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Leseprobe aus: Der unbesiegbare Sommer in uns von Nina Ruge ...

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<strong>Leseprobe</strong> <strong>aus</strong>: <strong>Der</strong> <strong>unbesiegbare</strong> <strong>Sommer</strong> <strong>in</strong> <strong>uns</strong> <strong>von</strong>N<strong>in</strong>a <strong>Ruge</strong>. Abdruck erfolgt mit freundlicherGenehmigung des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.


N<strong>in</strong>a <strong>Ruge</strong><strong>Der</strong> <strong>unbesiegbare</strong> <strong>Sommer</strong> <strong>in</strong> <strong>uns</strong>


kann das Buch nur Initiator, Anreger und Begleiter se<strong>in</strong>. Und dasBuch b<strong>in</strong> natürlich ich.Es enthält den Extrakt me<strong>in</strong>er lebenslangen Suche, die glücklicherweisenoch längst nicht abgeschlossen ist. Dennoch hat siemich schon oft <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren <strong>Sommer</strong> geführt. Sie hat michbislang e<strong>in</strong>iges über den Weg dorth<strong>in</strong> gelehrt. Vor allem, dassdieser Weg ke<strong>in</strong>eswegs über »Wissen« führt. Sondern über Erkenntnis,die nicht mit Worten zu def<strong>in</strong>ieren ist. Zum Beispielüber die Erkenntnis, dass me<strong>in</strong> Denken den Weg wie e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>kelste<strong>in</strong>blockiert. Über die Erkenntnis, wie sehr me<strong>in</strong>e Denk- undVerhaltensmuster me<strong>in</strong> Ego prägen und wie Pattex me<strong>in</strong>e Wahrnehmungverkleben. Über die Erkenntnis, dass die Gitterstäbeme<strong>in</strong>es Gedanken-Gefängnisses nur langsam schmelzen. Undschließlich, dass das Lösungsmittel für antra<strong>in</strong>ierte Muster e<strong>in</strong>eMixtur ist <strong>aus</strong> Geduld, Konzentration und Entschlossenheit.Wenn wir e<strong>in</strong>willigen, dass wir lange und regelmäßig üben müssen,um Altes abzulegen und Neues zu erfahren, dann öffnet sichder Weg.Wenn du gesprungen bist, hast du den Ort der Landung längstgeträumt. Das ist das Wunderbare, das <strong>uns</strong> die mühsame Reise<strong>in</strong>s Innere der Liebe so reizvoll macht. Gott verspricht e<strong>in</strong>e sichereLandung, aber ke<strong>in</strong>e ruhige Reise. Also, los!Über das Träumen, Reisen und Landen an e<strong>in</strong>en Ort, den nure<strong>in</strong>er kennt: du selbst.8


1Wo die Angst ist, geht es langDie Geschichte me<strong>in</strong>er eigenen Reise••Mitten im W<strong>in</strong>ter erkannte ich … dass ich dabei war zu erfrieren.<strong>Der</strong> W<strong>in</strong>ter war e<strong>in</strong> kühler Tag im April und die Konfirmation derjüngeren Schwester me<strong>in</strong>es damaligen Freundes. Die Familie saßhübsch gemacht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er evangelischen Kirche <strong>in</strong> Kassel. Ich war19, saß daneben und sah das Ganze als spaßfreies Pflichtprogramman. Ich war zwar evangelisch getauft, doch zu jener Zeit alles andereals empfänglich für kirchliche Botschaften.Und nun f<strong>in</strong>g auch noch der Jugendchor an zu s<strong>in</strong>gen. Ausgerechnete<strong>in</strong> Jugendchor! Ich selbst hatte e<strong>in</strong>e fünfjährige Chor-Biografie zu verzeichnen. Oh Gott, wie war das brav und spießiggewesen! Die Lust am S<strong>in</strong>gen poppte höchstens <strong>in</strong> der Disconoch mal <strong>in</strong> mir auf.Alles <strong>in</strong> mir war also auf Abwehr programmiert. E<strong>in</strong> Konfirmations-Kirchenchor– forget it! Doch als die ach-so-piefigenJungs und Mädels zu s<strong>in</strong>gen anhoben, erwischten sie mich eiskalt.Denn sie bedienten sich exakt des Soundtracks, für denme<strong>in</strong>e Magengrube den idealen Resonanzboden bot, der e<strong>in</strong> verheißungsvollesMorgen versprach: Sie rockten Deep Purple, DavidBowie, Uriah Heep.9


