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Volkacher Bote 98 (2013) - Deutsche Akademie für Kinder

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Heft <strong>98</strong> Juli <strong>2013</strong>(1923 – <strong>2013</strong>)


Die <strong>Deutsche</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong><strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur e. V.wurde am 15. Mai 1976 in Würzburg gegründet. Ihre 14 Gründungsmitglieder kamen aus allenTeilen der Bundesrepublik Deutschland. Alle beschäftigten sich seit Jahren mit der Förderung des<strong>Kinder</strong>- und Jugendbuches.Die Stadt Volkach am Main erklärte sich bereit, die <strong>Akademie</strong> in ihren Mauern aufzunehmen, siefinanziell zu unterstützen und alljährlich einen Großen Preis zu stiften. Diese damals außergewöhnlicheSymbiose hat sich bis heute bewährt.Vordringliche Aufgabe der <strong>Akademie</strong> ist der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und praktischerBucharbeit und die ideelle sowie gemeinnützige Förderung der <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur. Deswegenprämiert sie monatlich jeweils drei Neuerscheinungen aus den Bereichen Bilder-, <strong>Kinder</strong>-,Jugend- und Sachbuch zum Buch des Monats; außerdem zeichnet sie seit März 2011 monatlich einBuch als Klima-Buchtipp aus und veranstaltet dazu Lesungen in Schulen. Sie verleiht jährlich denGroßen Preis der <strong>Akademie</strong> – gegenwärtiger Stifter ist die Märchen-Stiftung Walter Kahn – <strong>für</strong>ein literarisches bzw. graphisches Gesamtwerk, den <strong>Volkacher</strong> Taler <strong>für</strong> herausragende wissenschaftliche,literaturpädagogische sowie publizistische Arbeiten im Bereich der <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteraturund – seit dem Jahr 2009 – auch einen Nachwuchspreis.Die Zeitschrift der <strong>Akademie</strong> ist der <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>, der neben Berichten aus der <strong>Akademie</strong> auchBeiträge zu aktuellen Themen der <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur bietet. Er erscheint zweimal im Jahr.In jedem Frühjahr findet in Volkach eine <strong>Akademie</strong>tagung statt; sie ist <strong>für</strong> alle gedacht, die sichberuflich oder privat mit <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur beschäftigen. Die Ergebnisse der Tagungenwerden in der Schriftenreihe der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong> publiziert. Im Laufe des Jahres führt die<strong>Akademie</strong> – vielfach gemeinsam mit regionalen und überregionalen Kooperationspartnern – Autorenlesungendurch und veranstaltet Ausstellungen, Aktions- und Bildungstage rund um das Thema<strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur im Medienverbund.Wesentliche finanzielle Unterstützung erhält die <strong>Akademie</strong> – neben Spenden durch Mitglieder undFreunde der <strong>Akademie</strong> – vor allem durch die Stadt Volkach, den Bezirk Unterfranken, die BayerischeSparkassenstiftung, das Bayerische Staatsministerium <strong>für</strong> Unterricht und Kultus sowie durchdas Bundesministerium <strong>für</strong> Familie, Senioren und Jugend.PräsidiumPräsident: Prof. Dr. Dr. Kurt Franz (Regensburg)Vizepräsident: Dr. Franz-Josef Payrhuber (Worms)Vizepräsidentin: Dr. Claudia Maria Pecher (Frankfurt am Main)GeschäftsstelleChristina Maria Mayer, Schelfenhaus, Schelfengasse 1, 97332 VolkachFon 09381/4355, E-Mail info@akademie-kjl.deInternet: www.akademie-kjl.de und www.fb.com/akademie.kjlRedaktion des <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>n und verantwortlich <strong>für</strong> den InhaltDr. Franz-Josef Payrhuber, Goldbergstraße 23, 67551 WormsFon 06241-33562, E-Mail franz.payrhuber@t-online.deProf. Dr. Kurt Franz, Stieglitzstraße 3, 93180 DeuerlingFon 094<strong>98</strong>-1391, E-Mail kurtfranz@t-online.de


Editorial 1EditorialLiebe Leserinnen und Leser,der <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong> erscheint zurzeit normalerweise nur in digitaler Form, was insgesamtrecht positiv aufgenommen wird. Diesmal können wir dank einer großzügigenSpende unseres früheren <strong>Bote</strong>n-Redakteurs Günter Lange ein Heft auch in gedruckterForm erscheinen lassen. Natürlich kann der <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong> gleichzeitig im Internetabgerufen werden.Der Anlass zur diesmaligen gedruckten Ausgabe liegt nicht zuletzt darin, dass die<strong>Akademie</strong> in würdiger Form seines ehemaligen Mitglieds und des ersten <strong>Bote</strong>n-Redakteurs Otfried Preußler gedenken will. Das geschieht hier durch den sehr persönlichenNachruf des Preußler-Spezialisten Günter Lange, aber auch durch seine Ausführungenzu Preußlers Werk Der kleine Wassermann. Außerdem erfahren Sie schon Näheresüber die im Frühjahr 2014 stattfindende Tagung der <strong>Akademie</strong> zum Thema „OtfriedPreußler und sein Werk“.Leider ist noch zwei weiterer Verstorbener zu gedenken, die mit dem Großen Preisder <strong>Akademie</strong> ausgezeichnet wurden: des Schweizer Schriftstellers Max Bolliger undder Illustratorin Margret Rettich.Die Beiträge des Heftes beschäftigen sich mit dem deutsch-französischen Verhältnisin Jugendbüchern, greifen das Werk Judith Kerrs anlässlich ihres 90. Geburtstagesauf und verfolgen die intertextuellen Spuren in Andreas Steinhöfels Krimis. Und natürlicherfahren Sie wieder viel über aktuelle Ausstellungen, über neue Bücher und überTätigkeiten der <strong>Akademie</strong>.Viele von Ihnen sind in den vergangenen Jahren der Bitte nachgekommen, zumDruck des <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>n mit einer Spende beizutragen. Es würde uns freuen, wennder <strong>Bote</strong> auch künftig in gedruckter Form erscheinen könnte. Dazu wäre es freilich amgünstigsten, wenn wir wieder einen großzügigen Sponsor fänden. Wir sind aber <strong>für</strong>Spenden in jeder Höhe dankbar. Unsere Bankverbindung finden Sie im Impressum aufder hinteren Umschlagseite.Gute Unterhaltung beim Lesen wünschenFranz-Josef Payrhuber und Kurt Franz


2InhaltsverzeichnisInhaltsverzeichnisEditorial ...................................................................................................................... 1BEITRÄGEGünter LangeDer deutsch-französische Freundschaftsvertrag im Spiegelzweier aktueller Jugendromane .................................................................................. 5Othmar HickingJudith Kerr – Zu ihrem Leben, ihrem Werk und ihrer Bilderwelt. Retrospektiveauf Burg Wissem – Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf ..................................... 12Günter LangeOtfried Preußlers Der kleine WassermannDebüt und Abschluss eines großartigen Lebenswerkes ............................................. 16Andreas Wicke„Ich mochte Sherlock Holmes lange nicht so gern wie Miss Marple“Intertextuelle Spuren in Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis ......................... 19AUSSTELLUNGEN UND KATALOGEOthmar HickingAusstellungen und Kataloge zur <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur 1/<strong>2013</strong> ....................... 31REZENSIONENDietrich GrünewaldTiere sind auch nur Menschen – bitterböse Kurzgeschichten .................................... 40Rolf KoppeJesus von Nazareth. Zum gleichnamigen Jugendbuch von Alois Prinz .................... 42


Inhaltsverzeichnis 3Franz-Josef PayrhuberAufgelesen – Ausgelesen 1/<strong>2013</strong> ............................................................................... 45Reiner NeubertErinnerungsorte. Land- und Dorfleben im Spiegel literarischer Zeugnisseder DDR. Zu einer Studie von Barbara Schubert-Felmy ........................................... 53Bernhard MeierKennst du die Brüder Grimm?Zu einem Buch von Kurt Franz und Claudia Maria Pecher ....................................... 55Kurt FranzVolkskultur – anschaulich, unterhaltsam, informativZu einem Buch von Albert Bichler ............................................................................ 57Hans GärtnerWovon Autoren träumenEin „Lesebuch“ von Petra Hartmann und Monika Fuchs .......................................... 58BERICHTEAuszeichnungen ......................................................................................................... 60Stefan MayrKlaus Marschall – Nun preisgekrönter Chef der Augsburger Puppenkiste ............... 61Lesetüten-Aktionen .................................................................................................... 62IN MEMORIAMGünter LangeNachruf auf Otfried Preußler ..................................................................................... 63Hans GärtnerEr erzählte von Mose, Jesus und FranziskusVor 30 Jahren erhielt Max Bolliger (gest. am 10. Februar <strong>2013</strong>) denKatholischen <strong>Kinder</strong>buchpreis ................................................................................... 68


4InhaltsverzeichnisErich JooßDie Bilder und die StilleNachruf auf Max Bolliger .......................................................................................... 70Kurt FranzMargret Rettich ist tot ................................................................................................ 73AUS DER AKADEMIEEinladung zur <strong>Akademie</strong>-Tagung <strong>2013</strong>: „Literaturentwicklung, Literaturkritik,Literaturbehandlung“ ................................................................................................. 74Vorankündigung <strong>Akademie</strong>-Tagung 2014: Otfried Preußler ...................................... 76<strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur. Ein Lexikon ................................................................. 77Aufruf zur Fördernden Mitgliedschaft ....................................................................... 78Impressum ................................................................................................................... 81


Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag 5GÜNTER LANGEDer deutsch-französische Freundschaftsvertragim Spiegel zweier aktueller JugendromaneAm 22. Januar 1963 wurde der sogenannte „Elysée-Vertrag“ zwischen dem damaligenBundeskanzler Konrad Adenauer und dem französischen Staatspräsidenten Charles deGaulle in Paris unterzeichnet. Dieser Vertrag sollte die ‚Erbfeindschaft’ zwischen beidenStaaten, die über Jahrhunderte bestanden hat und ihre schlimmsten Auswirkungenin den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts fand, endgültig beenden und einefreundschaftliche Zusammenarbeit auf allen Politikfeldern, regelmäßige Konsultationenbeider Regierungen, Förderung eines Deutsch-Französischen Jugendwerks, Möglichkeitenvon Städtepartnerschaften und einen Deutsch-Französischen Fonds <strong>für</strong> Kulturprogrammebegründen. Dass 2012/<strong>2013</strong> dieses Vertrages in Deutschland und Frankreichgedacht wird, macht deutlich, wie wichtig er <strong>für</strong> beide Völker und <strong>für</strong> Europageworden ist und auch in Zukunft noch sein wird. Welche grausamen Auswirkungendie ‚Erbfeindschaft’ <strong>für</strong> beide Völker hatte, wird in zwei Jugendbüchern deutlich, diezum Jubiläumsjahr 2012 des Vertrags erschienen sind: Gudrun Pausewang: Au revoir,bis nach dem Krieg und Inge Barth-Grözinger: Geliebte Berthe.Während Gudrun Pausewang die schwierige Liebesgeschichte zwischen einemfranzösischen Kriegsgefangenen und Hanni, der Tochter der Familie, bei der dieserzwangsweise arbeiten muss, erzählt, entfaltet Inge Barth-Grözinger – historisch sehrviel umfangreicher – die Lebensgeschichte von Berthe, einem Mädchen von derschwäbischen Alb, vom Ende des Ersten bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.Durch Zufall begegnet sie in Straßburg der Liebe ihres Lebens, einem Franzosen. Aberihr Weg in die Ehe und das Zusammenleben mit ihm im französischen Elsass führt zuKrisen und seelischen Verletzungen, auch im engsten Familienkreis, weil die alte ‚Erbfeindschaft’,die Folgen des Ersten Weltkriegs, der aufziehende Nationalsozialismusund der Zweite Weltkrieg immer neuen Hass zwischen den Menschen beider Nationenhervorbringen. Erst in der Zeit nach 1945 zeigen sich erste Ansätze, dass dieser Hassmit viel Engagement und Verständnis überwunden werden kann; sie bilden quasi eineVorstufe des Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrages.Über alte Fotoalben führt Gudrun Pausewang in ihrem Jugendbuch Au revoir, bisnach dem Krieg in die Geschichte der Familie Hensel ein und stellt den Lesern dereneinzelne Mitglieder vor. Es ist der Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Der Nationalsozialismuswirkt durch seine Politik und Organisationsformen auch in diese Familie hinein.Trotz der ablehnenden Haltung der Eltern und der Großmutter sind der zwanzigjährigeJürgen und der elfjährige Alfred nicht vor der Indoktrination der Partei und ihrerOrganisationen gefeit und folglich von der Überlegenheit der <strong>Deutsche</strong>n und der


6BEITRÄGE‚Erbfeindschaft’ mit den Franzosen überzeugt. Als am 1. September 1939 der ZweiteWeltkrieg ausbricht, zieht Jürgen voller Begeisterung in den Krieg, und Alfred verfolgtauf seinen Landkarten die Erfolge der deutschen Wehrmacht.Als nach einem halben Jahr auch VaterRobert eingezogen wird, gerät dieFamilie in Schwierigkeiten: derSteinbruch, den der Vater betreibt,muss geschlossen werden, und in derFamilie fehlen Vater und Sohn <strong>für</strong>die schweren Arbeiten. Mutter, Omaund die fünfzehnjährige Hanni müssenviele Dinge zusätzlich erledigenund arbeiten am Rande der Erschöpfung.Erst nach dem Frankreichfeldzugbekommen sie einen französischenKriegsgefangenen als Hilfezugeteilt. Philippe Garnier ist abererst 19 Jahre alt, das Arbeiten nichtgewöhnt, da er Musik studiert hat,und – vor allem – er versteht keinWort Deutsch. Die Behörden habenstrenge Bedingungen <strong>für</strong> den Umgangmit den Kriegsgefangenen erlassen:das Fraternisierungsverbotund eine strikte Distanz zu den deutschenFamilien. Natürlich ergebensich immer wieder Beziehungenzwischen Kriegsgefangenen und<strong>Deutsche</strong>n, die seitens der Behördenmassive Strafen nach sich ziehen:Die Kriegsgefangenen werden halb tot geprügelt und die deutschen Frauen kahl geschorenund als ‚Franzosenliebchen’ an den Pranger gestellt.Philippe Garnier hat Glück gehabt, denn schon nach kurzer Zeit wird er wie einFamilienmitglied behandelt. Alfred wehrt sich anfangs dagegen, aber als der Franzoseihm verschiedentlich hilft, verändert sich seine Einstellung. Die Familie muss allerdingsaufpassen, dass sie von den Soldaten der Wehrmacht, die die Gefangenen bewachen,bei ihren Verstößen gegen die Bestimmungen nicht erwischt wird.Ein besonderes Problem ergibt sich, als deutlich wird, dass sich Philippe und Hanniineinander verliebt haben. Die Familie Hensel muss nun Maßnahmen ergreifen, um sievor den Behörden und den Soldaten zu beschützen. Da Philippe weiterhin bei der Familiearbeitet, bekommen die beiden jungen Leute von den Eltern in einem offenenGespräch die Auflage, dass sie nicht mehr miteinander sprechen und sich nicht alleinbegegnen dürfen, was beiden ungeheuer schwer fällt. Zum Glück wird Philippe nachkurzer Zeit an einen anderen Ort verlegt. Beide Liebende warten nun sehnsüchtig auf


Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag 7das Ende des Krieges, weil die Verbindung zwischen ihnen abgerissen ist. Eines Tagesfindet Hanni durch Zufall im Klavierkasten eine Geheimbotschaft Philippes, die <strong>für</strong>sie, Alfred und die Mutter bestimmt ist und ihre Hoffnung auf eine glückliche Zukunftwieder aufleben lässt. Aber Hitlers sinnloser Krieg und die Zerstörung Deutschlandsbringen Not, Tod und Elend über die Bevölkerung, so auch über die Familie Hensel.Jürgen, der während des Krieges geheiratet hat, fällt ebenso wie der Vater. Albert, derJüngste, wird in den letzten Tagen des Krieges zum Volkssturm eingezogen, gerät ineine Gruppe, die von einem fanatischen SS-Offizier geführt wird, der die Jungen ohnejede Deckung auf den Gegner hetzt. Auf dem Schulhof ihres Gymnasiums werden sievon einem feindlichen Maschinengewehr niedergemäht, wobei die Hälfte der Jungenstirbt. Albert verliert beide Beine, wird depressiv und lässt niemanden mehr an sichheran, auch seine Mutter und Oma nicht. An seinem 22. Geburtstag macht er seinemLeben ein Ende und erschießt sich.Hanni hat seit dem Ende des Krieges auf ein Lebenszeichen von Philippe gehofft,mehrfach an dessen Mutter nach Paris geschrieben, aber keine Antwort erhalten. DreiJahre nach dem Krieg bekommt sie über einen ehemaligen französischen Kriegsgefangenendie Nachricht, dass Philippe seit 1945 in Paris lebt und sein Studium beendethat. Sie macht sich auf den Weg zu ihm, aber das Wiedersehen bringt kein Happy End,denn Philippe ist verheiratet und hat einen Sohn. Nur vierzehn Tage nach ihrer Rückkehrheiratet Hanni ihren Lehrerkollegen.Das Jugendbuch besitzt zahlreiche autobiographische Anspielungen, denn die 1928geborene Gudrun Pausewang wächst in den 1930er und 1940er Jahren in Wichstadt(Böhmen) auf, erlebt die Auswirkungen des Nationalsozialismus und den Krieg unmittelbarmit. Sie und ihre Eltern sind allerdings – im Gegensatz zu den Hensels – begeisterteNazis. Ihr Vater, der <strong>für</strong> die Rechte der deutschen Minderheiten kämpft und sichin der Sudetendeutschen Partei engagiert, meldet sich 1943 freiwillig zum Kriegsdienstund fällt im selben Jahr in Russland. Für Gudrun Pausewang ist – wie sie selbst sagt –der 8. Mai 1945 kein Tag der Befreiung, sondern ein Tag der Niederlage gewesen. Erstin der Nachkriegszeit gewinnt sie zum ,Dritten Reich’ und seinen Verbrechen ihre inzwischenbekannte und auch in diesem Jugendbuch überzeugende kritische Haltung.Die Autorin schreibt also aus der unmittelbaren Anschauung und dem Erleben dieserschrecklichen Zeit. Daher gelingen ihr sowohl in der Personendarstellung als auchin den Situationsschilderungen eindrucksvolle Bilder. Die Eltern von Hanni und vor allemdie Großmutter sind in ihrer Sensibilität, aber auch in ihrer konsequenten Einstellungzu Krieg und Nationalsozialismus überzeugende Charaktere. In Hanni als Protagonistinspiegelt sich das ganze Geschehen. Ihre Liebe zu Philippe wird ausgesprochenzurückhaltend dargestellt, wie es dem Bewusstsein einer Heranwachsenden in der damaligenZeit angemessen ist.Gudrun Pausewang wählt <strong>für</strong> ihren Jugendroman eine personale Erzählsituation;das Geschehen wird aus der Sicht von Hanni dargestellt, und nur an ganz wenigen Stellengestattet die Autorin den Lesern einen Blick ins „Innere“ von Hanni (erlebte Rede),und zwar dort, wo es um ihre Liebe zu Philippe geht. Als von Hannis Eltern dasVerbot der Kontaktaufnahme zwischen den beiden Liebenden ausgesprochen wordenist, folgt eine Passage mit Innensicht, die sehr beeindruckend ist:


8BEITRÄGEIn dieser Nacht tat Hanni keinAuge zu. Immer und immer wiederüberdachte sie ihre und PhilippesLage. Wenn es so war, dassman ihnen die Liebe ansah, wareine Trennung bis zum Friedendie beste Lösung. Sie war grausam,gewiss. Aber so eine bittereErfahrung wie Christel und Antoinedurchzustehen, würde nochgrausamer sein. Wer weiß, wassie mit Philippe anstellen würden.Sie weinte ins Kopfkissen, alssie an die Trennung dachte. Nichteinmal schreiben durften sie sich!Ihnen blieb nichts anderes übrig,als zu warten und zu hoffen aufein baldiges Kriegsende.So konnte Liebe also auchsein. Ganz anders, als Hanni siesich in ihren <strong>Kinder</strong>jahren vorgestellthatte. Als sie noch glaubte,dass man, wenn man sehr, sehrverliebt und dementsprechendglücklich ist, über den Regenbogengehen kann, ohne abzustürzen … (S. 188)Ansonsten bleibt die Darstellung Pausewangs auf der Ebene der Handlung und Faktenangesiedelt; dadurch wirkt sie oft holzschnittartig, was auch durch die kurzen, knappenSätze bedingt ist. Gudrun Pausewang enthält sich in ihrem Erzählen – und das machtdas Jugendbuch zu einem wahren Leseerlebnis – jeglicher Deutung bzw. Interpretation.Der Leser ist lediglich Beobachter der Szenerie, die ihn aber zu einer eigenen Stellungnahmeherausfordert. Gudrun Pausewang sagt zur Intention ihrer Jugendbücher:Ich will ihn [den Leser] herausfordern, aufrütteln, beunruhigen, damit er sich entschließt,etwas zu tun gegen die Gefahr. Im übrigen gehe ich mit Happy-Ends immersehr sparsam um. Im Leben sind sie auch nicht so üppig gesät. (Pausewang, zit. in: Mikota2009, S. 6)Ganz anders als Gudrun Pausewangs Buch ist Inge Barth-Grözingers sehr umfangreicherRoman Geliebte Berthe angelegt. Er umfasst den Zeitraum vom Ende des ErstenWeltkriegs bis in die 1960er Jahre; er erzählt die Geschichte eines jungen armenMädchens von der Schwäbischen Alb, das 1922 mit 18 Jahren ihr Elternhaus verlässt,nach Stuttgart geht, um bei Bosch zu arbeiten, aber weil sie dort unzufrieden ist, einemliebenswerten Professor der Romanistik den Haushalt führt, von ihm in das Französischeund in die Lyrik von Arthur Rimbaud eingeführt wird. So wird ihre Liebe <strong>für</strong> alles


Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag 9Französische geweckt; und Rimbauds Lyrik begleitet sie ein Leben lang, denn sie hat –obwohl sie anfangs als ein naives Mädchen erscheint – ihre Seele irgendwie berührt.Nach dem Hitler-Putsch 1923 begeht der Professor aus Verzweiflung über die politischeSituation in Deutschland Selbstmord. Berthe 1 nimmt eine Stelle als <strong>Kinder</strong>mädchen inGengenbach, nahe der französischen Grenze, an. Am 14. Juli 1925, am französischenNationalfeiertag, unternehmen Berthe und ihre Freunde eine Reise nach Straßburg, umsich zu amüsieren. Dort begegnet sie dem jungen Drucker Armand. Ihre Liebe auf denersten Blick hat schicksalhafte Folgen <strong>für</strong> beide, obwohl sie sich erst Jahre später wiedersehenkönnen. Armand kehrt nach Südfrankreich zurück, wo sein Vater eine kleine Druckereibesitzt, und Berthe nach Gengenbach. Sehnsuchtsvolle Briefe wechseln hin undher, die den beiden Liebenden aber keine Zukunftsperspektive eröffnen.Berthe ergreift schließlich die Initiative und geht nach Marseille, denn sie hat jetztplötzlich zwei Männer, die sie suchen muss: Ihren Bruder Georg, der sich nach demErsten Weltkrieg den Kommunisten angeschlossen hat, um <strong>für</strong> den Frieden zu kämpfen,der aber deswegen in Deutschland von den Rechten und Nationalisten verfolgtwird und nach Marseille, später nach Spanien geflohen ist, und ihren Geliebten Armand,der es wegen des <strong>Deutsche</strong>nhasses seiner Mutter nicht wagen kann, eine deutscheFrau ins Haus zu holen, zumal ihr ältester Sohn im Ersten Weltkrieg gefallen ist.Von diesem Zeitpunkt an bekommt der Roman einen doppelten Spannungsbogen: Findetsie ihren Bruder? Und: Was wird aus der Beziehung zu Armand? Aber in Frankreicherlebt Berthe neben den Freundlichkeiten, die sie auf Grund ihrer Persönlichkeiterfährt, auch immer wieder Ablehnung, zumal sie mit ihren roten Haaren leicht als<strong>Deutsche</strong> identifiziert wird.Dank ihrer Hartnäckigkeit gelingt es ihr, Armand endlich dazu zu bewegen, nachMarseille zu kommen und sie abzuholen. Hier erleben sie ihre erste Liebesnacht. Alsdie beiden aber in Armands Heimatdorf Villeneuve ankommen, schlägt Berthe derblanke Hass entgegen. Im Lokal wird sie nicht bedient, ebenso wenig in den Geschäften.Da sie wegen der Selbstmorddrohung von Armands Mutter nicht in dessen Elternhauswohnen können, finden sie eine kleine Wohnung bei Armands Freund HenriDuchamps und dessen Frau Madeleine. Deren Haus und der Fußsteig davor werdenvon dem Zeitpunkt ihres Einzugs an fortlaufend mit dem Schimpfwort „boche“ undanderen abwertenden Parolen beschmiert, gegen die sie sich nicht wehren können. NurMadeleine wird nach anfänglichem Zögern zu Berthes bester Freundin und hilft ihr, wosie nur kann. Mit ihrer Hilfe überwindet Berthe langsam viele der Vorurteile, obwohlsie nicht gänzlich verschwinden.Die Integration Berthes schreitet voran, als dem Ehepaar nacheinander drei <strong>Kinder</strong>geboren werden. Armands Vater ist glücklich über seine Enkelkinder, aber seine Mutterbeharrt konsequent auf ihrer Einstellung.Als der Zweite Weltkrieg beginnt, flammt auch der alte Hass auf Berthe und alles<strong>Deutsche</strong> wieder auf. Sogar ihr eigener Sohn Pierre, der von seiner Großmutter massivbeeinflusst worden ist, wendet sich gegen seine Mutter. Armand, seine Freunde und1 Die Protagonistin heißt eigentlich Bertha; ihr Name wird aber in dem Roman mehr und mehrzu Berthe französisiert.


10BEITRÄGEPierre schließen sich nach der Niederlage Frankreichs der Résistance an. Die Druckereiwird zu einem Zentrum des Widerstands. Als schließlich der Krieg zu Ende ist, kannder Frieden nur ganz langsam die tiefen Wunden heilen. Berthes Bruder macht Karrierein der DDR, was ihr gar nicht gefällt. Bevor sie ihn besuchen können, stirbt Armand,aber die Familie blüht weiter – im Mittelpunkt Berthe. Ihr Sohn Pierre übernimmt dieDruckerei vom Vater, ihre Tochter Anne wird Ärztin, ihr jüngster, 1940 geborener SohnHenri, ein Rotschopf wie seine Mutter, hat auch ihre Liebe zur Sprache und zur Lyrikgeerbt. Er ist der Künstler der Familie, schreibt Gedichte in französischer und deutscherSprache und studiert in Straßburg deutsche Literatur.1963 schließen de Gaulle und Adenauer den deutsch-französischen Freundschaftsvertragund beenden damit die alte „Erbfeindschaft“; 1965 bekommt Berthe bei einemFestakt der Gemeinde Villeneuve eine neu gestiftete Medaille der Stadt <strong>für</strong> ihre Verdiensteum die deutsch-französische Freundschaft überreicht. Damit schließt sich derbewegende Lebenskreis von Berthe mit all seinen Höhen und Tiefen.Der umfangreiche Roman bekommt seine Struktur durch die Lyrik von Rimbaud.Bei ihrem Romanistik-Professor lernt Berthe Das Pierrot-Lied kennen, ein Liebeslied,das sie ihr Leben lang begleiten wird und dessen Verse, neben Versen aus anderen GedichtenRimbauds, zu Kapitelüberschriften und damit zu Leitmotiven des Romanswerden, denn auch in der Handlung spielen sie immer wieder eine beziehungsreicheRolle. Nur wenige Kapitelüberschriften – am Anfang und am Schluss – verweisen aufdas Land Frankreich oder den historischen Kontext.Eine zweite Leitmotivkette wird durch das Märchen Das kalte Herz von WilhelmHauff gebildet, das im Schwarzwald zu einer Zeit spielt, da die Bewohner noch anWaldgeister glaubten. Dieses Märchen, das Berthe ihren <strong>Kinder</strong>n oft vorliest, wird zumSymbol <strong>für</strong> den Hass gegen alles <strong>Deutsche</strong> bei ihrem ältesten Sohn Pierre, aber zumSymbol der Zuneigung zu allem <strong>Deutsche</strong>n bei Berthes jüngstem Sohn.Die Autorin Inge Barth-Grözinger – das hat sie schon in ihren früheren Jugendbüchernbewiesen – hat sich in die historischen Kontexte ihrer Romane intensiv eingearbeitet,so dass sie die eigentliche Handlung bruchlos und überzeugend aus dem Historischenheraus entwickeln kann. Die Fülle der Personen bildet ein buntes Gemisch verschiedenerCharaktere, die die jeweilige Epoche glaubwürdig repräsentieren. Trotzdemsteht Berthe immer im Mittelpunkt. In ihr und ihrem Bewusstsein spiegelt sich dasganze Geschehen. Hinzu kommt, dass die Autorin als studierte Deutschlehrerin Wichtigesaus der Literatur gelernt und in ihre eigene Literatur integriert hat. Sie kennt ‚ihren’Fontane genau und weiß von ihm, dass man einen ganzen Roman zentral von denGesprächen her gestalten kann. Fontane hat das beispielhaft in Effi Briest gezeigt, undInge Barth-Grözinger übernimmt in ihrem Roman gekonnt diese Technik. In den Gesprächenzwischen einzelnen Personen, wie z.B. dem zwischen Berthe und dem Professor,kann die bisherige Lebensgeschichte Berthes zwanglos ausgebreitet werden. Esmuss zudem nicht chronologisch erzählt werden; Zeitsprünge sind möglich, Frühereskann nachgeholt oder Späteres vorausschauend angedeutet oder dargestellt werden.Der Roman wirkt auf diese Weise lebendiger, zumal die Personen durch ihre Gesprächsbeiträgeindividualisiert und charakterisiert werden.


