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Trier Seminar on Germany's foreign deployments - Deutsche ...

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Fazit Proseminar<br />

Essays<br />

Auslandseinsätze der<br />

Bundeswehr<br />

Martin Wagener (Hrsg.)<br />

Nr. 2<br />

September 2003


Universität <str<strong>on</strong>g>Trier</str<strong>on</strong>g><br />

Lehrstuhl für Internati<strong>on</strong>ale Beziehungen<br />

und Außenpolitik<br />

Proseminar SS 2003<br />

Einführung in die Internati<strong>on</strong>alen Beziehungen/Außenpolitik.<br />

Militarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik?<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr<br />

Universität <str<strong>on</strong>g>Trier</str<strong>on</strong>g><br />

Fachbereich III - Politikwissenschaft<br />

Universitätsring 15<br />

54286 <str<strong>on</strong>g>Trier</str<strong>on</strong>g><br />

Teilnehmer<br />

Alexander Beier, Lars Bretthauer, Thorsten Eberhardt,<br />

Claus Ensinger, Timo Erdmann, Rita Flad, René<br />

Fritsch, Daniel Heisig, Viktor Höhn, Martin Heuskel,<br />

Daniel Kirch, Martin Lempe, Martina Randel,<br />

Johannes Schäfer, Sabine Schlecker, Anna Stege,<br />

Bernhard Straßen, Thomas Streißelberger, Jan Wolter.<br />

Redakti<strong>on</strong>steam<br />

René Fritsch, Martin Heuskel, Anna Stege.<br />

Tel.: + 49 (0) 651 / 201 - 2110<br />

Fax: + 49 (0) 651 / 201 - 3821<br />

e-mail: wagener@uni-trier.de<br />

Internetseite: http://www.martin-wagener.org<br />

Martin Wagener, M.A.,<br />

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für<br />

Internati<strong>on</strong>ale Beziehungen und Außenpolitik der<br />

Universität <str<strong>on</strong>g>Trier</str<strong>on</strong>g>.<br />

2


Inhalt<br />

I. <str<strong>on</strong>g>Seminar</str<strong>on</strong>g>beschreibung ...................................................................................... 4<br />

1. Auszug aus dem „Kommentierten Vorlesungsverzeichnis“ ..................... 4<br />

2. Fazit Proseminar ........................................................................................ 6<br />

II. Fall- und Querschnittsanalysen ...................................................................... 7<br />

1. Vorgehensweise ......................................................................................... 7<br />

2. Arbeitsgruppen ........................................................................................... 7<br />

III. Essays ................................................................................................................. 8<br />

1. Verfassungs- und Völkerrecht .................................................................... 9<br />

2. Werte, Interessen und Herausforderungen ................................................. 18<br />

3. Akteure und Entscheidungsprozesse .......................................................... 27<br />

4. Fähigkeitsprofil der Bundeswehr ............................................................... 35<br />

5. Instituti<strong>on</strong>elle Rahmenbedingungen .......................................................... 46<br />

6. Erfahrungen in Auslandseinsätzen ............................................................. 53<br />

3


I. <str<strong>on</strong>g>Seminar</str<strong>on</strong>g>beschreibung<br />

1. Auszug aus dem „Kommentierten Vorlesungsverzeichnis“<br />

Das Proseminar soll den Studenten grundlegende Kenntnisse über die Internati<strong>on</strong>alen<br />

Beziehungen im Allgemeinen sowie über Auslandseinsätze der deutschen Bundeswehr im<br />

Bes<strong>on</strong>deren vermitteln. Im ersten Teil der Veranstaltung werden zentrale Begriffe und<br />

Theorien der Teildisziplin vorgestellt. Dabei ist u.a. folgenden Fragen nachzugehen: Welche<br />

Akteure dominieren die internati<strong>on</strong>ale Politik? Auf welchen Fundamenten fußt Sicherheit?<br />

Wie kommen außenpolitische Entscheidungen zustande? Welche Ursachen können für<br />

entwicklungspolitische, ök<strong>on</strong>omische oder militärische K<strong>on</strong>flikte identifiziert werden? Wie<br />

lassen sich die Unterschiede zwischen den Theorieansätzen Realismus, Neorealismus,<br />

Liberalismus, Instituti<strong>on</strong>alismus und dem K<strong>on</strong>struktivismus umschreiben?<br />

Im zweiten Teil des Proseminars werden die Auslandseinsätze der Bundeswehr seit der<br />

Wiedervereinigung Deutschlands analysiert. Die Entsendung deutscher Streitkräfte in z.T.<br />

weit entfernte Krisengebiete hat in den vergangenen Jahren erheblich zugenommen. Am Ende<br />

der Ära Helmut Kohls waren 2.800 Soldaten, vornehmlich auf dem Balkan, eingesetzt.<br />

Während der Amtszeit Gerhard Schröders wuchs diese Zahl zeitweise auf bis zu 10.000<br />

Soldaten an, die nun auch am Horn v<strong>on</strong> Afrika und in Afghanistan zum Zwecke des Kampfes<br />

gegen den internati<strong>on</strong>alen Terrorismus stati<strong>on</strong>iert worden sind. 1995 wurde erstmals seit dem<br />

Ende des Zweiten Weltkrieges die Luftwaffe in einen Kampfeinsatz geschickt (Bosnien-<br />

Herzegowina), was sich 1999 (Kosovo) wiederholte. Seit Anfang 2002 sind zudem<br />

Bodentruppen des Kommandos Spezialkräfte am Hindukusch im Einsatz, deren Aufgabe die<br />

Neutralisierung versprengter Kräfte der Al Qaida und der Taliban ist. Vor diesem Hintergrund<br />

wird oftmals behauptet, daß es in den vergangenen Jahren zu einer Militarisierung der<br />

deutschen Außen- und Sicherheitspolitik gekommen ist. Das Proseminar soll herausfinden, ob<br />

und unter Berücksichtigung welchen Maßstabs diese Interpretati<strong>on</strong> gerechtfertigt ist. Dabei<br />

soll ein Vergleich der Amtszeiten Kohls und Schröders feststellen, wo Auslandseinsätze<br />

Formen der K<strong>on</strong>tinuität bzw. des Wandels aufweisen: Hat sich z.B. die Einsatzlogik<br />

verändert? Welche Rückschlüsse sind aus Auslandseinsätzen für die Modernisierung der<br />

Bundeswehr gezogen worden? Diese Thematik begleitend werden folgende Inhalte behandelt:<br />

4


1) Geschichte: Entstehung der Bundeswehr im K<strong>on</strong>text des Kalten Krieges, alte und neue<br />

Herausforderungen<br />

2) Innenpolitik: Einstellungen in der Bevölkerung und in den Parteien zur Verwendung<br />

deutscher Streitkräfte im Ausland, Bedingungen eines Wandels der Meinungen<br />

3) Rechtliche Aspekte: Grundlagen des Streitkräfteeinsatzes im Grundgesetz,<br />

Bundesverfassungsgerichtsurteil v<strong>on</strong> 1994, mögliche Inhalte eines Entsendegesetzes,<br />

Völkerrecht<br />

4) Einsatzmöglichkeiten: Betrachtung der Ausstattung der Bundeswehr, der<br />

Modernisierungsvorhaben sowie der Leistungsgrenzen unter Berücksichtigung der<br />

Merkmale Verlegefähigkeit, Aufklärung, Wirksamkeit im Einsatz, Überlebensfähigkeit,<br />

Durchhaltefähigkeit und Führungsfähigkeit<br />

5) Einsatzformen: Geschichte der Auslandseinsätze der Bundeswehr, Auftragsinhalte zwi-<br />

schen Beobachtermissi<strong>on</strong>en, Friedensbewahrung und Friedensschaffung<br />

6) Einsatzrahmen: UN, OSZE, NATO, WEU<br />

7) Einflußnahme: Abwägung politischer Einflußmöglichkeiten über den Einsatz v<strong>on</strong> hard<br />

power<br />

5


2. Fazit Proseminar<br />

Mit „Fazit Proseminar“ soll der Versuch unternommen werden, zwei<br />

Unterrichtsentwicklungen entgegenzusteuern. Zum einen ist festzustellen, daß sich die<br />

meisten Studenten mit zunehmender zeitlicher Distanz zum <str<strong>on</strong>g>Seminar</str<strong>on</strong>g> an immer weniger<br />

Details erinnern können. Oftmals erscheint nur noch nebulös, worüber einst hitzig diskutiert<br />

wurde. Zum anderen bleibt die Kenntnisnahme dessen, was während des Unterrichts<br />

erarbeitet worden ist, auf den Teilnehmerkreis beschränkt. Studenten, die inhaltlich ähnlich<br />

aufgebaute Proseminare besuchen, können somit nicht vergleichen, wie und worüber<br />

anderenorts gearbeitet worden ist und welche Ergebnisse dabei erzielt worden sind.<br />

Ziel eines Proseminars kann es nicht sein, im Trichterverfahren Unmengen v<strong>on</strong> Empirie zu<br />

lehren. Wesentlich wichtiger ist die Vermittlung v<strong>on</strong> Arbeitsmethoden und grundsätzlichen<br />

Aspekten des Unterrichtsgegenstandes. Im zweiten Teil des SS 2003 wurden deshalb<br />

zusätzlich zu den üblichen Referaten Arbeitsgruppen gebildet, die Querschnittsthemen der<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr analysierten und auf ihre wesentlichen Inhalte auswerteten.<br />

Diese Unterrichtsergebnisse sollen mit „Fazit Proseminar“ einem breiteren Publikum<br />

zugänglich gemacht werden. Das Niveau bewegt sich auf dem eines arbeitsintensiven<br />

Proseminars, dessen Teilnehmer sich in der Regel erstmalig mit den Auslandseinsätzen der<br />

Bundeswehr beschäftigt haben. Nachdem die erste Ausgabe v<strong>on</strong> „Fazit Proseminar“ auf<br />

positive Res<strong>on</strong>anz gestoßen ist (Thema: Motive beim Umgang mit<br />

Massenvernichtungswaffen, veröffentlicht im März 2003 bei der Hessischen Stiftung<br />

Friedens- und K<strong>on</strong>fliktforschung, http://www.hsfk.de/abm/uniforum/pdfs/wagener.pdf),<br />

wurde die Reihe fortgesetzt. Auch dieses Mal sei bet<strong>on</strong>t, daß die Essays Ergebnisse v<strong>on</strong><br />

Studenten im Grundstudium dokumentieren. Die <str<strong>on</strong>g>Seminar</str<strong>on</strong>g>leitung hat inhaltlich und<br />

strukturierend dort eingegriffen, wo es unbedingt notwendig war und dem Lernfortschritt<br />

diente. Ans<strong>on</strong>sten übte sie sich in Zurückhaltung, um den Proseminarcharakter nicht zu<br />

verwässern. Der Herausgeber ist für Anregungen und Kritik jeder Art dankbar.<br />

„Fazit Proseminar“ soll weiterhin halbjährlich erscheinen und wird die Arbeitsergebnisse der<br />

Proseminare v<strong>on</strong> Martin Wagener zusammenfassen. Für das WS 2003/2004 ist folgendes<br />

Thema geplant: „Krieg und Frieden im asiatisch-pazifischen Raum“ (Informati<strong>on</strong>:<br />

http://www.martin-wagener.org).<br />

6


II. Fall- und Querschnittsanalysen<br />

1. Vorgehensweise<br />

Im Laufe des Proseminars wurden alle wichtigen Auslandseinsätze der Bundeswehr seit der<br />

Wiedervereinigung Deutschlands in Form v<strong>on</strong> Referaten diskutiert. Diese Falluntersuchungen<br />

wurden durch Querschnittsbetrachtungen ergänzt, die v<strong>on</strong> sechs Arbeitsgruppen<br />

vorgenommen wurden. Ziel war, die einzelnen Auslandseinsätze durch Rahmenthemen noch<br />

besser zu durchdringen. Dabei sollten Veränderungen und aktuelle Fragestellungen<br />

aufgegriffen werden, um etwa am Beispiel des Fähigkeitsprofils der Bundeswehr zu erklären,<br />

warum sich dieses in welcher Weise gewandelt hat und ob es aktuellen Herausforderungen<br />

gerecht wird.<br />

Die Essays sind Ergebnis eines dreigliedrigen Arbeitsprozesses: (1) Während des Unterrichts<br />

wurde immer wieder auf die Themen der Arbeitsgruppen eingegangen, um wichtige Inhalte<br />

zu identifizieren. (2) Erste Entwürfe der Essays wurde in den beiden letzten Sitzungen der<br />

Veranstaltung vorgestellt, kommentiert und verbessert. (3) Die Essays wurden dann v<strong>on</strong><br />

einem Redakti<strong>on</strong>steam überarbeitet und in Rücksprache mit den Arbeitsgruppen und der<br />

<str<strong>on</strong>g>Seminar</str<strong>on</strong>g>leitung optimiert.<br />

Ein bes<strong>on</strong>derer Dank gilt an dieser Stelle dem Redakti<strong>on</strong>steam, das für die Qualitätssicherung<br />

zuständig war. René Fritsch, Martin Heuskel und Anna Stege haben eigenständig und mit<br />

großem Engagement dafür gesorgt, daß „Fazit Proseminar“ pünktlich erscheinen k<strong>on</strong>nte.<br />

2. Arbeitsgruppen<br />

Arbeitsgruppe 1: Verfassungs- und Völkerrecht<br />

Rita Flad, Daniel Heisig, Jan Wolter<br />

Arbeitsgruppe 2: Werte, Interessen und Herausforderungen<br />

Claus Ensinger, Daniel Kirch, Thomas Streißelberger<br />

Arbeitsgruppe 3: Akteure und Entscheidungsprozesse<br />

Lars Bretthauer, Timo Erdmann, Martina Randel, Sabine Schlecker<br />

Arbeitsgruppe 4: Fähigkeitsprofil der Bundeswehr<br />

Thorsten Eberhardt, René Fritsch, Martin Heuskel<br />

Arbeitsgruppe 5: Instituti<strong>on</strong>elle Rahmenbedingungen<br />

Alexander Beier, Viktor Höhn, Anna Stege<br />

Arbeitsgruppe 6: Erfahrungen in Auslandseinsätzen<br />

Martin Lempe, Johannes Schäfer, Bernhard Straßen<br />

7


III. Essays<br />

ISAF (Internati<strong>on</strong>al Security Assistance Force), Afghanistan, Usbekistan: ca. 1.780<br />

KFOR (Kosovo Force): ca. 3.850<br />

SFOR (Stabilizati<strong>on</strong> Force), Bosnien und Herzegovina: ca. 1.330<br />

CONCORDIA, Mazed<strong>on</strong>ien: 49<br />

NATO HQ Skopje , Mazed<strong>on</strong>ien: 13<br />

UNOMIG (United Nati<strong>on</strong>s Observer Missi<strong>on</strong> in Georgia), Georgien: 11<br />

JFHQ (Joint Forces Headquarters), Neapel: 2<br />

OEF (Operati<strong>on</strong> Enduring Freedom, beinhaltet Marinek<strong>on</strong>tingent am Horn v<strong>on</strong> Afrika und bis zu 100<br />

Spezialkräfte in Afghanistan): ca. 690<br />

Artemis (K<strong>on</strong>go-Missi<strong>on</strong> der EU): 10<br />

Mit den in Deutschland zur Evakuierung aus medizinischen Gründen bereit gehaltenen Soldaten und<br />

den im östlichen Mittelmeer an den Operati<strong>on</strong>en gegen den Terrorismus (Active Endeavour)<br />

beteiligten Kräften sind insgesamt ca. 8.020 Soldaten der Bundeswehr unmittelbar in<br />

Auslandseinsätze involviert. (Stand: 11. September 2003)<br />

Quellen: http://www.bundeswehr.de/forces/030728_einsatz_welt.php (Abruf vom 22.09.2003)<br />

http://www.bundeswehr.de/forces/einsatzzahlen.php (Abruf vom 22.09.2003)<br />

8


Arbeitsgruppe 1<br />

Verfassungs- und Völkerrecht<br />

Rita Flad, Daniel Heisig, Jan Wolter<br />

Möchte man die Auslandseinsätze der Bundeswehr näher analysieren, stellt sich zunächst die<br />

Frage nach deren rechtlicher Grundlage. Die multinati<strong>on</strong>ale Einbindung Deutschlands macht<br />

es notwendig, hierfür über das Grundgesetz hinaus auch die Charta der Vereinten Nati<strong>on</strong>en<br />

(UN) sowie den NATO-Vertrag heranzuziehen. Daher soll im Folgenden zunächst ein<br />

Überblick über diese Instituti<strong>on</strong>en gegeben werden. Die Vielfalt der zu beachtenden Gesetze<br />

und Regelungen führt zu rechtlichen Spannungsfeldern, welche im ersten Teil dieses Essays<br />

aufgezeigt werden. Nach dieser Betrachtung der rechtlichen Spielräume wird die Frage<br />

erörtert, in wieweit die Bundesregierung diese ausschöpft oder gar überschreitet. Schließlich<br />

führt die Analyse der Auslandseinsätze zur Frage nach einem neuen Völkergewohnheitsrecht<br />

und zur Problematik v<strong>on</strong> Präemptiv- und Präventivschlägen. Offene Rechtsfragen,<br />

insbes<strong>on</strong>dere bzgl. der parlamentarischen Mitwirkung in Verbindung mit der Diskussi<strong>on</strong> über<br />

ein Entsendegesetz sollen im Anschluss beleuchtet werden. Abschließend soll nach einer<br />

kurzen Zusammenfassung der Fakten ein Ausblick über die künftige Relevanz der einzelnen<br />

Normen sowie über den anstehenden Reformbedarf gegeben werden.<br />

Rechtliche Grundlagen und Spannungsfelder<br />

Als rechtliche Grundlagen für Einsätze der Bundeswehr dienen neben dem Grundgesetz auch<br />

die UN-Charta und der NATO-Vertrag. Auf alle drei Bereiche soll hier kurz und skizzenhaft<br />

eingegangen werden.<br />

Grundgesetz 1<br />

Das Grundgesetzes enthält vielfältige normative Vorgaben für die deutsche Außenpolitik und<br />

definiert deren Grundlagen. Zunächst ist die in der Präambel enthaltene Vorgabe zu nennen,<br />

daß Deutschland „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ hat, welche<br />

v<strong>on</strong> Art. 26 k<strong>on</strong>kretisiert wird, der besagt, daß keine „Handlungen, die geeignet sind und in<br />

1 Alle folgenden nicht anders gekennzeichneten Artikelangaben beziehen sich auf das Grundgesetz.<br />

9


der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören“<br />

erlaubt sind. Explizit wird in Art. 26 auch der Angriffskrieg verboten.<br />

Ein anderes Gebiet wird durch Art. 24 geregelt: In diesem Artikel wird die Erlaubnis erteilt,<br />

Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Instanzen zu übertragen, sofern diese als Systeme<br />

kollektiver Sicherheit dem Frieden verpflichtet sind. Art. 24 wird nur v<strong>on</strong> Art. 59 II<br />

(Mitwirkung der für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften) und Art. 79 III<br />

(Grundrechte und Bundesstaatlichkeit als unantastbare Bestandteile der Verfassung)<br />

beschränkt. Das Eintreten des Verteidigungsfalles wird durch Art. 115a geregelt und durch<br />

Art. 53a k<strong>on</strong>kretisiert. Schließlich regelt Art. 87a, daß der Bund Streitkräfte zur Verteidigung<br />

aufzustellen habe, diese jedoch nur in Einklang mit den vorgenannten Artikeln einzusetzen<br />

sind.<br />

Hier ergibt sich ein erstes Problemfeld: Unter der Regierung Kohl, und noch stärker unter der<br />

Regierung Schröder, wurde dem Wort „Verteidigung“ viel mehr Spielraum entnommen, als<br />

dies noch unter vorangegangenen Regierungen der Fall war. Dieser Spielraum wurde<br />

allerdings erst durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 eröffnet.<br />

Darin präzisierte das Gericht das Verhältnis zwischen Art. 87a und Art. 24 und entschied, daß<br />

die Aufstellung v<strong>on</strong> Streitkräften zur Verteidigung nicht einer Teilnahme an<br />

Blauhelmmissi<strong>on</strong>en der UN entgegensteht. Als Einschränkung wurde jedoch die Zustimmung<br />

des <strong>Deutsche</strong>n Bundestages zu den Einsätzen vorausgesetzt.<br />

Art. 25 schließlich bestimmt, daß das Völkerrecht Bestandteil des Bundesrechts ist und<br />

Rechte und Pflichten für den Bundesbürger erzeugt. Damit stellt Art. 25 die Verbindung zur<br />

zweiten wichtigen Rechtsquelle für die Auslandseinsätze der Bundeswehr her.<br />

UN-Charta 2<br />

Die wichtigste Quelle des im Grundgesetz angesprochenen Völkerrechts stellt die UN-Charta<br />

dar: Sie regelt den Umgang der Mitgliedstaaten der Vereinten Nati<strong>on</strong>en. Art. 2 der UN-Charta<br />

verbietet die „Androhungen oder Anwendung v<strong>on</strong> Gewalt“, die sich „gegen die territoriale<br />

Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates“ richtet.<br />

2 Abrufbar unter: http://www.UN.de/charta/charta.htm [22.08.03].<br />

10


Nach Art. 39 UN-Charta entscheidet allein der Sicherheitsrat, ob eine Bedrohung des Friedens<br />

vorliegt und welche Art v<strong>on</strong> Maßnahmen, ob nichtmilitärische (Art. 41 UN-Charta) oder<br />

militärische (Art. 42 UN-Charta), ergriffen werden sollen.<br />

Art. 51, der den Staaten die individuelle und kollektive Selbstverteidigung erlaubt, eröffnet<br />

ein weiteres Problemfeld, da es dazu kommen kann, daß ein Land sich durch großzügige<br />

Interpretati<strong>on</strong> dieser Norm einen übergroßen Spielraum zu sichern versucht. Die<br />

Argumentati<strong>on</strong> der USA im Zusammenhang mit dem Dritten Golfkrieg gegen den Irak im<br />

Frühjahr 2003 ist ein Beispiel für dieses Vorgehen.<br />

NATO-Vertrag 3<br />

Der Washingt<strong>on</strong>er NATO-Vertrag vom 4. April 1949 bekräftigt sch<strong>on</strong> in seinem Vorwort den<br />

Glauben an die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nati<strong>on</strong>en. Art. 1 des Vertrages bet<strong>on</strong>t die<br />

Verpflichtung zur friedlichen Beilegung v<strong>on</strong> K<strong>on</strong>flikten und der Wahrung der UN-Charta.<br />

Art. 7 des Nordatlantikpaktes stellt das Gewaltm<strong>on</strong>opol des Sicherheitsrates der UN noch<br />

einmal explizit heraus. Art. 9 des NATO-Vertrages bestimmt den NATO-Rat dazu, über die<br />

Ausführung v<strong>on</strong> Art. 3 (Erhaltung der Widerstandskraft) und Art. 5 (Gemeinsame Reakti<strong>on</strong><br />

auf Angriffe) des Vertrages zu beratschlagen. Der Art. 5 NATO-Vertrag setzt jedoch ähnlich<br />

wie die Bestimmungen in der UN-Charta keinen Automatismus für eine militärische<br />

Unterstützung des Angegriffenen in Gang.<br />

Als Spannungsfelder kann man all die Stellen bezeichnen, in denen erstens die Verträge nicht<br />

k<strong>on</strong>kret genug sind, so daß Interpretati<strong>on</strong>sspielraum gegeben ist. Zweitens ergeben sich<br />

Probleme durch die gegenseitige Bedingung der Vertragswerke. Um dieses mit einem<br />

Einzelbeispiel verdeutlichend abzuschließen, sei auf das Urteil der Berliner Amtsrichters<br />

Lickleder verwiesen, der einen wegen Aufruf zur Fahnenflucht und Befehlsverweigerung<br />

Angeklagten freisprach. Der Angeklagte hatte mit Flugblättern zur Verweigerung der<br />

Teilnahme an den nicht UN-mandatierten Bombardierungen Jugoslawiens im Zuge des<br />

Kosovo-K<strong>on</strong>flikts aufgerufen. 4 Die Urteilsbegründung spricht v<strong>on</strong> völkerrechtswidrigen<br />

Akti<strong>on</strong>en der Bundesregierung und v<strong>on</strong> einem rechtswidrigen Krieg. Dieser NATO-Einsatz<br />

soll im folgenden nun kurz beleuchtet werden.<br />

3 Abrufbar unter: www.nato.int/docu/basictxt/treaty.htm [22.08.03].<br />

4 Aktenzeichen 239 Ds 446/99. Abrufbar unter: http://www.zakk.de/kok/hintergrund/tiergartenurteil.htm<br />

[22.08.03].<br />

11


„Humanitäre Interventi<strong>on</strong>“ - das Beispiel der NATO-Luftschläge gegen Jugoslawien<br />