Dem Pfarrer gelang etwas Unerhörtes: e<strong>in</strong>e Konfirmation <strong>in</strong>der Gefühlssprache <strong>von</strong> <strong>uns</strong>, den Unter-Zwanzigjährigen. E<strong>in</strong>Gottesdienst als Lebensschule, als Freiheitsschule vielleicht sogar.Erwachsene herzlich e<strong>in</strong>geladen.Gesungen wurde zwar <strong>in</strong> der verachtenswerten Sprache derOberlehrer und Sittenwächter, auf Deutsch, heaven!, doch ichkam erst gar nicht dazu, die <strong>in</strong>neren Schotten dicht zu machen.Gleich die erste Liedzeile setzte mich schachmatt: »Me<strong>in</strong>enKopf <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en warmen Schoß zu legen, und me<strong>in</strong>e Sorgen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>engroßen Schrank.« E<strong>in</strong> schlichter, um nicht zu sagen, e<strong>in</strong>höchst kitschverdächtiger Satz. Roy Black hätte se<strong>in</strong>e Freudedaran gehabt. Doch bevor ich begriff, wie mir geschah, begannich – auch zum Erstaunen me<strong>in</strong>er kirchlichen Nebensitzer –hemmungslos zu we<strong>in</strong>en. Me<strong>in</strong> Gott, war das pe<strong>in</strong>lich! Es schütteltemich, und es hörte nicht auf. Im Gegenteil.Noch schlimmer wurde es, als der Pastor vom Weg <strong>in</strong> die <strong>in</strong>nereWärme sprach, der der wichtigste Weg <strong>in</strong> <strong>uns</strong>erem Lebensei, und den so viele verpassen würden. Er sprach <strong>von</strong> Menschen,die die Liebe vergäßen. Die gierig darauf bedacht seien,<strong>von</strong> wem sie welche Dosis Anerkennung, Zuwendung, Bestätigungerhielten, aber nie lernten, dass Liebe die wertvollste Währungsei. Am wertvollsten, wenn man sie verschenke.Wer sie achtlos zumülle, die unerschöpfliche Liebesquelle <strong>in</strong>sich selbst, der begänne unweigerlich zu frieren, so der Pastor.Es gäbe zwar viele Methoden, den <strong>in</strong>neren Schüttelfrost kurzzeitigzu betäuben, doch wer sich dem nicht stelle, nicht anschaue,weshalb es ihn so friere, der verlöre über kurz oder langse<strong>in</strong> Leben. Genauer gesagt: Er verlöre se<strong>in</strong>e Lebendigkeit.Es heulte mich. Mit Macht brach <strong>aus</strong> mir her<strong>aus</strong>, was ichnicht wahrhaben wollte. Denn ich war doch zutiefst da<strong>von</strong> überzeugt:Ich lebte die große Freiheit Nummer sieben! Geme<strong>in</strong>sammit me<strong>in</strong>em Freund <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er flippigen WG, im Studium lief auch10


alles rund … E<strong>in</strong>zig das Geld war wahns<strong>in</strong>nig knapp, weil me<strong>in</strong>eEltern mir nur den gesetzlich vorgeschriebenen M<strong>in</strong>destbetraggaben, 300 Mark pro Monat. Aus Diszipl<strong>in</strong>ierungsgründen.Aber selbst das war irgendwie cool. Geld? Das war doch dasMagengeschwür der Kapitalisten.Und hier, auf dieser be<strong>in</strong>harten Kirchenbank, wurde mirschlagartig klar: Ich fror, und wie! Trotz I G<strong>in</strong>g, trotz Habermasund Horst Eberhard Richter, trotz allen Gegenentwürfen zumetablierten Spießerleben hatte ich aufgehört zu suchen. In mirvibrierte es nicht mehr. Die Welt war <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Gr<strong>aus</strong>chleierüberzogen. Das tiefe Glücksgefühl zu leben – kaum geahnt,schon verpufft. Me<strong>in</strong> Gott, e<strong>in</strong>e Lebenskrise mit 19? Verdammtfrüh!Aber ke<strong>in</strong> Wunder eigentlich. Hatte ich doch schon früh e<strong>in</strong>ensensiblen Geigerzähler entwickelt für Phasen, <strong>in</strong> denen das Lebense<strong>in</strong>en Glanz verliert. Weil ich <strong>von</strong> kle<strong>in</strong> auf gespürt hatte,wie es ist, sich außen geborgen und <strong>in</strong>nen verloren zu fühlen. Ichklammerte mich an den Rockzipfel me<strong>in</strong>er Mutter, weil ich kle<strong>in</strong>es,dürres Mädchen <strong>in</strong>nen total verängstigt war. E<strong>in</strong> Vertrauender Sorte »<strong>von</strong> guten Mächten wunderbar geborgen« war nochnicht erwacht. So er<strong>in</strong>nere ich mich an me<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dheit mit demGefühl <strong>von</strong> Behütetse<strong>in</strong> – und Schüttelfrost.Ich komme <strong>aus</strong> e<strong>in</strong>er klassischen Akademikerfamilie. Me<strong>in</strong> Vaterwar Professor für Masch<strong>in</strong>enbau <strong>in</strong> Bra<strong>uns</strong>chweig, me<strong>in</strong>eMutter hatte das Mediz<strong>in</strong>studium mit der Geburt me<strong>in</strong>er älterenSchwester abgebrochen. Carl-Orff-Schulwerk, Klavierunterricht,Ballett, Tennis, Reiten, Jugendchor, Bildungsreisen. Me<strong>in</strong>eEltern wollten das Beste für <strong>uns</strong>. Sie organisierten nach bestemWissen und Gewissen und mit größtem Kraftaufwand dieoptimale Förderung für <strong>uns</strong>. Ihr Pr<strong>in</strong>zip: e<strong>in</strong>e strenge, liebevolleErziehung.11


