klareWachbewusstsein repräsentiert; aus diesem erhebt sich dann schließlich in <strong>der</strong> Gestalt <strong>der</strong> Taradas Erleuchtungsbewusstsein.Tara, ›die hinausführt (tarani) über das Dunkel‹ in die ›Vollkommenheit <strong>der</strong> Erkenntnis‹ –›Prajna Paramita‹ – ›param ita‹, das bedeutet so viel wie: ›ans an<strong>der</strong>e Ufer (param) gegangen(ita)‹ (ZIMMER zit. nach NEUMANN 1989: 311).«Noch während sie gesprochen hatte, waren auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden Felswand erneut mehrereBil<strong>der</strong> erschienen; auf dem einen waren zwei Schlangen zu sehen, die sich um einen Stabwindend nach oben bewegten und dort einen Vogel als Symbol des Geistes umschlossen, aberso, dass das Ganze nach oben hin offen blieb. Und dann waren noch zwei Bil<strong>der</strong> des Schildkrötenrückens,eines mit einem Baummotiv darin und eines mit ebenfalls zwei, sich überkreuzendenSchlangen in <strong>der</strong> Mitte.1 Am Merkurstab sich emporwindendeSchlangen alsSymbol <strong>der</strong> Entwicklung (ausPURCE 1974).2/3 Entwurf und Ausführungvon Anna-Maria Bauer für dieneue Wetter fahne auf demStadthaus türmchen in Zürich(aus BAUER 2009).»Ach«, sagte Maja, »da fällt mir noch eine kuriose Entdeckung ein. Stell dir vor, im Jahr 2004hat man in Zürich, hoch oben in einer Kugel auf <strong>der</strong> Turmspitze des Fraumünsters einekonservierte Europäische Sumpfschildkröte gefunden, die vermutlich im Jahr 1846 bei Renovierungsarbeitennach einem Brand dort hineingelegt worden war – vielleicht als Schutz gegenBlitzschlag und Brände, wie man es auch vom alten China her kennt (vgl. NIEVERGELT-ALB RECHT 2007). Die Plastikerin Anna-Maria Bauer aus Zürich, von <strong>der</strong> ich dir schonerzählt habe, hat nun für die Spitze des Stadthaustürmchens in Zürich eine neue Wetterfahnegestaltet, <strong>der</strong>en Motiv auf sich überlagernden Strukturen des Schildkrötenpanzers beruht. Undsie hat auch im Hof des Fraumünsters eine aus 37 voll-massiven Kupferblöcken – 13 + 24 = 37– bestehende Plastik geformt, wobei das Glie<strong>der</strong>ungsprinzip <strong>der</strong> Blöcke aus den Anordnungenund Zahlenverhältnissen des Schildkrötenpanzers abgeleitet ist. (vgl. BAUER 2009)«»Eine Schildkröte, hoch oben auf dem Turm einer abendländischen Kirche? <strong>Das</strong> ist wirklich einesehr merkwürdige Geschichte«, fügte ich hinzu.


368Wenig später hielt Maja plötzlich ohne sichtbaren Grund an und meinte: »<strong>Das</strong> sind sehr aufschlussreicheVerwandlungsprozesse, die aus all diesen Bil<strong>der</strong>n sprechen.« Und dann wie<strong>der</strong>holtesie nochmals langsam und einzelne Wortteile stark betonend: »Ver-wand-lung – Ich glaube, dasist das tiefgreifendste Wort, das es in eurer Sprache gibt.«»Maja«, fragte ich wissbegierig, »wie meinst du das jetzt wie<strong>der</strong>?«»Nun, auch wenn die Etymologen mir wie<strong>der</strong> einmal nicht gleich bei den von mir hergestelltenBezügen zustimmen werden, so wirst du doch erstaunt sein, was alles in diesem einen Wort enthaltenist. Also: Ver-wandel-ung«, fuhr sie fort, wobei sie erneut die Wortteile hervorhob. »Lassuns mit <strong>der</strong> Vorsilbe ›ver-‹ beginnen: Während die Vorsilbe ›zer-‹ – wir haben uns ja schon darüberunterhalten – auf einen Teilungs- o<strong>der</strong> gar völligen Zertrümmerungsprozess hinweist, wie:zer-teilen, zer-legen, zer-fetzen, zer-reißen usw., beinhaltet die Vorsilbe ›ver-‹, dass ein Vorgang›über etwas hinausführt‹, ›über eine Grenze hinausgeht‹: schlafen – ver-schlafen, brauchen – verbrauchen,spielen – ver-spielen. Eigentlich weist das ›ver-‹ darauf hin, dass etwas ganz in demProzess aufgeht, den das folgende Verb anspricht: hungern – ver-hungern, schwinden – verschwinden,einen – ver-einen, legen – ver-legen. Es ist gerade so, als würde alles restlos in denangezeigten Prozess hinein und darin untergehen, o<strong>der</strong> eben aufgehen: brennen – ver-brennen,bis alles fer-tig ist, also alles bis zum Ende in die Tätigkeit eingegangen ist und nichts mehr übrigbleibt. ›Ver-‹ war früher auch ›fir-‹, ›far-‹, ›for-‹ o<strong>der</strong> ›per-‹, ›peri-‹, ›para-‹, ›pro-‹. ›Ver-‹ bedeutetdemnach eine vollkommene Steigerung und Totalisierung des jeweiligen im Verb angesprochenenProzesses.«Da machte sie eine kleine Pause und fragte: »Ist das für dich nachvollziebar?«»Durchaus«, gab ich zur Antwort, »und die Silbe ›-wand-‹ in unserem Wort, hat diese etwas miteiner Wand zu tun?«Die Schildkröte als Basisund Gefäß des Wandlungs -prozesses, altindisch (nachMüller 1822, aus NEUMANN1989: 313).»Genau so ist es! Wird doch auch <strong>der</strong> Konsonant W genau an den Lippen, das heißt an <strong>der</strong>Grenze, <strong>der</strong> Trennwand zwischen innen und außen gebildet. ›-wand-‹ ist tatsächlich die Wand,die Mauer im Sinne von ›Grenze‹, von fester und Wi<strong>der</strong>stand bieten<strong>der</strong> Form, von etwas Trennendem,Einschließendem, was ein Hier vielleicht von einem Dort trennt, o<strong>der</strong> mich selbst voman<strong>der</strong>en: ›W-and‹! – Vielleicht trennt mich diese Wand ja sogar vom ›an<strong>der</strong>en‹ meiner selbst?! Die›W-and‹ ist eine Schwelle, die mich, die ich davor stehe, von allem ›an<strong>der</strong>en‹ scheidet, abschneidet,isoliert – genau wie <strong>der</strong> Homunculus in seinem Glas durch dieses vom Ganzen <strong>der</strong> Weltgetrennt wird!Du musst dich jetzt darum bemühen, alle Aspekte und alle, die noch anklingen werden,nebeneinan<strong>der</strong> und gleichzeitig ineinan<strong>der</strong> im Bewusstsein zu haben und sie in immer neuenVerbindungen in ein Gesamtbild, in eine Art schwingendes Feld miteinan<strong>der</strong> zu bringen.Nun wird aus ›wand‹ ›wandel‹. <strong>Das</strong> L ist einer <strong>der</strong> weichsten, geschmeidigsten, geradezuflüssigsten Laute eurer Sprache, wie es zum Beispiel in ›Welle‹ anklingt. ›Wandeln‹ bedeutetauch: bewegen, einen festen, unbeweglichen Standpunkt aufgeben, flexibel werden, das Hartsein,Geschlossensein <strong>der</strong> Wand beenden, aufgeben, überwinden: eine ›Wende‹ herbeiführen.


369›W-ende‹: das Ende <strong>der</strong> alten ›W-and‹ ist gleichbedeutend mit Umkehr und Hinwendung zumAn<strong>der</strong>en und Neuen. Und das beinhaltet eine Öffnung, einen Durchbruch, die Schaffung einesDurchgangs, eine Aufweichung, eine Herbeiführung <strong>der</strong> Auflösung <strong>der</strong> wi<strong>der</strong>ständigen, starrenWand, damit ein Auf-bruch, <strong>der</strong> Beginn einer neuen Bewegung möglich wird. ›Wand‹ – ›Wende‹– ›Wunde‹! Der Durch-bruch ist für die alte Wand wie eine ›W-unde‹! – Aber nur durch einensolchen Auf-bruch und Durchgang, eine gelingende Überschreitung einer bisherigen Grenzekann sich das ›W-un<strong>der</strong>‹ einer Transformation o<strong>der</strong> gar Transzendierung ereignen.«»Maja, das ist ja atemberaubend, was in diesem einen Wort alles anklingt und mitschwingt! – Duhast recht, ein großartiges und zugleich erschütterndes Wort!«, gab ich zu verstehen.»Und jetzt noch das ›-lung‹! Es kommt, wie du dir sicher denken kannst von ›gelingen‹! DieEndung ›-ung‹ spricht immer aus, dass die Tätigkeit des vorausgegangenen Verbs auch vollendetund damit ›gelungen‹ ist. ›lingen‹ (mhd.) bedeutet: vorwärtsgehen, gedeihen; ›gilingan‹(ahd.) bedeutet: glücken, gelingen! (vgl. PFEIFER 1999; KLUGE 1967). – Kannst du folgen?«»Ja, es ist einfach befreiend, wenn einem so viele Bedeutungszusammenhänge auf eine so einfacheund alles an<strong>der</strong>e als abstrakt-theoretische Weise aufgehen und klar werden. Wir kennen allediese Worte unserer Sprache und haben doch im Grunde genommen keine Ahnung davon, umwas diese alles weiß. Nein, dass sie eigentlich um alles weiß!«»Warte, es kommt gleich noch besser, noch ergreifen<strong>der</strong>; auch wenn, wie gesagt, die Etymologenvielleicht nicht mehr ganz mitgehen würden!Lass uns nochmals zusammenfassen: Ver-wand-lung: ›Ver-‹ meint: gänzlich in die Tätigkeitdes Wandelns und <strong>der</strong> damit verbundenen Bewegung eingehen und darin aufgehen. <strong>Das</strong>beinhaltet: eine bisherige Grenze überschreiten, die trennende Wand überwinden, aufheben,auflösen, bis alles restlos und ohne Rückhalt in diese Bewegung mit eingeht; die alten Mauernund Wi<strong>der</strong>stände selbst müssen mitgehen, mitmachen, sich beteiligen, frei-werden für denanstehenden Prozess. – Um mit Goethe zu sprechen: <strong>Das</strong> ›Gewordene‹ muss seine ›Angst vordem Werden‹ überwinden! ›Sich wandeln‹ bedeutet demnach: ›werden‹ im Sinne von sich weiterentwickeln,›entstehen, drehen, wenden‹ (PFEIFER 1999).Wenn nun die Vorsilbe ›ver-‹ meint: ganz zu <strong>der</strong> Tätigkeit des Verbs werden, dann bedeutet›ver-wandeln‹ eigentlich: ›Werden werden‹, ganz für das ›Werden‹ sein! Meint aber nicht ›ver-‹überhaupt: ganz ›für‹ ... sein?! –›Ver-‹ war einst: ›fi-, far-,fer-, for‹. – Klingt nicht im alemannischenund schweizerdeutschen Dialekt ›Feuer‹ wie ›füer‹ also wie ›für‹, o<strong>der</strong> im Englischen ›fire‹?Wir haben demnach für ›ver-‹ die drei mitschwingenden Bedeutungen von: ›ganz ... werden‹, ›für ... sein‹, und ›Feuer‹. ›Ver-‹ will sagen: ›werden für Feuer‹! Alle drei Worte beinhalten dahervom inneren Sinn her ein und dasselbe.«Der Stufenprozess <strong>der</strong> Wandlungmit <strong>der</strong> Schildkröte alsBasis (aus SENDA 2001).»Aha«, rief ich aufgeregt dazwischen, »diese Vorsilbe ›ver-‹ will ausdrücken: ›ganz Feuer undFlamme werden für ...‹, alles ganz in diese Bewegung hineingeben, sich hingeben an ..., vielleichtsogar: sich opfern?!«


370»›Op-fer‹ – auch so ein tiefgründiges Wort! ›Open‹ meint ›offen‹, englisch ›open‹, sich er -schließen, und das ›fer‹ ist wie<strong>der</strong> unser ›ver-‹ im Sinne von ›werden‹. ›Op-fer‹: sich ganz demWerden öffnen: ›open‹ (öffnen) – ›fer‹ (für), für das ›Feuer‹! Hat nicht Novalis von <strong>der</strong> ›Erhaltungeiner heiligen und geheimnisvollen Flamme‹ als dem zentralen Antrieb alles Lebendigengesprochen (zit. nach RODER 2000: 746).«»Ja, du hast vorgestern bei unserer ersten Begegnung davon gesprochen«, pflichtete ich bei.»Und jetzt stelle dir vor, das alles sage ausgerechnet ich dir: eine, in ihrem harten, fast steinernenPanzer steckende Schildkröte. Geschlossenheit und Offenheit, diese Entgegensetzung undihre Dialektik ist eines <strong>der</strong> großen Motive meines ganzen <strong>Das</strong>eins. Der Rückzug von allemÄußerlichen, das Sich-Abschließen in sich selbst, die Versenkung in die Tiefe und Stille – dassind auch alles Voraussetzungen, um sich selbst in einem ersten Schritt überhaupt erst einmalzu finden, um zum Selbst zu gelangen. Denn nur, wer sich selbst in diesem Sinne ›hat‹, kann sichim zweiten Schritt auch selbst wirklich ›geben‹.Nicht ohne Grund wird daher in <strong>der</strong> berühmten ›Bhagavad Gita‹ <strong>der</strong> In<strong>der</strong> dieses Vermögen <strong>der</strong>Meditation und Verinnerlichung im Bild einer Schildkröte zum Ausdruck gebracht: ›Wenn einMensch seine Sinne ganz aus dem Bereich ihrer Objekte einziehen kann, wie eine Schildkröteihre Glie<strong>der</strong> einzieht, dann wird seine Innenschau (prajna) beständig.‹ (zit. nach ZIMMER1973: 389).Der Dämon Mara, <strong>der</strong> Siddharta Gautama vor seinem letzten Schritt in die Erleuchtung und<strong>der</strong> Erlangung des Buddha-Bewusstseins mit allen Mitteln abzubringen versuchte, verzweifeltean Gautamas Entschlossenheit: ›Seht ihr dort den Weisen auf dem Sitze in dem Panzerkleide desEntschlusses? Schaut ihn an, sein Bogen ist die Wahrheit, und sein spitzer Pfeil ist die Erkenntnis.‹(ASHAVAGOSHA 1922: 80)Die schönste Schil<strong>der</strong>ung des Vergleichs einer konzentrierten meditativen Lebensweisemit dem <strong>Das</strong>ein <strong>der</strong> Schildkröte findet sich in den Erzählungen <strong>der</strong> ›Fragen des Milindo‹, indenen ein Zwiegespräch zwischen einem König und einem Mönch geschil<strong>der</strong>t wird. Weil mirdas selbst sehr zu Herzen geht, will ich dir auf dem letzten Stück unseres Aufstieges die›Geschichte von <strong>der</strong> Schildkröte‹ daraus vortragen:›Fünf Eigenschaften <strong>der</strong> Schildkröte, sagst du, ehrwürdiger Nagaseno, habe man anzunehmen:Welches sind diese?‹›Gleichwie, o König, die Schildkröte sich im Wasser bewegt, sich im Wasser aufhält,‹ [hier meinteMaja, dass sie die Übersetzung ein wenig verän<strong>der</strong>e, da ihr diese für einen buddhistischenMönch doch etwas zu kriegerisch-kämpferisch klang] ›so soll auch <strong>der</strong> mit sich selbst Ringendein Wohl wollen und Mitleid mit allen lebenden Wesen und Geschöpfen verweilen, indem er dieganze Welt mit liebevoller Gesinnung durchstrahlt, mit weiter, großer, unermesslicher, von Hassund Härte befreiter. <strong>Das</strong>, o König, ist die erste Eigenschaft <strong>der</strong> Schildkröte, die er anzunehmen hat.