Deutsch-französischer Freundschaftsvertrag 11Im Nachwort ihres Romans erklärt Inge Barth-Grözinger, dass es <strong>für</strong> die Geschichteder Berthe ein Vorbild gab, das sie noch persönlich kennengelernt hat:Ihr gilt mein erster und größter Dank, vor allem <strong>für</strong> ihren Mut und ihre Kraft, die sie befähigten,eine außergewöhnlich Liebes- und Lebensgeschichte zu meistern. Die Freundschaftzwischen dem deutschen und dem französischen Volk ist heute selbstverständlich, und erscheintdennoch vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen, vielfältigen Geschichte wie einWunder. Menschen wie Bertha und Armand haben mit ihrer Liebe und ihrer Beharrlichkeitdas Fundament <strong>für</strong> jene Entwicklung gelegt, die vor nunmehr fünfzig Jahren in Reims begann.(S. 408, unpaginiert)PrimärliteraturBarth-Grözinger, Inge: Geliebte Berthe. Stuttgart, Wien: Thienemann 2012.Pausewang, Gudrun: Au revoir, bis nach dem Krieg. Hildesheim: Gerstenberg 2012.SekundärliteraturHoenig, Verena: Fraternisierung. Gudrun Pausewangs Roman über eine Liebe 1940. In:Süddeutsche Zeitung v. 8.2.<strong>2013</strong>, S. 15.Lange, Günter: Inge Barth-Grözinger. In: Franz, Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef (Hrsg.): <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur – Ein Lexikon. Meitingen: Corian1995ff. (43. Erg.-Lfg. Oktober 2011, S. 1-25).Mikota, Jana (unter Mitarbeit von Günter Lange): Gudrun Pausewang. In: Franz,Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef (Hrsg.). <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur– Ein Lexikon. Meitingen: Corian 1995ff. (37. Erg.-Lfg. Okt. 2009, S. 1–53).Osteroth, Reinhard: Wie liebt man im Krieg? Zwei historische Jugendromane erzählenvon zwei Paaren, die im Schatten beider Weltkriege <strong>für</strong> ihre Beziehung kämpfen.In: DIE ZEIT v. 17.1.<strong>2013</strong>, S. 38 (Neben Geliebte Berthe wird in diesem Artikelder Roman Das Karussell von Klaus Kordon rezensiert.)Inge Barth-Grözinger stellt ihrem Roman eine Widmung voran, in der sie „mitgroßer Wertschätzung“ Jean Egens und „seines wunderbaren Romans Die Lindenvon Lauterbach“ gedenkt, der eine andere deutsch-französische Lebensgeschichteerzählt.„Dieser autobiographische und zugleich humorvolle Roman wurde in Frankreichin wenigen Wochen 100 000mal verkauft. Aus der Perspektive eines Kindes, dasnie recht weiß, welcher Nation es sich zugehörig fühlen soll, erzählt der ElsässerJean Egen, geboren 1920, die bewegte Geschichte einer Provinz und die Wechselfälleeiner Familie zwischen Frankreich und Deutschland.“ (Umschlagtext)Jean Egen: Die Linden von Lauterbach. Eine deutsch-französische Lebensgeschichte.Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag 20. Aufl. 2012. 8,99 €.


12BEITRÄGEOTHMAR HICKINGJudith KerrZu ihrem Leben, ihrem Werk und ihrer BilderweltRetrospektive auf Burg Wissem – Bilderbuchmuseumder Stadt TroisdorfAus Anlass des 40jährigen Erscheinens von When Hitler stole Pink Rabbit (1971; dt.Als Hitler das rosa Kaninchen stahl 1973) führte Ute Wegmann, Redakteurin beimDeutschlandfunk Köln, im Sommer 2011 mit Judith Kerr in deren Haus in Barnes/Englandein längeres Interview, in dem sie u.a. auch über das Zeichnen und die Wort-Bild-Verbindung sprachen. Zum Zeichnen sagte Judith Kerr:So ist es, wenn man Zeichnerin ist. Es ist gar nicht das Zeichnen, es ist das Sehen. ImKopf zeichnet man die ganze Zeit eigentlich. Man geht herum und sieht die Welt unddann, in your head, you rearrange things. Und das ist natürlich an obsession. Wenn maneine Arbeit hat, die man liebt, dann ist das ein Riesenglück und eine Riesenhilfe dagegen,wenn man Unglück hat. Es ist wahrscheinlich so, wie <strong>für</strong> andere Menschen dieReligion. Es ist etwas außerhalb von einem selbst, was wichtiger ist, als alles andere.Und zur Wort-Bild-Verbindung sagte Judith Kerr:Wenn man nämlich einen Reim sucht […] das bringt einen auf Wege, die man niegegangen wäre. A crocodile and a kangaroo sat off on a bicycle made for two. Das warwegen des Reims. Ich habe mich richtig darüber gefreut, das hätte man sonst doch niegeschrieben. Aber als es dazu kam, das zu zeichnen, da dachte ich: What fool wrotethis? – das war wirklich nicht leicht [ …].Die Autorin und Illustratorin Judith Kerr, Tochter des berühmten Theater- und LiteraturkritikersAlfred Kerr (1867–1948) und der Komponistin Julia Kerr, geb. Weismann(18<strong>98</strong>–1965), wird am 14.06.1923 in Berlin geboren. Der Bruder Michael, der später inEngland ein anerkannter Richter wurde, war zwei Jahre zuvor, im März 1921, zur Weltgekommen. Die Familie Kerr ist gut situiert, wohnt in einer Villa im vornehmenBerliner Stadtteil Grunewald und genießt hohes Ansehen, auch über Deutschlandhinaus. Obwohl jüdischer Herkunft, praktizieren die Kerrs ihre Religion nicht –durchaus üblich im Deutschland jener Jahre. Die glücklichen und behüteten Jahre derKindheit, die die Kerr-<strong>Kinder</strong> in Berlin verleben, enden Anfang 1933 abrupt. Zunächstmuss Alfred Kerr, seit langem erklärter und entschiedener Gegner der Nationalsozialisten,Deutschland über Nacht verlassen. Im Februar 1933 flieht er nach Prag. EhefrauJulia und die beiden <strong>Kinder</strong> Judith und Michael verlassen ihre Heimat Berlin im März1933 und flüchten in die Schweiz nach Lugano, wo Alfred Kerr wieder zu ihnen stößt.


Judith Kerr 13Noch 1933 werden die Kerrs von den Nazis ausgebürgert und enteignet. Die Familie istnun staatenlos und ihrer kompletten Besitztümer beraubt, bis auf das wenige, was sieauf die Flucht mitnehmen konnten. Anna, das alter ego von Judith Kerr in ihrem RomanAls Hitler das rosa Kaninchen stahl, erinnert sich an diesen ruchlosen Diebstahlwie folgt:Anna versuchte, es sich vorzustellen. Das Klavier war weg … die Vorhänge imEsszimmer mit dem Blumenmuster … ihr Bett … alle Spielsachen, auch das rosaKaninchen. Es hatte schwarze, aufgestickte Augen – die Glasaugen waren schon vorJahren ausgefallen –, und es sackte so reizend zusammen, wenn man es auf die Pfotenstellte. Das Fell war, obgleich nur noch verwaschen, rosa, so weich und vertrautgewesen.Von der Schweiz aus emigriert die Familie, ständig unter drückender Geldnot leidendund sich finanziell nur durch Gelegenheitsarbeiten mühsam erhaltend, unter vielenEntbehrungen und Nöten über Paris in Frankreich und Oostende in Belgien AnfangMärz 1936 schließlich nach London. England wird <strong>für</strong> die Kerrs nun zur neuen undzweiten Heimat, 1947 erhalten alle Familienmitglieder den britischen Pass.Für Judith Kerr beginnt nach dem Krieg eine Zeit großer Veränderungen undEntwicklungen. Ab 1946 studiert sie <strong>für</strong> drei Jahre an der Londoner Central School ofArts and Crafts Malen und Zeichnen, arbeitet anschließend freiberuflich als Zeichenlehrerinund tritt 1954 eine Lektoratsstelle beim englischen Rundfunksender BBC an,wo sie u.a. auch eigene Drehbücher schreibt. Beim BBC lernt Judith Kerr den AutorThomas Nigel Kneale (gest. 2006) kennen. Beide heiraten schon im Mai 1954, 1958und 1960 werden Tochter Tacy und Sohn Matthew geboren. Die Kerr-Kneale-Familieverlässt London und bezieht im südlichen Londoner Vorort Barnes ein Reihenhaus, indem Judith Kerr bis heute und nun schon über 50 Jahre lebt.Zugunsten der Erziehung der <strong>Kinder</strong> gibt sie das Malen und Zeichnen zunächst aufund widmet sich diesem erst wieder, als Tochter und Sohn die Schule besuchen. 1968erscheint ihr erstes Bilderbuch The Tiger who came to Tea (dt. Ein Tiger kommt zumTee, Ravensburger 1979). Dieses gilt bis heute als eines der beliebtesten englischenBilderbücher aller Zeiten, verkaufte sich weltweit millionenfach und wurde 2012 beiKnesebeck neu aufgelegt. 1970 folgte mit Mog, the forgetful Cat (dt. Mog, der vergeßlicheKater, Ravensburger 1970) das erste von insgesamt 17 Mog-Bilderbüchern,die bis zum letzten Band 2001, in dem Mog stirbt, erschienen und, autobiografischfiktionalisiert, kleine und große Geschichten um den Kater Mog, unverkennbarHauskater-Mitglied der Familie Kerr-Kneale, erzählen. Elf davon wurden ins <strong>Deutsche</strong>übersetzt und sämtlich im Ravensburger Buchverlag veröffentlicht. Neben den Mog-Bänden veröffentlichte Judith Kerr zwischen 1992 und 2010 bei HarperCollins inLondon noch einige wenige weitere Bilderbücher, die bislang jedoch ebenso wenig indeutscher Übersetzung erschienen wie ihre beiden letzten illustrierten Bücher MyHenry (2011), eine surreal-traumhaft anmutende Hommage und Liebeserklärung anihren verstorbenen Ehemann, und The Great Granny Gang (2012), eine Geschichteüber eine Gruppe älterer Damen, die tatkräftig eine Bande junger Diebe in die Fluchtschlägt.


14BEITRÄGEIn dem Interview, das Ute Wegmann 2011 mit Judith Kerr in Barnes führte, betontJudith Kerr, sie sei primär Zeichnerin, nicht Schriftstellerin. In Deutschland ist JudithKerr aber trotz ihrer Bilderbücher und internationalen Anerkennung in der Bilderbuchszeneweniger als Illustratorin, denn als Autorin bekannt und berühmt und zwar <strong>für</strong> ihreautobiografisch gefärbte Roman-Trilogie über die Flucht einer jüdischen Berliner Familieaus Nazi-Deutschland 1933, deren Schicksal und Erlebnisse während des Exils inEngland und des Zweiten Weltkrieges bis hinein in die familiären Ereignisse der Nachkriegszeitund frühen 1950er Jahre. Der erste Band der Trilogie, die aus der Perspektiveeines neunjährigen Mädchens <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong> und Jugendliche geschrieben wurde, erschien1971 in England unter dem Titel When Hitler stole Pink Rabbit und ist gleichzeitigder bekannteste. Die deutsche Übersetzung Als Hitler das rosa Kaninchen stahlkam 1973 bei Ravensburger heraus, erhielt 1974 den <strong>Deutsche</strong>n Jugendbuchpreis,verkaufte sich millionenfach und ist bis heute auch als Schullektüre präsent und weitverbreitet. 1975 erschien der zweite Band Warten bis der Frieden kommt (AuswahllisteBuxtehuder Bulle 1975; Auswahlliste <strong>Deutsche</strong>r Jugendbuchpreis 1976) und 1978 derdritte Teil Eine Art Familientreffen, beide ebenfalls bei Ravensburger. Die deutscheÜbersetzung aller drei Bände besorgte Annemarie Böll, Ehefrau von Heinrich Böll.Anlässlich des 90. Geburtstages von Judith Kerr am 14.06.<strong>2013</strong> initiierte undkuratierte Ute Wegmann die erste und längst überfällige Retrospektive zu Leben undWerk von Judith Kerr in Deutschland. Diese wurde unter dem Titel Das rosaKaninchen, Mog und die anderen – Die Bilderwelt der Judith Kerr als einzigerdeutscher Station im Troisdorfer Bilderbuchmuseum Burg Wissem gezeigt (05.05.13 –16.06.13). Zu sehen waren mehr als 40 sorgfältig ausgewählte Originalillustrationenvon Judith Kerr, die repräsentativ das Gesamtwerk und alle Schaffensperioden von denfrühen und ersten Bilderbüchern bis hin zu den letzten Werken der 2010er Jahreabdeckten. Die Originale stellte das nationale britische Archiv Seven Stories inNewcastle-upon-Tyne, das auch den Vorlass von Judith Kerr verwaltet, als Leihgabenzur Verfügung. Ergänzt wurden die ausgestellten Illustrationen um erhalten gebliebeneDokumente, Unterlagen, Bilder und Briefe aus dem Leben der Familie Kerr, die vomAlfred-Kerr-Archiv in Berlin leihweise überlassen wurden. Der attraktiven authentischenVermittlung dienten zudem mehrere Audio-Stationen, an denen die Ausstellungsbesucherdas von Ute Wegmann im Jahr 2011 mit Judith Kerr geführte Interviewim Originalton hören und selbst die Ausführungen und Stimme der trotz Hochaltrigkeitjung gebliebenen Künstlerin erleben konnten.Beleitend zur verdienstvollen Ausstellung erschien ein informativer Katalog, dermit freundlicher Unterstützung durch den deutschen „Hausverlag“ von Judith Kerr,dem Ravensburger Buchverlag, ermöglicht wurde. Im Anschluss an das einleitendeVorwort (Pauline Liesen) portraitiert Ute Wegmann, die auch die lebendige und vonihrer persönlichen Begegnung mit Judith Kerr getragene Rede zur Eröffnung derAusstellung hielt, das bewegte Leben und reiche Werk von Judith Kerr und berichtet ineinem zweiten Beitrag von ihrem Besuch bei der Künstlerin in Barnes im Sommer2011. Deutlich wird, dass bei Judith Kerr in ganz besonderer Weise Leben und Werkimmer eng verschränkt sind, das eigene Leben die primäre künstlerische Inspirationsquelle<strong>für</strong> das Werk und das Werk ohne das gelebte Leben nicht vorstellbar ist.


Judith Kerr 15Friedbert Stohner, Redaktionsleiter bei Ravensburger, würdigt die herausragendeBedeutung, die Als Hitler das rosa Kaninchen stahl <strong>für</strong> die Entwicklung einer neuen,ernsthafteren KJL in Deutschland insgesamt und spezifisch zum Thema Nationalsozialismushatte; dieses war bis dahin in der deutschsprachigen KJL trotz der Bücher vonLisa Tetzner und Hans Peter Richter in Schule und Bevölkerung nach wie vor weitestgehendausgeblendet.Jens Thiele schließlich ordnet in seinem Beitrag die frühen Bilderbücher von JudithKerr ein in das Bilderbuchschaffen der damaligen Zeit und analysiert vergleichendbildnerische, stilistische, motivische und thematische Aspekte. Er kommt zu demSchluss, dass die Illustrationen von Judith Kerr noch in der eher traditionellen Konventionstehen, ihre Texte jedoch verschiedentlich durch den Wechsel zur Innenperspektivedes Kindes bereits den Weg in die Moderne weisen und stellt fest: „DieserWiderspruch macht ihre frühen Bilderbücher <strong>für</strong> die Bilderbuchforschung heute besondersinteressant.“Der reich farbig bebilderte und angesichts des weitgehenden Fehlens aktuellerFachliteratur zu Judith Kerr besonders hilfreiche und verdienstvolle Katalog schließtmit Zeittafel zu relevanten Ereignissen aus dem Leben von Judith Kerr und ihrerFamilie sowie mit chronologisch geordneter Auswahlbibliographie der Werke vonJudith Kerr in englischer und deutscher Erstausgabe.Zum Schluss des vorliegend Beitrages nochmals ein Zitat aus dem Interview vonUte Wegmann mit Judith Kerr aus dem Jahr 2011:Das tägliche Zeichnen ist auch heute noch selbstverständlich <strong>für</strong> Judith Kerr. Von ihremArbeitsplatz im ersten Stock kann sie aus dem Fenster schauen, nach draußen, wo etwaspassiert, das ist wichtig <strong>für</strong> sie. Aber die Eiche vor dem Haus ist enorm gewachsen, nimmtdas Licht und überhaupt, lächelt sie, nehmen sich die Bäume ganz schön viel Raum. DieBäume sind über das Kneale’sche Haus gewachsen, viel Zeit ist vergangen. „Ich binglücklich, das hätte ich noch sagen sollen“, stellt sie zum Schluss fest. Und man spürt,dass ihr das sehr wichtig ist, weil sich so der Wunsch ihres Vaters Alfred Kerr erfüllt.Denn: in seinem letzten Brief an die Tochter schrieb er: „Du musst glücklich werden. Tu es!“Zum Können seiner Tochter Judith hatte Alfred Kerr, wie Ute Wegmann in ihremKatalogbeitrag berichtet, schon früh festgestellt: „Du HAST Talent!“ Daran bestehtsicher kein Zweifel, aber es bleibt nicht bei der Begabung von Judith Kerr <strong>für</strong>s Malenund Zeichnen, die sich bei ihr schon im jungen Mädchenalter zeigt – Judith Kerr machtauch etwas aus sich und ihrem Talent. Ihr erfülltes Leben und ihr international breitanerkanntes schriftstellerisches und illustratives Werk sind da<strong>für</strong> nicht nur eindrucksvollerund bester Beleg, sondern verleihen ihr auch einen herausragenden, festen undbleibenden Platz in der KJL der Zeit nach 1960.LiteraturLiesen, Pauline/Linsmann, Maria (Hrsg.): Das rosa Kaninchen, Mog und die anderen.Die Bilderwelt der Judith Kerr. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im BilderbuchmuseumBurg Wissem der Stadt Troisdorf v. 05.05.13 – 16.06.13. Troisdorf:Bilderbuchmuseum Burg Wissem <strong>2013</strong> [56 S., zahlr. s/w u. farb. Abb., brosch., 18,- €].


16BEITRÄGEGÜNTER LANGEOtfried Preußlers Der kleine WassermannDebüt und Abschluss eines großartigen LebenswerksDass Otfried Preußler mit einem Buch über einen kleinen Wassermann in der <strong>Kinder</strong>literaturdebütierte, ist bei Kenntnis seiner Biographie kein Wunder, denn er hatte in seinerKindheit von seiner Großmutter Dora, von seinem Vater, einem Lehrer und Volkskundler,und von den Bauern, Köhlern und Waldarbeitern auf den Wanderungen mitseinem Vater durch das Isergebirge viele Geschichten von Hexen, Geistern und Spukgestaltengehört und natürlich auch von Wassermännern:Überall waren sie anzutreffen; in jedem der goldbraunen Bäche, in jedem Teich und injedem Moortümpel hauste einer, nicht selten mit seiner ganzen Familie, gesegnet mitweit verzweigter Verwandtschaft, mit Freunden, Bekannten und Nachbarsleuten (Preußler:Glück gehabt, kleiner Wassermann. In: Preußler 2010, S.100).Von solchen Wassermännern hatte Otfried Preußler seinen Töchtern erzählt und sie inder vertrauten Umgebung, im nahen Mühlenweiher, angesiedelt. Seine <strong>Kinder</strong> warenvon diesen Geschichten so begeistert, dasssie den Vater jeden Abend drängten, ihneneine neue Geschichte von dem kleinenWassermann zu erzählen. Daraus entstanddas gleichnamige <strong>Kinder</strong>buch, mit dem OtfriedPreußler 1956 debütierte.Der kleine Wassermann ist eine märchenhaftphantastische Geschichte, denndie Wassermannfamilie lebt wie eine Menschenfamilie,aber am Grunde des Mühlenweihers.Den Wassermannjungen hattendie kleinen Leserinnen und Leser von Anfangan ihr Herz geschlossen, denn er istein neugieriger Junge, der die Grenze zwischenWassermann- und Menschenweltgern überschreitet; er nimmt voller Staunendie Menschenwelt wahr und wundert sichzwar über vieles, trotzdem sind die Unterschiedezwischen den beiden Welten nichtso gravierend. Die Menschenwelt entpupptsich <strong>für</strong> den kleinen Wassermann als„Spiegelwelt“ (Gerhard Haas) seiner eigenen Unterwasserwelt.


Otfried Preußlers Der kleine Wassermann 17Der kleine Wassermann wurde <strong>für</strong> den Autor zu einem großen Erfolg. 1957 erhielt dasBuch von der Jury des <strong>Deutsche</strong>n Jugendbuchpreises einen Sonderpreis <strong>für</strong> Text und Illustration:Uns beiden, dem Fräulein Gebhardt [der Illustratorin] und mir, hat der Preis einenmächtigen Auftrieb <strong>für</strong> unsere weitere Arbeit gegeben. Und nicht nur uns beiden! Auftriebbekam auch der kleine Wassermann selbst – und zwar genau so viel, wie erbrauchte, um die zweite Auflage zu erreichen (Preußler: Glück gehabt, kleiner Wassermann.In: Preußler 2010, S. 104 f).Dieser Erfolg lässt sich am besten an den Verkaufszahlen von 1957 bis heute ablesen:Das Buch wurde nach Auskunft des Thienemann Verlags in Deutschland über 2,3 Millionenmal, weltweit über 2.5 Millionen mal verkauft und in mehr als 30 Sprachenübersetzt. Vom kleinen Wassermann gibt es eine Schulausgabe und Kopiervorlagen <strong>für</strong>den Unterricht. Man kann mit dem kleinen Wassermann zudem Englisch und Französischlernen, und es existieren mehrere Hörspielfassungen. Zusammenfassend kannman sagen: Dieses Buch verdient mit Fug und Recht die Bezeichnung „Klassiker der<strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur“.Bis 2011 sind alle <strong>Kinder</strong>bücher von Otfried Preußler in ihrer textlichen Substanzunberührt geblieben. Einzig das <strong>Kinder</strong>buch vom kleinen Wassermann erfuhr in jenemJahr eine Fortsetzung in Form eines Bilderbuchs: Der kleine Wassermann. Frühling imMühlenweiher. Erzählt wurde es von Otfried Preußler und seiner Tochter Regine Stigloher,illustriert von Daniel Napp (vgl. meine Rezension im <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>n 2011,Heft 94, S. 43–46).Nun ist eine Fortsetzung erschienen: Der kleine Wassermann. Sommerfest im Mühlenweiher.Es ist das letzte Werk aus der Feder von Otfried Preußler. Das Bilderbucherschien am 8. Februar <strong>2013</strong> bei Thienemann – zehn Tage, bevor der Autor in Prien amChiemsee verstarb. Insofern sind die Geschichten vom kleinen Wassermann zu einemwürdigen Rahmen <strong>für</strong> Otfried Preußlers kinderliterarisches Lebenswerk geworden.Nach dem Frühling im Mühlenweiher folgt nun das Bilderbuch zum ‚Sommer’.Seine Handlung ist geprägt von zwei Erzählsträngen: auf der einen Seite geht es umdas Sommerfest im Mühlenweiher, wie es der Untertitel schon andeutet. Das Bilderbuchendet mit einem großen Fest, weil die Mutter des kleinen Wassermanns endlichvon einer längeren Reise zurückgekehrt ist. Für ihn ist es das größte und schönste Fest,das er bisher erlebt hat.Der zweite Erzählstrang gilt den Abenteuern des kleinen Wassermanns, die auchdieses Mal von den Auseinandersetzungen mit dem Müller handeln. Um seinenFreund, den Karpfen Cyprinus, vor den badenden Menschen im Mühlenweiher zuschützen, die seine Ruhe stören, beschließt der kleine Wassermann, den Badesteg, dender Müller gebaut hat, abzusägen. Dabei wird er natürlich erwischt, kann aber unterVerlust seiner schönen roten Zipfelmütze entkommen. Diese Niederlage lässt ihn wildeRachepläne schmieden, die aber nicht in die Tat umgesetzt werden müssen, da seineMutter dem kleinen Wassermann eine neue Mütze von ihrer Reise mitgebracht hat.Leider löst sich auf diese Weise der Konflikt zwischen dem Müller und dem kleinenWassermann geradezu von selbst; ich denke, dass sich die <strong>Kinder</strong> über die eine oder


18BEITRÄGEandere lustige oder spannende Episode in dem Konflikt zwischen den beiden Kontrahentensehr gefreut hätten, zumal sich der kleine Wassermann schon eine ganze Reihevon Streichen ausgedacht hat.Besondere Freude werden die <strong>Kinder</strong> an den opulenten, phantasievollen Bildernvon Daniel Napp haben, der auch schon das ‚Frühlingsbuch’ gestaltet hat. Er hat sichintensiv mit den Geschichten vom kleinen Wassermann auseinandergesetzt und sich anden Originalbildern von Winnie Gebhardt-Gaylor orientiert, so dass der Wiedererkennungswert<strong>für</strong> die <strong>Kinder</strong> enorm groß ist und kein Bruch in ihrer Rezeption entsteht.Zugleich ist aber auch etwas Neues entstanden, denn die großflächigen Bilder steckenvoller humorvoller Einzelheiten, die es zu entdecken gilt. Sie erzählen neben der Geschichtevom kleinen Wassermann zahllose andere Geschichten, die die <strong>Kinder</strong> anhandder Einzelheiten entdecken und erzählen können, z.B. von den vier kleinen Fröschen,die fast auf jedem Bild zu sehen sind, weil sie die Abenteuer des kleinen Wassermannsaktiv begleiten, oder vom jungen Biber Bockert, von den Vögeln und den Mäusen, diesich durch die anderen Tiere gestört fühlen, oder vom Schneckenrennen.Dieses Bilderbuch vom kleinen Wassermann wird seine nachhaltige Wirkung beiden <strong>Kinder</strong>n entfalten, die Erinnerungen an das <strong>Kinder</strong>buch von 1956 wiederbelebenund hoffentlich einen Anstoß zur erneuten Lektüre geben. So bleiben diese liebenswerteGestalt und ihr Erfinder lebendig.LiteraturPreußler, Otfried/Stigloher, Regine: Der kleine Wassermann. Sommerfest im Mühlenweiher.Mit Bildern von Daniel Napp. Stuttgart, Wien: Thienemann <strong>2013</strong>. 32 Seiten;ISBN 978 3 522 43746 2; 12,95 €.Preußler, Otfried/Stigloher, Regine: Der kleine Wassermann. Frühling im Mühlenweiher.Mit Bildern von Daniel Napp. Stuttgart, Wien: Thienemann 2011. 32 Seiten;ISBN 978 3 522 43678 6; 12,95 €.Preußler, Otfried: Der kleine Wassermann. Mit Zeichnungen von Winnie Gayler. Stuttgart:Thienemann 1956.Lange, Günter: Otfried Preußler: Neues vom kleinen Wassermann. In: <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>2011, H. 94, S. 43–46.Hotzenplotz modernBei den Thurn und Taxis-Schlossfestspielen war am Sonntag, 14. Juli <strong>2013</strong>,<strong>Kinder</strong>tag. Dabei bot die Compagnie Showcase Beat Le Mot aus Berlin eine RäuberHotzenplotz-Inszenierung – oder eher Performance – besonderer Art, geprägt von magischerZauberei, von begeisternder Reggae-Beat-Musik und atemlosen Video-Verfolgungsjagden. Bei dieser spielerischen Vermittlung verschiedener Theatertechnikenblieb die Figur des Erzählers immer sichtbar und das Geschehen wurdezwischen Schauspielern und Zuschauern geradezu interaktiv rekonstruiert. Nichtunbegründet handelt es sich um eine mit dem Preis des Goetheinstituts ausgezeichnetInszenierung.KF


Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis 19ANDREAS WICKE„Ich mochte Sherlock Holmes lange nicht so gern wieMiss Marple“Intertextuelle Spuren in Andreas SteinhöfelsRico, Oskar …-KrimisRico liebt es, im FernsehenKrimis zu schauen, dabei präferierter die frühen Miss-Marple-Filme mit MargaretRutherford. Sein Freund Oskarhingegen bevorzugt SherlockHolmes und spricht Ricobisweilen mit „mein lieberWatson“ an. Gemeinsamschauen die beiden <strong>Kinder</strong>detektiveaber auch JonathanDemmes Das Schweigen derLämmer, während Herr vanScherten, der großväterlicheFreund Ricos und Oskars, vonEdgar Allan Poes Der verschwundeneBrief erzählt.Andreas Steinhöfel bei der Lesung an der Uni Kassel(Foto: Caroline Rothenbusch)Vielfältige intertextuelle Spuren durchziehen Andreas Steinhöfels Romane Rico, Oskarund die Tieferschatten (2008), Rico, Oskar und das Herzgebreche (2009) sowie Rico,Oskar und der Diebstahlstein (2011), 1 neben Anspielungen auf Kriminalliteratur 2 ,1 Aus den drei Rico, Oskar …-Romanen Andreas Steinhöfels wird im Text mit folgendenSiglen plus Seitenzahl zitiert: (T) Rico, Oskar und die Tieferschatten. Hamburg: Carlsen2008. (H) Rico, Oskar und das Herzgebreche. Hamburg: Carlsen 2009. (D) Rico, Oskar undder Diebstahlstein. Hamburg: Carlsen 2011.2 Die Gattungsbezeichnung Kriminalroman (synonym auch Krimi) wird im vorliegenden Aufsatzals Oberbegriff verwendet, der den Detektivroman einschließt. Vgl. etwa Nusser, Peter:Der Kriminalroman. 2. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 1992, S. 1 f. oder Suerbaum,Ulrich: Krimi. Eine Analyse der Gattung. Stuttgart: Reclam 1<strong>98</strong>4, S. 14. Es gibt sicherGründe da<strong>für</strong>, Kriminalromane und -geschichten als Genre, nicht als Gattung aufzufassen,mit Blick auf die hier verwendete Forschungsliteratur wird jedoch der Begriff der Gattungverwendet.


20BEITRÄGEKriminalfilme sowie weitere literarische und filmische Werke stehen auch solche aufphilosophische, mythologische und biblische Texte. 3 „Alles rein in die Suppe“, 4 sokommentiert Steinhöfel sein spielerisches Verständnis von Intertextualität; ihm machees Spaß, die diversen Anspielungen in seinen Texten zu verstecken, die Leserinnen undLeser müssen diese Spuren aber nicht zwingend erkennen, um die Romane verstehenund genießen zu können. 5Gérard Genette konzediert im Rahmen seiner Palimpsesttheorie, dass es sich bei intertextuellgeprägten Werken um eine „Literatur der ‚Belesenheit‘“ handle, gleichwohlunterstreicht auch er den vergnüglichen Aspekt und spricht von einer Mischung aus„Scharfsinn und Spieltrieb“. „Liebt man die Texte wirklich“, lautet sein Resümee, „somuß man von Zeit zu Zeit den Wunsch verspüren, (mindestens) zwei gleichzeitig zulieben.“ 6 Ulrich Suerbaum kommt in seinen Anmerkungen zum Zusammenhang vonKriminalliteratur und Intertextualität darüber hinaus zu dem Schluss, das intertextuelleSpiel sei „nicht nur Selbstzweck“, sondern bringe „einen besseren Krimi“ hervor undsei bei „eingefahrenen Gattungen […] eines der wirksamsten Mittel der Erneuerung.“ 7Diese These soll mit Blick auf die <strong>Kinder</strong>krimis Andreas Steinhöfels hier untersuchtwerden. Dabei geht es sowohl um Einzeltext- als auch Systemreferenzen, sowohl umparodistische als auch selbstreflexive Aspekte, außerdem wird die Frage nach derFunktion der Zitate, Anspielungen und Montagen diskutiert.Intertextualität im Kriminalroman„Es gibt in der Literatur keine Figuren und Muster, deren Zitierung so klar erkennbarwäre und bei denen der Leser Prätext und Verarbeitung so deutlich gegeneinanderhaltenkann wie die der Detektivgeschichte“, 8 konstatiert Ulrich Suerbaum und betont,3 Zu den intertextuellen Verweisen auf Homers Odyssee vgl. Wicke, Andreas: „Zeiten ändernsich, Menschen ändern sich, Meinungen ändern sich“. Familie in Andreas Steinhöfels „Rico,Oskar …“-Trilogie. In: interjuli (2012) 2, S. 39–58, hier S. 50–53. Wiederholt wurde außerdemauf die intertextuellen Parallelen zwischen Rico, Oskar und die Tieferschatten und ErichKästners Emil und die Detektive hingewiesen, vgl. zuletzt Schwahl, Markus: Polyphone Helden.Intertextualität in der <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur der Gegenwart. In: kjl&m (2012) 3, S.64–68, hier S. 64. Andreas Steinhöfel hingegen kritisiert, „dass man alle Detektivgeschichten,die in Berlin spielen, gleich mit Kästner vergleicht.“ (Steinhöfel, Andreas: „Mir geht das aufdie Nerven“. Interview mit Roswitha Budeus-Budde. In: Süddeutsche Zeitung vom17.5.2010.)4 Steinhöfel, Andreas: Peter Pan, grün und blau – Zum Einfluss von Außen / Hoffentlich insHerz – Zum Einfluss von Innen / Machen Sie mal einen Punkt – Zum Einfluss vom Rand. In:Poetikvorlesung zur <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur 2009–2011. Carl von Ossietzky UniversitätOldenburg. Hrsg. v. Ute Dettmar und Mareile Oetken. Oldenburg: BIS-Verlag 2012, S. 121–207, hier S. 145.5 Vgl. ebd., S. 189.6 Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer undDieter Hornig. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 533 f.7 Suerbaum, Ulrich: Intertextualität und Gattung. Beispielreihen und Hypothesen. In: Intertextualität.Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und ManfredPfister. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1<strong>98</strong>5, S. 58–77, hier S. 76 f.8 Ebd.


Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis 23Beleuchtet man Rico und Oskar vor der Folie dieser beiden klassischen Ermittlerduos,lassen sich jeweils deutliche Bezüge erkennen. Beim Vergleich der beiden Jungen mitHolmes und Watson ist die Verteilung klar: Oskar als hochbegabtes Kind hat sein literarischesVorbild in Sherlock Holmes, der von Watson als „die vollkommenste DenkundBeobachtungsmaschine, die die Welt je gesehen hat“, 20 bezeichnet wird; auch überOskar sagt Rico, er sei „mehr der rationale Typ“ (H 33). Darüber hinaus verbindet diebeiden die Liebe zu charakteristischen Kopfbedeckungen: Während Holmes – zumindestin den Illustrationen von Sidney Paget bzw. den frühen Verfilmungen – einenDeerstalker 21 trägt, hat Oskar im ersten Band einen Sturzhelm, im zweiten eine Sonnenbrilleund im dritten eine Bommelmütze auf. In Rico, Oskar und der Diebstahlsteinheißt es explizit:Sherlock Holmes kannte ich aus dem Fernsehen, in Schwarz-Weiß. Er war Detektiv undtrug so eine komische Kappe, die man über den Ohren runterklappen konnte, ähnlichwie bei Oskars Bommelmütze, nur ohne bunte Troddeln. (D <strong>98</strong>)Ricos Parallelen zu Dr. Watson sind zunächst narratologischer Natur, beide fungierenin den Texten als Ich-Erzähler, beide sind aber darüber hinaus auch die jeweiligenIdentifikationsinstanzen <strong>für</strong> die Leserinnen und Leser. „Erst aus der Perspektive seineshandfesten und ein wenig bornierten Begleiters Dr. Watson“, so erläutert Jochen Vogtdiesen speziellen Fall einer Ich-Erzählsituation, „gewinnen […] Holmes’ detektivischeFähigkeiten ihren genialen Zug.“ 22 Aber auch die Einstellung zur Institution Familieunterstreicht den Vergleich: Während man über Sherlock Holmes’ Familie fast nichtserfährt, ist Watson eher der Familienmensch, der die gemeinsame Junggesellen-Wohnung in der Baker Street nach seiner Eheschließung verlässt. Auch Oskar steht derInstitution Familie kritisch gegenüber und beklagt, dass er „[v]on allen Blödmännernauf der Welt […] ausgerechnet den blödesten als Vater gekriegt“ (D 71) habe, dieweilRico eine innige und herzliche Verbindung zu seiner Mutter hat. 23Man kann Steinhöfels <strong>Kinder</strong>detektivduo aber auch mit dem Vorbild von MissMarple und Mister Stringer vergleichen, den es in den Romanen Agatha Christies nichtgibt und der lediglich Teil der populären und von Rico so geliebten Verfilmungen mitMargaret Rutherford aus den 1960er Jahren ist. In diesem Fall kann man die Schrulligkeitund Unkonventionalität der alten Dame Ricos chaotischem und oft irrationalemVorgehen gegenüberstellen, während Oskar mit Mister Stringer die ausgeprägte Ängstlichkeitverbindet. Trotz aller Bewunderung <strong>für</strong> die britische Hobbydetektivin weißRico aber auch, dass sie ihm überlegen ist, am Ende des ersten Bandes gesteht er,20 Doyle, Arthur Conan: Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Erzählungen. Übers. v. GisbertHaefs. 6. Aufl. Berlin: Insel 2012, S. 9.21 In den Erzählungen und Romanen wird der Deerstalker nicht ausdrücklich erwähnt, in Silbersternheißt es lediglich, Holmes trage eine „Reisemütze mit Ohrenklappen“. (Doyle,Arthur Conan: Die Memoiren des Sherlock Holmes. Erzählungen. Übers. v. Nikolaus Stingl.Frankfurt a.M: Insel 2007, S. 10.)22 Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie.9. Aufl. München: Wilhelm Fink 2006, S. 77.23 Vgl. Wicke (Anm. 3), S. 39–45.


24BEITRÄGEnachdem er stolz auf eine über Umwege gemachte Entdeckung zurückblickt: „Gut,vielleicht wäre Miss Jane Marple von allein darauf gekommen, sie ist einfach besserals ich.“ (T 217) Ricos unorthodoxe Art einen Fall zu lösen – eine Kostprobe seinerDetektion gibt er gleich zu Beginn des ersten Bandes, wenn er die Herkunft einerFundnudel zu ermitteln versucht – wird aber auch dadurch betont, dass er den Täternicht aufgrund analytischer Fähigkeiten im Sinne Sherlock Holmes’ überführt, sonderndurch eine Verkettung von Fehlentscheidungen; bis zum Schluss des ersten Bandeshält er beispielsweise den inkognito ermittelnden Polizisten Simon Westbühl <strong>für</strong> denTäter.Als Rico seinen Freund im zweiten Band <strong>für</strong> den Miss-Marple-Film Mörder Ahoibegeistern will, macht der ihn lediglich auf die Goofs, also die Fehler bei Dreh undSchnitt, aufmerksam: „Der Regisseur hat Mist gebaut“ (H 138), resümiert Oskar seineAuflistung und Rico reagiert entsprechend beleidigt: „Jetzt hatte Oskar mir den Spaßam Film versaut, nur weil er in meinem Fremdwörterlexikon ausgerechnet G bis H gelesenhatte.“ (H 138) Rico hingegen liebt die Filme mit Miss Marple, bekommt bereitsvon der Musik gute Laune und ist von der Aufklärung der Fälle jedes Mal neu überrascht:Es ist einer der wenigen Vorteile einer Tiefbegabung, dass man selbst bei einem Krimi,den man schon zehn Mal gesehen hat, den Täter vergisst und die Opfer auch. Man kannihn also immer wieder gucken. (H 135 f.)Außerdem kann sich Rico ganz offensichtlich mit der Protagonistin identifizieren, zumBeispiel wenn er seinen eigenen Wunsch nach einer Familie auf sie projiziert und sichfragt, „ob Miss Jane Marple jemals Mister Stringer heiraten wird.“ (T 97) SelbstOskars Allwissenheit versagt bei Agatha Christie und beschert Rico somit ein intellektuellesErfolgserlebnis:„Kennst du Miss Marple?“, fragte ich.„Nein. Wohnt die auch hier im Haus?“Ha! Das war die Gelegenheit, ihn ein bisschen zu verspotten! Die Filme mit Miss Marplekennt schließlich jeder. (T 74)Während Oskar versucht, Sherlock Holmes als detektivisches Vorbild zu inthronisieren,ist Rico immer wieder bemüht, die Bezüge zu Miss Marple in den Vordergrund zurücken: „Ich mochte Sherlock Holmes lange nicht so gern wie Miss Marple“ (D <strong>98</strong>),betont er und benennt damit eine begründete Rivalität. 24 Folgt man dem Muster derSherlock-Holmes-Geschichten, ist Oskar der geniale Detektiv, Rico lediglich der Bewundererund Erzähler, eine solche „Watson-Perspektive“ 25 möchte er aber freilich24 Der intertextuelle Konflikt der beiden Hauptfiguren lässt sich auch auf die Nebenfigurenübertragen; während Frau Dahling Miss Marple bevorzugt, ist Herr van Scherten Sherlock-Holmes-Fan: „Ich liebe Miss Marple“, bekennt er. „Aber weißt du, wen ich regelrecht verehre?Sherlock Holmes! Was meinst du, sollen wir uns die schönen alten Schwarz-Weiß-Filmemit ihm mal anschauen?“ (D 315)25 Vgl. Finke, Beatrix: Erzählsituationen und Figurenperspektiven im Detektivroman. Amsterdam:B. R. Grüner 1<strong>98</strong>3, S. 109 ff.


Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis 25nicht einnehmen. Orientiert man sich hingegen an den Miss-Marple-Filmen, so kommtRico die Rolle des Helden zu, während Oskar zum furchtsamen und deutlich unterlegenenKompagnon wird. Noch einmal unterstreicht Rico seine Präferenz gegen Endedes dritten Teils: „Dieser Sherlock Holmes war ein blöder Besserwisser. So einer durfteMiss Marple gerade mal ein Törtchen zum Tee servieren.“ (D 262) 26Intertextualität ist ein Phänomen der Dialogizität, und in der Tat kommt es über dieAnspielungen hinaus auch in Steinhöfels Romanen zu dialogischen Verknüpfungen,nicht nur zwischen den Texten im Allgemeinen, sondern ganz direkt zwischen den FigurenSherlock Holmes und Rico. Im dritten Band gibt es nämlich kurze Passagen, indenen Holmes als Über-Ich oder schlechtes Gewissen, Vaterersatz oder Chefdetektivzu Rico spricht und ihn mit „Watson“ anredet. Der erste dieser Texte bezieht sich aufOskars Problem mit dessen Vater sowie die Hintergründe <strong>für</strong> die gemeinsamen Ermittlungenvon Rico und Oskar; eine imaginierte Sherlock-Holmes-Figur spricht zu Rico:Er will, dass fremde Leute sich um uns kümmern, Watson! Wie er das hinkriegt, ist ihmegal. Erwachsene finden besser aus einer schwierigen Lage heraus als <strong>Kinder</strong>, also gibter die Verantwortung <strong>für</strong> uns einfach an sie weiter. (D 150)Dass hier eine fremde Stimme in den Gedankenfluss von Ricos Tagebuch montiertwird, markiert Steinhöfel zunächst durch die Kursivierung, außerdem durch die„Watson“-Anrede, erst bei der dritten Einflüsterung wird durch die Formulierung„meldete sich die leise Stimme von Sherlock Holmes in meinem Kopf zurück“ (D 166)konkretisiert, wer hier eigentlich spricht. Eine solche intertextuelle Vielstimmigkeit,die gerade im <strong>Kinder</strong>buch selten ist, reklamiert Steinhöfel in seinen Oldenburger Poetikvorlesungen<strong>für</strong> Kunst insgesamt:Kunst ist immer mindestens doppelbödig. Kunst heißt immer, dass es unter der Oberflächenoch etwas anderes gibt. Auf meine Bücher bezogen, behaupte ich mal: Ihre Kunstist die darin versteckte, die Geschichten antreibende Psychologie, das Wissen (hoffe ichjedenfalls) darum, was <strong>Kinder</strong> so ticken lässt, wie sie nun mal ticken. Und das Einfühlensowohl in diese Psychologie wie auch in die ihr entspringenden Gefühlszustände. 27In den Einflüsterungen durch Sherlock Holmes wird deutlich, dass Steinhöfel die psychologischeEbene wichtiger ist als die Gattung Kriminalroman, denn die Stimme desLondoner Detektivs ist hier nicht im Sinne einer kriminalistischen, sondern einer psychologischenDetektion tätig und macht Rico auf die Manipulationen Oskars sowieseine eigenen Verdrängungsmechanismen aufmerksam. So erläutert Holmes’ StimmeRico, wie Oskar Verantwortung abwälzt (vgl. D 150), dass es keinen „Unterschiedzwischen Schummeln und Lügen“ (D 161) gibt, er bezichtigt Rico des Opportunismusund der Feigheit (vgl. D 166) oder kommentiert seine detektivischen Ermittlungsentscheidungen(vgl. D 199, 213 und 262). Auch diese Einflüsterungen überwindet Rico26 Die intertextuellen Anspielungen auf Agatha Christie werden noch dadurch unterstützt, dassder Nachtclub, in dem Ricos Mutter arbeitet, Mausefalle (H 222) heißt, also genauso wieChristies bekanntestes Kriminalstück.27 Steinhöfel (Anm. 4), S. 195.


26BEITRÄGEam Schluss, sodass das Happy-End im dritten Band sich nicht nur auf den gelösten Fallsowie die Heirat seiner Mutter mit Simon Westbühl bezieht, sondern vor allem aufRicos erfolgreiche Emanzipation und Individuation: „Sherlock Holmes hatte sichfreundlicherweise seit Tagen nicht mehr in meinem Kopf gemeldet, genauso wenig wiedie Bingotrommel.“ (D 315)Im letzten Band greift Steinhöfel mit Das Schweigen der Lämmer auf einen Thrillerzurück, der ausdrücklich nicht <strong>für</strong> die etwa 8- und 10-jährigen Titelfiguren – und diegleichaltrigen Leserinnen und Leser – geeignet ist, offiziell ist er ab 16 freigegeben.Die beiden Freunde stoßen zufällig im Fernsehen darauf und Rico, der über einen Mitschülerim Förderzentrum schon einmal von dem Film gehört hat, glaubt zunächst, eshandle sich um einen Tierfilm, da neben den titelgebenden Lämmern auch ein Schmetterlingvorkommt. „Als der Film schließlich zu Ende war“, resümiert er, „waren wirvöllig fertig mit den Nerven. […] Die schweigenden Lämmer hatte man überhauptnicht gesehen und den toten Schmetterling nur ganz kurz.“ (D 74 f.) Während Ricohauptsächlich der Kannibalismus Hannibal Lecters verstört, kann sich Oskar dessen„Genie“ (D 75) nicht entziehen und er erklärt Rico – wiederum mit einem Filmzitat auseinem Psychothriller –, es handele sich dabei um die „Faszination des Grauens“ (ebd.).Zwar sind die Anspielungen auf solche eindeutigen Erwachsenentexte bzw. -filme seltener,doch lässt sich zum Beispiel auch das Ende des ersten Bandes als Parodie lesen.Peter Nusser behauptet in seiner Einführung Der Kriminalroman, es werde im Thriller,anders als in der klassischen Detektivgeschichte, „der Triumph des Helden ganz sinnfälliggenossen […], je nach Genre etwa als Selbstbestätigung und Motivation <strong>für</strong> neueAufgaben [oder] als Entspannung im sexuellen Abenteuer“. 28 Die Schlussszene inRico, Oskar und die Tieferschatten spielt im Krankenhaus, weil Rico bei der Überführungdes Täters eine Gehirnerschütterung erlitten hat. Sein Triumph reduziert die „Entspannungim sexuellen Abenteuer“ auf ein kinderliterarisches Maß und parodiert damitdie Romane der hard boiled school respektive den Agentenfilm, wenn KrankenschwesterLeonie von Rico gleichsam zum Bond-Girl stilisiert wird: „Sie ist toll und siehtklasse aus, wie eine Mischung aus Jule und Fußpflegerin Cindy, auch wenn ich natürlichihren Busen noch nicht gesehen habe.“ (T 219) 29Selbstreflexion und MetafiktionalitätNeben den Bezügen zu konkreten Texten finden sich in allen drei Romanen um Ricound Oskar auch selbstreferentielle Anspielungen auf die Gattung Kriminalroman,wenngleich sich Einzeltext- und Systemreferenzen hier bisweilen nicht voneinander28 Nusser (Anm. 2), S. 56.29 Bezüge zu Kriminalromanen der hard boiled school sind in der <strong>Kinder</strong>literatur naturgemäßselten zu finden, dennoch lässt sich der von Andreas Steinhöfel übersetzte Insektenkrimi DieWanze als Beispiel nennen. Hier sagt Privatdetektiv Wanze Muldoon am Ende des zweitenKapitels beispielsweise: „Doch eines wusste ich genau – ich brauchte einen Drink.“ (Shipton,Paul: Die Wanze. Ein Insektenkrimi. Übers. v. Andreas Steinhöfel. 2. Aufl. Frankfurt a.M.:Fischer 2001, S. 24.)


Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis 27trennen lassen. 30 Einerseits gibt es ironische Kommentare, etwa wenn Rico über einenGesichtsausdruck urteilt, das sei in „Krimis […] immer ein Zeichen da<strong>für</strong>, dass der Täternicht alle Tassen im Schrank hat“ (T 207), wenn er sagt, er „hätte auch gern gepfiffen,weil man das im Krimi so macht, wenn man was Tolles rausgefunden hat“ (H181), oder wenn Oskars Vater etwas so sagt, „wie ein Polizist im Krimi ruft: Jeder Widerstandist zwecklos!“ (D 54) Neben diesem parodistischen Spiel gibt es aber auchBemerkungen, die stärker selbstreflexiven oder metafiktionalen Charakter haben. Soüberlegt Rico etwa im zweiten Band, wie sich das narrative Muster verändern müsste,wenn man aus seinem Tagebuch einen Spielfilm oder Krimi machte:Rückblenden gibt es zum Beispiel in einem Krimi, wenn jemand auf rätselhafte Weiseumgebracht wurde. Der Mörder ist gerade geschnappt worden und erzählt, wie es gewesenist mit dem Abgemurkse. Das sieht man dann in der Rückblende und denkt: Ah, sohat er das also hingekriegt, was <strong>für</strong> ein gerissener Kerl! (H 23)Narratologisch ist diese Passage raffiniert gemacht, denn in der Tat fehlen dem Leserhier Informationen, wenn er den ersten Band nicht kennt. Da sich ein Tagebuch in derRegel nicht an einen Adressaten wendet, schiebt Rico die fehlenden Informationen implizitnach: „In meinem Tagebuchfilm könnte der Zuschauer sich gerade in diesemMoment fragen, wohin ich eigentlich auf dem Motorrad unterwegs bin.“ (H 23) Unddann werden unter Zuhilfenahme metafiktionaler Kommentare – „Jetzt fängt das Bildan zu wabern und es ertönt seltsame schrummelige Musik“ (H 24) – die inhaltlichenLücken durch die Analepse geschlossen. Eine ähnliche metafiktionale Passage findetsich auch im dritten Band:Dann betrat ich ohne ihn die Küche, schloss die Tür hinter mir und tastete nach einemLichtschalter.In einem Krimi oder Gruselfilm würde das jetzt alles haarklein gezeigt, mit fieser Musikdabei. […] Mordsmäßiges Blutgespritze, Geröchel, verdrehte Augen. Abgemurkst.Das Opfer sinkt zu Boden, mit mehr Löchern in sich drin, als in einen Schweizer Käsepassen. […]Gru-se-ligAlso mache ich es kurz: Da war nichts. (D 225)Durch die Kontrastierung der Darstellungsweisen von Gruselfilm und Tagebuch wirdhier eine ironische Distanz geschaffen. Steinhöfel scheint sich über das Klischee einesHorrorfilmes lustig zu machen, treibt darüber hinaus jedoch ein doppelbödiges Spiel:Während einerseits die leeren Spannungseffekte trivialer Filme karikiert werden, bauter <strong>für</strong> die konkrete Situation, in der sich Rico befindet, dennoch Spannung auf, denn inden 18 Zeilen, die zwischen dem Betreten der Küche und dem lakonischen „Da warnichts“ liegen, bleibt <strong>für</strong> den Leser ungewiss, ob sich die cineastischen Tötungsvisionenauch an Rico erfüllen werden.30 Vgl. Broich, Ulrich: Zur Einzeltextreferenz. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistischeFallstudien. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen: Max Niemeyer Verlag1<strong>98</strong>5, S. 48–52, hier S. 51.


Andreas Steinhöfels Rico, Oskar …-Krimis 29Der Fall, um den es in diesem letzten Band geht, spielt sich auf einem durchaus surrealistischenHintergrund ab, Rico und Oskar beschäftigen sich mit einem ungewöhnlichenDelikt: Gustav Fitzke, der grimmige und ungepflegte Eigenbrötler, der ebenfallsim Haus in der Dieffenbachstraße 93 wohnt, hat eine äußerst umfangreiche Steinsammlung,die er Rico bereits im zweiten Band vererbt, und ist darüber hinaus überzeugterSteinzüchter; angeblich habe er schon einen Kalbstein gezüchtet, den er als sein wertvollstesObjekt ausgibt. Während Oskar die Erzählungen als Hirngespinste abtut, istRico zumindest von der Idee begeistert und sympathisiert dadurch mit der animistischenWeltsicht des Märchens. „Denn damit das mal klar ist: Ich bin nicht dermaßentotal plemplem, dass ich wirklich ans Steinzüchten glaube. Aber es ist schön, sich vorzustellen,dass es funktionieren könnte.“ (H 125) Die Spur, die über die Steinzucht gelegtwird, ist wiederum eine intertextuelle und führt zu einem der Unmöglichen InterviewsGiorgio Manganellis, die dieser mit verstorbenen Personen, in diesem Falle demkatalanischen Architekten Antoni Gaudí, verfasst. Manganellis fiktiver Gaudí bezeichnetsich als Steinzüchter und schildert – während auch hier Themen wie Tod und Verbrechenbehandelt werden – sein anthropomorphes Verhältnis zu Steinen: „Steine lassensich nicht züchten. Sie wachsen. Natürlich wachsen sie langsam: aber sie wachsen.Und sie wachsen nicht nur, sondern durchlaufen, wie soll ich sagen, Metamorphosen –diese fallen meist mit ihrem Tod zusammen, aber nicht immer.“ 37ResümeeIntertextualität bringe, so Suerbaum, „einen besseren Krimi“ 38 hervor; in AndreasSteinhöfels Romanen um Rico und Oskar lassen sich da<strong>für</strong> vielfältige Belege finden:Zunächst kann man die eigentliche Ermittlung des Detektivs mit der intertextuellenSpurensuche des Lesers vergleichen, der dadurch ebenfalls zum Detektiv wird undgleichsam auf zwei Ebenen, einer kriminologischen und einer poetologischen oder literarischen,gefordert ist. Diese Mehrfachkodiertheit steht in engem Zusammenhang miteiner Polyphonie der Romane, die sich dadurch ergibt, dass man innerhalb des einenTextes weitere Texte mitliest. Das führt zu einer Verzweigung und Potenzierung derDeutungsebenen, Renate Lachmann spricht von einer „semantische[n] Explosion, diein der Berührung der Texte geschieht“. 39 Hat man im Krimi in der Regel nur einen De-37 Manganelli, Giorgio: A und B. Dialoge und unmögliche Interviews. Übers. v. Renate Heimbucheru. a. Berlin: Wagenbach 1991, S. 105. Manfred Pfister macht auf die „Differenzierungvon unbewußter oder bewußter und von nicht-intendierter oder intendierter Intertextualität“aufmerksam und referiert Konzepte, die davon ausgehen, Prätexte seien „nur solche, auf dieder Autor bewußt, intentional und pointiert anspielt und von denen er möchte, daß sie vomLeser erkannt und als zusätzliche Ebene der Sinnkonstitution erschlossen werden.“ (Pfister,Anm. 19, S. 23) Während die Krimi-Anspielungen, auf die in der vorliegenden Untersuchunghingewiesen wird, eindeutig markiert sind, antwortet Andreas Steinhöfel auf die Frage, ob erwirklich von Manganellis Dialog beeinflusst sei, er kenne den „Herrn M. […] leider nicht“,habe sich jedoch an der ihm „unterstellten Intelligenz erfreut.“ (Mail vom 14.6.<strong>2013</strong>)38 Suerbaum (Anm. 7), S. 76.39 Lachmann, Renate: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Das Gespräch. Hrsg. v. KarlheinzStierle und Rainer Warning. München: Fink 1<strong>98</strong>4, S. 133–138, hier S. 134.


30BEITRÄGEtektiv bzw. ein ermittelndes Paar, so kommt es durch die intertextuellen Anspielungenhier nachgerade zu einem literarischen Kriminalisten-Treffen durch die Jahrhunderteund Genres. Indem die unterschiedlichen Charaktere und Ermittlungsweisen in denText eingeschrieben sind, entstehen immer neue Assoziationen und Dissonanzen – etwawenn die Entscheidung, ob Rico und Oskar vor dem Vorbild von Sherlock Holmesund Dr. Watson agieren oder sich auf Miss Marple und Mister Stringer beziehen, offenbleibt.Darüber hinaus erzeugt Intertextualität Komik, denn gerade im <strong>Kinder</strong>krimi resultiertaus dem Vergleich der jungen Detektive mit den klassischen Vorbildern der Kriminalliteraturimmer wieder eine ironische Distanz. Wenn man beispielsweise dieMiss-Marple-Darstellerin Margaret Rutherford als „energische, exzentrische und etwasverwirrte alte Jungfer von sechzig Jahren mit der Ausstrahlung eines Generals“ 40 charakterisiert,muss der – wie er selbst sagt – „tiefbegabte“, etwa zehnjährige Rico vordieser Folie eine humoristische Wirkung entfalten. Schließlich stellen die intertextuellenSpuren die Posttexte aber auch in einen kulturhistorischen Kontext und speisen diePrätexte immer wieder neu in das kulturelle Gedächtnis ein.Alida Bremer entwirft unter dem Titel Kriminalistische Dekonstruktion eine, so derUntertitel, Poetik der postmodernen Kriminalromane; sie beschäftigt sich mit „Werken,die sich bewußt vom Schema entfernen“, und spricht von einer „Ästhetik derMehrdeutigkeit“, 41 die sie vor allem auf die Elemente Intertextualität und Metatextualitätzurückführt. Nun gibt es sicher in der Literatur <strong>für</strong> Erwachsene umfangreichereMöglichkeiten inter- und metatextuellen Schreibens als in der <strong>Kinder</strong>literatur, dennochlassen sich, wie gezeigt, signifikante Beispiele auch in den Rico, Oskar …-Romanennachweisen. Andreas Steinhöfel geht es – anders als in den eingangs angeführten <strong>Kinder</strong>krimis– nicht um punktuelle Verweise und Anspielungen, sondern es entsteht inden drei Texten ein komplexes Geflecht vielschichtiger intertextueller Spuren. Insofernkann man die Romane in ihrer polyphonen Vernetztheit, ihrem hohen Grad an Selbstreflexivitätund parodistischer Entfernung von der Gattung des Krimis sowie dem Angebotder Lektüre auf verschiedenen Ebenen durchaus als postmoderne <strong>Kinder</strong>krimisbezeichnen.40 Shaw/Vanacker (Anm. 17), S. 103.41 Bremer, Alida: Kriminalistische Dekonstruktion. Zur Poetik der postmodernen Kriminalromane.Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 13.


