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„Aber dann sind mehrere schöne Dinge passiert

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“Uns <strong>sind</strong> doch die Hände gebunden.“Offenbar nicht nur die Hände. Auch der Kopf, auch der Geist. Gebunden, besetzt. Gefangenin sich selbst. Keine Spur von Freiheit, wie sie in dem alten Volkslied anklingt:“Die Gedanken <strong>sind</strong> frei, wer kann sie erraten. Sie fliehen vorbei wie nächtliche Schatten.Kein Mensch kann sie wissen, keiner Jäger erschießen mit Pulver und Blei; die Gedanken<strong>sind</strong> frei.“Ja, auch hier unten könnten wir frei sein. Und es hat Menschen gegeben, die uns dasgezeigt haben, zuletzt Nelson Mandela, trotz 27 Jahren Festungshaft auf Robben Island einfreier Geist. So frei, dass auch die äußeren Fesseln ihn am Ende nicht halten konnten.Ja, auch hier unten könnten wir frei sein. Auch in äußeren Fesseln, wie auch immer dieheißen mögen: Arbeit, keine Arbeit, Krankheit, Pläne, die zerplatzen, Fragezeichen überall.„Zur Freiheit hat euch Christus befreit!“ schreibt der Apostel Paulus seinen Gemeinden inGalatien. Denn Christus, der euch alle Freiheit schenkt, ist doch da. Nichts kann euch vonseiner Liebe trennen. Keine Mächte, keine Gewalten, nichts Hohes, nichts Tiefes, keinanderer Mensch, keine Kreatur, reinweg nichts kann euch von der Liebe Christi trennen. Siemacht euch stark, sie macht euch ruhig, sie macht zuversichtlich und frohgemut. Frei!Und <strong>dann</strong> hebt Paulus wie das Orchester in der oberen Ebene ein paar Briefseiten späternoch einmal an,„Allegro con fuoco“ steht jetzt in der Partitur‚“Bewegung mit Feuer“: „Zur Freiheit seid ihrberufen! Das ist eure eigentliche Bestimmung! Darum passt auf und lasst euch nicht wiederunter das Joch der Knechtschaft zwingen.“Auch hier unten können wir frei sein. Und hier unten können wir uns erheben. Und hier untenkönnten wir schon das Licht sehen, hier unten könnten wir die Musik von oben schon hörenund in das Jauchzen, die Freude, den Jubel mit einstimmen. Wir <strong>sind</strong> die freien KinderGottes!***Zion, die einstmals stolze, <strong>schöne</strong> Stadt Gottes, jetzt eine zusammengekauerte Menge, aberspricht: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“Ach ja, wir spüren eben nicht immer unsere Freiheit.Wir spüren eben nicht immer unsere Bestimmung.Menschen machen es uns schwer. Verhältnisse machen es uns schwer. Mächte undGewalten halten uns davon ab.Manchmal machen wir es uns auch selbst schwer.Wir sehen nicht, wer wir <strong>sind</strong>. Sehen es noch nicht oder nicht mehr, wer wir <strong>sind</strong>:angenommen, geliebt, aufrecht, frei.Wir spüren eben nicht immer, Gott, deine Nähe, dein Erbarmen, deinen Trost.Zion spricht: „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“Zion, die zusammengekauerte Menge, kann nicht sehen, wer sie ist, kann die Musik nichthören.***So langsam werden wir unruhig in unseren Theater-Sitzen: Wie lange soll das noch gehen?Oben die herrlichste Musik und unten die Menge, die sie nicht hört, nicht hören kann?2