3711Wenn da ferner, o König, die Schildkröte, während sie beim Schwimmen im Wasser ihren Kopfaufrichtet, irgendjemanden bemerkt, so taucht sie auf <strong>der</strong> Stelle wie<strong>der</strong> unter, taucht in die Tiefe,damit jener sie nicht mehr zu sehen bekommt. Ebenso, o König, soll <strong>der</strong> mit sich Ringende, sobald dieLeidenschaften auf ihn eindringen, sich in das Meer <strong>der</strong> Vertiefung versenken, in die Tiefe tauchen,damit ihn die Leidenschaften nicht mehr zu sehen bekommen. <strong>Das</strong>, o König, ist die zweite Eigenschaft<strong>der</strong> Schildkröte, die er anzunehmen hat.Wie ferner, o König, die Schildkröte, wenn sie aus dem Wasser herausgekrochen ist, ihren Körpererwärmt: So auch soll <strong>der</strong> mit sich Ringende, sobald er seinen Geist vom Sitzen, Stehen, Liegen undAuf-und-ab-Wan<strong>der</strong>n abgelenkt hat, denselben in rechtem Üben erwärmen. <strong>Das</strong>, o König, ist diedritte Eigenschaft <strong>der</strong> Schildkröte, die er anzunehmen hat.Wie ferner, o König, die Schildkröte die Erde aufwühlt und dort abgeschieden ihre Behausung sucht:So auch soll <strong>der</strong> mit sich Ringende, Gewinn, Ehre und Ruhm ertragen und sich in einen einsamen,abgeschiedenen Wald begeben, eine waldige Anhöhe, auf einen Berg, in eine Grotte, eine Felsenhöhle,an einen lautlosen, stillen, abgeschiedenen Ort; und dort in <strong>der</strong> Abgeschiedenheit soll er seinen Aufenthaltnehmen. <strong>Das</strong>, o König, ist die vierte Eigenschaft <strong>der</strong> Schildkröte, die er anzunehmen hat ...Wenn da ferner, o König, die Schildkröte beim Hin-und-her-Kriechen jemanden bemerkt o<strong>der</strong> einGeräusch vernimmt, so verbirgt sie ihre vier Füße und fünftens den Kopf unter ihre Schale und verharrtuntätig und still, indem sie dabei über ihren Körper wacht. Ebenso auch, o König, soll <strong>der</strong>mit sich selbst Ringende, wenn von allen Seiten Formen, Töne, Düfte, Säfte, Berührungen und Vorstellungenauf ihn eindringen, die sechs Toreingänge <strong>der</strong> Sinne verschließen, den Geist zusammennehmenund achtsam und klarbewusst verweilen, indem er über seine Asketenpflichten wacht. <strong>Das</strong>,o König, ist die fünfte Eigenschaft <strong>der</strong> Schildkröte, die er anzunehmen hat. Auch <strong>der</strong> Erhabene,o König, ... sagt in <strong>der</strong> erhabenen ‘Verbundenen Sammlung’ (Samyutta-Nikaya), in dem Suttavom Schildkrötengleichnis: ‘Gleichwie die Schildkröte die Glie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> eigenen Schale, so ziehe festzusammen die Gedanken <strong>der</strong> Asket. Und unabhängig lebend, keinem Wesen wehe tuend, mög’niemanden mehr tadeln er, im Herzen ganz gestillt’.‹(NYAN<strong>AT</strong>ILOKA 1924, Bd. 2: 183f.)«1 Wappenbild mit doppelterTreppe: die »HeiligenbergerStiege«.2 Amduat, die zwölfte Stunde:Bild des Sonnenaufgangs:Von dreizehn Göttinnen (rechts)und zwölf Göttern wird dieSonnenbarke aus dem Schlangenleib<strong>der</strong> Unterwelt herausgezogen,bis die Sonnenscheibein Gestalt des Skarabäus dieKokonhöhle durchbricht (ganzrechts) (aus HORNUNG 1991).2


372In <strong>der</strong> Zwischenzeit war <strong>der</strong> Weg steiler geworden, sodass <strong>der</strong> Aufstieg zunehmend mühsamerwurde; gleichzeitig führte er geradlinig nach oben. Ich hatte das Gefühl, dass es von ganz obenher ein wenig heller würde. Und tatsächlich, je höher wir kamen, desto deutlicher war am weitvor uns liegenden Ausgang das noch schwache Licht <strong>der</strong> Morgendämmerung zu sehen.»Jetzt haben wir es gleich geschafft!«, meinte Maja, <strong>der</strong> keinerlei Anstrengung anzumerken war.»Unmittelbar vor dem Ausgang wirst du auf <strong>der</strong> einen Seite <strong>der</strong> Höhle noch einmal das Bild <strong>der</strong>zwölften Stunde aus dem ägyptischen ›Amduat‹ sehen, den Moment des Sonnenaufgangs, indem die zwölf beziehungsweise dreizehn Göttinnen die Sonnenbarke aus dem Leib <strong>der</strong> Nachtschlangeherausziehen, und <strong>der</strong> große Skarabäus die Hülle seines unterweltlichen Kokonsdurchbricht.«Als wir uns schließlich dem Höhlenausgang näherten, erkannte ich auf <strong>der</strong> linken Seite jenesBild aus <strong>der</strong> großen Kuppelhalle wie<strong>der</strong>. Auf <strong>der</strong> gegenüberliegenden Seite befand sich jenesWappenzeichen mit <strong>der</strong> doppelten Treppe, wie es gestern Abend beim Hinuntergehen in dieErde schon erschienen war; nur waren jetzt die Farben Schwarz und Weiß vertauscht, sodass <strong>der</strong>freie, aus mehreren Würfeln gebildete Treppenraum nun hell und alles außen herum dunkel war.»Erkennst du das Symbol?«, wollte Maja von mir wissen.»Ja, es ist ein Wappenzeichen, die sogenannte Heiligenberger Stiege«, gab ich ihr zur Antwort.»Und weißt du auch, dass diese doppelte Stufenform ein Hinweis auf die zwei entgegengesetztenWege in <strong>der</strong> Erde ist: <strong>der</strong> des Abstiegs und <strong>der</strong> des Aufstiegs? Du wohnst doch in einer Ortschaft,die ›Steigen‹ heißt, nicht wahr?«, fragte Maja mich erneut.»Ja, ich wohne in ›Steigen‹«, stimmte ich selber ganz überrascht zu. »Ich habe mich zwar immerüber dieses eigentümliche Wappen gewun<strong>der</strong>t, wusste sie aber nie richtig zu deuten. Jetzt ist allessehr einleuchtend.«Inzwischen waren wir oben am Ausgang <strong>der</strong> Höhle angelangt, und im immer strahlen<strong>der</strong> undheller werdenden Licht des Tages begannen die Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Nacht und <strong>der</strong> Unterwelt dem Augeimmer mehr zu entschwinden und unkenntlich zu werden.


373


374DurchbruchDie Wandlung <strong>der</strong> Schildkröte zur Leier des Apollon»Nun erhebe deine Stimme, du meine göttliche Schildkröte.«(SAPPHO, V. Buch)


375Die Sonne war gerade über dem Horizont erschienen, als wir aus <strong>der</strong> Höhle traten. Da sah ichMaja zum ersten Mal im vollen Tageslicht: Die kleine, strahlende Sonnenschildkröte grüßte diegroße Sonne am Himmel und schaute ihr entgegen.»So ähnlich wie jetzt, früh am Morgen, unmittelbar nach dem Verlassen einer Höhle, so musstdu dir die Situation vorstellen, die Homer in seinem berühmten Hymnus an den Gott Hermesbesungen hat. Höre:›Singe mir, Muse von Hermes, dem Sohne des Zeus und <strong>der</strong> Maia,<strong>der</strong> Kyllene beherrscht und das herdenreiche Arkadien,ihm, dem Boten <strong>der</strong> Götter, dem segenspendenden; Maiahat ihn dem Zeus in Liebe geboren, die lockige, hehreNymphe ...Morgens war er geboren, am Mittag schlug er die Leier ...‹(HOMER 1927: 24f.)Die Nymphe Maia war vielleicht auch eine Göttin <strong>der</strong> Nacht und des Nachthimmels, schließlichist sie eine <strong>der</strong> sieben Plejaden, des Siebengestirns (KERENYI 1983, Bd. I: 129f.); sie hattein einer dunklen Höhle ihre Wohnstatt und gebar dort den Gott Hermes. Kaum geboren, verlässtdieser die kindliche Wiege und die bergende Grotte; er tritt heraus als ›göttliches Kind‹, alsSinnbild des Jungen, Neuen, voll Zukunft Handelnden, noch nicht vom Alten und Gewordeneneingeholt, eingeengt, bedrückt o<strong>der</strong> gar erschlagen – wie Abel von seinem älteren Bru<strong>der</strong> Kain.›Nun er dem unsterblichen Schoß <strong>der</strong> Mutter entsprungen,lag und weilte er nicht mehr lange in <strong>der</strong> heiligen Wiege;über die Schwelle <strong>der</strong> hohen Höhle schritt er von dannen,stürmte davon …Eine Schildkröte fand er; sie brachte ihm mächtigen Reichtum:Hermes formte sie ja zuerst zur singenden Laute.Sie begegnete ihm vorn an <strong>der</strong> Türe des Vorhofs,wie sie an dem frischen Gras vor dem Hause sich nährte ...‹(ebd.)Schon mit diesem Schritt hinaus offenbart sich <strong>der</strong> entscheidende Grundzug seines Wesens:Hermes ist <strong>der</strong> ›Gott des Weges‹, <strong>der</strong> ›Götterbote‹. Er ist nicht einfach <strong>der</strong> Gott eines Weges, <strong>der</strong>schon vorhanden ist, son<strong>der</strong>n er ist <strong>der</strong> ›Wegbereiter‹, <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> neue und bisher verschlosseneWege eröffnet und damit an<strong>der</strong>e Möglichkeiten erschließt. Wenn also Hermes so entschlossenaus <strong>der</strong> tiefen Höhle des Berges heraustritt, dann drückt sich darin aus, dass er einen Wegheraus aus <strong>der</strong>en saturnhafter Abgeschlossenheit gegenüber dem All zu ebnen und zu weisenvermag: <strong>Das</strong> Kind als die Zukunft <strong>der</strong> Höhle, <strong>der</strong> Erde überhaupt! (vgl. KERENYI 1978: 99f.;OTTO 1956: 195f.)«Strahlenschildkröte ausMadagaskar.


376»Aber dann ist ja Hermes gar nicht <strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> Händler, Diebe und Wegelagerer!«, gab ich zubedenken.»Zu einem solchen haben ihn manche gemacht, aber das sind letztlich Oberflächlichkeiten undgehen an dem, was die Kraft des Hermes in Wahrheit für die Welt bedeutet, vorbei. Schau doch,was diesem ›göttlichen Kind‹ als erstes begegnet: eine Schildkröte, die selber wie ein Stein, wieeine felsige Höhle ist und dennoch lebt: ein Bild für die verborgene Lebendigkeit des Steines,<strong>der</strong> Erde selbst!Die etymologische Herkunft des Namen Hermes ist noch immer nicht ganz klar; ›Hermes‹wird von zwei Stammsilben gebildet: ›ma, me‹, das die materiell-sichtbare Welt repräsentiert– das M ist <strong>der</strong> einzige mit ganz geschlossen bleibenden Lippen gebildete Konsonant, <strong>der</strong>ein individuelles Innen gegenüber dem All und Allem abschließt (vgl. WALSER 1808: 56f.);somit ist das M auch <strong>der</strong> Laut <strong>der</strong> reinsten Innerlichkeit. Als zweites wird <strong>der</strong> Name von <strong>der</strong>Silbe ›her-‹ gebildet, die sich ursprünglich aus <strong>der</strong> Sprachwurzel ›quer, ger, ker‹ herleiten lässt(GEBSER 1973, Bd. III: 192). Diese Silben stehen für Prozesse wie ›drehen, treiben, streben,wachsen‹.Vielleicht klingt in dem Namen Her-mes tatsächlich etwas an wie ein ›ker‹ des ›ma‹, eineKraft, die die Kehre, die Umkehr des bloß Materiellen zu bewirken vermag. Schließlich stecktin seinem lateinischen Namen ›Mercur‹ neben dem ›ma, me‹, auch das ›cur, currus‹, <strong>der</strong> Lauf;›curare‹, sorgen, pflegen; ›kurieren‹, heilen!Vermag also Hermes-Mercur das Urleid <strong>der</strong> Materie zu ›heilen‹, sie wie<strong>der</strong> ›ganz zumachen‹, mit dem Geist erneut zu versöhnen, das individualisierte Abgetrennte mit dem All?›Cur?‹ meint im Lateinischen auch die Fragen ›warum?, wofür?‹. Sollte vielleicht Hermes-Mercur an jegliche physische <strong>Das</strong>einsform die Frage stellen: Warum ›ma‹? Wozu? – Wofür willstdu überhaupt diese individuelle Existenz? Welchen Sinn willst du ihr geben? Was fängst dudamit eigentlich an? Hermes-Mercur stellt die grundsätzliche Frage nach <strong>der</strong> einzig vertret -baren <strong>Das</strong>einsberechtigung! Wie könnte diese aussehen, welche Bedingungen wären zu erfüllen,damit durch das Individuelle das Ganze nicht zerfällt und am Ende zerstört und atomisiertwird?«Wir waren in <strong>der</strong> Zwischenzeit ganz aus <strong>der</strong> Höhle herausgetreten, und ich bemerkte, dass sichihr Ausgang im oberen Teil einer steil abfallenden Felswand befand, an <strong>der</strong> entlang ein schmalerWeg nach oben führte. Unter uns lag eine weitgestreckte hügelige Landschaft im frühmorgendlichenLicht. Ich schaute mich um, und plötzlich erkannte ich die Gegend wie<strong>der</strong>: Weit in<strong>der</strong> Ferne lag <strong>der</strong> Bodensee, über dem hoch <strong>der</strong> Säntis mit <strong>der</strong> Alpenkette thronte. Unmittelbaruns zu Füßen lag Steigen.»Doch zurück zu Hermes und <strong>der</strong> Schildkröte«, fuhr Maja fort. »<strong>Das</strong>s er anschließend dieSchildkröte tötet und aushöhlt, darfst du nicht zu wörtlich nehmen und zu äußerlich auffassen;zumal es auch eine ägyptische Legende gibt, nach <strong>der</strong> <strong>der</strong> Gott Thot einst einen ausgetrocknetenSchildkrötenpanzer fand, über den noch einige Sehnen gespannt waren, die im Wind ertönten(vgl. SÜSS 1991: 190). Nimm die Handlung des Hermes als Sinnbild für das, was wir inden letzten Stunden über den Vorgang des Durchbruchs und <strong>der</strong> Verwandlung gesprochen


3771haben, über das Sich-Erschließen und die Bedeutung des Wortes Opfer, im Sinne von Sich-Öffnenfür ..., damit im eigenen Inneren Raum für an<strong>der</strong>es entstehen kann.«»<strong>Das</strong> also steckt hinter dem Bild, wenn er die Schildkröte tötet, aufbricht und aushöhlt?«, fragteich erstaunt.2»Man könnte es auch so ausdrücken: Hermes verwandelt den exklusiven Eigenraum, den dasegozentrierte Individuum eigentlich missbraucht hat, indem es diesen zu einem Versteck, zueiner saturnhaften Räuberhöhle gemacht hat. Diesen alles an<strong>der</strong>e abwehrenden und aus sichaus-schließenden Ich-Panzer bricht nun Hermes auf und schafft im Inneren einen neuen Freiraum.In diesem Mythos wird von <strong>der</strong> Wandlung des alten Raumes <strong>der</strong> Saturnhöhle in einenKlangraum erzählt. Aus dem leiblich-stofflichen Körper, in dem die Seele bisher eingeschlossenund gefangen war, wird ein Resonanzkörper, in dem sich Schwingungen und Klänge erst wirklichentfalten können – und die Seele wie<strong>der</strong> frei atmen kann!Hier wird ein tiefes <strong>Geheimnis</strong> berührt: <strong>Das</strong> Licht bedarf <strong>der</strong> Außenseite <strong>der</strong> Gegenstände,um durch die Reflexion an <strong>der</strong> Oberfläche überhaupt sichtbar zu werden; zugleich aber wirdes durch die Dinge aufgehalten und an einem Weiterkommen gehin<strong>der</strong>t. Der Klang jedoch vermagzum einen die Gegenstände selbst in Schwingung zu versetzen und sie auf diese Weise zudurchdringen; gleichzeitig bedarf <strong>der</strong> Klang gerade <strong>der</strong> Innenseiten <strong>der</strong> Körper, um die volleWirkung seines ganzen kraftvollen Tönens entfalten zu können.«»Der Klang, das Innen, ein Resonanzraum, die Seele ...«, sagte ich langsam und nachdenklichleise vor mich hin.1 Ausgehöhlter Schildkröten -panzer als Resonanzraum.2 Schildkröte als Trommel,Tonfigur von den Mayas (ausMARTI 1970).»In vielen Kulturen taucht die Schildkröte als ein solcher Klang-Innenraum immer wie<strong>der</strong> auf.So war bei den Mayas <strong>der</strong> ausgehöhlte Schildkrötenpanzer, ›ayotl‹ genannt, als eine Art Trommelin Gebrauch, die oft mit dem Geweih eines Wildtieres angeschlagen wurde (vgl. MARTI1970, Bd. 2: 102ff.); auch stammen von ihnen viele Darstellungen, auf denen ein Mensch ausdem Maul einer Schildkröte herauskriecht. Jene Jaboti-Schildkröte, <strong>der</strong>en Mythos mit dem zerbrochenenPanzer ich dir gestern erzählt habe, spielt übrigens sehr gerne Flöte, so heißt es.«


3781»Da fällt mir ein, ich besitze eine sehr schöne südamerikanische Okarina in Form einer tönernenSchildkröte; auf <strong>der</strong> Bauchseite ist sogar eine Schlange als Verzierung«, fügte ich hinzu.»Ja, ich weiß, doch kehren wir nun zu Hermes zurück und schauen, wie er aus dem Klang körper›chelys‹, die Schildkröten-Leier, vollendet (vgl. DUMOULIN 1992: 85ff.). Er befestigte ausTierhörnern bestehende ›Arme‹ daran, die er durch einen Steg oben miteinan<strong>der</strong> verband; dannlegte er ein Stierfell über den Hohlraum und spannte die sieben Saiten.›Als nun aber das liebliche Spielwerk vollendet,prüfte er mit dem Schläger die Saiten <strong>der</strong> Reihe nach: mächtigtönte unter <strong>der</strong> Hand des Gottes die Leier, und lieblichsang er aus freier Erfindung‹(HOMER, ebd.)21 Okarina in Schildkrötenform.2 Rekonstruktion des Chelys-Inneren von P. Courbin(aus DUMOULIN 1992: 233).So ist Hermes oft mit <strong>der</strong> Schildkrötenleier in <strong>der</strong> Hand dargestellt worden.Ich möchte dir aber nun zeigen, dass die Gestalt <strong>der</strong> Chelys-Leier mit ihren verschiedenenBauteilen und <strong>der</strong>en Formen und Anordnungen geradezu ein archetypisches Symbol darstelltfür einen außergewöhnlichen Verwandlungsprozess voller <strong>Geheimnis</strong>se und Andeutungen.Beginnen wir mit den zwei aufragenden, oft aus Tierhörnern bestehenden ›Armen‹: Sehensie nicht aus wie zwei zum Himmel gestreckte Arme eines Menschen – flehend, bittend, betend,ganz offen für das von dort Kommende? Formen nicht auch die oft so wun<strong>der</strong>voll gebogenenHörner <strong>der</strong> Rin<strong>der</strong> geradezu eine Art Kelch? Und dann <strong>der</strong> Vorgang, <strong>der</strong> sich hinter dem ›Spannen<strong>der</strong> Saiten‹ verbirgt: Wie wenn eine Beziehung zwischen zwei Polen hergestellt wird, so wieeine Brücke einen Fluss über-spannt. Für den altgriechischen Philosophen Heraklit waren dieLeier und <strong>der</strong> Bogen geradezu ein Urbild für jene allem wirklich Lebendigen innewohnendeSpannkraft, dieses ›Aneinan<strong>der</strong>binden des Auseinan<strong>der</strong>strebenden‹ (DIELS 1963: 27); auf <strong>der</strong>Ebene des Bewusstseins entspräche dieser Spannkraft das, was man ein ›echtes Interesse‹ nennt,meint doch Inter-esse: nicht nur bei sich selbst, aber auch nicht nur beim an<strong>der</strong>en, o<strong>der</strong> gar darinverloren, son<strong>der</strong>n wörtlich: ›dazwischen sein‹, im Spannungsfeld <strong>der</strong> gegenseitigen Begegnung!Ist das Spannen <strong>der</strong> Saiten nicht ein sehr eindrucksvolles Bild für das, was geschieht,wenn etwas aus seiner bloßen Selbstbezogenheit und dem Verfallensein an die eigene Schwereherausgehoben, um nicht zu sagen herausgezogen, befreit wird und auf diese Weise in ein neuesVerhältnis zu einem an<strong>der</strong>en findet?