Ausstellungen und Kataloge 1/<strong>2013</strong> 31OTHMAR HICKINGAusstellungen und Katalogezur <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur 1/<strong>2013</strong>Größere Ausstellungen zur religiösen KJL sind selten und eher nur punktuell verbreitet.Um so mehr zu begrüßen war die gelungene Präsentation <strong>Kinder</strong>bibeln. Bildervom Holzschnitt bis zum Comic. Evangelisch – katholisch – jüdisch (01.11.12 –09.02.13). Diese stellte zudem die erste Ausstellung dar, die spezifisch der Illustrationvon <strong>Kinder</strong>bibeln Aufmerksamkeit schenkte, und machte aktuellste Forschungsergebnissezur Illustrationsgeschichte der <strong>Kinder</strong>bibeln der beiden großen christlichen Konfessionensowie des Judentums einem breiten Publikum zugänglich. Die Schau wurdein der Landesbibliothek Oldenburg gezeigt und in Kooperation mit dem Institut <strong>für</strong>Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg realisiert. Kuratorin undVerfasserin des ausstellungsbegleitend erschienenen Kataloges war die promovierteTheologin Prof. Christine Reents (ehem. KH Wuppertal/Bethel), die sich seit langemmit der wissenschaftlichen Erforschung von<strong>Kinder</strong>bibeln beschäftigt, als derzeit führendeKennerin zur Thematik gilt und die Erkenntnisseihrer Forschung 2011 im ersten und grundlegendenHandbuch zum Thema veröffentlichte(Reents, Christine/Melchior, Christoph: DieGeschichte der <strong>Kinder</strong>- und Schulbibel. Evangelisch– katholisch – jüdisch. Göttingen: V&Runipress 2011). Die Ausstellung präsentierte eineexemplarische Auswahl von knapp 100 illustrierten<strong>Kinder</strong>bibeln aus der der Zeit von derVorreformation bis auf die Gegenwart unddeckte damit einen Zeitraum von rd. 500 Jahrenab. Die Exponate, darunter auch viele wertvolleund historische Originale wie etwa LuthersPassional von 1529, das als erste bebilderte<strong>Kinder</strong>bibel gilt, entstammten den Beständender Universitätsbibliothek Oldenburg und wurden ergänzend von verschiedenen institutionellenund privaten Leihgebern zur Verfügung gestellt. Neben der Präsentationund Vermittlung der Geschichte illustrierter <strong>Kinder</strong>bibeln war es erklärte Intention derAusstellung, didaktische Anregungen <strong>für</strong> die schulische und außerschulische religiöseErziehung und Bildung von <strong>Kinder</strong>n zu geben. Diesem Ziel dienten auch verschiedene


32AUSSTELLUNGEN UND KATALOGEmuseumspädagogische Veranstaltungen sowie Fortbildungen speziell <strong>für</strong> Lehrkräfteund Erzieher, die begleitend zur Ausstellung angeboten wurden. Gestaltungsprinzip derAusstellung war die Gliederung in insgesamt 17 bekannte und weniger bekannte biblischeGeschichten in der biblischen Abfolge von der Schöpfungsgeschichte an überKain und Abel, die Zehn Gebote, David und Goliath, der zwölfjährige Jesus im Tempel,Jesus und die <strong>Kinder</strong> bis hin zu Kreuzigung, Auferstehung und Himmelfahrt. DiesenGeschichten und Motiven wurden bildnerische Interpretationen aus den verschiedenenEpochen, Stilrichtungen und berücksichtigten Konfessionen vergleichend zugeordnet.Auf diese Weise vermittelte die Ausstellung ein abwechslungsreiches undstimmiges Bild der Geschichte der illustrativen Bibelinterpretation <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong> katholischen,evangelischen und jüdischen Glaubens im abgesteckten Zeitraum und vomHolzschnitt bis zum Comic. Der ausstellungsbegleitend veröffentlichte und reich mitschwarz-weißen und farbigen Abbildungen ausgestattete Katalog, der mit finanziellerUnterstützung der Oldenburger Bibelgesellschaft realisiert werden konnte, folgt diesemOrdnungsprinzip. Er eröffnet mit Vorwort und Einführung und bringt dann als ersteninhaltlichen Beitrag eine kurze Geschichte der illustrierten <strong>Kinder</strong>bibel und ihrer Entwicklungvon den Vorläufern im Spätmittelalter an über Reformation und katholischeReform, Barock, Romantik, Jugendstil sowie Zeit des Nationalsozialismus bis hin zumStilpluralismus der Gegenwart. Der anschließende Katalogteil gliedert sich in die 17berücksichtigten biblischen Geschichten. Zu jeder sind zur Veranschaulichung der Illustrationsgeschichteexemplarisch Bilder aus allen Epochen und Stilrichtungen undden drei berücksichtigten Glaubensrichtungen abgebildet. Die Textbeiträge liefern Bildinterpretationen,ordnen vergleichend ein und erläutern die unterschiedlichen Illustrationenunter geschichtlichen, religiösen und kunstgeschichtlichen Aspekten. Der beeindruckendeKatalog schließt mit Kurzzusammenfassung sowie Bibliographie der berücksichtigten<strong>Kinder</strong>bibeln. Die ihm beigefügte CD-ROM beinhaltet alle insgesamt101 Illustrationen, die im Katalog abgebildet sind, Bildnachweis und nochmals dieBibliographie der berücksichtigten <strong>Kinder</strong>bibeln.Innerhalb der beeindruckenden Serie von Ausstellungen im Jahr 2012/<strong>2013</strong> zum200. Jubiläum der Erstausgabe des 1. Bandes der <strong>Kinder</strong>- und Hausmärchen der BrüderGrimm im Jahr 1812 nahm die Ausstellung 200 Jahre <strong>Kinder</strong>- und Hausmärchen derBrüder Grimm. Alte Märchen – neu interpretiert (09.12.2012 – 24.03.<strong>2013</strong>) im BrüderGrimm-Haus in Steinau an der Straße eine besondere Position ein. Diese Ausstellungpräsentierte die Märchen des 1. Bandes in der Erstausgabe von 1812 und kontrastiertedie 200 Jahre alten Texte mit deren moderner bildnerischer Interpretation durchden Comic-Zeichner, Cartoonist und Illustrator Klaus Häring (geb. 1963). Häring illustriertealle 84 Märchen sowie die 4 Märchen-Fragmente des 1. Bandes von 1812 neumit originellen und witzigen, farbigen Cartoons – eine Arbeit, die den Künstler von Januar2012 bis Oktober 2012 in Anspruch nahm. Begleitend zur Ausstellung erschienein gelungenes und opulent mit den Zeichnungen von Klaus Häring bebildertes Katalogbuch.Dieses versammelt vollständig einschließlich der Vorrede der Brüder Grimmvom 18. Oktober 1812 die Grimm’schen Märchen der Erstausgabe des 1. Bandes, deram 20.12.1812 im Verlag der Realschul-Buchhandlung in Berlin erschien, (der 2. Bandfolgte am 14.10.1815) originalgetreu in Wortlaut, Rechtschreibung, Zeichensetzungund mit den seinerzeitigen Setzfehlern. Damit erlaubt der Band die Begegnung mit den


Ausstellungen und Kataloge 1/<strong>2013</strong> 33Texten und der Auswahl der Märchen der Grimmschen Sammlung in deren erster Gestalt.Diese war damals zunächst als wissenschaftliche Sammlung <strong>für</strong> Gelehrte gedachtund wurde erst durch die Bearbeitungen, Tilgungen und Modifizierungen der folgendenJahrzehnte zum weltweit verbreiteten <strong>Kinder</strong>-, Jugend- und Volksbuch und zurvielleicht wichtigsten Märchensammlung der Weltliteratur. An dieser Verbreitung hattedie Bebilderung der Ausgaben, die auf die noch unillustrierte Erstausgabe folgten,wesentlichen und ganz entscheidenden Anteil –Klaus Häring führt die Tradition der Bebilderungder Märchensammlung nun neu und immodernen Gewande fort. Der Anhang des Katalogbuchesist dreigeteilt. Burkhard Kling, Leiterdes Steinauer Brüder Grimm-Hauses, gibt inseinem Nachwort informativen und materialreichenÜberblick über die Entstehungsgeschichteder Grimmschen Märchensammlung. Er gehtdabei auch ein auf die ersten europäischen undaußereuropäischen Übersetzungen und Aspekteder weiteren Entwicklung der Sammlung nachErscheinen der Erstausgabe 1812 bis zur kanonischgewordenen Ausgabe letzter Hand von1857. Biografische Notizen zum Künstler KlausHäring sowie ein Verzeichnis relevanter Literaturrunden den gelungen alt mit neu verbindendenBand ab.Nach den beiden zurückliegenden Ausstellungen zu Walter Moers (25.09.2011 –15.01.2012; vgl. <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>, Heft 95, Dezember 2011, S. 71 f.) und zu Ulf K.(28.10.2012 – 13.01.<strong>2013</strong>; vgl. <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>, Heft 97, Dezember 2012, S. 60) setztedie LudwigGalerie Schloss Oberhausen mit Cornelia Funke – Tintenherz, WildeHühner und Gespensterjäger. Die fantastischen Bildwelten von den frühen <strong>Kinder</strong>büchernbis Reckless (20.01.<strong>2013</strong> – 20.05.<strong>2013</strong>) die Reihe ihrer Präsentationen zu bedeutendenVertretern der angewandten Illustrationskunst der Gegenwart überaus beeindruckendfort. Die Ausstellung war gleichzeitig und mit über 200 präsentierten Arbeitenaus allen Schaffensperioden von den ersten und frühesten Illustrationen zufremden und eigenen Texten Ende der 1<strong>98</strong>0er Jahre bis hin zu den aktuellsten Zeichnungenaus Reckless – Lebendige Schatten (2012) die erste umfassende Einzelausstellungzu Cornelia Funke (geb. 1958) im deutschsprachigen Raum überhaupt. Die Ausstellungwurde durch großzügige Leihgaben von Cornelia Funke ermöglicht und warvon zahlreichen attraktiven museumspädagogischen Veranstaltungen begleitet, darunterThemenführungen <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>, Jugendliche und Erwachsene sowie <strong>für</strong> Schule und<strong>Kinder</strong>garten mit jeweils altersgemäß abgestimmten didaktisch-methodischen und gestaltungspraktischenAngeboten. Parallel zeigte das Theater Oberhausen die AufführungGespensterjäger auf eisiger Spur nach dem gleichnamigen Buch von CorneliaFunke aus dem Jahr 1993. 1977 verlässt Cornelia Funke ihre Geburtsstadt Dorsten undzieht nach Hamburg, wo sie 1<strong>98</strong>2 ihr Studium der Sozialpädagogik abschließt. An-


34AUSSTELLUNGEN UND KATALOGEschließend ist sie zunächst im erlernten Beruf als Sozialarbeiterin mit <strong>Kinder</strong>n inHamburg tätig, absolviert aber bereits 1<strong>98</strong>2 – 1<strong>98</strong>5 berufsbegleitend ein Studium <strong>für</strong>Buchillustration an der Fachhochschule <strong>für</strong> Gestaltung in Hamburg und macht sich1<strong>98</strong>6 als Buchillustratorin selbstständig – Startschuss <strong>für</strong> einen bemerkenswerten Entwicklungsgang,der aus Cornelia Funke eine international anerkannte und ungemein erfolgreicheAutorin und Illustratorin machensollte, deren Werke zudem auch mehrfachverfilmt wurden. Am Anfang ihrer Karrierestand die Gestaltung des Umschlagbildeszum Buch von Paula Fox Der Schattentänzer(1<strong>98</strong>7), doch schon 1<strong>98</strong>8 folgte bei Arena ihrerstes selbst geschriebenes und illustriertesBuch Die große Drachensuche, denen bisheute zahlreiche weitere folgen sollten, darunterdie besonders bekannten und erfolgreichenTitel wie Gespensterjäger, Die WildenHühner und die Trilogie Tintenherz(2003), Tintenblut (2005) und Tintentod(2007). Obwohl Cornelia Funke, unzufriedenmit den ihr damals zur Illustration angebotenfremden Texten, sich selbst seit Ende der1<strong>98</strong>0er Jahre primär als Schriftstellerin sieht,hat sie das Illustrieren nie aufgegeben undbebildert bis heute die eigenen Bücher immerwieder selbst, fremde seit 1990 nicht mehr.Während die frühen Illustrationen der Künstlerin,die seit 2005 mit ihrer Familie in LosAngeles/USA lebt, eine auffallend frohe Farbigkeit aufweisen und figurenreich ausgestattetsind, sind <strong>für</strong> die späteren Arbeiten schwarz-weiß gehaltene Tusche-, Feder- undGrafitzeichnungen und kleinere Binnen- sowie kapiteleinleitende Illustrationen kennzeichnend.Der begleitend zur Ausstellung erschienene Katalog ist ein Ereignis: großformatigund opulent mit nahezu 200 Abbildungen ausgestattet stellt er die faszinierendeund facettenreiche Bilderwelt der Cornelia Funke ebenso umfassend wie instruktivvor und verdeutlicht das „Doppelkönnen“ der Künstlerin als Autorin und Illustratorin.Im Anschluss an die einleitenden Gruß- und Vorworte leistet Christine Vogt, Direktorinder LudwigGalerie, in ihrem Beitrag fakten- und kenntnisreich Ein- und Überblicküber die zeichnerische Arbeit, die Bildsprache und die Bilderwelten von CorneliaFunke, die zu ihren zeichnerischen Vorbildern u.a. Klassiker wie John Tenniel oderArthur Rackham zählt, aber auch die Illustrationen von Tripp zu Jim Knopf oder WiklandsIllustrationen zu Büchern von Astrid Lindgren. Christiane Brox analysiert dieAufhebung der traditionellen Geschlechterrollen im Werk von Cornelia Funke und NinaDunkmann bereichert den Katalog um eine ausführliche Biografie der Künstlerin (S.123–133), die deren Leben und Entwicklung schildert und alle wesentlichen biobibliografischenDaten umfasst – bestens. Der Anhang des verdienstvollen Katalogesbietet ein Verzeichnis der Werke von Cornelia Funke, wobei, sehr zu begrüßen, bei den


Ausstellungen und Kataloge 1/<strong>2013</strong> 35von ihr illustrierten Titeln zwischen eigenen und fremden Texten unterschieden wird,sowie ein Verzeichnis relevanter Sekundärliteratur. Im Anschluss an Oberhausen wandertdie beeindruckende Ausstellung weiter und wird im Museum Haus Ludwig inSaarlouis gezeigt (16.11.<strong>2013</strong> – 16.02.2014).Das Troisdorfer Bilderbuchmuseum konzipierte als attraktives Novum innerhalbder Ausstellungslandschaft zur KJL im deutschsprachigen Raum eine breit angelegteAusstellungsreihe über das Verhältnis zwischen Künstlervater und Künstlersohn in derKJL der Gegenwart. Zentrale Fragen, denen die Ausstellungsreihe nachspürt, sind u.a.die nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden, nach Wettstreit und Nachahmungen,nach Abgrenzungen und Fortführungen oder nach Bewunderung und Eifersucht. ZumAuftakt der Reihe, mit der die Troisdorfer unter Leitung von Museumsdirektorin MariaLinsmann erneut ihre innovative Kraft belegen und sich wiederum Alleinstellung inder Museumslandschaft verschaffen, lief als erste Präsentation die Ausstellung Väterund Söhne I – Karl und Nikolaus Heidelbach (24.02.<strong>2013</strong> – 14.04.<strong>2013</strong>). Gezeigtwurden insgesamt rd. 60 Originalbilder und -illustrationen des Malers Karl Heidelbach(1923–1993) und seines Sohnes Nikolaus (geb. 1955), der zu den renommiertestendeutschen Illustratoren der Gegenwart zählt. Die Gegenüberstellung der Werke und dieauch biografische Hintergründe aufzeigenden Erläuterungenvon Nikolaus Heidelbach, der zur Eröffnungpersönlich durch die Ausstellung führte,verdeutlichten Einflüsse und Verbindungen. KarlHeidelbach war nach seinem Studium der Malereian der Städelhochschule in Frankfurt a.M. und ander <strong>Akademie</strong> München in den 1940er Jahren von1956–1973 hauptberuflich als Kunstlehrer imSchuldienst tätig. Dieser sicherte die finanzielleBasis <strong>für</strong> den Unterhalt der kinderreichen Familieund erlaubte es Karl Heidelbach gleichzeitig, alsMaler zu wirken. Seine Werke, die seit 1962 inzahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungengezeigt wurden, sind gekennzeichnet durch dieÜberführung von Menschen, Gegenständen oderAlltagsszenen in eine realistische Bildsprache, dieaber empathisch auf gnadenlose Präzision und jedesezierende Pedanterie verzichtet, jedoch oftsubtil erscheint, manchmal gar beklemmend wirktund von einer desillusionierten Weltsicht zu zeugen scheint – möglicherweise Effektder Erlebnisse Karl Heidelbachs während des Zweiten Weltkrieges und seinerSchwerstverwundung in Stalingrad. Vom Vater hat der Sohn nicht das Malen an sichgelernt, sondern das genaue Hinsehen und den klaren Blick, aber auch Subtilität undIronie – all das zeigt sich in Nikolaus Heidelbachs irritierender und manchmal verstörender,immer aber großartiger Bilderwelt und Bildersprache, die er – anders als seinVater, der in Öl auf Leinwand und vornehmlich großformatig malte, – kleinformatigund überwiegend als Aquarell auf Papier umsetzt. Begleitend zur Ausstellung erschien


36AUSSTELLUNGEN UND KATALOGEein bildreicher und auf Text weitestgehend verzichtender Katalog, der die Exponate inAuswahl in farbiger Abbildung wiedergibt und im Abbildungsverzeichnis mit Titel,Entstehungsjahr, Maltechnik sowie Formatangabe dokumentiert. Im Anschluss an biografischeNotizen zu Karl und Nikolaus Heidelbach bildet der Katalog zum Schluss einebeziehungsreiche Comic-Szene von Shanahan ab. Diese zeigt einen Vater mit erwachsenemSohn beim Strandspaziergang, der Sohn einfühlsam die Hand auf den Rückendes Vaters legend, und ist untertitelt mit Thanks for almost everything, Dad! –dem ist nichts hinzuzufügen. In Fortsetzung der Ausstellungsreihe sind als nächstesPräsentationen geplant zu den Vater-Sohn-Gespannen F. K. Waechter und PhilipWaechter sowie Wolf Erlbruch und Leonard Erlbruch.Die Internationale Jugendbibliothek (IJB) widmete ungewöhnlichen, originellenund künstlerisch außergewöhnlich gestalteten Alphabet- und Zahlenbilderbüchern ausaller Welt die attraktive und aufeinanderbezogene Doppelausstellung Buchstäblichanders. Ausgefallenen Alphabet-Bücher aus aller Welt (noch bis 31.07.<strong>2013</strong>) undEins, fünf, viele. Zahlenspiele im Bilderbuch (01.03.<strong>2013</strong> – 02.06.<strong>2013</strong>). Präsentiertwurde jeweils eine schöne und interessante Auswahl an Bilderbüchern vornehmlich derzurückliegenden rd. 15 Jahre aus den Beständen der IJB. Die Alphabetbuch-Ausstellung, gleichzeitig die Jahresausstellung 2012/<strong>2013</strong> der IJB, war gegliedert indie drei Gruppen Klassische Alphabetbücher, Fantasievolle Buchstaben- und Wortspielesowie Das ABC-Buch als Kunstobjekt. Während in den klassischen ABC-Büchern, die konzeptionell weitestgehend den historischen Vorbildern entsprechen, mitdenen <strong>Kinder</strong>n Lesen und Schreiben beigebracht werden sollte, jedem Buchstaben einoder mehrere Begriffe zugeordnet werden, die mit dem jeweiligen Buchstaben beginnen,– dies oft unter Verwendung eines ganz bestimmten und einheitlichen Themengebietes<strong>für</strong> das ganze Buch, etwa Natur, Länder oder Alltagsgegenstände, ganz beliebtTieralphabete, - wird in den ABC-Buchstaben- und Wortspielbüchern das Spiel mit derSprache und den Lettern anhand von Gedichten, Reimen, Rätseln oder sinnfreien Nonsens-Gestaltungenzum Gegenstand. In den ABC-Buch-Kunstobjekten schließlich tretenSprache und Buchstabe hinter die oft aufwendige ABC-Gestaltung zurück undrückt die künstlerische Buchgestaltung selbst in den Mittelpunkt.Namengebend <strong>für</strong> die Zahlenbilderbuch-Ausstellung war der Bilderbuchklassiker Eins,fünf, viele von Kveta Pacovska (EA: Ravensburger 1990). Diese Ausstellung war inAnalogie zum Ordnungsprinzip der ABC-Buch-Ausstellung gegliedert in die vier Bereiche1, 2, 3, … eine Zählerei. Aufwärtszählen in Bilderbüchern aus aller Welt miteinfachen Zählbilderbüchern zum Erlernen des abstrakten Prinzips des Zählens, oft –wie bei den ABC-Büchern – mit Tieren als Protagonisten, weiter Noch 10 Minuten,dann ab ins Bett. Abwärtszählen in Bilderbüchern aus aller Welt mit originellenRückwärts-Zählbilderbüchern (u.a. Wolf Erlbruchs 10 grüne Heringe), ferner Eins,zwei, drei Tier. Geschichten, Spiele und Reime in Bilderbüchern aus aller Welt mit besonderskreativ gestalteten Bilderbüchern, die die Lust am Spiel mit Zahlen weckensollen (z.B. Sabine Büchner mit Für immer sieben), sowie schließlich Das Hexen-Einmal-Eins. Künstlerisches Spiel mit Zahlen mit außergewöhnlich gestalteten Bilderbüchernzum Thema, darunter Papierkunstobjekte aller Art und raffinierte Pop-up-Bücher.


Ausstellungen und Kataloge 1/<strong>2013</strong> 37Im Unterschied zur ABC-Buch-Aussstellung, zu der leider keine Begleitpublikation erschien(vielleicht entschließen sich die Verantwortlichennoch, eine zu erstellen – Ausstellungund Thematik hätten es verdient),kam zur Zahlenbilderbuch-Ausstellung einereich farbig illustrierte Begleitbroschüre heraus.Diese eröffnet mit Vorwort (ChristianeRaabe) und informativer inhaltlicher Einleitung(Hilde Elisabeth Menzel) und dokumentiertsodann die insgesamt 54 präsentiertenExponate jeweils mit farbiger Abbildung desCovers, allen erforderlichen bibliografischenDaten und inhaltlicher Kurzbeschreibung. EinRegister der Autoren und Illustratoren der inder Ausstellung berücksichtigen Titel beschließtdie gute und sorgfältige Arbeit, dieauch <strong>für</strong> Sammler von Bilderbüchern zurThematik von Interesse und Nutzen ist. Sowohlzur ABC-Buch- wie zur Zahlenbilderbuchausstellunggab es attraktive museumspädagogischeAngebote, darunter Workshops <strong>für</strong>Schulklassen und ein Praxisseminar <strong>für</strong> Literaturpädagogen,Erzieher, Lehrer und interessierte Eltern, in dem Wege und Möglichkeitenaufgezeigt wurden, ästhetisch gestaltete ABC- und Zahlenbilderbücher über ihrebloße didaktische Verzweckung <strong>für</strong> die Literarisierung, Alphabetisierung und das Zahlenlernenvon <strong>Kinder</strong>n hinaus auch <strong>für</strong> kreative Zwecke zuhause und in der Schule einzusetzen.Im Anschluss an die Zahlenbilderbuchausstellung zeigt die IJB in Übernahme vomTroisdorfer Bilderbuchmuseum Burg Wissem die große Werkausstellung Ole Könnecke(07.06.<strong>2013</strong> – 22.09.<strong>2013</strong>) mit Originalillustrationen, Skizzen und freien Arbeitendes Künstlers – Ausstellung und begleitend erschienener Katalog wurden im<strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>n anlässlich der Erstpräsentation in Troisdorf bereits ausführlich gewürdigt(vgl. <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>, Heft 97, Dezember 2012, S. 57).Im Jahr <strong>2013</strong> wurde der Troisdorfer Bilderbuchpreis (begründet 1<strong>98</strong>2) zum inzwischen19. Mal verliehen. Der Preis ist mit insgesamt 7.500 € dotiert, wird alle 2 Jahrevon einer unabhängigen Jury in wechselnder Zusammensetzung vergeben und zeichnetkünstlerisch besonders qualitätvoll gestaltete Bilderbücher aus. Die Jury <strong>2013</strong> (JochenStücke, Barbara von Korff-Schmising, Pauline Liesen; beratend: Ulrike Alsleben undDietlind Keutmann) entschied, einen 1. Preis und zwei 2. Preise zu vergeben. Der 1.Preis ging an den in Hamburg lebenden Illustrator Jonas Lauströer <strong>für</strong> seine Illustrationenzu Reineke, der Fuchs in der Nacherzählung von Renate Raecke (MinEdition2012). Einen der beiden 2. Preise erhielt der japanische Autor und Illustrator KazuakiYamada <strong>für</strong> seine farbflächigen, zarten und überzeugenden Bilder zu Mein roter Ballon(MinEdition 2011), der weitere 2. Preis wurde der bulgarischen und heute in Hei-


38AUSSTELLUNGEN UND KATALOGEdelberg lebenden Illustratorin Stella Dreis <strong>für</strong> ihre ungewöhnlichen und originellenWimmelbuch-Illustrationen zu sieben der bekanntesten und beliebtesten Märchen derBrüder Grimm Grimms Märchenreise (Thienemann 2012) zuerkannt. Neben den dreipreisgekrönten Büchern verblieben sieben weitere in der Endauswahl und erhielten vonder Jury eine lobende Erwähnung (StefanieHarjes: Eine Blattlaus wandert aus, Tulipan2011; Dorota Wünsch: Wie Großvaterschwimmen lernte, Peter Hammer 2011; I-sabel Pin: Wie das Glück zu Rita Ricottakam, Carlsen 2011; Katrin Stangl: Stark wieein Bär, Carlsen 2011; Judith Loske: SadakosKraniche, MinEdition 2011; MatzeDoebele: Pauls Glück, Jacoby & Stuart2011; Einar Turkowski: Als die Häuserheimwärts schwebten, Mixtvision 2012).Der mit 1.000 € dotierte Förderpreis wurde<strong>2013</strong>, wie schon 2011, erneut nicht vergeben,da keine der eingereichten Arbeiten dieJury zu überzeugen vermochte. Traditionellwird seit Gründung des Troisdorfer Bilderbuchpreises1<strong>98</strong>2 neben dem Preis der Erwachsenenjuryauch ein eigener Preis voneiner <strong>Kinder</strong>jury, bestehend aus Viertklässlernaus Troisdorfer Grundschulen, vergeben. Der Preis der <strong>Kinder</strong>jury <strong>2013</strong> ging anSabine Koschier <strong>für</strong> ihre in der Wiedergabe gleichermaßen realistischen wie in derFarbgebung grell verfremdeten Bilder zum Buch Jacky – Ein Orang-Utan sucht denDschungel.Im Anschluss an die Verleihung der Preise am 21.04.<strong>2013</strong>, zu der alle Preisträgerpersönlich anreisten, eröffnete das Troisdorfer Bilderbuchmuseum Burg Wissem dieAusstellung Troisdorfer Bilderbuchpreis <strong>2013</strong> (21.04.<strong>2013</strong> – 23.06.<strong>2013</strong>). Diese zeigtenicht nur Originalillustrationen aus den insgesamt vier preisgewürdigten und siebenlobend erwähnten Büchern, sondern präsentierte auch eine reiche Auswahl von Illustrationsoriginalenaus allen mehr als 100 Arbeiten, die zum Preis eingereicht wordenwaren. Begleitend zur Ausstellung, die wiederum eindrucksvoll einen repräsentativenÜberblick über die aktuelle Bilderbuchillustration im deutschsprachigen Raum vermittelte,erschien ein informativer und reich mit zum Teil ganzseitigen farbigen Abbildungenausgestatteter Katalog. Im Anschluss an das einleitende Vorwort (Pauline Liesen)gibt Mareile Oetken am Beispiel von Rotkäppchen einen fundierten Überblick über dieGeschichte der Märchen-Illustration seit dem 19. Jahrhundert bis heute. Die folgendenvier Beiträge würdigen die einzelnen Preisträger und ihre preisgekrönten Arbeiten (JochenStücke: Jonas Lauströer; Barbara von Korff-Schmising: Kazuaki Yamada; PaulineLiesen: Stella Dreis; Almut Tscheuschner: Sabine Koschier). Zum Abschluss stelltder Katalog die lobend erwähnten Bücher jeweils mit einer ausgewählten farbigen Illustrationvor und bietet sodann eine Gesamtübersicht aller Träger und Titel des TroisdorferBilderbuchpreises seit Gründung 1<strong>98</strong>2 bis einschließlich <strong>2013</strong>.


Ausstellungen und Kataloge 1/<strong>2013</strong> 39Bibliografie der besprochenen Kataloge/MedienInternationale Jugendbibliothek (Hrsg.): Eins, fünf, viele – Zahlenspiele im Bilderbuch.Zusammengestellt von Hilde Elisabeth Menzel. Katalog zur gleichnamigenAusstellung in der Internationalen Jugendbibliothek München v. 01.03.13 –02.06.13. München: Internationale Jugendbibliothek <strong>2013</strong> [44 S., zahlr. fab. Abb.,brosch., 4,- €]Kling, Burkhard (Hrsg.): Die <strong>Kinder</strong>- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Die Märchender Erstausgabe von 1812. Mit Illustrationen von Klaus Häring. Begleitbuchzur Ausstellung „Alte Märchen – neu interpretiert“ v. 09.12.12 – 24.03.13 im BrüderGrimm-Haus Steinau an der Straße anlässlich des 200. Jubiläums der Herausgabeder <strong>Kinder</strong>- und Hausmärchen durch die Brüder Grimm. Worms: WernerscheVerlagsgesellschaft 2012 [318 S., zahlr. farb. Abb., geb., Hardcover, 29,80 €]Liesen, Pauline (Hrsg.): Troisdorfer Bilderbuchpreis <strong>2013</strong>. Begleitkatalog zur gleichnamigenAusstellung in Burg Wissem – Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf v.21.04.13 - 23.06.13. Mit Beiträgen von Barbara von Korff Schmising, Pauline Liesen,Mareile Oetken, Jochen Stücke und Almut Tscheuschner. Troisdorf: Burg Wissem– Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf <strong>2013</strong> [36 S., zahlr. farb. Abb., brosch.15,- €]Linsmann, Maria/Liesen, Pauline (Hrsg.): Väter und Söhne Vol. 1: Karl Heidelbach &Nikolaus Heidelbach. Begleitkatalog zur gleichnamigen Ausstellung in Burg Wissem– Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf v. 24.02.13 – 14.04.13. Troisdorf:Burg Wissem – Bilderbuchmuseum der Stadt Troisdorf <strong>2013</strong> [36 S., zahlr. farb.Abb., brosch. 15,- €]Reents, Christine: <strong>Kinder</strong>bibeln. Bilder vom Holzschnitt bis zum Comic. Evangelisch –Katholisch – Jüdisch. Katalog zur Ausstellung in der Landesbibliothek Oldenburgv. 01.11.12 – 09.02.13. Oldenburg: Isensee 2012. [Schriften der LandesbibliothekOldenburg; Bd. 56] [112 S., zahlr. s/w u. farb. Abb u. 1 CD-ROM, brosch., 12,- €]Vogt, Christine (Hrsg.): Cornelia Funke – Tintenherz, Wilde Hühner und Gespensterjäger.Die fantastischen Bildwelten von den frühen <strong>Kinder</strong>büchern bis Reckless.Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung in der LUDWIGGALERIE SchlossOberhausen v. 20.01.13 – 20.05.13 und im MUSEUM HAUS LUDWIG Saarlouisv. 16.11.13 – 16.02.14. Mit Beiträgen von Christiane Brox, Nina Dunkmann u.Christine Vogt. Bielefeld: Kerber <strong>2013</strong> [180 S., zahlr. s/w u. farb. Abb., geb., Hardcover,farb. SU, 29,80 €]


40REZENSIONENDIETRICH GRÜNEWALDTiere sind auch nur Menschen –bitterböse KurzgeschichtenWenn die Bibel davon erzählt, dass Noah aufgetragen wurde, auch die Tiere vor derSintflut zu retten, so zeugt das von der Wertschätzung Gottes <strong>für</strong> sie. Dass wir Menschenzu unseren Rettungsschiffpartnern ein problematisches Verhältnis haben, zeigtsich im Spagat zwischen ihrer Verwertung als Kuscheltier oder Schlachtopfer. Nun,auch manche Tiere sehen Tiere (und aus diesem Blick sind wir Menschen natürlichauch Tiere) als verwertbare Nahrung – doch was hier natürlicher Trieb ist, hat derMensch zum bösartigen Spiel mit allen Varianten von Täuschung, Massenhaltung biszu Quälereien erweitert. Dieses bösartige Spiel stellt uns Oliver Ottitsch ungeschminktvor Augen. Der Grazer Cartoonist macht das nicht als moralische Bußpredigt undschockierend-provozierende Aufklärung – er macht das hinterlistig als ironisch-bissigerSatiriker, der uns zwingt, das ausgekitzelte Lachen gleich wieder einzufrieren, sobaldwir ein wenig darüber nachdenken, was er uns da zumutet. Denn die Bilder zu Menschund Tier oder auch nur aus dem Tierleben spiegeln – ganz in der Fabeltradition –letztlich unser menschliches Treiben und Denken, tierisch verfremdet.Das fängt schon mit dem Titelbild an: Ottitisch dekuvriert die eigentliche MotivationNoahs, denn die Tierpaare, die seine Arche betreten, verlassen sie auf der anderen Seitewohl verpackt als Fleischware. Nur gerecht, wenn die Tiere den Spieß umdrehen: da bringtder Klapperstorch das neugeborene Menschenkind als Nahrung seiner wartenden Brut insNest, entschuldigt sich der Hai bei seinem Menschenopfer, dass er schließlich auch eineFamilie zu ernähren habe, suchen andere Haie angesichts eines abgestürzten Flugzeuges imWasser nach einem Dosenöffner, sind die Schafe drauf und dran den Schäfer zu scheren…Und sie haben ja auch recht: wenn der Masseur seinen Huhnpatienten behandelt, stehenschon ahnungsvoll Schalen mit Ei, Mehl und Brösel bereit. Jede Zeichnung stellt einekleine Geschichte dar – der Betrachter wird animiert, das Davor und Danach des Gezeigtenim Kopf zu ergänzen, die starren Figuren, die durch die Karikatur-Übertreibung äußerstausdrucksstark wirken, zu verlebendigen. Ottitsch setzt dabei auf Vorwissen, das unsererAlltagserfahrung entstammt, aber auch aus Literatur und Film, wie z.B. Moby Dick,Märchen oder Psycho, angeregt ist und assoziativ mit dem Gezeigten verbunden wird. Erspielt mit der Sprache („in der Schlange stehen“ nimmt er <strong>für</strong> die von ihrHeruntergeschlungenen wörtlich) oder visuellen Signets (die Schlange in der Stripbar <strong>für</strong>Apotheker präsentiert sich wie im bekannten A-Signet) oder verlässt sich ganz auf dasGezeigte und die so animierte Kreativität des Betrachters (während ein Herrchen seinenHund an der Leine ausführt, reicht die Leine eines anderen in den Himmel – was er da hält,bleibt unserer Fantasie überlassen).