Verstoß gegen Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta<br />

Da die Luftschläge, welche die NATO im Frühjahr 1999 gegen Jugoslawien durchführte, eine<br />

kollektive Anwendung v<strong>on</strong> Gewalt gegen einen anderen Staat ohne Mandat des UN-<br />

Sicherheitsrates darstellten, verstießen sie grundsätzlich gegen das Gewaltverbot der Charta<br />

der Vereinten Nati<strong>on</strong>en. Dieser Verstoß gegen Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta wird unabhängig<br />

dav<strong>on</strong> gewertet, ob ein Angriff zur Eroberung eines Gebietes erfolgt oder, wie im<br />

vorliegenden Fall, zum Schutz der Bewohner des Kosovo, die v<strong>on</strong> Mißhandlungen und<br />

Vertreibung bedrohten wurden. Dem Schutz der territorialen Unversehrtheit der Staaten wird<br />

in der UN-Charta eine hohe Priorität eingeräumt, die Möglichkeit einer humanitären<br />

Interventi<strong>on</strong> hingegen ist darin nicht vorgesehen.<br />

Ein neues Völkergewohnheitsrecht?<br />

Trotz der restriktiven Vorschriften der Charta der Vereinten Nati<strong>on</strong>en stellt sich die Frage, ob<br />

sich durch das Eingreifen in die inneren Auseinandersetzungen souveräner Staaten ein neues<br />

Völkergewohnheitsrecht gebildet haben könnte. Dazu müsste eine über längere Zeit<br />

ausgeübte Staatenpraxis (lat. c<strong>on</strong>suetudo) entstanden sein, die auf einer allgemein<br />

anerkannten Rechtsüberzeugung (lat. opinio iuris) beruht. 5 Beide Punkte können für die<br />

Rechtsfigur der humanitären Interventi<strong>on</strong> jedoch noch nicht als gegeben angesehen werden,<br />

da einerseits Menschenrechtsverletzungen, auch im größeren Stil, bisher nicht<br />

notwendigerweise eine Interventi<strong>on</strong> nach sich ziehen und das Fehlen einer weltgemeinsamen<br />

Rechtsüberzeugung sch<strong>on</strong> durch die vielen internati<strong>on</strong>alen Proteste gegen die NATO-Missi<strong>on</strong><br />

angedeutet wird. Diese Proteste stammten nicht nur v<strong>on</strong> Ländern, die damit auch eigenes<br />

Verhalten legitimieren wollten, wie z.B. Rußland mit Blick auf den eigenen Krieg in<br />

Tschetschenien, s<strong>on</strong>dern auch v<strong>on</strong> Ländern, deren Aussagen man als weniger eigennützig<br />

ansehen kann. Hier kann als Beispiel Nels<strong>on</strong> Mandela aus Südafrika angeführt werden, der<br />

die NATO-Luftschläge auf die gleiche völkerrechtsverletzende Stufe wie das Vorgehen gegen<br />

die Kosovaren durch Milosevic setzte.<br />

5 Vgl. Otto Kimminich, Stephan Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 7. Auflage, Tübingen/Basel 2000, S.<br />

179.<br />

12


Das Problem demokratische K<strong>on</strong>trolle v<strong>on</strong> Kommando-Unternehmen<br />

Die Problematik des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan ergibt sich nicht aus der in Kabul<br />

stati<strong>on</strong>ierten Schutztruppe ISAF, s<strong>on</strong>dern aus dem im Rahmen der Operati<strong>on</strong> Enduring<br />

Freedom (OEF) eingesetzten Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr. Ihr Einsatz<br />

wird seitens der Bundesregierung durch Art. 51 der UN-Charta, der das Recht zur<br />

individuellen und kollektiven Selbstverteidigung einräumt, begründet. Sch<strong>on</strong> diese<br />

Begründung ist unter Völkerrechtlern umstritten. Aber auch der Einsatz selbst bleibt nicht<br />

kritiklos: Aufgrund der Informati<strong>on</strong>spolitik der Bundesregierung, die selbst an die Mitglieder<br />

des Bundestages nur sehr spärlich Daten bzgl. dieses Einsatzes weiterleitet, ist nicht klar, was<br />

genau die KSK-Soldaten in Afghanistan tun. Beteiligen sie sich an kriegsähnlichen Akti<strong>on</strong>en,<br />

in denen Kriegsgefangene genommen werden könnten, oder führen sie auch Einsätze zur<br />

Exekuti<strong>on</strong> angetroffener Taliban und Al Qaida-Kämpfer aus? Auch ist nicht geklärt, ob es<br />

verfassungsrechtlich vertretbar ist, wenn gefangene Afghanen durch deutsche Soldaten, den<br />

amerikanischen Streitkräften übergeben werden, die diese nicht wie Kriegsgefangene, s<strong>on</strong>dern<br />

wie Terroristen bzw. Verbrecher behandeln. Die Verwahrung der Afghanen in Guantanamo<br />

Bay auf Kuba, welches nicht unter amerikanisches Gesetz fällt, ist einer der deutlichsten<br />

Hinweise auf ein völkerrechtlich nicht einwandfreies Vorgehen.<br />

Die Problematik v<strong>on</strong> Präemptiv- und Präventivschlägen<br />

Gemäß Art. 2 Nr. 4 UN-Charta ist jede Androhung oder Anwendung v<strong>on</strong> Gewalt, die gegen<br />

die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtet ist,<br />

verboten. K<strong>on</strong>flikte zwischen den Staaten sollen auf friedlichem Wege ausgetragen werden.<br />

Ausnahmen sind das Selbstverteidigungsrecht gemäß Art. 51 UN-Charta und die<br />

Zwangsmaßnahmen, die der Sicherheitsrat im Rahmen des Kapitels VII der Charta anordnen<br />

kann.<br />

Die Problematik v<strong>on</strong> Präventiv- und Präemptivschlägen stellt sich dann, wenn ein Staat, auch<br />

ohne Angriff durch einen Dritten sich so bedroht fühlt, daß er ein militärisches Eingreifen als<br />

notwendig ansieht. Dabei sind Präemptivschläge, die sich gegen eine unmittelbar<br />

bevorstehende feindliche Aggressi<strong>on</strong> richten, v<strong>on</strong> sogenannten Präventivschlägen zu<br />

unterscheiden, welche sich gegen eine erst im Entstehen begriffene Gefahr wenden. 6<br />

6 Zur Erläuterung des Unterschiedes seien zwei militärische Akti<strong>on</strong>en der israelischen Armee genannt. Der<br />

zuvorkommende Militärschlag, den Israel 1967 zum Auftakt des Sechstagekrieges gegen seine<br />

13


Eine völkerrechtliche Legitimierung v<strong>on</strong> Präventivschlägen würde zur Aushöhlung des<br />

Schutzes staatlicher Souveränität und zu einer annähernden Wiederherstellung<br />

überkommenen Rechts zum Kriege (ius ad bellum) führen. Das Gewaltverbot wäre dann<br />

sinnlos, da die Ermächtigung zum Präventivschlag an seine Stelle treten würde. 7<br />

Ein anderer Fall liegt vor, wenn ein Warten auf einen tatsächlichen Angriff eine effektive<br />

Verteidigung unmöglich machen würde und eine Aggressi<strong>on</strong> unmittelbar bevorstünde. Hier<br />

die Möglichkeit einer Verteidigungshandlung auszuschließen, würde darauf hinauslaufen,<br />

dass der Sinn des Art. 51 UN-Charta, die Souveränität und die Integrität eines Staates zu<br />

schützen, ins Leere laufen würde. Eine präemptive Verteidigung wird in einem solchen Fall<br />

gewohnheitsrechtlich anerkannt und auch v<strong>on</strong> der UN akzeptiert. Gemäß Resoluti<strong>on</strong> 3314<br />

(XXIX), in der die UN-Generalversammlung eine Definiti<strong>on</strong> des Begriffs „Aggressi<strong>on</strong>“<br />

vornimmt, wird im Ersteinsatz v<strong>on</strong> militärischer Gewalt lediglich ein prima face Beweis für<br />

das Vorliegen einer Aggressi<strong>on</strong> gesehen. Daraus ist zu entnehmen, daß bereits im Vorfeld<br />

eine Aggressi<strong>on</strong> vorliegen kann, die ein Selbstverteidigungsrecht eines anderen Staates<br />

begründet. Ein Präemptivschlag, d.h. die vorbeugende Verteidigung gegen einen unmittelbar<br />

bevorstehenden Angriff ist somit gerechtfertigt, nicht jedoch ein Präventivschlag gegen eine<br />

lediglich abstrakte oder für die Zukunft befürchtete Bedrohung.<br />

Offene verfassungsrechtliche Fragen<br />

Parlamentsbeteiligungsgesetz<br />

In seinem Urteil vom 12. Juli 1994 fordert das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber<br />

auf, die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung zu regeln. 8 Zwar sind die<br />

auswärtigen Angelegenheiten weitgehend der Exekutive zugeordnet, der ehemalige Art. 59 a I<br />

GG regelte aber die Feststellung des Verteidigungsfalles durch den Bundestag. Trotz<br />

Wegfalls dieses Artikels ist der Parlamentsvorbehalt beim Einsatz deutscher Streitkräfte zwar<br />

nicht ausdrücklich, jedoch der Sache nach im Grundgesetz enthalten. Das<br />

Bundesverfassungsgericht beruft sich in der oben genannten Entscheidung auf die<br />

Nachbarländer ausführte, die ihrerseits einen Angriff planten, stellt einen Präemptivschlag dar. Die<br />

Bombardierung des im Bau befindlichen irakischen Atomkraftwerkes Osirak im Jahre 1981 is t dagegen als<br />

Präventivschlag zu klassifizieren, da die vom Reaktor ausgehende Gefahr für Israel allenfalls in der Zukunft<br />

entstanden wäre.<br />

7 Vgl. Dietrich Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht, in: Neue<br />

Juristische Wochenschrift (NJW), Nr. 14, 31. März 2003, S. 1014-1020, hier: S. 1019.<br />

8 Vgl. BVerfGE 90,286 ff.<br />

14


Bestimmung des Art. 59 II 1 GG, die dem Parlament das Recht der Zustimmung zu<br />

völkerrechtlichen Verträgen vorbehält, und auf die sogenannte Wehrverfassung, welche die<br />

Erklärung des Verteidigungsfalles dem Parlament zuspricht. 9<br />

Das Bundesverfassungsgericht setzt jedoch als Mindestvoraussetzung für eine solche<br />

Regelung voraus, daß jeder Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte der k<strong>on</strong>stitutiven<br />

Zustimmung des Bundestages bedarf. Dem Bundestag kommt dabei jedoch keine<br />

Initiativbefugnis zu, er kann lediglich dem v<strong>on</strong> der Bundesregierung beabsichtigten Einsatz<br />

zustimmen bzw. die Zustimmung verweigern. 10 Damit soll die für außenpolitisches Handeln<br />

vorgesehene Handlungsbefugnis der Regierung nicht durch einen Parlamentsvorbehalt<br />

unterlaufen werden. Obwohl das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil die Möglichkeit<br />

eines Parlamentsbeteiligungsgesetzes erwähnt, wurde dav<strong>on</strong> bisher kein Gebrauch gemacht.<br />

Als Reakti<strong>on</strong> auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes wurden vielmehr dem Parlament<br />

mehr Einblicke in militärische Einsätze der Bundeswehr gewährt. Bezüglich des<br />

Beteiligungsverfahrens des Parlamentes wurde auf das Gesetzgebungsverfahren für<br />

Bundesgesetze zurückgegriffen. 11 Danach wird der Kabinettbeschluss in einer<br />

Bundestagsdrucksache wiedergegeben und dem Parlament zur Beratung übermittelt. Dieses<br />

überweist es an die Ausschüsse, welche dann ihr Votum wieder an das Parlament zur erneuten<br />

Beratung zurückleiten. Nach einer zweiten und dritten Lesung erfolgt dann die Abstimmung<br />

im Parlament. Diese Praxis erweist sich aber als zu umständlich und insbes<strong>on</strong>dere zu<br />

langwierig. Bei Einsätzen v<strong>on</strong> geringerer Bedeutung bzw. bei Einsätzen, die in erster Linie<br />

der Erkundigung der Situati<strong>on</strong> vor Ort dienen oder deren Ziel es ist, vorbereitende<br />

Maßnahmen zu treffen, wirkt das skizzierte Procedere geradezu übertrieben. Vielmehr sind<br />

oftmals kleinere Erkundungs- und Vorbereitungsmissi<strong>on</strong>en bereits vor einer Entscheidung des<br />

Bundestages erforderlich, um überhaupt eine Entscheidungsgrundlage für den eigentlichen<br />

Einsatz zu schaffen. Auch in Fällen, in denen Geheimhaltung erforderlich ist, bzw. bei Gefahr<br />

in Verzug muß eine Regelung gefunden werden, bei der eine frühzeitige Beteiligung des<br />

Parlaments nicht schädlich für die Ausführung ist. Die momentane Regelung ist somit nicht<br />

ausreichend.<br />

9<br />

Vgl. Werner Link, Der Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinseinsätzen der Bundeswehr, in: Die politische<br />

Meinung, November 2001, S. 51.<br />

10<br />

Vgl. K<strong>on</strong>rad Hummel, Rückrufrecht des Bundestages bei Auslandseinsätzen der Streitkräfte, NZWehrr, Nr.<br />

6/2001, S. 224.<br />

11<br />

Vgl. Peter Dreist, Offene Rechtsfragen des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte, NZWehrr, Nr.<br />

4/2002, S.142.<br />

15


Entsendegesetz<br />

Im Zusammenhang mit der Beteiligung des Parlamentes bei den Entscheidungen über den<br />

Einsatz deutscher Streitkräfte wird neben der Diskussi<strong>on</strong> eines<br />

Parlamentsbeteiligungsgesetzes auch über die Möglichkeit eines Entsendegesetzes debattiert.<br />

Dabei vertreten die Parteien unterschiedliche Positi<strong>on</strong>en. 12 So vertritt Wolfgang Schäuble<br />

(CDU) die Auffassung, daß deutsche Truppen auch ohne Ermächtigung des Parlamentes im<br />

Ausland eingesetzt werden sollen, um die Bundesregierung bei internati<strong>on</strong>alen Einsätzen<br />

handlungsfähiger zu machen. Dem Parlament soll aber innerhalb einer Mindestfrist ein<br />

Widerrufsrecht im Nachhinein gewährt werden. Ähnlich äußert sich auch der ehemalige<br />

Verteidigungsminister und Verfassungsrichter Rupert Scholz (CDU). Auch er sieht das<br />

Erfordernis einer Vorabentscheidung der Regierung, das Parlament muß dann die<br />

Entscheidung überprüfen. Bei einer negativen Entscheidung müssen die Soldaten<br />

zurückbeordert werden. Dem widerspricht der ehemalige Verteidigungsminister Volker Rühe<br />

(CDU), der wegen der Schwere der Entscheidung beim Einsatz v<strong>on</strong> Soldaten eine zusätzliche<br />

Prüfung durch das Parlament befürwortet. Bundeskanzler Schröder (SPD) spricht sich für ein<br />

Entsendegesetz aus, in dem die Kompetenzen v<strong>on</strong> Regierung und Parlament bezüglich der<br />

Auslandseinsätze zu regeln sind, wobei die Positi<strong>on</strong> des Parlamentes geschwächt werden soll.<br />

Bündnis 90/Grüne und FDP wollen am bestehenden Zustand nichts ändern. Die bestehende<br />

parlamentarische K<strong>on</strong>trolle soll nicht abgeschwächt, s<strong>on</strong>dern eher noch verstärkt werden. Die<br />

oben aufgeführten Positi<strong>on</strong>en der Parteien zeigten, wie groß der Handlungsbedarf zur<br />

Schaffung eines Entsendegesetzes ist. Dieses sah auch das Bundesverfassungsgericht in seiner<br />

Entscheidung zum Auslandseinsatz der Bundeswehr. 13 Dabei muß beachtet werden, daß jeder<br />

Einsatz unter dem Vorbehalt des Grundgesetzes steht und somit durch den Inhalt des Art. 25<br />

GG auch im Einklang mit dem Völkerrecht stehen muß. Des weiteren sind die bereits<br />

genannten vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Mindestanforderungen an die<br />

Parlamentsbeteiligung zu beachten.<br />

Fazit<br />

So schnell wirtschaftliche und sicherheitspolitische Realitäten sich wandeln, so langsam<br />

ändern sich nati<strong>on</strong>ale wie internati<strong>on</strong>ale Rechtsnormen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik<br />

Deutschland wie auch die Charta der Vereinten Nati<strong>on</strong>en basieren auf den Erfahrungen des<br />

12 Vgl. Peter Dreist, Offene Rechtsfragen des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte, NZWehrr, Nr.<br />

4/2002, S.134.<br />

13 Vgl. BVerfGE 90, 286.<br />

16


Zweiten Weltkrieges und dienen einmal der militärischen Eindämmung Deutschlands und<br />

zum anderen der Präventi<strong>on</strong> nati<strong>on</strong>aler Gewaltausübung. In diesem Punkt erscheint das<br />

Grundgesetz mittlerweile anachr<strong>on</strong>istisch. Deutschland soll sich einerseits bei der<br />

Friedenswahrung und Friedensschaffung im multinati<strong>on</strong>alen K<strong>on</strong>zert in vollem Umfang<br />

beteiligen, andererseits werden ihm durch das Grundgesetz Fesseln auferlegt, die ein<br />

schnelles und umfassendes Eingreifen stark limitieren. Deutschland benötigt heute ein Gesetz,<br />

welches dem Kabinett bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr den Handlungsspielraum gibt,<br />

den es braucht, um schnell und umfassend auf neue K<strong>on</strong>fliktsituati<strong>on</strong>en und<br />

Bedrohungsszenarien reagieren zu können. Darüber hinaus sollte sich die Bundesrepublik<br />

internati<strong>on</strong>al dafür einsetzen, daß die Stärke des Rechts vor dem Recht des Stärkeren Bestand<br />

hat. Ein neues Völkergewohnheitsrecht, in dem Präventivschläge den Weg zu einer<br />

Aushöhlung der Charta der Vereinten Nati<strong>on</strong>en bilden, muß verhindert und die<br />

Staatengemeinschaft in dieses Vorhaben eingebunden werden. Daß die Charta der Vereinten<br />

Nati<strong>on</strong>en bei der Unterminierung v<strong>on</strong> Kriegen versagt hat, steht außer Frage, wenn auch die<br />

Arbeit der UN nicht unterschätzt werden darf. Wie das Beispiel der nicht mandatierten<br />

Luftschläge der NATO gegen das Milosevic-Regime allerdings zeigt, kann eine nach der<br />

Charta der Vereinten Nati<strong>on</strong>en illegale Handlung mitunter als legitim erscheinen.<br />

Offensichtlich besteht hier Reformbedarf. Während jedoch eine Änderung des Grundgesetzes<br />

bzw. der Beschluss über ein Entsendegesetz vergleichsweise einfach zustande kommen<br />

könnten, stellen die unterschiedlichen Sicherheits- und Völkerrechtsauffassungen der<br />

einzelnen Staaten ein schwer zu überwindendes Hindernis dar. Daraus ergibt sich, daß die<br />

Vereinten Nati<strong>on</strong>en und ihre Charta bei der Entscheidung für oder gegen einen<br />

Auslandseinsatz sowie bei dessen Zieldefiniti<strong>on</strong> mittel- bis langfristig an Einfluss auf die<br />

deutsche Außen- und Verteidigungspolitik einbüßen könnten, sollten die genannte Reformen<br />

nicht angegangen werden. Andernfalls wird die Bundesrepublik Deutschland ihre<br />

Sicherheitsinteressen nicht in vollem Umfang wahrnehmen können.<br />

17


Arbeitsgruppe 2<br />

Werte, Interessen und Herausforderungen<br />

Claus Ensinger, Daniel Kirch, Thomas Streißelberger<br />

Der folgende Essay beschäftigt sich mit den Werten, Zielen und Herausforderungen der<br />

deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Für die Untersuchung wurde eine zweigleisige<br />

Vorgehensweise gewählt. Zunächst werden die beiden aktuellsten „Verteidigungspolitischen<br />

Richtlinien“ (VPR) aus den Jahren 1992 und 2003 auf K<strong>on</strong>tinuität und Veränderungen untersucht<br />

und so die theoretische bzw. rhetorische Seite der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik<br />

beleuchtet. Anschließend wird in einem zweiten Schritt untersucht, in wiefern sich die so<br />

postulierten Aussagen in der Empirie der wichtigsten Auslandseinsätze der Bundeswehr<br />

wiedererkennen lassen. Im abschließenden Fazit erfolgen eine Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

und ein Ausblick auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen der Zukunft.<br />

Vergleich der Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) v<strong>on</strong> 1992 und 2003<br />

Daß in diesem Jahr neue Verteidigungspolitische Richtlinien erlassen worden sind, begründet der<br />

Bundesminister der Verteidigung, Peter Struck, damit, daß K<strong>on</strong>sequenzen „aus der grundlegend<br />

veränderten sicherheitspolitischen Situati<strong>on</strong> in Europa und der Welt“ 1 gezogen werden müssten.<br />

Ein Vergleich der neu erlassenen VPR mit denen aus dem Jahr 1992 2 soll herausfinden, in<br />

wiefern sich Werte, Interessen und Herausforderungen in diesem Zeitraum geändert haben.<br />

Werte und Interessen: Wandel und K<strong>on</strong>tinuität<br />

„Ausgangspunkte aller Überlegungen zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik“ 3 sind in den<br />

VPR v<strong>on</strong> 1992 die Werteordnung des Grundgesetzes, der UN-Charta und der OSZE-Charta. In<br />

Europa soll eine Sicherheitsordnung geschaffen werden, die auf pluralistischer Demokratie,<br />

Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft gegründet ist. 4 Die Förderung v<strong>on</strong> Demokratie<br />

1 Bundesministerium der Verteidigung (BMVg): Verteidigungspolitische Richtlinien (VPR) 2003, Berlin,<br />

21.05.2003, http://www.bmvg.de/sicherheit/vpr.php [24.07.2003].<br />

2 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (BMVg): Verteidigungspolitische Richtlinien (VPR) 1992, B<strong>on</strong>n,<br />

26.11.1992, http://www.sicherheitspolitik.bundeswehr.de/10/22.php [24.07.2003].<br />

3 BMVg (1992), a.a.O., Ziffer 6.<br />

4 Vgl. ebd. Ziffe r 8.


sowie wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt in Europa 5 und weltweit wurde in den VPR v<strong>on</strong><br />

1992 ebenso als nati<strong>on</strong>ales Interesse angegeben wie eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. 6<br />

Auch in den aktuellen VPR v<strong>on</strong> 2003 wird Bezug auf Völkerrecht sowie UN- bzw. OSZE-Charta<br />

genommen. 7 Diese seien bes<strong>on</strong>ders dort v<strong>on</strong> Bedeutung, wo Freiheit, Menschenrechte, Stabilität<br />

und Sicherheit durchzusetzen oder wiederherzustellen sind. Ferner solle Deutschland im Rahmen<br />

der UN das Ziel verfolgen, soziale Entwicklungen zu stärken, die natürlichen Lebensgrundlagen<br />

zu erhalten sowie die Kluft zwischen armen und reichen Weltregi<strong>on</strong>en zu überwinden, 8 also<br />

weltweiten Wohlstand zu schaffen. Ein Wandel der Werte hat somit nicht stattgefunden – hier<br />

läßt sich ganz im Gegenteil eine K<strong>on</strong>tinuität feststellen.<br />

Zentrales Interesse der Bundesrepublik stellt in beiden VPR der Schutz Deutschlands und seiner<br />

Bürger dar. 9 Ein Unterschied könnte darin liegen, daß dieser Schutz in Zukunft verstärkt im<br />

Ausland stattfinden wird – eine Folge der Neuinterpretati<strong>on</strong> v<strong>on</strong> Art. 87 a GG, die Verteidigung<br />

Deutschlands finde auch an anderen Orten der Welt statt. 10<br />

Das Interesse an einer „Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten<br />

Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten<br />

Weltwirtschaftsordnung“ 11 hat im Gegensatz zu 1992 nicht mehr Einzug in die VPR gefunden.<br />

Keine Bedrohung durch k<strong>on</strong>venti<strong>on</strong>elle Streitkräfte mehr<br />

Die VPR aus dem Jahr 1992 sind geprägt v<strong>on</strong> den massiven weltpolitischen Umbrüchen seit dem<br />