3791 2<strong>Das</strong> Sich-über-sich-hinaus-Spannen ist überhaupt eine <strong>der</strong> Urgesten alles Lebendigen;denke nur an die Pflanzen, wie sie <strong>der</strong> Schwerkraft entgegen nach oben wachsen und sich erheben,so kraftvoll und anmutig zugleich; o<strong>der</strong> viele <strong>der</strong> Tierarten, die sich vom Boden lösen undvoll Harmonie bewegen; o<strong>der</strong> ihr, die ihr euch aufzurichten vermögt und euren eigenen freienStand erlangt und euren erhabenen Gang, ... o<strong>der</strong> das Aufsteigen einer Flamme!Hatten wir nicht schon, wenn auch auf einer an<strong>der</strong>en Ebene, etwas Ähnliches bei <strong>der</strong>Betrachtung des Würfels als des Sinnbilds <strong>der</strong> Erde kennengelernt? <strong>Das</strong>s dieser, sofern er aus<strong>der</strong> Schwerelage gehoben und in die Schwebelage gebracht wird, eine völlig neue Ausrichtungerfährt?«»<strong>Das</strong> stimmt, auf diese so weitreichende Verbindung wäre ich alleine nicht so schnell gekommen«,fügte ich hinzu.1 Hermes mit <strong>der</strong> Schild -krötenleier, nach einer Zeichnungauf einer griechischenSchale (aus SÜSS 1991).2 Hermes mit Schildkröten -leier und Merkurstab.»Schau nur einmal dieses Bild genau an, nimm es als Sinnbild: Aus dem Panzer <strong>der</strong> Materie-Erd-Schildkröte als Resonanzkörper ragen die sich dem Himmel weihenden Geweihe o<strong>der</strong>Hörner empor und bilden einen nach oben hin offenen Kelch. In diesem kelchförmigen,empfänglichen Feld wird eine Spannung nach oben hin erzeugt, die das Ganze in ein echtesSpannungsverhältnis zum Kosmos bringt. In diesem Spannungsfeld entsteht dann <strong>der</strong> Ton, <strong>der</strong>Klang! In diesem Gespanntsein auf ... beginnt das Schwere und Erstarrte wie<strong>der</strong> zu schwingen,erklingt die Welt, beginnt die Weltseele wie<strong>der</strong> zu atmen und zu leben. Die Schwingungen <strong>der</strong>Saiten sind <strong>der</strong> Atem <strong>der</strong> im Stoff gefangenen Weltseele, ihre Töne <strong>der</strong> Klang ihrer nach Befreiungrufenden Stimme.In den Schwingungsformen <strong>der</strong> sieben richtig gestimmten Saiten – sieben war die Zahl <strong>der</strong>Planeten des Himmels und ihrer Sphären – offenbarten sich die Proportionen <strong>der</strong> himmlischenHarmonien und <strong>der</strong> Sphärenmusik. Im gekonnten Spiel als dem angemessenen ›Anschlagen‹<strong>der</strong> Saiten – dem Sinnbild für das Erfassen und Bewegen <strong>der</strong> Materie – konnte sich in <strong>der</strong> erklingendenMusik eine Übereinstimmung mit dem Kosmos einstellen. So war auch für die altchinesischenMeister die Musik das harmonisch Vereinigende von Himmel und Erde.«


3801 2»Maja, du hast es schon gestern angedeutet, aber so langsam beginne ich die ganze Dimensiondessen erst jetzt zu erahnen: Jede Form, jede Bewegung, jedes Tun – alles ist eine Geste vonunermesslicher Bedeutung und Tragweite, alles ist ein Ereignis, das die Welt in jedem Augenblickmitgestaltet und damit verän<strong>der</strong>t«, musste ich ihr zugestehen.»Eine sehr schöne Geschichte aus Indien berichtet von einer tiefen Verbindung <strong>der</strong> Saiteninstrumentemit <strong>der</strong> Schildkröte. Komm, setze dich hier auf diesen Fels neben mich, ich will sie direrzählen:›Über die Anfänge <strong>der</strong> Saiteninstrumente erzählt man sich, dass die Göttin Parvati, dieFrau Shivas, sich entschlossen hatte, dem Menschen etwas zu schenken, weil sie angesichtsdes Schicksals, das ihn bei seinem irdischen Abenteuer erwartet, Mitleid empfand; etwas,das ihn vor den Dämonen schützen und ihm ermöglichen sollte, auf Erden die Welt <strong>der</strong> Götterzu finden, falls er es wollte. Aber Shiva, eifersüchtig über diese Aufmerksamkeit, zerstörte ihrGeschenk mit einem einzigen Schlag. Die Bruchstücke fielen in die Meere und auf die Wäl<strong>der</strong>herab, schufen die Muscheln und die Schildkröten, drückten sich in das Holz <strong>der</strong> Bäume ein,sanken sogar bis hinab in die Hüften <strong>der</strong> Frau. Unversehrt gelangte zum Menschen nur <strong>der</strong>Bogen, er wurde jedoch durch viele Generationen als Waffe benutzt. Er war die erste schwingendeSaite. Viele göttliche Zeitalter sollten vergehen, bis es dem Menschen gelang, aus einemSchildkrötenpanzer ein erstes Saiteninstrument zu bauen, das jedoch noch mit dem Fingergezupft wurde. Erst als sich das letzte und furchterregendste Zeitalter näherte, entdeckte <strong>der</strong>Mensch, wie sein Bogen gebraucht werden konnte, um Saiten zum Schwingen zu bringen undauf diese Weise den anhaltenden Ton nachzuahmen, <strong>der</strong> die Welt geschaffen hatte, den Hauch,den Shivas, des tanzenden Gottes, wirbelndes Kleid hervorbrachte. Er, <strong>der</strong> das Universumregiert und die Ordnung aufrechterhält.‹ (MAURENSIG 2003: 7f.).Hast du gemerkt, auch hier klingt etwas an von jenem Motiv eines Sturzes aus dem Himmelund <strong>der</strong> Erscheinung <strong>der</strong> Schildkröte, einer Zertrümmerung und ihrer Wandlung in einenResonanzkörper.«1 Ideale Schwingungsformeneiner Saite, nach P. Neubäcker.2 Griechische Münze mitSchildkrötenleier (aus SÜSS1991).»Sollten vielleicht in den Mustern und Strukturen deines Panzers«, fragte ich, »zum einen diehimmlisch-lichten Harmonien ihren Nie<strong>der</strong>schlag gefunden haben, zum an<strong>der</strong>en aber auchZeugnis ablegen von jenem gellend herzzerreißenden Schrei <strong>der</strong> Kore-Weltseele – einem sicherlichvöllig dissonanten Not-Ton –, von dem alles erschüttert wurde, als sie von Dis ihres Im-All-Seins beraubt und in die abgeschiedene Unterwelt entführt wurde? – Homer hat dieses Geschehendoch geschil<strong>der</strong>t!«


381Worauf Maja sogleich die Stelle aus dem homerischen Hymnus an Demeter anstimmte:›Aber so lange die Göttin [Kore] das Sternengewölbe des Himmelsund die Erde noch sah und die Flut des fischreichen Meeresund des Helios Licht und auch noch hoffte, die treueMutter zu schaun und die Schar <strong>der</strong> ewiglebenden Götter,hegte ihr hoher Sinn noch Hoffnung trotz aller Betrübnis ...Hallend tönten die Höhen <strong>der</strong> Berge, die Tiefen des Meeresvon <strong>der</strong> unsterblichen Stimme, die hehre Mutter vernahm sie.Schneiden<strong>der</strong> Jammer durchfuhr ihr Herz ...‹(HOMER 1927: 54f.)Im Bild meines Panzers haben beide Welten und Reiche ihre Spuren hinterlassen. Von den vielenRissen, <strong>der</strong> schrecklichen Erschütterung im Ereignis <strong>der</strong> Kristallisation und dem tiefen innerenZusammenhang all dessen mit <strong>der</strong> Zahl dreizehn und dem Tod haben wir gestern gesprochen.Ebenso haben wir vergangene Nacht betrachtet, wie durch die Gegenkraft des Herzensund die Inkarnation des Lichtes, diese ›Zerrissenheit <strong>der</strong> Dreizehn‹ zu einem zwar schmerzhaften,aber ebenso unerlässlichen Moment eines allesübergreifenden Prozesses <strong>der</strong> Transformationwird.«»Hans Jenny hatte doch einmal gesagt, dass die Tiere ›Hieroglyphen‹ seien, in denen sich dasWeltall spiegelt, o<strong>der</strong>?«, schaute ich sie fragend an. »Ich spüre es immer deutlicher: Alles ist Hieroglyphe,heiliges Zeichen.«11 Signatur von Lichtstrahlenund Schallwellen.2 Strahlenschildkröte.2


3821»Ich habe dich auch schon darauf hingewiesen, dass sich im Zusammenspiel <strong>der</strong> goldgelbenFarbmuster in meinen Schildplatten und <strong>der</strong>en Wachstumsrillen die Signaturen von Licht undKlang wi<strong>der</strong>spiegeln: die hellen, geraden und vom Zentrum ausgehenden Linien entsprechengenau <strong>der</strong> phänomenologischen Typik <strong>der</strong> Lichtstrahlen, und die ringförmig um die Schildeherumlaufenden Linien <strong>der</strong> Wachstumsrillen den Ausbreitungsformen von Schallwellen!<strong>Das</strong>s sogar in den Formgebungen und Ordnungsstrukturen meines Panzers Gestaltbildungenvon Schwingungsprozessen – von Klängen also – ihren Ausdruck finden, das hast dumit deinen Schwingungsexperimenten während <strong>der</strong> letzten Jahre schon ansatzweise sehr eindrucksvollaufzeigen können. Würdest du das für den weiteren Fortgang unserer Betrachtungennoch einmal kurz zusammenfassen?«»Versetzt man dünne und zuvor mit feinem Sand bestreute Metallplatten von unten her inSchwingung, so entstehen bei bestimmten Tonhöhen, die in Resonanz zu den Eigenschwingun-1 Chladnische Klangfiguren,Stahlplatte.2 Vergleich von Schwingungsmusternmit Naturformen,Collage mit in <strong>der</strong> MitteZeichnung von E. Haeckel(aus HAECKEL 1989).2


383Vergleich <strong>der</strong> Typik vonSchwingungsmustern mit demFell des Zebras.gen <strong>der</strong> Platte stehen müssen, ganz klare, aus Sandlinien geformte Muster: die nach ihrem erstenEntdecker benannten Chladnischen Klangfiguren (LAUTERWASSER 2002: 37ff.). Durch dieVibrationen <strong>der</strong> Platte wird diese wellenartig verformt, das heißt, es bilden sich einerseits Wellenbäuchemit einem Maximum an Bewegung, sodass <strong>der</strong> Sand von dort weggeschleu<strong>der</strong>t wird,und an<strong>der</strong>erseits sogenannte Knotenlinien mit minimalen Plattenbewegungen, entlang <strong>der</strong>ensich <strong>der</strong> Sand sammelt und zur Ruhe kommt. Aus diesem Wechselspiel von Ruhe und Bewegungentstehen die faszinierenden Muster. Diese sind neben vielen an<strong>der</strong>en Faktoren beson<strong>der</strong>svon den Formen <strong>der</strong> Platten abhängig. Werden elliptische Platten in Schwingung versetzt, soentstehen Muster, die eine verblüffende Formverwandtschaft mit organischen Strukturen aufweisen.«


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3851 Schwingungsmuster einerStahlplatte, links 1364 Hertz,mit deutlichem 24er-Kranz,rechts 4768 Hertz mit be -liebigem Muster.2 Schwingungsmuster einerPlattenform, die dem Innenteildes Schildkrötenpanzers entspricht.3 Schwingungsmuster einerPlattenform, die dem Umrisseiner Schildkröte entspricht.»Ob Novalis solche Chladnischen Klangfiguren gekannt hat o<strong>der</strong> nicht, er muss das sehr genaugespürt haben, wenn er meinte: ›Sollte alle plastische Bildung, vom Kristall bis auf den Menschen,nicht akustisch, durch gehemmte Bewegung zu erklären sein?‹ (NOVALIS 1957, Bd. II:351). Er hat auch von <strong>der</strong> ›unendliche[n] schöpferische[n] Musik des Weltalls‹ gesprochen(NOVALIS 1968: 398).Auch wenn Ernst Florens Chladni lange vergessen ist und die Weltsicht eines Novalis alsunwissenschaftliche Romantisiererei abgetan wird, allmählich tauchen <strong>der</strong>artige Ideen wie<strong>der</strong> inBüchern namhafter Wissenschaftler auf. In einem preisgekrönten Buch über ›Die Musik <strong>der</strong>Primzahlen‹ vergleicht Marcus du Sautoy, ein bekannter Mathematiker, ›auf den Spuren desgrößten Rätsels <strong>der</strong> Mathematik‹ wandelnd, Phänomene <strong>der</strong> Quantenwirklichkeit mit denen <strong>der</strong>Chladnischen Klangfiguren. Nachdem er aufgezeigt hat, dass das klassische Atommodell mit<strong>der</strong> Vorstellung eines dinghaften Kerns, um den die Elektronen wie die Planeten um die Sonnekreisen, nicht mehr haltbar ist, erklärt er, dass sich das Geschehen dessen, was wir ›Atom‹ nennen›eher wie eine Trommel‹ verhält. ›Die Schwingungen beim Schlag einer Trommel setzen sichaus bestimmten Grundmustern zusammen, von denen jedes seine eigene Frequenz hat.‹Da diese Muster in den Chladnischen Klangfiguren ihren Ausdruck finden, können diesesehr gut als eine adäquate Beschreibung eines Atoms herangezogen werden. Die Physiker hattenerkannt, ›dass die Mathematik zur Beschreibung <strong>der</strong> Frequenzen im Klang einer Trommeldieselbe ist, mit <strong>der</strong> sich auch die charakteristischen Energieniveaus <strong>der</strong> Elektronen in einemAtom vorhersagen lassen. Die Abmessungen eines Atoms entsprechen den Rän<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Trommel.Kräfte in den Atomen bestimmen die Schwingungen <strong>der</strong> subatomaren Teilchen, ebenso wiedie Spannung des Trommelfells o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Umgebungsdruck die Schwingungen festlegt, die denKlang einer Trommel ausmacht. Jedes Atom gleicht einer von Chladnis Platten. Die Elektronenin einem Atom schwingen nur in ganz bestimmten Mustern, ebenso wie die von Chladni sichtbargemachten Muster auf <strong>der</strong> Platte. Die Anregung eines Elektrons lässt es auf einer neuen Frequenzschwingen, ebenso wie Chladni neue Sandmuster erzeugen konnte, indem er seine Plattenmit seinem Geigenbogen auf eine an<strong>der</strong>e Weise anregte. Jedes Atom im Periodensystem hatseine ihm eigenen Frequenzen, auf denen die Elektronen dieses Atoms bevorzugt schwingen.Diese Frequenzen sind so etwas wie die Signatur eines Atoms.‹(SAUTOY 2006: 324f.)Es wird zwar sicher noch viele Jahre dauern, bis auch die Biologen ihr noch an <strong>der</strong> Physikeines Isaac Newton orientiertes vergegenständlichendes Denken werden überwunden haben,aber irgendwann werden sich die Erscheinungsformen <strong>der</strong> Tiere mit allen ihren Farben, Mus -tern und Zeichnungen auch euch als faszinierende Äußerungen komplexester Klangstrukturenund Schwingungsfel<strong>der</strong> offenbaren: jedes Tier, ja, jede Pflanze, alles überhaupt ... ein Klang,eine Melodie ... alle Erscheinungen in diesem Kosmos wie ein tönend-klingendes Instrument,mitspielend in <strong>der</strong> fantastischen Symphonie <strong>der</strong> Schöpfung.Du hast doch auch Versuche unternommen, <strong>der</strong>en Schwingungsbil<strong>der</strong> ganz nahe an dasMuster meines Rückens heranreichten, o<strong>der</strong>?«»Richtig, nimmt man elliptische Platten o<strong>der</strong> solche, <strong>der</strong>en Umrisse <strong>der</strong> Form <strong>der</strong> Schildkrötenachgebildet sind, so entsteht dort zunächst mit wechselnden Frequenzen eine beinahe unüberschaubareAnzahl von Mustern, die überhaupt keine Ähnlichkeit mit deinem Rücken aufweisen.