Ich war e<strong>in</strong> merkwürdiges K<strong>in</strong>d, extrem schüchtern, ja scheu.Ich traute mich weder aufs Fahrrad noch alle<strong>in</strong> zum Kaufmannan die Ecke. In der Schule war ich war supergut, zu H<strong>aus</strong>e wollteich am liebsten zu Mama und Papa auf den Schoß. <strong>Der</strong> Rockzipfelals verlängerte Nabelschnur.Irgendwann begann ich zu spüren, dass es bei <strong>uns</strong> zu H<strong>aus</strong>eirgendwie anders war als bei me<strong>in</strong>en Freund<strong>in</strong>nen. Alles e<strong>in</strong>bisschen schwerer, ernster, tiefer, weniger spontan. Es war, alsverstecke sich zwischen <strong>uns</strong> vieren e<strong>in</strong> graues Geheimnis. E<strong>in</strong>Geheimnis, das wie e<strong>in</strong> schuppiges Tier h<strong>in</strong>ter dem Vorhang saßund sich <strong>von</strong> Lebensfreude nährte.Erst zehn Jahre später, ich war gerade 18, begann ich zu begreifen:Es gab e<strong>in</strong>en Zusammenhang zwischen me<strong>in</strong>er Schüchternheitund dem schuppigen Tier. Me<strong>in</strong> Vater erzählte <strong>uns</strong> <strong>von</strong>dem, was er und me<strong>in</strong>e Mutter mit sich trugen. Und das warbeileibe tonnenschwer. Me<strong>in</strong>em Vater war als »Halbjude« zunächstdas Abitur verwehrt worden, später wurde er nach Frankreich<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Lager deportiert. Dort musste er »den Westwallschippen« und erkrankte schwer. Er hat das Lager und den Nazi-Terrornur mit sehr viel Intelligenz und noch mehr Glücküberlebt.Bei me<strong>in</strong>er Mutter wurde e<strong>in</strong> schwarzes Melanom diagnostiziert,als sie im vierten Monat mit mir schwanger war. Als angehendeÄrzt<strong>in</strong> wusste sie, was das bedeutet. In e<strong>in</strong>er sofortigenOperation sah sie ke<strong>in</strong>e Chance mehr, also trug sie mich <strong>aus</strong>.Kurz nach der Geburt kam ich <strong>in</strong>s Säugl<strong>in</strong>gsheim und sie <strong>in</strong>sKrebsforschungszentrum Heidelberg. Man fand Metastasen imganzen Bauchraum. Trotzdem wurde sie operiert, acht Stundenlang. Anschließend bereitete der Professor me<strong>in</strong>en Vater auf e<strong>in</strong>Leben als Witwer vor.Doch dann das Wunder: Me<strong>in</strong>e Mutter wurde massiv bestrahlt– und überlebte. <strong>Der</strong> Krebs war weg. Was blieb, war die12