Wie lange soll das noch gehen: diese Nicht-Beziehung zwischen oben und unten? DiesesNebeneinander her? Mein Gott, dieses Drama hat aber auch wirklich Längen…Manchmal würde ich gerne eingreifen. Manchmal würde ich der Dirigentin da oben gernesagen: Siehst Du eigentlich, dass da unten Leute liegen, die nicht mehr weiterkönnen, dienicht weiterwissen?Und <strong>dann</strong> kann ich die himmlische Musik nicht mehr hören. Zu laut, zu viel…Manchmal möchte ich aber auch die Leute da unten rütteln und schütteln: „Hey, jetzt machtdoch mal eure Ohren auf, und jetzt nehmt ihr mal wieder eure Harfen und spielt. Jetzt hängtdoch da nicht so rum. Jetzt mach doch mal wieder ein fröhliches Gesicht. Es gibt doch daoben noch eine Ebene; ihr gehört doch zusammen, es ist eine Bühne, oben und unten…“Ob es etwas bringen würde?***Da kommt auf einmal Bewegung in die Szene.Eine Luke im Boden der oberen Etage öffnet sich und eine kleine Treppe wird ausgefahrennach unten. Die Dirigentin überlässt die Musiker sich selbst – sie <strong>sind</strong> ja alle eingespielt –und geht auf die Luke zu; sie steigt die Treppe herunter, die Arme schon ausgebreitet.Ich habe es vorher nicht beachtet, zu sehr schien sie mir die große Macherin, Managerin.Aber jetzt sehe ich ihre mütterliche Figur.Und alles an ihr spricht: „Ich komme! Ich komme, meine Kinder! Ich komme. Ichkomme…..Denkt ihr denn wirklich, dass eine Mutter ihr Kind vergisst? Denkt ihr dennwirklich, dass sie sich nicht erbarmen würde?Und selbst, wenn das geschieht – und mir bricht es jedes Mal das Herz – ich vergesse euchnicht.Alles, was ich tue, ist doch für euch.Alle Musik, die hier spielt, ist doch für euch.Alle Leidenschaft, die ich in dieses Werk hineinlege, gilt doch euch…Ich war doch nie weg. Ich war doch immer da.Aber jetzt komme ich herunter zu euch..“Und nun richtet Zion sich auf, die zusammengekauerte Menge, wie Kinder, die nach langerZeit die Stimme ihrer geliebten Mutter wieder hören.“Sie ist wieder da“, raunen sie einander zu. „Sie ist zurückgekommen“. „Sie ist zu unsgekommen…“Sie fallen sich weinend und lachend in die Arme.***Christoph Schlingensief, der große Theaterregisseur, der 2010 an Krebs stirbt, erzählt 2500Jahre nach dem Propheten Jesaja:“Es fing an am ersten Feiertag, da hatte ich ein wunderbares Erlebnis mit meiner Mutter.Nach dem Frühstück musste ich plötzlich mit den Tränen kämpfen. Da fragt sie, die kaumaus dem Rollstuhl kommt: ‚Soll ich rüberkommen? Ich komm rüber, warte, warte.‘ Da bin ichnatürlich aufgestanden, zu ihr auf die andere Seite des Tisches gegangen, habe mich nebensie gesetzt und den Kopf auf ihre Schulter gelegt. Als sie <strong>dann</strong> meine Hand nahm, konnte ichdie Tränen laufen lassen. Aber vor allem konnte ich endlich all die <strong>Dinge</strong> aussprechen, die3


mir eine solche Last waren. Ich konnte ihr erzählen, dass ich all die Jahre so viel Kraftgelassen habe, erzählen, wie anstrengend das für mich war, immer wieder Optimismus undLebensfreude verbreiten zu wollen, dafür sorgen zu wollen, dass die <strong>Dinge</strong> schön <strong>sind</strong>. Alldas sagen zu können, endlich auch sagen zu können, dass ich das so nicht mehr will, hat sogutgetan, ich kann‘s gar nicht beschreiben. Es setzte ein großes Gefühl der Entspannungein. Meine Mutter wusste zwar irgendwann gar nicht mehr, worüber wir gesprochen hatten,aber für mich war dieses Gespräch mit ihr ein Weihnachtswunder.“(in: „Der andere Advent“ 2013)***Im Theater, das Christoph Schlingensief so geliebt hat, sitzen sie jetzt zusammen, dieDirigentin von oben und die Verlassenen von unten, die Mutter und ihre Kinder, Gott undMensch wieder vereint, und sie stecken die Köpfe zusammen mit glühenden glücklichenWangen.Und die Schluss-Szene, ganz zart: Die Mutter öffnet ihre Handfläche, und die Kinder sehenvoll Staunen…. in ihr eigenes Bild, das Bild der freien Kinder Gottes, einzeichnet in dieHände der Mutter.Sie hatte es immer bei sich getragen.Sie konnte ihre Kinder gar nicht vergessen.***Liebe Schwestern und Brüder,Das Orchester: die himmlische Musik der neuen Welt, Gottes Welt, die schon zu spielenbegonnen hat.Die Menge auf der unteren Ebene, Zion: Gottes Volk auf der ganzen Erde verstreut, malschuldig, mal weniger schuldig an seiner Situation, aber bedürftig wie ein Kind.Die Menschen im Theater: Männer, Frauen, Kinder, die an Christus glauben und die beidenWelten als eine sehen und daraus Hoffnung schöpfen.Und die Dirigentin: Gott selbst, der die Treppe zu uns heruntersteigt, Mensch wird.Mütterlich. Sie/er war nie weg.Sie trug uns die ganze Zeit bei sich.Wir waren nie getrennt…Trost und Erbarmen wie ein Mutterschoß, mit Händen zu greifen.Musik, die wir jetzt endlich hören und in die wir einstimmen können:Jauchzet, ihr Himmel, frohlocket, ihr Enden der Erde… (Eg 41)Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne inChristus Jesus, unserem Herrn.Amen.4

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