Rezensionen 41Die Cartoons sind mal witzig (wenn der Telefonhörer des Schweinchens mit seinemRingelschwanz verbunden ist), mal frivol (wenn die Kuh denkt, der sie künstlichbesamende Arzt hätte sie wenigsten vorher zum Essen einladen können), mal sarkastisch(wenn sich der Menschenfresser beim Krokodil erkundigt, ob es den übergelassenenRest Mensch noch essen wolle), mal grausam böse (wenn gezeigt wird, dass dieEinhörner deshalb ausstarben, weil sie ihre Grillwürstchen auf ihr Einhorn piekstenund dann Feuer fingen und verbrannten). Schwarzen Humor kennzeichnet so mancheZeichnung: die fleischfressenden Eichhörnchen,die eine alte Oma entsorgen,die Schweinemami, die zu ihrem Sprößling,der sich verbrannt hat, nur meint:das riecht ja köstlich. Die Beispielemachen deutlich: das ist kein <strong>Kinder</strong>bilderbuch;aber <strong>für</strong> Jugendliche undErwachsene, die diese skurrilen undsarkastischen gezeichneten Kurzgeschichtenmit genüsslich-schaudernderDistanz zu goutieren wissen, sind sieauch Angebot, ihre Verfremdung undSymbolik zu durchschauen und sie alsprovokantes Denkangebot zu verstehen –über das Verhältnis von „Tier und Wir“.Oliver Ottitsch: Noahs Fleischwaren.Cartoons zum Tier & Wir. Wien: Holzbaum<strong>2013</strong>. ISBN 3950309799. 96 S.,14,95 €.Seit Jahren sammelt Hans Ritz (d.i. Ulrich Erckenbrecht) Ursprünge, Variantenund Parodien des Märchens vom Rotkäppchen. Im Frühjahr <strong>2013</strong> ist die aktuelleAuflage des ebenso informativen wie vergnüglichen Buches erschienen.Hans Ritz: Die Geschichte vom Rotkäppchen. Ursprünge, Analysen,Parodien eines Märchens. 15. abermals erweiterte Auflage. Kassel: Muriverlag<strong>2013</strong>. ISBN978-3922494-10-2. 296 S., 10,00 €.


42REZENSIONENROLF KOPPE 1Jesus von NazaretZum gleichnamigen Jugendbuch von Alois PrinzDas Buch ist eine Entdeckung. Nicht wegen seines Titels, sondern wegen des Inhaltsund seines Verfassers. Schon dem umfangreichen Literaturverzeichnis merkt man an,wie kenntnisreich der Laientheologe die primären Quellen, die zahlreichen sekundärenexegetischen und systematischen Bücher – von Eduard Lohse bis Joseph Ratzinger/BenedictXVI. (leider fehlt das Jesusbuch des emeritierten Göttinger SystematikersJoachim Ringleben aus dem Jahr 2008) – sowie viele aktuelle Internetseiten, Zeitungenund literarische Darstellungen zu Rate gezogen hat, um dieses Buch schreiben zu können.Es geht Alois Prinz um das, was wir vom historischen Jesus und was wir vom geglaubtenChristus wissen können. Er sagt programmatisch: „Jesus ist das Dynamit, dasdie Kirche und das Christentum vor Erstarrung bewahrt. […] Er war immer anders,tiefer und größer als die Bilder, mit denen ihn die Menschen festlegen wollten. […] Insofernist Jesus eine stete Herausforderung – und damit auch eine Aufforderung an uns,auch von uns selbst größer, „göttlicher“ zu denken.“ (Einleitung, S.16)Dieser Formulierung ist insofern zuzustimmen, als sich Christen häufig „vor derWelt“ zu klein machen. Andererseits ist sie – trotz der Anführungszeichen bei demWort „göttlich“ – abzulehnen, weil der Mensch nicht „von sich göttlicher denken“sollte. Auch deshalb nicht, weil er – jedenfalls nach evangelischem Verständnis – nicht„göttlicher“ werden kann. Aber das sei nur am Rande bemerkt.Um den inneren Zusammenhang zwischen den historischen Fakten und den ausdem Glauben heraus erfolgten Deutungen geht es dem Verfasser. Bei der Darstellungdes Weges Jesu – vom Jordan bis nach Emmaus – orientiert er sich nicht nur an denneutestamentlichen Geschichten, sondern zitiert auch bekannte Theologen und Philosophenwie Paul Tillich, Blaise Pascal oder Friedrich Nietzsche und Dichter wie FjodorDostojewski oder Hermann Hesse und Schriftsteller wie Michael Ende oder DanBrown mit dem Ziel, eine Reflexionsebene einzuziehen. Das Buch bekommt dadurcheinen gelehrten Charakter, ohne dass Bezüge oder Zitate ,hergeholt’ wirken. Es setztaber dadurch einen höheren Bildungsstand voraus, nicht nur was die Philosophie, sondernauch was die Geographie betrifft, denn eine entsprechende Karte des HeiligenLandes fehlt leider in dem Buch.1 Dr. h.c. Rolf Koppe (Göttingen) ist Auslandsbischof der Evangelischen Kirche em. und hatseit 2008 einen Lehrauftrag <strong>für</strong> Systematische Theologie am Evangelischen Institut derUniversität Kassel.


Rezensionen 43Als Leser stelle ich mir Oberstufenschüler oder Erwachsene in Bildungseinrichtungenvor, aber auch Studierende der Religionspädagogik oder der Theologie. Ferner theologischeLaien ohne Ansehen der Konfession. Denn das Buch atmet den Geist der Ökumeneauch im Blick auf ein kontroverses exegetisches Problem wie dem des Petrusamtes.Etwas befremdlich wirkt allerdings in dem Zusammenhang die Parallelisierung derVerkündigung des Engels Gabriel an Maria in dem kleinen Städtchen Nazaret (bewusstso nach den Loccumer Regeln zitiert) mit der Ankunft von Papst Benedict XVI. mitdem Helicopter am 4. Mai 2009 eben dort (S. 43). „Im Papamobil fuhr er durch die jubelndeMenge zu einer gigantischen überdachten Bühne, wo er eine Messe hielt“. Dasist übrigens die einzige Stelle, an der man merkt, dass der Autor eine deutliche Nähezur römisch-katholischen Kirche hat, sonst vermutet man eher einen liberalen evangelischenHeinz Zahrnt redivivus in ihm, dessen Jesusbuch von 1<strong>98</strong>7 er ebenso selbstverständlichaufführt wie das gemeinschaftlich verfasste Buch zu Jesus von Nazaret (!)von Dorothee Sölle und Luise Schottroff aus dem Jahr 2000 (7. Aufl. 2010).Alois Prinz ist in einer großen Familie in Niederbayern geboren worden. Er studiertein München Germanistik, Politologie, Philosophie und Kommunikationswissenschaften.Nach der Promotion arbeitete er als Journalist und veröffentlichte als freierAutor u.a. Bücher über Franz Kafka, den Apostel Paulus und Georg Forster. Für seinBuch über Hannah Arendt erhielt er 2001 den Evangelischen Buchpreis und <strong>für</strong> seinBuch über Ulrike Meinhof 2004 den <strong>Deutsche</strong>n Jugendliteraturpreis. Prinz lebt mitseiner Familie in Feldkirchen-Westerham am Stadtrand von München.Der 1958 geborene Prinz geht nicht distanziert oder entlarvend mit dem bekanntenStoff um, sondern unterhaltsam belehrend. Aber im Unterschied zu vielen thematischorientierten Fernsehsendungen wie z.B. Terra-X oder den thematischen Zeit- oderSpiegel-Heften (auch über Jesus von Nazareth) spürt der Leser den persönlichen christlichenGlauben des Autors und das Bestreben, auch der kirchlichen Lehre gerecht zuwerden. Man lese nur die Erklärung der sperrigen Zweinaturenlehre, wie sie als „wahrerMensch und wahrer Gott“ auf dem Konzil von Chalkedon formuliert worden ist.Prinz reduziert nicht, sondern er interpretiert:Er, der sich ‚Menschensohn’ nannte, hat vorgelebt, wie ein Dasein im absolutenVertrauen auf die göttliche Liebe aussehen kann. Dieses Leben bleibt <strong>für</strong> alle Zeitendas Vorbild <strong>für</strong> alle, die dem ‚Menschensohn’ nachfolgen wollen. Nachfolge bedeutetmithin, die innere Freiheit zu gewinnen, wie Jesus sie besaß, und die Mitmenschlichkeitzu praktizieren, wie er sie geübt hat. (S. 12 ff.)Die dogmatische Formel, die „weniger eine Lösung als eine Aufgabe“ ist, diene dazu,den „ maßgebenden Menschen“ (Karl Jaspers) in paradoxer Weise zu beschreiben.„Jesus ist somit das ,Dynamit’, das die Kirche und das Christentum vor Erstarrung bewahrt.“(S. 16)Ich kann das Buch auch denen empfehlen, die meinen, schon alles über Jesus zuwissen. Den Bezug auf die neuesten archäologischen Funde kann ich allerdings nichtbeurteilen. „Betanien“ mit „Bootshausen“ zu übersetzen, ist zumindest gewöhnungsbedürftig.Allerdings kann man gut nachvollziehen, dass „Kafarnaum“ aus mehreren„Wohninseln“ bestand: „kleine, aneinander gebaute Häuser, die durch enge Innenhöfe


44REZENSIONENund Durchgänge verbunden waren“ ( S. 109). Dort wollen einige Archäologen auch dasHaus des Petrus gefunden habe, in das auch Jesus ein- und ausgegangen ist. Der „Bauhandwerker“Josef dürfte Jesus die Errichtung solcher Häuser gelehrt haben, aber Jesusist zur Verwunderung seiner Familie lieber in die Synagoge gegangen, um sich mit denSchriftgelehrten darüber zu streiten, was der Wille seines himmlischen Vaters ist. Esgeht ihm um das richtige Leben, um das Vertrauen auf Gott, den Vater.Aber wieso musste „der liebevollste Mensch“ sterben? „Allmählich begannen (dieJünger) die Worte Jesu zu verstehen und was es mit seinem Tod auf sich hatte.“ (S.208) Auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus erzählen Kleopas und sein Freundvon Jesu Leben und Sterben. „Der Fremde“ bricht das Brot und gibt es seinen Begleitern.„Da plötzlich geht ihnen ein Licht auf. Sie erkennen Jesus. Aber im gleichenMoment sehen sie ihn nicht mehr.“ Zurück in Jerusalem, sind die Emmausjünger angesichtsder Verzagtheit von Petrus und den anderen Jüngern auf dem besten Weg, „hoffnungsloseRealisten zu werden oder sogar Zyniker“. Der Erzähler Prinz gibt die christlicheAntwort aus der Perspektive der ersten Männer und Frauen, die Jesus mit „brennendemHerzen“ suchen. Die Auferstehung Jesu ist ein „geistiges Erlebnis“, aber nichtnur ein subjektives. Der Auferstandene wird von den Verfassern der Evangelien wie einMensch aus Fleisch und Blut geschildert, der aber wie ein Geist auftauchen und verschwindenkann. […] Auferstehung ist an Bereitschaft und Offenheit gebunden, die zuGlauben werden können.“ ( S. 218)Etwa 25 Jahre später berichtet der Apostel Paulus im 1. Korintherbrief von seinemGlaubenserlebnis und dem der 500 anderenJünger. Zentral wird von nun an der Glaube,dass die Menschen mit Gott versöhnt sind.Oder mit Paul Tillich gesprochen, dass „derSieg der Neuen Wirklichkeit […] die Machtdes Neuen Seins ist“. Zum Schluss maltPrinz dem Leser das Gemälde Verleumdungdes Petrus von Rembrandt vor Augen, aufdem Jesu Blick an Petrus vorbei auf den Betrachterdes Bildes fällt. „Nicht die Schuldist es, die ihn (den Betrachter wie Petrus)zusammenbrechen lässt, sondern die Vergebung– und eine Tiefe der Liebe, die überalle Vorstellungen hinausgeht“. ( S. 223)Mit dieser tröstlichen Perspektive schließtdas Buch, das weit mehr ist als ein historischerBericht über Jesus von Nazaret.Prinz, Alois: Jesus von Nazaret. Stuttgart:Gabriel, Thienemann <strong>2013</strong>, 238 S., 16,50 €(auch als eBook und 3 Audio CDs erhältlich;ISBN 352263036)


Rezensionen 45FRANZ-JOSEF PAYRHUBERAufgelesen – ausgelesen 1/<strong>2013</strong>BilderbuchDer Katze geht es gut. Sie liegt auf ihrem Ast und genießt die Aussicht. Der Hund sitztangeleint am Baum und wartet auf seinen Herrn. Warum er das tut, versteht die Katzenicht und fragt sich, warum er sich nicht losreißt und wegläuft. Wozu braucht er überhaupteinen Herrn? Sie selbst brauche jedenfalls keinen, meint sie. Aber es interessiertsie doch, wie es bei den anderen Tieren ist, bei der klugen Eule zum Beispiel, demschlauen Fuchs, den Mäusen oder dem bunten Schmetterling. Eine Antwort bekommtsie von ihnen jedoch nicht. Und der Behauptung der Motte, dass es einen „Herrn vonallen“ gibt, glaubt sie schon gar nicht. Sie begreift sie selbst dann nicht, als sie sich anihr selbst bestätigt: Ein Menschenkind befiehlt die Herumstreunende zurück ins Haus.Die in vierzehn Episoden erzählte Fabel wirft große philosophische Fragen nach demDasein auf, allen voran die existentielle Frage nachder Freiheit. Beim (Vor-)Lesen und Betrachten könnenErwachsene und <strong>Kinder</strong> darüber erkenntnisförderndmiteinander sprechen. Die Gestaltung des Buchesleistet hier<strong>für</strong> noch einen ganz eigenständigen,wirkungsvollen Beitrag. Großflächige holz- bzw. linolschnittartigeSchwarz-Weiß-Illustrationen und derabwechselnd im Positiv- und Negativ-Verfahren gesetzteText geben dem Buch sein besonderes Gepräge.Bart Moeyaert: Wer ist hier der Chef? Mit Bildernvon Katrien Matthys. Aus dem Niederländischen vonMirjam Pressler. München: Carl Hanser <strong>2013</strong>. ISBN978-3-446-24174-9. [ca. 64 S.] unpaginiert, 12,90 €.Erzählungen und RomaneElla und ihre sechs Freundinnen und Freunde sind auf den ersten Blick ganz normaleZweitklässer, in Wahrheit aber richtet diese Clique mit unfreiwilliger Komik mancherleiChaos an, obwohl sie es meist nur gut mit den anderen meint, zuallererst mit ihremLehrer. Sechs Bände hat der Finne Timo Parvela, der selbst lange und gerne Lehrerwar, bevor er Schriftsteller wurde, mit heiter-absurden Geschichten aus dem Schullebenbisher gefüllt. Der hier nun vorliegende siebte Band der Reihe nennt schon im Titeldie Ursache neuer Verwicklungen. Eigentlich ist Paavo, der Neue in der Klasse, ja ganznett, aber er will in allem der Größte sein. Jetzt behauptet er auch noch, sein Vater sei


46REZENSIONENein berühmter Filmregisseur. Timo, einer aus Ellas Clique, nimmt ihm dies jedochnicht ab und wettet, dass er sich das nur ausgedacht hat. Der Einsatz ist das Kostbarste,was die <strong>Kinder</strong> einander zu bieten haben: Ein Platz auf dem Felsen gegenüber demHaus ihres Lehrers. Paavo willigt ein, und so macht sich die Clique am Samstag vorVatertag – er findet in Finnland am zweiten Sonntag im November statt – auf den Wegin die Stadt. Bereits die Bahnfahrt ist voller Überraschungen, sie ist aber nur der Auftakteiner Folge komisch-phantastischer Erlebnisse, die den <strong>Kinder</strong>n in der Stadt widerfährt.Paavo ist plötzlich verschwunden, und die einzige Spur, die er hinterlässt, sinddie Vatertagskarten, die er in der Schule gebastelt hat. Wie auf einer Schnitzeljagd verfolgtihn die Gruppe über mehrere Stationen, um ihn zuletzt in einem Fernsehstudiowiederzufinden – zusammen mit seinem Vater. Anders als es bei einem Aufschneiderwie Paavo erwartbar wäre, zeigt er sich als Gewinner derWette aber sehr fair: Er wird den Platz auf dem Felsennicht allein beanspruchen, ihn vielmehr mit Timo teilen.Der Lehrer als der gewissermaßen ‚natürliche’ Widerpartder Schülergruppe und Auslöser vieler lustiger Begebenheitenkommt diesmal nur am Rande vor. Aber auch soverfügt der Autor noch über reichlich Sprachwitz, Ironieund Situationskomik, dass auch dieser Band vergnüglichzu lesen ist.Timo Parvela: Ella und der Neue in der Klasse. Ausdem Finnischen von Anu und Nina Stohner. Mit Bildernvon Sabine Wilharm. München: Hanser 2012. ISBN 978-3-446-24176-3. 160 S., 9,90 €.Von einem Jungen, der neu in eine Klasse kommt, handelt auch die in Südafrikaspielende Erzählung Tommy Mütze. Der Spitzname „Mütze“ des Protagonisten deutetdarauf hin, dass er eine merkwürdige Schimütze trägt, die nur die Augen frei lässt unddie er weder im Unterricht noch beim Sport auszieht. Selbst die beiden Freunde Dumisaniund Doogal, alias Doo-Dudes, die Leitfiguren der vierten Klasse, die sonst nie umeine Idee verlegen sind, sind darüber erst einmal sprachlos. Aber nicht nur sie rätselnüber die Gründe <strong>für</strong> Tommys seltsame Kopfbedeckung, wilde Spekulationen machendie Runde, und bald schon ist die ganze Schule in Aufruhr. Die Spannung steigt eineWoche lang von Tag zu Tag, aber erst am Freitag lüftet sich das Geheimnis. WeilTommy wegen des mehrfachen Arbeitsplatzwechsels seines Vaters innerhalb kürzesterZeit sieben Mal an verschiedenen Schulen „der Neue“ war und weil es seiner leidvollenErfahrung nach „absolut tödlich“ ist, der Neue zu sein, „weil dich dann jeder anstarrtund hinter deinem Rücken flüstert und du dich ausgeschlossen und alleine fühlst“(S. 75), kam er an seiner letzten Schule auf die Idee mit der Mütze – und die Wirkungwar „unglaublich“ (ebd.). Positiv! Tommy fühlte sich plötzlich nicht mehr so schrecklich„neu“. War die Überraschung der Klasse bei dieser Erklärung schon groß, so steigertesie sich noch, als Tommy die Mütze abnahm und darunter Gesicht und Haarschopfeines Mädchens hervorkam. Sie heiße eigentlich Thomasina Karen, bekenntdieses schuldbewusst, weil es die Verwechslung nicht von Anfang an aufgeklärt habe,


Rezensionen 47aber ihre Familie nenne sie Tommy. Diese unerwarteteWendung des Geschehens passt gut zu dem Gesamttenorder Geschichte. Die heute in Botswana lebende Autorin,die in ihrer Kindheit noch die Apartheid in Südafrika miterlebte,erzählt vergnüglich und spannend, und ihr engagiertesPlädoyer <strong>für</strong> Vielfalt und Toleranz überzeugt obseiner Unaufdringlichkeit.Zu diesem Titel sind – unter www.baobabbooks.ch – kostenloseUnterrichtsmaterialien erhältlich.Jenny Robson: Tommy Mütze. Eine Erzählung aus Südafrika.Aus dem Englischen von Barbara Brennwald. Basel:Baobab Books 2012. ISBN 978-3-905804-39-3. 84S., 15,90 €.Bei cbj München ist in diesem Frühjahr eine Neuausgabe von Willi Fährmanns KlassikerJakob und seine Freunde erschienen. Mit neuen Illustrationen ausgestattet, imText ansonsten unverändert, handelt dieses <strong>Kinder</strong>buch auf den ersten Blick von derDohle Jakob, im Eigentlichen aber ist es die Geschichte des kleinen Simon, der an Epilepsieerkrankt ist. Simon verfügt über ein ausgeprägtes Erzähltalent, und zu seinemRepertoire gehören vor allem Dohlengeschichten, die durch die der Familie Goseweitzugeflogene Dohle Jakob evoziert werden. Die Geschichten ebnen dem Jungen denWeg zu seiner Mitschülerin Marie und deren Familie, begründen Freundschaft und Toleranz.Anfangs ist Simon eine Außenseiterfigur, bedingt durch seine Herkunft und seineKrankheit. Er ist mit seiner großen Familie aus Kasachstan gekommen, und in derSchule wie in der Nachbarschaft gibt es viele Vorurteile gegenüber Aussiedlern. Simonmuss besonders leiden, weil er auch Epileptiker ist. Je besser sich die <strong>Kinder</strong> und ihreFamilien kennenlernen, um so mehr schwindet jedoch das Misstrauen. Maries Muttersetzt sich schließlich da<strong>für</strong> ein, dass der Junge in einer Klinik Hilfe findet und sich ihmsomit eine hoffnungsvolle Perspektive öffnet.In Jakob und seine Freunde präsentiert der MeistererzählerWilli Fährmann nicht nur eine mitreißende Geschichteüber Toleranz und Mitgefühl, das Buch hat auchschon lange einen festen Platz, wenn man nach Büchernzum Thema Epilepsie sucht. Bereits die bisherige Ausgabeenthielt ein informatives Interview über die Krankheitmit einem Facharzt, die Neuausgabe ist nun nochum aktuelle Literaturhinweise, Internet-Links und dasNachwort eines Heidelberger Neurologen „an die etwasälteren Leser“ ergänzt.Willi Fährmann: Jakob und seine Freunde. Mit Illustrationenvon Daniela Chudzinski. München: cbj <strong>2013</strong>(cbj-Taschenbuch; 22377). ISBN 978-3-570-22377-2.160 S., 5,99 €.


48REZENSIONENAls die siebzehnjährige Allesandra ihre Mutter verliert und allein mit der Nonna, ihrerGroßmutter, zurückbleibt, entwickelt sie sich zu einer Einzelgängerin. Sie zieht sich zurück,selbst mit ihrer besten Freundin kann sie nicht mehr unbefangen reden. Die Lücke,die ihre Mutter in ihrem Leben hinterlassen hat, ist zu groß, um einfach zum Alltag überzugehen.In ihrer Schulklasse sucht sich Alessandra einen neuen Platz in der letzten Reihe,wo nichts und niemand ihre zerbrechlichen, zärtlich-schmerzhaften Erinnerungen stört,schon gar nicht ihr schweigsamer Banknachbar Gabriele, genannt Zero. In dem scheinbarenKlassen-Loser, der sie ebenso ignoriert wie den Unterricht und nur vormittagelang aufseinem Allzweckblock herumkritzelt, entdeckt sie jedoch bald einen begnadeten Zeichnerund erkennt, dass sich hinter seiner verschlossenen Miene sehr viel mehr Einfühlungsvermögenverbirgt als bei den meisten ihrer Mitschüler. Allmählich bricht das Eis zwischenden beiden Außenseitern. Aus vorsichtiger Zuneigung entwickelt sich eine zarte Liebe, diejedoch immer wieder erschüttert wird und an einem Missverständnis beinahe zerbrochenwäre. Aber Gabriele hat, wie sich später herausstellt, nicht nur wegen Alessandra die Schulekurz vor dem Abitur verlassen und ist unbekannt verzogen, er wollte seinen eigenständigenWeg gehen. So ist er es auch, der aus der Ferne wieder den Kontakt zu ihr sucht: Erschickt ihr jeden Monat eine Zeichnung.Die Ich-Erzählerin Alessandra lässt ihre Leserinnen und Leser sehr unmittelbar an derErfahrung ihres unerträglichen, sie in ihrer Existenzerschütternden Verlustes teilhaben und bezieht sieein in den Bann einer zarten, linkischen, vielleichtunmöglichen Liebe. Die gewählte Form des Tagebuchs,die ja eigentlich sehr Intimem vorbehaltenist, erweist sich da<strong>für</strong> sehr angemessen. „Ich spüre,wie du zugleich abwesend und gegenwärtig bist“,schreibt Alessandra einmal in Erinnerung an dieMutter. Es ist ein zentraler Satz, der auch auf ihreBeziehung zu Gabriele passt und etwas von der Poesieerahnen lässt, die diesen lesenswerten Adoleszenzromanauszeichnet.Paola Predicatori: Der Regen in deinem Zimmer.Roman. Aus dem Italienischen von Verenavon Koskull. Berlin: Aufbau 2012. ISBN 978-3-351-03520-4. 238 S., 16,99 €.Auch der Debütroman der Argentinierin Inés Garland Wie ein unsichtbares Band erzählt dieGeschichte eines Verlustes, diesmal ist es aber nicht der Tod der Mutter, der zu verkraften ist,sondern der durch politische Gewalt verursachte Tod der ersten großen Liebe der Ich-Erzählerin Alma. Der Roman spielt in Argentinien vor dem Hintergrund der aufkommendenMilitärdiktatur in den 1970er Jahren. Alma verbringt mit ihren Eltern jedes Wochenende aufeiner Insel in der Nähe von Buenos Aires. Nur ein Fluss trennt ihr Wochenendhaus von denHäusern der Nachbarn. Ebenso wie das Land teilt er aber auch die Gesellschaft: WährendAlma unter der Woche eine katholische Privatschule in Buenos Aires besucht, leben die Ge-


Rezensionen 49schwister Carmen und Marito bei ihrer Großmutter und ihren Onkeln, seitdem sie von ihrenEltern verlassen wurden. Am Wochenende auf der Insel scheint die Welt noch in Ordnungund die sozialen Unterschiede scheinen keine Rolle zu spielen. Doch die <strong>Kinder</strong> werden älter,werden erwachsener und mit ihnen selbst wandelt sich auch ihre Freundschaft, zum einen inVerrat, zum anderen in Liebe: Alma verliert Carmen, weil sie sich beim Fest einer reichenSchulkameradin nicht zu ihr bekennt, und gleichzeitig findet sie in Marito ihre große Liebe.Durch den Militärputsch 1976 werden die Freunde endgültig aus dem Paradies ihrerKindheit vertrieben. Mit großem erzählerischen Geschick verbindet die Autorin dieEinzelschicksale ihrer Protagonisten mit dem historischen Geschehen. Weil sie aberkonsequent die Perspektive der siebzehnjährigen Alma beibehält, die durch ihr sozialesUmfeld und insbesondere durch ihre Eltern von der harten Realität des Terrors abgeschirmtist, werden die damaligen politischen Ereignisse in Argentinien nur als Hintergrundangedeutet. Die Gründe, warum Marito nach der ersten und einzigen Liebesnachtmit Alma spurlos verschwindet, und warum die schwangere Carmen plötzlichUnterschlupf bei ihr sucht, lassen sich nur erahnen. Zusammen mit der Ich-Erzählerinerfahren die Leserinnen und Leser aber doch, dass nicht nur Carmens Onkel und Carmenselbst zu Gewaltopfern wurden, sondern auch Marito von den Schergen der Militärdiktaturmisshandelt, verschleppt und ermordet wurde.Mit beeindruckender sprachlicher Präzision und psychologischer Sensibilität schildertdie Autorin eine Kindheit und Adoleszenz unter besonderen historischen Bedingungen.Der Schauplatz am Fluss gewinnt dabei symbolische Bedeutung: Vor der Flut,die die Häuser immer wieder heimsucht schützen sich die Menschen, indem sie ihreHäuser auf Pfähle stellen. Das legt die Frage nahe, ob sie sich auch vor den Folgen desMilitärputsches hätten schützen können, etwa durch rechtzeitiges Hin- statt Wegschauen.Die Autorin tut aber gut daran, die Antwort offenzu lassen und auf Schuldzuweisungen zu verzichten.Der Epilog gewährt einen vorsichtig positivenAusblick. 30 Jahre später kommen die überlebendenFreunde und Angehörige mit Carmens Sohn Ariel zusammen,um mit ihm Erinnerungsarbeit zu leisten. Sietreffen sich, um „das Leben [zu] feiern“. In den Wortender Ich-Erzählerin: „Ich will feiern, dass es dieLiebe zwischen Carmen, Marito und mir gegeben hat.Ich will feiern, dass wir Ariel gefunden haben.“ (S.248)Inés Garland: Wie ein unsichtbares Band. Ausdem argentinischen Spanisch von Ilse Layer.Frankfurt a.M.: Fischer KJB <strong>2013</strong>. ISBN 978-3-596-85489-9. 252 S., 14,99 €.Argentinien ist auch Schauplatz in Jürgen Seidels spannendem Roman Das Paradies derTäter. Er ist der dritte Teil einer offen angelegten Trilogie, zu der noch Blumen <strong>für</strong> denFührer (2010) und Die Unschuldigen (2012) gehören und die insgesamt das ‚Dritte Reich’