Angst. Immer wieder musste sie zu Kontrolluntersuchungen, immerwieder hatte sie veränderte Lymphknoten, die entfernt werdenmussten. E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige aggressive Metastase hätte genügt …Und <strong>von</strong> alldem hatten <strong>uns</strong> <strong>uns</strong>ere Eltern <strong>uns</strong>ere ganze K<strong>in</strong>dheitund Jugend h<strong>in</strong>durch nichts erzählt. Sie wollten <strong>uns</strong> nichtbelasten. Und sie wollten <strong>uns</strong>ere Mutter schützen. Niemandsollte über sie und ihr Schicksal tuscheln.Heute weiß ich, wie das schuppige Tier heißt, das die Lebensfreude<strong>in</strong> <strong>uns</strong>erer Familie so h<strong>in</strong>terhältig aufzehrte. Se<strong>in</strong> Vorname:Angst. Se<strong>in</strong> Nachname: Verdrängung. Ich me<strong>in</strong>e zu ahnen,was für e<strong>in</strong> unglaublicher mentaler Kraftakt es gewesen se<strong>in</strong>muss, mit all dem Erlebten fertig zu werden. Ich spreche bewusstnicht <strong>von</strong> »Verarbeiten«. Dazu wäre es vielleicht nötiggewesen, professionelle Hilfe zu suchen, sich Unterstützungdurch e<strong>in</strong>en Psychotherapeuten zu holen. Doch <strong>in</strong> den Fünfziger-,Sechzigerjahren? Da wurde verdrängt. Man war ja schonmit ganz anderem »fertig geworden«. <strong>Der</strong> Krieg war schließlichvorbei. Haltung war alles. Gefühle zulassen war ke<strong>in</strong>e Option.Me<strong>in</strong>e Eltern stammten <strong>aus</strong> Berl<strong>in</strong>. In Bra<strong>uns</strong>chweig suchtensie sich ke<strong>in</strong>e Freunde. Wie zwei Mammutbäume stehensie da, <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung. Stumm (er)trugen sie die Last ihresSchicksals und schnitten Gefühle, die sie irritierten, e<strong>in</strong>fachab.Zwischen diesen Mammutbäumen tapste nun also Kle<strong>in</strong>-N<strong>in</strong>aherum, ständig um Aufmerksamkeit und Liebe bettelnd. Me<strong>in</strong>eEltern gaben mir alles, was sie konnten. Unsicher und verlorenblieb ich trotzdem. Denn ich spürte ja: Irgendetwas war anders.Irgendetwas stimmte nicht.Und so begann ich zu suchen. Nach etwas, das mich starkmacht, das mich hält. Zunächst war das der Erfolg <strong>in</strong> der Schule.13


Freund<strong>in</strong>nen fühlten sich leicht überfordert <strong>von</strong> mir. So vielNähe, so viel Ausschließlichkeit wie ich brauchten sie nicht.Als ich dann zwölf wurde, wuchs das nagende Gefühl, dassgute Noten nicht reichten, um den Gr<strong>aus</strong>chleier zu durchstoßen.Er lag über allem, was ich erlebte. Aus ihm war auch me<strong>in</strong>eSchüchternheit gewebt. An die Lerne<strong>in</strong>heit: »E<strong>in</strong>fach mal leben«traute ich mich nicht mal <strong>aus</strong> der Ferne heran. Ich hatte sowenig festen Boden unter den Füßen, wie sollte ich da Experimentewagen? Ne<strong>in</strong>, nur h<strong>in</strong>ter dem Wohnzimmersessel fühlteich mich e<strong>in</strong>igermaßen sicher.Dennoch ahnte ich bereits damals, dass die Farben des Lebens<strong>in</strong> Wirklichkeit viel satter waren, als ich sie wahrnehmenkonnte. Und ich ahnte, dass ich Rockzipfel und Wohnzimmersesselverlassen musste, um den Gr<strong>aus</strong>chleier zu zerreißen. Ichhatte nur noch ke<strong>in</strong>e Ahnung, wie.E<strong>in</strong>es Nachmittags nahm dieses Wie Form an. Buchstabenform.Ich war zwölf und saß mit me<strong>in</strong>er besten Freund<strong>in</strong> auf dem Bett<strong>in</strong> me<strong>in</strong>em »Jugendzimmer«. Wir philosophierten. Das taten wirtäglich. In <strong>uns</strong> beiden blubberte die e<strong>in</strong>setzende Veränderung.Unsere Eltern nervten, und die blöden Jungs waren plötzlich garnicht mehr so blöd. Haare zu Rattenschwänzen b<strong>in</strong>den undfreundlich den Müll runtertragen – sollte es das gewesen se<strong>in</strong>?F<strong>in</strong>g das Leben nicht eben erst an? Aber wie? Nur e<strong>in</strong>s war <strong>uns</strong>klar: das »richtige« Leben, das pulsierte nur dort, wo ke<strong>in</strong>e Elternden Takt vorgaben … Wir sehnten <strong>uns</strong> danach, selbstbewussterzu se<strong>in</strong>. Freier. Heiterer. Was also tun? Wie denken?Woh<strong>in</strong> wollen? Darüber also philosophierten wir. Und dann, andiesem Nachmittag, stand er da, an <strong>uns</strong> gelehnt, e<strong>in</strong> schlichterSatz: »Wo die Angst ist, geht es lang.« Woher wir ihn hatten –ich er<strong>in</strong>nere mich nicht mehr. Doch er war für mich e<strong>in</strong> pubertärerErkenntnisblitz. Ja, es war Angst! Me<strong>in</strong> Handeln und Fühlen,14


