Teil ITheoretische Überlegungen
1 E<strong>in</strong>leitungDas 20. Jahrhun<strong>der</strong>t hat etliche Klischees <strong>der</strong> vorhergegangenen Jahrhun<strong>der</strong>teübernommen. Im Laufe <strong>der</strong> Zeit ist die Vorstellung vom Altern auf sozialem,psychologischem, biologischem Gebiet bereichert worden, aber trotzdem haltensich weiterh<strong>in</strong> alte Schablonen. Es spielt ke<strong>in</strong>e Rolle, daß sie sich wi<strong>der</strong>sprechen:sie s<strong>in</strong>d <strong>der</strong>art abgenutzt, daß man sie bei <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Gleichgültigkeitwie<strong>der</strong>holt. Das Alter ist e<strong>in</strong> Herbst, reich an reifen Früchten; es ist auch e<strong>in</strong>unfruchtbarer W<strong>in</strong>ter, <strong>des</strong>sen Kälte, Schnee, Reif man beschwört. Es hat dieMilde schöner Abende. Doch man schreibt ihm auch die düstere Traurigkeit <strong>der</strong>Abenddämmerung zu. 1Simone de Beauvoir entwickelt <strong>in</strong> <strong>der</strong> verdienstvollen MaterialsammlungLa Vieillesse aus dem Jahr 1970 e<strong>in</strong> Bild <strong>der</strong> Darstellung <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong>Literatur, das von Klischees und Stereotypen 2 geprägt ist. Rund vierzigJahre nach <strong>der</strong> Erstveröffentlichung <strong>der</strong> Untersuchung von Simone deBeauvoir irritiert diese Darstellung den zeitgenössischen Leser und wirftdie Frage auf, ob sich seither <strong>in</strong> <strong>der</strong> Literatur analog zur Lebenswirklichkeitnicht doch e<strong>in</strong> Wandel vollzogen hat. Unbestreitbar ist: Alter und Altern <strong>in</strong>Deutschland haben sich verän<strong>der</strong>t. Der Strukturwandel <strong>des</strong> <strong>Alters</strong> hat <strong>in</strong>den letzten zwanzig Jahren zu e<strong>in</strong>er grundlegenden Umgestaltung <strong>des</strong>öffentlichen Bil<strong>des</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bun<strong>des</strong>republik und <strong>in</strong> vielen an<strong>der</strong>en europäischenStaaten geführt. Nicht nur hat sich re<strong>in</strong> numerisch die Anzahl <strong>der</strong>1Simone de Beauvoir: Das Alter. Essay. Deutsch von Anjuta Aigner-Dünnwald undRuth Henry. Re<strong>in</strong>bek bei Hamburg 1977, S. 179. [Orig<strong>in</strong>al: La Vieillesse. Essai, Paris1970.]E<strong>in</strong>e klare Begriffstrennung f<strong>in</strong>det sich bei Simone de Beauvoir allerd<strong>in</strong>gs nicht. E<strong>in</strong>Blick <strong>in</strong>s französische Orig<strong>in</strong>al zeigt, dass sie die Begriffe Stereotyp („De l’ancienneÉgypte à la Renaissance, on voit que le thème de la vieillesse a presque toujours ététraité de manière stéréotypée; mêmes comparaisons, mêmes adjectifs.“ La Vieillesse.Essai. Paris 1970, S. 175) und Klischee („Le XXe siècle a hérité <strong>des</strong> clichés <strong>des</strong> sièclesprécédents.“ Ebd., S. 224) synonym verwendet.2Unter (<strong>Alters</strong>-)Klischee verstehe ich e<strong>in</strong>e ungeprüfte und landläufige Annahme überdas Alter (vgl. Stefan Pohlmann: Das Alter im Spiegel <strong>der</strong> Gesellschaft. Hrsg. vonGünther Böhme. Idste<strong>in</strong> 2004, S. 100). Bei (<strong>Alters</strong>-)Stereotypen handelt es sich h<strong>in</strong>gegenum stark vere<strong>in</strong>fachte, weit verbreitete und historisch variable Vorstellungenvon sozialen Gruppen, die auf <strong>der</strong> polarisierenden Zuschreibung von verme<strong>in</strong>tlichtypischen Eigenschaften beruhen und sich <strong>in</strong> literarischen Texten nie<strong>der</strong>schlagen. AlsNorm ersche<strong>in</strong>en im <strong>Alters</strong>stereotyp die Eigenschaften, die mit <strong>der</strong> Jugend assoziiertwerden. Charakteristisch für Stereotype ist weiterh<strong>in</strong>, dass sie nicht nur <strong>in</strong>dividuelleMe<strong>in</strong>ungen über soziale Gruppen abbilden, son<strong>der</strong>n von den Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong>eigenen Gruppe geteilt werden, d.h. Stereotype s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>tersubjektiver Natur und umfassenkonsensuell geteilte Bil<strong>der</strong>. (Vgl. Sigrun-Heide Filipp, Anne-Kathr<strong>in</strong> Mayer:Bil<strong>der</strong> <strong>des</strong> <strong>Alters</strong>. <strong>Alters</strong>stereotype und die Beziehungen zwischen den Generationen.Stuttgart u.a. 1999, S. 55f.)9