Ende der 80er Jahre: Der Zusammenbruch der Sowjetuni<strong>on</strong>, die daraus resultierende Aufhebung<br />

der Teilung des K<strong>on</strong>tinents in zwei Blöcke, die Transformati<strong>on</strong> der kommunistischen Staaten des<br />

Ostblocks und nicht zuletzt die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland machten<br />

eine Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik notwendig. Im Zuge dieser<br />

Umbrüche brachen „bisher unterdrückte, nicht auf dem ideologischen Gegensatz beruhende<br />

K<strong>on</strong>flikte gewaltsam auf“. 12 Ein Beispiel hierfür sind die ethnisch motivierten<br />

Auseinandersetzungen in der früheren Republik Jugoslawien, die unter der Herrschaft des<br />

5<br />

Vgl. ebd. Ziffer 7.<br />

6<br />

Vgl. ebd. Ziffer 8.<br />

7<br />

Vgl. BMVg (2003), a.a.O., Ziffer 37.<br />

8<br />

Vgl. ebd.<br />

9<br />

Vgl. BMVg (1992), a.a.O., Ziffer 8.<br />

10<br />

Vgl. BMVg (2003), a.a.O., Ziffer 5.<br />

11<br />

BMVg (1992), a.a.O., Ziffer 8.<br />

12 Ebd., Ziffer 20.<br />

19


Marschalls Tito nicht zu Tage traten. Die zentrale Herausforderung zu Beginn der 90er Jahre war<br />

demnach die Stabilisierung dieser Staaten der europäischen Peripherie. 13<br />

Die Herausforderungen haben sich seit dem Beginn der 90er Jahre drastisch geändert, kann doch<br />

die Stabilisierung der „jungen Demokratien“ des (Süd-) Ostens bei fast allen Staaten als<br />

erfolgreich angesehen werden. Zwar stellt auch heute noch das Bemühen um einen stabilisierten<br />

Balkan eine Herausforderung für die deutsche Sicherheitspolitik dar, 14 jedoch kommt ihr heute<br />

eine geringere Priorität zu. Es wird festgestellt, daß Deutschland „derzeit und auf absehbare<br />

Zeit“ 15 nicht durch k<strong>on</strong>venti<strong>on</strong>elle Streitkräfte gefährdet sei. Aus dieser Feststellung folgert der<br />

Bundesminister der Verteidigung die Handlungserfordernis, die Bundeswehr v<strong>on</strong> einer<br />

schwerfälligen Panzerarmee 16 zu einer hochmobilen Interventi<strong>on</strong>sarmee bzw. einer Armee im<br />

Einsatz – einsatzfähig innerhalb kürzester Zeit und an jedem Ort der Welt – umzubauen. 17 Doch<br />

so neu ist diese Einschätzung der Bedrohung durch k<strong>on</strong>venti<strong>on</strong>elle Streitkräfte nicht. Sch<strong>on</strong> in<br />

den VPR v<strong>on</strong> 1992 wird festgestellt: „Deutschland liegt nicht mehr in unmittelbarer Reichweite<br />

eines zur strategischen Offensive und Landnahme befähigten Staates [...] Deutschland ist nicht<br />

länger Fr<strong>on</strong>tstaat. Statt dessen ist es heute ausschließlich v<strong>on</strong> Verbündeten und befreundeten<br />

Partnern umgeben.“ 18 Weiter heißt es, der bedrohlichste Fall einer großangelegten Aggressi<strong>on</strong> sei<br />

höchst unwahrscheinlich geworden. Eine Gefährdung durch Russland wird gänzlich<br />

ausgeschlossen. 19<br />

Bis hierher läßt sich festhalten, daß die Einschätzungen der beiden VPR bezüglich der<br />

Bedrohung durch einen k<strong>on</strong>venti<strong>on</strong>ellen Angriff auf deutsches Territorium nahezu identisch sind.<br />

Folgen des veränderten Verteidigungsbegriffes für die Bundeswehr<br />

Auch die Aussage der neuen VPR, Verteidigung lasse sich nicht mehr geographisch eingrenzen,<br />

findet ihre Ursprünge in den alten VPR. Auch dort ist dav<strong>on</strong> die Rede, daß sich Sicherheitspolitik<br />

unter den neuen sicherheitspolitischen Verhältnissen „weder inhaltlich noch geographisch“ 20<br />

eingrenzen lasse. Die Streitkräfte müssten demnach auf eine „flexible Krisen- und<br />

13<br />

Vgl. BMVg (1992), a.a.O., Ziffern 10 und 20.<br />

14<br />

Vgl. BMVg (2003), a.a.O., Ziffer 23.<br />

15<br />

Ebd., Ziffer 31.<br />

16<br />

Vgl. Essay IV dieser Sammlung zum „Fähigkeitsprofil der Bundeswehr“.<br />

17<br />

Vgl. BMVg (1992), a.a.O., Ziffern 84 und 90.<br />

18<br />

BMVg (1992), a.a.O., Ziffer 9.<br />

19 Vgl. ebd., Ziffern 18 und 19.<br />

20 Ebd., Ziffer 24.<br />

20


K<strong>on</strong>fliktbewältigung im erweiterten geographischen Umfeld“ 21 ausgerichtet werden. In den VPR<br />

v<strong>on</strong> 2003 wird angegeben, für die neuen Aufgaben der Bundeswehr müssten „geeignete und<br />

hinreichende Kräfte mit einer hohen Verfügbarkeit und schneller Reakti<strong>on</strong>sfähigkeit“ 22<br />

vorgehalten werden. Diese Passage ist zugleich eine Handlungsanweisung für eine<br />

Neuausrichtung der Streitkräfte. So kündigte der Bundesminister der Verteidigung im Dezember<br />

2002 an, einerseits 18 Panzerkompanien aufzulösen und andererseits zusätzlich zu den bereits<br />

bestehenden 53.000 Mann starken Krisenreakti<strong>on</strong>skräften zwei Pi<strong>on</strong>ier-, sieben Fernmelde-, drei<br />

ABC-Abwehr- und fünf Logistikeinheiten zu „Reakti<strong>on</strong>skräften hoher Verfügbarkeit“<br />

umzugliedern. 23 Letzteres ist ein deutliches Indiz dafür, daß Teile der Bundeswehr schneller als<br />

bisher für Auslandseinsätze verfügbar sein sollen.<br />

Mit Blick auf das entsprechende Kapitel in den VPR v<strong>on</strong> 1992 kann festgestellt werden, daß die<br />

Politik mit den Vorgaben des Dokumentes nicht hinreichend Schritt gehalten hat, s<strong>on</strong>dern auch<br />

nach 1992 die Streitkräfte weitgehend in dem Zustand belassen hat, der sie eher zur<br />

Landesverteidigung gegen eine Panzerarmee befähigte als zu K<strong>on</strong>flikt- und Krisenbewältigung<br />

„im erweiterten geographischen Umfeld“. 24<br />

Neue Herausforderung: Die Bekämpfung des internati<strong>on</strong>alen Terrorismus<br />

Wichtigste Herausforderung für die Bundesrepublik ist die Bekämpfung des internati<strong>on</strong>alen<br />

Terrorismus. 25 Der Grund hierfür ist ein veränderter sicherheitspolitischer K<strong>on</strong>text, ausgelöst<br />

durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA. 26 Unter dem Eindruck<br />

vermehrter Terroranschläge in aller Welt, insbes<strong>on</strong>dere auf Bürger und Einrichtungen der<br />

westlichen Staaten, 27 hat die Bundesregierung ein Interesse daran, deutsche Staatsbürger – ob in<br />

Deutschland selbst oder im Ausland (z.B. Soldaten im Auslandseinsatz) zu schützen. Ferner<br />

bedrohe der Terrorismus die „Errungenschaften moderner Zivilisati<strong>on</strong> wie Freiheit und<br />

Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt.“ 28<br />

21<br />

Ebd., Ziffer 37.<br />

22<br />

BMVg (2003), a.a.O., Ziffer 84.<br />

23<br />

Vgl. Peter Stuck, Punktati<strong>on</strong> des Bundesministers der Verteidigung für die Pressek<strong>on</strong>ferenz am 21. Mai 2003,<br />

Berlin, http://www.bmvg.de/archiv/reden/minister/030521_struck_vpr.php [24.07.2003].<br />

24<br />

BMVg (2003), a.a.O., Ziffer 25.<br />

25<br />

Vgl. ebd., Vorwort des Bundesministers der Verteidigung.<br />

26<br />

Vgl. ebd., Ziffer 18.<br />

27<br />

Solche terroristischen Anschläge wurden nach dem 11. September 2001 u.a. auf der Urlaubsinsel Djerba und auf<br />

Bali verübt. Überwiegend fielen Bürger westlicher Staaten den Anschlägen zum Opfer.<br />

28<br />

BMVg (2003), a.a.O., Ziffer 19.<br />

21


In den VPR v<strong>on</strong> 1992 ist der Ausdruck „internati<strong>on</strong>aler Terrorismus“ nicht zu finden. Dafür ist<br />

v<strong>on</strong> „mittelbaren Risiken“ 29 die Rede, denen für die Zukunft eine größere Bedeutung<br />

vorausgesagt werden als den unmittelbaren Gefahren (klassische militärische<br />

Bedrohungsszenarien). 30 Der Ausdruck „mittelbare Risiken“ wird definiert als „jede Form<br />

internati<strong>on</strong>aler Destabilisierung“, die den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt beeinträchtige,<br />

Radikalisierungsprozesse begünstige und die Gewaltbereitschaft fördere. „Kommt es zu solchen<br />

Fehlentwicklungen, werden zerstörerische Einflüsse auch in die hochentwickelten Gesellschaften<br />

getragen.“ 31<br />

In den VPR 1992 war dies nur ein Punkt unter vielen; in den aktuellen VPR zieht sich die Gefahr<br />

des internati<strong>on</strong>alen Terrorismus wie ein „roter Faden“ durch das Dokument. 32<br />

Zunehmend Sorge bereiten der Bundesregierung auch der Besitz und die Entwicklung v<strong>on</strong><br />

Massenvernichtungswaffen, die mit weitreichenden Trägermitteln auch die europäischen Staaten<br />

erreichen können. 33 Zusätzliche Bedeutung gewinnt dieser Aspekt durch die Gefahr, daß<br />

Massenvernichtungswaffen eines Tages in die Hände nichtstaatlicher Akteure (z.B. Terroristen)<br />

gelangen könnten. 34<br />

Massenvernichtungswaffen werden auch in den VPR v<strong>on</strong> 1992 als Gefahr angesehen, allerdings<br />

finden sie nur unter dem Gesichtspunkt der weltweiten Rüstungsk<strong>on</strong>trolle Erwähnung. 35 Dies ist<br />

darin begründet, daß Anfang der 90er Jahre keine vergleichbare Gefahr v<strong>on</strong> nichtstaatlichen<br />

Akteuren ausging und der (staatliche) Besitz solcher Waffen beispielsweise durch internati<strong>on</strong>ale<br />

K<strong>on</strong>trollregime besser zu überprüfen war.<br />

Auch die Informati<strong>on</strong>skriegführung, in den aktuellen VPR als Herausforderung deutscher<br />

Sicherheitspolitik genannt, 36 dürfte zum Zeitpunkt der Entstehung der alten VPR keine Rolle<br />

gespielt haben, weil Informati<strong>on</strong>s- und Kommunikati<strong>on</strong>ssysteme nicht den Stellenwert hatten,<br />

den sie heute – auch in den Streitkräften – besitzen. 37<br />

29<br />

BMVg (1992), a.a.O., Ziffer 23.<br />

30<br />

Vgl. ebd., Ziffer 25.<br />

31<br />

Vgl. ebd., Ziffer 23.<br />

32<br />

In sechs v<strong>on</strong> acht Kapiteln (Ausnahmen sind die Kapitel eins und zwei) wird explizit auf die Gefahr des<br />

Terrorismus eingegangen.<br />

33<br />

Vgl. BMVg (2003), a.a.O., Ziffer 20.<br />

34<br />

Vgl. ebd.<br />

35<br />

Vgl. BMVg (1992), a.a.O., Ziffer 42.<br />

36<br />

Vgl. BMVg (2003), a.a.O., Ziffer 26.<br />

37<br />

Vgl. Essay IV dieser Sammlung zum „Fähigkeitsprofil der Bundeswehr“.<br />

22


Die Definiti<strong>on</strong> v<strong>on</strong> Herausforderungen hängt also eng mit dem jeweiligen historischen K<strong>on</strong>text<br />

zusammen. Ihre Formulierung ist immer auch eine Reakti<strong>on</strong> auf politische Ereignisse. Die VPR<br />

v<strong>on</strong> 1992 waren eine Antwort auf die neue sicherheitspolitische Lage nach dem Wegfall der<br />

Bedrohung durch die Sowjetuni<strong>on</strong> und ihrer mittel- und osteuropäischen Satellitenstaaten.<br />

Gleichzeitig ergaben sich neue Herausforderungen im Südosten Europas mit dem Zerfall<br />

Jugoslawiens und neuen (meist ethnisch motivierten) K<strong>on</strong>flikten. Die im Mai 2003 v<strong>on</strong> Peter<br />

Struck erlassenen VPR stellen dagegen eine Antwort auf die neue Bedrohung durch den<br />

internati<strong>on</strong>alen Terrorismus dar.<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr<br />

Im folgenden Teil des Essays sollen die im Vergleich der VPR v<strong>on</strong> 1992 und 2003 aufgezeigten<br />

Motive für Auslandseinsätze der Bundeswehr in der Praxis überprüft werden. Dafür werden<br />

ausgewählte Auslandseinsätze der Bundeswehr genauer untersucht und vor allem die Frage nach<br />

den genauen Gründen für ein deutsches Engagement gestellt. Das Kapitel gliedert sich in drei<br />

Abschnitte: Humanitäre Gründe und Wahrung der Menschenrechte, Stabilisierung v<strong>on</strong> Akteuren,<br />

v<strong>on</strong> denen eine Gefahr für Deutschland ausgehen könnte, und Beitrag zur Landesverteidigung<br />

sowie (Bündnis-)Solidarität und Aufbau v<strong>on</strong> neuen Akteuren auf militärischem Gebiet.<br />

Motiv 1: Humanitäre Gründe und Wahrung der Menschenrechte<br />

Einer ganzen Reihe v<strong>on</strong> Einsätzen sind die Ziele der Wahrung der Menschenrechte und der<br />

humanitären Hilfe gemeinsam. Hierfür lassen sich zahlreiche Beispiele anführen: 1993/1994<br />

beteiligte sich die Bundeswehr an der United Nati<strong>on</strong>s Operati<strong>on</strong> in Somalia (UNSOM II). Ziel<br />

der UN Operati<strong>on</strong> war es, in dem durch einen grausamen Bürgerkrieg zerstörten Land - wenn<br />

nötig auch mit Gewalt - Sicherheit herzustellen, um humanitäre Hilfe durchführen zu können. 38<br />

Deutschland beteiligte sich in Form v<strong>on</strong> logistischer Unterstützung der UN-Truppen vor Ort<br />

durch die Luftbrücke Mombasa-Somalia. Es wurden zahlreiche medizinische Behandlungen<br />

durchgeführt und in rund 30 Einzelprojekten humanitäre Hilfe ausgeführt. 39<br />

Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde es notwendig, die Wahrung der<br />

Menschenrechte, das Leisten humanitärer Hilfe und das Herstellen einer rechtsstaatlichen<br />

38 Vgl. Department of Public Informati<strong>on</strong> (United Nati<strong>on</strong>s), Somalia - UNSOM II, o.O., 31.08.1996,<br />

http://www.un.org/Depts/DPKO/Missi<strong>on</strong>s/UNsom2p.htm [26.07.03].<br />

39 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Abgeschlossene Einsätze, UNSOM II in Somalia (United Nati<strong>on</strong>s<br />

Operati<strong>on</strong> in Somalia), Berlin, o.J. http://www.einsatz.bundeswehr.de/einsatz_abgeschl/abgeeins.php#2<br />

[26.07.2003].<br />

23


Ordnung im südöstlichen Europa mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Der Friedensvertrag<br />

v<strong>on</strong> Dayt<strong>on</strong> 40 beendete zwar den blutigen, ethnisch motivierten K<strong>on</strong>flikt in Bosnien-<br />

Herzegowina, jedoch war und ist zur Stabilisierung der Regi<strong>on</strong> die Präsenz einer internati<strong>on</strong>alen<br />

Truppe notwendig. Die Aufgaben der Implemenati<strong>on</strong> Force (IFOR) der Jahre 1995/1996 lassen<br />

sich aus besagtem Friedensvertrag v<strong>on</strong> Dayt<strong>on</strong> ableiten.<br />

Seit 1996 ist es Aufgabe der Stabilizati<strong>on</strong> Force (SFOR), den Frieden in Bosnien-Herzegowina<br />

aufrechtzuerhalten. Laut Begründung des Bundestagsbeschlusses vom 19. Juni 1998 wurden bei<br />

der Implementierung der zivilen Bestimmungen v<strong>on</strong> „Dayt<strong>on</strong>“ (z.B. Bildung gesamtstaatlicher<br />

Strukturen, Flüchtlingsrückkehr und Wiederaufbau) deutliche Fortschritte gemacht. 41 Vor allem<br />

der Aspekt der Flüchtlingsrückkehr spielt für die Bundesrepublik eine wichtige Rolle, hat sie<br />

doch während des Krieges einen Großteil der Vertriebenen aufgenommen. Darüber hinaus<br />

unterstützt SFOR das Internati<strong>on</strong>ale Kriegsverbrechertribunal bei seiner Arbeit in Bosnien-<br />

Herzegowina. 42<br />

Außerdem beteiligte sich die Bundeswehr an den Luftschlägen gegen Jugoslawien 1999, da die<br />

„serbischen Streit- und Sicherheitskräfte […] unter Missachtung der Menschenrechte<br />

systematisch gegen die Kosovo-Albaner vor[gingen]. Die Anwendung militärischer Gewalt blieb<br />

einziges Mittel, um die sich abzeichnende humanitäre Katastrophe abzuwenden.“ 43 Auf die sich<br />

anschließende KFOR-Operati<strong>on</strong> wird weiter unten genauer eingegangen.<br />

Motiv 2: Stabilisierung v<strong>on</strong> Akteuren, v<strong>on</strong> denen eine Gefahr für Deutschland<br />

ausgehen könnte und Beitrag zur Landesverteidigung<br />

Ein weiteres Ziel der genannten - und der folgenden Einsätze auf dem Balkan - war und ist die<br />

Stabilisierung der südosteuropäischen Peripherie. Sch<strong>on</strong> in den VPR v<strong>on</strong> 1992 wird vor dem<br />

gewaltsamen Aufbrechen „bisher unterdrückte[r], nicht auf dem ideologischen Gegensatz<br />

beruhende[r] K<strong>on</strong>flikte“ 44 gewarnt. Eine derartige Herausforderung läßt sich allerdings nicht in<br />

kurzer Zeit bewältigen, s<strong>on</strong>dern verlangt große zeitliche, finanzielle und militärisch-pers<strong>on</strong>elle<br />

40<br />

Vgl. The State Department, The Dayt<strong>on</strong> Peace Accords, o.O., 30.03.1996,<br />

http://www.state.gov/www/regi<strong>on</strong>s/eur/bosnia/bosagree.html [13.07.2003].<br />

41<br />

Vgl. BMVg, Folgeoperati<strong>on</strong> SFOR. Informati<strong>on</strong>en über die Beteiligung der Bundeswehr, B<strong>on</strong>n, September 2000,<br />

hier: Anhang.<br />

42<br />

Vgl. BMVg, Antworten auf häufig gestellte Fragen zu SFOR, Berlin, o.J.<br />

http://www.einsatz.bundeswehr.de/einsatz_aktuell/sfor/faq/faq_sfor.php [26.07.2003].<br />

43<br />

BMVg, Der Weg zum KFOR-Mandat, Berlin, o.J.<br />

http://www.bundeswehr.de/wir/einsatz/print/kfor.php [26.07.2003].<br />

44<br />

BMVg (1992), a.a.O., Ziff. 20.<br />

24


Anstrengungen. Bezüglich der SFOR Missi<strong>on</strong> in Bosnien-Herzegowina ist zu sagen, daß laut<br />

zitiertem Bundestagsbeschluß die zivilen Implementierungen v<strong>on</strong> „Dayt<strong>on</strong>“ „erfolgreich<br />

umgesetzt worden“ sind. 45 Deutschland beteiligte sich militärisch an den Luftschlägen der Nato-<br />

Operati<strong>on</strong> Allied Force gegen Jugoslawien im Frühjahr 1999 und an der sich daran<br />

anschließenden Kosovo Force (KFOR). Diese soll „ein multi-ethnisches, friedliches,<br />

rechtsstaatliches und demokratisches Kosovo mit aut<strong>on</strong>omer Selbstverwaltung“ 46 aufbauen –<br />

erneut mit dem Langzeit-Ziel, die südosteuropäische Peripherie zu stabilisieren.<br />

Der Schutz deutscher Bürger im In- und Ausland hat mit den Terroranschlägen vom 11.09.2001<br />

in New York und Washingt<strong>on</strong> eine neue Qualität bekommen. In den aktuellen VPR v<strong>on</strong> 2003<br />

spielen der Terrorismus und dessen Bekämpfung die zentrale Rolle. Die Verteidigung<br />

Deutschlands findet jetzt auch an anderen Orten der Welt statt. 47 Dementsprechend beteiligt sich<br />

die Bundeswehr in großem Umfang am Kampf gegen den internati<strong>on</strong>alen Terrorismus (Enduring<br />

Freedom) und der Internati<strong>on</strong>al Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan. Erstgenannte<br />

Operati<strong>on</strong> hat zum Ziel: „Führungs- und Ausbildungseinrichtungen v<strong>on</strong> Terroristen<br />

auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen sowie<br />

Dritte dauerhaft v<strong>on</strong> der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten.“ 48 Deutschlands<br />

Beitrag findet nicht nur aus Solidarität zu den USA, s<strong>on</strong>dern auch aus nati<strong>on</strong>alem Interesse statt,<br />

da „der internati<strong>on</strong>ale Terrorismus unsere Freiheit, unsere Werte, die Substanz unserer<br />

Gesellschaft im Visier hat.“ 49 Das starke Interesse und damit Engagement Deutschlands an der<br />

Bekämpfung des internati<strong>on</strong>alen Terrorismus läßt sich auch daran zeigen, daß die ISAF v<strong>on</strong><br />

Februar bis August 2003 unter deutsch-niederländischem Kommando stand. 50<br />

45<br />

Vgl. BMVg (2000), a.a.O.<br />

46<br />

BMVg, Antworten auf häufig gestellte Fragen zu KFOR, Berlin, 18.06.2003,<br />

http://www.einsatz.bundeswehr.de/einsatz_aktuell/kfor/faq/faq_kfor.php [26.07.03].<br />

47<br />

Vgl. Vergleich der Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) v<strong>on</strong> 1992 und 2003, oben in diesem Essay.<br />

48<br />

BMVg, Antworten auf häufig gestellte Fragen zur Operati<strong>on</strong> ENDURING FREEDOM, Berlin, o.J.,<br />

http://www.einsatz.bundeswehr.de/einsatz_aktuell/oef/faq/faq_oef.php [03.09.03].<br />

49<br />

Ebd.<br />

50<br />

Vgl. <strong>Deutsche</strong> Bundesregierung, Deutschland und die Niederlande übergeben die Führung v<strong>on</strong> ISAF an die<br />

NATO, Berlin, 11.08.2003,<br />

http://www.bundesregierung.de/Themen-A-Z/Sicherheitspolitik-,8648.507430/artikel/Deutschland-und-die-<br />

Niederland.htm [14.09.03].<br />

25


Motiv 3: (Bündnis-)Solidarität und Aufbau neuer Akteure auf militärischem Gebiet<br />

Das letzte Motiv läßt sich in nahezu allen Einsätzen wiederfinden, da sie im Rahmen v<strong>on</strong> UN<br />

(z.B. Somalia) oder NATO (z.B. Balkan) stattfinden. Bes<strong>on</strong>ders aber der Beitrag Deutschlands<br />

bei der Operati<strong>on</strong> Enduring Freedom und bei ISAF läßt die Solidarität gegenüber dem<br />

Bündnispartner USA erkennen.<br />

Auf Einladung der dortigen Regierung und K<strong>on</strong>fliktparteien findet die EU Missi<strong>on</strong> C<strong>on</strong>cordia<br />

seit 2001 in Mazed<strong>on</strong>ien statt. Der „politische Prozeß“ und die „legitimen Instituti<strong>on</strong>en in<br />