das steuerte nicht ich, <strong>von</strong> wegen! Das war fremdgesteuert. Vonetwas anderem, <strong>von</strong> diesem merkwürdigen Tier <strong>in</strong> mir, vor demich mich fürchtete und das ich verabscheute.»Wo die Angst ist, geht es lang.«Me<strong>in</strong> Gott, tat das gut. Tu das, wovor du Angst hast, und dieAngst schw<strong>in</strong>det. Und das mir! Dem Mädchen im Käfig <strong>aus</strong>Angst.Nur wer sich bewegt, spürt se<strong>in</strong>e Fesseln. Wir wollten starkse<strong>in</strong> und frei. Ich wollte lernen, wie Leben geht. Ich wollte Farbensehen.Irgendwann später, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er me<strong>in</strong>er vielen Selbstentwicklungsphasen,entdeckte ich Hermann Hesse und mit ihm das genialesprachliche Bild <strong>aus</strong> se<strong>in</strong>em Roman Demian: »<strong>Der</strong> Vogelkämpft sich <strong>aus</strong> dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werdenwill, muss e<strong>in</strong>e Welt zerstören. <strong>Der</strong> Vogel fliegt zu Gott.«Gen<strong>aus</strong>o war es. Das war ich! Endlich fühlte ich mich verstanden.Den letzten Satz ließ ich allerd<strong>in</strong>gs erst mal weg. Gott warfür mich das Konstrukt der Etablierten, der <strong>in</strong>teressierte michnicht. Was den Vogel allerd<strong>in</strong>gs nicht da<strong>von</strong> abhielt, zu Gott zufliegen. Aber das verstand ich erst deutlich später.Zunächst kümmerte ich mich mal darum, me<strong>in</strong>e Welt zu zerstören.<strong>Der</strong> klassische Widerspruch der Pubertät: Erkennen, dassHalt und Orientierung <strong>aus</strong> e<strong>in</strong>em selbst kommen müssen. Diebeiden Mammutbäume, die sollten mir nicht mehr das Sonnenlichtnehmen. Doch es war so geschützt und gemütlich nah anihrem starken Wurzelgeflecht und unter ihrer weit entferntenKrone. Oh weh! Wurzel und Krone! Hatte ich das selber schon?Na, e<strong>in</strong>s war klar: Wachsen konnte ich nur, wenn ich mich großfühlte. Zugeben, dass ich <strong>uns</strong>icher war, g<strong>in</strong>g also gar nicht. Im-15


mer die Selbstsichere mimen! Für me<strong>in</strong>e Eltern muss diese Zeitgrauenhaft gewesen se<strong>in</strong>. Denn granatenschnell wurde ich das,was man als »frühreif« etikettierte. Mit 14 tummelte ich mich <strong>in</strong>der Bra<strong>uns</strong>chweiger Drogenszene, mit 15 wechselte ich dieFreunde im Wochentakt, mit 16 war ich Parteimitglied des KBW(Kommunistischer Bund Westdeutschland), also l<strong>in</strong>ks außen <strong>in</strong>der kommunistischen Studentenszene, und mit 17 hatte ich Abitur.Mathematik und Physik waren me<strong>in</strong>e Schwerpunktfächergewesen.E<strong>in</strong>en Tag nach dem Abi zog ich zu me<strong>in</strong>em Freund und mitStudienbeg<strong>in</strong>n <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e WG. Und siehe da: Je mehr ich <strong>von</strong> demzertrat, was me<strong>in</strong>e Eltern für mich vorgesehen hatten, desto farbigerwurde me<strong>in</strong> Leben. Ich hatte null Geld, und das engtemich furchtbar e<strong>in</strong>, aber ich genoss me<strong>in</strong> freies, unkontrolliertesLeben.Das war typisch für me<strong>in</strong>e Generation. Die Achtundsechzigerhatten die Mauern niedergerissen, und nun testeten wir <strong>aus</strong>, wassich h<strong>in</strong>ter den Fassaden der starren gesellschaftlichen Vorgabenbefand. Besonders wir Frauen stießen hier auf verme<strong>in</strong>tlichesNiemandsland. Ke<strong>in</strong>e Generation vor <strong>uns</strong> hatte jemals die Chanceauf e<strong>in</strong> derart selbstbestimmtes Leben gehabt.Da ich so früh begonnen hatte, im Außen alles wegzureißen,was ich als e<strong>in</strong>engend empfand, begann ich auch früh, mich demInnen zuzuwenden. Ich suchte nach dem, was mich erden könnte.Auch <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht war ich sicherlich typisch für me<strong>in</strong>eGeneration. Bhagwan, Yoga, biodynamische Ernährung, Selbsterfahrungsgruppen,Sufi-Tanz und Psychokurse … ich ließnichts <strong>aus</strong>. Genau def<strong>in</strong>ieren konnte ich me<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres Ziel allerd<strong>in</strong>gsnie. Ich suchte Ruhe, Gelassenheit, Selbstbewusstse<strong>in</strong>,Glücksfähigkeit. So <strong>in</strong> etwa.Ja, und dann, nach e<strong>in</strong>igen Semestern, begann der Zauber desAusprobierens und des Entdeckens unmerklich se<strong>in</strong>en Glanz zu16