50REZENSIONENaus deutscher, jugendlicher Tätersicht beleuchtet. Fragen der Mitschuld und des Mitläufertumswerden so aus ganz verschiedenen historischen Perspektiven angegangen.„Paradies der Sieger“, so nannten die aus Nazi-Deutschland Getürmten ihren neuenkomfortablen Lebensraum in Südamerika zynisch unter sich. Und sie maßten sich an,auch hier, im Argentinien der 1950er Jahre, die ebenfalls nach Südamerika geflohenenJuden weiter beherrschen und verfolgen zu können. Der Roman zeigt dies in authentischerRealistik am Beispiel des Collegio Friedrich, einer deutschen Schule in La Plata,an der <strong>Kinder</strong> aus jüdischen Emigrantenfamilien zusammen mit <strong>Kinder</strong>n von Naziverbrechernlernen. Unter den zutiefst verfeindeten Gruppen. herrscht eine explosiveStimmung. Der Protagonist und Ich-Erzähler Tom, der 17jährige Sohn eines untergetauchtenNazis, kommt neu an die Schule, und noch bevor er den anderen klar machenkann, wer er ist, begegnet er dem jüdischen MädchenWalli und verliebt sich in sie. Aus Liebe – undaus Scham – und auch aus Rebellion gegen seinenVater verschweigt Tom seinen wahren Familienhintergrundund behauptet, auch er sei Jude. Es ist eineunvorstellbare Lüge, die schnell zu fatalen Konfliktenführt, in der Hass, Gewalt, eine Entführung undsogar ein Mord das Geschehen bestimmen. ImKern kreist die Handlung um zwei Pole: Um dieAuseinandersetzung Toms mit seinem Vater umdessen Vergangenheit und um seine Liebe zu Walli.Dass diese alle Erschütterungen übersteht und auchin die Zukunft hinein reicht, ist die tragende Botschaftdes Romans.Jürgen Seidel: Das Paradies der Täter. München:cbj <strong>2013</strong>. ISBN 978-3-570-15577-6. 3<strong>98</strong> S., 16,99 €.Paradiessucher ist das Romandebüt der 1969 als Rena Zednikova im mährischenStädtchen Prostĕjev geborenen Schauspielerin und Autorin Rena Dumont. Sie erzählterkennbar autobiographisch über die Flucht der siebzehnjährigen Lenka im Jahr 1<strong>98</strong>6aus der ehemaligen Tschechoslowakei nach Bayern. Das Mädchen träumt schon langedavon, mit ihrer Mutter in den Westen zu gehen. Sie hat genug von dem bornierten Lebenin ihrer Kleinstadt. Sie möchte Schauspielerin werden, was man ihr zweimal verwehrthat, möchte endlich frei sein und sich nicht mehr wegducken müssen, möchtesagen, was sie will, fahren, wohin sie will, kaufen können, was ihr gefällt. Als sie undihre Mutter ein Visum <strong>für</strong> zwei Wochen Deutschlandurlaub erhalten, ist das die großeChance. Doch wie schwer eine solche Entscheidung ist, merkt die Protagonistin undIch-Erzählerin Lenka, als es ernst wird. Die Heimat, ihre erste Liebe, ihre Freundinnenund alle Verwandten zurückzulassen, bedeutet eine radikale Veränderung ihres Lebens.Das fremde Land macht es ihr auch nicht leicht. Gelandet im bayerischen Königssee,genießt Lenka zwar die zum Wunschtraum gewordenen Konsumgüter, aber der Aufenthaltim überfüllten und gettoisierten Asylbewerberheim macht ihr große Probleme,zudem wird ihre Mutter krank und dazu noch erschweren die Sprachbarrieren die Ori-


Rezensionen 51entierung in der <strong>für</strong> sie neuen Welt. Aber eins steht dennoch fest: Zurück können sienicht. Und dank ihres Selbstbehauptungswillens macht Lenka schließlich den entscheidendenSchritt, um der Asyl-Tristesse zu entkommen: Sie wendet sich an die Behördenund setzt durch, an eine deutsche Schule gehen zu dürfen. Nach acht langen Monatenerhalten sie und ihre Mutter dann Asyl und können ein neues Leben beginnen.Bemerkenswert an diesem Roman ist, dass er nicht nocheine der inzwischen reichlich vorhandenen Ost-West-Geschichten erzählt, die durchaus authentisch geschildertepolitisch-historische Situation bildet vielmehr den Hintergrund<strong>für</strong> die Geschichte eines Erwachsenwerdens. Direktin der Ausdrucksweise, locker im Ton, ohne aber zum Jargonabzugleiten, witzig und doch ernsthaft schreibt dieAutorin von der schwierigen Phase eines jungen Mädchens,unter Ausnahmebedingungen zu sich selbst zu findenund in ein anderes Leben aufzubrechen. Ein lesenswertesBuch <strong>für</strong> Jugendliche und Erwachsene.Rena Dümont: Paradiessucher. Roman. München: CarlHanser <strong>2013</strong>. ISBN 978-3-446-24164-0. 303 S., 14,90 €.„Die Bücher mit dem blauen Band“ sind immer etwas Besonderes. Sie sind sehr sorgfältighergestellt und versprechen anspruchsvolle und interessante Leseerlebnisse. Imvorliegenden Roman Die Scanner präsentiert der unter einem Pseudonym schreibendeAutor Martin Schäuble seinen Leserinnen und Lesern eine nachdenklich stimmendeDystopie. Gedruckte Bücher, Zeitungen und Zeitschriften gibt es in dieser im Jahr2035 spielenden Zukunftsvision nicht mehr. Für den Protagonisten Rob ist das keingroßes Problem. Er ist in einer vernetzten Welt aufgewachsen und kennt es nicht anders.Er arbeitet als Buchagent <strong>für</strong> die Scan AG, einen Megakonzern, der jedes nochexistierende Druckerzeugnis, dessen er habhaft werden kann, einzieht, digitalisiert unddamit vernichtet. Alles Wissen soll so jederzeit und kostenlos <strong>für</strong> alle zugänglich sein.Aber dann gerät Rob in die Kreise einer geheimen Büchergilde, einer verbotenen Organisationvon Pleite gegangenen Buchhändlern, arbeitslosenAutoren, Übersetzern, Journalisten und entlassenenVerlagsmitarbeitern. Und allmählich bekommt Robsgefestigt scheinendes Weltbild Risse. Auf einmal ist garnichts mehr so einfach, wie er gedacht hatte. Als Robsich das eingesteht und nach Antworten sucht, sieht ersein Bild plötzlich als Top-Terrorist in den Nachrichtenauf allen Fernsehkanälen. Im Kampf um Wissen, Monopolisierungund Macht ist er mit einem Mal StaatsfeindNummer eins. Dank der Widerstandstrategien der geheimenGilde wird er jedoch gerettet, allerdings zu demPreis der Gegenleistung, dass er alle seine Erfahrungenaufschreibt – in einem Buch!Der Roman Die Scanner ist ein hellsichtiger Kommen-


52REZENSIONENtar zum globalen Digitalisierungswahn unserer Tage, der durch die aktuellen Spionagefälleeinen unfreiwilligen Wirklichkeitsbezug bekommt.Robert M. Sonntag: Die Scanner. Frankfurt a.M.: Fischer KJB <strong>2013</strong> (Die Bücher mitdem blauen Band). ISBN 978-3-596-85537-7. 190 S., 12,99 €.Autobiographische ErinnerungenIm Oktober 1941 begegnet Jacqueline van Maarsen (geb. 1929) auf dem jüdischen Lyzeumin Amsterdam Anne Frank. Sie sind schon bald unzertrennliche beste Freundinnen,machen zusammen Hausaufgaben, lesen dieselben Bücher, übernachten beieinander,tauschen Geheimnisse aus, spielen zusammen. Ihre Freundschaft endet abrupt, alsAnne im Juli 1942 auf einmal nicht mehr da ist. Trotz des Verlustes ist Jacqueline beruhigt,denn sie glaubt, dass die Familie Frank in die Schweiz ausgereist und so denVerfolgungen der nationalsozialistischen Besatzer entkommen ist. Tatsächlich hattesich das jüdische Mädchen mit seiner Familie in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckenmüssen. Durch ihr Tagebuch, das sie dort schrieb, ist Anne Frank Symbolfigur<strong>für</strong> die Vernichtungspolitik der Nazis geworden.Erst nach dem Krieg berichtet Annes Vater Otto Frank, der überlebt hatte, Jacquelinevom Schicksal ihrer Freundin. Von einem Denunzianten verraten, wurde die Familienach Auschwitz deportiert. Die Mutter starb dort, Anne und ihre Schwester Margitüberlebten zunächst, nach der Überstellung ins KZ Bergen-Belsen starben sie aber kurzvor Kriegsende nder an Typhus. Anne war gerade sechzehn Jahre alt geworden.In ihrem Erinnerungsbuch vermittelt die Zeitzeugin einfühlsam, berührend und authentisch,was es bedeutete, Opfer des Holocaust zu sein. Sie stellt jedoch nicht lediglichdas inzwischen vielfach beschriebene Schicksal Anne Franks ein weiteres Mal dar,konzentriert sich vielmehr auf die Schilderung ihres einzigartigen Verhältnisses zu ihr,das auch im Tagebuch dokumentiert ist: Unter dem Decknamen „Jopie“ ist sie einezentrale Figur in der ersten veröffentlichen Fassung von Annes Aufzeichnungen. Jacquelinevan Maarsen bindet ihre Freundschaft zu Anne Frank aber in ihre eigene Familiengeschichteein, die von eigenem Gewicht ist. Sieist die Tochter eines niederländischen Juden und einerfranzösischen Katholikin. Der Courage ihrer Mutterist es zu verdanken, dass sie und ihre Schwester vonder Deportationsliste gestrichen wurden und dassauch ihr Vater gerettet werden konnte. Die Schilderungender Segregationen der deutschen Besatzungsmachtin Holland und der kriegsbedingten Zerstörungenzeichnen ein eindrucksvolles Warnbild vor menschenverachtenderund menschenvernichtender Gewaltherrschaft.Jacqueline van Maarsen: „Deine beste Freundin AnneFrank.“ Erinnerungen an den Krieg und eine besondereFreundschaft. Aus dem Niederländischen vonMirjam Pressler. Frankfurt a.M.: Fischer KJB <strong>2013</strong>.ISBN 978-3-596-85541-4. 200 S., 12,99 €.


Rezensionen 53REINER NEUBERTErinnerungsorte. Land und Dorfleben im Spiegelliterarischer Zeugnisse der DDRZu einer Studie von Barbara Schubert-FelmyEs tut sehr wohl, wenn man bei der Aufarbeitung der Geschichte der DDR einmal nichtsofort mit der Vokabel ‚Unrechtsstaat’, mit der alles unterwandernden Stasi oder mit demdort angeblich beständig wirkenden ideologischen Holzhammer konfrontiert wird.Hingegen liest man im Vorspann zwei aktuelle und recht positive Lesermeinungen zu denhier analysierten und wertgeschätzten literarischen Kunstwerken der DDR, die 23 Jahrenach der sog. Wende verschämt aus der Schublade geholt werden, um sie heute <strong>für</strong> dieSchule oder Hochschule als Zeugnisse des seinerzeit gestalteten realen Lebens jener vierzigJahre Existenz vorzuschlagen und zu interpretieren. Im Vorwort spricht die Autorin vonbislang unliebsamer Missachtung dieses Gegenstandes, dem man sich eben nicht nur undausschließlich unter politischen Fragestellungen widmen dürfe und solle.Barbara Schubert-Felmy hat sich dabei einige literarische Texte ausgesucht, dieerstens das Leben auf dem Lande des Ostens in seiner Vielfalt einzufangen versuchten,zweitens weithin bekannt waren und sich drittens als „Erinnerungsorte“ in dasGedächtnis der Bevölkerung eingebrannt hätten, aber: „Nicht nur landwirtschaftlicheFlächen liegen brach, manchen der dort Lebenden wurde die Identität genommen.“ (S.8) Dass die Literatur der DDR ebenda allgegenwärtig und das Land ein „Leseland“ warund dass mittels Literatur eben nicht nur parteipolitische Vorgaben abgearbeitet wordensind, sondern wirksam humanistisch erzogen werden konnte (S. 10), wurde in denletzten Jahren häufig geleugnet. Umso erstaunlicher ist es, plötzlich von ästhetischemAnspruch, literarischem Niveau, hohem Bekanntheitsgrad jener Spezies zu lesen (S.12), die hier <strong>für</strong> Schule und Hochschule als Erinnerungsorte aufbereitet werden, umGeschichte konkret und emotional nachvollziehbar werden zu lassen. Für mich persönlichist das ein einschneidendes Erlebnis, zumal ich einige Bücher als Schulkind las,andere als Student und die meisten von ihnen in der Lehre ‚benutzte’, um sie Lehramtsstudentenim Fach Deutsch schmackhaft zu machen.Dass Erwin Strittmatters Titel dabei einen breiten Raum einnehmen, ist mehr als gerecht,denn er war wirklich einer der renommiertesten DDR-Autoren. Seine Büchererzielten hohe Auflagen, aber heute spiele er beim Studium der Germanisten kaum eineRolle (S. 19). Zwar wurde er in über vierzig Sprachen übersetzt, aber, wie er selbsteinmal nach 1990 anmerkte, nicht in die westdeutsche. Hier werden nun Tinko (1954),Pony Pedro (1959) und Ole Bienkopp (1963) analysiert, die neben anderen Texten vonihm auch Schullektüre waren, verfilmt wurden und so eben allgegenwärtig waren.Schubert-Felmy untersucht, nachdem wenige biografische Fakten eingestreut werden,


54REZENSIONENdas jeweils originell dargestellte dörfliche Leben, die Romanstruktur, die Figurenkonstellationund Erzählweise, um bei den drei ausgewählten Titeln zur Erkenntnis zugelangen, dass es Strittmatter gelungen sei, eine intensive Lebensnähe gestaltet, eineeigene, nicht abgegriffene Sprache mit vielen bildhaften Wendungen benutzt zu habenund somit die Lektüre noch heute empfehlenswert sei (S. 30). Die Analyse erfolgtsorgsam, differenziert, und vor allem die Interpretation des innewohnenden kritischenPotenzials der eingesetzten sprachlichen Mittel überzeugt, so dass die Bandbreite desKomischen vom Humor über die Ironie, Satire bis hin zur Groteske nachgewiesenwerden kann. Einiges aus der einschlägigen Sekundärliteratur sowohl aus der DDR alsauch aus der BRD wird nicht nur angemerkt, sondern diskutiert. So kann vorgeführtwerden, dass jene Titel sowohl „Bestandteil des kommunikativen und kulturellenGedächtnisses“ im Osten wurden und der „Orientierung über das Land- und Dorflebenin der SBZ und DDR“ (S. 54) dienen konnten. Die sich anschließenden didaktischenund methodischen Überlegungen zu jenen Büchern damals und heute enden mithilfreichen Vorschlägen, die ästhetischen Besonderheiten und die spezifischen Inhaltezumindest punktuell mit neuem Leben zu erfüllen, wenngleich mir die angedeutetenVergleiche mit anderen Autoren etwas fragwürdig erscheinen.In der Folge werden noch Alfred Wellms Kaule (1962) und Morisco (1<strong>98</strong>7), HelmutSakowskis Daniel Druskat (1976), Benno Pludras Insel der Schwäne (1<strong>98</strong>0), VolkerBrauns Bodenloser Satz (1<strong>98</strong>8) sowie Christa Wolfs Sommerstück (1<strong>98</strong>9) auf ähnlicheWeise aufgebrochen, um sich in o. a. Weise an sie erinnern zu können. Neue Quellenwerden sinnfällig befragt. So erhält der Leser nicht nur einen Eindruck von den unterschiedlichenHandschriften, sondern gleichsam einen Überblick über das Leben unddie Arbeit auf dem Lande in der DDR von der Bodenreform bis zur Kollektivierung derLandwirtschaft, was mitunter sehr kritisch inszeniert worden war. Dass dabei die Verfilmungenstets einbezogen werden, erleichtert zwar die (anschauliche) Arbeit mit demGegenstand, könnte jedoch die konkrete Beschäftigung mit dem Text einschränken:mich verzückt manch eine Seite der Lektüre bspw. von Strittmatter noch heute.Wünschenswert wäre gewesen, nicht nur das Handbuch zur <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteraturder SBZ/DDR von 1945 bis 1990 (hrsg. von Steinlein, Strobel, Kramer; Stuttgart:Metzler 2006) einzubeziehen, sondern auch die umfangreichen Aufsätze des Lexikons<strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur (Meitingen: Corian-Verlag), diein Ergänzungslieferungen vervollständigt werden. Dort hatteich mir z.B. vorgenommen, insbesondere bekannte Jugendbuchautorender DDR-Literatur vor der Vergessenheit zubewahren, was ich von 1999 bis 2012 versuchte (Artikel zuHoltz-Baumert, Brězan, Saalmann, Koch, Schlott, Spillner,Nowotny, Sakowski, Hüttner). Dort liegt noch mancherSchatz vergraben.Barbara Schubert-Felmy: Erinnerungsorte. Land undDorfleben im Spiegel literarischer Zeugnisse der DDR.Analysen <strong>für</strong> Schule und Hochschule. Baltmannsweiler:Schneider Verlag Hohengehren 2012. 186 S.


Rezensionen 55BERNHARD MEIERKennst du die Brüder Grimm?Zu einem Buch von Kurt Franz und Claudia Maria PecherDass in Bertuchs erfolgreicher Reihe Weltliteratur <strong>für</strong> junge Leser auch die BrüderGrimm vertreten sein würden, war selbstverständlich, denn die weltweite Verbreitungund Bedeutung ihrer <strong>Kinder</strong>- und Hausmärchen mutet selbst wie ein Märchen an. Sinddiese doch in etwa 170 Sprachen übersetzt und somit ein Klassiker der Weltliteratur parexcellence. Und dass der Band Kennst du die Brüder Grimm? von Kurt Franz undClaudia Maria Pecher im Jahre 2012 kurz vor Weihnachten erschien, hat schon aucheinen tieferen Sinn, erlebte doch der erste Band der <strong>Kinder</strong>- und Hausmärchen kurz vorWeihnachten 1812 seine erste Auflage, um allmählich, zusammen mit dem zweitenBand 1815 und in immer stärker veränderter Form, seinen Siegeszug anzutreten.Dem Buch Kennst du die Brüder Grimm? liegt dieselbe Grundkonzeption zugrundewie den anderen Bänden der Reihe: in die einführenden und darstellenden Texte (imKursivdruck) sind – teilweise längere – Quellentexte (im Normaldruck, recte), Ausschnitteaus Werken, eigenen Briefen und solchen von Zeitgenossen u.a., integriert, sodass sich das umfassende Lebensbild sehr authentisch liest. In diesem Fall standenallerdings die Autoren vor größeren Problemen, denn sie mussten das Leben von zweiPersonen mit ihrem großen Familien- und Bekanntenkreis und ein besonders vielschichtigesWerk zweier Wissenschaftler, Sammler und Schriftsteller veranschaulichen.Auch wenn die Märchen der Brüder Grimm den Schwerpunkt bilden, so war es geradehier nicht leicht, die Intentionen, die Sammeltätigkeit und die lebenslange Arbeit anden Märchentexten und den zahlreichen Neuausgaben einsichtig zu machen.Dies alles gelingt den Autoren in hervorragender Weise. Sie gehen zunächst von dereinzigartigen lebenslangen Verbundenheit Jacobs und Wilhelms aus, um dann ihreeinzelnen Lebensstationen weiter zu verfolgen: die Kindheit und Schulzeit in Hanau,Steinau und Kassel, ihre Studienzeit in Marburg, wo sie immer stärker von den romantischenStrömungen der Zeit erfasst wurden. Zentrale Kapitel beschäftigen sich mit denEinflüssen im Einzelnen durch Achim von Arnim, Clemens Brentano und Philipp OttoRunge und schließlich mit der ersten Edition ihrer <strong>Kinder</strong>- und Hausmärchen1812/1815. Der längste Abschnitt widmet sich bewusst der weiteren Entwicklung derMärchentexte, die erst durch jahrzehntelange Veränderungen, vor allem durch denjüngeren Bruder Wilhelm, zu der Form gelangt sind, in der sie uns noch heute vorallem begegnen und in der sie uns zum vertrauten Literaturgut von klein an werden.Schon hier zeigt sich, wie anschaulich und nützlich es <strong>für</strong> den Leser ist, dass ihmnicht nur ganze typische Märchen vorgestellt werden, sondern auch vergleichende


56REZENSIONENTextausschnitte, die diesen Veränderungsprozess exemplarisch verdeutlichen, z.B. ausdem Froschkönig oder aus Rapunzel. Diese Methode wird durchgehend beibehalten, sodass ein unglaublicher Schaffensprozess nachvollzogen werden kann. Dies gilt nichtnur <strong>für</strong> die zweibändige Sammlung <strong>Deutsche</strong> Sagen (1816/1818), sondern auch –natürlich manchmal nur skizzenhaft – <strong>für</strong> das weitere einzigartige Lebenswerk derbeiden Brüder, die immerhin die Urväter der Germanistik in Deutschland sind.Dass die Brüder, vor allem Jacob, auch politisch tätig waren, wird mit Recht ineigenen Passagen hervorgehoben. So erhoben sie im Verbund der sogenannten„Göttinger Sieben“ nicht nur Einspruch gegen einen verfassungsrechtlichen Willküraktdes Königs, was einen folgenreichen „Wetterstrahl“ nach sich zog, sie waren überhauptan Demokratisierungsprozessen in Deutschland beteiligt, vor allem in der Paulskirche.Schließlich wird auch auf ihr sprachwissenschaftliches Hauptwerk, die Begründungdes <strong>Deutsche</strong> Wörterbuchs auf ihrer letzten längeren Lebensstation in Berlin, eingegangen.Besonders dankbar muss man auch <strong>für</strong> das letzte Kapitel, „Faszination Märchen –weltweit“, sein, denn jetzt erfährt der Leser in einem bunten Kaleidoskop, in welchemAusmaß und in welchen Formen die <strong>Kinder</strong>- und Hausmärchen seit 200 Jahren ihreSpuren hinterlassen, ob auf Briefmarken und Münzen, in unzähligen Ausgaben undBearbeitungen, in Bilderbüchern und vielfältigsten Illustrationen, in der Musik, in derErzählkultur oder in allen denkbaren medialen Ausprägungen.Der angehängte biographische Überblick kann der näheren Orientierung dienen,und die Quellenangaben sowie das Literaturverzeichnis lassen den Umfang deszugrundegelegten Materials erkennen. Die ausgezeichnet gestaltete Einband mit demDoppelporträt der Brüder Grimm reizt zum Lesen, stammt er doch von dem bekanntenKünstler und Grimm-Spezialisten Albert Schindehütte. Mit den eingängigen Darstellungstexten,den zahlreichen abwechslungsreichenOriginalzitaten und den durchgehend eingefügtenBildern (Skizzen, Gemälde, Fotographienu.a.) ist den Verfassern ein spannendes Buchgelungen, das sich primär an „junge Leser“ (ab 14Jahren) wendet, das aber generell jedem interessiertenErwachsenen zu empfehlen ist, denn dieWelt der Brüder Grimm und ihrer Märchen erschließtsich hier auf eine unvergleichliche Weise.Kurt Franz / Claudia Maria Pecher: Kennst du dieBrüder Grimm? Texte von Jacob und WilhelmGrimm <strong>für</strong> junge Leser ausgewählt und vorgestellt.Weimar: Bertuch Verlag 2012 (Bertuchs Weltliteratur<strong>für</strong> junge Leser; Bd. 13). 117 S.; 14,80 €; ISBN 978-3-86397-004-8


Rezensionen 57KURT FRANZVolkskultur – anschaulich, unterhaltsam, informativZu einem Buch von Albert BichlerDer ausgewiesenen Kenner der bayerischen Volkskultur Albert Bichler hat sich ineinem sehr ansprechend gestalteten Buch erneut mit Festen und Bräuchen in Bayernbeschäftigt. Vorausgegangen waren schon Titel wie Wallfahrten in Bayern (2. Aufl.2010), Damals auf dem Lande (aktual. Neuaufl. 2012), Freunde im Himmel – Mitbayerischen Heiligen durchs Jahr (2009) oder Wie’s in Bayern der Brauch ist (4. Aufl.2006), die teilweise in mehreren Auflagen erschienen sind. Im vorliegenden Buch, dasmit etwa 120 Fotos der bekannten Fotografen Lisa und Wilfried Bahnmüllerausgestattet ist, regt schon die reiche Illustrierung zum Schmökern und zum Genießenan. Und das gilt natürlich ebenso <strong>für</strong> das ansprechende Layout und vor allem <strong>für</strong> dieinformative und gewandte Textgestaltung.Albert Bichler lässt den Leser durch die zwölf Monate des Jahres mitreisen und diewichtigsten Bräuche und Feste, vor allem kirchliche, miterleben, denn diese „bringenFarbe in unseren Alltag, in unser Leben, sie schaffen Höhepunkte, durchbrechen dieEintönigkeit und schaffen dadurch eine Rhythmisierung, den notwendigen Wechselvon Zeiten der Arbeit und der Muße. Sie begleiten uns durch das Jahr, sie strukturierendie Zeit […]. Das unterscheidet Bräuche von Folkloreveanstaltungen.“ (Vorwort)Dieses Buch, das im weitesten Sinn Heimatbewusstsein schaffen und bewahren will,bringt in seiner Mannigfaltigkeit dem Leser ebenso viel Abwechslung, obwohl dieeinzelnen Kapitel, d.h. Monate, durchgehend nach einem bestimmten Schemakonzipiert sind, was wiederum dem Leser Sicherheit verleiht, ihm einen gutenÜberblick und leichtes Nachschlagen ermöglicht.Der Autor gibt zunächst jeweils Auskunft über den betreffenden Monat, erklärt denNamen, seine Stellung im Kalender und geht auf Besonderheiten ein. Daneben findetsich jeweils das einschlägige Bild aus dem Monatszyklus von Stephan Kessler (1672),aus dem ehemaligen Kloster Benediktbeuern. Neben wichtigen Namenstagen sindeinige markante Bauern- und Wetterregeln aufgeführt. Dann wird es freilich bunt undabwechslungsreich, wie es eben das bayerische Volksleben ist. Wird im Januar-Kapitelauf den Kalender allgemein, auf die Heiligen Drei Könige, die Sternsinger, auf dasWinteraustreiben mit „Goaßln“, den Pestpatron Sebastian und auf das winterlicheTreiben auf dem Dorfweiher eingegangen, so Mai auf den Tanz in den Mai, im Juli aufdie vierzehn Nothelfer – ebenfalls ein Spezialgebiet von Bichler –, die ÄbtissinIrmengard von Frauenchiemsee, die Landshuter Fürstenhochzeit und auf alteFlurdenkmale am Weg. Der letzte Punkt zeigt schon, dass es der Autor versteht, auchjahreszeitenunabhängige Aspekte mit einzufügen. Die Schwerpunkte mit Feiern und


58REZENSIONENBräuchen liegen naturgemäß um Ostern (April) undWeihnachten (Dezember). Aber auch sonst werdenkeine typisch bayerischen Höhepunkte ausgelassen,wie die Wallfahrt nach Altötting, die Kerzenwallfahrtzum Bogenberg, das Passionsspiel in Oberammergauund andernorts, der Kötztinger Pfingstrittoder das Oktoberfest.So erlebt der Leser auf anschaulichste undunterhaltsame Weise Volkskultur in all ihrenFacetten. Ein Buch, das einen weiten Leserkreisverdient hat!Albert Bichler: Feste und Bräuche in Bayern imJahreslauf. Mit Fotos von Lisa und WilfriedBahnmüller. München: J. Berg Verlag <strong>2013</strong>. ISBN978-3-86246-010-6. 144 S., 19.95 €.HANS GÄRTNERWovon Autoren träumenEin „Lesebuch“ von Petra Hartmann und Monika FuchsIch geb ja gerne zu, einer von den 57 Textliefernden <strong>für</strong> dieses stramme, einmaligeLesebuch zu sein, das den Traumtitel zu Recht und nicht von ungefähr trägt. MeinBeitrag heißt „Ja nun“. Ich schicke voller Ehrgeiz, mich gedruckt zu sehen, ein Huhnmit seinem (quasi: meinem) Manuskript auf Türklopftour – wohin? Natürlich zuVerlagen. Sie sind es ja, ohne die ein Autor kein Autor ist. Der eine lehnt ab, der andere… Ja nun. Ein Huhn hat`s nicht leicht und stöhnt und ächzt. Am Ende klappt`s danndoch noch, mit dem Gedruckt-werden. Wenn auch nicht voll und ganz, es genügt jaschon in Teilen. Jeder fängt mal klein an. Muss ja nicht gleich die ganze Choselosgehen. Man(n) ist ja schon mit dem Bisschen zufrieden.So wie ich sehen das auch viele der anderen Autorinnen und Autoren, die es mit mirschafften, aus mehr als 300 Manuskript-Zusendungen an die Hildesheimer VerlegerinMonika Fuchs, die den Autorenträume-Wettbewerb in Form einer „literarischenUmfrage“ ausschrieb, ausgewählt worden zu sein. Jede Einsendung konnte nichtberücksichtigt werden – sonst wär ja ein Schinken, Ziegelstein draus geworden, derunverkäuflich und unverdaulich zugleich gewesen wäre. Immer schön schlank bleiben.Das Buch ist dennoch dick und rund genug, so wie es da liegt und in seiner ganzenprachtvollen Umfänglichkeit einlädt, darin zu blättern und zu schmökern, mal vorne,mal hinten, mal mittig. Kein Buch, das man von Seite 1 bis zum letzten Buchstaben


Rezensionen 59liest. Man wählt aus. Delektiert sich an „traumhaften“ Autorenwünschen, anAutorensehnsüchten, an Autorenjammer gelegentlich auch, oft sogar an Autorenhochgefühlen,auf jeden Fall an Autorenerlebnissen der Zustimmung und Ablehnung, derqualvollen Arbeit des Schreibens ebenso wie der befriedigenden Sortierung undNiederlegung von Gedanken – selten in lyrischer Form, meist in Prosa.Das ist ein Buch, welches , bei tausend Möglichkeiten, hinter die Kulissen desSchreiballtags zu blicken, in allererster Linie die im Titel Angesprochenen angeht und– weiterbringt. In der Tat steckt in manchem dieser schönen, von Petra Hartmannjeweils ganz wunderbar leichtfüßig und gescheit eingeführten Texte ein potentiellerLiteraturpreisträger. Jedem Text folgen ein paar Zeilen zum Verfasser.Übers lustvolle Zustandebringen von Texten, kleinen Gedichten oder ganzenBüchern, ist in diesem Lesebuch viel zu erfahren. Über Nöte beim Anfangen. ÜberUnsicherheiten beim Enden. Über Höhen und Tiefen, die ein schreibender Menschdurchschreitet, der etwas zu erzählen hat. Eitel Wonnen sind das nicht immer.Die Krux beim Schreiben ist ja, dass man selbiges meist nicht als Broterwerb insein Leben installiert. Ein kleines Zubrot ist es oft, was den Autor freut, na klar. EinOtfried Preußler ist keiner so schnell. Von der Sorte, die es auf mehrere Millionenverkaufter Exemplare gebracht haben, gibt`s auf der Welt vielleicht hundert. Die leben,oft nicht schlecht, manchmal sogar in Saus und Braus, vom Erlös ihrer Romane, Kochund<strong>Kinder</strong>bücher, Reiseberichte und sofort, in den seltensten Fällen: von ihrenlyrischen Ergüssen. Auch davon ist in diesem Lesebuch, ganz viel, die Rede.Dr. Tanja Kinkel, die ein Geleitwort beigesteuert hat, ist nicht nur eine renommierteAutorin, sie ist auch Schirmherrin der Bundesstiftung <strong>Kinder</strong>hospiz und rief 1992 die<strong>Kinder</strong>hilfsorganisation „Brot und Bücher e. V.“ ins Leben. Von jedem verkauftenAutorenträume-Exemplar geht 1 Euro an dieses Hilfswerk. Eine verdienstvolle, allenApplaus verdienende Geste des kleinenHildesheimer Verlags. Über ihn und seinProgramm, aber auch über Hintergründe undErgebnisse zum Thema „Autorenträume“kann man sich unter www.verlagmonikafuchs.de,www.autorentraeume.de undwww.petrahartmann.de sowie über dasHilfswerk der bayerischen Autorin TanjaKinkel unter www.brotundbuecher.de schlaumachen. Dort sind weitere Infos zu haben, ob<strong>für</strong> etablierte oder <strong>für</strong> werdende Autorinnenund Autoren, nicht zuletzt <strong>für</strong> derenunverzichtbares Publikum.Petra Hartmann, Monika Fuchs (Hrsg.):„Autorenträume“. Ein Lesebuch. Mit einemGeleitwort von Tanja Kikel. Hildesheim:Verlag Monika Fuchs <strong>2013</strong>. ISBN 978-3-940078-53-7. 336 S., 16,90 €.