38611 Schwingungsmusterelliptischer Plattenformen.2 Vergleich <strong>der</strong> Grundformendes Schildkrötenpanzers mitSchwingungsmustern: Haupt -glie<strong>der</strong>ung in Randbereichund Mittelteil, 24er-Außenring,geglie<strong>der</strong>te Mittelachse,Formen einzelner Schilde,wie Fünfeck o<strong>der</strong> Sechseck.2


387Bei einigen Tonhöhen jedoch können sich Strukturen ausbilden, die fast genau dem Urtypus desSchildkrötenmusters entsprechen. So konnte ich eine Schwingung finden, die im Randbereich<strong>der</strong> Platte tatsächlich eine Glie<strong>der</strong>ung mit 24 Fel<strong>der</strong>n erzeugte, wie sie auch auf deinem Rückenanzutreffen ist; sogar mit einem Mittelfeld, das deutlich durch eine entsprechende KnotenbeziehungsweiseSandlinie, deiner ›Hauptrille‹, vom Rand abgegrenzt war. Einzelne Schildformen,wie das Sechseck in <strong>der</strong> Mitte o<strong>der</strong> das Fünfeck vorne zeigten sich ebenso ganz eindeutig.Nur alle diese Phänomene zusammen und auch noch mit den dreizehn Fel<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Mitte, dasist mir bisher noch nicht gelungen!« Mit diesen Worten versuchte ich kurzgefasst die Ergebnissemeiner Arbeit mit Chladnischen Klangfiguren zu schil<strong>der</strong>n.Daraufhin meinte Maja: »Es wäre ja auch – verzeihe mir bitte den Ausdruck – etwas naiv zuglauben, man könne die Erscheinungsform eines Lebewesens aus einer schwingenden Stahlplatteherleiten, und dazu noch mit einigen wenigen Frequenzen. <strong>Das</strong> Schwingungsfeld einesLebewesens umfasst mindestens die Komplexität einer mehrsätzigen Symphonie!Aber das Entscheidende und Eindrucksvolle ist, dass wir hier ein konkretes, anschaulichesBeispiel vor uns haben, das zeigt, dass Schwingungen, Töne und Klänge in <strong>der</strong> Lage sind, denmateriellen Stoff zu ergreifen, in Vibration zu versetzen, ihn somit aus seiner bloßen Schwerkraftsbezogenheitherauszureißen, und ihn dann zu bewegen, in einen Prozess zu bringen. – DieSandkörner vollziehen tatsächlich Ortsverän<strong>der</strong>ungen und Umstrukturierungen <strong>der</strong> Lageverhältnisse.Und diese Bewegungen des Sandes verlaufen nicht einfach chaotisch und damit form-Zahlenordnungen und klaregeometrische Strukturen beischwingenden Wassertropfenzwischen 30 und 90 Hertz.


388los, son<strong>der</strong>n durch die Vibrationen <strong>der</strong> Schwingungen kommen Formen in diese Bewegungs -abläufe: Ergreifen – bewegen – gestalten! Töne gestalten schöpferisch die Welt!Sand ist jedoch nicht unbedingt ein ideales Gestaltungsmedium – zumal wenn er ganztrocken ist. Erzähle mir in Kürze, was deine Schwingungsexperimente mit Wasser zu den Formtypen<strong>der</strong> Schildkröte bisher ergeben haben.«»Zunächst einmal ist es sehr erstaunlich, dass sich in einzelnen Wassertropfen, die in nie<strong>der</strong> -frequente Schwingungen versetzt werden, klar geformte, geometrische Zahlenordnungen ausbilden.Dies ist ein augenscheinlicher Hinweis auf den inneren Zusammenhang von Klang, Zahlund Gestalt, auf die verborgene Musikalität <strong>der</strong> Welt. Es haben sich sogar Formen mit Wellenbildungenam Rand <strong>der</strong> Tropfen gezeigt, die deinem 24er-Ring sehr ähnlich sind; sogar imInnenbereich tauchten im Ansatz ähnliche Strukturen auf.Darüber, dass man die segmentartig geglie<strong>der</strong>te Ordnung deines Rückens als Spuren vonSchritten, Stufen o<strong>der</strong> gar als Bewegungsmomente von fortlaufenden Wellen auffassen könnte,haben wir schon gesprochen. Gerade zu den Bildegesten sich rhythmisch wie<strong>der</strong>holen<strong>der</strong> Wellenals Urbild für den Typus <strong>der</strong> Wirbelsäule konnte ich sehr schöne Beispiele finden – auchwenn sich das Phänomen eines sich <strong>der</strong>artig in die Länge ziehenden Wassertropfens ganz seltenund nur unter bisher noch nicht eindeutig geklärten Umständen zeigt. Ein Phänomen lässt sichnicht einfach machen, schaffen o<strong>der</strong> gar herbeizwingen!Nimmt man eine etwas größere Wassermenge und versetzt diese in einer elliptischen Schalein Schwingung, so entsteht auf <strong>der</strong> Wasseroberfläche zunächst ein eher chaotisch wirkendesSchwingende Wassertropfenmit wellenartigerGlie<strong>der</strong>ung am Außenrandund segmentartigenMustern im Inneren.


389Gewoge. Stimmen jedoch auch hier einzelne Frequenzen mit <strong>der</strong> Eigenschwingung des Gefäßesund <strong>der</strong> jeweiligen Wassermenge überein, dann können sich aufgrund <strong>der</strong> dann vorliegendenResonanz sogenannte Stehende Wellen ausbilden, und aus <strong>der</strong>en geordnet und einheitlichschwingenden Wellenbewegungen regelrecht ruhende Ordnungen und sogar komplexe Musterhervorgehen (vgl. LAUTERWASSER 2002; 2005; 2008). Auch bei diesen Versuchen habensich Formen ausgebildet, die beson<strong>der</strong>s im Randbereich <strong>der</strong> Formensprache deines Rückenssehr nahe kommen.«»Siehst du«, fügte Maja hinzu, »das sind doch alles wun<strong>der</strong>schöne Beispiele, die zeigen, wie nahunser so genial ›potenzierend-romantisieren<strong>der</strong>‹ Novalis diesem <strong>Geheimnis</strong> war. Doch lass unsjetzt wie<strong>der</strong> zu Hermes und seiner Leier zurückkehren, denn die Geschichte <strong>der</strong> Chelys ist nochlange nicht zu Ende.«»Ich bin sehr gespannt, was du noch alles aus diesem Mythos herausholen wirst«, erwi<strong>der</strong>te ichdarauf.11 Son<strong>der</strong>formen vonschwingenden Wassertropfenmit deutlich segmentartigen,rhythmischen Glie<strong>der</strong>ungen.2a2b2 Musterbildungen durchStehende Wellen in elliptischemGefäß mit Wasser undGlycerin: a) Phase 1, b) Gegenphase2; wo sich in a) einWellenberg befindet, ist in b)ein Wellental und umgekehrt.Deutlich ist die Glie<strong>der</strong>ungim Randbereich zu erkennen,die eine große Verwandtschaftzu dem in 24 Schilde geglie<strong>der</strong>tenAußenring des Schildkrötenpanzersaufweist.2a2b


390»Ich verkürze jetzt die ganze Rahmenhandlung ein wenig: Hermes erscheint nach einer Weile mit<strong>der</strong> Leier in <strong>der</strong> Hand vor Apoll und beginnt auf <strong>der</strong> Chelys zu spielen.›Da lächelte Phoibos Apollonfreudig erregt; <strong>der</strong> liebliche Klang <strong>der</strong> göttlichen Tönedrang in sein Herz und süßes Sehnen befiel seine Seele,wie er ihm lauschte. Da stand zur Linken Phoibos Apollonsfurchtlos Maias Sohn und rührte spielend <strong>der</strong> Leierschmelzenden Klang. Alsbald begann er unter den hellenTönen lauter zu singen mit lieblicher Stimme Begleitung.Feiernd besang er die ewigen Götter, die düstere Erde,ihrer aller Geburt und eines jeglichen Schicksal.‹(HOMER 1927: 38)Daraufhin erhält Apollon von Hermes die Schildkrötenleier als Geschenk.›Die Leier hielt mit <strong>der</strong> LinkenLetos leuchten<strong>der</strong> Sohn, <strong>der</strong> Herrscher und Schütze Apollon,prüfte dann mit dem Schläger die Saiten <strong>der</strong> Reihe nach, druntertönten sie mächtig, und herrlich scholl die Stimme des Gottes.‹(HOMER 1927: 40)Ist dir aufgefallen, dass jedes Mal – kaum ist die Chelys erklungen – die Götter gar nicht an<strong>der</strong>skönnen, als anfangen zu singen? Die Chelys und die Stimme: <strong>Das</strong> sollten wir nachher nochgenauer besprechen!Zu diesem Apollon mit <strong>der</strong> Leier in <strong>der</strong> Hand gibt es eine einmalig schöne, alte Darstellungim Inneren einer weißgrundigen Trinkschale, die in Delphi gefunden wurde. In einem kürzerenHymnos an Apollon hat Homer auch dies besungen:›Du stimmst mit klingendem Spieleden Himmelspol zur Harmonie,einmal schreitend dahinzu den Tönen <strong>der</strong> Tiefe,dann zur klingenden Höhe,und nun zu des Doriums Weise;mengend den ganzen Pol,son<strong>der</strong>nd die lebenssprossenden Stämme,mischend in Harmonieden Männern das Weltengeschick.‹(HOMER 1927: 50)


391Nimm jetzt all dies zusammen als ein einzigartiges Bild für die Licht-Klang-Natur des Kosmos,›dass Apollon mit den Klängen seiner Leier das Weltall in harmonischer Bewegung hält, und dasPlektron, mit dem er sie schlägt, ist das Licht <strong>der</strong> Sonne‹ (OTTO 1956: 81). Im lichthaftenAnschlagen <strong>der</strong> Saiten beginnt die Welt zu schwingen und zu tönen, wird <strong>der</strong> in ihrem Innerenverborgene und erstarrte Klang wie<strong>der</strong> gelöst, die verstummte Stimme <strong>der</strong> Weltseele wie<strong>der</strong> zumLeben erweckt: Geist befreit und erlöst die Seele!«»<strong>Das</strong> alles schwingt in diesem Bild mit und liegt in dessen tiefer Symbolik begründet?«, fragteich wie<strong>der</strong> erstaunt. »All das sind wirklich unermesslich tiefgründige Chiffren und Gesten desAlls. Alles ist, was es ist, und dann noch einmal ...«»Apollon, das Trankopferspendend«, mit <strong>der</strong> Schild -krötenleier im Arm, Delphi, um470 v. Chr. (aus ANDRONICOS1982: 80).»Warte,«, unterbrach sie mich, »die Chiffre gerade dieses Bildes reicht noch viel, viel weiter!Nimm zunächst einmal das oft verwendete Symbol des Hermes-Merkur. Darin spiegelt sichzum einen <strong>der</strong> Merkurstab, um den sich die zwei Schlangen nach oben winden und dort einennach oben hin offenen Dreiviertelkreis bilden; oft ist darin ein Vogel zu sehen, als Symbol fürden Geist.


39231Mit einer kleinen Verän<strong>der</strong>ung wird daraus das Zeichen für den Planeten Merkur, mit dem nachunten weisenden Kreuz; das heißt, dass sich nun das Merkurzeichen im unteren Teil aus demSymbol des Weiblichen und <strong>der</strong> Venus, und im oberen Teil aus diesem nach oben hin geöffnetenDreiviertelkreis zusammensetzt. Dieser ist aber zugleich auch das Bild einer Mondsichelo<strong>der</strong> das <strong>der</strong> nach oben geschwungenen Hörner eines Rindes: die Geste eines nach oben hinoffenen Kelches. Zur Zeit des neuen Reiches wurde in Ägypten die Göttin Isis, ähnlich <strong>der</strong> HimmelsgöttinHathor, oft mit einem solchen Kuh-Gehörn auf dem Kopf dargestellt, in dessenkelchartigem Innenraum sich die Sonnenscheibe befindet. Diese Symbolik sollte das folgendeGe heimnis zum Ausdruck bringen: ›Die den Geist empfangende Seele‹! Nun versuche einmal,dieses Symbolbild, bestehend aus Hermes-Mercurius, sowie das Isis-Bild und die Chelys-Schild krötenleier nebeneinan<strong>der</strong> zu halten, und betrachte es eingehend. Fällt dir etwas auf?«,fragte sie, während sie mich erwartungsvoll anschaute.21 Der Merkurstab mit denzwei sich nach oben windendenSchlangen (aus GeorgeRipleys »The Marrow ofAlchemy«, 1676, Caduceus,nach Holbein 1523, ausPURCE 1974).2 Hermes mit Merkurstabund Tieren (aus SÜSS: 1991).3 Vergleich <strong>der</strong> Bildsprache:Isis-Zeichen – Schildkrötenleier– Merkurzeichen.Ich verglich die verschiedenen Aspekte und Formen <strong>der</strong> drei Bildmotive miteinan<strong>der</strong> und plötzlichsprang mir eine grundlegende strukturelle Übereinstimmung ins Auge. »Die Schildkröte«,rief ich, selber ganz überrascht, aus, »<strong>der</strong> Kopf <strong>der</strong> Isis, das Venus-Zeichen, das gleichzeitig dasumgedrehte o<strong>der</strong> umgewendete Zeichen <strong>der</strong> Erde ist! Dann die ›Arme‹ <strong>der</strong> Leier, das kelchartigeKuh-Gehörn <strong>der</strong> Isis, die Mondsichel, o<strong>der</strong> die nach oben hin offenen Schlangen ...«»... in <strong>der</strong>en Mitte beim Merkurstab <strong>der</strong> Vogel als archetypisches Symbol des Geistes sitzt!«,ergänzte mich Maja. »Doch jetzt, jetzt erst kommt das Entscheidende! Erkennst du es nicht?«,und ich spürte, wie sie innerlich immer aufgeregter wurde.Im ersten Augenblick stutzte ich ein wenig, da das von ihr erhoffte Aha-Erlebnis in mir nochauf sich warten ließ, doch dann durchzuckte es mich wie ein Geistesblitz: »Die runde Sonnenscheibeauf dem Haupt <strong>der</strong> Isis als das Sonnenlicht und die geraden Linien <strong>der</strong> gespanntenSaiten <strong>der</strong> Chelys als Chiffren für die Lichtstrahlen: Sie sind ein und dasselbe. Aber ...« undwie<strong>der</strong> stockte ich, »das würde ja heißen, dass <strong>der</strong> sich zum All hin öffnende und für das Lichtempfänglich werdende Kopf mit seinem zu höchster Wachheit und Spannkraft gesteigerten


393Bewusstsein, voll echtem Interesse, zu einem Wahrnehmungsorgan für das geistige Licht <strong>der</strong>Ideen würde, zu einem Resonanzraum für geistige Impulse!«»Genau so ist es!«, stimmte Maja mir zu. »Apollons Sonnen-Licht-Klänge finden einen Resonanzkörperim Individuum, können so auf dieses einwirken und auf diese Weise durch denMenschen hier auf <strong>der</strong> Erde erneuernd zur Wirkung gelangen. Die Chelys ist im Grundegenommen eine Chiffre für das ›Erwecken <strong>der</strong> inneren Sonne‹, so möchte ich es einmal nennen!In diesem Bild kannst du anschaulich das sehen, was ihr eigentlich meint, wenn ihr davonsprecht, dass ihr einen Einfall, eine Eingebung hattet, dass euch eine Idee gekommen o<strong>der</strong> gar›ein Licht aufgegangen ist‹!«»Und du, Astrochelys radiata, mit den vielen Sonnen auf deinem Rücken, wärst demnach einBild für die verborgene Sonnennatur <strong>der</strong> Erde, für die Sehnsucht, die Bereitschaft und das Vermögen<strong>der</strong> Erde zum ›Sonne-Werden‹?«, fragte ich sie.Isis-Hathor mit Kuhgehörnund Sonnenscheibe, Reliefs zeneaus dem Grab <strong>der</strong> Haremhab(Foto: Frank Teichmann, ausHORNUNG 1991: 83).Doch Maja ging nicht auf meine Frage ein und blickte nur versonnen und schweigend zur Sonnehin, als führe sie ein stummes Zwiegespräch mit dem morgendlichen Licht. Dann knüpftesie unmittelbar an ihre vorherige Äußerung an: »Aber Apollon greift erst dann in die Saiten undwird dich erst dann durch Resonanz berühren, wenn du dich in <strong>der</strong> entsprechenden Weisegespannt und ein-gestimmt hast, wenn du dich ansprechbar, berührbar, beeindruckbar undempfänglich hast werden lassen, innerlich beweglich genug zum Mitschwingen! ›Alles Geschaffenehat den Status <strong>der</strong> Resonanz dieses Schöpfungsklanges: Als Körper ist es Resonanzkörper,als zum Wissen fähiger Geist ist es Echo dieses Schöpfungsklangs‹. (NICKLAUS 1994: 105)Vielleicht kannst du jetzt besser nachvollziehen, warum ich dir gestern Morgen erst einmaldie ganze Tragweite <strong>der</strong> ›Tragödie‹ eures Bewusstseins, diesen entsetzlichen und für diemeisten Lebensformen hier auf <strong>der</strong> Erde zu einer einzigen Qual gewordenen Zwiespalt zwischendem lebendigen Leben und eurem Denken zu Bewusstsein bringen musste; vielleichtkannst du inzwischen innerlich ermessen und erahnen, durch welch einen Prozess wir heuteNacht gegangen sind. <strong>Das</strong> Gehirn ist keine ›Produktionsstätte‹ für Gedanken und schon garnicht von Ideen, wie viele von euch heutzutage meinen. Es ist eine Art Wahrnehmungs- und Aufnahmeorgan.Bevor wir jetzt weiter hinauf auf einen nahe gelegenen Hügel gehen, möchte ich dir nocheinige Äußerungen und Beschreibungen von Menschen mit auf deinen weiteren Weg geben, diegenau das, was ich versucht habe dir zu erklären, sehr eindrucksvoll und klar geschil<strong>der</strong>t haben.Lass mich mit einer Beschreibung von Hugo Kükelhaus beginnen:›Wer hat noch nicht erfahren, dass sich manchmal mitten aus dem Fluss des gewöhnlichenDenkens und selbstläufigen Verknüpfens Begleitgedanken ablösen, die man vergleichen könntemit einer fernen Melodie, die sich in unsere Alltagsgeräusche einflicht. Man meint, diese Gedankenentsprängen gar nicht den Windungen unseres Gehirns. Erst laufen sie schüchtern hinterundnebenher, allmählich spielen sie sich heraus, werden fester, hörbarer, reißen dann plötzlichdie Führung unseres Wort- und Verstandesdenkens an sich und prangen wie eine Offenbarungin unserer Seele. Dichter haben es schon besungen. In ihr Licht getaucht, erscheinen uns dieDinge um riesige Sprünge weiterentwickelt. In unvermittelt neuer Gestalt stellen sie sich dar,