verlieren. Rout<strong>in</strong>e schlich sich e<strong>in</strong>. Schon seit zwei Jahren warderselbe Mann an me<strong>in</strong>er Seite, im Studium war die Belastungkonstant hoch, und so verlor ich Stück für Stück den roten Fadenme<strong>in</strong>er Suche, den Zugang zur Sehnsucht, das Gespür für dasgroße schwarze Loch <strong>in</strong> mir.Das Sollen-Wollen-Müssen e<strong>in</strong>es anspruchsvollen Studiumsfuhr gedanklich Karussell mit mir. Phasen des Müßiggangs, <strong>in</strong>denen die Seele die Navigation e<strong>in</strong>es Tages, e<strong>in</strong>iger Stundenübernahm, gab es nicht mehr. Ich überließ mich, me<strong>in</strong> Leben,me<strong>in</strong>e Gefühle, dem Diktat me<strong>in</strong>er flirrenden Gedankenwelt.Yoga verkam zur körperlichen Ertüchtigung. Ich funktioniertegut <strong>in</strong> der kompetitiven Massenuniversität. Ich schaffte sämtlicheAufnahmeprüfungen, auch die <strong>in</strong> organischer Chemie.Und so verpuffte der Zauber des Aufbruchs mit den Knallgasreaktionender chemischen Sem<strong>in</strong>are. Die lila Latzhose als Signalme<strong>in</strong>er Verweigerung aller bürgerlichen Klammern undWerte war plötzlich out. Ich begann zu nähen und zu stricken.Nicht weil ich Rückfälle <strong>in</strong> die Häuslichkeit erlitten hätte, sondernweil ich modisch auffallen wollte. Ich f<strong>in</strong>g sogar an michzu schm<strong>in</strong>ken, was zu Beg<strong>in</strong>n der Siebziger noch total out gewesenwar. Auch vorher war ich ja alles andere als e<strong>in</strong>e graue M<strong>aus</strong>gewesen, doch was nun begann, war die Suche – vielleicht auchdie Sucht – nach Anerkennung <strong>von</strong> außen. »Glück ist, wenn siedich toll f<strong>in</strong>den«, da<strong>von</strong> war ich jetzt überzeugt. Am besten natürlichdie Männer, und <strong>von</strong> denen möglichst viele. Das hatte jaschon fünf Jahre zuvor bestens funktioniert, doch damals war esnoch so etwas wie e<strong>in</strong> spielerisches Austesten gewesen. Jetztwurde es zum Pr<strong>in</strong>zip.Ich war also voll <strong>in</strong> der Hand me<strong>in</strong>er h<strong>aus</strong>eigenen Gedankenpolizei.Die aufregenden Pfade nach <strong>in</strong>nen hatte ich gekappt unddas aufkeimende Mangelgefühl, den Mangel an Tiefe und Glück,e<strong>in</strong>fach zugeklebt. Mit den Alltagsdrogen, die wir alle lieben:17