Mazed<strong>on</strong>ien“ 51 sollen dem<strong>on</strong>strativ unterstützt werden. Dieser Einsatz wird v<strong>on</strong> der Bundeswehr<br />

als „EU Friedensmissi<strong>on</strong>“ bezeichnet. Daneben ist noch der Einsatz Artemis zu nennen, in dessen<br />

Rahmen 12 Soldaten in Uganda stati<strong>on</strong>iert sind. 52 Auch dieser findet unter EU-Führung statt. Die<br />

Bemühungen, die EU als relevanten Akteur bei militärischen Einsätzen ins Spiel zu bringen, sind<br />

hier unübersehbar.<br />

Fazit<br />

Im Mittelpunkt der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik steht der Schutz Deutschlands und<br />

seiner Bürger, aufgrund der Herausforderung des internati<strong>on</strong>alen Terrorismus neuerdings auch<br />

vermehrt im Ausland in Form einer nicht mehr territorial gebundenen Landesverteidigung.<br />

Wie der Vergleich der VPR v<strong>on</strong> 1992 und 2003 zeigt, gibt es mit dem Terrorismus, den Gefahren<br />

durch die Proliferati<strong>on</strong> v<strong>on</strong> Massenvernichtungswaffen und Informati<strong>on</strong>skriegsführung neue<br />

Schwerpunkte in den Herausforderungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, welche<br />

auch in Zukunft v<strong>on</strong> zentraler Bedeutung sein werden. Vor allem ethnisch und religiös geprägte<br />

K<strong>on</strong>flikte bzw. Bürgerkriege fordern Deutschland und seine Bündnispartner zur<br />

Kriseninterventi<strong>on</strong> in der ganzen Welt, um hier für die Werte der westlichen Staatenwelt<br />

einzustehen, diese zu schützen und glaubhaft zu machen. Ein anderer wichtiger Aspekt ist die<br />

Demokratisierung der osteuropäischen Staaten und damit verbunden die Sicherung der<br />

europäischen Peripherie. Um den damit verbundenen Anforderungen gerecht zu werden und als<br />

ein vertrauenswürdiger und zuverlässiger Bündnispartner agieren zu können, muß die<br />

Bundeswehr weiter reformiert werden – weg v<strong>on</strong> einer zur Landesverteidigung aufgestellten, hin<br />

51 BMVg, Mazed<strong>on</strong>ien (Operati<strong>on</strong> C<strong>on</strong>cordia), Berlin, vom 13.06.2003,<br />

http://www.einsatz.bundeswehr.de/einsatz_aktuell/tff/ueberblick/tff_start.php [26.07.03].<br />

52 Vgl. BMVg, Einsatzgebiete der Bundeswehr (Stand 19.08.2003),<br />

http://www.bundeswehr.de/forces/030728_einsatz_welt.php [20.08.03].<br />

26


zu einer mobilen Armee, die für Einsätze in der ganzen Welt gewappnet ist und im Rahmen v<strong>on</strong><br />

multinati<strong>on</strong>alen Truppen ihren Beitrag leisten kann.<br />

Was die Zukunft bringt ist nicht sicher, jedoch wird Deutschland als eines der großen<br />

Industrieländer mit in die Verantwortung gezogen werden, wenn es darum geht, Frieden in der<br />

Welt zu schaffen bzw. Krieg und Terror zu verhindern. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß<br />

Deutschland selbst zum Ziel v<strong>on</strong> Terror wird, weshalb es sich so gut wie möglich auf diese<br />

Aufgaben vorbereiten sollte, um sich den kommenden Herausforderungen stellen zu können.<br />

27


Arbeitsgruppe 3<br />

Akteure und Entscheidungsprozesse<br />

Lars Bretthauer, Timo Erdmann, Martina Randel, Sabine Schlecker<br />

Bei der Entsendung der Bundeswehr zu einem Auslandseinsatz spielen Akteure und<br />

Entscheidungsprozesse eine wichtige Rolle. Die Akteure bestimmen mit ihren Überzeugungen<br />

und Interessen die laufenden Diskussi<strong>on</strong>en und tragen erheblich zum Ergebnis bei. Die Parteien<br />

stellen dabei die wichtigsten Akteure dar, da sie die Schlüsselpositi<strong>on</strong> im Parlament inne haben.<br />

Der Bundestag ist momentan das einzige Organ in Deutschland, das die Autorität besitzt, über<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr zu entscheiden.<br />

Die Sicherheitspolitik Deutschlands bietet mit ihren verstrickten Richtlinien ein breites<br />

Diskussi<strong>on</strong>sspektrum für die Akteure, die bei der Entscheidung zu Auslandseinsätzen der<br />

Bundeswehr beteiligt sind.<br />

Instituti<strong>on</strong>en und Verteidigungsfall<br />

Grundlage aller sicherheitspolitischen Entscheidungsprozesse ist aber der sog. „Heimatschutz“ 1 .<br />

Dieser beinhaltet „Krisenpräventi<strong>on</strong> und Krisenbewältigung“. Beide Maßnahmen erlauben es<br />

Deutschland sogar – basierend auf der „kollektiven Verteidigung“ –, Kampfhandlungen<br />

vorzunehmen. Doch bis solche Schritte bewilligt sind, müssen sie zunächst vom Bundestag und<br />

Bundesrat beschlossen und bewilligt werden. Der Ablauf des Entscheidungsprozesses ist im<br />

Grundgesetz festgelegt. So wird der Verteidigungsfall nur auf Antrag der Bundesregierung vom<br />

Bundestag mit Zustimmung vom Bundesrat festgestellt. Der Bundesrat muß mit 2/3 Mehrheit<br />

zustimmen, ans<strong>on</strong>sten wird der Antrag abgelehnt. Sollte der Fall eintreten, daß es dem Bundestag<br />

nicht möglich ist zusammenzutreten, so wird gemäß Art. 53a des Grundgesetzes ein<br />

„Gemeinsamer Ausschuß“ gebildet. Dieser setzt sich zu 2/3 aus Mitgliedern des Bundestages und<br />

zu 1/3 aus Mitgliedern des Bundesrates zusammen. Es dürfen hier keine Mitglieder der<br />

Bundesregierung vertreten sein. Der „Gemeinsame Ausschuß“ kann wiederum feststellen, ob der<br />

Bundestag beschlußfähig ist oder ob seinem Zusammentreffen unüberwindbare Hindernisse im<br />

Wege stehen. Je nach dem, wie seine Entscheidung ausfällt, übernimmt er gegebenenfalls die<br />

Stellung v<strong>on</strong> Bundestag und Bundesrat. Ist der Verteidigungsfall eingetreten, so wird er vom<br />

1 Vgl. Hans-Jürgen Leersch, Bundeswehr soll „Heimatschutz“ stärken, in: Die Welt, 26. Februar 2002 (<strong>on</strong>line).


Bundespräsidenten im Bundesgesetzblatt verkündet. Mit der Verkündigung des<br />

Verteidigungsfalles erhält der Bundeskanzler das Kommando und die Befehlsgewalt über die<br />

Streitkräfte, und die Bundesregierung kann als Folge den Grenzschutz im ganzen Land einsetzen.<br />

Zur allgemeinen Sicherheitspolitik Deutschlands gehört zudem, daß der Bundessicherheitsrat, der<br />

unregelmäßig zusammentritt, sich mit generellen und richtungsweisenden Fragen der Sicherheit<br />

beschäftigt. Er wird vom Bundeskanzler geleitet. Seine Sitzungen gehen meist auf<br />

Vorbereitungsgespräche der Staatssekretäre zurück, wobei die Inhalte allerdings streng geheim<br />

sind und nicht an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Zu seinen Aufgaben und Kompetenzen<br />

zählen die Koordinati<strong>on</strong> v<strong>on</strong> Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Vorbereitung v<strong>on</strong><br />

Regierungsentscheidungen. Er ist ebenso zuständig für Rüstungsexporte und -k<strong>on</strong>trolle. Dabei<br />

besitzt er Beschlußkompetenzen. Die Entscheidungen werden einvernehmlich getroffen. Der<br />

Bundessicherheitsrat setzt sich zusammen aus Bundeskanzler, Chef des Bundeskanzleramtes,<br />

Außen-, Verteidigungs-, Finanz-, Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister sowie dem Minister für<br />

wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.<br />

Ein weiteres Organ der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik ist das Sicherheitskabinett.<br />

Wichtig ist, daß dies kein Kabinettsausschuß ist. Das Sicherheitskabinett wird ebenfalls vom<br />

Bundeskanzler zusammengerufen und geleitet, ist aber keine ständige Einrichtung. Es ist eher<br />

eine informelle Runde, bei der es keine Tagesordnung gibt. Der Bundeskanzler ruft das<br />

Sicherheitskabinett nur bei Bedarf zusammen. Dabei treffen sich dann der Bundeskanzler, der<br />

Chef des Bundeskanzleramtes, sowie Außen-, Verteidigungs- und Innenminister. Gegebenenfalls<br />

kommen weitere Minister aus Behörden hinzu, die vom Bundeskanzler geladen wurden. Die<br />

Aufgaben und Kompetenzen des Sicherheitskabinetts umfassen keine verbindlichen Beschlüsse<br />

über die Richtung, in die die Politik gehen soll. Es handelt sich hierbei vielmehr um einen<br />

schnellen und direkten Informati<strong>on</strong>saustausch, der nach Abwägung v<strong>on</strong> Interessen eine beratende<br />

Funkti<strong>on</strong> einnehmen soll.<br />

Die Positi<strong>on</strong> der Parteien zum neuen Verteidigungsbegriff<br />

Hier zeigen sich nun bereits Kritikpunkte und verbesserungsträchtige Aspekte der deutschen<br />

Sicherheitspolitik bei Entscheidungsprozessen über Auslandseinsätze der Bundeswehr.<br />

29


Das Entsendegesetz als Mittel zu mehr Flexibilität<br />

Kritisiert wird dabei unter anderem das komplexe und unflexible Abstimmungsverfahren. Im<br />

Ernstfall ist ein schnelles Entscheiden mit diesem Verfahren nicht realisierbar. Somit wurde auf<br />

der Suche nach einer besseren Variante unter anderem der Vorschlag eines Entsendegesetzes zur<br />

Diskussi<strong>on</strong> gebracht. Mit diesem Gesetz soll es leichter und unkomplizierter werden, die<br />

deutsche Bundeswehr im Ausland einzusetzen. Zunächst wird nämlich der Parlamentsvorbehalt<br />

übergangen, so daß eine schnellere und flexiblere Entsendung der Streitkräfte in Krisengebieten<br />

ermöglicht wird. Denn es hat sich gezeigt, daß, wie z.B. bei dem Mazed<strong>on</strong>ien-Einsatz oder bei<br />

der Operati<strong>on</strong> „Enduring Freedom“, die Parlamentszustimmung nicht immer gesichert ist.<br />

Zeitverzögerungen und lange Diskussi<strong>on</strong>en sind die Folge. Dies hat ebenfalls einen<br />

Reputati<strong>on</strong>sverlust der Bundesregierung im Ausland und auch im Innland zur K<strong>on</strong>sequenz. 2<br />

Deutschland läuft Gefahr, seiner Bündnissolidarität im Rahmen kollektiver Sicherheit nicht mehr<br />

in dem Sinne nachgehen zu können, wie es v<strong>on</strong> den Bündnispartnern (NATO, (W)EU) erwartet<br />

wird. 3 Mit dem Entsendegesetz sollen Verfahrensabläufe bei der Entscheidung zu<br />

Auslandseinsätzen geregelt werden. Klare Richtlinien werden gefordert, wie sie z.B. bereits in<br />

Österreich existieren.<br />

In dem österreichischen Entsendegesetz sind „grundsätzliche Abläufe und Kompetenzen sowie<br />

Beratungs- und K<strong>on</strong>trollfunkti<strong>on</strong>en mit dem Parlament“ 4 fester Bestandteil. Momentan sieht es<br />

so aus, daß es der Bundesregierung ermöglicht würde, Streitkräfte vorab in einen Einsatz zu<br />

entsenden, der dann erst im „Nachholverfahren“ durch den Bundestag legitimiert wird. Um ein<br />

vereinfachtes und schnelleres Verfahren zu erreichen, bedarf es allerdings einer<br />

Grundgesetzänderung. Dies ist nahezu allen Politikern nach den K<strong>on</strong>flikten um die Mazed<strong>on</strong>ien-<br />

Einsätze und die Einsätze bei der Operati<strong>on</strong> „Enduring Freedom“ klar: Veränderungen in der<br />

Sicherheitspolitik Deutschlands sind dringend erforderlich. Diese Debatten, vor allem um das<br />

WIE, werden in erster Linie v<strong>on</strong> den Parteien geführt, die teilweise sogar als erste Forderungen<br />

nach Verbesserungen vorgebracht haben.<br />

2<br />

Vgl. Heiko Rottmann, Die Debatte unter den Parteien ist eröffnet. Entsendegesetz ohne eine Veränderung des<br />

Grundgesetzes wahrscheinlich nicht möglich (Teil 1), in: aktuell – Zeitung für die Bundeswehr, Nr.11/2003, S. 5.<br />

3<br />

Vgl. Christian Wernicke, Nato dringt auf Bundeswehr-Entsendegesetz, in: Süddeutsche Zeitung, 2. August 2003,<br />

S. 7.<br />

4<br />

Heiko Rottmann, Die Debatte unter den Parteien ist eröffnet. Entsendegesetz ohne eine Veränderung des<br />

Grundgesetzes wahrscheinlich nicht möglich (Teil 1), in: aktuell – Zeitung für die Bundeswehr, Nr.11/2003, S. 5.<br />

30


Positi<strong>on</strong> der Parteien zum Entsendegesetz<br />

Die Uni<strong>on</strong> machte sch<strong>on</strong> 1994 einen Vorstoß zur Schaffung v<strong>on</strong> Krisenreakti<strong>on</strong>skräften, die auf<br />

erbitterten Widerstand der SPD sowie der FDP stießen. Sie forderte einen „Nati<strong>on</strong>alen<br />

Sicherheitsrat“, welcher eine umfassende Analyse neuer Bedrohungen für die innere und äußere<br />

Sicherheit und die Einleitung geeigneter Abwehrmaßnahmen sicherstellen könne. In diesem<br />

Zusammenhang müsse über ein Entsendegesetz nachgedacht werden, das die Möglichkeit der<br />

Entsendung v<strong>on</strong> Vor- und Erkundungskommandos ins Einsatzland zuläßt und ein Rückholrecht<br />

des Bundestages bzw. eine Anpassung des Mandates an eine veränderte Lage umfaßt.<br />

Neben der Uni<strong>on</strong> drängt inzwischen auch die FDP auf ein Entsendegesetz. FDP-Frakti<strong>on</strong>schef<br />

Wolfgang Gerhardt bet<strong>on</strong>t, daß die FDP-Bundestagsfrakti<strong>on</strong> willens war und ist, ein<br />

Entsendegesetz zu beschließen, um in K<strong>on</strong>fliktsituati<strong>on</strong>en Klarheit zu schaffen. Ein solches<br />

Gesetz müsse sowohl dem Gedanken einer Parlamentsarmee Rechnung tragen wie auch der<br />

Regierung in Krisenzeiten Handlungsspielräume lassen.<br />

Wie bereits erwähnt, war die SPD Anfang der 90er Jahre strikt gegen ein Entsendegesetz.<br />

Genauso wie die Sicherheitspolitik der Partei im Laufe der Jahre einen Wandel erfahren hat, hat<br />

sich auch ihre Einstellung zum Entsendegesetz geändert. Sch<strong>on</strong> vor dem Regierungswechsel<br />

1998 mußte sich die SPD der außenpolitischen Linie der europäischen Sozialdemokraten<br />

anpassen. Dazu kam, daß die Partei durch ihren Erfolg bei den Bundestagswahlen 1998 die<br />

bequeme Positi<strong>on</strong> der Oppositi<strong>on</strong>sbank verließ und sicherheitspolitisch in die Pflicht genommen<br />

wurde. Ein Entsendegesetz hätte auch für die SPD als regierende Partei den Vorteil v<strong>on</strong> mehr<br />

Handlungsspielraum.<br />

Im Gegensatz zur SPD hat der Wechsel auf die Regierungsseite bei den Grünen die ablehnende<br />

Haltung zum Entsendegesetz nicht verändert. Für sie ist immer noch der Bundestag letzte<br />

Entscheidungsinstanz, die parlamentarische Entscheidungshoheit über das Militär wird als<br />

demokratische Errungenschaft gesehen. 5 Auf ihr Drängen wurde die Ausarbeitung eines<br />

Entsendegesetzes weder 1998 noch 2002 in die Koaliti<strong>on</strong>svereinbarung aufgenommen.<br />

5 Vgl. Financial Times: Stichwort: Entsendegesetz, 26. März 2003, http://www.ftd.de/pw/in/1048234735910.html<br />

[27.07.2003].<br />

31


Positi<strong>on</strong> der Parteien zu „Out-of-area“-Einsätzen<br />

Das diskutierte Gesetz zur flexibleren Entsendung v<strong>on</strong> deutschen Truppen soll vor allem eine<br />

Antwort auf die neue Herausforderung durch „out-of-area“-Einsätze sein.<br />

Die CDU vertritt die Meinung, daß die Sicherheit Deutschlands künftig sch<strong>on</strong> dort geschützt<br />

werden müsse, v<strong>on</strong> wo die Gefahr ausginge. 6 Bedrohungen entstünden oft fernab und bedürften<br />

der Eindämmung und Bekämpfung, bevor sie die Landes- oder Bündnisgrenze erreichen<br />

könnten. Die völkerrechtliche Grundlage dafür müsse notfalls angepaßt werden. Die Bereitschaft<br />

zur Verteidigung v<strong>on</strong> Bündnisinteressen (NATO) solle auch außerhalb der Bündnisgrenzen<br />

bestehen, da die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit ihre K<strong>on</strong>turen verlieren<br />

würden.<br />

Eine Grundgesetzänderung über die Einsatzmöglichkeiten v<strong>on</strong> Bundeswehrsoldaten wurde bis<br />

1991 zwar nicht juristisch, aber zumindest politisch für notwendig gehalten. Ab Herbst 1992<br />

wurde dann der Standpunkt vertreten, daß auch Einsätze ohne vorherige Verfassungsänderung<br />

möglich seien und zwar auf Grundlage eines mit einfacher Mehrheit zu verabschiedenden<br />

Entsendegesetzes. Mit dieser Entscheidung k<strong>on</strong>nte sich die CDU/CSU jedoch auf Grund der<br />

ablehnenden Haltung der FDP nicht durchsetzen. Nach heutiger Auffassung v<strong>on</strong> CDU/CSU über<br />

Auslandseinsätze sollte sich die Bundeswehr der globalen Krisenbeherrschung und<br />

Friedenssicherung stellen und zu einem erheblichen Teil Kräfte für die damit<br />

zusammenhängenden multilateralen Einsätze bereitstellen. 7 Um dabei handlungsfähig zu bleiben,<br />

müsse die rasche Einsatzfähigkeit schnell verlegbarer Verbände ermöglicht werden. Die<br />

internati<strong>on</strong>ale Gemeinschaft müsse laut Uni<strong>on</strong> destabilisierende K<strong>on</strong>flikte schlichten und notfalls<br />

Frieden erzwingen, um mittelbare Gefahren v<strong>on</strong> Deutschland abzuhalten. Angesichts des<br />

internati<strong>on</strong>alen Terrorismus fordert sie eine präventive Sicherheitsstrategie.<br />

Die FDP vertritt die Meinung, daß die NATO-Militäreinsätze außerhalb des Bündnisgebietes<br />

nicht nur an das Völkerrecht und einen einstimmigen Beschluß des NATO-Rates gebunden sein<br />

sollen, s<strong>on</strong>dern auch an ein UN-Mandat. Die Standfestigkeit der FDP in der<br />

Verfassungsänderungsdebatte v<strong>on</strong> 1992 ließ jedoch immer mehr nach und näherte sich den<br />

Uni<strong>on</strong>sparteien weiter an. Die Positi<strong>on</strong> Anfang der 90er, Auslandseinsätze seien nur als<br />

6 Vgl. CDU/CSU Bundestagsfrakti<strong>on</strong>, Die Bundeswehr in einem geänderten sicherheitspolitischen Umfeld, Berlin,<br />

25.02.2003, http://www.cducsu.de/upload/bundeswehr030225.pdf [18.09.03].<br />

Alle folgenden Positi<strong>on</strong>en der Uni<strong>on</strong>sfrakti<strong>on</strong> sind ebenfalls diesem Programm entnommen.<br />

7 Vgl. ebd.<br />

32


Blauhelm-Operati<strong>on</strong>en unter UN-Oberkommando durchsetzbar, wurde in den Folgejahren durch<br />

die Grundlage eines Mandats des UN-Sicherheitsrates erweitert.<br />

Auch die SPD vertrat zu Beginn der 90er Jahre eine strikt ablehnende Haltung zu „out-of-area“-<br />

Einsätzen, 8 was sich an diversen Verfassungsklagen wie zum Beispiel gegen die Somalia-<br />

Operati<strong>on</strong> und die Entsendung deutscher Soldaten zu AWACS-Einsätzen aufzeigen läßt. Bis<br />

heute hat sich jedoch ein völliger Wandel vollzogen, und die SPD geführte Regierung hat<br />

mittlerweile mehr „out-of-area“-Einsätze veranlaßt als ihre Vorgänger.<br />

Für die Grünen darf die Bundeswehr nur dann an Operati<strong>on</strong>en teilnehmen, wenn zuvor der UN-<br />

Sicherheitsrat ein Mandat erteilt hat. 9 Dies sollte allerdings nur im Rahmen v<strong>on</strong><br />

Krisenpräventi<strong>on</strong>, Friedensbewahrung und -herstellung geschehen. Somit haben auch die Grünen<br />

ihre sicherheitspolitische Positi<strong>on</strong> gewandelt. Während sie früher Kampfeinsätzen gänzlich<br />

ablehnend gegenüberstanden, was sich mit ihrem Ursprung in der Friedensbewegung erklären<br />

läßt, sehen sie heute die Notwendigkeit, Kampfeinsätze durchzuführen.<br />

Heftigst über Auslandseinsätze der Bundeswehr wird auch in der PDS diskutiert. Diese<br />

„k<strong>on</strong>sequente Friedenspartei“ 10 , wie es im Parteiprogramm steht, hat seit ihrer Gründung Anfang<br />

der 90er Jahre keinen Wandel in ihrem Verhalten und ihrer Einstellung erfahren. Sie spricht sich<br />

grundsätzlich gegen jeglichen Krieg oder Militäreinsatz aus, wenn dieser nicht die direkte<br />

Landesverteidigung umfaßt. Des weiteren ist die PDS gegen den „westlichen Militärblock“, also<br />

gegen das (west-) europäische Verteidigungsbündnis. Diese Haltung hat die PDS auch<br />

k<strong>on</strong>sequent in allen Fällen beibehalten. Der ständige und grundsätzliche Widerstand der PDS ist<br />

eher symbolisch und besetzt als einzige noch die grundsätzlich anti-militaristische Positi<strong>on</strong>.<br />

Das Einsatzführungskommando als Antwort auf die veränderte sicherheitspolitische Lage<br />

Wie man sieht, stehen inzwischen nahezu alle Parteien hinter Auslandseinsätzen der<br />

Bundeswehr. Mit der daraus folgenden Häufung solcher Operati<strong>on</strong>en wurde die Schaffung eines<br />

Führungsstabs notwendig.<br />

8 Vgl. University of Phoenix, Country and Study Guide: The Out-of-area Debate.<br />

http://www.1upinfo.com/country-guide-study/germany/germany148.html. [25.07.03].<br />

9 Vgl. Bündnis 90/Die Grünen, Die Zukunft ist grün, Berlin, 17.03.2002, S. 164. Alle folgenden Positi<strong>on</strong>en der<br />

Partei sind ebenfalls diesem Programm entnommen.<br />

10 Partei des Demokratischen Sozialismus, Programm (überarbeiteter Entwurf), o.O., 22.02.2003, S. 18. Alle<br />

folgenden Positi<strong>on</strong>en der Partei sind ebenfalls diesem Programm entnommen.<br />

33


Am 1. Juli 2001 wurde das Einsatzführungskommando der Bundeswehr eingerichtet, welches die<br />

Planung und Führung der Streitkräfte auf nati<strong>on</strong>aler und multinati<strong>on</strong>aler Ebene gewährleistet.<br />

Geführt wird dieses derzeit v<strong>on</strong> Generalleutnant Friedrich Riechmann, dem Soldaten und zivile<br />

Mitarbeiter aus Heer, Luftwaffe, Marine, dem zentralen Sanitätsdienst und der Wehrverwaltung<br />

sowie Rechtsberater unterstehen. Diese arbeiten in zehn Abteilungen zusammen. Das<br />