60BERICHTEAuszeichnungenDer Große Preis der <strong>Akademie</strong>Die <strong>Deutsche</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur e.V. verleiht jährlich den mit3.000 Euro dotierten Großen Preis <strong>für</strong> ein literarisches oder grafisches Gesamtwerk imBereich der <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur.Der Preis wird im Jahr <strong>2013</strong> von der Märchen-Stiftung Walter Kahn finanziert. Indiesem Jahr wird er der Augsburger Puppenkiste <strong>für</strong> ihre spielerisch-künstlerischeVermittlung von Literatur an <strong>Kinder</strong>, Jugendliche und Erwachsene verliehen.<strong>Volkacher</strong> TalerWeiterhin zeichnet die <strong>Akademie</strong> seit 1<strong>98</strong>2 zusammen mit der Stadt Volkach Persönlichleiten,die sich um die <strong>Akademie</strong> und um die Förderung der <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteraturverdient gemacht haben, mit dem <strong>Volkacher</strong> Taler aus.Als Preisträger sind in diesem Jahr Prof.in Dr. Gudrun Schulz (Berlin) und RolandKahn (Karlsruhe) ausgewählt worden.NachwuchspreisDie <strong>Deutsche</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur e.V. schreibt seit dem Jahr2009 einen Nachwuchspreis <strong>für</strong> deutschsprachige Autoren bzw. Illustratoren der <strong>Kinder</strong>-und Jugendliteratur aus.Der Preis, dotiert mit 1.500 Euro, wurde vom <strong>Kinder</strong>buchautor Paul Maar (Bamberg)und dem Bücherkabinett Hagemeier (Volkach) initiiert und finanziert. Die Förderungwird in diesem Jahr weiterhin unterstützt von der Bayernwerk AG und der Märchen-StiftungWalter Kahn.Für das Grimm-Jahr <strong>2013</strong> schreibt die <strong>Akademie</strong> einen Nachwuchspreis zum Thema„Märchenwelten“ aus.Die Bewerberin bzw. der Bewerber sollen ausschließlich von ihrem Verlag bis zum31. Juli <strong>2013</strong> vorgeschlagen werden.Weitere Infos erhalten Sie auf der Homepage der <strong>Akademie</strong>: www.akademie-kjl.deDer renommierte <strong>Kinder</strong>- und Jugendbuchautor Paul Maar (Bamberg) erhält imSeptember <strong>2013</strong> den mit 15.000 Euro dotierten Kunstpreis der Oberfranken-Stiftung mit Sitz in Bayreuth. Die <strong>Deutsche</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliterature.V. gratuliert ihrem Mitglied ganz herzlich <strong>für</strong> diese Auszeichnung.


61BERICHTESTEFAN MAYRKlaus MarschallNun preisgekrönter Chef der Augsburger PuppenkisteEr ist Geschäftsführer einer der bekanntesten Firmen Deutschlands, hat aber wederBWL noch Jura studiert. Klaus Marschall ist gelernter Schaufenstergestalter, und vielleichtist es genau dieses Handwerk das man als Chef der Augsburger Puppenkiste beherrschenmuss; immer wieder muss er auf eine leere Fläche mit minimalen Mittelnetwas hinzaubern, das die Leute fasziniert und zum Verweilen bewegt. Dabei wird der51-jährige Chef beinahe so vielfältig gefordert wie sein berühmtester Held Jim Knopf.Marschall schreibt Texte und spricht sie ein, Marschall führt auch Marionetten. Undzuletzt musste er einen abenteuerlichen Kampf führen; er kämpfte um die Phantasie inden Köpfen der <strong>Kinder</strong>. Seine Gegner waren die Programmmacher in den öffentlichrechtlichenFernsehanstalten. Der Kampf erschien zwischenzeitlich aussichtslos. DochMarschall gab nicht auf – und darf sich jetzt über einen Erfolg auf ganzer Linie freuen.Immer wieder prangerte Marschall an, dass die Helden seines Marionettentheaters stillschweigendaus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen verbannt wurden – auch und vor allemaus dem <strong>Kinder</strong>kanal. „Unsere <strong>Kinder</strong> verlieren wahnsinnig viel, wenn man ihnen keinFigurentheater zeigt“, warnte Marschall. Zu Recht. Wenn in TV und Kino die Tränen inStrömen fließen, dann sehen die <strong>Kinder</strong> lediglich die Phantasie eines anderen. Die AugsburgerHolzköpfe haben dagegen nur einen Gesichtsausdruck, die <strong>Kinder</strong> müssen (und dürfen!)das Weinen und Lachen selbst dazu denken. „Dieses Kopfkino verlernen unsere <strong>Kinder</strong>leider“, prophezeihte Marschall. Seine Worte wurden erhört: An Pfingsten zeigte derHessische Rundfunk endlich wieder die guten, alten Folgen von Jim Knopf, Urmel unddem Löwen. Der <strong>Kinder</strong>kanal zieht im Sommer an nicht weniger als acht Sonntagen nach.Jetzt erhält die Puppenkiste den Großen Preis der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- undJugendliteratur [Volkach e.V.]. Eine Auszeichnung, die als deutliche Botschaft an die Programm-Verunstalterin den TV-Behörden verstanden werden darf. Die <strong>Akademie</strong> würdigtmit dem Preis die „großen Verdienste“ des Marionettentheaters „um die spielerischkünstlerischeVermittlung von Literatur an <strong>Kinder</strong>, Jugendliche und Erwachsene“.Alles begann 1948 im Wohnzimmer von Marschalls Großvater Walter Oehmichen– mit Bierbänken und umgenähten Hakenkreuz-Fahnen. Heute hat das Unternehmen30 Mitarbeiter und zeigt täglich zwei Vorstellungen, die meisten sind ausverkauft. Aufdem Programm stehen neben Märchen und <strong>Kinder</strong>büchern auch klassische Theaterstücke,Opern und Kabarett <strong>für</strong> Erwachsene, mit Witzfiguren wie Darth Vader und MichaelJackson oder Biene Merkel mit ihrem tollpatschigen Koalitionspartner Westerwilli.Demnächst will Klaus Marschall ein Computerspiel herausbringen. Eine Marionetteführen mit dem Joypad? Das klingt nach zwei Welten, die kaum zueinander passen.Aus: Süddeutsche Zeitung 25./26. Mai <strong>2013</strong>. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.


62BERICHTELesetütenaktionenWie bereits in den letzten Jahren überreicht die <strong>Deutsche</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- undJugendliteratur e.V. auch im kommenden September den Erstklässern der VolksschuleVolkach zur Einschulung wieder Lesetüten. Die Zweitklässer des neuen Schuljahreshaben die Tüten schon <strong>für</strong> ihre Nachfolger bunt bemalt. Gefüllt werden die Tüten miteinem Erstlesebuch sowie einem Stundenplan, einem Fahrradreflektor und anderenDingen, die den Start ins Schulleben erleichtern. Das Erstlesebuch wird vom RavensburgerBuchverlag gestiftet, der Förderndes Mitglied der <strong>Akademie</strong> ist.Die Aktion „Lesetüten“ ist keine Geheimsache, sie ist im Gegenteil zum WEITER-SAGEN. Mit diesem Appell fordert jedenfalls die Schriftstellerin Eva Korhammerzur Nachahmung auf. Sie schreibt:„Was hat es zu bedeuten, wenn sich 80 absolute Leseanfänger mehr oder weniger bequemauf den Matten ihrer Turnhalle niederlassen, um ein <strong>Kinder</strong>buch kennenzulernen und esanschließend geschenkt zu bekommen.Das mit der Turnhalle passierte in Hannover und war eine Notlösung, weil es in der Aulanicht ging. Das mit den 80 Büchern <strong>für</strong> 80 Erstklässer war von meinem Verlag und mir genauso geplant. Überschrift: „Aktion Schultütenbuch“. Seit mehr als einem halben Jahrhundertbin ich nämlich mit meinen <strong>Kinder</strong>büchern auf der Jagd nach Ideen, wie ich <strong>Kinder</strong>nbeweisen kann, dass Lesen kein Pflichtfach ist. Und dass die Phantasie dringend Lese-Kraftfutter braucht, damit sie nicht schlapp macht. Und je älter ich bei dieser wunderbarenArbeit werde, desto fröhlicher hänge ich Lesespaß-Ideenan „runden“ oder „halbrunden“ Ereignissenauf: Zu meinem 70. Geburtstag einBücher-Gewinn-Fest in der ehemaligen Schuleunserer <strong>Kinder</strong>; zum 75. ein Zwillings-Schul-Jubiläum. Zum 80. Geburtstag habe ich micherst mal selbst von meinem Verlag beschenkenlassen: Mit 80 Büchern aus meinem Erstleser-Programm. Dann habe ich eine Grundschule mit80 Schulanfängern eine Lesespaß-Stunde geschenktund 80 Schultüten-Bücher – aber dassteht ja schon oben.Gut und schön! Wenn ich weiter mit guten Geistern rechnen darf, bekomme ich zum 85.wieder ebenso viele Leseanfänger und Bücherspenden zusammen. Aber es ist ja nicht Sinneiner „Aktion Schultütenbuch“, nur alle fünf Jahre stattzufinden. Wir <strong>Kinder</strong>buchautorinnenund Autoren wünschen uns, dass jedes Jahr in jeder Stadt und Gemeinde wenigstenseine Grundschule sich diesen ersten Schritt zur Leseförderung auf die Fahne schreibt. Praktischheißt das: rechtzeitig vor den Sommerferien Erstlesebücher sammeln (oder <strong>Kinder</strong>buchverlage<strong>für</strong> Spenden begeistern), damit dann zum Schulbeginn jeder Schulanfänger einBuch in seiner Schultüte findet – natürlich neben all dem anderen Krimskrams, der nun malhineingehört. Besser lässt sich kaum beweisen, dass Schulanfänger keineswegs ein DutzendLese-Pflichtjahre vor sich haben.“


IN MEMORIAM 63GÜNTER LANGENachruf auf Otfried Preußler 1geb. 20.10.1923 in Reichenberg/Böhmen, heute: Liberec/Tschechiengest. 18.2.<strong>2013</strong> in Prien am ChiemseeLassen Sie mich meinen Nachruf auf Otfried Preußler mit ganz persönlichen Wortenbeginnen:Meine Frau (ehemalige Grundschullehrerin), unsere Söhne (44 und 42 Jahre), unseresieben Enkelkinder(von 1 bis 19 Jahre) und ich sind sehr traurig darüber, dass dergroßartige „Geschichtenerzähler“ Otfried Preußler, dessen <strong>Kinder</strong>bücher <strong>für</strong> uns eineso große Bedeutung gehabt haben und immer noch haben, seinen Lebensweg beendethat. Es ist ein großer Verlust <strong>für</strong> die Familie Preußler, <strong>für</strong> die unendlich vielen <strong>Kinder</strong>,die seine Figuren so fest in ihr Herz geschlossen und die ihre Phantasie angeregt underweitert haben, <strong>für</strong> die deutsche <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur, in der er nach den <strong>für</strong> ihnkränkenden 1970er Jahren nun einen, von allenForschern anerkannten Ehrenplatz einnimmt,im übrigen auch bei denen, die ihn seinerzeitso heftig kritisiert haben, und <strong>für</strong> unsere <strong>Deutsche</strong><strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und JugendliteraturVolkach, deren Mitbegründer, Förderer undspiritus rector er war. Er war der Begründerdes <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>n, dessen Nachfolger alsRedakteur ich über fast fünfzehn Jahre seindurfte. Ihm verdanke ich sehr viel, nicht nurdie zahlreichen anregenden Gespräche zusammenmit seinem Freund Heinrich Pleticha,sondern auch grundlegende Einblicke in dasErzählen von <strong>Kinder</strong>literatur, ihre Wirkungund Bedeutung <strong>für</strong> die <strong>Kinder</strong>.Otfried Preußler wurde am 20. Oktober1923 im nordböhmischen Reichenberg geboren.Seine Eltern waren Lehrer, der Vater nebenbeiauch Volkskundler und Heimatforscher,der seinem Sohn schon früh die zahlreichenMärchen und Sagen der böhmischen Heimat1 Der Nachruf auf Otfried Preußler folgt in Teilen meinen im Literaturverzeichnis aufgeführtenPublikationen.


64IN MEMORIAMnahebrachte, die sich später in dessen literarischen Werken widerspiegeln sollten.Otfried Preußler verlebte die Jahre seiner Kindheit und Jugend in Reichenberg; dortbesuchte er die Volksschule und später die Oberschule <strong>für</strong> Jungen. Zwei Tage nachseiner Reifeprüfung wurde er im März 1942 Soldat und geriet 1944 als junger Leutnantin Bessarabien in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Die nächsten fünf Jahre verbrachteer in verschiedenen Lagern in der tatarischen Republik.Preußlers Familie wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aus der böhmischenHeimat vertrieben und siedelte sich in Oberbayern an. Otfried Preußler kam1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft und fand mit viel Glück seine Angehörigenin Rosenheim wieder.Beruflich trat Otfried Preußler in die Fußstapfen seiner Eltern und wurde Lehrer. Erabsolvierte in München ein pädagogisches Studium, unterrichtete in Rosenheim alsVolksschullehrer und war bis 1970 im Schuldienst, zuletzt als Rektor, tätig.Nebenberuflich hat sich Preußler schon seit Anfang der 1950er Jahre als Schriftstellerbetätigt. Er schrieb kleine Theaterstücke <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong> und Hörspiele <strong>für</strong> den <strong>Kinder</strong>funk.Mit den beiden <strong>Kinder</strong>büchern Der kleine Wassermann (1956) und Die kleineHexe (1957) gelang Preußler dann der große Durchbruch als Schriftsteller. Es schlossensich in schneller Folge die heute schon als ,klassisch‘ zu bezeichnenden Werke wieBei uns in Schilda (1958), Thomas Vogelschreck (1959), Der Räuber Hotzenplotz(1962) sowie Das kleine Gespenst (1966) an. Seit 1970 lebte Preußler als freierSchriftsteller in Haidholzen, und zwar im Rübezahlweg.Schon die ersten <strong>Kinder</strong>bücher wurden in der Öffentlichkeit und von der Kritikgelobt und mit zahlreichen Preisen geehrt. Allein in den Preislisten des <strong>Deutsche</strong>nJugendbuchpreises (ab 1<strong>98</strong>1: <strong>Deutsche</strong>r Jugendliteraturpreis) taucht der Name Preußler13mal auf.Von den zahlreichen öffentlichen Ehrungen, die Otfried Preußler auf Grund seinesliterarischen Werkes erhielt, seien hier nur die bedeutendsten genannt: 1973 der EuropäischeJugendbuchpreis <strong>für</strong> Krabat, 1972 der Polnische Jugendbuchpreis <strong>für</strong> Krabat;1972 der Holländische Jugendbuchpreis <strong>für</strong> Die Abenteuer des starken Wanja und 1973<strong>für</strong> Krabat. Für sein Gesamtwerk wurde Preußler 1979 mit dem SudetendeutschenKulturpreis, 1<strong>98</strong>7 mit dem Bayerischen Poetentaler und in demselben Jahr mit demAndreas-Gryphius-Preis geehrt; 1<strong>98</strong>8 bekam der Autor den Großen Preis der <strong>Deutsche</strong>n<strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur, 1990 wurde er mit dem Eichendorff-Literaturpreis ausgezeichnet; 1991 erhielt er die Titularprofessur der Republik Österreich,1993 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse und 1999 das Große Verdienstkreuzdes Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.Die zahlreichen Preise und Ehrungen sind ein Beleg <strong>für</strong> die außerordentliche Bedeutungdes Autors Otfried Preußler. Man kann ihn ohne Frage als den internationalbekanntesten und erfolgreichsten <strong>Kinder</strong>buchautor deutscher Sprache bezeichnen. DerThienemann Verlag konstatiert: „Otfried Preußler hat über 35 Bücher geschrieben, diein mehr als 50 Sprachen und über 350 Ausgaben übersetzt wurden […]. Die weltweiteGesamtauflage seiner Bücher beträgt rund 50 Millionen Exemplare.“ (E-Mail vonThienemann vom 29.4.<strong>2013</strong>)Ende des Jahres 2000 hatte sich Otfried Preußler entschlossen, seinen Nachlass zu


IN MEMORIAM 65Lebzeiten der Internationalen Jugendbibliothek in der Münchener Blutenburg zu übergeben(Thienemann 2000, S. 19). Doch weil man sich über die Art der Präsentationnicht einig werden konnte, ging der größte Teil des Vorlasses an den Autor zurück, derihn nun der Berliner Staatsbibliothek übereignete. Mit Preußlers Tod wurde aus dem„Vorlass“ ein „Nachlass“, wie Tilman Spreckelsen in seinem informativen Artikel inder FAZ vom 10. März <strong>2013</strong> formuliert. Es handelt sich um mehr als 100 Umzugskartons,die nun in der Staatsbibliothek aufgearbeitet werden müssen, denn diese plantzum Herbst <strong>2013</strong> eine Ausstellung zum Werk Otfried Preußlers. Was allerdings inPreußlers Nachlass noch fehlt, so Spreckelsen, sind die zahlreichen literarischen Projekte,die der Autor in Interviews angesprochen hat, und seine Erinnerungen an die Zeitvor und im Zweiten Weltkrieg und an die russische Kriegsgefangenschaft. (Spreckelsen<strong>2013</strong>, S. 63).Will man dem <strong>Kinder</strong>buchautor Otfried Preußler auf die Spur kommen, bietet sichvor allem das von seinen Töchtern Susanne Preußler-Bitsch und Regine Stigloher 2010herausgegebene Buch Otfried Preußler: Ich bin ein Geschichtenerzähler an, in demviele verstreute Aufsätze aus den Jahren von 1972 bis 2009 zusammengestellt sind; siegeben einen umfassenden Einblick in Preußlers Leben und Werk. In ihnen äußert diesersich ganz dezidiert zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit, zu seinem Lese-Publikumund hier vor allem zu den <strong>Kinder</strong>n, zu den Wurzeln seines Schreibens, die in seinerKindheit zu suchen sind, bei seiner Großmutter Dora, die regelmäßig in den „Dunkelstunden“,wie sie es nannte, Preußler und seinen Bruder mit ihrem scheinbar unermesslichenSchatz an Geschichten unterhielt, und bei seinem Vater, dem Lehrer, Volkskundlerund Geschichtensammler, der ihn oft auf seinen Wanderungen ins Isergebirge undzu den Bauern, Förstern, Köhlern und Tagelöhnern mitnahm, die ihnen ihre Geschichtenerzählten, denen der Junge begierig lauschte.Anlässlich seines 70. Geburtstags am 20. Oktober 1993 stellte Otfried Preußler fest:„Ein Geschichtenerzähler wie ich, der ich meine Geschichten mit Vorliebe Menschenkindernerzähle – er kann sich nichts Besseres wünschen, als von ihnen als Weg-Weiserangenommen zu werden.“ Zwar hätten sich die <strong>Kinder</strong> von heute in den wesentlichenDingen kaum gegenüber den <strong>Kinder</strong>n in früherer Zeit geändert, doch „ist ihr Lebenheute sehr viel komplizierter geworden, die Welt [ist] voller Bedrohnisse, voller Bedrängnis.Mehr denn je brauchen sie die Liebe, die Zuwendung der Erwachsenen. Aufder Suche nach ihrem Weg in die Zukunft brauchen sie Wegweiser.“ (Ein paar Wortezum Schluss, in: Preußler 2010, S. 234–235) Der Lebensmut der kindlichen Leser wirddurch Preußlers Geschichten gestärkt, die Kraft der Phantasie wird herausgefordert, dasHandeln im menschlichen Sinne angeregt.Otfried Preußler war davon überzeugt, dass sich die wirklich maßgebenden Erfolgeeines <strong>Kinder</strong>buchautors nicht in den Auflagen und Verkaufsstatistiken ausdrücken,sondern dass es die Erfolge im menschlichen, ganz privaten Bereich des Lesers sind,auf die es ankommt. Und Preußler versteht es, die jungen, die älteren wie auch die alten„Menschenkinder“ mit seinen Geschichten zu begeistern. Das zeigt sich besondersan der Leserwirkung seiner Texte, ablesbar an den Leserbriefen, die der Autor währendseines langen Schriftstellerlebens erhalten hat; monatlich durchschnittlich etwa fünfzig.Es war ihm ein selbstverständliches Anliegen, diese Briefe nicht nur zu lesen, sondern


66IN MEMORIAMsie ernst zu nehmen, und zwar so, dass dies die kindlichen Schreiber in jedem beantwortetenBrief auch merkten. Das wird beispielhaft deutlich in Preußlers Aufsatz, indem er sich zu den zahlreichen kindlichen Zuschriften geäußert hat: Wer sich auf <strong>Kinder</strong>einlässt...(in: Preußler 2010, 218–230).Der Ideenreichtum des „Geschichtenerzählers“ Otfried Preußler ist erstaunlich. Alsehemaliger „Schulmeister“ – wie er sich gern genannt hat – kannte er die <strong>Kinder</strong> ganzgenau; er wusste, was ihnen helfen kann; er suchte immer den direkten Kontakt zu seinenjungen Leserinnen und Lesern. Und jede seiner „Geschichten <strong>für</strong> Menschenkinder“kam zuerst „auf den Prüfstand“, d.h., vor der Veröffentlichung wurde sie den <strong>Kinder</strong>nvorgelesen. Der Autor stellte sich damit seinem kritischsten Publikum, „der einzigen<strong>für</strong> mich wirklich kompetenten Kritik“, wie Preußler formulierte (in: Pleticha 19<strong>98</strong>, S.210).Besonderen Kontakt pflegte Otfried Preußler mit kranken und behinderten <strong>Kinder</strong>n,die sich in Krankenhäusern, Pflegeheimen oder in Sonderschulen befanden. Ihnenwendete er sich gern zu; ihre Briefe, geschrieben oder diktiert, beantwortete er sehrsorgfältig und einfühlsam. Preußler bemühte sich, ihrem Schicksal gerecht zu werden.Doch nicht nur das. Zusammen mit ein paar Freunden gründete er das „HilfswerkAschau“ (die Orthopädische <strong>Kinder</strong>klinik Aschau), <strong>für</strong> das er selbst aus Anlass seines70. Geburtstags das Honorar <strong>für</strong> seinen Text zum Bilderbuch Das Eselchen und derkleine Engel (Thienemann 1993) stiftete und seine Freunde und Leser zu einer Spendeaufrief.Noch ein besonderes Verdienst muss hier genannt werden. Otfried Preußler gilt seitder Publikation des von ihm ins <strong>Deutsche</strong> übertragenen Buches Kater Mikesch destschechischen Autors Josef Lada, <strong>für</strong> das er 1963 den <strong>Deutsche</strong>n Jugendbuchpreis erhielt,als Brückenbauer oder – wie Jella Lepman, die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothekin München, es ausgedrückt hat – als „<strong>Kinder</strong>buch-Brücken-Bauer“von Deutschland nach Tschechien. Eine Tat, die in ihrer Wirkung <strong>für</strong> das deutschtschechischeVerhältnis nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.Kurt Franz, der Präsident der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur,hat den Autor Otfried Preußler und seine <strong>Kinder</strong>bücher in einer Laudatio überzeugendcharakterisiert:Seine Sicht der Welt hat Preußler nie verleugnet, stets ist er – bei allem Wandel seinesErzählens – seinen Grundsätzen treu geblieben, denn er glaubt an das Gute imMenschen und an die Notwendigkeit eines kindlichen Schonraums. Dieses Konzepteiner unbeschwerten, glücklichen Kindheit ist ein ewiges menschliches Wunschbild, dassich freilich allzu oft nur in idealisierender Rückerinnerung ‚realisieren‘ läßt. [...] Alldie gängigen Vorurteile über das Lehrhafte oder Oberlehrerhafte bestätigen sich bei ihm[Preußler] nicht. Im Gegenteil, sie werden nachdrücklich widerlegt. Seine Erzählweisehat so gar nichts von diesem verbreiteten Klischee, sie ist leicht und schwerelos, niewird eine Moral aufgepfropft oder angehängt, das Pädagogische ist seinen Werkenimmanent. (Franz 1997, S. 11)Meinen Nachruf möchte ich mit Worten Otfried Preußlers schließen, die seineTöchter der Danksagung aus Anlass seines Todes beigefügt haben:


IN MEMORIAM 67Ist so der Tod?In breitem SchwallAus alter BahnHinaus ins AllEin scheinbar sichErgießenUnd doch:Ein Sturz ins Leben nur –Bewegung undAuf neuer SpurEin andersWeiterfließenLiteraturverzeichnisPreußler, Otfried: Ich bin ein Geschichtenerzähler. Hrsg. von Susanne Preußler-Bitschund Regine Stigloher. Stuttgart: Thienemann 2010.Franz, Kurt: „Erzählen“ als Zauberei betrachtet. Laudatio auf Otfried Preußler anläßlichder Verleihung des Oberbayerischen Kulturpreises am 11.10.1997 in Rosenheim.In: <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong> 1997, H. 62, S. 10–12.Lange, Günter: Otfried Preußler. In: Franz, Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef(Hrsg.): <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur. Ein Lexikon. Meitingen: Corian 1995 ff. (33.Erg.-Lfg. Juni 2008, S. 1–60).Lange, Günter: Otfried Preußlers <strong>Kinder</strong>- und Jugendbücher in der Grundschule und inder Sekundarstufe I. Baltmannsweiler: Schneider 2008 (<strong>Kinder</strong>- und Jugendliteraturim Unterricht; 8).Lange, Günter: Otfried Preußler Ich bin ein Geschichtenerzähler. In: <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>2010, H. 92, S. 32–34.Pleticha, Heinrich: Otfried Preußler – Herkunft, Biographie und Werk. In: Pleticha,Heinrich (Hrsg.): Sagen Sie mal, Herr Preußler... Festschrift <strong>für</strong> Otfried Preußlerzum 75. Geburtstag. Stuttgart, Wien, Bern: Thienemann 19<strong>98</strong>, S. 209–210.Spreckelsen, Tilman: Und dann geht das Theater los. Entwürfe, Briefe, Tagebücher:Was ein Schriftsteller hinterlässt, landet meist in einem Archiv. Ein Besuch in derBerliner Staatsbibliothek. In: FAZ v. 10.3.<strong>2013</strong>, S. 63.Thienemann Verlag. Pressemitteilung: Nachlass zu Lebzeiten. Otfried Preußler entschiedsich <strong>für</strong> die Blutenburg. In: <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong> 2000, H. 71, S. 19.