Erfolg, Anerkennung, Bewunderung. Ich war anders als all dieanderen. Besser, hübscher, e<strong>in</strong>fach toll.Natürlich glaubte ich das – tief <strong>in</strong> mir dr<strong>in</strong>nen – nicht. Und sotat ich alles dafür, damit es nach außen so <strong>aus</strong>sah. Wohlgemerkt:Ich f<strong>in</strong>de erfolgreiche, schöne und engagierte Menschen nochimmer großartig. Doch heute ist entscheidend für mich, ob siefür die Sache brennen – oder für ihr Ego.Zurück zum April 1976. Wir fuhren also <strong>in</strong> <strong>uns</strong>erem klapprigenVW zur Konfirmation nach Kassel, wo sich die Sehnsucht, dieich so elegant weggesperrt hatte, plötzlich als Heulkrampf zurückmeldete.Damit endete der erste Zyklus <strong>von</strong> Suchen und Verlieren <strong>in</strong>me<strong>in</strong>em Leben. <strong>Der</strong> erste <strong>von</strong> vielen. Es war die Suche nachdem tiefen Quell <strong>von</strong> Wärme, Liebe und Geborgenheit <strong>in</strong> mirselbst. Und e<strong>in</strong> Verlust war es, weil ich mir <strong>von</strong> me<strong>in</strong>er Gedankenpolizeiimmer wieder hatte e<strong>in</strong>reden lassen, dass anderesnoch viel lustvoller und schöner sei. Jedes Mal aber, wenn ichzurückfand <strong>in</strong> die Lust der Suche, spürte ich, dass ich schonlängst fündig gewesen war. Und jedes Mal mehr. Dem Wanderndenwird sich der Weg unter die Füße schieben.Heute endlich, nach so viel Suchen und Verlieren, ist der zehrendeSchmerz verschwunden, das schwarze Loch auf die Größee<strong>in</strong>es Stecknadelkopfes geschrumpft. Und das Bewusstse<strong>in</strong> fürdas, wonach ich suche, verlässt mich nicht mehr. Längst habeich auch Worte dafür gefunden: Licht und die Liebe. Und heuteweiß ich auch, wo ich beides f<strong>in</strong>de: Mitten im W<strong>in</strong>ter erkannteich, dass <strong>in</strong> mir e<strong>in</strong> <strong>unbesiegbare</strong>r <strong>Sommer</strong> wohnt.18


2Und auf e<strong>in</strong>mal steht esneben dir, an dich angelehnt. Was?Das, was du so lang ersehnt.Me<strong>in</strong>e erste Satori-Erfahrung••Es war am letzten Tag me<strong>in</strong>es ersten Urlaubs <strong>in</strong> totaler Freiheit.Ich war 17, hatte das Abitur <strong>in</strong> der Tasche, war <strong>in</strong> die Studentenbudeme<strong>in</strong>es Freundes gezogen und hatte me<strong>in</strong> erstes eigenesGeld verdient, bei Horten <strong>in</strong> der Herrenabteilung. 350 D-Markwaren dabei r<strong>aus</strong>gesprungen, die mussten nun reichen für e<strong>in</strong>ensechswöchigen Urlaub <strong>in</strong> Südfrankreich.Heute schaudert’s mich, wenn ich daran denke – und auchdamals fühlte ich mich weit entfernt <strong>von</strong> Happy-Go-Lucky. WenigGeld kann ja e<strong>in</strong> Wegweiser fürs Wesentliche se<strong>in</strong>, doch sehrwenig Geld nervt e<strong>in</strong>fach nur.Geliehenes Zweimann-Zelt, wildes Campen, Plumpsklo undKakerlaken-Dusche – so sah <strong>uns</strong>er Urlaub <strong>aus</strong>. Zu essen gab esimportierte Aldi-Dosen, dazu Weißbrot, Tomaten und Käse. SolcheKnappheit beschränkt und macht die Seele eng. Glückshormonebrauchen andere Quellen zum Sprudeln.19