Einsatzführungskommando gibt als einzige Dienststelle der Bundeswehr nati<strong>on</strong>ale Weisungen an<br />

die K<strong>on</strong>tingente im Einsatzgebiet weiter. Zum ersten Mal kam das Einsatzführungskommando<br />

im Rahmen der ISAF in Afghanistan zum Einsatz.<br />

„Operati<strong>on</strong> Libelle“ im Jahre 1997<br />

Eine Bes<strong>on</strong>derheit bei den Entscheidungsprozessen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr bildet<br />

die „Operati<strong>on</strong> Libelle“. Hierbei handelte es sich um die Evakuierung vornehmlich deutscher<br />

Zivilisten aus Albanien. Dieser Kampfeinsatz der Bundeswehr mußte aufgrund der<br />

sicherheitspolitischen Brisanz vor Ort ohne ausgiebige Parlamentsdiskussi<strong>on</strong> durchgeführt<br />

werden. 11 Innerhalb v<strong>on</strong> 24 Stunden mußte das Koblenzer Heeresführungskommando<br />

Kampftruppen und Sanitäter koordinieren. Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung<br />

wurden in B<strong>on</strong>n nur die Frakti<strong>on</strong>sführer vorab informiert. Erst einige Tage später wurde dieser<br />

Einsatz vom Bundestag nachträglich autorisiert. In diesem Fall gab es keine nennenswerte<br />

parlamentarische Diskussi<strong>on</strong>, weil es sich um die Evakuierung v<strong>on</strong> Zivilisten handelte.<br />

Allerdings muß bedacht werden, daß hier ein Anfang gemacht wurde, einen Kampfeinsatz ohne<br />

vorherige Zustimmung des Bundestages durchzuführen. Dies zeigt, daß die Notwendigkeit für<br />

ein Entsendegesetz eindeutig gegeben ist.<br />

Fazit<br />

Zusammenfassend kann man sagen, daß angesichts der immer häufiger werdenden<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr die vorhandenen Instituti<strong>on</strong>en in der Zukunft nicht mehr<br />

zeitgemäß und ausreichend sein werden. Die dargelegten komplexen Entscheidungsprozesse und<br />

k<strong>on</strong>troversen Debatten zwischen den Hauptakteuren verhindern ein schnelles und flexibles<br />

Handeln. Das Einsatzführungskommando und das Entsendegesetz sind erste Schritte in Richtung<br />

einer modernen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Auf Dauer werden jedoch noch<br />

grundlegendere Reformen notwendig sein.<br />

11 Vgl. Martin S. Lambeck, Feuerbefehl verhinderte Panik, in: Die Welt, 22. März 1997 (<strong>on</strong>line).<br />

34


Arbeitsgruppe 4<br />

Fähigkeitsprofil der Bundeswehr<br />

Thorsten Eberhardt, René Fritsch, Martin Heuskel<br />

Nach den bisher behandelten rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen der deutschen<br />

Verteidigungspolitik soll an dieser Stelle das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr untersucht<br />

werden. Der Begriff des „Fähigkeitsprofils“ stellt dabei eine Antwort auf die Frage dar, welche<br />

Arten v<strong>on</strong> Einsätzen überhaupt praktisch durchführbar sind und in welchem Umfang dies<br />

geschehen kann. Idealerweise entsprechen die vorgehaltenen militärischen Ressourcen dem, was<br />

erforderlich ist, um den auf der politischen Ebene formulierten Herausforderungen gerecht zu<br />

werden. Diese Herausforderungen und Bedrohungen 1 haben sich seit Gründung der Bundeswehr<br />

im Jahre 1955 geändert, wodurch sich ein Anpassungsdruck für die materielle Ausstattung der<br />

Armee ergab. Ziel dieses Essays ist es daher, das ursprüngliche Fähigkeitsprofil der Bundeswehr<br />

im K<strong>on</strong>text der damaligen Bedrohungslage darzustellen und zu untersuchen, welche<br />

Veränderungen seit dem zu verzeichnen waren.<br />

Die Blockk<strong>on</strong>fr<strong>on</strong>tati<strong>on</strong> des Kalten Krieges als prägender Faktor<br />

Die Ursprünge der Bundeswehr in den 1950er Jahren sind eng mit dem politischen Umfeld des<br />

sich entwickelnden Ost-West-K<strong>on</strong>flikts verknüpft. Die westdeutschen Streitkräfte waren niemals<br />

als rein nati<strong>on</strong>ale Verteidigungsarmee geplant, s<strong>on</strong>dern wurden als ein Beitrag zur Verteidigung<br />

des NATO-Gebietes aufgestellt und standen unter K<strong>on</strong>trolle der westlichen Allianz. Ihre Größe<br />

und Struktur hing daher stark v<strong>on</strong> der Sicherheitsstrategie der NATO ab.<br />

Die NATO-Strategie beinhaltete seit 1957 das K<strong>on</strong>zept der massiven atomaren Vergeltung durch<br />

die USA bei einem Angriff des Warschauer Paktes. 2 Die Verteidigung mit k<strong>on</strong>venti<strong>on</strong>ellen<br />

Mitteln hingegen oblag den weiteren europäischen Verbündeten. Dabei lag die<br />

Hauptverteidigungslinie aufgrund der geostrategischen Lage und im Sinne einer<br />

1 Vgl. Essay zwei „Werte, Interessen und Herausforderungen“ in dieser Sammlung.<br />

2 Vgl. NATO Military Committee, Overall Strategic C<strong>on</strong>cept for the Defense of the North Atlantic Treaty Organizati<strong>on</strong><br />

Area (MC 14/2), 23. Mai 1957, http://www.nato.int/docu/stratdoc/eng/a570523a.pdf, [18.09.03].


„Vorwärtsverteidigung“ auf bundesdeutschem Gebiet. 3 Deutschland hatte sich 1955 bei der<br />

Gründung der Bundeswehr und gleichzeitigem Eintritt in die NATO in diese Strategie<br />

einzufügen. Dies prägte das Fähigkeitsprofil und die Struktur der Bundeswehr über die folgenden<br />

Jahrzehnte. Unter den Bedingungen, daß die deutschen Streitkräfte nicht mehr als 20% der<br />

Truppen in Europa ausmachen durften und gleichzeitig kleiner als die französische Armee<br />

bleiben mußten, war eine Größe v<strong>on</strong> 500.000 Soldaten geplant. Die Aufstellung einer Armee<br />

dieser Stärke war unter den gegebenen Umständen nur durch die Einführung einer allgemeinen<br />

Wehrpflicht zu erreichen. 4 Auftrag der neu entstandenen Armee war die Stärkung der<br />

k<strong>on</strong>venti<strong>on</strong>ellen Verteidigungskräfte der NATO in einem K<strong>on</strong>fliktfall mit dem Warschauer Pakt.<br />

Man erwartete, daß nach Durchführung des atomaren Erst- und des darauffolgenden<br />

Vergeltungsschlages ein k<strong>on</strong>venti<strong>on</strong>eller Krieg mit einer Fr<strong>on</strong>tlinie auf deutschem Boden<br />

stattfinden würde. Die Struktur der Bundeswehr mußte also darauf ausgelegt werden, das<br />

Vorrücken der russischen Panzerdivisi<strong>on</strong>en zu verhindern. Um dies zu erreichen, bestand die<br />

Bundeswehr zu ca. 70% aus Heeresstreitkräften mit einem hohen Anteil an Panzer-,<br />

Panzergrenadier- und Panzerjägereinheiten. Diese mechanisierten Verbände sollten im Kampf<br />

der verbundenen Waffen die russischen Panzer stoppen. Die Bereitstellung leichter und mobiler<br />

Infanterieeinheiten wurde in diesem K<strong>on</strong>zept einer statischen Verteidigungsarmee vernachlässigt.<br />

Auch die Herstellung weitreichender Verlegefähigkeit wurde aufgrund der Annahme, daß ein<br />

möglicher Krieg auf deutschem Boden ausgetragen werden würde, nicht für erforderlich<br />

gehalten. Die pers<strong>on</strong>elle Stärke der Bundeswehr und ihrer Teilstreitkräfte blieb bis zur<br />

Wiedervereinigung, basierend auf den Überlegungen und Planungen der frühen fünfziger Jahre,<br />

unverändert. 5<br />

Beginnend mit dem 2+4-Vertrag v<strong>on</strong> 1990 kam es zu ersten Veränderungen an Struktur und<br />

Stärke der Bundeswehr. Man beschloß, die Truppenstärke auf 370.000 Soldaten zu senken 6 und<br />

legte in den Verteidigungspolitischen Richtlinien v<strong>on</strong> 1992 fest, die Bundeswehr strukturell den<br />

veränderten Aufgaben anzupassen. 7 Erstmalig wurde die Teilnahme an krisenbewältigenden<br />

internati<strong>on</strong>alen Einsätzen neben der Landes- und Bündnisverteidigung als eine Hauptfunkti<strong>on</strong> der<br />

Bundeswehr definiert. Fortan wurde unterschieden zwischen Hauptverteidigungs- und<br />

Krisenreakti<strong>on</strong>skräften. Letztgenannte hatten 1995 einen Umfang v<strong>on</strong> 53.000 Soldaten bei einer<br />

3<br />

Vgl. Ortwin Buchbender et al., Wörterbuch zur Sicherheitspolitik mit Stichworten zur Bundeswehr, 4. Auflage,<br />

Hamburg u.a. 2000, S. 248.<br />

4<br />

Vgl. Heinz Brill, Deutschlands geostrategische Lage und Wehrstruktur (1949-1999), in: Österreichische<br />

Militärische Zeitschrift, Nr. 4, Juli/August 1999, S. 417.<br />

5<br />

Vgl. ebd.<br />

6<br />

Vgl. Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, hier: Art. 3 II, 12. September 1990,<br />

http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/dokumente/6-1aj.pdf [25.08.03].<br />

7<br />

Vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien 1992, B<strong>on</strong>n, 26. November 1992.<br />

36


Gesamtstärke v<strong>on</strong> ca. 340.000, wobei der Anteil der Wehrpflichtigen etwa 150.000 Mann betrug.<br />

Die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht wurde als weiterhin notwendig betrachtet, um im<br />

Verteidigungsfall eine Aufwuchsfähigkeit auf ca. 680.000 Mann sicherzustellen.<br />

Veränderungen der sicherheitspolitischen Situati<strong>on</strong><br />

Die Bundeswehr des Jahres 2003 ist nicht mehr die Bundeswehr des Jahres 1990. Diese banale<br />

Aussage wird wohl niemand ernsthaft in Zweifel ziehen. Doch was sind die Elemente, welche<br />

die heutige Bundeswehr v<strong>on</strong> der Armee der Wendezeit unterscheiden? Welche Grundlagen sind<br />

für diese Änderungen maßgebend gewesen? Die Bundeswehr v<strong>on</strong> 1990 ist ausschließlich als<br />

Defensivstreitmacht für den Kalten Krieg k<strong>on</strong>zipiert gewesen. Doch mit Änderung der<br />

sicherheitspolitischen Lage und Wegfall der Bedrohung durch einen massiv vorgetragenen<br />

Angriff der Panzerarmeen des Warschauer Paktes ist diese Planungsgrundlage deutscher<br />

Verteidigungspolitik nicht mehr v<strong>on</strong> zentraler Relevanz. Neue Bedrohungsszenarien sind an die<br />

Stelle der Ost-West-K<strong>on</strong>fr<strong>on</strong>tati<strong>on</strong> getreten, obgleich die Landesverteidigung als denkbare, wenn<br />

auch weniger wahrscheinliche Variante des Streitkräfteeinsatzes in den Planungen der<br />

Bundeswehr weiterhin eine Rolle spielen wird. Die neuen Herausforderungen und damit die zu<br />

erwartenden Einsatzopti<strong>on</strong>en für deutsche Streitkräfte haben sich sch<strong>on</strong> in den neunziger Jahren<br />

des letzten Jahrhunderts gezeigt: Asymmetrische Bedrohungen 8 sowie friedenserzwingende und<br />

friedenssichernde Auslandseinsätze, teilweise auch im außereuropäischen Raum. Militärische<br />

Auseinandersetzungen werden zunehmend privatisiert und damit entstaatlicht, so daß die<br />

Wahrscheinlichkeit groß ist, auch auf nichtstaatliche Akteure als Gegner der Bundeswehr zu<br />

treffen. Diese Akteure bedienen sich asymmetrischer Kriegsführungsstrategien, d.h. sie<br />

attackieren regulär aufgestellte Streitkräfte oder Staaten mit minimalem Aufwand, aber teilweise<br />

großer Wirkung. 9 Die für die deutsche Armee zu erwartenden Einsätze sind aufgrund der<br />

Multidimensi<strong>on</strong>alität der möglichen K<strong>on</strong>flikte und K<strong>on</strong>fliktregi<strong>on</strong>en nur noch eingeschränkt<br />

vorhersehbar. Neben den Herausforderungen der sicherheitspolitischen Lage sind jedoch auch<br />

andere Aspekte als Determinanten für das Fähigkeitsprofil relevant.<br />

8 Asymmetrische Bedrohungsszenarien sind solche Szenarien, in denen der eine Akteur im K<strong>on</strong>flikt, meist eine<br />

vergleichsweise hochgerüstete Armee, mit einem Akteur k<strong>on</strong>fr<strong>on</strong>tiert wird, der auf Taktiken des Terrorismus und<br />

der Guerillakriegführung setzt.<br />

9 Vgl. Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg, 2002.<br />

37


Einflußfaktoren des Fähigkeitsprofils<br />

Selbstverständnis<br />

Das deutsche Selbstverständnis über die Rolle der Bundeswehr hat sich in den letzten Jahren<br />

verändert hin zur Bereitschaft, die Streitkräfte nicht nur als Defensivpotential gegen die<br />

Bedrohung aus der sowjetischen Einflußsphäre zu betrachten, s<strong>on</strong>dern sie nach dem Vorbild der<br />

Streitkräfte anderer westlicher Nati<strong>on</strong>en als Einsatzarmee in internati<strong>on</strong>ale Einsätze zu<br />

entsenden. Diese Entwicklung scheint ihre endgültige Manifestati<strong>on</strong> in der v<strong>on</strong> deutschen<br />

Kampfeinsätzen unterstützten, nicht UN-mandatierten Kosovo-Interventi<strong>on</strong> gefunden zu haben.<br />

Die Bundesregierung ist nun auch bereit deutsche Soldaten in Kampfeinsätze zu entsenden, um<br />

Menschenrechtsverletzungen und Völkermord zu verhindern und Regime zu stürzen bzw. in<br />

ihrem Herrschaftsbereich zu begrenzen, die diese Praktiken der Gewaltanwendung fördern oder<br />

billigen (Milosevic, Kosovo-Krieg). 10 Im Rahmen des Kosovo-K<strong>on</strong>fliktes offenbarte sich eine<br />

Inkompatibilität zwischen den Leitlinien deutscher Außenpolitik „Nie wieder Krieg“ und „Nie<br />

wieder Auschwitz“, deren K<strong>on</strong>sequenz ein Paradigmenwechsel hin zu einem neuen Leitmotiv<br />

war: „Auschwitz kann, wenn andere Möglichkeiten gescheitert sind, auch durch Krieg verhindert<br />

werden.“ Diese Prioritätenverschiebung nimmt auch eigene Verluste bei militärischen Einsätzen<br />

in Kauf, welche sich nicht nur auf Friedenssicherung k<strong>on</strong>zentrieren, s<strong>on</strong>dern auch die<br />

Friedenserzwingung als anwendbares Mittel beinhalten. 11 Mit dieser Positi<strong>on</strong> hat die<br />

Bundesrepublik ihre militärische Zurückhaltung aufgegeben und bedient sich nun der Streitkräfte<br />

als aktiv handelndem, außenpolitischen Instrument.<br />

Bündnisverpflichtungen<br />

Deutschland ist ein Akteur in den Internati<strong>on</strong>alen Beziehungen, der in Internati<strong>on</strong>alen<br />

Organisati<strong>on</strong>en integriert ist und damit vielfältigen Bündnisverpflichtungen unterliegt. So hat die<br />

Bundesrepublik sich im Rahmen der NATO mit der „Initiative zur Verteidigungsfähigkeit“<br />

(Defence Capabilities Initiative, DCI; 25. April 1999) auf Schwerpunkte und Zielvorgaben bei<br />

der Beschaffung v<strong>on</strong> Wehrmaterial festgelegt. Die deutschen Schwerpunkte bei diesem<br />

ehrgeizigen Programm sind die Bereiche strategische (Luft)-Verlegefähigkeit, weltumspannende<br />

10 Vgl. Martin Wagener, Auslandseinsätze der Bundeswehr. Normalisierung statt Militarisierung deutscher<br />

Sicherheitspolitik, in: Hanns Maull, Sebastian Harnisch, C<strong>on</strong>stantin Grund (Hrsg.), Deutschland im Abseits?<br />

Rot-grüne Außenpolitik 1998-2003, Baden-Baden 2003, S. 39ff.<br />

11 Dies lässt sich auch in Anbetracht der kategorischen Ablehnung einer deutschen Beteiligung an der US-geführten<br />

Irak-Interventi<strong>on</strong> vom März 2003 seitens der Bundesregierung k<strong>on</strong>statieren. Hier haben wohl innenpolitische<br />

Faktoren bei der Entscheidungsfindung eine nicht unerhebliche Rolle gespielt.<br />

38


Aufklärung sowie Führungs- und Kommunikati<strong>on</strong>sfähigkeit. Anläßlich des Prager NATO-<br />

Gipfels im November 2002 wurde die Aufstellung einer NATO-Kriseninterventi<strong>on</strong>struppe<br />

(NATO Resp<strong>on</strong>se Force) beschlossen, an der Deutschland sich ebenfalls in größerem Umfang<br />

beteiligt. Neben der NATO gibt aber auch die EU Vorgaben, welche die Streitkräfteentwicklung<br />

tangieren. Zu nennen sind die Vereinbarungen der Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und<br />

Verteidigungspolitik (GESVP), welche neben der Aufstellung einer EU-Eingreiftruppe die<br />

Beseitigung v<strong>on</strong> Fähigkeitsdefiziten vorsehen. 12<br />

Wehrtechnische Industrie<br />

Es scheint erforderlich, einen Blick auf die Ressourcen der deutschen wehrtechnischen Industrie<br />

zu werfen, da diese maßgeblich in die Modernisierung der Bundeswehr eingebunden sein wird.<br />

Als wesentliches Standbein deutscher Sicherheitspolitik genießt die wehrtechnische Industrie<br />

internati<strong>on</strong>al einen nicht zu unterschätzenden Ruf, welcher sich auch in Exporterfolgen<br />

niederschlägt. Nati<strong>on</strong>al leidet sie allerdings unter der niedrigen Investivquote des<br />

Verteidigungshaushalts. Im Bereich der Luft- und Raumfahrtindustrie sowie im maritimen<br />

Rüstungssektor ist die Auftragslage noch als ausreichend zu bezeichnen, während sich die<br />

Heeres- sowie die Muniti<strong>on</strong>sindustrie in einer kritischen Situati<strong>on</strong> befinden. Dies erklärt sich aus<br />

den Überkapazitäten der Bundeswehr bei den Landstreitkräften sowie der umfangreichen<br />

Muniti<strong>on</strong>sbevorratung und der zunehmenden Anwendung moderner Simulati<strong>on</strong>stechniken. Diese<br />

Sparten der wehrtechnischen Industrie sind bes<strong>on</strong>ders gefährdet im Falle einer Einstellung eines<br />

Großprojektes und bedürfen dringend politischer Unterstützung zur Sicherung der<br />

Überlebensfähigkeit, falls es beabsichtigt ist, auf die Fähigkeiten der o. g. Bereiche in den<br />

nächsten Jahren zurückzugreifen und nicht das Gros des betreffenden Materials im Ausland zu<br />

beschaffen.<br />

Ausbildung<br />

Auf das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr wirkt sich aber neben den genannten Faktoren auch der<br />

Ausbildungsstand der Soldaten sowie die Fähigkeit aus, im jeweils erforderlichen Ausmaß<br />

ausgebildetes Fachpers<strong>on</strong>al, also Spezialisten, in den Einsatz zu schicken, welche über<br />

Fähigkeiten verfügen müssen, die über die eines Wehrpflichtigen in der Panzergrenadiertruppe<br />

deutlich hinausgehen. In den Balkan-Einsätzen der Bundeswehr wurden und werden z.B. noch<br />

spezialisierte Kräfte für die CIMIC-Verbände (Civil-Military-Cooperati<strong>on</strong>; Zivil-Militärische<br />

12 Vgl. IAP-Dienst Sicherheitspolitik, Bewaffnete Auslandseinsätze der Bundeswehr, S<strong>on</strong>derheft, Oktober 2002, S.<br />

4 f.<br />

39


Zusammenarbeit) benötigt, welche Aufgaben ausführten, die eher ziviler Natur gewesen sind.<br />

Diese Aufgaben, die dem Nati<strong>on</strong> Building (Aufbau v<strong>on</strong> Staatsstrukturen) sowie allgemeiner<br />

Entwicklungshilfe mit Tätigkeiten wie dem Aufbau v<strong>on</strong> Infrastruktur oder polizeilichen und<br />

quasi-judikativen Aufgaben zuzurechnen sind, werden klassischerweise in der Ausbildung v<strong>on</strong><br />

Soldaten nicht berücksichtigt (partielle Ausnahme: Pi<strong>on</strong>iere). Bei dem Kosovo Force (KFOR)-<br />

Einsatz müssen die deutschen Soldaten z.B. auch „den Berufsbildern Polizist, Sozialarbeiter,<br />

Mediator und Aufbauhelfer entsprechen.“ 13 Aus diesem Grund sind für solche Aufgaben gerade<br />

Reservisten mit entsprechender Fachausbildung gefragt. Jene könnten nach Bedarf eingezogen<br />

werden. An dieser Stelle muß die Frage aufgeworfen werden, wie die Bundeswehr solches<br />

Pers<strong>on</strong>al rekrutieren will, falls die Wehrpflicht abgeschafft wird. 14 Problematisch bei der<br />

Durchführung der Auslandseinsätze ist auch die Zusammensetzung der jeweils in den Einsatz<br />

entsandten K<strong>on</strong>tingente, welche aus den verschiedensten Einheiten und Teilstreitkräften<br />

zusammengestellt werden und deshalb in der Zusammenarbeit noch nicht reibungslos agieren<br />

können. Der Befehlshaber des Einsatzführungskommandos sieht in der Fähigkeit, spezialisiertes<br />

Pers<strong>on</strong>al zu entsenden, die Kernherausforderung für die Zukunft. Technische Fähigkeiten seien<br />

unproblematischer (durch Kauf oder Leasing) zu beschaffen, dahingegen „bleiben Engpässe bei<br />

spezialisiertem Pers<strong>on</strong>al der limitierende Faktor für die Zahl v<strong>on</strong> Auslandseinsätzen.“ 15 Ein gutes<br />

Beispiel für die gerade geschilderte Problemlage sind die Schwierigkeiten der Bundeswehr,<br />

Pers<strong>on</strong>al in ausreichender Zahl für die Spezialeinheit Kommando Spezialkräfte (KSK) zu<br />

rekrutieren, die sich zur Zeit in Afghanistan im Anti-Terror-Einsatz Enduring Freedom<br />

befindet. 16<br />

Defizite und deren Regulierung<br />

Nun stellt sich also folgende Frage: Wie ist die Bundeswehr auf die oben skizzierte neue<br />

Situati<strong>on</strong> eingestellt, wo sind ihre Defizite und welche Anstrengungen wurden zur Behebung<br />

dieser Defizite unternommen? Die zurückliegenden wie die noch laufenden Einsätze im Ausland<br />

haben die Defizite der deutschen Streitkräfte zu Tage gefördert: Mit der Ausrüstung des Kalten<br />

Krieges kann die Bundeswehr nur schwerlich die Aufgaben bewältigen, denen sie heute<br />

13 Peter Goebel, Less<strong>on</strong>s learned - der Blick nach vorn, in: Peter Goebel (Hrsg.), V<strong>on</strong> Kambodscha bis Kosovo.<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr, B<strong>on</strong>n 2000, S. 329.<br />

14 Es sei denn, die Bundeswehr tritt diese Aufgaben in Gänze an zivile Organisati<strong>on</strong>en ab, z.B. Hilfsorganisati<strong>on</strong>en,<br />

Unternehmen oder ein sch<strong>on</strong> einmal angedachtes „Friedenskorps“.<br />