394wie wenn aus einer Raupe plötzlich ein Schmetterling geworden wäre; Gestalten, die überraschenund doch so vertraut und brü<strong>der</strong>lich berühren. Es ist das Reich <strong>der</strong> Eingebung.‹(KÜKELHAUS 1963: 1)Von Rainer Maria Rilke gibt es ein sehr eindrucksvolles Gedicht, das selbstgemachten Entwürfendie ganz an<strong>der</strong>e Qualität empfangener Gedanken entgegenhält:›Solang du Selbstgeworfenes fängst, ist allesGeschicklichkeit und lässlicher Gewinn.Erst wenn du plötzlich Fänger wirst des Balles,den eine ewige Mitspielerindir zuwarf, deiner Mitte, in genaugekonntem Schwung, in einem jener Bögenaus Gottes großem Brückenbau:Erst dann ist Fangen-Können ein Vermögen –nicht deines, einer Welt ...‹(Rainer Maria RILKE 1976, Bd. III: 132)Vor allem die Künstler haben um dieses geheimnisvolle Geschehen gewusst, das vermutlichwahrhaft einzig und allein über den Gehalt eines Kunstwerkes entscheidet; höre, was <strong>der</strong> MalerFranz Marc dazu in einem kleinen Aufsatz über Wassily Kandinsky geschrieben hat:›Wir Maler kennen jenen geheimnisvollen Moment in unserer Arbeit, in dem das Werk zuatmen beginnt. Es fällt von uns ab und beginnt sein eigenes Leben. Waren wir auch zu BeginnHerr des Bildes, so werden wir in diesem Moment sein Sklave. Es sieht uns fremd, groß, mahnend,zwingend an. <strong>Das</strong> Früh o<strong>der</strong> Spät dieses wun<strong>der</strong>baren Augenblickes gibt ein feines Kriterium<strong>der</strong> Kunst ab. Wir Maler wissen dies. Allzuviele bleiben bis zum Ende Herren ihrerBil<strong>der</strong> (...). Die echten Werke lösen sich nach dem ersten Anfang schon von dem Willen desSchöpfers ab. Es scheint mir, dass heute gar nicht viel solche Werke entstehen. Zu den seltenen


395Ausnahmen gehören die Werke Kandinskys; sie sind nicht aus sterblichem Willen geformt; ihrEigenleben läuterte sein Wollen und hielt ihn bei <strong>der</strong> Arbeit in Bann; ihr Sein ist unsterblich. Ichsehe sie wie<strong>der</strong>, an die Himmelwand gestellt. – Warum sollen wir nicht glauben, dass ein Erzengelsie dort gemalt hat, Dinge aus seinem Reich, durch die Hand unseres Freundes Kandinsky?‹(Franz MARC 1978: 139f.)Auch Novalis hat das einmal ähnlich beschrieben: ›Mit jedem Zuge <strong>der</strong> Vollendung springt dasWerk vom Meister ab in mehr als Raumfernen – und so sieht mit dem letzten Zuge <strong>der</strong> Meistersein vorgebliches Werk durch eine Gedankenkluft von sich getrennt – <strong>der</strong>en Weite er selbst kaumerfasst – … In dem Augenblicke, als es ganz Sein werden sollte, ward es mehr als er, sein Schöpfer– er zum unwissenden Organ und Eigentum einer höhern Macht. Der Künstler gehört demWerke und nicht das Werk dem Künstler‹ (NOVALIS 1957, Bd. III: 171f.).Pablo Picasso hat diesen so wichtigen Unterschied zwischen herrischem, alleinbestimmendem›Machen‹ und sich einstimmen<strong>der</strong> Entsprechung einmal anhand des Gegensatzes von ›Suchen‹und ›Finden‹ beschrieben:›Ich suche nicht – ich finde.Suchen, das ist ein Ausgehen von alten Beständenund ein Findenwollen von bereits Bekanntem im Neuen.Finden, das ist das völlig Neue,das Neue auch in <strong>der</strong> Bewegung ...Alle Wege sind offen und was gefunden wird, ist unbekannt ...Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer.Die Ungewissheit solcher Wagnissekönnen eigentlich nur jene auf sich nehmen,die im Ungeborgenen sich geborgen wissen,die in <strong>der</strong> Ungewissheit in die Führerlosigkeit geführt werden,die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen,die sich vom Ziele ziehen lassenund nicht – menschlich beschränkt und eingeengt –das Ziel bestimmen.‹(Pablo PICASSO)Und stell dir vor, Gottfried Benn hat einmal in einem Aufsatz über ›Probleme <strong>der</strong> Lyrik‹geschrieben: ›… und nun kommt das Rätselhafte: <strong>Das</strong> Gedicht ist schon fertig, ehe er es begonnenhat, er weiß nur seinen Text noch nicht. <strong>Das</strong> Gedicht kann gar nicht an<strong>der</strong>s lauten, als eseben lautet, wenn es fertig ist.‹ (BENN 2003, Bd II: 1070).«»Maja, jetzt erst habe ich zum ersten Mal wirklich innerlich verstanden, warum wir von ›nachdenken‹sprechen: Vielleicht bedeutet ja ›denken‹ letztendlich, Gedanken und Ideen, die in <strong>der</strong>Welt schon da sind, dankend nach-zuvollziehen, diese mitzuvollziehen, sich in die Bewegungendes Geistes einzuschwingen!«


396»Der ganze Kosmos ist ein einziges Resonanz-Phänomen«, fuhr sie fort, »jede Art von Körperund Gestalt: ein Resonanzkörper, je<strong>der</strong> Organismus: ein Resonanzorgan, eingestimmt aufjeweils bestimmte Aspekte, Schwingungen des Weltganzen! Sollte vielleicht das Gehirn, o<strong>der</strong>besser das Bewusstsein, das komplexeste und sensibelste Resonanz-Organ sein?Forschungen <strong>der</strong> letzten Jahre auf diesem Gebiet zeigen immer deutlicher, dass es nichtSignale einzelner Nervenzellen sind, die in diesem unaufhörlichen Gewoge millionenfacherStröme die eigentlichen bewusstseinsbildenden Prozesse darstellen; vielmehr sind es übergeordneteStrukturbildungen, Synchronisierungen und Rhythmisierungen, die die unzähligen Einzel -aspekte miteinan<strong>der</strong> verbinden und ›zu einem übergeordneten, sinnvollen Ganzen‹ formen(BAIER 2001: 192f.).Wenn sich das Licht das Auge schuf, um gesehen werden zu können – wie GOETHE esausdrückte – sollte sich dann vielleicht auch <strong>der</strong> Geist das Gehirn beziehungsweise das individuelleBewusstsein geschaffen haben, um wahrgenommen, aufgenommen, nachgedacht undverinnerlicht zu werden? <strong>Das</strong> individuelle Bewusstsein als Resonanzorgan wäre dann <strong>der</strong>›Raum‹, in dem sich, vermittelt über Resonanz, eine wirkliche Begegnung, Berührung, Kommunikationo<strong>der</strong> gar Kommunion mit <strong>der</strong> Dimension eines überindividuellen Bewusstseins, desGeistes in <strong>der</strong> Welt ereignen könnte. Es müsste sich nur selbst disziplinieren, in Aufmerksamkeitüben, konzentrieren, öffnen, einstimmen, sein ganzes unruhig-schwankendes Gewoge zu einereinzigen synchronen Schwingung systolisch sammeln, um sich dann – sozusagen als eine großegeeinte Welle – <strong>der</strong> Welt diastolisch entgegenzubringen.«Während ich über alles Dargelegte nachdachte, kam mir eine Frage: »Maja, wenn ein wesentlichesMotiv alles Lebendigen tatsächlich die ständige Weiterentwicklung und Steigerung <strong>der</strong>eigenen Resonanzfähigkeit ist, woher ›weiß‹ dann ein zunächst isoliert existierendes Einzellebewesenüberhaupt, wie es sich auf was einstimmen soll?«»Siehst du, das sind wirkliche Fragen, weil sie Horizonte aufreißen! Vielleicht aber auch ersteinmal innere Abgründe ... Du bist dem richtigen Ansatzpunkt auf <strong>der</strong> Spur! Auf irgendeineWeise muss man um das, woraufhin man sich in Resonanz einzustimmen sehnt und bemüht ist,wissen; etwas von diesem an<strong>der</strong>en muss schon auf geheimnisvolle Weise in einem sein. Einer <strong>der</strong>großen griechischen Philosophen hat einmal gemeint, die Seele sei irgendwie alles!Am tiefsten klingt etwas von diesem <strong>Geheimnis</strong> in den Worten von Friedrich W.J. Schellingan: ›Dem Menschen muss ein Prinzip zugestanden werden, das außer uns und über <strong>der</strong> Weltist; denn wie könnte er allein von allen Geschöpfen den langen Weg <strong>der</strong> Entwicklungen, von <strong>der</strong>Gegenwart bis in die tiefste Nacht <strong>der</strong> Vergangenheit zurückverfolgen, er allein bis zum Anfang<strong>der</strong> Zeiten aufsteigen, wenn in ihm nicht ein Prinzip vor dem Anfang <strong>der</strong> Zeiten wäre? Aus <strong>der</strong>Quelle <strong>der</strong> Dinge geschöpft und ihr gleich hat die menschliche Seele eine Mitwissenschaft <strong>der</strong>Schöpfung. In ihr liegt die höchste Klarheit aller Dinge ... Aber nicht frei ist im Menschen dasüberweltliche Prinzip noch in seiner uranfänglichen Lauterkeit, son<strong>der</strong>n an ein an<strong>der</strong>es, geringeresPrinzip gebunden. Dieses an<strong>der</strong>e ist selbst ein gewordenes und darum von Natur unwissendund dunkel; und verdunkelt notwendig auch das höhere, mit dem es verbunden ist. Es ruhtin diesem die Erinnerung aller Dinge, ihrer ursprünglichen Verhältnisse, ihres Werdens, ihrerBedeutung. Aber dieses Urbild aller Dinge schläft in <strong>der</strong> Seele als ein verdunkeltes und verges-


397senes, wenngleich nicht völlig ausgelöschtes Bild. Vielleicht würde es nie wie<strong>der</strong> erwachen, wennnicht in jenem Dunkeln selber die Ahndung und die Sehnsucht <strong>der</strong> Erkenntnis läge.‹ (SCHEL-LING 1985, Bd. IV: 216)«»<strong>Das</strong> sind aber wahrlich Abgründe, unergründliche und zugleich voller <strong>Geheimnis</strong>se! Abgründe,vor denen einen schau<strong>der</strong>t und zugleich von ungeahnter Anziehungskraft!«, erwi<strong>der</strong>te ich.»J.W.v. Goethe hat es einmal so ausgedrückt:›a. In <strong>der</strong> Natur ist alles was im Subject ist.y. und etwas darüber.b. Im Subject ist alles was in <strong>der</strong> Natur ist.z. und etwas darüber.b kann a erkennen, aber y nur durch z geahndet werden. Hieraus entsteht das Gleichgewicht<strong>der</strong> Welt und unser Lebenskreis, in den wir gewiesen sind. <strong>Das</strong> Wesen, das in höchster Klarheit alleviere zusammenfasste, haben alle Völker von jeher Gott genannt.‹(J. W. v. GOETHE, zit.nach CANISIUS 1998: 204)So, Alexan<strong>der</strong>, jetzt gehen wir noch zusammen auf diesen Hügel mit <strong>der</strong> Baumgruppe, von dorthaben wir einen weiten Blick über das ganze Land. Diesen Ort hier mit dem Höhlenausgangwollen wir als Erinnerung an unsere Begegnung und innere Verbundenheit ›Freundschafts-Höhle‹ nennen! Was meinst du?«


3981EntfaltungOrpheus, die Stimme und das Lot»Sei immer tot in Eurydike –, singen<strong>der</strong> steige,preisen<strong>der</strong> steige zurück in den reinen Bezug.Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche <strong>der</strong> Neige,sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.Sei – und wisse um des Nicht-Seins Bedingung,den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,dass du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.«(Sonette an Orpheus, aus RILKE 1976, Bd. II: 759)


399Ein schmaler Pfad entlang <strong>der</strong> Felswand führte uns hinauf zu <strong>der</strong> von Maja erwähnten Anhöhe.Während wir aufstiegen, bemerkte Maja, die vorausging: »Eines müssen wir aber noch besprechen:Ich habe vorhin schon die enge Beziehung zwischen <strong>der</strong> Chelys und dem Gesangerwähnt. Es gibt einen sehr aufschlussreichen altgriechischen Text, <strong>der</strong> insbeson<strong>der</strong>e Hermesmit <strong>der</strong> Sprache und dem Klang <strong>der</strong> Worte in Verbindung bringt:›Hermes, Herrscher <strong>der</strong> Welt, <strong>der</strong> im Herzen wohnt, Kreis des Mondes,Run<strong>der</strong> und Viereckiger, Erfin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Worte <strong>der</strong> Zunge,Gehorsamer <strong>der</strong> Gerechtigkeit,Chlamysträger, Beschwingtbeschuhter,<strong>der</strong> alltönenden Zunge Walter, Prophet <strong>der</strong> Sterblichen ...‹(zit. nach C. G. JUNG 1978, Bd. 13: 211)2Hast du bemerkt, dass Hermes hier als ›<strong>der</strong> alltönenden Zunge Walter‹ beschrieben wird? Undist dir schon aufgefallen, dass <strong>der</strong> Klang- und Resonanzraum eurer menschlichen Mundhöhlemit <strong>der</strong> Wölbung des Gaumens fast genau die Form einer Schildkröte hat? Der Hohlraum euresMundes mit <strong>der</strong> Zunge unten stellt sozusagen eine inverse Schildkröte dar, wie eine Negativformbeim Gießen. Ihr habt folglich eine Schildkröte im Mund, die nach innen gewendet ist:<strong>der</strong> Form des Gaumens nach mit dem Kopf in Richtung Kehle. Schaue dir die entsprechendenanatomischen Abbildungen an. Man könnte fast meinen, in meinem Außenring mit den hintereinan<strong>der</strong>liegendenSchilden spiegele sich etwas von den ebenso aneinan<strong>der</strong>gereihten Zähnen.Im übrigen: Im 27. Zeichen des I-Ging – es stellt das Bild des geöffneten Mundes mit denMundwinkeln dar – wird gerade an dieser Stelle im Begleittext ein Bezug zu einer ›Zauber-schild kröte‹ hergestellt, als Sinnbild für die eigene innere Wesensart eines jeden Menschen(I-Ging 1970: 113).«»<strong>Das</strong>s die Schildkröte auch in einer bedeutungsvollen Beziehung zum Mund steht, darauf wäreich nun wirklich nie gekommen«, gab ich ihr zu verstehen.31 Orpheus mit seiner Schild -krötenleier umgeben vonTieren, römisches Mosaik inPalermo (Museo archeologicoregionale di Palermo,Foto: Giovanni Dall’Orto):2 Querschnitt durch dieMund höhle des Menschen:Der Hohlraum mit <strong>der</strong> Zungehat die Form einer Schildkröte(aus FENEIS 1970: 117, 111).3 <strong>Das</strong> 27. Zeichen aus dem»I-Ging«: »Die Mundwinkel«.»Dann lass uns noch ein Stück weiter o<strong>der</strong> tiefer hineinschauen, zum Kehlkopf. Dieser stelltallein schon von seiner morphologischen Formenvielfalt und den Ähnlichkeiten einzelnerStrukturen zu an<strong>der</strong>en organischen Bildungen ein höchst interessantes Phänomen dar. Einetatsächliche Formverwandtschaft <strong>der</strong> verschiedenen Knorpelgebilde des Kehlkopfes mit denknorpeligen Gehörknöchelchen wurde schon entdeckt und auf ihre gemeinsame entwicklungsgeschichtlicheHerkunft aus <strong>der</strong> Kiemenregion hingewiesen (PAEDE 1985: 155ff.); wenn dunun jeden <strong>der</strong> drei Gehörknöchelchen bei<strong>der</strong> Ohren bildlich zusammennimmst, so gehen ausdieser Verschmelzung die drei wichtigen Knorpel des Kehlkopfes geradezu augenscheinlich hervor.Man könnte demnach sagen, dass <strong>der</strong> Kehlkopf so etwas wie eine Integration <strong>der</strong> Links-Rechts-Polarität <strong>der</strong> Kopfregion darstellt.Es ist schon <strong>der</strong> Prozess des Einatmens mit dem Vorgang des Hörens in Verbindunggebracht worden: das Hören in diesem Sinne als ›Einatmung auf höherer Ebene‹ (ebd.156).Außerdem hat man aufzeigen können, dass zwischen <strong>der</strong> hochkomplexen Ausbildungeures menschlichen Sprachvermögens und <strong>der</strong> differenzierteren Ausformung und Plastizierungeurer Ohrmuschel ein sehr enger Zusammenhang besteht (vgl. BURCHHARD 1997: 23f.).