Doch natürlich gab es auch e<strong>in</strong>e andere Seite der Medaille:unendlich viel Zeit. Lesen, Wandern, Zweisamkeit, die Wildheitder Pyrenäen entdecken. <strong>Der</strong> kle<strong>in</strong>e Terrorist <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>terkopfpaukte se<strong>in</strong>e Parolen immer mehr <strong>in</strong>s Leere: Müssen! Sollen!Wollen! Se<strong>in</strong>e Munition war weich geworden, sie löste sichauf.Zeit raste nicht mehr, sie floss dah<strong>in</strong>. Gerüche wurden stärker,Farben auch.Ich spürte, wie me<strong>in</strong>e Seele es sich wohnlich machte <strong>in</strong> me<strong>in</strong>emKörper. Me<strong>in</strong> Atem wurde weicher, me<strong>in</strong>e Gesichtszügeentspannten sich. Sechs Wochen … Zeit genug, um bei sichselbst anzukommen.Schließlich kam die Rückfahrt. <strong>Der</strong> klapprige VW hielt durch.Lauer W<strong>in</strong>d beim Tankstellen-Stopp, die letzten Francs wurdenverflüssigt. Ke<strong>in</strong> Widerstand gegen gar nichts. Alles war, wie eswar. Die Landstraßen zogen sich h<strong>in</strong>, weil die Autobahnmaut zuteuer war. Na und? Im Radio: A Long and W<strong>in</strong>d<strong>in</strong>g Road.Und dann geschah es, auf Neudeutsch e<strong>in</strong> »Flash«. Dochsolch e<strong>in</strong>e Vokabel verpackt dieses fasz<strong>in</strong>ierende Erlebnis zusehr <strong>in</strong> Stanniolpapier, als dass sie dessen Kern zeigen könnte,se<strong>in</strong>e Tiefe, ja: se<strong>in</strong>e Urgewalt.Wir hatten <strong>uns</strong>er Zelt für die letzte Nacht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wäldchenan e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en See <strong>in</strong> der Schweiz aufgeschlagen. Es warschon dunkel gewesen, als wir den Platz gefunden hatten, <strong>in</strong> dertotalen Abgeschiedenheit.Am Morgen danach wachte ich sehr früh auf. Um <strong>uns</strong> herumherrschte e<strong>in</strong>e große, friedvolle Stille. Ich rollte mich <strong>in</strong>s Freieund g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> Stück zum See h<strong>in</strong>unter. Die Sonne h<strong>in</strong>g noch tiefzwischen den Bäumen, und über dem Wasser lag e<strong>in</strong> fe<strong>in</strong>erD<strong>uns</strong>t. <strong>Der</strong> Himmel war <strong>von</strong> durchsichtigem Blau. Alles hieltden Atem an. Bis heute rieche ich die moosige Erde und spürejeden e<strong>in</strong>zelnen Baum. E<strong>in</strong> Vogel begann zu s<strong>in</strong>gen. Und plötz-20


lich geschah etwas mit mir, etwas Überwältigendes, völlig Neues,das sich trotzdem seltsam vertraut anfühlte. Ich tat gar nichts.Ich stand nur da, wie angewurzelt, e<strong>in</strong> ganzes Stück noch vomUfer entfernt, und es war, als sähe ich das spiegelnde Wasser, dieUfergräser, die Zweige und den Himmel zum ersten Mal. Alles,was mich umgab, umf<strong>in</strong>g mich mit e<strong>in</strong>er Kraft und Klarheit, diemich erschaudern ließ. Die Wucht des Gefühls, das <strong>in</strong> mir hochstieg,die Dimension des Glücks, die Sprachlosigkeit zugleich,all das zu erfassen – ich fühlte mich wie <strong>aus</strong> der Zeit gefallen.Ke<strong>in</strong>e Ahnung, wie lange ich dort stand und staunte. Es war,als hätte die Natur mir gnädig e<strong>in</strong> Portal geöffnet, durch das ichgehen und e<strong>in</strong>s se<strong>in</strong> durfte mit ihr. Wo ich herkam, wer oder wasich war, woh<strong>in</strong> ich wollte, mit mir, mit me<strong>in</strong>em Leben – nichtswar <strong>von</strong> Bedeutung; ke<strong>in</strong> Gedanke an gestern, heute, morgen.Ke<strong>in</strong> Gedanke! Das war es. Während ich da stand und <strong>von</strong> diesempulsierenden Gefühl unendlicher Lebendigkeit übermanntwurde, spürte ich <strong>in</strong>tuitiv: Wenn ich jetzt anfange nachzudenken,über das, was hier mit mir geschieht; wenn ich es analysiereund <strong>in</strong> Worte kastele, dann zieht es sich zurück. Diese enormeEnergie will mit anderen Sensoren begriffen werden. Denn sieist … heilig.Mit Heiligkeit hatte ich damals eigentlich überhaupt nichtsam Hut. Das war für mich e<strong>in</strong>e Vokabel, die die Kirche zwecksgeistiger Vernebelung der Gläubigen gepachtet hatte. Heiligkeit,pfui Teufel. Und dennoch – anders war diese Woge nicht zu beschreiben!Es war, als würde ich e<strong>in</strong>e tiefe Wahrheit schauen,e<strong>in</strong>e tiefe kollektive Wahrheit.Und exakt <strong>in</strong> dem Augenblick, als ich das dachte, begann sichdieser wunderbare Zustand aufzulösen. Sakra! Nicht denken!Ke<strong>in</strong>e Worte! Auch nicht das Wort »Heiligkeit«! Intuitiv hatteich den Schlüssel gefunden zu diesem Portal, das mir e<strong>in</strong>e so21

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