15 Friedrich Riechmann, Ein Jahr Einsatzführungskommando der Bundeswehr, in: Soldat und Technik, Nr.10, S.<br />

13. Der Schluß v<strong>on</strong> Generalleutnant Riechmann läßt die Möglichkeit unberücksichtigt, durch das Anwerben<br />

ausländischer Fachkräfte die deutschen Lücken auch beim Pers<strong>on</strong>al zu überbrücken oder gar zu beheben. Doch<br />

die Vorstellung, in Auslandseinsätzen Söldner (-firmen) als Subunternehmer der Bundeswehr einzusetzen,<br />

erscheint nicht nur gewöhnungsbedürftig, s<strong>on</strong>dern auch wenig wünschenswert.<br />

16 Vgl. Adolf Brüggemann, Kampf gegen den Terrorismus, in: Europäische Sicherheit, Nr. 7, Juli 2003, S. 63.<br />

40


gegenübersteht. Die entscheidenden Defizite liegen in den Bereichen strategische<br />

Verlegefähigkeit, weitreichende Logistik, Führungsfähigkeit und Bündnisinteroperabilität sowie<br />

bei der Aufklärungsfähigkeit. Die Bundeswehr hat auf die neuen Herausforderungen der 90er<br />

Jahre nicht nur mit der Änderung der technischen Ausrüstung reagiert, s<strong>on</strong>dern auch mit<br />

strukturellen Änderungen. Deutschland verfügt seit Juli 2001 über ein<br />

Einsatzführungskommando, welches die zentrale Kommando- und Lenkungsinstanz der<br />

Bundeswehr-Auslandseinsätze geworden ist, womit Deutschland sich den Strukturen seiner<br />

Bündnispartner angepaßt hat. Eine Streitkräftebasis als fünfte Teilstreitkraft wurde zur<br />

Übernahme der teilstreitkräftegemeinsamen Aufgaben, vor allem solcher aus dem Bereich der<br />

Logistik, ins Leben gerufen. Die Divisi<strong>on</strong> Spezielle Operati<strong>on</strong>en (DSO) sowie das ihr zugehörige<br />

KSK wurden als für (Kampf)-Einsätze im Ausland bes<strong>on</strong>ders geeignete Verbände aufgestellt.<br />

Beschaffungen und Beschaffungsvorhaben<br />

Mit dem Projekt A400M wird (wenn auch auf vergleichsweise niedrigem Niveau) die<br />

Luftverlegefähigkeit verbessert werden. Bis zur Lieferung des neuen Airbus, frühestens im Jahr<br />

2009, 17 ist die Bundeswehr jedoch weiterhin auf fremde Kapazitäten angewiesen, um Einsatzorte<br />

wie Afghanistan zu erreichen. Der Bau eines Einsatztruppenunterstützungsschiffes (ETRUS)<br />

würde die Verlegefähigkeit über See sowie die Stehzeit der Landstreitkräfte im Einsatzraum in<br />

erheblichem Ausmaß verbessern, wie dies der Einsatzgruppenversorger (EGV) für die<br />

Seestreitkräfte vermag. Hinter die Realisierung des Projektes des ETRUS ist jedoch noch ein<br />

Fragezeichen zu setzen. Verschiedene Beschaffungsvorhaben verbessern die Wirksamkeit im<br />

Einsatz und runden die (Kampf)-Fähigkeiten ab. Dies trifft auf den Eurofighter, dessen erstes<br />

Exemplar der Luftwaffe in diesem Jahr übergeben wurde, wie den sich ebenfalls im Zulauf<br />

befindenden Kampfhubschrauber Tiger zu. Die Luftwaffe erhält ab dem Jahresende 2004 18 die<br />

Präzisi<strong>on</strong>swaffe Taurus, mit deren Hilfe dann Präzisi<strong>on</strong>sangriffe unter Vermeidung allzu hoher<br />

ziviler Opferzahlen (Stichwort: „Kollateralschäden“) möglich sind. Die Flugkörper IRIS-T und<br />

Meteor sind als wesentlicher Bestandteil der Eurofighter-Bewaffnung für dessen<br />

Durchsetzungsfähigkeit in der Bekämpfung gegnerischer Luftziele verantwortlich. Die<br />

Wirksamkeit im Einsatz werden ebenso die Vorhaben neues Gepanzertes Transportfahrzeug<br />

GTK, neuer Schützenpanzer SPz, die Korvette K 130 mit den Lenkflugkörpern Polyphem (dieser<br />

ist aufgrund der Lenkung durch Lichtwellenleiter sehr präzise einsetzbar) und RBS 15 Mk3<br />

sowie das U-Boot U212A erhöhen, während die Anschaffung der drei Fregatten vom Typ 124<br />

17<br />

Vgl. Soldat und Technik, Themenausgabe „Das BWB und seine Projektabteilungen“, Nr. 12, Dezember 2002, S.<br />

43.<br />

18<br />

Vgl. Karl Häringer/Bernd Jelinek, Moderne Luft/Boden-Bewaffnung der Luftwaffe, in: Soldat und Technik,<br />

Nr.1, Januar 2003, S. 34.<br />

41


Sachsen-Klasse auch die Führungsfähigkeit erheblich verbessert; Anstrengungen in diesem<br />

Bereich werden bei der Bundeswehr intensiviert.<br />

Weiterhin bestehende Defizite<br />

Die Fähigkeiten, über die die Bundeswehr zur Zeit verfügt, reichen nicht aus, um eine Operati<strong>on</strong><br />

durchzuführen, in der alle Segmente moderner Streitkräfte gefordert sind, wie dies die<br />

Vereinigten Staaten in den Einsätzen in Afghanistan und im Irak dem<strong>on</strong>striert haben. Der Nutzen<br />

neu beschaffter Waffensysteme zeigt sich bes<strong>on</strong>ders plastisch bei der Operati<strong>on</strong> Enduring<br />

Freedom und bei ISAF in Afghanistan: Die Einsatzgruppenversorger zur Verbesserung der<br />

Logistik sowie das Allschutztransportfahrzeug (ATF) Dingo zum Schutz der Soldaten im<br />

Einsatzland haben sich bereits bewährt. Die Gewichtung der verschiedenen<br />

Beschaffungsvorhaben bzw. deren Stückzahlen erscheint teilweise aber unausgewogen. Für einen<br />

Eurofighter könnte man z.B. die für die aktuellen Auslandseinsätze relevantere Dingo-Flotte<br />

deutlich ausweiten. Die Investiti<strong>on</strong> in Großprojekte der Luftwaffe ist zwar auch sinnvoll, diese<br />

Ausgaben könnte man allerdings eher bei einem deutlich ausgeweiteten Verteidigungsetat<br />

ermöglichen. In der angespannten Situati<strong>on</strong> binden solche vertraglich festgelegten Vorhaben,<br />

Mittel, welche für den immediaten Bedarf der Auslandseinsätze entfallen. 19 Der<br />

Verteidigungshaushalt in seiner derzeitigen Ausgestaltung ist für die Erreichung der<br />

selbstgesteckten Ziele (v.a. DCI) nicht ausreichend. Eine erfolgreiche Modernisierung der<br />

Bundeswehr setzt eine Erhöhung der Investivquote des Verteidigungsetats in erheblichem<br />

Ausmaße voraus. Die Etats aller europäischen NATO-Staaten müssten um ca. 3 - 4% steigen, nur<br />

um die DCI-Forderungen zu erfüllen. Die fiskalischen Mittel, welche in Deutschland seit den<br />

frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts für die Bundeswehr und im Bes<strong>on</strong>deren für<br />

Investiti<strong>on</strong>en in militärisches Gerät aufgewendet wurden, gingen aber k<strong>on</strong>tinuierlich zurück. 20<br />

Bes<strong>on</strong>ders an dieser Stelle wird der Bedarf nach einer tragfähigen Strategie und einem darauf<br />

basierenden sicherheitspolitischen K<strong>on</strong>zept deutlich, welches allerdings ein Umdenken der<br />

politischen Führung voraussetzt. Es bleibt anzumerken, daß das Ziel deutscher Sicherheitspolitik<br />

im Sinne der Glaubwürdigkeit der deutschen Positi<strong>on</strong> und dem Schutz der eingesetzten Soldaten<br />

im Einsatz nur sein kann, die K<strong>on</strong>gruenz v<strong>on</strong> Aufgaben (welche eigens unter dem Oberbegriff<br />

Ziele deutscher Sicherheitspolitik zu definieren sind) und Fähigkeiten der deutschen Streitkräfte<br />

so weit wie möglich zu erhöhen. Mittlerweile zeichnet sich deutlich ab, daß die fortschreitende<br />

19<br />

Vgl. Martin Wagener, Auf dem Weg zu einer „normalen Macht“? Die Entsendung deutscher Streitkräfte in der<br />

Ära Schröder, K<strong>on</strong>ferenzpapier i.E., <str<strong>on</strong>g>Trier</str<strong>on</strong>g> 2003.<br />

20<br />

Vgl. Zentrum für Analysen und Studien der Bundeswehr (ZAS), Streitkräfte, Fähigkeiten und Technologie im<br />

21. Jahrhundert (SFT 21), Waldbröl 30. September 2002,<br />

http://www.geopowers.com/Machte/Deutschland/Rustung/Rustung_2003/SFT_21_R_.pdf, [01.09.03].<br />

42


Ausweitung deutscher Auslandseinsätze und die geographische Entgrenzung der Einsatzorte, an<br />

welchen zur Zeit Soldaten der Bundeswehr ihrer Tätigkeit nachgehen, nicht einherging mit einer<br />

gleichermaßen k<strong>on</strong>sequenten Ausdehnung des Fähigkeitspotenzials der deutschen Streitkräfte. 21<br />

Das Auseinanderklaffen dieser Elemente führt zwangsläufig zu Ereignissen wie dem v<strong>on</strong> Kabul<br />

vom 7. Juni 2003, wo deutsche Soldaten in einem ungeschützten Reisebus ihr Leben ließen.<br />

Aktuelle und zukünftige Anforderungen<br />

Die oben skizzierten sicherheitspolitischen Herausforderungen der 1990er Jahre bestanden vor<br />

allem im Umgang mit ethnisch oder religiös begründeten K<strong>on</strong>flikten im Inneren v<strong>on</strong> Staaten<br />

sowie in der Abwehr v<strong>on</strong> zerfallsbedingten Instabilitäten im Bereich der ehemaligen<br />

Sowjetuni<strong>on</strong>. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kristallisieren sich jedoch wiederum neue Risiken<br />

heraus. Die Terroranschläge auf New York und Washingt<strong>on</strong> vom September 2001 können als<br />

endgültige Manifestati<strong>on</strong> dieser Bedrohungen gelten, obwohl ihnen bereits eine Serie v<strong>on</strong><br />

kleineren Anschlägen auf amerikanische Truppen und Einrichtungen im Ausland vorausging. 22<br />

Der internati<strong>on</strong>ale Terrorismus, der in seiner schlimmsten Ausprägung auch<br />

Massenvernichtungswaffen (MVW) zum Einsatz bringen könnte, wird in den aktuellen<br />

Verteidigungspolitischen Richtlinien des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) vom<br />

Mai 2003 als eine der maßgeblichen Herausforderungen der Zukunft benannt. 23 Es stellt sich also<br />

auch für Deutschland die Frage, auf welche Weise die Bundeswehr auszustatten und einzusetzen<br />

ist, um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden. Es lassen sich hier generell zwei<br />

Kategorien v<strong>on</strong> Fähigkeiten unterscheiden. Zunächst sind reaktive Kapazitäten zu benennen,<br />

durch die k<strong>on</strong>krete Angriffe abgewehrt werden oder deren Folgen begrenzt werden können. In<br />

diese Kategorie fallen in der Regel defensive Waffen wie Raketenabwehrsysteme, mit denen ein<br />

im Anflug befindlicher (k<strong>on</strong>venti<strong>on</strong>ell oder mit MVW bestückter) Flugkörper zerstört werden<br />

kann, bevor er sein Ziel erreicht. Für einen wirksamen Schutz des deutschen Staatsgebietes wäre<br />

jedoch der Aufbau eines flächendeckenden Abwehrsystems erforderlich. Dieses würde zum<br />

einen mehrere Milliarden Euro kosten und wird darüber hinaus bei den politischen<br />

Entscheidungsträgern (anders als in den USA) nicht für notwendig erachtet. Anders stellt sich die<br />

Situati<strong>on</strong> jedoch bei örtlichen Abwehrsystemen dar, die zum Schutz v<strong>on</strong> Interventi<strong>on</strong>s-<br />

21<br />

Die Bundeswehr ist zur Zeit auf drei K<strong>on</strong>tinenten mit Truppen im Einsatz präsent, ein zukünftiges, militärisches<br />

Engagement in weiteren Regi<strong>on</strong>en erscheint zumindest mittelfristig nicht unwahrscheinlich. Zur Diskussi<strong>on</strong> um<br />

den Verteidigungsbegriff vgl. auch Essay II "Werte, Interessen und Herausforderungen" in dieser Sammlung<br />

22<br />

Vgl. Heinz Vetschera, Die militärische Dimensi<strong>on</strong> im „Neuen Terrorismus“, in: Österreichische Militärische<br />

Zeitschrift, Nr. 2, März/April 2002, S. 142.<br />

23<br />

Bundesministerium der Verteidigung, Verteidigungspolitische Richtlinien 2003, Berlin, 21. Mai 2003.<br />

43


Streitkräften jenseits des eigenen Staatsgebietes eingesetzt werden können. In diesem Bereich der<br />

Punktverteidigung verfügt die Bundeswehr mit den amerikanischen Systemen HAWK und<br />

Patriot sowie der deutsch-französischen Entwicklung Roland bereits über grundlegende<br />

Fähigkeiten. Jedoch stößt HAWK nach nunmehr 40 Dienstjahren an seine Grenzen und<br />

entspricht längst nicht mehr dem Stand der Technik. 24 Roland ist eher als Ergänzung des<br />

HAWK-Systems anzusehen und ist ebenfalls zur Bekämpfung v<strong>on</strong> Flugzeugen ausgelegt. Um<br />

hingegen einen zuverlässigen Schutz vor ballistischen Raketen zu erreichen, kommen derzeit<br />

lediglich die aktuelle Ausbaustufe der Patriot (PAC 3) sowie in Zukunft das Mittlere Erweiterte<br />

Luftverteidigungssystem (MEADS) in Frage. Es soll sowohl zur Abwehr v<strong>on</strong> Flugzeugen und<br />

Drohnen sowie v<strong>on</strong> ballistischen Flugkörpern mit bis zu 1.000 km Reichweite geeignet sein.<br />

Darüber hinaus stellt die Luftverlastbarkeit jedes Moduls 25 einen bes<strong>on</strong>ders für<br />

Interventi<strong>on</strong>struppen wichtigen Mobilitätsvorteil v<strong>on</strong> MEADS gegenüber anderen Systemen dar.<br />

Wichtiger als die erste (reaktive) Kategorie werden in der Zukunft voraussichtlich die proaktiven<br />

Maßnahmen aus Kategorie zwei sein. Sie zielen darauf ab, eine Gefahr dort auszuschalten, wo<br />

sie entsteht, und zwar bevor sie akut wird. Da die große Mehrzahl der zu erwartenden<br />

Bedrohungen vom Ausland auf Deutschland einwirken wird, benötigt die Bundeswehr die<br />

Fähigkeit zur Machtprojekti<strong>on</strong> im Zielgebiet. Das bedeutet zunächst, daß Aufklärungskapazitäten<br />

vorhanden sein müssen, mit denen die auszuschaltenden Ziele sicher identifiziert und lokalisiert<br />

werden können. Dies wird heute in der Regel weltraumgestützt mit Hilfe v<strong>on</strong><br />

Aufklärungssatelliten geschehen, sofern vor Ort keine durch human intelligence beschafften<br />

Informati<strong>on</strong>en verfügbar sind. Zwar wird die Bundeswehr mit dem System „SAR-Lupe“ ab 2007<br />

eine erste Kapazität in der (radarbasierten) weltraumgestützten Aufklärung besitzen, doch ist<br />

dieses aufgrund des zunächst auf fünf Satelliten begrenzten Umfangs des Programms bei weitem<br />

nicht ausreichend. Die geplante Vernetzung mit den strategischen Aufklärungssystemen der<br />

europäischen Partner 26 (v.a. mit dem optischen HELIOS Frankreichs) wird jedoch helfen, diese<br />

Lücke zu schließen.<br />

Nach der Identifikati<strong>on</strong> des Zieles müssen die Truppen soweit in dessen Nähe gelangen, daß eine<br />

wirksame Bekämpfung erfolgen kann. Der dafür benötigte Transport und die Logistik einer<br />

24<br />

Vgl. Luftwaffe <strong>on</strong>line, HAWK,<br />

http://www.luftwaffe.de/lwdenew/lwbas.nsf/vwC<strong>on</strong>tentFrame/W25J2BC6435LWAADE [26.08.03].<br />

25<br />

Vgl. Christoph Grams, Das Mittlere Erweiterte Luftverteidigungssystem MEADS – Geschichte, Idee, Realisierung,<br />

Frankfurt a.M./B<strong>on</strong>n 2003.<br />

26<br />

Vgl. Kurt Herrmann, Die Bedeutung der satellitengestützten Aufklärung durch das System SAR-Lupe für die<br />

strategischen Aufklärungsfähigkeiten der Bundeswehr, Vortrag des Kommandeurs strategische Aufklärung der<br />

Bundeswehr vor der DGAP am 3. April 2003 in Berlin,<br />

http://www.dgap.org/bfz/veranstaltung/Praes_Herrmann_2003.ppt [26.08.03].<br />

44


Operati<strong>on</strong> lassen sich wesentlich erleichtern, wenn Deutschland über Abstützpunkte in der Nähe<br />

des Einsatzgebietes verfügt 27 . Dies läßt sich sehr deutlich am laufenden Anti-Terror-Einsatz<br />

Enduring Freedom ablesen. Ohne die bereitgestellten Basen in Dschibuti und Mombasa wäre<br />

weder der Einsatz v<strong>on</strong> MPA-Aufklärungsflugzeugen der Marineflieger am Horn v<strong>on</strong> Afrika<br />

möglich noch ließe sich die „Rasterfahndung auf See“, welche die Marine dort durchführt,<br />

längere Zeit durchhalten. Um im Falle einer sich zuspitzenden Krise sofort agieren zu können,<br />

wäre daher die Schaffung eines Netzes v<strong>on</strong> Abstützpunkten in allen sicherheitspolitisch<br />

relevanten Regi<strong>on</strong>en der Welt ratsam, zumal Deutschland bisher nicht über Flugzeugträger<br />

verfügt, die solche Stützpunkte wenigstens teilweise kompensieren könnten.<br />

Die eigentliche Wirksamkeit im Ziel wird zukünftig entscheidend dav<strong>on</strong> abhängen, die u.a.<br />

mittels Satellitenaufklärung erreichte Informati<strong>on</strong>süberlegenheit durch eine umfassende<br />

Vernetzung aller beteiligten Truppenteile (im Extremfall bis hin zum einzelnen Infanteristen)<br />

auch vollständig zu nutzen. Diese Entwicklung, die zuerst in den Vereinigten Staaten praktiziert<br />

wurde und dort Network Centric Warfare (NCW) genannt wird, ermöglicht eine präzise Echtzeit-<br />

Führung der eingesetzten Truppen und erhöht so bei gesteigerter Schlagkraft die<br />

Überlebenschancen der eigenen Soldaten auf dem Gefechtsfeld. 28 Mit dem Projekt SATCOMBw<br />

wird auch die Bundeswehr in der Zukunft über ein deutlich verbessertes Kommunikati<strong>on</strong>ssystem<br />

zu diesem Zweck verfügen.<br />

Fazit<br />

Angesichts der zur Zeit als relevant eingestuften sicherheitspolitischen Herausforderungen<br />

werden zudem in der Zukunft vermehrt militärische Fähigkeiten gefragt sein, mit denen<br />

präemptiv bzw. präventiv gehandelt werden kann. Ihre Beschaffung und erst recht ihr Einsatz<br />

sollte jedoch sowohl durch eine Analyse des rechtlichen Rahmens und der eigenen<br />

sicherheitspolitischen Prioritäten gründlich vorbereitet werden. Zusammenfassend ist<br />

festzustellen, daß die Bundeswehr im Begriff ist, die wesentlichen Fähigkeiten zu beschaffen, die<br />

sie für aktuelle und absehbare zukünftige Einsätze benötigt. Da viele der angesprochenen<br />

Neuanschaffungen jedoch erst um das Jahr 2010 und später der Truppe zulaufen werden, wird bis<br />

dahin noch eine große Abhängigkeit vom Material verbündeter Staaten und v<strong>on</strong> zivilen<br />

Anbietern wie beim strategischen Lufttransport bestehen.<br />

27 Vg l. Martin Wagener, Auf dem Weg zu einer „normalen Macht“? Die Entsendung deutscher Streitkräfte in der<br />

Ära Schröder, K<strong>on</strong>ferenzpapier i.E., <str<strong>on</strong>g>Trier</str<strong>on</strong>g> 2003.<br />

28 Vgl. Holger H. Mey, Network Centric Warfare - K<strong>on</strong>zept netzwerkzentrierter Kriegführung, in: Soldat und<br />

Technik, Nr. 2, Februar 2003, http://www.soldat-und-technik.de/artikel-02-03/bundeswehr.htm [26.08.03].<br />

45


Arbeitsgruppe 5<br />

Instituti<strong>on</strong>elle Rahmenbedingungen<br />

Alexander Beier, Viktor Höhn, Anna Stege<br />

Die instituti<strong>on</strong>ellen Rahmenbedingungen für Auslandseinsätze der Bundeswehr ergeben sich aus<br />

der Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in den Vereinten Nati<strong>on</strong>en (UN), der<br />

Nordatlantischen Allianz (NATO), der Europäischen Uni<strong>on</strong> (EU) und der Organisati<strong>on</strong> für<br />

Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Im Folgenden wird auf die Mitgliedschaft<br />

der Bundesrepublik in diesen Organisati<strong>on</strong>en eingegangen, wobei Einbindung, Nutzung und<br />

Gewichtung dieser Instituti<strong>on</strong>en aus deutscher Perspektive dargestellt werden.<br />

Die Grundlage der Mitgliedschaften ist in Art. 24 II GG zu finden. Danach kann sich der Bund<br />

„zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen; er wird<br />

hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und<br />

dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern.“<br />

Nach Einschätzung des Verteidigungsministeriums v<strong>on</strong> 2002 könne Deutschland seine Interessen<br />

nur gemeinsam mit den oben genannten Instituti<strong>on</strong>en und Verbündeten wahrnehmen. „Um die<br />

Handlungsfähigkeit dieser Instituti<strong>on</strong>en zu sichern und ihre Politik mitgestalten zu können, muß<br />

Deutschland zu ihrer Aufgabenerfüllung in einer seinem Gewicht und seinen Interessen<br />

entsprechenden Weise beitragen. Dies schließt die Bereitstellung militärischer Mittel ein.“ 1<br />

Grundsätzlich ist „die multinati<strong>on</strong>ale Sicherheitsvorsorge ein grundlegender Bestimmungsfaktor<br />

deutscher Verteidigungspolitik.“ 2 Ausgenommen werden allerdings Einsätze der Bundeswehr im<br />

Rahmen v<strong>on</strong> Evakuierungs- und Rettungsoperati<strong>on</strong>en, wie z.B. die Operati<strong>on</strong> Libelle, die wie<br />

diese auch unilateral erfolgen können.<br />

UN<br />

Nach den Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) v<strong>on</strong> 2003 fällt den Vereinten Nati<strong>on</strong>en<br />

(UN) nach wie vor „eine herausragende Rolle“ zu, wobei der UN-Sicherheitsrat „die<br />

Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internati<strong>on</strong>alen Sicherheit“ 3 trägt.<br />

1 Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), Sachstand und Perspektiven, Berlin 2002, S. 13.<br />

2 BMVg, Verteidigungspolitische Richtlinien (VPR) 2003, Berlin, 21.05.2003, Ziffer 11.<br />

3 Ebd., Ziffer 43.


Deutschland ist drittgrößter Beitragszahler 4 der Vereinten Nati<strong>on</strong>en und leistet Beiträge<br />

finanzieller, materieller und pers<strong>on</strong>eller Art. Weiterhin ist die Bundesrepublik bereits seit 1993<br />

an einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat interessiert.<br />

Nach Kapitel VIII der UN-Charta wird „Regi<strong>on</strong>alen Abmachungen“ die Anwendung v<strong>on</strong><br />

Maßnahmen zur friedlichen Beilegung v<strong>on</strong> Streitigkeiten (Kap. VI UN-Charta) ohne explizites<br />

UN-Mandat gestattet bzw. aufgetragen. Zu diesen regi<strong>on</strong>alen Abmachungen gehören sowohl die<br />