4001Gerade die Ohrmuschel mit ihrem Zusammenspiel <strong>der</strong> plastischen Formen von Bögen, Faltungenund Windungen einerseits und den daraus hervorgehenden Hohlraumbildungen an<strong>der</strong>erseitshat für mich etwas sehr Faszinierendes; ich kann nicht an<strong>der</strong>s als in diesen Formgebungeneine gewisse Nähe zu Embryoformen zu sehen.«»An embryonale Formen erinnert dich das?«, erwi<strong>der</strong>te ich ihr. »Was aber sollte das Ohr unddann vielleicht sogar noch <strong>der</strong> Kehlkopf mit dem Neubeginn von Leben zu tun haben?«21 Kehlkopf des Menschen mitBän<strong>der</strong>n und Muskelansätzen(aus RANKE 1886, I: 593).2 Verschiedene Formenvon Ohrmuscheln (aus RANKE1868, II: 37).»Was ist nicht schon alles vom Ohr empfangen worden, aus dem schließlich als Antwort etwasgänzlich Neues hervorging und zur Welt kam! ... <strong>Das</strong> Ohr ...«, doch da unterbrach sie sich selbstin ihrem Satz und hielt inne, »... An den beiden Vorhöfen des Herzens gibt es jeweils eine Ausbuchtung,denen die Anatomen sinnfälligerweise den Namen ›Herzohren‹ gegeben haben(FENEIS 1970: 186f.); bis heute ist – soviel ich weiß – ihre Bedeutung und Funktion noch nichtso richtig klar. ›Herzohren‹: Was für ein wohlklingendes Wort, sollte vielleicht selbst das Herz aufetwas hinlauschen, hinhorchen?Überhaupt, dass es im Kehlkopf einen von euch so benannten ›Schild-Knorpel‹ und sogareine ›Schild-Drüse‹ gibt, das lässt mich als Schild-Kröte natürlich beson<strong>der</strong>s aufhorchen. Wenndu dir einmal diese höchst komplizierte Organisation genauer anschaust, wirst du spüren, dasssich in dieser Region des Körpers etwas sehr Wichtiges und <strong>Geheimnis</strong>umwobenes vollzieht:zum einen die Geburt des Klanges <strong>der</strong> Stimme und zum an<strong>der</strong>en die gerade für Werdeprozesseentscheidende Rolle <strong>der</strong> Schilddrüse!Nicht unwichtig ist auch, dass sich in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> männlichen Pupertät hier sehr Wesentlichesspiegelt, gerade was die Auseinan<strong>der</strong>entwicklung von männlich und weiblich betrifft;nicht nur, dass sich die Form des Schildknorpels verän<strong>der</strong>t, <strong>der</strong> ganze Umwälzungsprozess findetschließlich in dem Phänomen des Stimmbruchs beim männlichen Jugendlichen seinen Nie<strong>der</strong>schlagund wird hierdurch sogar hörbar. In einem gewissen Sinn spiegelt sich innerhalb <strong>der</strong>Kopfregion im Kehlkopf ›in verwandelter Form das Fortpflanzungssystem, weshalb er bei <strong>der</strong>Pupertät mutiert‹. (SCHAD 1971: 238)«»Was aber ›zerbricht‹ hier eigentlich? Und warum sinkt die männliche Stimme überhaupt tieferhinunter in die dunklere Tonlage?«, fragte ich sie unwillkürlich. »Heißt das etwa auch, dass sietiefer hinunter in den Leib, in die Materie sinkt?«


401»Erinnere dich an das, was wir bei <strong>der</strong> Betrachtung des Dornröschen-Märchens zu <strong>der</strong> Bedeutung<strong>der</strong> dreizehnten Fee gesagt haben, und dass im Alter von etwa fünfzehn Jahren <strong>der</strong> Bezugzum weiteren Umkreis des Himmels zerbricht und sich ein vertieftes Eingehen in den Stoff vollzieht.Die organischen Formen <strong>der</strong> gesamten Kehlkopfregion lassen eine gewisse Ähnlichkeitmit jenen Organen erkennen, aus <strong>der</strong>en Vereinigung neues Leben hervorgeht; doch bemerkenswerterweiseso, als wäre innen und außen, männlich und weiblich wie in einer Art Umstülpunggeradezu vertauscht.«»<strong>Das</strong> würde ja bedeuten, dass <strong>der</strong> Kehlkopf nicht nur – wie schon bei den Gehörknöchelchenangesprochen – eine Integration <strong>der</strong> linken und rechten Seiten darstellt, son<strong>der</strong>n darüber hinausauch eine <strong>der</strong> zwei Urpolaritäten von weiblich und männlich.« Einen kurzen Augenblickhielt ich inne. »Der Kehlkopf wäre dann in einem gewissen Sinne ›hermaphroditisch‹ – womitdie Verbindung des Hermes mit dem Klang <strong>der</strong> Stimme und dem Kehlkopf offensichtlich würde.Sollte Hermes als <strong>der</strong> Gott des Weges, <strong>der</strong> ›Wegbereiter‹, wie er im Resonanzkörper <strong>der</strong> Chelysdie verborgene Musikalität <strong>der</strong> Welt wie<strong>der</strong> zum Klingen brachte, durch den Kehlkopf unddie schildkrötenförmige Mundhöhle im Ertönen <strong>der</strong> Stimme die im Stoff eingeschlossene Seelewie<strong>der</strong> zum Leben erwecken, erklingen und zu Wort kommen klassen, sie gar befreien, erlösen?– Aber natürlich: Der Kehlkopf liegt ja genau in <strong>der</strong> Mitte zwischen dem Kopf und demHerzen, er vermittelt also auch diese Urpolarität! – Maja, ich bin ganz ergriffen von meinen eigenenGedankengängen, die du in mir angeregt, ja geradezu entfacht hast!«Die innere Struktur des Kehlkopfsmit Stimmbän<strong>der</strong>n (ausSUNDBERG 1992: 15).»Neues Leben ›zeugen‹, mit Worten ein ›Zeugnis‹ ablegen, von etwas ›zeugen, erzeugen.‹ – Allediese Begriffe haben ursprünglich etwas mit ›hervorbringen‹ zu tun. Etwas, was bisher verborgen,unsichtbar, noch nicht da war, wird ›in das Licht <strong>der</strong> Welt geholt‹, ›zur Welt gebracht‹, hervorgeholt,gezogen; auf diese Weise wird <strong>der</strong> Welt etwas Neues ›gezeigt‹: ›zeugen, ziehen, zeigen!‹«,gab mir Maja zu verstehen.


402»Die Organisation des Kehlkopfes hätte demnach etwas mit einer Art Werde-, Entstehungs- undHervorbringungsprozess zu tun, gewissermaßen mit einer Geburt auf einer an<strong>der</strong>en Ebene?«,fragte ich verwun<strong>der</strong>t zurück.»Gerade was den Zusammenhang von Kopf, Herz und Kehlkopf betrifft, so gibt es ein sehraußergewöhnliches und anatomisch einzigartiges Phänomen: Gewöhnlich nehmen alle vomGehirn ausgehenden ›effektiven‹ Nervenbahnen den kürzesten Weg hin zu ihrem Zielort, wiezum Beispiel zu einem bestimmten Muskel. Bei jenen Nerven jedoch, die die Bewegungen <strong>der</strong>Kehlkopfmuskulatur und damit den Klang <strong>der</strong> Stimme formen, gibt es – und zwar für beideKörperhälften einen unterschiedlichen – Strang, <strong>der</strong> zunächst bis zum Herz geht und dann wie<strong>der</strong>zum Kehlkopf zurückläuft. Diese Nervenbahnen machen einen durchaus unüblichenUmweg, weswegen die Anatomen ihn ausdrücklich als den ›Nervus laryngeus recurrens‹ benennen(FENEIS 1970: 296; vgl. TOM<strong>AT</strong>IS 1994: 25).Welch eine fantastische Chiffre <strong>der</strong> Natur ist doch die Geste dieser Nerven! Ohne Herzkein Klang, keine Stimme! In jedem, durch den ausströmenden Luftzug hervorgehenden un<strong>der</strong>klingenden Ton, in jedem Klang <strong>der</strong> Stimme schwingt und wirkt das Herz auf geheimnisvolleWeise mit. Im Klang ertönt Seele – das sonst Unsichtbare, Verborgene, völlig Ungegenständlicheund daher Unfassbare offenbart sich dem wie<strong>der</strong>um so wun<strong>der</strong>bar auf den Klang hin gebildetenOhr!«»Du hast recht, das mit diesen von <strong>der</strong> Nähe des Herzens zum Kehlkopf wie<strong>der</strong> zurücklaufendenNerven ist wirklich ein sehr vielsagendes Phänomen. Allen Bewegungen und Gesten <strong>der</strong>Natur wohnt tatsächlich ein tiefer Sinn inne!«, pflichtete ich ihr bei.»Und noch etwas am Kehlkopf ist sehr merkwürdig und nicht weniger bedeutungsvoll: Genauhinter dem großen Schild-Knorpel befindet sich die nach ihm benannte Schild-Drüse. Ausgerechnetin dieser Drüse wird ein Hormon gebildet, das alle Wachstums- und Entwicklungsprozesseunter Mitwirkung <strong>der</strong> Hypophyse im Gehirn maßgeblich beeinflusst und steuert; vorallem aber entscheidet dieses Schilddrüsenhormon über das Eintreten <strong>der</strong> Metamorphose beivielen Tieren! – Ja, ausgerechnet <strong>der</strong> Metamorphose, <strong>der</strong> Verwandlung <strong>der</strong> Gestalt! Wird zumBeispiel bei Kaulquappen von Fröschen die Produktion dieses Hormons ›Thyroxin‹ künstlichunterbunden, so ›verwandeln sie sich nicht, son<strong>der</strong>n wachsen zu Riesenkaulquappen heran‹;erhöht man die Menge dieses Hormons zu früh, ›so erfolgt sogleich die Metamorphose … zuwinzigen Fröschen‹ (FELS 1974: 264).« Mit diesen Worten ergänzte Maja ihre bisherigen Ausführungenüber den Kehlkopf.»Nach all dem gäbe es demnach einen tiefen inneren Zusammenhang zwischen dem Ohr mitseinem Vermögen des empfangenden Hörens, dem Herzen mit seinem alles verlebendigendenImpuls und dem Kehlkopf als empfangenden wie auch hervorbringenden Organ. – Liegt erdoch auch genau in <strong>der</strong> Mitte zwischen dem Bewusstseinspol im Gehirn und dem Gegenpol desHerzens.Aus <strong>der</strong> Tiefe des Inneren kommt die Kraft, die Wärme, das Leben, <strong>der</strong> Atem, die Intensitätdes Klanges <strong>der</strong> Stimme hervor, wird dann im Kehlkopf vom Bewusstsein im Einklang mit


403dem Herzen – ›nervus recurrens‹ – modelliert und schließlich im Resonanzraum des Rachensund <strong>der</strong> Mundhöhle so geformt und akzentuiert, dass Sprache ertönen und sich geistiger Sinnin Worten offenbaren kann – auf dass Geist zur Welt kommt! – Wärst du mit einer solchen Sichtweiseeinverstanden?«, fragte ich sie ein wenig unsicher angesichts solch ungewohnter Gedankengänge.»Ich finde, du hast sehr gut erfasst und ausgedrückt, was ich dir mit meinem Hinweis auf denimmer mit <strong>der</strong> Leier zusammen erklingenden Gesang von Hermes und Apollon anzudeutenversucht habe.Auch Höl<strong>der</strong>lin hat deutlich gespürt, wie gerade <strong>der</strong> Klang und <strong>der</strong> Ton <strong>der</strong> Stimme vomWesen einer jeden <strong>Das</strong>einsform kündet und daher beson<strong>der</strong>s von <strong>der</strong> ›Treue‹, von <strong>der</strong> ›Art, wieeines in sich selbst zusammenhängt‹, Zeugnis gibt (HÖLDERLIN o.J.: 977). Ja, ich glaube, erwar sogar <strong>der</strong> Auffassung, dass trotz und gerade wegen des Gewahrtbleibens aller individuellenLebensformen dadurch, dass ›alles mehr Gesang und reine Stimme‹ würde (ebd.), das so sehrersehnte Wie<strong>der</strong>-Eins-Werden von allem im symphonischen Zusammenklang aller zu erreichenwäre.Angesichts dieser innersten Zusammengehörigkeit von Chelys und Gesang, nimmt es daWun<strong>der</strong>, dass Apollon diese Leier dem begnadeten Sänger Orpheus geschenkt hat? ›Bei seinemGesang und Spiel, so heißt es, vergaßen die wilden Krieger seiner Heimat, … all ihre Wildheit,und er beeinflusste mit seinem Spiel auch die wilden Tiere und konnte Felsen und Bäume …bewegen‹ (SCHADEWALDT 1976: 79). Welch wun<strong>der</strong>bares Zusammenspiel zwischen <strong>der</strong>Schildkrötenleier und <strong>der</strong> menschlichen Stimme, welch ein einmaliger daraus hervorgehen<strong>der</strong>Einklang mit <strong>der</strong> ganzen Welt! Wenn das kein treffendes Sinnbild für Resonanz ist!«»Maja, warum aber hat dann alles dennoch eine so tragische Wendung mit Orpheus genommen?«,fragte ich.»Sich darüber gründlich Klarheit zu verschaffen, ist sehr wichtig, finde ich. Wir wollen uns,während wir hinauf auf diese Anhöhe gehen, näher damit befassen«, gab mir Maja zu verstehen.Wir gingen zunächst noch ein Stück dem schmalen Weg an dem Felsabhang entlang, bis wirschließlich einen langgezogenen Bergrücken erreichten, von dem man einen noch höher gelegenenHügel sehen konnte.»Was meinst du: Wie alt mag Orpheus gewesen sein, als er sich zu so vollkommener Resonanzhat einschwingen, o<strong>der</strong> besser sogar aufschwingen können?«, fragte mich Maja.»Du meinst, dass er vielleicht noch sehr jung war, als ihn – um mit Höl<strong>der</strong>lin zu sprechen – noch›goldene Tage umfingen‹ und ihm in allem die ›Seele <strong>der</strong> Natur‹ erschien (HÖLDERLIN o.J.:45f.; vgl. KERENYI 1983, Bd. II: 221)? Aber was geschah dann und warum?«, fragte ich siezurück.Schildkröte als Schwingungsfeld(Grafik A. Lauterwasser).


404»Vielleicht entspricht ja die Art und Weise des In-<strong>der</strong>-Welt-Seins des jugendlichen Menschen ineinigen wichtigen Aspekten dem früherer Zeiten <strong>der</strong> Menschheit überhaupt? Die Hopi-Indianerhaben die Erinnerung an die einstige Zeit so beschrieben: ›Die lebendigen Körper vonMensch und Erde waren von gleicher Art. Durch jeden lief eine Achse. Die Achse des Menschenwar seine Wirbelsäule, die das Gleichgewicht bei seiner Bewegung herstellte. Auf dieser Achselagen Schwingungszentren, welche den Urklang des Lebens durch das ganze Universum wi<strong>der</strong>schallenließen ... <strong>Das</strong> erste dieser Zentren lag beim Menschen am Scheitel. Hier war bei seinerErschaffung die weiche Stelle, ... die ‘offene Tür’ gewesen, durch die er das Leben empfing …Bei jedem Atemzug hatte sich die Stelle auf und ab bewegt – in sanfter Schwingung vereint mitdem Schöpfer‹ (W<strong>AT</strong>ERS 1983: 26).<strong>Das</strong> Gehirn galt als das zweite Zentrum, worauf als drittes <strong>der</strong> Kehlkopf folgte, ›wo dieÖffnungen von Nase und Mund verbunden sind, durch welche <strong>der</strong> Mensch den Atem desLebens empfing. Dort lagen die Schwingungsorgane, die es ihm ermöglichten, den Atem alsKlang zurückzugeben. Dieser Urklang war – genau wie <strong>der</strong> Klang von den Schwingungszentrendes Erdkörpers – in Harmonie mit <strong>der</strong> allumfassenden Schwingung <strong>der</strong> ganzen Schöpfung. Deran<strong>der</strong>e Zweck dieser schwingenden Organe war es, ganz neue, verschiedenartige Klänge zuerzeugen: So hatte <strong>der</strong> Erdenmensch Sprache und Gesang‹ (ebd.).Wie im Verlauf ihrer Geschichte die Menschheit diesen Ein-Klang zunehmend verlor, somuss im Leben des Orpheus etwas geschehen sein, wodurch auch für ihn diese Über-Ein-Stimmungmit dem Ganzen zerbrach und verlorenging. Nachdem er sich mit <strong>der</strong> jungen und schönenEurydike vermählt hatte – <strong>der</strong>en Namen übrigens so viel wie die ›weithin Richtende‹ bedeutet(KERENYI 1983, Bd. II: 222) – geschah etwas, was an die gestern schon erwähnte Situationzwischen Tristan und Isolde erinnert: Liefert er doch Isolde, obwohl er gerade erst seiner tiefenLiebe zu ihr innegeworden ist, an den alten König Marke aus, <strong>der</strong> nur in <strong>der</strong> bekannten ›altenWeise‹ (WAGNER: Tristan) auf die Frau hinzuschauen vermag und dadurch gerade ihr Wesendurch das Augenscheinliche verliert und verfehlt.In <strong>der</strong> Sage des Orpheus sieht sich nun Eurydike kurz nach ihrer Heirat einem Fremdengegenüber – Aristaios mit Namen –, <strong>der</strong> ihr auch in <strong>der</strong> ›alten Weise‹ nachzustellen versucht.Sollte dieser fremde Mann vielleicht eine ihr bisher in Orpheus selbst verborgen gebliebene,fremde Seite des Männlichen repräsentieren, die das Wesen des Weiblichen völlig verkennt undmissachtet?Auf <strong>der</strong> Flucht vor dem gewaltsam Besitz ergreifen wollenden Zu- und Übergriff diesesFremden, läuft Eurydike durch eine Wiese, wo sie von einer Schlange in den Fuß gebissen wird– aus ihrem reinen, lichten und lebendig-jungen Bezug stürzt sie hinab in das dunkle Schattenreichdes Hades-Dis. Im sie nur fest-halten und zwingen wollenden, alle freie Lebendigkeitunterdrückenden und alle An<strong>der</strong>sheit vergegenständlichenden Missgriff wird sie zu seinemObjekt und als bloßes Ding ins Reich <strong>der</strong> Gegenständlichkeit gestoßen.Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist <strong>der</strong> Bericht des Mythos, dass als Folgedes Missgriffs diesem Aristaios, <strong>der</strong> ein bekannter Bienenzüchter war, ›alle Bienen starben‹(RANKE-GRAVES 2008, Bd. II: 252). Verstehst du dieses Sinnbild?«, fragte mich Maja eindringlich.