68IN MEMORIAMHANS GÄRTNEREr erzählte von Mose, Jesus und FranziskusVor 30 Jahren erhielt Max Bolliger (gest. am 10. Februar <strong>2013</strong>)den Katholischen <strong>Kinder</strong>buchpreisEuer Bruder Franz – das Jugendbuch, das „aus dem Leben Franz von Assisis“ erzählte,kam 1<strong>98</strong>2 im Schweizer Verlag Huber, Frauenfeld, heraus – eine Gabe zum 800.Geburtstag des Heiligen, dessen Name sich der argentinische Papst vor wenigen Wochengab. 23 Geschichten gehen in dem Buch jeweils „Tatsachen“ voraus, so dass diejungen Leserinnen und Leser sowohl sachlich als auch poetisch den radikalen Christusnachfolgerdes Mittelalters kennenlernen konnten. Das Buch erhielt ein Jahr nachErscheinen den Katholischen <strong>Kinder</strong>buchpreis der <strong>Deutsche</strong>n Bischofskonferenz. SeinAutor Max Bolliger, der damals in Zürich lebte und auch den Schweizer Jugendbuchpreiserrang, starb hier unerwartet am 10. Februar dieses Jahres. Er erlebte seinen 84.Geburtstag (23. April) nicht mehr.Vor gut zehn Jahren verlieh die TheologischeFakultät der Universität Zürich demin Weesen am Walensee lebenden SchweizerDichter und Erzähler die Ehrendoktorwürde.Max Bolliger führte den akademischenTitel, der ihn persönlich sehr freute,nie in seiner Briefpost. Wer ihn kennenlernendurfte, hat ihn als bescheidenen, liebenswürdigenMenschen in Erinnerung.Gern war er zu Gast bei den Jahreskursendes Sankt Michaelsbundes. Im November2005 reiste er nach Volkach am Main, umden Großen Preis der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong><strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur <strong>für</strong> sein Gesamtwerkentgegenzunehmen. Die Laudatiohielt der Schreiber dieses kurzen Nachrufs,dem wohl bewusst ist, dass der Gelobte sicheine „große Schlussrede“ verbeten hätte.Ein Foto zu zweit erlaubte er, als ersich nach Volkach durch das ihm bis datounbekannte Würzburg hatte führen lassen.Max Bolliger (1929 – <strong>2013</strong>) mit HansGärtner in Würzburg, nach der Verleihungdes Großen Preises der <strong>Deutsche</strong> <strong>Akademie</strong><strong>für</strong> KJL im November 2005 (Foto:privat)


IN MEMORIAM 69Mit Max Bolliger, der 1963 <strong>für</strong> seine biblische Erzählung David den <strong>Deutsche</strong>n Jugendbuchpreiserhielt und vor allem durch zahlreiche Bilderbuchtexte, Legenden undbiblische Nacherzählungen bekannt wurde, verlieren mehrere Verlage einen ihrer bedeutsamstenAutoren: vor allem Herder, Ravensburger, bohem press, auch der kleinefeine „Verlag am Eschbach“, wo kürzlich noch Bolligers Märchen vom Dichter undder Maus erschienen war. Darin glänzt der Autor noch immer als Sprachkünstler, demes an Feinschliff und struktureller Einfachheit seiner stets inhaltskonzisen Texte, vieledavon mit einem (oft impliziten) religiösen Einschlag, kaum jemand gleichtat.In Braunwald-Schwanden/KanntonGlarus 1929 geboren, war MaxBolliger in seiner Schweizer Heimatund in Luxemburg als Dorfschullehrer,Heilpädagoge, Sonder- und Seminar-Lehrertätig, bevor er sich inden 1950er Jahren ganz auf dieSchriftstellerei verlegte, zunächstmit Lyrik, dann mit so beliebten, oftausgezeichneten <strong>Kinder</strong>- und Jugendbüchernwie Das Buch derSchöpfung (Herder), der Gesamtausgabeseiner Biblischen Geschichten(Ravensburger) über Joseph,David, Mose, Daniel und Jesus oderder Legendensammlung Wie Georgden Drachen bezwang (Herder).Herder übernahm auch den berühmtgewordenen Band Euer BruderFranziskus. Dem Glaubensverständnisund der Lebensweise desgroßen Umbriers schloss Max Bolligersich zur Gänze an, auch wenner, was viele seiner Fans erstaunenlassen mag, kein Katholik war.Cover der Taschenbuchausgabe (1<strong>98</strong>4)


70IN MEMORIAMERICH JOOßDie Bilder und die StilleNachruf auf Max BolligerAls ich vor einigen Jahren meine bis dahin vor der Öffentlichkeit zurückgehaltenenGedichte publizieren wollte, kam eine Mitarbeiterin des Verlages auf mich zu mit derAnregung, doch über ein Vorwort nachzudenken. Lyriker äußern sich nicht gerne zuihren Gedichten; schon gar nicht wollen sie ihren Lesern die Deutung abnehmen. Alsobat ich die Mitarbeiterin, einmal bei Max Bolliger, dem fernen Freund, anzufragen.Selbst wollte ich das nicht tun, es erschien mir zu aufdringlich. Aber Bolliger warensolche Bedenken fremd. Er antwortete mit einer Einführung in meine Gedichte, in derer – wie öfters – die „Distanz zwischen unseren Wohnorten und Wirkungskreisen“ bedauerteund gleichzeitig unsere innere Verwandtschaft hervorhob. Dabei überging ergroßmütig, dass ich in diesem Verhältnis lange Zeit der Lernende gewesen bin und bisheute die Prägnanz seiner Sprache und den – bei aller Absichtslosigkeit und Leichtigkeit– immer vorhandenen ethischen Ernst seiner Texte bewundere.Die Welt der <strong>Kinder</strong>literatur ist überschaubar, jeder kennt fast jeden. Max Bolligergehörte nicht zu jenen selbstbewussten Verkäufern der eigenen Bücher, an die Verlageheutzutage gerne ihren Vertrieb delegieren. Er war eher ein Beobachter, zurückhaltendbis zur (freundlich) spürbaren Distanz, manchmal sogar bis zur Unsichtbarkeit. Sichselbst zählte er keinesfalls unter die Virtuosen, er verstand sich dezidiert als ein Handwerkerder Sprache. Doch dieses Handwerk beherrschte er meisterhaft, darin vermutlichnicht unähnlich seinem Großvater, einem Seidendrucker, und seinem Vater, einemSchreiner, der in Frankreich gelernt hatte, alte Möbel zu restaurieren. Aus der väterlichenWelt stammte auch ein Vergleich, auf den er bei seinen Vorträgen des öfteren zurückkam:<strong>Kinder</strong>, so führte er bedächtig aus, müssen nicht unbedingt zu Lesern werden.Sie können ohne Bücher genauso glücklich sein, beispielsweise als Schreiner. Nurum dann listig hinzuzufügen: Wer freilich Kunstschreiner werden will, muss spätestensdann die Geschichte seines Handwerks studieren und imstande sein, die alten Vorlagenzu lesen. Ein wenig an sich dürfte Max Bolliger auch gedacht haben, als er das Gebetdes Jacob Böhme schrieb: „Und hier, Herr“, sagt der Schuhmacher und Mystiker ausGörlitz, „sind meine Hände und tun geringe Arbeit.“Im gleichen Gebet spricht Jacob Böhme liebevoll-andächtig vom „Spinnweb“, daser seit Tagen hütet. Max Bolliger, der die kleinen Dinge, die einfachen Welten liebt,berief sich im Gespräch immer wieder auf das „sanfte Gesetz“ von Adalbert Stifter. Erwar darin sehr gewollt ein „Unzeitgemäßer“. Seine Geschichten und seine <strong>Kinder</strong>gedichte,von denen einige zum Besten der deutschsprachigen <strong>Kinder</strong>literatur zählen, habeneine ganz eigene, fast zärtliche Art der Annäherung an ihre Gegenstände und The-


IN MEMORIAM 71men. Das Verletzliche gibt sich in den Büchern von Bolliger als das wahrhaft Unverletzlichezu erkennen. Weit mehr als ein Kunstgriff war <strong>für</strong> den Autor dabei die Rückbesinnungauf die sogenannten einfachen Erzählformen: die Märchen, Legenden undFabeln, die Geschichten der Bibel. Dort fand er jene helfenden und heilenden Bilder,die er zum Zentrum der eigenen Texte machte. Er wusste, dass in solchen elementarenBildern – von ihm in neue Zusammenhänge gerückt – das ganze Menschheitswisseneingeschlossen ist. Der Schweizer Schriftsteller hat die Brüche und Krisen ernst genommen,vor denen niemand sicher ist, schon gar nicht das Kind. Stummel (1999), derkleine Hase, wird von einem „Lebensbild“ in das nächste geschickt, bis an die Grenzedes Todes. Unversehens wächst sich die Fabel zu einem großen Gleichnis aus, zur Bildererzählungvon einer langen und schwierig-schönen Menschwerdung.Vor allem das Interesse <strong>für</strong> die Legenden hat uns beide freundschaftlich verbunden.Max Bolliger störte sich nie daran, dass wir gleichzeitig an und mit den gleichen Heiligenstoffenarbeiteten, gelegentlich sogar unter dem gleichen Verlagsdach. Konkurrenzneidschien ihm völlig fremd zu sein. Vielleicht war ihm auch bewusst, worin erunerreicht bleiben würde: in der Reduktion des Erzählten, in der ganz und gar unprätentiösenKargheit seiner Sätze. Deren hart erarbeitete Armut entwickelt einen Sog, dersich erst beim Vorlesen erschließt. Damit kommt Bolliger dem ursprünglichen Anliegender Legende sehr nahe. Er war aber nicht nur ein genialer Wiederentdecker undNacherzähler scheinbar abgestorbener Erzählstoffe, er hat auch die historisch-kritischeAnnäherung an die hagiographischen Überlieferungen beherrscht. Am sinnfälligstengelang ihm dies mit der Zweiteilung der „Tatsachen und Geschichten aus dem Lebendes Franz von Assisi“, die sein Buch Euer Bruder Franz (1<strong>98</strong>2) zu einem Klassikernicht bloß der Jugendliteratur machte. Legenden, auf solche Weise in unsere Zeit hinübergerettet,sind kein Mittel zum Zweck. Sie dienen weder der Revitalisierung unsereskulturellen Gedächtnisses noch wollen sie an längst verschüttete christliche Lehrgeschichtenerinnern. In ihnen leuchtet, vielleicht zum letzten Mal, das Paradies auf, daswir verloren haben. So gesehen, sind es ganz handfeste Traumgeschichten …Das gilt auch <strong>für</strong> die Weihnachtslegenden, die schon lange vor Max Bolliger auserzähltschienen und denen der Schweizer Autor trotzdem immer neue Facetten abgewann.Keine der Geschichten, so schreibt er in dem Nachwort zu dem SammelbandEin Duft von Weihrauch und Myrrhe (2009) „ist auf fremden Wunsch oder als Auftragentstanden. Ich meine, sie sind mir zugefallen, Geschenke.“ Weihnachten selbst erscheintin diesen Legenden als ein großes, unbegreifliches Geschenk an alle Geschöpfe.Selbst der Narr, der mit leeren Händen vor der Krippe steht, wird beschenkt: „VollVertrauen / legte Maria / das Kind auf seine Arme.“ Und am Ende der Wintergeschichtesagt der hartherzige Mann zu dem Jungen, der frierend mit ihm von der Krippe zurückkehrt:„Komm ins Haus … ich habe Holz genug, / wir wollen die Wärme teilen.“Dieser Schluss erscheint mir bezeichnend <strong>für</strong> viele Weihnachtslegenden von Max Bolliger.Sie strahlen etwas aus, was ich am liebsten mit dem Begriff der „heiligen Nüchternheit“bezeichnen möchte. Da ist keine Ernüchterung spürbar, schon gar kein desillusioniertesErwachen. Stattdessen schildert Bolliger, wie die Menschen in der harten,sternenlosen Wirklichkeit, die auf die wunderbare Nacht in Betlehem folgt, neu anfangen.Sie waren Zeugen eines Geheimnisses, jetzt sehen sie sich mit anderen Augen an.


72IN MEMORIAMWollte ich das gesamte Werk des Schweizer Autors charakterisieren, würde das den Umfangeines Nachrufes weit übersteigen. Aber selbst eine knappe Würdigung der literarischenLebensleistung von Max Bolliger muss die Bilderbücher in den Blick nehmen. Mitihnen hat der Schriftsteller, der immer pädagogisch dachte, ohne dadurch seine Texte zulähmen, mehrere <strong>Kinder</strong>generationen gleichsam „miterzogen“. Jedes dieser Bilderbücherlebt von einer klaren Botschaft. Der Vogelfänger, der im Auftrag des Königs einem Traumnachjagt, erkennt erst ganz am Schluss, dass Das schönste Lied (1<strong>98</strong>0) von keinem Vogelstammt, sondern sein eigenes ist – endlich kann es ihn befreien. In der <strong>Kinder</strong>brücke(1979) sind es die <strong>Kinder</strong> der Bauern, die unbefangen, mit spielerischer Neugierde, denHass der Erwachsenen aufbrechen. So führen sie ihre verfeindeten Familien zusammen.Und Der goldene Fisch (1<strong>98</strong>4), der am Ende der gleichnamigen Legende tot auf demGrund der ausgetrockneten Quelle liegt, erinnert an die Vertreibung aus dem Garten Eden.Besitzgier hat die schöne, unschuldige Welt zerstört. Doch Gott erbarmt sich der schuldiggewordenen Menschen: Er schenkt „ihnen <strong>Kinder</strong> / und den <strong>Kinder</strong>n dieser <strong>Kinder</strong> / dieVerantwortung“, damit sie einen neuen Garten anlegen können.Durch viele dieser Geschichten zieht sich das Lebensthema von Max Bolliger: dieToleranz. Zwei andere Themen, die sein Bilderbuchschaffen maßgeblich prägten, hater in dem sehr persönlichen Gebet „Jeden Tag neu“ als Bitten an Gott formuliert: „Gib,dass ich mich meines Schattens nicht schäme“ und „Lass mich den Menschen annehmen,wie er ist“. Der Zauber der Bilderbücher geht freilich nicht bloß von ihren Geschichten,sondern mindestens ebenso von den Illustrationen aus. Bedeutende, kongenialeKünstler wie Jindra Capek, Celestino Piatti, Stepan Zavrel oder Jürg Obrist habensie geschaffen. Wo sich der Autor zurücknahm und mit einer sehr konzentrierten, fastliedhaft rhythmisierten Prosa arbeitete, lieferten sie die phantastisch-mehrdimensionalen,manchmal auch naiv anmutenden, jedoch nie wirklich naiven Bilder.Wie oft bin ich Max Bolliger begegnet? Unsere Treffen lassen sich an den Fingern einerHand abzählen: erstmals 1<strong>98</strong>3 bei der Verleihung des Katholischen <strong>Kinder</strong>buchpreises<strong>für</strong> Euer Bruder Franz in Regensburg, danach bei Tagungen in Schwerte, in Würzburg undauf Schloss Hirschberg. Rechtzeitig vor Weihnachten tauschten wir fortan regelmäßig unsereneuesten Bücher aus und reagierten auf diese Zusendungen mit sehr persönlichen Zeilen.Damals, in Schwerte, erhielt ich von ihm den seither sorgsam gehüteten GedichtbandSchweigen, vermehrt um den Schnee, der schon 1969 erschienen war und mir die Augenöffnete <strong>für</strong> einen ganz anderen Max Bolliger, nicht mehr den Heilpädagogen und Freundder <strong>Kinder</strong>, sondern den in sich gekehrten, melancholischen Dichter, dessen Bilder dieVerstörungen des Lebens sehr hart herausarbeiten. Sätze wie die folgenden – „Erschrockenatmet / das jäh in die Stille / geworfene Herz“ oder „ … alles, was ich bin, / ist die Zwiesprache/ des Schweigens“ – gehen mir bis heute nach. Viel später erst, als mir Bolliger <strong>für</strong>den Band Baustellen des Himmels (2001) ausgewählte Teile seiner Notizbücher zur Verfügungstellte, erkannte ich die eigentliche Kontinuität in seinem Lebenswerk. Mit wachsendemAlter schien ihn mehr denn je die Stille zu beschäftigen, der „Gefährte neben mir“.Aber jetzt formulierte er: „Die Stille kann nicht zerstört werden, nur die Fähigkeit, sie zuempfangen. Die Stille schafft jenen Raum, den Gott braucht, darin zu wohnen.“ Wahrscheinlichkönnen wir Max Bolliger am ehesten gerecht werden, wenn wir diese Stille hineinnehmenin die Lektüre seiner Bücher, auch und ganz besonders seiner <strong>Kinder</strong>bücher.


IN MEMORIAM 73KURT FRANZMargret Rettich ist totAm 15. Mai <strong>2013</strong> ist Margret Rettich 86-jährig in Braunschweigverstorben. Damit existiert auch der andere Teildessen nicht mehr, was man lange Zeit unter dem Markenzeichen„die Rettichs“ verstanden hat. Denn Margret bildetezusammen mit ihrem Mann Rolf Rettich, der schon voreinigen Jahren gestorben ist, eine feste Einheit, im Lebenund im Schaffen, denn viele der zahlreichen Bücher – dieAnzahl geht in die Hunderte – waren eine Gemeinschaftsarbeitder beiden. Über Jahrzehnte hinweg war ihr Werkvon Disziplin, Konzentration, Ausdauer, künstlerischerPerfektion und einer unerschöpflichen Erfindungsgabe geprägt.Sie haben sich sogar gegenseitig Bilder <strong>für</strong> ihre eigenenBücher geliefert, Rolf allerdings mehr <strong>für</strong> seine Frau. Der Erfolg von Fernsehsendungenwie Die sprachlosen Bildergeschichten oder Die Sendung mit der Maus warnicht zuletzt ihnen zu verdanken, und so verwundert es nicht, dass ihnen auch gemeinsamverschiedene Auszeichnungen zuerkannt wurden, so 1997 der Große Preis der<strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur.Margret, 1926 in Stettin geboren, hatte von 1946 bis 1952 Grafik an der KunstschuleErfurt studiert, war dann 1960 mit ihrem Mann in den Westen übersiedelt, wo sie aufdem Lande in Niedersachsen ihr Wohn- und Arbeitsdomizil fand. Margret Rettich, derenEntwicklung als Grafikern zunächst über die Werbebranche ging, war von Anfangmehr der farbigen Illustration zugeneigt, und sie begann früh, eigene Bücher zu schreibenund zu illustrieren, und entwickelte so auch einen individuellen Stil, mit dem siedie Realität pointiert trifft, aber eigenständig interpretiert, oft humorvoll, manchmalauch skurril, aber nie verletzend, eher liebevoll-anteilnehmend, was ihre kindlichenRezipienten auch sofort spürten. Ihre Bilder sind in den Farben weich, da sie Pastelltönebevorzugte, und in ihrer Wirkung sehr poetisch.Erinnerungen werden wach, wenn der Verfasser dieser Zeilen an seine frühere Jury-Tätigkeit in der Sparte Bilderbuch beim <strong>Deutsche</strong>n Jugendliteraturpreis zurückdenkt. MargretRettich hat <strong>für</strong> ihr Buch Die Reise mit der Jolle, in dem auch ihre Neigung zum Historischenund Dokumentarischen zum Ausdruck kommt, diesen ehrenvollen Preis 1<strong>98</strong>1 erhalten.In der Begründung hieß es u.a.: „Die zart aquarellierten Bilder, die mit ihrer niederdeutschenSzenerie und ihrem volkstümlichen Charakter an Brueghelsche Malerei erinnern,lassen die <strong>Kinder</strong> in linearer Abfolge am Geschehen teilnehmen.“Mit dem Tod von Margret Rettich hat die <strong>Kinder</strong>literatur eine vielseitige Autorinund einfühlsame Illustratorin verloren.


74Aus der <strong>Akademie</strong>Einladung zur TagungLiteraturentwicklung, Literaturkritik,LiteraturbehandlungDie <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur im Prozess des gesellschaftlichenund medialen Wandels24./25. September <strong>2013</strong> – Schelfenhaus, VolkachTagungsleitungDr. Claudia Maria Pecher, Frankfurt a.M.Prof. Dr. Karin Richter, ErfurtPROGRAMMDienstag, 24. September <strong>2013</strong>13.00 Begrüßung durch das Präsidium und die Tagungsleitung13.30 – 14.15 Uhr Prof. Dr. Hans-Heino Ewers (Frankfurt am Main)Klassiker, Kanonbildung und literarische Wertung auf dem Feldder <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur14.15 – 15.00 Uhr Prof. Dr. Karin Richter (Erfurt)Kindliche Leseinteressen und klassische BildungBegegnungen von ‚Medienkindern’ mit Goethe, Schiller und KleistPause15.45 – 16.30 Uhr Dr. Claudia Maria Pecher (Frankfurt am Main)Grimm’sche Märchen: ein „Klassiker“ im Kontext aktueller<strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur16.30 – 17.15 Uhr Dr. Tilman Spreckelsen (Frankfurt am Main)1000 aus 8000: <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteraturkritik in derdeutschsprachigen Presse der GegenwartGelegenheit zum Abendessen19.00 – 21.00 Uhr Podiumsdiskussion und Gespräch:Literaturverfilmungen in der <strong>Kinder</strong>- und JugendmedienszeneStatements von Schriftstellern, Produzenten, Medienvertreternund Wissenschaftlern: Kirsten Boie, Ingelore König, IreneWellershoff, Susanne Heinke und Ute WegmannModeration: Thomas Brenner (Dresden)


Aus der <strong>Akademie</strong> 75Mittwoch, 25. September <strong>2013</strong>9.00 – 11.00 Uhr Dr. Barbara <strong>Kinder</strong>mann (Berlin), Anna Hein (Weimar),Klaus Ensikat (Berlin)Vernissage und Verlagspräsentation11.30 – 13.00 Uhr Workshops(I) Dr. Franz-Josef Payrhuber (Worms)Klassische Stoffe und Stoffe der Fabel <strong>für</strong> das Junge TheaterStücke der Dramatiker Martin Baltscheit und Ulrich Hub(II) Prof. Dr. Karin Richter (Erfurt)Klassische Stoffe in literarischen Adaptionen und künstlerischen BildweltenZugänge von <strong>Kinder</strong>n in der Grundschule und in der Sekundarstufe I(III) Nils Beer (Dresden)Film-Workshops <strong>für</strong> Jugendliche – literarische und mediale Bildung(IV) Susanne Heinke (Erfurt)Alte und neue MärchenverfilmungenÄsthetische Qualität, Wirkungspotential, Behandlungsmöglichkeitenin allen Schulstufen(V) Sarah Maria Bernstein (Leipzig)Bildwelten als Wege zu einem schwierigen ThemaDas Thema ‚Tod’ in aktuellen literarischen Erscheinungen. Erfahrungenin Schulprojekten mit Abschied von Rune und Ente, Tod und Tulpe13.00 Uhr Abschluss der TagungDie Tagungsgebühr beträgt 85,00 €, <strong>für</strong> Sudierende, LiV und andere in AusbildungStehende 45,00 € (Nachweis beifügen).Sie beinhaltet neben der abendlichen Podiumsdiskussion auch den kostenlosen Bezugdes Tagungsbandes (im Sommer 2014).Anmeldung bitte bis zum 1. September <strong>2013</strong> per Telefon (09381-4355) oder E-Mail(info@akademie-kjl.de) oder über die Home-Page der <strong>Akademie</strong> (www.akademiekjl.de).Die Anmeldung kann erst nach Eingang des Tagungsbeitrags auf dem Konto der<strong>Akademie</strong> (Nr. 43 22 83 37 bei der Sparkasse Mainfranken, BLZ 790 500 00) berücksichtigwerden.Die Unterbringung ist eigenständig zu organisieren. Ein Unterkunftsverzeichnis findenSie unter www.volkach.deWeitere Infos zur Tagung finden Sie auf der Home-Page der <strong>Akademie</strong>:www.akademie-kjl.de


76Aus der <strong>Akademie</strong>KURT FRANZ / GÜNTER LANGEVorankündigung<strong>Akademie</strong>-Tagung 2014: Otfried PreußlerDie <strong>Deutsche</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur führt am 8. und 9. Mai 2014ihre Frühjahrstagung durch. Sie wird organisiert von Kurt Franz und Günter Lange.Diesmal steht sie thematisch ganz im Zeichen von Person und Werk Otfried Preußlers,was man wohl nicht eigens begründen muss. Otfried Preußler war 1976 Gründungsmitgliedder <strong>Akademie</strong>, erster Herausgeber des <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>n und auch Trägerdes Großen Preises. Er starb am 18. Februar <strong>2013</strong> und wäre am 20. Oktober 90 Jahrealt geworden. Aber der Hauptgrund liegt natürlich in seiner weiterhin ungebrochenenliterarischen Bedeutung, im deutschsprachigen Raum wie auch international.Die Referate werden, nach einer allgemeinen Einführung, schwerpunktmäßig aufvolksliterarische Elemente im Werk Preußlers eingehen und deren Bedeutung <strong>für</strong> diejungen Leser wie <strong>für</strong> die <strong>Kinder</strong>literatur überhaupt aufzeigen. So werden seine besonderenBezüge zu Sagengestalten wie Rübezahl und Krabat, seine literarische Adaptionder Hexe und seine Bearbeitung religiöser Elemente im Mittelpunkt stehen. Nebenstoff- und motivgeschichtlichen Schwerpunkten werden natürlich auch sprachliche undnarrative Züge wie etwa „szenisches Erzählen“ im Werk Preußlers berücksichtigt.Der Abend bei Wein am Donnerstag wird wesentlich vom Thienemann-Verlag getragen,was nicht verwundert, ist er doch der Preußler-Verlag schlechthin, so dass man unterhaltsam informiertwird über die Beziehung eines großen Autors zueinem großen Verlag. Dazu wird der Illustrator MathiasWeber, der die Preußler-<strong>Kinder</strong>buchklassiker kolorierthat, in launiger und anschaulicher Weise Einblickin seine Werkstatt geben.Am Freitagvormittag werden, im Anschluss anzwei Referate, mehrere Workshops durchgeführt, andenen die Teilnehmer/innen sich aktiv beteiligen können.Dabei reicht die Palette von der Filmanalyse(Krabat) über die Auseinandersetzung mit dem Puppenspielbis hin zum kreativen Umgang mit PreußlersBilderbüchern und zum kreativen Schreiben.Damit wendet sich die Tagung, die eine Art Fazit zuLeben und Werk des großen Erzählers ziehen möchte,an einen großen Interessentenkreis, an StudierendeTitelbild zu Krabat von HerbertHolzingebenso wie an Lehrer/innen, an Bibliothekare/Bibliothekarinnen ebenso wie an Buchhändler/innenund natürlich an alle mit <strong>Kinder</strong>literatur Befassten, nicht zuletzt an OtfriedPreußler-Fans.


Aus der <strong>Akademie</strong> 77<strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur – Ein LexikonIm ersten Halbjahr <strong>2013</strong> erschienen mit denNummern 48 und 49 zwei Ergänzungslieferungendes Lexikons mit 17 Beiträgen in einemGesamtumfang von 360 Seiten. Mitgearbeitethaben daran insgesamt zehn Autorinnenund Autoren. Die Beiträge und Verfasser (inKlammern) im einzelnen:Teil 1: Autoren/ÜbersetzerHeiner Feldhoff (Franz-Josef Payrhuber)Peter Härtling (Aktualisierung) (HanneloreDaubert)Friedl Hofbauer (Susanne Blumesberger)Josef Holub (Aktualisierung) (Franz-JosefPayrhuber)Edith Klatt (Barbara Asper)Hans Peter Richter (Günter Lange)Hermynia zur Mühlen (Manfred Altner)Teil 2: Illustratoren/IllustrationenBerti Breuer-Weber (Manfred Berger)Adrian Ludwig Richter (Manfred Altner)Marianne Schneegans (Manfred Berger)Teil 3: Verlage/VerlegerMolling (Edel Sheridan-Quantz)Teil 5: Literarische Begriffe/Werke/MedienKonkrete Poesie (Franz-Josef Payrhuber)Lesetagebuch (Ingrid Hintz)Teil 6: Themen/Motive/StoffeEdelweißpiraten (Günter Lange)Teil 7: Forschung/VermittlungAgnes Gutter (Manfred Berger)August Köhler (Manfred Berger)Vorlesen (Eberhard Ockel)


78Aus der <strong>Akademie</strong>Aufruf zur Fördernden Mitgliedschaftbei der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>undJugendliteratur e.V. VolkachSie wollen die <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur und das Lesen zusammen mit der <strong>Deutsche</strong>n<strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong> und Jugendliteratur fördern?Dann können Sie Einzelmitglied (Privatpersonen) oder Verbandsmitglied (Buchhandlungen,Bibliotheken, Schulen, Verlage, Einrichtungen und Unternehmen verschiedensterArt) bei der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur werden.Der Jahresbeitrag <strong>für</strong> eine fördernde Mitgliedschaftbeträgt als Einzelmitglied ab 50 Euro und als Verbandsmitglied ab 150 Euro.Unsere Leistungen <strong>für</strong> Einzelmitglieder– Zusendung von Zeitschrift <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>, Jahresband und Veranstaltungskalenderder <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur– Präsentation von ausgewählten Neuerscheinungen auf der Homepage (Titelbild undVerlinkung auf der Homepage– Präsentation von Buch- und Filmtrailern zum Buch/Autor auf der Homepage– Monatliche Mitteilung zur Auszeichnung „Buch des Monats“– Einladung zur jährlichen Preisverleihung sowie zu den Veranstaltungen der <strong>Akademie</strong>Unsere Leistungen <strong>für</strong> Verbandsmitglieder– Zusendung von Zeitschrift <strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>, Jahresband und Veranstaltungskalenderder <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur– Einladung zur jährlichen Preisverleihung sowie zu den Veranstaltungen der <strong>Akademie</strong>– Präsentation von Lesereisen mit ausgewählten Autoren auf der Homepage der <strong>Akademie</strong>– Präsentation von ausgewählten Neuerscheinungen auf der Homepage (Titelbild undVerlinkung auf der Homepage)– Präsentation von Buch- und Filmtrailern zum Buch/Autor auf der Homepage– Monatliche Mitteilung zur Auszeichnung „Buch des Monats“– Möglichkeit von Kooperationsveranstaltungen mit der <strong>Akademie</strong> (Lesungen, Lesereisen,Fortbildungsveranstaltungen, Ausstellungen)Haben Sie zusätzliche Fragen?Kontaktieren Sie die <strong>Deutsche</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur in Volkach:Fon 09381/4355, E-Mail info@akademie-kjl.deInternet: www.akademie-kjl.de und www.fb.com/akademie.kjl


Impressum<strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>Zeitschrift der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und JugendliteraturHerausgeberin<strong>Deutsche</strong> <strong>Akademie</strong> <strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur e. V. VolkachGeschäftsstelleChristina Maria Mayer, Schelfenhaus, Schelfengasse 1, 97332 VolkachFon 09381/4355, E-Mail info@akademie-kjl.deInternet: www.akademie-kjl.de und www.fb.com/akademie.kjlBankverbindungSparkasse Mainfranken, Würzburg: Konto 43228337, BLZ 790 500 00IBAN DE 35 7905 0000 0043 2283 37, BIC BYLADEM1SWUSchriftleitung und RedaktionDr. Franz-Josef Payrhuber, Goldbergstraße 23, 67551 WormsFon 06241-33562, E-Mail franz.payrhuber@t-online.deProf. Dr. Kurt Franz, Stieglitzstraße 3, 93180 DeuerlingFon 094<strong>98</strong>-1391, E-Mail kurtfranz@t-online.deErscheinungsweise und BezugDer „<strong>Volkacher</strong> <strong>Bote</strong>“ erscheint bis auf Weiteres zweimal im Jahr als elektronische Zeitschrift,die kostenlos über die Homepage der <strong>Akademie</strong> heruntergeladen werden kann.Anfragen bitte an die Geschäftsstelle der <strong>Akademie</strong>.CopyrightKein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong><strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur in irgendeiner Form reproduziert oder übersetzt werden.ISSN 1863-2599


Hans-Heino Ewers,Gabriele von GlasenappClaudia Maria Pecher(Hrsg.)Lesen <strong>für</strong> die UmweltNatur, Umwelt und Umweltschutzin der <strong>Kinder</strong>- und JugendliteraturSeit dem späten 18. Jahrhundert gelten<strong>Kinder</strong> als naturnahe Wesen, Verstädterungund Industrialisierung haben da<strong>für</strong>gesorgt, dass <strong>Kinder</strong> immer wenigerüber eine lebendige Naturerfahrungverfügen. Dichtung und Literatur laufenseit jeher gegen die Entfremdungvon Natur und Gesellschaft Sturm.Insbesondere die <strong>Kinder</strong>literatur beschworimmer wieder die Einheit vonKind und Natur.Die <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur unsererTage hat Naturzerstörung und Umweltschutzzu ihrem Thema gemacht.Seit Gudrun Pausewangs Die Wolkehört die Jugendliteratur nicht auf, vorUmweltkatastrophen unermesslichenAusmaßes zu warnen. ÖkologischeDystopien haben mit der Fukushima-Katastrophe an Aktualität gewonnen.Die Beiträge des Bandes machen deutlich,dass <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteraturaus Vergangenheit und Gegenwart <strong>Kinder</strong> und Jugendliche <strong>für</strong> Natur und Umweltzu sensibilisieren vermag. Der Band eignet sich <strong>für</strong> Pädagogen und Lehrkräfte allerSchularten der Fächer Deutsch, Biologie und Religion, Buchhändler, Bibliothekare,<strong>Kinder</strong>- und Jugendbuchfreunde, die bewusst ihren Beitrag zum Umwelt- und Naturschutzleisten möchten.Die HerausgeberProf. Dr. Hans-Heino Ewers, Geschäftsführender Direktor des Instituts <strong>für</strong> Jugendbuchforschungan der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er veröffentlichte zahlreiche Publikationenu. a. zur Theorie der <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur, zur Geschichte der deutschen<strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur vom 18. bis 20. Jahrhundert und zum aktuellen Wandel in der<strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur.Prof. Dr. Gabriele von Glasenapp, Leiterin der Arbeitsstelle <strong>für</strong> Leseforschung und <strong>Kinder</strong>-und Jugendmedien (ALEKI) an der Universität zu Köln und Professorin am dortigenInstitut <strong>für</strong> deutsche Sprache und Literatur. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Allgemeine<strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur sowie Jüdische Literatur.Dr. Claudia Maria Pecher, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut <strong>für</strong> Jugendbuchforschungder Goethe-Universität Frankfurt am Main, Vizepräsidentin der <strong>Deutsche</strong>n <strong>Akademie</strong><strong>für</strong> <strong>Kinder</strong>- und Jugendliteratur e. V. Volkach, stellvertretende Vorsitzende der Märchen-Stiftung Walter Kahn.

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