NATO als auch die EU und die OSZE, in denen Deutschland Mitglied ist.<br />

Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen (Kap. VII UN-<br />

Charta) sowie die Feststellung der Gefahrensituati<strong>on</strong> bedürfen einer Mandatierung durch den<br />

UN-Sicherheitsrat. Dies bedeutet für Transnati<strong>on</strong>ale Organisati<strong>on</strong>en und Staaten, daß sie<br />

militärisch nicht auf eigene Initiative tätig werden dürfen, ausgenommen hierv<strong>on</strong> ist das Recht<br />

zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung (Art. 51 UN-Charta). 5<br />

Deutschland hat sich in den letzten Jahren schrittweise immer stärker an den Friedensmissi<strong>on</strong>en<br />

der Vereinten Nati<strong>on</strong>en beteiligt. Das Bundesministerium der Verteidigung kommt in den zur<br />

Zeit geltenden Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) zu folgender Einschätzung:<br />

„Internati<strong>on</strong>ale VN-Friedensmissi<strong>on</strong>en haben sich erheblich gewandelt. Sie reichen v<strong>on</strong><br />

klassischen Blauhelm-Missi<strong>on</strong>en über die K<strong>on</strong>fliktverhütung durch politische Aktivitäten und<br />

vorbeugende Truppenstati<strong>on</strong>ierung bis hin zum Einsatz bewaffneter Kräfte zur Eindämmung v<strong>on</strong><br />

K<strong>on</strong>flikten und zur Stabilisierung der politischen Lage.“ 6 „Klassische“ Blauhelm-Einsätze nach<br />

Kap. VI der UN-Charta sowie internati<strong>on</strong>ale Friedensmissi<strong>on</strong>en, die v<strong>on</strong> den Vereinten Nati<strong>on</strong>en<br />

nicht nur mandatiert, s<strong>on</strong>dern auch geführt werden, sind in ihrer Anzahl allerdings geringer<br />

geworden. Die Anforderungen und das Aufgabenspektrum bei internati<strong>on</strong>alen Friedensmissi<strong>on</strong>en<br />

haben hingegen stark zugenommen. Sie reichen mittlerweile v<strong>on</strong> humanitärer Hilfeleistung bis<br />

zum Aufbau staatlicher Strukturen (Nati<strong>on</strong> building). Da die UN keine eigenen Truppen zur<br />

Verfügung hat, überträgt sie die Durchführung v<strong>on</strong> Friedensmissi<strong>on</strong>en zunehmend auf regi<strong>on</strong>ale<br />

Organisati<strong>on</strong>en wie die NATO.<br />

Die Veränderungen der Rolle der UN bei internati<strong>on</strong>alen Friedensmissi<strong>on</strong>en wirken sich auch auf<br />

die deutsche Beteiligung an multilateralen Auslandseinsätzen aus. Die United Nati<strong>on</strong>s Operati<strong>on</strong><br />

4 Die Bundesrepublik Deutschland hatte nach den USA und Japan einen Anteil v<strong>on</strong> ca. 9,8% an dem Haushalt<br />

2003 der Vereinten Nati<strong>on</strong>en. Vgl. Manfred Knapp, Die Rolle der Vereinten Nati<strong>on</strong>en in den internati<strong>on</strong>alen<br />

Beziehungen, in: Manfred Knapp, Gerd Krell (Hrsg.), Einführung in die internati<strong>on</strong>ale Politik, 4. Aufl.,<br />

München/Wien 2003, S. 8 (Manuskript).<br />

5 Vereinte Nati<strong>on</strong>en: Charta der Vereinten Nati<strong>on</strong>en, Amtliche Fassung der Bundesrepublik Deutschland, BGBl.<br />

1973 II, S. 431, http://www.UN.de/charta/charta.htm [19.06.03].<br />

6 BMVg, VPR 2003, Ziffer 44.<br />

47


in Somalia (UNSOM II) 1993 erfolgte noch unter UN-Führung. Die Bundeswehr beteiligte sich<br />

mit logistischer Unterstützung für die UN-Truppen. Bereits 1995 in Bosnien-Herzegowina kam<br />

es im Rahmen des Implementati<strong>on</strong> Force (IFOR)-Einsatzes zu einer Übertragung des<br />

Kommandos v<strong>on</strong> den Vereinten Nati<strong>on</strong>en auf die NATO. Deutschland nahm hier mit der<br />

Bundeswehr an einem nicht UN-geführten Auslandseinsatz teil. Auf der anderen Seite<br />

übernehmen die Vereinten Nati<strong>on</strong>en weiterhin Einsätze wie zum Beispiel im Kosovo mit der<br />

United Nati<strong>on</strong>s Interim Administrati<strong>on</strong> Missi<strong>on</strong> in Kosovo (UNMIK), wobei sie die<br />

Koordinati<strong>on</strong> und Verantwortung über die zivile Präsenz übernommen haben. In diesem<br />

Zusammenhang ist für die Vereinten Nati<strong>on</strong>en eine Tendenz zur K<strong>on</strong>zentrati<strong>on</strong> auf zivile<br />

Aspekte zu erkennen.<br />

NATO<br />

In den VPR v<strong>on</strong> 2003 bleibt die NATO „auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts Garant für stabile<br />

Sicherheit in Europa, kollektives Verteidigungsbündnis und transatlantisches<br />

K<strong>on</strong>sultati<strong>on</strong>sforum.“ 7 Aus der Integrati<strong>on</strong> der Bundeswehr in die NATO ergeben sich zum einen<br />

die herausragende Bedeutung, die die NATO noch immer für die Bundesrepublik hat, zum<br />

anderen die mit der NATO-Mitgliedschaft einhergehenden Verpflichtungen. So kann die<br />

Bundeswehr in Zukunft gefordert sein, sich an internati<strong>on</strong>alen Einsätzen, wie dies sch<strong>on</strong><br />

geschehen ist, zu beteiligen. Diesen Forderungen ist die Bundesrepublik Deutschland in den<br />

letzten Jahren verstärkt nachgekommen. Mit der Zunahme des militärischen Engagements hat<br />

sich aus deutscher Sicht auch der Anspruch auf Mitsprache im Bündnis vergrößert<br />

Bezogen auf die europäische Perspektive liegt es im deutschen Interesse, eine Kompatibilität der<br />

Fähigkeiten v<strong>on</strong> NATO und Gemeinsamer Europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

(GESVP) sicherzustellen. So wird die GESVP nicht als K<strong>on</strong>kurrenz zur NATO gesehen, s<strong>on</strong>dern<br />

soll in Zukunft den europäischen Pfeiler der NATO verstärken.<br />

Die Bundesrepublik beteiligt sich mit der Bundeswehr militärisch an NATO-geführten<br />

Auslandseinsätzen. Dies waren in der Vergangenheit sowohl Einsätze mit UN-Mandat (z. B.<br />

Stabilizati<strong>on</strong> Force (SFOR), Kosovo Force (KFOR)) als auch NATO-Interventi<strong>on</strong>en ohne UN-<br />

Mandat (Operati<strong>on</strong> Allied Force). Daraus kann sich für Deutschland durchaus ein Spannungs-<br />

und K<strong>on</strong>kurrenzverhältnis zwischen diesen beiden Organisati<strong>on</strong>en ergeben. Die Sicht der NATO<br />

auf die UN zeigt sich in dem Neuen Strategischen K<strong>on</strong>zept der NATO v<strong>on</strong> 1999. 8 Hier wird dem<br />

7 BMVg, VPR 2003, Ziffer 46.<br />

8 Vgl. NATO, Das strategische K<strong>on</strong>zept des Bündnisses, Brüssel, 24. April 1999,<br />

48


Sicherheitsrat der Vereinten Nati<strong>on</strong>en lediglich eine „primäre Verantwortung für die Wahrung<br />

des Weltfriedens und der internati<strong>on</strong>ales Sicherheit“ 9 zugewiesen. Dies stellt eine klare<br />

Abweichung zu der Formulierung „Hauptverantwortung“ 10 dar, welche der Sicherheitsrat nach<br />

Art. 24 UN-Charta trägt.<br />

Für die Neugestaltung der Aufgaben der NATO nach Ende des Ost-West-K<strong>on</strong>fliktes sind die<br />

Einsätze auf dem Balkan wegweisend, denn diese sind die ersten „out-of-area“–Einsätze der<br />

NATO. Seit dem IFOR-Einsatz der Allianz wird die bisherige Funkti<strong>on</strong> des kollektiven<br />

Verteidigungsbündnisses um Maßnahmen des „peace enforcement“ erweitert. Im Rahmen der<br />

Friedenssicherung des SFOR-Einsatzes wurde die NATO v<strong>on</strong> den Vereinten Nati<strong>on</strong>en mit einem<br />

„robusten“ Mandat ausgestattet, um in ihrem Auftrag militärische Maßnahmen umzusetzen und<br />

entsprechende zivile Maßnahmen abzusichern und zu unterstützen. Hier ist die Bundeswehr in<br />

die multinati<strong>on</strong>ale Sicherheitstruppe der SFOR integriert. Die Operati<strong>on</strong> Allied Force stellt den<br />

ersten Kampfeinsatz der NATO seit ihrem Bestehen dar. Zum ersten Mal beteiligen sich auch<br />

Soldaten der Bundeswehr uneingeschränkt an Kampfhandlungen. Dies geschah ohne<br />

ausdrückliche Absicherung durch ein Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nati<strong>on</strong>en. Allied<br />

Force stellt somit einen Verstoß gegen das Völkerrecht und den Nato-Vertrag dar. Der sich an<br />

diese Operati<strong>on</strong> anschließende KFOR-Einsatz ist hingegen v<strong>on</strong> den Vereinten Nati<strong>on</strong>en<br />

legitimiert worden. Dieser Einsatz entspricht der vierten Primäraufgabe im Strategischen<br />

K<strong>on</strong>zept der NATO vom 24.04.1999, dem Krisenmanagement. 11<br />

Auf dem NATO-Gipfeltreffen in Prag im November 2002 wurde die Schaffung v<strong>on</strong> NATO-<br />

Reakti<strong>on</strong>skräften (NATO Resp<strong>on</strong>se Force) beschlossen. 12 Diese sollen sich aus hochmodernen,<br />

flexiblen, weltweit dislozierbaren, zur Interoperabilität tauglichen Truppenteilen<br />

zusammensetzen. Geplant ist die Aufstellung mit einem Umfang v<strong>on</strong> ca. 21.000 Soldaten, deren<br />

Einsatzbereitschaft bis Oktober 2004 hergestellt sein soll. 13 Auch die Bundeswehr wird sich<br />

hieran beteiligen und „Einheiten der Marine, der Luftwaffe und des Heeres für solche Truppen“ 14<br />

http://www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065e.htm [18.09.03].<br />

9<br />

Ebd., Ziffer 15.<br />

10<br />

Vereinte Nati<strong>on</strong>en, Charta der Vereinten Nati<strong>on</strong>en, Kapitel V, Artikel 24 (1).<br />

11<br />

Vgl. NATO, Das strategische K<strong>on</strong>zept des Bündnisses, 24. April 1999.<br />

12<br />

Vgl. NATO, Prague Summit Declarati<strong>on</strong>, Press Release (2002) 127, 21. November 2002,<br />

http://www.nato.int/docu/pr/2002/p02-127e.htm [31.07.03].<br />

13<br />

Eine „Initial Entry Brigade“ soll bereits ab Oktober 2003 zur Verfügung stehen. Vgl. NATO, NATO Update:<br />

Resp<strong>on</strong>se force buildup <strong>on</strong> target, 16. Juli 2003,<br />

http://www.nato.int/docu/update/2003/07-july/e0716e.htm [28.08.03].<br />

14<br />

Peter Struck, Beg<strong>on</strong>nenen Weg fortsetzen, Rede des Verteidigungsministers in der außenpolitischen Debatte des<br />

Bundestages am 14. November 2002,<br />

http://www.bmvg.de/archiv/reden/minister/ 021115_aussenpolitische_debatte.php [26.08.03].<br />

49


ereitstellen. Für die Bundeswehr gilt es, nach dem Prinzip des „single set of forces“ 15 , ein<br />

K<strong>on</strong>kurrenzverhältnis zur ESVP zu vermeiden und die Kräfte für Operati<strong>on</strong>en beider<br />

Organisati<strong>on</strong>en zur Verfügung zu stellen.<br />

Europäische Uni<strong>on</strong><br />

Die Bundesrepublik sieht die Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

(GESVP) als wichtiges Instrument für die Handlungsfähigkeit der Gemeinsamen Außen- und<br />

Sicherheitspolitik (GASP) der EU an. Die GESVP „ist daher ein entscheidender Schritt zur<br />

Vertiefung der Integrati<strong>on</strong> und zur Erweiterung der sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit<br />

Europas. Ziel ist die Schaffung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsuni<strong>on</strong> als Teil<br />

einer voll entwickelten Politischen Uni<strong>on</strong>.“ 16 In Bezug auf die k<strong>on</strong>krete Ausgestaltung der<br />

militärischen Handlungsfähigkeit ist die GESVP allerdings noch auf die NATO angewiesen:<br />

„Die Kräfte, die der NATO und der EU angezeigt werden, stehen beiden Organisati<strong>on</strong>en zur<br />

Verfügung.“ 17 Im Dezember 1999 wurde vom Europäischen Rat in Helsinki mit den Headline<br />

Goals eine gemeinsame europäische Zielvorstellung für schnell verlegbare militärische<br />

Einsatzkräfte beschlossen. Diese werden nicht ständig und nicht in festen Strukturen bereit<br />

gehalten, s<strong>on</strong>dern jeweils lage- und auftragsabhängig zusammengestellt. Die Einsatzkräfte<br />

werden aus bestehenden nati<strong>on</strong>alen und multinati<strong>on</strong>alen Stäben und Verbänden gebildet, die<br />

auch der NATO zur Verfügung gestellt werden können. Der deutsche Beitrag zu den Headline<br />

Goals umfaßt ca. 30.000 Soldaten, 90 Kampfflugzeuge und 15 Schiffe und Boote, aus denen<br />

lageabhängig ein erstes K<strong>on</strong>tingent für einen EU-geführten Einsatz zusammengestellt werden<br />

kann.<br />

Die Ambiti<strong>on</strong>en der EU im Bereich der GASP werden im so genannten „Solana-Papier“ 18 vom<br />

20. Juni 2003 deutlich, in dem stark auf sicherheits- und verteidigungspolitische Aspekte<br />

eingegangen wird. Speziell werden die Herausforderungen Terrorismus, Proliferati<strong>on</strong> v<strong>on</strong><br />

Massenvernichtungswaffen und die Gefahr v<strong>on</strong> „failed states“ und Organisierter Kriminalität<br />

genannt. Die EU solle als „global actor“ mehr Verantwortung für die globale Sicherheit<br />

übernehmen und „more active, more coherent and more capable“ 19 werden. Wenn es die<br />

Situati<strong>on</strong> erforderlich macht, solle die EU in Zukunft fähig sein, „operati<strong>on</strong>s involving both<br />

15<br />

Wolfgang Schneiderhahn, Die Weiterentwicklung der Reform der Bundeswehr, in: Europäische Sicherheit,<br />

Februar 2003, http://www.bmvg.de/archiv/reden/inspekteure/print/0301_europäische_sicherheit.php [26.08.03].<br />

16<br />

BMVg, VPR 2003, Ziffer 50.<br />

17<br />

Ebd., Ziff. 52.<br />

18<br />

Vgl. Javier Solana, A secure Europe in a better world, Sitzung des Europäischen Rates in Thessal<strong>on</strong>iki, 20. Juni<br />

2003,<br />

http://ue.eu.int/pressdata/EN/reports/76255.pdf [19.09.03].<br />

19<br />

Ebd., S. 12.<br />

50


military and civilian capabilities“ 20 durchzuführen. Des weiteren wird in Reakti<strong>on</strong> auf die neuen<br />

Gefahren die Verteidigungsbereitschaft ausgedehnt: „the first line of defence will often be<br />

abroad.“ 21 Dies äußert sich darin, daß die „Z<strong>on</strong>e of Security around Europe“ 22 ausgedehnt<br />

werden soll.<br />

Die ESVP steckt noch in ihrer Anfangsphase. Als eine Art Bewährungsprobe übernahm die EU<br />

im März 2003 mit der Operati<strong>on</strong> C<strong>on</strong>cordia erstmals einen Einsatz v<strong>on</strong> der NATO. Bei diesem<br />

Einsatz wird noch eng mit der NATO zusammengearbeitet.<br />

Die EU-geführte Militäroperati<strong>on</strong> „Artemis“ in der Demokratischen Republik K<strong>on</strong>go stellt als<br />

reine GESVP-Missi<strong>on</strong> in der Ausgestaltung der GASP einen weiteren Schritt dar.<br />

Bundesaußenminister Fischer äußert sich vor dem <strong>Deutsche</strong>n Bundestag zur Beteiligung<br />

bewaffneter deutscher Streitkräfte an diesem Einsatz: „Wir müssen uns in diesem<br />

Zusammenhang in Bezug auf die zukünftige europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik<br />

und die zukünftige europäische Außenpolitik auch darüber Klarheit verschaffen, daß es im<br />

deutschen Interesse ist, nicht abseits zu stehen, wenn die beiden anderen großen europäischen<br />

Nati<strong>on</strong>en mit dabei sind und wenn diese beiden Bereiche mehr und mehr zusammengeführt<br />

werden.“ 23 Als ein Motiv für die deutsche Beteiligung könnte so, neben dem Motiv der<br />

humanitären Interventi<strong>on</strong>, die Stärkung v<strong>on</strong> EU-Strukturen gesehen werden. Die Bundeswehr<br />

leistet im Rahmen dieses Einsatzes einen Beitrag im logistischen Bereich, wie zu Beginn<br />

deutscher Auslandseinsätze größeren Umfanges in Somalia. Es kann erwartet werden, daß es bei<br />

diesem vergleichsweise geringen Engagement in zukünftigen EU-Missi<strong>on</strong>en nicht bleiben wird.<br />

Aus deutscher Sicht vergrößert sich mit einer Stärkung der ESVP der Spielraum für mögliche<br />

Auslandseinsätze, da diese nun sowohl mit UN, NATO als auch ESVP erfolgen können.<br />

OSZE<br />

Die Organisati<strong>on</strong> für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist eine<br />

gesamteuropäische Instituti<strong>on</strong>, in der die USA, Kanada, Rußland und die Nachfolgestaaten der<br />

ehemaligen Sowjetuni<strong>on</strong> gleichberechtigt mitwirken. Die Hauptaufgaben der OSZE umfassen die<br />

Vereinbarung internati<strong>on</strong>aler Verhaltensnormen, die präventive Krisendiplomatie, die<br />

K<strong>on</strong>fliktverhütung, die Krisenbewältigung und zunehmend auch die K<strong>on</strong>fliktnachsorge sowie die<br />

20 Ebd. S. 13.<br />

21 Ebd. S. 11.<br />

22 Ebd. S. 7.<br />

23 Joseph Fischer, Rede des Bundesaußenministers vor dem <strong>Deutsche</strong>n Bundestag zur Beteiligung bewaffneter<br />

deutscher Streitkräfte in der Demokratischen Republik K<strong>on</strong>go, 18. Juni 2003,<br />

http://www.auswaertigesamt.de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=4636 [31.07.03].<br />

51


k<strong>on</strong>venti<strong>on</strong>elle Rüstungsk<strong>on</strong>trolle. Die Bundesrepublik Deutschland arbeitet in allen Bereichen<br />

der OSZE aktiv mit und beteiligt sich finanziell und pers<strong>on</strong>ell maßgeblich an der OSZE. Zum<br />

laufenden Haushalt trägt Deutschland allein ca. zehn Prozent bei. 24 Daneben leistet die<br />

Bundesregierung substantielle Hilfe auch in Form zusätzlicher freiwilliger Beiträge.<br />

In den VPR v<strong>on</strong> 2003 wird der OSZE im Vergleich zu den VPR v<strong>on</strong> 1992 scheinbar weniger<br />

Gewicht beigemessen - insbes<strong>on</strong>dere im Hinblick auf die K<strong>on</strong>fliktverhütung. 25<br />

Die an die OSZE gestellten Erwartungen der K<strong>on</strong>fliktverhütung k<strong>on</strong>nten nicht in vollem Maße<br />

erfüllt werden. Dies führte dazu, daß die OSZE sich verstärkt mit der K<strong>on</strong>fliktnachsorge und dem<br />

„Post C<strong>on</strong>flict Peace Building“ beschäftigt. So ist die OSZE z.B. im Kosovo zuständig für die<br />

Demokratisierung und den Aufbau v<strong>on</strong> Instituti<strong>on</strong>en, dem sch<strong>on</strong> erwähnten Nati<strong>on</strong> building.<br />

Fazit<br />

Wie stehen die vorgestellten Instituti<strong>on</strong>en zueinander? Ist eine Gewichtung aus deutscher<br />

Perspektive zu erkennen? Traditi<strong>on</strong>ell und auch in Zukunft liegt insbes<strong>on</strong>dere die Stärkung<br />

internati<strong>on</strong>aler Instituti<strong>on</strong>en im Interesse der Bundesrepublik. Die Vereinten Nati<strong>on</strong>en nehmen<br />

weiterhin die herausragende Stellung einer Dachorganisati<strong>on</strong> ein. Darüber hinaus ist Deutschland<br />

bestrebt, die Handlungsfähigkeit der NATO wie auch die der EU zu vergrößern. Daraus könnten<br />

für Deutschland insgesamt flexiblere Handlungsopti<strong>on</strong>en entstehen. Angedeutet wird dies in den<br />

Verteidigungspolitischen Richtlinien v<strong>on</strong> 2003: „Europäische Sicherheits- und<br />

Verteidigungspolitik beruht auf der strategischen Partnerschaft mit der Nordatlantischen Allianz<br />

und ermöglicht selbständiges europäisches Handeln, wo die NATO nicht tätig sein muß oder<br />

will.“ 26 .<br />

Um die jeweils „komparativen Vorteile für die Krisenbearbeitung“ zu nutzen, ist die<br />

Bundesrepublik aber auch an einer verbesserten Zusammenarbeit der internati<strong>on</strong>alem<br />

Instituti<strong>on</strong>en interessiert, so daß aus den oftmals „interblocking“ wirklich „interlocking<br />

instituti<strong>on</strong>s“ werden können. 27<br />

24<br />

Auswärtiges Amt, Die Organisati<strong>on</strong> für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), <strong>Deutsche</strong>s OSZE<br />

Engagement, Januar 2003,<br />

http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/aussenpolitik/friedenspolitik/osze/basis_html#14 [26.08.03].<br />

25<br />

Vgl. BMVg, VPR 2003; BMVg, VPR 1992.<br />

26<br />

BMVg, VPR, 2003, IV. Prinzipien und Interessen deutscher Sicherheitspolitik, S. 10.<br />

27<br />

Vgl. Hans Georg Erhardt, Deutschland und die Bundeswehr im Geflecht internati<strong>on</strong>aler Organisati<strong>on</strong>en, in:<br />

Österreichische Militärische Zeitschrift, Nr. 1, Januar/Februar 2001, S. 25-32.<br />

52


Arbeitsgruppe 6<br />

Erfahrungen in Auslandseinsätzen<br />

Martin Lempe, Johannes Schäfer, Bernhard Straßen<br />

Diese Abhandlung geht im Folgenden auf die Erfahrungen und Lernfortschritte der Bundeswehr<br />

im Bereich der Koordinati<strong>on</strong> und Durchführung v<strong>on</strong> Auslandseinsätzen ein. Anhand ausgewähl-<br />

ter Fakten und Fallbeispiele soll dem Leser verdeutlicht werden, an welchen Eckpunkten sich die<br />

deutschen Streitkräfte immer neuen Gegebenheiten anpassen mußten.<br />

Zunächst wird dargestellt, was unter dem Begriff des Lernens zu verstehen ist. „Lernen“ be-<br />

zeichnet nach allgemeinem Verständnis das Aneignen v<strong>on</strong> Kenntnissen und Fähigkeiten. 1 „Unter<br />

Lernen versteht man auch den Prozeß, in dem Informati<strong>on</strong>en aus Objekten unserer Aufmerksam-<br />

keit in subjektiv bedeutsames und verfügbares Wissen oder in ein entsprechendes Können um-<br />

gewandelt werden.“ 2<br />

Wie wird aber nun in der Bundeswehr „gelernt“? Dem Text zu Grunde liegt die Aufgabe, den<br />

Prozeß der bewussten Fähigkeitsprofiländerung der Bundeswehr aufgrund v<strong>on</strong> wachsenden<br />

Aufgaben in spezifischen Auslandseinsätzen zu analysieren. Lernen in der deutschen Armee<br />

bedeutet das Erkennen v<strong>on</strong> Mißständen und nicht vorhandenen Fähigkeiten in Material und<br />

Ausbildung einerseits und die Entwicklung v<strong>on</strong> K<strong>on</strong>zepten zur Behebung der Schwächen und<br />

Bildung neuer Führungs- und Organisati<strong>on</strong>sstrukturen andererseits.<br />

Der Zerfall des Warschauer Paktes stellte eine Herausforderung für NATO und UN dar, welche<br />

zu dem Beginn einer zwangsläufigen Umstrukturierung der Streitkräfte der Bundesrepublik<br />

führte. Mit dem Wegfall des alten Feindbildes wurde ein k<strong>on</strong>venti<strong>on</strong>eller Krieg auf deutschem<br />

Boden unwahrscheinlich und somit die für Landesverteidigung k<strong>on</strong>zipierte Bundeswehr mit<br />

neuen Aufgabenfeldern k<strong>on</strong>fr<strong>on</strong>tiert. Unter diesem Gesichtspunkt galt es nun, die Bundeswehr<br />

auf die veränderte Situati<strong>on</strong> hinsichtlich supranati<strong>on</strong>al verantworteter „out-of-area“-Einsätze vor-<br />

zubereiten, die in den humanitären Anstrengungen in Kambodscha 1992 ihren Anfang fanden.<br />

1 Vgl. Definiti<strong>on</strong> „Lernen“ Brockhaus.de, www.brockhaus.de [14.07.03].<br />

2 Zitiert nach: Definiti<strong>on</strong> „Lernen“ TU Chemnitz,<br />

www.-user.tu-chemnitz.de/~horing/internet.Bildung/Lern_def_lang.htm, [14.07.03].