405»Da die Bienen mit ihrer Königin in <strong>der</strong> Mitte ein Sinnbild für die innerste weibliche Wesensartdarstellen, würde <strong>der</strong>en Absterben bedeuten, dass unter einem gewissen männlichen Selbstverständnis– dem zumeist auch eine alles bestimmen wollende Denkstruktur entspricht – die realeFrau an <strong>der</strong> Seite des Mannes wie auch seine eigene weibliche Seite in ihm selbst, sein ›inneresMädchen‹ (RILKE ), auf <strong>der</strong> Strecke bleiben und dahinsterben?«, gab ich ihr etwas unsicherzur Antwort.»Ja«, meinte Maja, »so langsam kommen wir einem tieferen Verständnis <strong>der</strong> ganzen Geschichtenäher. Doch stelle dir vor: Auch in diesem Mythos ist es wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> dir von heute Nacht bekannteProteus, <strong>der</strong> jenem Aristaios zu Bewusstsein bringt, dass ›das Sterben seiner Bienen eineunmittelbare Folge seines eigenen Fehlverhaltens Eurydike gegenüber ist, durch das sie zu Todekam‹ (RANKE-GRAVES 2008, Bd. II: 252).«»Welch ein erschütterndes Bild! Und das wird tatsächlich so in einem <strong>der</strong> Mythen aus demUmkreis <strong>der</strong> Orpheus-Sage erzählt?«, wollte ich wissen.»Genau ein solcher Zusammenhang wird hergestellt, und zwar von den alten Griechen selbstund nicht von mir!«, gab sie darauf zu verstehen. »Wir haben diese Tragödie des Bewusstseinsbereits ausführlich thematisiert: <strong>Das</strong> männlich betonte, alles vergegenständlichende Denken desherzlosen Kopfes wird zum ›Grab des Lebens‹ (HEGEL).Eurydike – sie ist die Seele des Lebens und das Leben <strong>der</strong> eigenen Seele! Aristaios – dasvielleicht etwas zu ›aristo-kratisch‹ überhebliche, weil sich selbst als ›das Beste‹ wähnende Verstandesbewusstseindes Orpheus! – Du weißt: ›Aristos‹ bedeutet ›<strong>der</strong> Beste‹ und ›kratein‹ bedeutet›herrschen‹! Also: Weil die falsche Instanz im Menschen die Herrschaft an sich reißt undmeint, alles nach ihren egozentrierten Gesichtspunkten bestimmen zu können, kommt es zueiner Ver-Stimmung zwischen dem Kopf und dem Herz, bis die ›innere Stimme‹ ganz verstummt.Sie ist die Stimme eures eigenen Wesens, <strong>der</strong> einzigen Instanz, die darüber zu befindenhat, ob ihr in Über-ein-Stimmung mit eurer Bestimmung lebt o<strong>der</strong> nicht!Eurydike, die ›weithin Richtende‹, die euch die richtige Richtung Weisende, die Vermittlerinjener euch zugedachten ›kaiserlichen Botschaft‹ (KAFKA), euer um alles wissendes Ge-wissen;Eurydike, die euch längst durchschaut hat, und euch als ›innere Stimme‹ warnt, wenn ihr wie<strong>der</strong>einmal im Begriff seid, euch selbst – euer Selbst – nicht ernst zu nehmen.Als Orpheus bemerkt, dass Eurydike in die Unterwelt – in das Unterbewusstsein – gestürztist und er jegliche Verbindung mit ihr verloren hat, hebt er sein Klagelied an, durchzieht verzwei-feltsingend – schmerzvoll seine eigene innere Ent-zwei-ung fühlend – durch ganz Griechenlandund schreitet schließlich hinab in das Reich <strong>der</strong> Toten, hinein in das ›Grab des Lebens‹,um sie wie<strong>der</strong>zuerlangen. Dort gelangt er vor Hades und Persephone; und auch Eurydike, dienoch unter den ›neuangekommenen Schatten‹ weilte (KERENYI 1983, Bd. II: 223) kam aufgrunddes vom Schlangenbiss angeschwollenen Knöchels mit langsam schleifenden Schrittendaher.«Orpheus. Bild auf eineraltgriechischen Vase.»Meinte nicht tatsächlich einmal jemand, Schildkröten hätten wie geschwollen wirkendeKlumpfüße als Hinterbeine!«, fiel mir spontan dazu ein. »Also, dass ihr hinken würdet, das kann


406man nun nicht behaupten. Aber man kann schon zuweilen den Eindruck haben, als würdet ihreuch nur mit Mühe über den Boden schieben. Schließlich ist die Schildkröte von allen Wirbeltieren,und selbst noch unter den Kriechtieren, jenes, das sich am schwerfälligsten und mühseligstenüber die Erdoberfläche fortbewegt.«»Ob hinken, humpeln, schlürfen, schleifen o<strong>der</strong> schieben – das alles sind Bil<strong>der</strong> für eine unfreiwilliggehemmte eigene Beweglichkeit, für eine zwanghaft unterdrückte innere Lebendigkeitund Freiheit!«, ergänzte Maja mit bestimmter, ernster Stimme.»Doch zurück: Jetzt, in diesem entscheidenden Augenblick ist es nicht <strong>der</strong> Kopf desOrpheus allein, <strong>der</strong> die unfassliche und im Grunde genommen völlig ausgeschlossene UmkehrEurydikes zurück ins Leben zu bewirken vermag, son<strong>der</strong>n sein durch das Herz impulsierter undintonierter Gesang, begleitet von den Klängen <strong>der</strong> Schildkrötenleier – also dadurch, dass dasBewusstsein wie<strong>der</strong> eine Verbindung zu seinem eigenen Herzen gefunden hatte.Die Schildkröte – so habe ich dir schon zu Anfang gesagt – ist ein Kopf, in dem ein Herzschlägt!Diese, sogar Steine erweichenden Klänge waren es, die die Unabän<strong>der</strong>lichkeit des Schicksals,die von ihm selbst geschaffenen Zwangszusammenhänge wie<strong>der</strong> auflösen und die Verloreneerneut in den Strom des Lebens zurückzuholen vermochten. Der lebendige Fluss <strong>der</strong> Musik,ihre rhythmischen Schwingungen, ihr beseeltes Pulsieren allein konnten Eurydike – Inbegriffdes Lebens <strong>der</strong> eigenen Seele – <strong>der</strong> toten Gegenständlichkeit wie<strong>der</strong> entreißen und ihr ihre eigeneLebendigkeit wie<strong>der</strong>schenken.«»Es ist unbeschreiblich, welch tiefgründige Zusammenhänge du wie<strong>der</strong> vor mir ausbreitest«,sagte ich innerlich bewegt von ihren Ausführungen. »Doch das eigentlich Furchtbare kommt jaerst noch: Nachdem Orpheus diese Umkehr, diese innere Wende geschafft hatte, machte er sichauf den Weg hinauf und zurück ins Leben, und wenige Schritte hinter ihm ging, von Hermesgeleitet, Eurydike, ... doch dann ... geschah das Unbegreifliche: Orpheus begann dem Versprechen<strong>der</strong> Götter, <strong>der</strong> hörend nur vernehmbaren inneren Welt, zu misstrauen, weil er meinte, nurdem selbst und äußerlich-real Gesehenen Glauben schenken zu können.›Und als plötzlich jäh<strong>der</strong> Gott sie anhielt und mit Schmerz im Ausrufdie Worte sprach: Er hat sich umgewendet,begriff sie nichts und sagte leise: Wer? ...‹(Orpheus.Eurydike.Hermes, aus RILKE 1976, Bd. II: 542)Wer? – Der herzlose Verstand war es, <strong>der</strong> nicht umgeschwenkt und zurückgeschaut hat! Amäußerlich Sichtbaren haftend und nur dem Gegenständlichen Wirklichkeit zubilligend hatte <strong>der</strong>Kopf – im gleichen Ungeist wie zuvor Eurydikes unselig-seelenloser Verfolger Aristaios – sie aufdas ihm allein Fassbare und Greifbare beschränkt und darin zugleich alles Zukünftige, neu Werden-Wollendeund daher noch vollkommen Unfassbare zerstört. Der Verstandes-Kopf war es,<strong>der</strong> das ihm weit voraus seiende eigene Herz verriet und im Stich ließ, da er das Lebendigedurch seine eigene Rückwärtsgewandtheit <strong>der</strong> Erstarrung im Vergangenen auslieferte, anstatt


407132sich selbst rückhaltlos, ohne jeglichen Halt im Gegenständlichen, <strong>der</strong> Verheißung des Werdensanheimzugeben.Seiner eigenen inneren Lebendigkeit auf diese Weise endgültig verlustig geworden, fälltOrpheus selbst dem Gesetz <strong>der</strong> Dinge anheim und zerfällt. – Dionysische Mänaden hätten ihnzerrissen, berichtet <strong>der</strong> Mythos ...«Stumm ging Maja unaufhaltsam weiter, ich selbst wagte nach dieser Geschichte kein Wort mehrzu sagen. Nach einiger Zeit sprach sie: »Zeus hat dann die Schildkröten-Leier an sich genommenund hinauf in den Himmel versetzt, wo sie noch heute zu sehen ist, ganz in <strong>der</strong> Nähe des›Schwans‹ und dem Kopf des ›Drachens‹. Die ›Wega‹, <strong>der</strong> hellste Stern in <strong>der</strong> ›Leier‹, wird inetwa 12 000 Jahren <strong>der</strong> Polarstern für die Erde sein.«1 Der Tod des Orpheus.Altgriechisches Vasenbild.2 Die Leier des Orpheus alsSternbild, Abbildung aus demCodex Ms 188 Aratus <strong>der</strong>Bibliotheque municipale vonBoulogne sur Mer, Frankreich(aus THORBECKE 2004: 63).3 Sternbild <strong>der</strong> Leier, daneben<strong>der</strong> Schwan.Inzwischen hatten wir die Hälfte <strong>der</strong> Strecke bis zur Baumgruppe auf dem Hügel zurückgelegt.Immer weiter öffnete sich <strong>der</strong> Blick auf die uns umgebende Landschaft, auf das tiefer gelegenebreite Tal und weit entfernt auf den Bodensee. Da bemerkte ich, wie Maja immer langsamerwurde und immer öfter wie versunken in sich hinein und zugleich in die Ferne blickte.»Maja«, fragte ich ein wenig scheu, »was ist mit dir? Der Anstieg ist doch nicht plötzlich zu mühsamfür dich?«»Nein, mir ist kein Aufstieg zu anstrengend – aber die Stunde ...« Da stockte sie, und erst nachlängerem Schweigen vollendete sie ihren angefangenen Satz: »Mit jedem Schritt rückt die Stundeunseres Abschieds immer näher, denn unsere Wege werden sich bald trennen.«


408»Aber warum denn?«, fragte ich fassungslos. »Warum kannst du mich denn nicht weiterhinbegleiten, sodass wir zusammenbleiben können?«»Sternstunden sind nun eben einmal – wie <strong>der</strong> Name schon sagt – nach <strong>der</strong> Dauer von Stundenbemessen und nicht nach <strong>der</strong> von Tagen o<strong>der</strong> gar Wochen und Monaten. Aber unsere Begegnungwar so tief, dass ich ab jetzt immer in dir sein werde, auch wenn du mich äußerlich nichtsiehst«, gab sie mir zu verstehen.Schweigend gingen wir weiter nebeneinan<strong>der</strong> den Hügel hinauf. Nach einiger Zeit fragte siemich: »Was willst du eigentlich machen, wenn ich fort bin?«Da ich noch immer von <strong>der</strong> Tatsache des bevorstehenden Abschieds ganz betroffen war undmich sehr unsicher fühlte, blieb ich zunächst sprachlos und vermochte ihr keine Antwort zugeben. Auch ein wenig aus Verlegenheit sagte ich einige Zeit später: »Vielleicht sollte ich einBuch über unsere Begegnung schreiben und von allem berichten, was du mir an Gedankeneröffnet hast, um es so an an<strong>der</strong>e Menschen weitergeben zu können. Was meinst du?«»Wie? Ein Buch willst du schreiben? Aber wenn du wirklich darin alles darlegen willst, was wirzusammen besprochen und erlebt haben, dann wird das ein ›Riesen-Schildkröten-Buch‹! Ichweiß nicht, ob du für ein solches Vorhaben einen Verleger finden wirst!«, gab sie mir zur Antwort.»Da könntest du allerdings recht haben; aber ich werde auf jeden Fall versuchen, den <strong>Verlag</strong> meinerbisherigen Bücher dafür zu interessieren«, entgegnete ich.»Du könntest ja dem Leiter des <strong>Verlag</strong>es, Herrn Hunziker, und <strong>der</strong> Lektorin, Frau Schmidhofer,einen Gruß von mir ausrichten und ihnen mitteilen, dass ich sie um Verständnis bitte, wenn sichdie vielen Aspekte und Bedeutungszusammenhänge des nun schon Jahrmillionen währenden<strong>Das</strong>eins <strong>der</strong> Schildkröte auf <strong>der</strong> Erde nur schwerlich auf einhun<strong>der</strong>t Seiten beschränken undangemessen darlegen lassen. – Aber, selbst wenn nichts daraus werden sollte, dann kannst dudas mit mir Erlebte ja trotzdem für dich selbst nie<strong>der</strong>schreiben.«Es waren inzwischen nur noch wenige Schritte bis hinauf zu dem höchsten Punkt <strong>der</strong> Anhöhe;da fügte sie noch hinzu: »Ich bin damit einverstanden, wenn du ein Buch über unsere Begegnungschreiben möchtest!« Wie<strong>der</strong> hielt sie inne und erst, als wir ganz am obersten Punkt angelangtwaren, fuhr sie fort: »Du musst mir aber versprechen, dass du dem, was ich dir gesternandeutungsweise zu deinen ›Wasser-Klang-Bil<strong>der</strong>n‹ gesagt habe, weiter auf den Grund gehenwirst! Vergiss die heutige Nacht nicht: Nur in Übereinstimmung mit <strong>der</strong> vom linken Auge des›Drachen‹ ausgehenden, durch dich und dann durch den Mittelpunkt <strong>der</strong> Erde hindurchgehendenund bis zum Antipoden verlaufenden Achse bist du im Lot!«»Nur dann bin ich ›im Lot‹?«, fragte ich halblaut. »Wie soll ich das verstehen und deuten?«


409Da streckte sie ihren Kopf weit heraus, blickte mich zuerst eindringlich an, schaute dann weithinauf in den Himmel und sprach:»›Götter schreiten vielleicht immer im gleichen Gewähren,wo unser Himmel beginnt;wie in Gedanken erreicht unsere schwereren Ähren,sanft sie wendend, ihr Wind.Wer sie zu fühlen vergaß, leistet nicht ganz die Verzichtung:dennoch haben sie teil.Schweigsam, einfach und heil legt sich an seine Errichtungplötzlich ihr an<strong>der</strong>es Maß.‹(Rainer Maria RILKE 1976, Bd. III: 159)Hast du das verstanden?«, fragte sie mich ernst, aber mit einem freundlichen Unterton in <strong>der</strong>Stimme.»Da, ›wo unser Himmel beginnt‹, ist etwas, was uns frei sein lässt in unseren Entscheidungen; inForm von Ahnungen o<strong>der</strong> gar Eingebungen werden von dort her Gedanken in uns angeregto<strong>der</strong> geweckt, die uns Hinweise geben, so wie die Ähren eines Feldes von einem Windhauchberührt und bewegt werden, o<strong>der</strong> wie die Blätter einer Espe ... o<strong>der</strong> wie bei dieser eindrucksvollenaltägyptischen Statue des ›Chephren‹, hinter dessen Haupt ein Falke sitzt, <strong>der</strong> nur mit einersanften Berührung seiner Flügel das Denken und Schauen des Pharao auf das Wesentliche hinzulenkenscheint.« Mit diesen Worten versuchte ich mitzuteilen, was mir spontan zu diesemGedicht eingefallen war.»Welche schönen Zusammenhänge du inzwischen selbst herstellst! Ich spüre sehr deutlich, dassdu in den letzten zwei Tagen doch einige Einsichten gewonnen hast. Und weiter?«»Wer das Gefühl für die eigene stimmige Richtung verloren hat, ist nicht immer bereit, davon zulassen, was er im Grunde seines Herzens gar nicht tun möchte. Und dann mangelt es meistensals Folge davon an <strong>der</strong> Kraft, sich wirklich für das zu entscheiden, was man eigentlich tun will«,gab ich ihr zur Antwort.»Doch das tiefste innere Wesen, das zugleich das Höchste ist, weiß um alles Tun und Lassen undnimmt daran Anteil; es wartet mit Engelsgeduld darauf, dass man jene Ahnungen ernst nimmtund – um bei deinem Beispiel zu bleiben – sich wie das Laub einer Espe auf den leisesten Windhauchhin regt. Und dann verspürst du eines Tages, dass bei all deiner äußeren wie innerenSelbst-Ständigkeit diese Erhebung nur dann nicht zur maßlosen Überheblichkeit gerät, wenn dubereit bist, diese deine Auf-Richtung an jenem ›an<strong>der</strong>en Maß‹ auszurichten und dich von diesemleiten zu lassen. – Verstehst du, wie ich das meine? – Vielleicht meint ja <strong>der</strong> Name Eurydikeseher die ›weithin sich Aus-Richtende‹, und somit wäre sie in euch Menschen die tiefe Sehnsuchtnach dem Im-Lot-Sein; sie wäre die innere Bereitschaft, <strong>der</strong> Richtung des Lots zu


4101 2entsprechen und euer eigenstes Vermögen, in Resonanz mit eurer Bestimmung zu kommen. Siewäre eure kostbarste Möglichkeit!«, fügte sie hinzu.»›Eurydike in <strong>der</strong> Unterwelt‹ würde dann bedeuten, dass diese Sehnsucht verdrängt wird, ausdem eigenen Lebensvollzug ausgeschlossen bleibt und die Entwicklung und Entfaltung diesesVermögens unterdrückt, verunmöglicht o<strong>der</strong> gar abgetötet wird«, antwortete ich ihr bestürzt.»<strong>Das</strong> innere Streben nach <strong>der</strong> Ausrichtung des eigenen Lebens hin auf das eigene Lot wäredemnach ein weiterer Bedeutungszusammenhang für das Sinnbild <strong>der</strong> von unten nach obengespannten Saiten <strong>der</strong> Chelys-Schildkrötenleier, auf <strong>der</strong> Apollon spielt, o<strong>der</strong>?«, fragte ich.1 Die geheimnisvolle Formdes »Gömböc« (aus GEO 2 2008:150/151).2 Indische Sternschildkröte.»Erst in diesem Hingespanntsein in die wirklich eigene Richtung kann das Licht in einem zuspielen beginnen und strömen – aber nicht für dich in dich hinein, son<strong>der</strong>n durch dich hindurch,hinein in und für die Welt!«, ergänzte sie meine Gedanken und fuhr fort: »Vielleicht verstehstdu jetzt erst die gegenüber allen an<strong>der</strong>en Wirbeltieren so ungewöhnliche und eigenartigeräumliche Lage von uns Landschildkröten. Ob wir laufen, liegen o<strong>der</strong> schlafen, immer sind wirflach mit <strong>der</strong> Bauchseite am o<strong>der</strong> ganz nah am Boden; dies ist aber nicht als ein Zeichen einervöllig passiven räumlichen Haltung anzusehen, son<strong>der</strong>n als Ausdruck einer im Laufe von Jahrmillionenzur festen Körpergestalt gewordenen unablässigen Geste des Hinorientiertseins aufjene vom Himmel kommende und bis zum Erdmittelpunkt reichende Achse. Meine Form unddie zur Erdoberfläche hin nahezu unverän<strong>der</strong>liche Lage ist das Bild eines unverrückbaren Im-Lot-Seins. Wehe, wenn wir diese Position zu sehr verlassen, sodass wir auf den Rücken fallen! –Es gibt für uns nichts Unangenehmeres, weil Unangemesseneres und lebensbedrohlich Gefährlicheres!Sollte es doch einmal geschehen, sind alle Landschildkröten darum bemüht, sich so


411»Der SchmetterlingIch, Tschuang-Tschou, träumteeinst, ich sei ein Schmetterling,ein hin und her flattern<strong>der</strong>Schmetterling, ohne Sorgeund Wunsch, meines Menschenwesensunbewusst. Plötzlicherwachte ich; und da lag ich:wie<strong>der</strong> ›ich selbst‹. Nun weißich nicht: War ich ein Mensch,<strong>der</strong> träumt, er sei ein Schmetterling,o<strong>der</strong> bin ich jetzt einSchmetterling, <strong>der</strong> träumt,er sei ein Mensch? ZwischenMensch und Schmetterling isteine Schranke. Der Übergangist Wandlung genannt.«(TSCHUANG-TSE 1951)schnell wie möglich wie<strong>der</strong> aus dieser misslichen Lage zu befreien. Die indische Sternschildkröte›Geochelone elegans‹ ist darin Meisterin; sie hat ihren Panzer so elegant nach oben hin ausgewölbt,dass sie eine ganz beson<strong>der</strong>e Lage des Schwerpunkts in sich erlangt hat. Kommt sie aufden Rücken zu liegen, rollt sie fast wie von alleine wie<strong>der</strong> in die ihrer Bestimmung gemäße Lagezurück. – Ungarische Forscher haben diese beson<strong>der</strong>e Körperform <strong>der</strong> Sternschildkröte mit <strong>der</strong>Form eines in dieser Hinsicht idealen geometrischen Körpers verglichen, <strong>der</strong> sich auch wie vonselbst wie<strong>der</strong> ausrichtet; sie haben ihn ›Gömböc‹ genannt, von ungarisch ›gömb‹, die ›Kugel‹(GEO 2.2008: 150; vgl. Dambeck 2008).Von großer Bedeutung für das ganze Thema des Lotes ist auch das chinesische Schriftzeichenfür ›Mitte‹: ein senkrechter Strich, ›symbolisch auf die Weltachse, auf die ‘gelbe Mitte’ vomhimmlischen Auge bis zur Leibesmitte ... bezogen‹ geht durch ein Oval und endet unten ineinem kleinen weißen, runden Raum, einer Kugel: sie bedeutet die ›Keimperle‹ (ROUSSELLE1933: 199). – Schon wie<strong>der</strong> eine Perle! Inzwischen weißt du ja um <strong>der</strong>en innere Bedeutung.Aber nun komm, setze dich hier zu mir ins Gras, und lass uns noch ein Weilchen den Blicküber das weite Land genießen; dort hinten im Süden ist sogar <strong>der</strong> Säntis zu sehen. Gestern hattenwir es von jenem auf <strong>der</strong> Spitze dieses Berges auflo<strong>der</strong>nden Licht und vom Mythos <strong>der</strong> voneiner Waberlohe umgebenen und in einer Schildburg schlafenden Walküre. Es gibt noch einenweiteren nordischen Mythos, <strong>der</strong> auch von einer wartenden Frauengestalt erzählt, in einer un -überwindbaren und von Flammen geschützten Burg, hoch oben auf dem ›Lyfiaberg‹, dem Berg<strong>der</strong> Verborgenheit. ›Menglöd‹ heißt diese Frau, die ›Halsbandfrohe‹; damit ist vermutlich <strong>der</strong>sternenfunkelnde Tierkreis gemeint, mit seinen das ganze irdische Geschehen durchwaltendenKräften und Urbil<strong>der</strong>n. Wie Eurydike wäre Menglöd das innerste Vermögen des Menschen, inResonanz mit dem All zu gelangen. Sie, die ›froh‹ wäre, wenn <strong>der</strong> individuelle Mensch seineeigene Aufrichtung wie<strong>der</strong> frei in Übereinstimmung mit dem eigenen Lot brächte. In dieserGeschichte, die ich dir jetzt nicht ausführlicher erzählen kann, spielt auch die senkrechte Achseeines mächtigen Baumes eine wesentliche Rolle. Menglöd wartete sehnlichst auf ›Svipdag‹– indiesem Wort klingt ›svip‹ an, was so viel bedeutet wie ›verzwirnen‹ o<strong>der</strong> ›ineinan<strong>der</strong> verflechten‹,›verwirbeln‹ und das ›dag‹, also <strong>der</strong> ›helle Tag‹; sein Name will also sagen: das sich frei in dasLicht einschwingende, auf das Ganze hin ausrichtende wache Tages-Bewusstsein des Menschen‹(EDDA 2000: 108f.; GOLTHER 1895: 451f.).«Ich setzte mich neben sie und wir schauten lange schweigend hinunter in die morgendlicheLandschaft. Da kam auf einmal ein Schmetterling dahergeflogen und ließ sich auf einer <strong>der</strong> Wiesenblumennie<strong>der</strong>.Maja betrachtete ihn intensiv, als wäre sie in seinen Anblick ganz versunken, bis sie mich,fast ein wenig verträumt, fragte: »Du kennst doch sicherlich jenen berühmten ›Schmetterlingstraum‹des Dschuang-Dsi?«»Ja, Maja, ein wun<strong>der</strong>samer Text«, antwortete ich.»Weißt du, mir ergeht es manchmal so wie Dschuang-Dsi. Auch ich träume ab und zu, ich wäreein Schmetterling, und wenn ich dann wie<strong>der</strong> erwache, weiß auch ich nicht mehr, ob ich nuneine Schildkröte bin, die träumt, sie sei ein Schmetterling, o<strong>der</strong> ein Schmetterling, <strong>der</strong> träumt,


412er sei eine Schildkröte. Zwischen Schildkröte und Schmetterling ist ein Unterschied. ›Der Übergangist Wandlung genannt‹ (TSCHUANG-TSE 1951: 27; vgl. DSCHUANG-DSI 1974: 52).«»<strong>Das</strong> ist ja ein noch viel wun<strong>der</strong>samerer Traum als <strong>der</strong> des Dschuang-Dsi!«, entgegnete ich ihr.»Gibt es doch fast keinen größeren Gegensatz als den zwischen einer Schildkröte und einemSchmetterling!«»Du magst recht haben, was die Entgegensetzung von Schwere und Leichtigkeit, von Schwerfälligkeitund Schwebe, von systolischer Zusammenklumpung und diastolischem Ausgebreitetsein,von erdhaften Brauntönen und leuchten<strong>der</strong> Farbigkeit anbelangt, aber ...«, und da hielt siekurz inne, »ich würde auch nicht von Gegensätzlichkeit sprechen, son<strong>der</strong>n eher von einer antipodischenPolarität. Zwischen Polaritäten gibt es nämlich immer den Prozess <strong>der</strong> Wandlung deseinen Gegenpols in den an<strong>der</strong>en, jenen geheimnisvollen Übergang vom einen ins an<strong>der</strong>e. Hörenur, wie unübertroffen Nelly Sachs, tief an das Mysterium dieses Wandlungsprozesses rührend,den Weg des Schmetterlings beschrieben hat:›SchmetterlingWelch ein schönes Jenseitsist in deinen Staub gemalt.Durch den Flammenkern <strong>der</strong> Erde,durch ihre steinerne Schalewurdest du gereicht,Abschiedsgewebe in <strong>der</strong> Vergänglichkeiten Maß.»<strong>Das</strong> chinesische Schrift -zeichen Dschung ›Mitte‹. Dersenkrechte Strich wird u.a.symbolisch auf die Weltachse,auf die ›gelbe‹ Mitte vomhimmlischen Auge bis zurLeibesmitte, auf das ethischePrinzip <strong>der</strong> Mitte des Rechtenusw. bezogen, zugleich aberauch auf den Strom, <strong>der</strong> beim›Kreislauf des Lichtes‹ vonoben her über die Stirne geht.Die durchströmte ovale Figur… stellt gleichzeitig das dritteo<strong>der</strong> ›himmlische Auge‹ dar.Am unteren Ende des senkrechtenPfeiles ist ein kleinerweißer Raum freigelassen. <strong>Das</strong>bedeutet die Keimperle ...«(Aus ROUSSELLE 1934: 199)Schmetterling,aller Wesen gute Nacht!Die Gewichte von Leben und Todsenken sich mit deinen Flügelnauf die Rose nie<strong>der</strong>,die mit dem heimwärts reifenden Licht welkt.Welch schönes Jenseitsist in deinen Staub gemalt.Welch Königszeichenim <strong>Geheimnis</strong> <strong>der</strong> Luft.‹(Nelly SACHS 1988: 148)›... durch den Flammenkern <strong>der</strong> Erde, durch ihre steinerne Schale wurdest du gereicht‹. – Klingtdas nicht fast so, als wäre <strong>der</strong> Schmetterling im Laufe seines Verwandlungsprozesses geradezudurch die Erde – und damit auch durch mich und meine ›steinerne Schale‹ hindurchgegangen?O<strong>der</strong> noch besser: Als wäre ein vom Urquell <strong>der</strong> Welt Herkommendes erst durch meine Erscheinungsform,dann durch die des Schmetterlings hindurchgegangen, um dann wie<strong>der</strong> den Kreis


41312mit dem Anfang zu schließen? – Was sollte denn überhaupt ein Schmetter-ling bei seiner Wandlungzer-schmettert haben, wenn nicht diese steinerne Schale?«Sie machte eine lange Pause, bevor sie fortfuhr: »Aus den Anfängen und Urzeiten <strong>der</strong> Weltkomme ich her und trage den im festen Stein verborgen ruhenden Urimpuls <strong>der</strong> Schöpfung, wiedas Herz in meinem festen Panzer durch alle Zeiten hindurch, geduldig und ausdauernd, unbeirrtund treu, wissend um die tiefsten Gründe, bis hin zum gemeinsamen Ziel von allem. Aberdahin wird es nur kommen, und mein Schmetterlingstraum wird nur wahr werden können,wenn ihr Menschen dieses vielleicht einmalige und einzigartige Mysterium Erde, die Heimat desWun<strong>der</strong>s des Lebens, nicht zuvor in eurer Verblendetheit und eurem Wahnsinn zerstört.«1 Sich an den Ufern des Amazonasauf einem Holzstammsonnende Schildkröten. »DieTränen <strong>der</strong> Schildkröten – einLebenselexier für Schmetterlinge«(Foto: André Bärtschi,aus GEO Spezial 5 1994:120/121).2 Strukturen <strong>der</strong> Bauchschildevon vorne und von hintenim Vergleich mit den Flügelnvon Schmetterlingen, Collage(Schmetterlingszeichnungenaus SCHNACK o.J. a: 23.b: 24).Als ich zu ihr hinsah, bemerkte ich, dass sie Tränen in den Augen hatte. Im gleichen Augenblickfiel mir ein Bild ein, das ich einmal gesehen hatte: Wasserschildkröten des Amazonas saßen aufeinem Stück Holz und sonnten sich, umflattert von vielen Schmetterlingen; die Bildunterschrifthatte gelautet: ›Die Tränen <strong>der</strong> Schildkröten – ein Lebenselexier für Schmetterlinge‹ (GEO Spezial:Amazonas, 5.1994: 120).»Du wirst es mir vielleicht nicht glauben, und bei <strong>der</strong> Betrachtung meiner Bauchseite gesternNachmittag ist es dir sicherlich nicht aufgefallen, aber: Verborgen trage ich dort in Gestalt <strong>der</strong>Umrisse <strong>der</strong> 4 vor<strong>der</strong>en und <strong>der</strong> 4 hinteren Schildplatten sogar die Signaturen von zwei Schmetterlingenauf mir ... ›Zukünftiges voraus lebendig‹, so hatte es doch bei Goethe geheißen.« Freudiglächelnd schaute sie mich an.


414Gerade als ich im Begriff war, ihr zu sagen, dass ich das fast nicht glauben könne, entgegnete siemir schnell: »Ich spüre es sehr genau. – Gerade wolltest du mich bitten, dir doch noch einmalmeine Bauchseite zu zeigen. Aber hüte dich davor, dass es dir wie Orpheus ergeht, <strong>der</strong> auchmeinte, nur dem Glauben schenken zu können, was er mit eigenen Augen gesehen hat, anstatt<strong>der</strong> göttlichen Verheißung zu vertrauen!«1Betroffen und fast ein wenig beschämt über meine unangebrachte Neugierde wandte ich meinenBlick hinunter in das Tal und schwieg. Beide blieben wir lange Zeit wortlos nebeneinan<strong>der</strong>sitzen. Dann sagte sie plötzlich: »So, Alexan<strong>der</strong>, jetzt ist <strong>der</strong> Augenblick des Abschieds gekommen.Gehe nun hinunter nach ›Steigen‹, so heißt doch <strong>der</strong> Ort, in dem du wohnst. Aber du darfstdich nicht nach mir umsehen. Dafür werde ich immer in dir, mit dir sein.«Ich wollte mich ihr zuwenden und ihr für alles danken, was ich durch sie erfahren und erlebendurfte, da sagte sie ganz leise und warmherzig mit dem unvergesslichen Klang ihrer Stimme:»Danke mir nicht mit Worten, danke mir durch dein Leben! Lebe wohl, Alexan<strong>der</strong>!«Und sie drehte sich um und ging vermutlich in nördlicher Richtung den Hügel wie<strong>der</strong> hinunter,wie ich dem immer leiser werdenden Geräusch ihrer Schritte entnehmen konnte. Dennmich nach ihr umzuwenden wagte ich nicht.Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dann dort oben sitzen geblieben bin, alles um mich herumvergessend; was ich noch wahrnahm, war <strong>der</strong> milde südliche Wind, <strong>der</strong> sanft über das Land hinzog.Da, auf einmal ließ sich ein Schmetterling auf meinem Handrücken nie<strong>der</strong> – es war einApollo-Falter. Er blieb ruhig sitzen, breitete seine Flügel weit aus, um sich in den Strahlen <strong>der</strong>morgendlichen Sonne zu wärmen – wie es die Schildkröten auch so gerne tun.Plötzlich war mir, als hörte ich Maja zu mir sagen – aber so, als käme ihre Stimme aus meinemeigenen Inneren: »Lies, was auf seinen Flügeln steht!« – Hatte sie jetzt seinen o<strong>der</strong> meinen Flügelngesagt? Ich war verwirrt und begriff zunächst nichts. Dann begann ich, das Muster auf denFlügeln des Schmetterlings genauer zu betrachten und erinnerte mich daran, irgendwann einmalFotos des ganzen Alphabets nur aus den farbigen Zeichnungen von Schmetterlingen gese-1 Apollofalter(Foto: Gerhard Merk).2 Strahlenschildkröte(aus SOWERBY 1872). 2


415hen zu haben. Und tatsächlich, ich konnte so etwas wie eine Schrift entziffern und las leise vormich hinsprechend die Worte: »Denen ist die Erde leicht, die sie lieben.« (CAMUS, Die Pest)Im gleichen Augenblick wurde <strong>der</strong> Wind etwas stärker, <strong>der</strong> Apollo-Falter löste sich von meinerHand und ließ sich im Schwebeflug, ohne einen einzigen Flügelschlag, langsam über die Wieseden Hang hinabgleiten.Ich stand auf und verließ die Anhöhe. Im Hinuntergehen kam mir das Gedicht eines altchinesischenZen-Meisters aus dem ›Bi-Yän-Lu‹ in den Sinn, das mich schon immer tief berührt hatte,sich mir jedoch in diesem Moment erst wirklich erschloss:Salvador Dalí, »Figuras«, 1989,»The Mock Turtle’s Story«,Farbheliogravure mit Originalholzschnittaus »Alice imWun<strong>der</strong>land«, Rigal, Nourisson,New York 1969 (Michler330, aus AuktionskatalogZeller, Lindau 2007).»Wesen in <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> Hülle,einzig offenbar,mir nur spät, erst auf mein Jawort,innig nah und wahr.Jahrlang säumte ich am Wege,suchte fremdes Gut,sehe jetzt: Ich war ein BrockenEis in Feuerglut.«(TSCHANG-TIJING HUI-LENG, aus YÜAN-WU 1973, Bd. I: 154)

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