Einsatzführungskommando<br />

In der Vergangenheit traten Probleme auf, da zu viele Dienststellen der Teilstreitkräfte mit der<br />

Planung und Durchführung eines Einsatzes betraut wurden und die Kompetenzverteilung unklar<br />

war. Dies lag darin begründet, daß in Auslandseinsätzen Einheiten der verschiedenen Teilstreit-<br />

kräfte zusammen arbeiten mußten, jedoch nicht über gemeinsame Führungsstrukturen verfügten<br />

und dadurch Zweckmäßigkeit und Kürze v<strong>on</strong> Entscheidungen nicht immer gegeben waren<br />

(Stichwort: Reibungsverlust). 3<br />

Zur Behebung dieses Führungs- und Organisati<strong>on</strong>sdefizits, aber auch um Auslandseinsätze<br />

verantwortungsvoll und angemessen planen zu können, hat die Bundeswehr das<br />

Einsatzführungskommando zum 9. Juli 2001 in Potsdam aufgestellt. 4 Dabei handelt es sich um<br />

eine aus der traditi<strong>on</strong>ellen Streitkräftestruktur herausgelöste Einrichtung, die truppendienstlich<br />

dem Inspekteur der Streitkräftebasis (SKB) zugeordnet ist, für den Einsatz aber dem<br />

Generalinspekteur der Bundeswehr untersteht. Hier befasst man sich mit der detaillierten<br />

Planung v<strong>on</strong> Auslandseinsätzen, angefangen v<strong>on</strong> der Erkundung 5 und Informati<strong>on</strong>sbeschaffung<br />

über die Organisati<strong>on</strong> des Nachschubs bis hin zur Verlegung der Truppen und der Führung im<br />

Einsatzraum. Das Kommando bildet die nati<strong>on</strong>ale operative Führungsebene und setzt in<br />

Einsatzangelegenheiten ministerielle Weisungen und Vorgaben in Aufträge an die betroffenen<br />

Bereiche der Bundeswehr um. Die neuen Auslandseinsätze der Bundeswehr (z.B. Internati<strong>on</strong>al<br />

Security Assistance Force, ISAF; Operati<strong>on</strong> Enduring Freedom, OEF) werden in Potsdam-<br />

Geltow direkt koordiniert. 6<br />

Im Hinblick auf die Zukunft kann auch die fast komplett aufgebaute EU-Interventi<strong>on</strong>struppe vom<br />

Einsatzführungskommando aus befehligt werden, denn dieses ist auch der Kern eines „Operati<strong>on</strong><br />

Headquarters“ der Europäischen Uni<strong>on</strong>.<br />

3 Vgl. Peter Goebel, Less<strong>on</strong>s learned – der Blick nach vorne, in: Ders. (Hrsg.), V<strong>on</strong> Kambodscha bis Kosovo.<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr, B<strong>on</strong>n/Frankfurt a.M. 2000, S. 329-339.<br />

4 Vgl. Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), Das Einsatzführungskommando der Bundeswehr,<br />

http://www.einsatz.bundeswehr.de/einsfuekdo /efk_start.php [27.08.03].<br />

5 Erst kürzlich führte der Befehlshaber Einsatzführungskommando eine Erkundungsgruppe (Fact Finding Team) in<br />

der Regi<strong>on</strong> Kundus an, welche die Möglichkeiten zu einer Ausweitung des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan<br />

eruieren sollte, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,262852,00.html [12.09.03].<br />

6 Vgl. Friedrich Riechmann, Ein Jahr Einsatzführungskommando der Bundeswehr, in: Soldat und Technik, Nr.10,<br />

Oktober 2002, S. 6-14.<br />

54


Anpassung der technischen Ausrüstung<br />

Um den neuen Anforderungen gerecht zu werden, muß in vielen Feldern die materielle Ausstat-<br />

tung der Bundeswehr modernisiert, durch Neubeschaffungen ergänzt oder angepasst werden,<br />

verbesserte Durchhalte- und Reakti<strong>on</strong>sfähigkeit sind die bedeutsamsten Ziele. Neue Führungs-<br />

und Informati<strong>on</strong>ssysteme sowie die nati<strong>on</strong>ale Aufklärungskapazität, die Interoperabilität mit<br />

fremden Streitkräften und die strategische Transportfähigkeit sind ebenfalls in erheblichem Maße<br />

verbesserungswürdig. Während des Kalten Krieges war der Bedarf der Bundeswehr an strategi-<br />

schen Lufttransportmöglichkeiten nicht v<strong>on</strong> bes<strong>on</strong>derer Relevanz, da der Hauptkampfplatz bei<br />

einer Eskalati<strong>on</strong> der Blockk<strong>on</strong>fr<strong>on</strong>tati<strong>on</strong> auf bundesdeutschem respektive auf dem Territorium<br />

der <strong>Deutsche</strong>n Demokratischen Republik gelegen hätte, was die Anfahrtswege zum erwarteten<br />

Einsatzort in einem überschaubaren Rahmen hielt. Dieses Manko in der Ausrüstung zeigte sich<br />

das erste Mal im Umfeld des Zweiten Golfkriegs, als schnelle Material- und Pers<strong>on</strong>entransporte<br />

in die Türkei v<strong>on</strong> Nöten waren und wie im Somalia-Einsatz kurzfristig nicht-nati<strong>on</strong>aler Ersatz<br />

gefunden werden mußte, da der Bundeswehr strategische Lufttransportkapazitäten fehlten. Noch<br />

eindrucksvoller gestaltete sich dieses Problem im Rahmen der humanitären Hilfe in Mosambik<br />

und der Unterstützungsleistung in Ost-Timor. 7 Die Bundesrepublik benötigt daher im europäi-<br />

schen Verbund oder auch im aut<strong>on</strong>omen Rahmen eine deutliche Verbesserung der Verlegefähig-<br />

keit v<strong>on</strong> Material und Pers<strong>on</strong>en über weite Distanzen. Eine Problembeseitigung wird mit der<br />

Einbindung in das A-400M-Projekt angestrebt, welcher den Streitkräften frühestens ab 2009 8 die<br />

Möglichkeit der besseren logistischen Versorgung der Truppen im Einsatzgebiet bietet. 9 Der<br />

A400M läuft der Truppe jedoch mit den bisher bekannten Daten erst deutlich verspätet zu, so daß<br />

bis zu diesem Zeitpunkt kostenintensives Leasing ehemals sowjetischer Transportmaschinen der<br />

Typen Ant<strong>on</strong>ov und Iljuschin betrieben werden muss. Alternativen zu dieser Praxis sind der<br />

Transport v<strong>on</strong> Truppen und Material mit Kapazitäten der verbündeten Nati<strong>on</strong>en oder das An-<br />

mieten US-amerikanischer Flugzeuge im europäischen Verbund zur Überbrückung des Defizits<br />

bis zur Auslieferung des A400M. Die Leistungsfähigkeit des neuen, europäischen Transportflug-<br />

zeugs wird die Leistungsdaten der US-K<strong>on</strong>kurrenz nicht erreichen. Die Mängel in der materiellen<br />

Ausstattung der Bundeswehr wurden im Zuge des Einsatzes im Kosovo-K<strong>on</strong>flikt ein Gegenstand<br />

der umfangreichen öffentlichen und politischen Diskussi<strong>on</strong>. So stimmte die Bundesregierung im<br />

Frühjahr 1999 beim NATO-Gipfel in Washingt<strong>on</strong> der Defence Capabilities Initiative (DCI) zu,<br />

7<br />

Vgl. Peter Goebel, Less<strong>on</strong>s learned – der Blick nach vorne, in: Ders. (Hrsg.), V<strong>on</strong> Kambodscha bis Kosovo.<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr, B<strong>on</strong>n/Frankfurt a.M. 2000, S. 329-339.<br />

8<br />

Vgl. Soldat und Technik, Themenausgabe „Das BWB und seine Projektabteilungen“, Nr.12, Dezember 2002, S.<br />

43.<br />

9<br />

Vgl. Bundeswehr - Verträge für den A400M unterzeichnet,<br />

http://www.verteidigungsministerium.de/forces/030522_a400m.php [28.08.03].<br />

55


um die militärischen Möglichkeiten der europäischen NATO-Staaten nachhaltig zu verbessern.<br />

Eine Folge dieser Initiative ist das oben beschriebene Lufttransportprojekt, bei welchem sich die<br />

Bundesrepublik vertraglich zu einer Schwerpunktbildung verpflichtet hat. Das K<strong>on</strong>zept der Eu-<br />

ropäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik/Europäische Sicherheits- und Verteidigungsi-<br />

dentität (ESVP/ESVI) ebnet einen weiteren Weg in Richtung einer kollektiven, europäischen<br />

Handlungsfähigkeit im militärischen Bereich und dient auch der Bündelung v<strong>on</strong> Fähigkeiten und<br />

Ressourcen der involvierten Staaten. Dabei ist es zwingend erforderlich, die Interoperabilität im<br />

transatlantischen wie auch im europäischen Rahmen sicher zu stellen. 10<br />

Anpassung der Ausbildung<br />

Lernen bei der Bundeswehr als Folge v<strong>on</strong> Erfahrungen aus Einsätzen kann auch in der Tatsache<br />

gesehen werden, daß Soldaten nicht mehr so unvorbereitet wie noch zu Beginn deutscher Aus-<br />

landseinsätze größeren Umfangs und längerer Dauer wie z.B. in Somalia in den Einsatz geschickt<br />

werden (hier: ohne spezielle Wüstenausbildung und Ausrüstung). Die Ausbildungsstruktur für<br />

Auslandseinsätze wurde völlig neu aufgebaut. So werden Sprachausbildungen für das Einsatz-<br />

land erweitert. Beispielsweise wird sich der zukünftige Feldwebel in den Lehrinhalten mit der<br />

Sprachausbildung Englisch befassen müssen. Die einzusetzenden Kräfte werden mit den Menta-<br />

litäten und der Kultur der im Einsatzland lebenden Bevölkerung vertraut gemacht. 11 Zusätzlich<br />

finden Schulungen statt, die in ihren Schwerpunkten bes<strong>on</strong>ders auf Menschenführung und das<br />

Bewältigen v<strong>on</strong> Streßsituati<strong>on</strong>en eingehen. Denn oft war der angemessene und respektvolle, aber<br />

stets auf die eigene Sicherheit bedachte Umgang mit der Bevölkerung im Land oder der Regi<strong>on</strong><br />

des Einsatzes nur unzureichend planbar. Den Soldaten fielen im Kosovo auch vermittelnde, frie-<br />

densstiftende und polizeiliche Kompetenzen zu.<br />

Um diese Fähigkeiten zu erlernen bzw. zu vertiefen, werden für den Auslandseinsatz abkomman-<br />

dierte Soldaten in speziellen Ausbildungscamps auf Truppenübungsplätzen (im Falle des Balkans<br />

in der Infanterieschule des Heeres in Hammelburg) ausgebildet. In so genannten „potemkinschen<br />

Dörfern“ wird auch der gefährliche Einsatz simuliert, da die auszubildenden Truppen unter<br />

möglichst realen Bedingungen auf einen Häuserkampf vorbereitet werden sollen. Bes<strong>on</strong>deres<br />

Augenmerk wird hier auf den Umgang mit der einheimischen Bevölkerung gelegt, um auch in<br />

10 Vgl. Peter Goebel, Less<strong>on</strong>s learned – der Blick nach vorne, in: Ders. (Hrsg.), V<strong>on</strong> Kambodscha bis Kosovo.<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr, B<strong>on</strong>n/Frankfurt a.M. 2000, S. 329-339.<br />

11 Vgl. Peter Goebel, Less<strong>on</strong>s learned – der Blick nach vorne, in: Ders. (Hrsg.), V<strong>on</strong> Kambodscha bis Kosovo.<br />

Auslandseinsätze der Bundeswehr, B<strong>on</strong>n/Frankfurt a.M. 2000, S. 329-339.<br />

56


Stresssituati<strong>on</strong>en, etwa bei Aufständen und Tumulten, nicht falsch und folgenschwer zu<br />

reagieren.<br />

Neuerdings wird auch verstärkt auf den Einsatz freiwillig länger dienender Grundwehrdienstlei-<br />

stender gesetzt, da diese nicht selten über eine bessere Schulbildung als der durchschnittliche<br />

Zeitsoldat verfügen. Der Gesichtspunkt der Besoldung, die in den letzten Jahren bei Ausland-<br />

seinsätzen gestiegen ist, zeichnet sich als ein Indikator für die Anstrengungen aus, einen mög-<br />

lichst gut abgesicherten und motivierten Soldatennachwuchs für Krisenoperati<strong>on</strong>en im Ausland<br />

zu gewinnen. 12<br />

Anpassung an die Topographie der Einsatzregi<strong>on</strong>en<br />

Um den gestiegenen und weiter in den außereuropäischen Süden verlagerten Einsätzen und Auf-<br />

gaben gerecht zu werden, ergab sich die Notwendigkeit, das Material auf die dortigen klimati-<br />

schen Extreme anzupassen, denn ursprünglich wurde die Bundeswehr für mitteleuropäisches<br />

Klima ausgebildet und ausgerüstet und war daher im tropischen Klima mit seinen hohen Bela-<br />

stungen für Mensch und Material nur eingeschränkt verwendungsfähig. Dabei muß als Beispiel<br />

vor allem auf den Gebrauch deutscher Schnellboote, die eigentlich für den Schutz der kalten<br />

Norddeutschen Hoheitsgewässer (Stichwort: Randmeerkriegführung in der Ostsee und den Ost-<br />

seezugängen) k<strong>on</strong>zipiert sind, am Horn v<strong>on</strong> Afrika hingewiesen werden. Die klimatischen Be-<br />

dingungen brachten das Gerät und die Besatzungen an den Rand der Belastbarkeit. So scheint die<br />

Anschaffung neuer Korvetten vom Typ K-130 zum Ersatz der zum Teil über 25 Jahre alten<br />

Schnellboote der Klasse 143 sinnvoll und weitsichtig. Die neuen Korvetten verfügen über die<br />

angepassten und notwendigen Ausrüstungsdetails und können nun klimatisch uneingeschränkt<br />

operieren, was eine hohe Kampfwertsteigerung nach sich zieht. Aber auch weniger kosteninten-<br />

sive Ausrüstungsgegenstände erwiesen sich als nicht mehr hinreichend für die Verwendung an<br />

den neuen Einsatzorten der deutschen Armee. So unterstützten die französischen Streitkräfte die<br />

Bundeswehr in Somalia mit für die dortigen Temperaturen geeigneter Kleidung. Zu den Erfah-<br />

rungen der Bundeswehr zählt auch, wie o.g. Beispiel zeigt, daß man sich bei „out-of-area“-Ein-<br />

sätzen auf das Wissen und die Hilfe der Verbündeten verlassen k<strong>on</strong>nte.<br />

12 Vgl. BMVg, Gutes Geld für gute Arbeit – Mehr Geld für Soldaten,<br />

http://www.bundeswehr.de/reform/faehigkeiten /ref_pers_sold.php [27.08.03].<br />

57


Eigenständigkeit trotz Zusammenarbeit mit anderen Streitkräften<br />

In der Vergangenheit waren die deutschen Streitkräfte vielfach auf die operative Aufklärungs-<br />

technik ihrer verbündeten Alliierten (allen voran der Vereinigten Staaten v<strong>on</strong> Amerika) angewie-<br />

sen. Um diese Abhängigkeiten zu umgehen und unilateral bei der Informati<strong>on</strong>sbeschaffung<br />

agieren zu können, wird in naher Zukunft das Satelliten-Aufklärungssystem „SAR-Lupe“ das<br />

Equipment der Bundeswehr bereichern. Zusätzlich soll das zunächst zivile europäische GPS-<br />

Navigati<strong>on</strong>ssystem „GALILEO“ zur weiteren Unterstützung militärisch genutzt werden, um den<br />

Grad der aut<strong>on</strong>omen Handlungsfähigkeit zu erhöhen.<br />

Denn in Krisensituati<strong>on</strong>en, in denen die USA partizipieren, kann das kommerzielle GPS-System<br />

mit bewusst herbeigeführter Datenabweichung bzw. Ungenauigkeit betrieben werden, um dem<br />

US-Militär einen Vorteil gegenüber den gegnerischen K<strong>on</strong>fliktparteien, was auch Terroristen<br />

beinhalten kann, zu verschaffen.<br />

Das zivile Signal des Systems kann darüber hinaus in einzelnen Regi<strong>on</strong>en ganz abgeschaltet<br />

werden, 13 um die volle Leistung für komplexe Militäroperati<strong>on</strong>en zu sichern. Auch ist nicht<br />

abzusehen, wie sehr den Verbündeten, also zum Beispiel der Bundesrepublik, im Ernstfall<br />

jeweils vertraut wird, weshalb ein Stück technischer Autarkie gegenüber den USA eher positiv<br />

zu bewerten ist.<br />

Resümee<br />

Im letzten Jahrzehnt haben sich die Aufgaben und Herausforderungen an die Bundeswehr stark<br />

verändert. Dies benötigt mitwachsende Reformen. Fortschritte und Neuerungen, wenn auch nicht<br />

selten über lange Umwege, sind zweifelsfrei zu verzeichnen, jedoch fehlt ein schlüssiges Ge-<br />

samtk<strong>on</strong>zept. Das Versäumnis, eine umfassende nati<strong>on</strong>ale Sicherheitsstrategie zu entwerfen,<br />

kann folglich als ein Beispiel für nicht erfolgtes Lernen gelten. Viele Neuerungen sind im<br />

europäischen K<strong>on</strong>text zu sehen und stehen der Truppe, speziell im Materialbereich, erst in<br />

einigen Jahren zur Verfügung.<br />

Nicht alle Veränderungen sind ausschließlich positiv zu bewerten, wie ein Blick auf das Einsatz-<br />

führungskommando 14 zeigt. Am Beispiel der Operati<strong>on</strong> Enduring Freedom (OEF) wird deutlich,<br />

13 Vgl. Martin-Ulrich Ripple, Military Use of Global Navigati<strong>on</strong> Satellite Systems, Vortrag anlässlich des<br />

Expertengesprächs „Sicherheitspolitische Bedeutung der Raumfahrt“ des Berliner Forums Zukunft (BFZ) der<br />

<strong>Deutsche</strong>n Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Berlin, 3. April 2003.<br />

http://www.dgap.org/bfz/veranstaltung/Praes_Ripple_030403.ppt [2003-09-15].<br />

14 Vgl. Abschnitt zum Einsatzführungskommando in diesem Essay.<br />

58


daß es auch in der zur Zeit praktizierten Führungsstruktur zu Reibungsverlusten und Irritati<strong>on</strong>en<br />

zwischen der Führungsorganisati<strong>on</strong> in Deutschland und dem K<strong>on</strong>tingent bzw. dem K<strong>on</strong>tingent-<br />

führer und seinem Stab im Einsatzgebiet kommen kann. Der erste K<strong>on</strong>tingentführer des mariti-<br />

men Anteils der OEF, der momentane stellvertretende Flottenbefehlshaber K<strong>on</strong>teradmiral Hoch,<br />

bewertet die aktuelle Führungspraxis aufgrund seiner Einsatzerfahrungen am Horn v<strong>on</strong> Afrika<br />

wie folgt: „Die neue nati<strong>on</strong>ale Führungsstruktur ist machbar, sie ist im Vergleich zum bisherigen<br />

[...] erheblich aufwendiger und erfordert einen ungleich höheren Koordinati<strong>on</strong>saufwand.“ 15<br />

Auch stellt sich die Frage, ob wirklich immer aus begangenen Fehlern gelernt wurde. Dies ist<br />

wohl nicht der Fall. Zum einen fehlt es an Finanzmitteln für die Streitkräfte, zum anderen existie-<br />

ren auch Akteure in bestehenden Strukturen, die punktuell den eigenen Erhalt als oberstes Ziel<br />

setzen und so Reformen erschweren. Häufig kam es zu einer Ink<strong>on</strong>gruenz v<strong>on</strong> Wille und Ver-<br />

pflichtung der politischen Führung mit den Möglichkeiten der Streitkräfte, ihre neue erweiterte<br />

(Bündnis-) Verantwortung in Europa und der Welt wahrzunehmen.<br />

Am Beispiel der Bundeswehr zeigt(e) sich, daß solche Lernprozesse oft durch schmerzhafte<br />

Fehleinschätzungen und -entscheidungen ihren Ausgangspunkt fanden. Problematisch ist auch,<br />

daß Lernen häufig verspätet erfolgte oder die Lernerfahrungen nicht hinreichend umgesetzt<br />

wurden.<br />

Weiterhin ist zu hinterfragen, wie die Bundeswehr das Lernen bzw. den Lernerfolg misst. Ledig-<br />

lich an Erfolgen in Auslandseinsätzen? Durch Anerkennung der Bündnispartner und Institutio-<br />

nen? Wesentliches Meßkriterium sollte hier die Frage nach Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlich-<br />

keit sein. Wurde im Angesicht der nicht selten stark reduzierten Finanzmittel auch das Maximum<br />

herausgeholt? Gerade in zukünftigen Einsätzen der Bundeswehr sollte eine überzeugende<br />

Zweck-Mittel-Finanzierung die höchste (Lern-) Priorität darstellen.<br />

Für das Lernen bei Auslandseinsätzen spielen sicher auch solche eine Rolle, an denen die deut-<br />

schen Streitkräfte gar nicht teilgenommen haben. Auch aus diesen Militärakti<strong>on</strong>en, vor allem aus<br />

denen der Bündnispartner, wurden und werden Lehren und Erfahrungen gezogen, welche die<br />

Weiterentwicklung der deutschen Armee forcieren können. Durch eine stärkere Vernetzung v<strong>on</strong><br />

Informati<strong>on</strong>s- und Kommunikati<strong>on</strong>seinrichtungen (z. B. auch über die jeweiligen Geheimdienste)<br />

erfolgt eine Erkenntnisabgleichung und zugleich Hilfestellung im Bündnis bzw. unter den Ver-<br />

bündeten. Eine wichtige Rolle spielen hierbei die (deutschen) Verbindungsoffiziere, welche wie<br />

15 Gottfried Hoch, Operati<strong>on</strong> Enduring Freedom, in: MarineForum, Nr. 10, Oktober 2002, S. 10.<br />

59


ei der OEF in Tampa/Florida und Manama/Bahrein stati<strong>on</strong>iert sind, K<strong>on</strong>takt zu den<br />

Verbündeten halten und den Informati<strong>on</strong>saustausch zwischen den an einer Operati<strong>on</strong> beteiligten<br />

Nati<strong>on</strong>en und Kommandobehörden sicherstellen. Verbindungsoffiziere befreundeter Nati<strong>on</strong>en<br />

sind auch beim Einsatzführungskommando in Potsdam-Geltow stati<strong>on</strong>iert.<br />

Es bleibt festzuhalten, daß die Bundeswehr im Rahmen ihrer Möglichkeiten in Verwendungen<br />

außerhalb der Bundesrepublik recht gute Resultate erlangen k<strong>on</strong>nte, dies sicher auch durch die<br />

erfolgreiche Umsetzung v<strong>on</strong> Erfahrungen in Auslandseinsätzen.<br />

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